Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zu unserer heutigen Plenarsit-
zung.
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c
sowie die Zusatzpunkte 9 bis 12 auf:
21 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und
Stabilität in Deutschland
- Drucksache 16/11740 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2009 ({1})
- Drucksache 16/11700 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mit mehr Gerechtigkeit die Krise überwinden
- Drucksache 16/11746 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({3})
- Drucksache 16/11741 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der Kraftfahrzeugsteuer und Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 16/11742 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Ulrike Flach, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schulden des Bundes durch das Konjunkturpaket II vollständig im Bundeshaushalt etatisieren - Kein Sondervermögen Investitionsund Tilgungsfonds
- Drucksache 16/11743 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, Roland
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Großbanken vergesellschaften
- Drucksache 16/11747 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit dem Pakt für Beschäftigung und
Stabilität, dem größten Konjunkturprogramm seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, stellt sich die
Bundesregierung ihrer Verantwortung in der schwersten
wirtschaftlichen Rezession seit 1949.
({0})
- Ich oder die Mikrofone?
({1})
Wir werden uns sofort darum bemühen, der Stimme
der Bundesregierung jedenfalls akustisch noch mehr
Nachhall zu verschaffen.
Gut. - In dieser Dimension hat es einen solchen konjunkturellen Impuls noch nicht gegeben. Dies ist angemessen und problemadäquat mit Blick auf die krisenhafte Zuspitzung, mit der wir es zu tun haben.
Wir sind alle lange genug im Geschäft, um zu wissen,
dass man bezogen auf die einzelnen Komponenten dieses Konjunkturpaketes, dieses Paktes, unterschiedlicher
Meinung sein kann. Man kann darüber streiten; man
kann das prüfen. Aber ich mache keinen Hehl daraus,
dass sich die Geschwindigkeit, mit der sich der kritische
Standpunkt von den Debatten, die wir im Oktober, November, Dezember gehabt haben, auf den heutigen kritischen Fokus verschoben hat, so verändert hat, dass man
von einer gewissen Atemlosigkeit reden kann.
Wenn es im Oktober/November aus den Reihen der
Medien, der wirtschaftswissenschaftlichen Expertise,
der Politik, der Gewerkschaften und der Verbände darum
ging, dass ein Konjunkturprogramm gar nicht groß genug dimensioniert sein könnte - teilweise war die Rede
von 3 Prozent des Bruttosozialproduktes pro Jahr, also
spielend eine Dimension von 75 Milliarden, teilweise
von 100 Milliarden Euro pro Jahr -, stellen wir heute
fest, dass der kritische Fokus darauf gerichtet wird, dass
ein solcher Konjunkturimpuls unabweisbar mit einer
Steigerung der Verschuldung verbunden ist.
Mich wundert dieser Erkenntnisfortschritt, den es innerhalb von wenigen Wochen gegeben hat, weil von
vornherein klar gewesen ist, dass man einen solchen
Konjunkturimpuls nur dann wird geben können, wenn
die Staatsverschuldung dabei zunimmt. Wenn dem Publikum suggeriert wird, man könnte einen solchen kräftigen und entschiedenen Konjunkturimpuls ohne Staatsverschuldung geben, trägt das eher zur Verwirrung der
Menschen bei als zur Aufklärung in einer Situation, in
der wir mehr denn je eine gewisse Beständigkeit auch in
der öffentlichen Diskussion brauchen.
({0})
Wir haben es damit zu tun, dass drei Krisen - wie ich
finde, bisher ohne jeden Erfahrungswert - zusammenfallen. Zum einen haben wir es mit einer weltweiten Rezession zu tun, die ein Land wie die Bundesrepublik
Deutschland unabweisbar am stärksten trifft - jedenfalls
in der Liga der Länder, in der wir spielen -, weil kaum
ein anderes Land 40 Prozent seines Bruttosozialproduktes in außenwirtschaftlichen Beziehungen generiert. Im
Vergleich dazu sind es zum Beispiel in den USA höchstens 12 bis 15 Prozent des Bruttosozialproduktes, in Japan höchstens 20 Prozent. Das heißt, von einer solchen
weltwirtschaftlichen Zäsur in der Entwicklung ist ein
Land wie Deutschland als Exportweltmeister unabweisbar besonders betroffen. Die Entwicklungen sind inzwischen infektiös bezogen auf weiteste Teile der Welt. Ein
Einbruch der Wachstumsrate in China von plus 10 auf
plus 6 Prozent ist mindestens eine so große Zäsur, ein so
großer Eingriff wie die Entwicklung, die wir in vielen
europäischen Ländern einschließlich der Bundesrepublik
Deutschland haben. Dies prägt die jetzige Lage.
Wir haben es zweitens seit Monaten, wenn nicht seit
anderthalb Jahren, spätestens seit Mitte 2007, mit einem
weltweit eskalierenden Vertrauensverlust auf den Finanzmärkten zu tun, der wirklich dramatisch zu nennen
ist. Wir haben es nach wie vor damit zu tun, dass der Interbankenverkehr nicht richtig in Gang kommt und dass
wir fast wöchentlich von weiteren Nachrichten gefangen
genommen bzw. buchstäblich niedergedrückt werden,
die eher darauf hinweisen, dass wir längst noch nicht
Licht am Ende des Tunnels sehen, was diese Finanzmarktkrise betrifft. Das ist die zweite krisenhafte Zuspitzung. Selbstverständlich treibt diese Dramatik auf den
Finanzmärkten gleichzeitig die realwirtschaftliche Entwicklung.
Wir haben es drittens in vielen Ländern damit zu tun,
dass eine Leitindustrie wie die Automobilindustrie
nicht in einem Konjunkturtal steckt, sondern erkennbar
ebenfalls in einer Strukturkrise.
Diese drei Krisen überlagern sich, beeinflussen sich
wechselseitig und beschreiben eine Lage, für die es kein
politisches Drehbuch an Handlungsanweisungen gibt.
Niemand von uns, egal in welcher Partei zu Hause, hat
jemals Anstrengungen unternehmen können, sich auf
eine solche Situation prophylaktisch einzulassen. Dass
es dabei zu einer eskalierenden Entwicklung allein zwiBundesminister Peer Steinbrück
schen der Einbringung des Haushaltes im September
letzten Jahres bis zum heutigen Tag, an dem der Nachtragshaushalt eingebracht wird, gekommen ist, lässt sich
an den wirtschaftlichen Indikatoren ablesen, die Ihnen
allen zur Verfügung stehen und die ich deshalb im Einzelnen gar nicht aufführe. Sie alle wissen, dass wir es im
November/Dezember nicht nur mit Blick auf Stimmungsbarometer, sondern mit Blick auf wichtige wirtschaftliche Indikatoren, zum Beispiel bei den Auftragseingängen, mit einer dramatischen Verschlechterung zu
tun haben. Wenn wir in einer solchen Situation kein
Drehbuch und keine klaren Handlungsanweisungen haben, dann, glaube ich, bleibt nichts anderes übrig, als
dass sich die Politik selber bestimmte Kompassweisungen gibt.
({1})
- Selbst denkt, insbesondere dann, Frau Abgeordnete,
wenn wir von der wirtschaftswissenschaftlichen Expertise in der Tat kaum Empfehlungen bekommen. Das
läuft nach dem alten Muster des Internationalen Frühschoppens von Werner Höfer: sieben Journalisten aus
acht Ländern mit neun Meinungen. Das ist im Augenblick die Lage, die ich mit Blick auf die wirtschaftswissenschaftliche Expertise in Deutschland habe.
Es gibt in meinen Augen fünf Grundorientierungen,
die sich in dem widerspiegeln, was die Bundesregierung
im Rahmen des Paktes für Beschäftigung und Stabilität
in Gang gesetzt hat. Die erste Orientierung bedeutet, in
einem solchen Konjunkturzyklus nicht einfach nur Geld
zu verbrennen. Wenn wir schon die Staatsverschuldung
erhöhen müssen, wenn wir einen solchen Konjunkturimpuls zwingend geben müssen, müssen wir das Geld
möglichst so einsetzen, dass wir mittelfristig zur Modernisierung unseres Landes, insbesondere seiner Infrastruktur, beitragen.
({2})
Das heißt, etwas zu tun, was auch für nachfolgende Generationen eine Rendite abwirft. Das bedeutet in der Tat,
dem riesigen Nachholbedarf bei der Modernisierung insbesondere der kommunalen Infrastruktur und darüber hinaus der überregionalen Infrastruktur zu entsprechen
und dort einen kräftigen Impuls zu setzen, mit dem Effekt, dass das, was wir dort tun, weit über diese hoffentlich schnell zu überwindende Konjunkturphase hinausreicht. Deshalb gibt es eine klare Schwerpunktsetzung
mit ungefähr 17 Milliarden Euro, allein was den Bund
betrifft, ergänzt durch Maßnahmen der Länder, die darauf gerichtet sind, Investitionen in Deutschland zu fördern.
Die zweite Grundorientierung ist unabweisbar: eine
Kreditklemme zu vermeiden. Die Einschätzung ernst zu
nehmender Experten lautet, dass wir nach wie vor in
Deutschland makroökonomisch gesehen keine Kreditklemme haben und dass es sich mit Blick auf die Finanzierung des deutschen Mittelstandes geradezu als vorteilhaft herausgestellt hat, dass wir ein sehr spezifisches
Kreditgewerbe in Deutschland haben - anders als viele
andere Länder um uns herum -, nämlich mit privaten
Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken und öffentlich-rechtlichen Sparkassen. In vielen Debatten in der
Vergangenheit wurde dieses dreisäulige deutsche Kreditwesen von vielen belächelt und ordnungspolitisch attackiert, und zwar in Deutschland selber, aber insbesondere auch durch eine Reihe von Initiativen und
Vorstößen aus der Brüsseler Kommission. Plötzlich stellen wir fest, dass dieses Strukturelement des deutschen
Bankenwesens von entscheidender Bedeutung insbesondere für die Finanzierung des deutschen Mittelstandes
ist. Deshalb wird es darum gehen, den öffentlichen Charakter der Sparkassen zu erhalten.
({3})
Bausparkassen, von vielen im 20., wenn nicht sogar
im 19. Jahrhundert angesiedelt, teilweise diskreditiert,
stellen sich plötzlich als eine sehr verlässliche Institution
für all die Bürgerinnen und Bürger dar, die Eigentum erwerben wollen. Warum? Weil es diesen Bausparkassen
gesetzlich verboten ist, sich ausgerechnet in den Produkten zu engagieren, möglicherweise zu spekulieren, die
maßgeblicher Treibsatz der jetzigen Finanzmarktkrise
sind.
Wir müssen also dafür Sorge tragen, dass es nicht zu
einer Kreditklemme kommt. Wir haben es mit dem Problem zu tun, dass sich die Kreditkonditionen verschlechtern. Ich wäre sehr vorsichtig, daraus einen eilfertigen
Vorwurf an die Banken zu machen. Ich bitte da um äußerste Vorsicht; denn wir fordern die Banken derzeit geradezu auf, risikobewusster zu agieren. Dann wird man
es ihnen nicht übel nehmen können, wenn sie in dieser
Situation eine sehr viel risikobewusstere Politik betreiben und auf die Bonität ihrer Kunden stärker als in den
vergangenen Jahren achten.
Die dritte Orientierung ist, dass wir der großen Leitindustrie, die ich angesprochen habe, nämlich der Automobilindustrie, behilflich sein müssen, weil einschließlich der Produzenten, den Zulieferern und dem
Handel nach wie vor jeder siebte, achte Arbeitsplatz in
Deutschland von dieser Branche abhängig ist. Ich hielte
es für fatal, wenn wir durch Attentismus in diesem Bereich möglicherweise eine hoch wettbewerbsfähige,
technologisch sich auf hohem Niveau befindende deutsche Automobilindustrie versacken ließen und nach
Überwindung dieser Krise plötzlich feststellen müssten,
dass eine Leitbranche in Deutschland beschädigt worden
ist, während die amerikanische Regierung mit sehr viel
staatlichem Geld - es handelt sich um monatlich
4 Milliarden US-Dollar - bereit ist, die amerikanische
Automobilindustrie, die ich von der Produktqualität her
für schlechter einschätze, zu unterstützen und dadurch
eine konkurrierende Automobilindustrie überlebt.
Die vierte Orientierung ist, in der Tat einen Nachfrageimpuls zu geben. Darauf komme ich zurück.
Die fünfte Orientierung muss sein, den Märkten, aber
auch den Bürgerinnen und Bürgern eine verlässliche Ansage zu machen, dass wir uns in einer extraordinären Situation befinden, die extraordinäre Maßnahmen erfordert, dass wir aber, wenn diese Situation überwunden ist,
zwingend auf den Pfad der Konsolidierung der öffentli21962
chen Haushalte zurückkehren müssen. Das heißt, wir
müssen diese klare Ansage - auch gesetzlich fixiert mit einer Schuldenbremse und einer klaren Tilgungsregelung auch für das Geld, das wir zusätzlich aufnehmen
werden, verbinden.
Diese fünf Grundorientierungen des Paktes für Beschäftigung und Stabilität sind richtig, sie wirken gut,
und sie werden vernünftig angenommen.
({4})
Ich brauche über die erste Orientierung, den Investitionsfonds für Kommunen und die zusätzlichen Maßnahmen sowie über die direkten Investitionsmaßnahmen
des Bundes, die, was die Verkehrsinfrastruktur betrifft,
in der maßgeblichen Zuständigkeit des Verkehrsministers liegen, nur wenige Worte zu verlieren; denn Sie und
ich, wir sind gemeinsam von dem Interesse, ja dem Ehrgeiz beeindruckt, auf den diese kommunalen Investitionen bei den Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und
Landräten treffen. Das ist hochgradig willkommen.
({5})
- Was gibt es da zu lachen? 60 Prozent der öffentlichen
Investitionen werden von den Kommunen vorgenommen. Wenn Sie etwas erreichen wollen, müssen Sie dort
etwas tun.
({6})
Eine gewisse Ernsthaftigkeit bei der Debatte vor dem
Hintergrund der Krise, mit der wir es zu tun haben, wäre
wirklich angebracht.
({7})
Es wird sehr stark darauf ankommen, dass die Verabredungen, die wir getroffen haben, teilweise in einer Verwaltungsvereinbarung verankert, von den Ländern lupenrein eingehalten werden. Die Bundesregierung ist
bereit gewesen, sich in dem schwierigen Abwägungsprozess, auf der einen Seite möglichst wenig Bürokratie
aufzubauen, auf der anderen Seite aber so viele Sicherungen einzuziehen, dass das Geld auch richtig verwendet wird, eindeutig auf die Seite derjenigen zu schlagen,
die eine möglichst unkomplizierte Regelung fordern.
({8})
Dies bedeutet, dass die Länder im Rahmen dieses Investitionsfonds unmittelbar Zugriff auf die Mittel haben,
wobei wir die klare Erwartung haben, dass dieses Geld
- zu 70 Prozent - so schnell wie möglich an die kommunalen Projekte weitergeleitet wird, damit es schnell
genau den wirtschaftsfördernden Effekt entfaltet, den
wir uns in den Jahren 2009 und 2010 versprechen. Deshalb gibt es keine langen Genehmigungsverfahren, und
es gibt keine Verwendungsbescheide. Es gibt vielmehr
einen ex post stattfindenden Abrechnungsmodus, bei
dem ich allerdings erwarte, dass drei Bedingungen zwingend von den Ländern eingehalten werden:
Erstens müssen wie verabredet 70 Prozent von den
13,3 Milliarden Euro tatsächlich für kommunale Projekte aufgewendet werden. Zweitens müssen die Länder
dafür Sorge tragen, dass auch die finanzschwachen
Kommunen in die Lage versetzt werden, von diesen Mitteln Gebrauch zu machen.
({9})
Im Zweifelsfall müssen die Länder selber den Kofinanzierungsanteil übernehmen. Die andere Möglichkeit, die
wir einräumen, läuft darauf hinaus, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereit ist, den Ländern den Kofinanzierungsanteil für eine längere Zeit mit einer Stundung, was Zins und Tilgung betrifft, bereitzustellen. Die
dritte wichtige Bedingung ist, dass es zusätzliche Projekte sind; denn wir wollen nicht einfach nur eine Substitution.
({10})
Sie alle haben die ersten Reaktionen aus dem kommunalpolitischen Raum genauso erfahren wie ich. Danach
bin ich mir ziemlich sicher, dass das in ausgesprochen
positiver Weise zur Wirkung gebracht werden kann.
Über die Kreditklemme - zweite Orientierung - will
ich jetzt keine längeren Ausführungen machen.
Ich will auf die vierte Grundorientierung zu sprechen
kommen: den notwendigen Nachfrageimpuls. Hier ist in
der Koalition ein Kompromiss erzielt worden, der sich
auf die Erleichterung bei der Sozialversicherungsabgabenlast und auf eine gewisse steuerliche Komponente erstreckt. Ich weiß, dass es dazu unterschiedliche Auffassungen in diesem Hause gibt. Worauf will ich hinaus?
Wenn ich zusammenzähle, was diese Regierung mit dem
ersten Konjunkturpaket, mit dem zweiten Konjunkturpaket und darüber hinaus in Gang gesetzt hat - das sind
sehr viele einzelne Puzzleteile -, komme ich zu dem Ergebnis, dass das durchaus zu einer bemerkenswerten
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger beiträgt.
Ich erinnere erstens an die nochmalige Absenkung
des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, von
3,3 Prozent auf 2,8 Prozent. Allein die Absenkung des
Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung innerhalb
dieser Legislaturperiode, von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent, bedeutet ein Entlastungsvolumen von 30 Milliarden Euro.
({11})
Meine Mutter würde wahrscheinlich immer noch von
55 Milliarden DM reden. Dann hört sich die Summe
gleich ganz anders an, und es gibt eine größere Aufmerksamkeit dafür. Aber stellen Sie sich auch das einmal vor: 30 Milliarden Euro! Darüber redet kaum ein
Mensch - außer die Bundesregierung tut es selber.
({12})
Ich möchte an einen zweiten Punkt erinnern: die Absenkung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung und zusätzlich die steuerliche Absetzbarkeit
der Krankenversicherungsbeiträge ab 1. Januar dieses
Jahres; eine zusätzliche Entlastung von 9 Milliarden
Euro. Ich erinnere an das, was wir im Bereich der Familienleistungen gemacht haben, im Blick auf die Freibeträge, im Blick auf das Kindergeld, noch einmal unterstützt durch einen Kinderbonus. Ich erinnere daran, dass
zum 1. Juli dieses Jahres erfreulicherweise die Renten
deutlich steigen werden, weit über das Niveau hinaus,
das wir in den letzten Jahren anbieten konnten.
Die Effekte all dieser Maßnahmen - unterschiedlich
je nach Haushaltstyp und Steuerklasse - addieren sich
mit einer Reihe von anderen entlastenden Effekten
durchaus auf eine Summe, von der zu erwarten ist, dass
darüber jedenfalls die inländische Nachfrage einen gewissen Impuls bekommt.
({13})
Von einer nicht weniger großen Bedeutung ist etwas,
wofür sich zwar nicht die Politik Meriten erworben hat,
aber was auch nicht unterschätzt werden sollte. Ich meine
die Entwicklung, die uns noch bis weit in das Jahr 2008
hinein ausgesprochen bekümmert hat, als nämlich alle
Menschen in Deutschland Benzin wahrscheinlich für
nicht unter 1,45 Euro getankt haben. Inzwischen gibt es
bei den Energiepreisen insgesamt, aber insbesondere
bei Heizöl sowie Benzin und Diesel, eine Entwicklung,
die, wenn die Preise 2009 weiter in der momentanen
Bandbreite schwanken, wofür einiges spricht, ebenfalls
einen entlastenden Effekt für die Konsumentinnen und
Konsumenten bringt, mindestens in der Größenordnung
von 20 Milliarden, wenn nicht 25 Milliarden Euro.
Mit Blick auf die gesunkene Inflation sind die Reallohneffekte sehr viel besser einzuschätzen als noch im
Jahr 2008, wo mit einer Inflationsrate von teilweise über
2 Prozent der Absaugeffekt bei der Kaufkraft natürlich
ausgesprochen negativ gewesen ist.
Ich wäre Ihnen dankbar, meine Damen und Herren,
wenn diese immerhin doch unterstützenden Maßnahmen
nicht völlig aus der öffentlichen Diskussion verschwänden, sondern von uns transportiert würden,
({14})
damit die Menschen den Eindruck haben: Es gibt auch
gegenläufige Entwicklungen in dieser schwierigen wirtschaftlichen Phase.
({15})
Ich will auf einen weiteren Punkt innerhalb dieser
Grundorientierungen zu sprechen kommen. Ja, wir werden es mit einem Nachtragshaushalt zu tun haben, der
die Nettokreditaufnahme des Bundes fast verdoppelt, auf
über 36 Milliarden Euro.
({16})
- Ja. Sie haben in Ihrer Zeit so viel gesagt, Herr
Lafontaine,
({17})
das ist sehr schwer zu strukturieren. Sie haben sich dabei
so häufig widersprochen, dass Sie keine große Wegweisung gegeben haben.
({18})
Sie sind in dem Zusammenhang überhaupt ein ziemlich
großer Schlaumeier.
({19})
Wir gehen beim Bundeshaushalt also in eine fast doppelt so hohe Nettoneuverschuldung hinein. Aber wir haben aus, wie ich finde, sehr guten Gründen entschieden,
das Geld, das die Bundesregierung zusätzlich in die
Hand nimmt, in einen Investitions- und Tilgungsfonds
zu überführen, der völlig offen, transparent und zugänglich ist. Deshalb nehmen Sie mir den Hinweis nicht übel:
Die Behauptung, dieser Fonds sei eine Art Versteckspiel
oder ein Schattenhaushalt, ist Bestandteil einer sehr ritualisierten politischen Auseinandersetzung. Es ist völlig
klar, dass das in diesem Sonderfonds geparkte Geld in
Höhe von 21 Milliarden Euro, das zusätzlich über Schulden finanziert werden muss, offenzulegen ist. Das ist
vollkommen transparent. Ich kann nicht erkennen, durch
was der Vorwurf berechtigt sein soll, wir würden irgendetwas geheim halten oder - von hinten durch die
Brust ins Auge - vor jemandem zu verstecken versuchen.
Man sollte allerdings mit Aussagen in Bezug auf die
Höhe der Neuverschuldung in diesem Jahr insgesamt
vorsichtig sein, weil wir es aufgrund des Jährlichkeitsprinzips des Bundeshaushalts mit einer Zahl zu tun haben. Der Abfluss der Mittel im Investitions- und Tilgungsfonds hingegen verteilt sich gegebenenfalls auf
drei Jahre. Ich kann Ihnen deshalb erst ex post, nach Beobachtung des konkreten Mittelabflusses, sagen, wie
hoch die Neuverschuldung im Jahre 2009 ausfällt.
({20})
Von großer Bedeutung ist für uns allerdings gewesen,
dass diese Mittel - es sind 16,9 Milliarden Euro plus
4 Milliarden Euro Zinsen bei einer Orientierung auf eine
zehnjährige Tilgung, also ungefähr 21 Milliarden Euro einer spezifischen Tilgungsregelung unterworfen werden. Ich gebe zu, dass man eine heftige Debatte darüber
betreiben kann, ob das analog dem Erblastentilgungsfonds erfolgt. Der entscheidende Punkt, auf den ich hinaus will, ist, dass eine der verschiedenen Komponenten
des Erblastentilgungsfonds ein erheblicher Tilgungsbeitrag der Bundesbank gewesen ist, konkret in der Dimension von 34 Milliarden Euro. Damit haben wir einen empirischen Beleg dafür, dass eine Tilgungsregelung, wie
wir sie jetzt bezogen auf diesen Fonds in der Größenordnung von 21 Milliarden Euro haben, erfolgreich sein
kann. Nichts anderes ist die Aussage der Bundesregierung in Gestalt der Kanzlerin, des Außenministers und
meiner Person gewesen.
({21})
Wenn wir über die Bundesbank 34 Milliarden Euro
im Rahmen des Erblastentilgungsfonds erfolgreich ha21964
ben tilgen können, dann ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass wir 21 Milliarden Euro im Rahmen dieses
Fonds ebenfalls über diese Tilgungsregelung wieder aus
der Welt schaffen können. Ich vermute sogar, dass das
schneller als in zehn Jahren möglich ist. Die Durchschnittszahlen bei den Bundesbankgewinnen in den vergangenen 10, 13 Jahren sprechen dafür. Damals war die
Bundesregierung noch sehr viel ehrgeiziger; da ging es
um Gewinne ab 3,5 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 werden wir die Tilgung bei einem Gewinn von 3 Milliarden
Euro ansetzen, danach bei 2,5 Milliarden Euro, schließlich bei 2 Milliarden Euro. Das heißt, die Eskalation bei
der Nutzung überschüssiger Bundesbankgewinne zur Tilgung dieses Fonds wird eher zunehmen. Im Übrigen haben wir festgelegt, dass, wenn das Wirtschaftswachstum
oberhalb des Potenzialwachstums liegt - durchschnittlich
1,5 Prozent, 1,6 Prozent -, die damit verbundenen erheblichen Mehreinnahmen ebenfalls zum Abtragen der
Schulden dienen sollen.
Ich will, meine Damen und Herren, zum Schluss darauf zu sprechen kommen, dass die momentane Konjunktursituation nach wie vor maßgeblich durch das geprägt
ist, was auf den Finanzmärkten stattfindet. Wenn Sie den
Eindruck haben, dass im Nachlauf des Finanzgipfels in
Washington im November letzten Jahres die Hände in
den Schoß gelegt worden sind, kann ich das nicht bestätigen. Vielmehr sind auf der Basis dessen, was die Bundeskanzlerin mit den anderen Regierungschefs der G-20Länder verabredet hat, Arbeitsstrukturen geschaffen
worden. Eine der Arbeitsgruppen steht unter dem Vorsitz
der Bundesrepublik Deutschland. Wir bereiten uns, auch
in den jetzt anstehenden internationalen Sitzungen, sehr
gezielt auf den nächsten Finanzgipfel in London am
2. April dieses Jahres vor, um dort nicht nur konkrete
Handlungsvorschläge einbringen, sondern auch einen
Bericht darüber geben zu können, was bereits umgesetzt
worden ist.
Es wäre sehr wichtig, zu signalisieren, dass diese
Bundesregierung mit Blick auf eine größere, bessere Regelung, auf Verkehrsregeln für die Finanzmärkte mit zu
den Ländern gehört, die für sich nicht nur in Anspruch
nehmen können, in diesem Sinne maßgebliche Impulse
gesetzt zu haben, sondern auch, sehr ehrgeizig vorzugehen.
Unsere Erwartung ist, dass insbesondere der angloamerikanische Bereich die Wegstrecke weiter mitgeht.
Ich habe keine Indizien dafür, dass die neue Administration unter Präsident Obama quasi das relativiert, was
noch von der alten Administration, auch auf dem Finanzgipfel in Washington, angelegt worden ist. Relativ
sicher macht mich da nicht etwa irgendeine moralische
Läuterung, sondern das nackte ökonomische Interesse
des Landes, das den höchsten Kapitalimportbedarf auf
der ganzen Welt hat, und das vor dem Hintergrund enormer Defizite, die finanziert werden müssen. Das heißt,
dieses Land muss ein massives Interesse an der Wiederherstellung der Integrität seiner Finanzmärkte haben,
weil sonst der riesige Kapitalbedarf in Billionenhöhe
nicht gedeckt werden kann.
Was mich umtreibt und was im Rahmen einer solchen
Debatte offengelegt werden muss, ist unter anderem,
dass wir es in Europa zunehmend mit einer sich auseinander entwickelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner
Eurostaaten bzw. EU-Staaten zu tun haben. Dies spiegelt
sich in den Möglichkeiten dieser Staaten wider, ihren
Kreditbedarf über Staatsanleihen befriedigen zu können. Das Ausmaß, in dem sich die Konditionen dieser
Staatsanleihen im Moment in Europa auseinanderentwickeln, ist sehr beunruhigend. Man sollte zwar nicht so
weit gehen und sagen, der Euro sei deswegen gefährdet.
Aber angesichts des riesigen Kreditbedarfs auf den Kapitalmärkten kommen wir nicht nur mit Blick auf die
Platzierung von Staatsanleihen möglicherweise in sehr
schwieriges Fahrwasser hinein. Was mich aber noch
mehr beunruhigt, ist, dass wir möglicherweise einen
Verdrängungseffekt zulasten der Unternehmen der Güterwirtschaft und der Dienstleistungswirtschaft haben,
die auf diesen Kapitalmärkten ebenfalls Kredite aufnehmen müssen. Denn je mehr wir Kredite staatlich verbürgen und je mehr wir selber Kredite vergeben oder platzieren - wir haben mit AAA das beste Rating -, umso
mehr kommen diejenigen Unternehmen in Verlegenheit,
die zwar ein gutes Rating haben, das aber nicht ganz so
gut ist wie das der Bundesrepublik Deutschland, weil
keine vergleichbare Garantieposition dahinter steht. Dieser komplexe Zusammenhang kann mit Blick auf unsere
wirtschaftliche Entwicklung nicht ernst genug genommen werden.
Wir gehen deshalb, was die wirtschaftliche Entwicklung im Jahre 2009 angeht, sehr schweren Zeiten entgegen. Um so wichtiger erscheint es mir, dass wir in einer
solchen Situation nicht versuchen, irgendwelche parteipolitischen Spielchen zu machen, sondern gemeinsam
das tun, was die Bevölkerung von uns erwartet und was
unsere Pflicht ist: Verantwortung zu übernehmen und die
Situation - auch was die Qualität unserer Debatte betrifft - so ernst zu nehmen, wie die Lage es erfordert.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({22})
Bevor ich dem Kollegen Brüderle das Wort erteile,
möchte ich aus gegebenem Anlass darauf hinweisen,
dass mit den jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkten
die parlamentarische Beratung des Gesetzentwurfs zur
Sicherung von Beschäftigung und Stabilität und des
Nachtragshaushalts erst beginnt und keineswegs abgeschlossen ist.
({0})
In der öffentlichen Berichterstattung ist auch aufgrund
mancher Pressemitteilung gelegentlich ein anderer Eindruck entstanden.
({1})
Ich will der guten Ordnung halber darauf aufmerksam
machen, dass nicht der Eindruck entstehen sollte, als
Präsident Dr. Norbert Lammert
könne die Öffentlichkeitsarbeit die parlamentarische Beratung ersetzen.
({2})
Nun hat der Kollege Brüderle das Wort für die FDPFraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat für das Boomjahr 2006 die Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erklärt.
Sie tut es jetzt in der Rezession wieder - das zweite Mal
in vier Jahren. Das lässt nur den Schluss zu: Diese
schwarz-rote Regierung ist selbst eine sehr ernsthafte
und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts.
({0})
Die Große Koalition endet, wie sie begonnen hat. Sie
ist in das Boomjahr 2006 mit einem Ausgabenprogramm
gestartet, das die Bürger mit der größten Steuererhöhung
der Republik bezahlen mussten. Nun geht sie mit mehreren Paketen zur Konjunkturstützung zu Ende. Man kann
das konsequent nennen. Die schwarz-rote Koalition hat
vier Jahre lang die Ausgaben immer weiter erhöht, den
Bundeshaushalt aufgebläht und Strukturen kaum verbessert. Sie haben Ihre Zeit nicht genutzt.
({1})
Das erinnert an den chronisch Kranken, der jahrelang
mit immer neuen Aufputschmitteln über Wasser gehalten wird, statt ihn nach der richtigen Diagnose mit einer
guten Medizin ordentlich zu kurieren.
Bei Antirezessionsmaßnahmen gilt die Devise:
schnell, spürbar und zielgerichtet. Konjunkturprogramme können überhaupt nur wirken, wenn zeitnah auf
die Krise reagiert wird, wenn die Mittel zusätzlich zur
Verfügung gestellt werden, sie also nicht andere geplante
Anschaffungen und Investitionen verdrängen, und sie einen kräftigen, psychologisch entscheidenden Impuls geben.
Die Maßnahmen von Schwarz-Rot sind zögerlich,
kleinteilig und diffus.
({2})
Lobby- und Ressortinteressen stehen im Vordergrund.
({3})
Das Programm, das Schwarz-Rot heute vorgelegt hat,
wird nur verzögert wirken. Das ergibt dann keinen Impuls für die Konjunktur, sondern Verdrängungseffekte
und Preissteigerungen.
Wenn es stimmt, dass 50 Prozent der Wirtschaftspolitik Psychologie sind, dann muss man sagen, dass Ihr Paket komplett durchgefallen ist.
({4})
Zwei Drittel der Bürger glauben nämlich nicht daran,
dass die Wirtschaftskrise mit diesem neuen Ausgabenprogramm bewältigt werden kann. Drei Viertel der Deutschen erwarten keinen positiven Effekt für sich selbst.
({5})
80 Prozent der Menschen glauben, dass sie 2009 nicht
mehr netto im Geldbeutel haben werden. Demnach ist
das Programm schon verpufft.
({6})
Die Große Koalition wollte die Wahl in Hessen ganz
offensichtlich auch zu einer Abstimmung über das Konjunkturpaket machen. Anders waren die Schauveranstaltungen der ersten Januarwochen nicht zu erklären. Konjunkturgipfel, Regierungserklärungen - Sie haben Ihre
ganze Inszenierungsklaviatur eingesetzt. Das hat politisch nicht gewirkt. Die Abstimmung über die schwarzrote Wirtschaftspolitik haben Sie verloren. Sie sollten
jetzt aufwachen.
({7})
Die deutsche Wirtschaft hat im letzten Jahr Waren mit
einem Wert von 1 200 Milliarden Euro exportiert. Auch
wenn der Export jetzt in Teilen einbricht: Konjunkturprogramme in Höhe von 30, 40 oder 50 Milliarden Euro
führen nicht dazu, das auszugleichen.
({8})
Das begreifen die Menschen draußen im Land.
Dennoch ist unstrittig, dass der Staat in der derzeitigen Krise nicht passiv bleiben kann. Unsere Auffassung
von dem, was die Regierung tun sollte, ist aber eine andere.
({9})
Seit acht Jahren dümpelt die Binnennachfrage in
Deutschland vor sich hin. Wer die private Nachfrage
dauerhaft anregen will, darf sich nicht auf Einmalzahlungen an bestimmte Verbrauchergruppen beschränken.
Dazu brauchen wir dauerhafte, deutliche Steuersenkungen für alle.
({10})
Im Aufschwung kann sich der Staat dann bei seinen
Ausgaben zurückhalten und die Staatsquote sowie die
Verschuldung zurückfahren.
Auch wenn manche Ihrer Ansätze, zum Beispiel bei
der Bildungsinfrastruktur, nicht verkehrt sind: Dem
Konjunkturprogramm, so wie es von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden ist, kann man eigentlich nur ein
„So nicht!“ entgegenhalten. Mit diesem Konjunkturpaket werden viele Fehler der 70er-Jahre wiederholt. Nach
der Ölkrise wurden 13 Konjunkturprogramme aufgelegt.
Das Ergebnis waren mehr Schulden, weniger Wachstum,
höhere Arbeitslosigkeit.
({11})
- Herr Kauder, die FDP hat im Gegensatz zu anderen aus
diesen Fehlern gelernt. Sie wiederholen diese Fehler in
noch größerer Dimension. Das ist der Unterschied, Herr
Kauder.
({12})
Die Erfahrungen zeigen ganz klar: Der Staat übernimmt sich, wenn er den Konjunkturzyklus entscheidend
glätten will. Das Ergebnis ist meist ein Strohfeuer und
hohe Staatsverschuldung. Noch schlimmer: Der Staat
wird vom Schiedsrichter zum Mitspieler. Sie verstoßen
bei vielem gegen die marktwirtschaftliche Ordnung.
Es ist ordnungspolitisch verfehlt, wenn man es einzelnen
Unternehmen, die Fehlentscheidungen getroffen haben,
ermöglichen will, diese Fehler durch Staatsgeld zu kompensieren. Je größer die Unternehmen sind, umso leichter sind Sie bereit, Geld lockerzumachen: „too big to
fail“. Der Mittelstand, die Handwerker schauen in die
Röhre; aber Großkonzernen wird die Türe aufgemacht.
Das ist der Unterschied.
({13})
Der Staat müsste der Wirtschaft helfen, aus den Problemen herauszukommen, mit ihnen fertig zu werden. Er
müsste den Strukturwandel fördern, die Investitionsbedingungen dauerhaft verbessern, die Belastung durch
Steuern und Abgaben verringern und Leistungsträger ermuntern. Aber das Häuflein der Marktwirtschaftler in
der Union wird immer kleiner. Mindestlohn, Erbschaftsteuer, Schuldenbremse - es genügt nicht, wenn die wenigen Wirtschaftler in der Union gelegentlich Miau machen; sie müssen einmal die Krallen zeigen und sich zu
der sozialen Marktwirtschaft bekennen.
({14})
Die letzten marktwirtschaftlichen Widerstandsnester in
der Union sind die Haushälter, die noch kämpfen, aber
wohl auf verlorenem Posten.
Den Grünen rufe ich noch zu: Sie sollten Ihre Carte
blanche für den Bundesrat noch einmal überdenken. Angesichts des Paketes hier im Bundestag von einer Voodoo-Ökonomie zu sprechen,
({15})
aber ansonsten die zur Schau gestellte Generationengerechtigkeit gleich zu vergessen, ist sehr zwiespältig, so
wie vieles bei den Grünen.
({16})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben eine schwere Finanzkrise. Aus dieser schweren Finanzkrise entwickelt sich eine Wirtschaftskrise,
wie sie Europa und die Welt in den letzten 60 Jahren
nicht gesehen haben. In dieser Krise die richtige Antwort
zu geben, das ist unsere Aufgabe, nicht aber, hier an diesem Rednerpult ein Kasperletheater aufzuführen.
({0})
Ich bin davon überzeugt, dass bei aller Diskussion darüber, ob die eine oder andere Maßnahme richtig ist, die
Menschen danach urteilen werden, ob sie die Ernsthaftigkeit spüren, mit der an diese Aufgabe herangegangen
wird.
In diesen Tagen treffen sich in Davos, wohin auch einige unserer Kollegen fahren werden, Wirtschaftsführer
und Vertreter von Staaten aus der ganzen Welt. Analysiert man die Diskussionen der ersten Stunden und Tage
in Davos, so spürt man, dass auch diejenigen, die sich als
Fachleute bezeichnen, nicht wissen, in welchem Stadium
der Krise wir uns jetzt befinden, in welchem Stadium
sich dieser Prozess befindet, und dass es gar nicht so einfach ist, richtige Konzepte zu entwickeln.
Aber im Unterschied zu denen in Davos, die vor allem darüber reden, was gemacht werden muss, haben
wir die Aufgabe, Entscheidungen zu treffen. Wir haben
insbesondere die Aufgabe, den Menschen klar zu sagen,
was die ganzen Maßnahmen sollen, die wir jetzt organisieren. Es geht doch nicht darum, dass wir Bankern Geld
geben. Es geht auch nicht darum, dass wir der einen oder
anderen Wirtschaftsbranche Unterstützung geben. Die
entscheidende Botschaft heißt vielmehr: Wir leisten den
uns, den dem Staat möglichen Beitrag, um den Menschen eine Perspektive zu geben, durch diese schwere
Krise zu kommen. Dies ist unsere Aufgabe.
({1})
Eine Perspektive zu geben, durch diese Krise zu kommen, hat zwei Elemente.
Erstens kommen die Menschen dann gut durch die
Krise, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten können.
Deswegen ist zentrale Maßnahme dieses zweiten Pakets,
das wir heute mit der ersten Lesung auf den Weg bringen, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande
durch den Erhalt von Arbeitsplätzen eine Perspektive
aufzuzeigen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Aktivitäten, so die Investitionen im kommunalen Bereich.
Ein Instrument wird heute auch in den Wirtschaftsteilen der großen Zeitungen besonders gelobt. Da wird
gesagt: Gott sei Dank hat die Regierung, hat diese Koalition das Instrument der Kurzarbeit als Stabilisierungsinstrument erkannt. Dass wir das Instrument der KurzarVolker Kauder
beit als Stabilisierung in schwieriger Zeit nutzen können,
liebe Kolleginnen und Kollegen, hat etwas damit zu tun,
dass diese Große Koalition in den letzten drei Jahren ihre
Aufgaben gemacht hat und das Sozialversicherungssystem der Bundesagentur zum ersten Mal seit Jahrzehnten
keine Schulden hat, sondern dort eine veritable Rücklage
von 17 Milliarden Euro liegt, die jetzt eingesetzt werden
kann. Das ist nicht nur ein Erfolg der Großen Koalition,
der Regierung. Das ist das Ergebnis einer großen Gemeinschaftsleistung der Bürgerinnen und Bürger, der
Unternehmer, aber eben auch der richtigen Politik.
({2})
Der zweite Punkt, an dem die Menschen festmachen,
dass sie mit Perspektive durch diese schwierige Zeit
kommen, ist, ob das, was sie zu ihrer Alterssicherung
oder zur Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder gespart haben, erhalten bleibt. Deswegen ist die Stabilisierung der Banken nicht nur ein Thema für die Banken
selbst, sondern die Stabilisierung der Banken bedeutet
auch einen Schutz der Spareinlagen der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land. Deswegen machen wir
diese Maßnahmenpakete.
({3})
Ich kann nur darauf hinweisen, dass die Marktwirtschaft auch in dieser schwierigen Zeit ihre Berechtigung
und ihre Bedeutung hat. Ich muss aber auch sagen: Es
wäre unverantwortlich, wenn wir eine Bank in den Konkurs gehen lassen würden, weil wir damit nicht nur den
Wert der Aktien der Banker, derjenigen, denen die Bank
gehört, vernichten würden, sondern in unübersehbarer
Folge auch Spareinlagen sowie Zukunfts- und Lebenschancen der Menschen in unserem Land. Die Finanzkrise ist in unserem Land mit voller Wucht angekommen, als in den USA Lehman Brothers in Konkurs gegangen ist. Eine solche Entscheidung kann ich mir in
Deutschland, in unserem Land nicht vorstellen.
({4})
Herr Brüderle, ich gebe Ihnen ja völlig recht: In einer
Marktwirtschaft ist es nicht die erste Aufgabe des Staates, darüber zu entscheiden, welche Firma aufgrund ihrer
ganz konkreten Risikostruktur weitergeführt werden
kann und welche nicht, wenngleich ich auch sage, dass
dies bis weit hinein in unsere Wahlkreise in der Vergangenheit, wenn es um Bürgschaften usw. ging, immer
wieder auch mit Unterstützung von Politikern gemacht
worden ist. Trotzdem warne ich davor, zu glauben, dass
in einem Ministerium - bei allem Respekt, Herr Bundesfinanzminister - eine Heerschar von Beamten entscheiden kann, wer Zuwendung, wer Kredit, wer was bekommt.
Auch wenn wir diese Ansicht miteinander teilen,
komme ich doch zu einem ganz anderen Ergebnis, nämlich zu dem Ergebnis, dass es jemanden geben muss, der
diese Aufgabe übernimmt: Das ist unsere Bankenstruktur. Deswegen, Herr Finanzminister, begrüße ich es außerordentlich, dass Sie angekündigt haben, noch einmal
zu überlegen und mit uns in den Bundestagsfraktionen
noch einmal darüber zu sprechen, was getan werden
muss, damit der Interbankenverkehr wieder in Gang
kommt, damit unsere Banken stabilisiert werden. Wer
wie ich und die Unionsfraktion will, dass die Grundsätze
der sozialen Marktwirtschaft auch in schwieriger Zeit
gelten, der muss das Interbankensystem und die Banken
stützen, damit sie die Aufgabe erfüllen können, die der
Staat nicht übernehmen kann.
({5})
Deswegen muss bei den Banken zweierlei überlegt
werden.
Erstens. Wir wissen, dass bei den Banken noch immer
Risikopapiere liegen, die das Geschäft offenkundig erschweren. Zur Lösung dieses Problems gibt es verschiedene Vorschläge. Ich sage gleich einmal, was ich mir
nicht vorstellen kann: Ich kann mir nicht vorstellen, dass
der Bund zur bundesweiten Sondermülldeponie für toxische Papiere aller Banken wird. Das kann ich mir nicht
vorstellen.
({6})
- Ich bin mit der FDP bei einem wichtigen Punkt einig.
Auch gut!
Wenn ich sage, was ich mir nicht vorstellen kann,
dann folgt die Frage: Was kann man sich vorstellen?
({7})
Ich kann mir das, worüber im Bundesfinanzministerium
und in der Bundesregierung diskutiert wird, durchaus als
richtigen Weg vorstellen, nämlich zu sagen: Jedes Bankinstitut trägt Verantwortung für seine nicht so werthaltigen Papiere. Deswegen überlegen wir, ob wir es bilanztechnisch ermöglichen sollen, diese Papiere in andere
Formen, in Zweckgesellschaften auszulagern, aber in der
Verantwortung der einzelnen Bank zu lassen. Dabei ist
zu überlegen, wie dies über einen längeren Zeitraum abgesichert werden kann.
Die Österreicher haben das Modell einer gestreckten
Abschreibung - mit vielen Vorteilen. In der Fachwelt
wird darüber diskutiert, ob man eine Risikoversicherung
machen muss. Man kann über alles reden. Dieses Modell
- die Verwaltung der Papiere in eigener Verantwortung
der Banken - führt im Übrigen auch dazu, dass die Eigentümer, die Aktionäre dieser Banken, an diesem Risiko mitbeteiligt werden und nicht nur der Steuerzahler.
Das ist genau der richtige Weg.
({8})
Herr Bundesfinanzminister, ich würde Sie bitten, einen zweiten Punkt im Zusammenhang mit diesen Diskussionen jetzt auf den Weg bringen. Dies betrifft die
Bankenaufsicht. Man kann ja viel behaupten, aber dass
die Krise durch die Große Koalition bewirkt worden sei,
wie ich das bei Zwischenrufen aus den Reihen der Grünen gehört habe, glaubt wirklich niemand mehr.
({9})
Es glaubt jedoch auch niemand, dass die Bankenaufsicht, so wie sie jetzt aufgestellt ist, für die neuen Herausforderungen richtig strukturiert ist.
({10})
Wir haben in der Unionsfraktion Vorschläge entwickelt
und möchten, dass wir jetzt darüber diskutieren. Ich
kann mir vorstellen, dass wir die Bankenaufsicht, die
noch getrennt ist, bei der Bundesbank, also in einer Behörde, konzentrieren; dort sollten wir alles zusammenführen.
({11})
Ich kann mir auch vorstellen, dass wir parallel zu diesem
Modell, das ja offenbar breite Zustimmung in diesem
Hause findet,
({12})
eine europäische Bankenaufsicht bei der Europäischen
Zentralbank in Frankfurt einsetzen. Die einen üben die
nationale Aufsicht aus, und bei der EZB in Frankfurt
werden Produkte geprüft und zertifiziert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen
also: Wir sind in dieser Krise stark genug, um Orientierung zu geben.
Jetzt will ich an die Opposition gerichtet sagen: Wir
haben auch in den eigenen Reihen Diskussionen. Wir
kommen dann aber zu Entscheidungen, die wir durchführen. Jetzt will ich angesichts der vielen Meinungen,
die es gibt, gar nicht sagen, dass das eine oder andere
nicht auch überlegt werden kann. Aber um eines bitte ich
im Interesse unseres Landes: Es sollte keine Diskussion
geführt werden, die weit ab von der Wirklichkeit und der
Erfahrungswelt der Menschen in unserem Land ist. Darum bitte ich.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, der uns in der Koalition wichtig war. Wir haben in den vergangenen drei
Jahren dieser Großen Koalition gezeigt, dass Haushaltssanierung und Haushaltskonsolidierung für uns ernste
und wichtige Themen sind.
({13})
Von einem strukturellen Defizit von 60 Milliarden Euro
und einer Nettokreditaufnahme von 30 Milliarden Euro
im Jahr 2005 wollten wir zu einem strukturellen Defizit
von null und einer Nettokreditaufnahme von null im Jahr
2011 kommen; ohne die Wirtschaftskrise hätten wir das
erreicht.
({14})
Das zeigt doch, dass unser Weg der Konsolidierung und
der Zurückführung der Schulden richtig war.
({15})
Das, was uns in den letzten drei Jahren wichtig war,
gilt auch in Zukunft. Es ist völlig ausgeschlossen, ein
Maßnahmenprogramm, das der Konjunktur Antrieb geben soll und mit Geld ausgestattet sein muss, nicht auf
dem Kreditweg zu finanzieren, wenn man noch immer
neue Schulden machen muss. Das ist doch völlig logisch. Aber wir haben die Schulden schon sehr stark zurückgeführt. Deswegen sagen wir: Es ist für uns in der
Großen Koalition unabdingbar, dass wir dieses Programm mit einer Schuldenbremse versehen.
({16})
Ohne Schuldenbremse und ohne Tilgungsplan wird dieses Konzept nicht auf den Weg gebracht.
({17})
Herr Kuhn, ich habe sehr wohl gelesen, was Sie gestern oder heute zu diesem Thema gesagt haben. Es ist
völlig richtig: Die beste Lösung wäre, wenn wir eine gesamtstaatliche Schuldenbremse einführen könnten.
({18})
- Das ist doch unbestritten; das haben wir doch immer
gesagt.
({19})
Wir wollen, dass Bund und Länder diese Schuldenbremse gemeinsam beschließen. Genau daran arbeiten
doch Peter Struck und Günther Oettinger gerade.
Am 5. Februar findet die wohl entscheidende Sitzung
der Föderalismuskommission II statt, in der über dieses
Thema gesprochen wird. Ich sage nicht nur in Interviews, sondern auch an diesem Rednerpult: Ich habe den
Wunsch und die Bitte, dass die Länder einen Vorschlag
machen, wie es gelingen kann, zu einer gemeinsamen
Schuldenbremse zwischen Bund und Ländern zu kommen.
({20})
Zur gleichen Zeit sage ich aber auch: Ohne eine Schuldenbremse kommt das Paket nicht. Deswegen weiß jeder, wie im Augenblick die Bedingungen dafür sind.
({21})
- Herr Kollege Westerwelle, ich nehme an, dass die Landesvertretungen ihren Regierungen schon berichten werden und die Ministerpräsidenten wissen, welche Forderungen wir haben. Im Übrigen sitzen wir am 5. Februar
mit den Vertretern der Länder zusammen in der Kommission. Dann wird darüber noch einmal gesprochen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir befinden uns
in einer Zeit großer Herausforderungen. Ich finde, dass
wir mit diesem Maßnahmenpaket den Herausforderungen gerecht werden und dass wir sehr wohl die Botschaft
formulieren können: Wir müssen nicht nur zuschauen,
wir sind der Situation nicht nur ausgeliefert. Wir können
vielmehr etwas leisten. Wir als Deutsche sind in Europa
stärker als jedes andere Land. Deswegen kommt es auf
unsere Signalwirkung und unsere Motivation ganz entscheidend an.
({22})
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen tatsächlich vor einer großen Herausforderung; das ist in diesem Hohen Hause bei allen Fraktionen sicherlich zustimmungsfähig. Die Frage ist, ob die
Bundesregierung die richtigen Antworten auf diese
große Herausforderung gibt.
({0})
Eine große Herausforderung ist die Lösung der sogenannten Bankenkrise. Hierzu hat sich der Bundesfinanzminister eingelassen; es war sehr interessant, ihm
zuzuhören. Er hat beispielsweise gesagt, es gebe kein
Drehbuch. Wenn man das hier so vorträgt, dann macht
man es sich etwas zu einfach. Es geht bei der Bankenkrise zunächst um die Frage, die wir hier auch diskutiert
haben: Gab es Staatsversagen? Das war die Meinung der
einen Seite dieses Hauses. Dann geht es um die Frage:
Gab es ein großes Versagen der Vorstände der Banken
oder der Banken überhaupt? Das war der Schwerpunkt
der anderen Seite dieses Hauses. Die Konsequenz aus
den Diskussionen der letzten Monate ist, dass es auf der
einen Seite in großem Umfang Staatsversagen und auf
der anderen Seite in großem Umfang Versagen von Bankern durch Veruntreuung und Verschleuderung von Milliarden gab. Diese Konsequenzen müssen wir hier sehen.
({1})
Dann müssen wir fragen: Was können wir jetzt tun,
um eine solche Krise zukünftig zu vermeiden? Auf der
einen Seite muss der Staat anders handeln als in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite müssen die Banker
angehalten oder genötigt werden, anders zu handeln, als
sie bisher gehandelt haben. So einfach sind im Grunde
genommen die Konsequenzen, die aus den bisherigen
Ereignissen zu ziehen sind.
Nun hat der Bundesfinanzminister hier gesagt, es
gebe kein Drehbuch. Ich sage noch einmal: So einfach
sollte man es sich nicht machen. Es gab hierzu den Zwischenruf: Wer kein Drehbuch hat, sollte jetzt zurücktreten, weil er keine Antworten auf die Herausforderungen
hat.
({2})
Ich will beispielsweise ein Drehbuch nennen, das wir
Ihnen empfehlen, das Drehbuch der Schweden. Das
liegt der Bundesregierung vor. Die Schweden standen
vor einer ähnlichen Herausforderung und haben diese
Herausforderung erfolgreich bewältigt.
({3})
Nun ist diese Herausforderung nicht völlig mit der jetzigen Situation vergleichbar, aber in vielen Dingen ist sie
es natürlich schon.
Ich möchte Ihnen erklären, warum wir, die Fraktion
Die Linke, für das schwedische Modell plädieren. Wir
plädieren nicht deshalb für das schwedische Modell,
weil wir der Auffassung sind, der Staat sei der bessere
Banker - es gibt einige solcher Klischees, die ständig
wiedergekäut werden -, sondern weil wir der Auffassung sind, dass diese Regierung die verdammte Pflicht
hat, die Verwendung von Steuergeldermilliarden zu kontrollieren. Das ist der Kern dieser Auseinandersetzung.
({4})
Das tun Sie aber überhaupt nicht. Ich wiederhole: Diese
Bundesregierung veruntreut in großem Umfang Steuergeld - in Milliardenhöhe -, indem sie Schecks verteilt,
ohne sicherzustellen, dass das Geld auch ordentlich verwandt wird. Das ist der Kern des Problems.
({5})
Das bedeutet ganz konkret: Wenn man einer großen
Geschäftsbank, der Commerzbank, 18 Milliarden Euro
hinüberschiebt, dann muss man auch folgende Fragen
beantworten können: Erstens. Können sie solche Gelder
wieder außerhalb der Bilanz verwenden? Zweitens.
Können sie solche Gelder vielleicht in Steueroasen verschieben? Drittens. Können sie solche Gelder verwenden, um wieder Schrottpapiere zu kaufen? Keines dieser
Probleme haben Sie gelöst!
({6})
Es ist unglaublich, welch katastrophales Versagen und
welche Ahnungslosigkeit man immer wieder feststellen
muss, wenn man Ihnen zuhört.
Wir haben versucht, Ihnen auf die Sprünge zu helfen.
({7})
Wir haben gesagt: Wenn Sie unseren Vorstellungen nicht
folgen wollen, sollten Sie zumindest die Vorschläge des
ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ernst nehmen. Er hat einen Katalog zur Regulierung der Finanzmärkte vorgelegt, der weit besser ist als das, was Sie bisher vorgetragen haben. Es ist unglaublich, dass Sie das
kommentarlos abgelehnt haben.
({8})
Nun komme ich zu meinem zweiten Punkt, zum Konjunkturprogramm. Das Konjunkturprogramm ist na21970
türlich in vielen Punkten richtig angelegt. Es ist aber viel
zu klein bemessen, und es ist sozial unausgewogen. Der
Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen, dass die
außenwirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik
Deutschland 40 Prozent beträgt und dass die außenwirtschaftliche Verflechtung Deutschlands weitaus größer ist
als die Japans, der Vereinigten Staaten von Amerika oder
Chinas. Das alles ist richtig. Gleichzeitig fällt die Antwort, die Deutschland auf die konjunkturelle Krise gibt,
ungleich zögerlicher aus als die Antwort der Staaten, die
ich gerade nannte. Das muss doch zumindest einmal thematisiert werden.
({9})
Wir lassen uns wieder einmal von den anderen ziehen
und glauben, wir könnten endlos so weitermachen.
Sie müssen auch einmal ein Argument anführen - irgendein Argument!
({10})
Sie haben wieder einmal betont, das Konjunkturprogramm sei angemessen dimensioniert. Ich habe Sie vor
einiger Zeit darauf hingewiesen, dass der ehemalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt - es ist natürlich ein bisschen boshaft, das hier zu sagen - erwähnt hat, dass man,
um einen Rückgang der Wirtschaftstätigkeit um etwa
2 Prozent zu kompensieren, mindestens 3 bis 4 Prozent
des Sozialprodukts aufbringen muss. Sie müssen einmal
ein Argument anführen, warum Sie das nicht tun. Allein
die Anwendung der Grundrechenarten müsste Sie eigentlich dazu bringen. Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre
Politik umstellen.
({11})
Als der Bundesfinanzminister die Verschuldungssituation dargestellt hat, war von unserer Seite ein Zuruf
zu hören. Ich frage Sie: Ist es von der Opposition denn
wirklich vermessen, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie
hier noch vor dreieinhalb Monaten absoluten Unsinn
vorgetragen haben?
({12})
Sie haben an dieser Stelle ausgeführt, Sie würden die
Konsolidierungsziele einhalten, und die Staatsquote
würde sinken. Angesichts dessen, dass Sie noch vor drei
Monaten solch einen Unsinn von sich gegeben haben,
wundert man sich, mit welch einer Frechheit und Dreistigkeit Sie hier auftreten.
({13})
Herr Bundesfinanzminister, weil Sie gerade lächeln
- das ist immer so schön -, nun zu Ihnen. Kürzlich hatten Sie die Ehre, vom Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2008 in der New York Times erwähnt zu werden.
Er hat einen wunderbaren Artikel über die ökonomischen Konsequenzen der Politik des Herrn Steinbrück
geschrieben und Ihre Fehler erläutert; anscheinend lesen
Sie solche Artikel aber nicht, oder sie gehen einfach an
Ihnen vorbei.
Zum Schluss seiner Ausführungen hat der Autor geschrieben, dass Sie holzköpfig und dumm seien. „Boneheadedness“ hat er Ihnen vorgeworfen. Wenn ein Nobelpreisträger der Nationalökonomie einen solchen Vorwurf
äußert, dann sollte man zumindest einmal kritisch in sich
blicken und sich fragen, ob man nicht gravierende Fehler
gemacht hat.
({14})
„Boneheadedness“ - dieses Wort wird Ihnen in den
nächsten Jahren an der Backe kleben. Das ist ein wunderbarer Begriff, um Ihre Arbeit zu beschreiben.
({15})
Ich wiederhole: Mit den Begriffen „Dummheit“ und
„Holzköpfigkeit“ wurden Ihre Bemühungen, auf die
konjunkturellen Herausforderungen der Welt zu reagieren, charakterisiert.
({16})
Es ist nun einmal so: Die größte Exportnation der
Welt kann in einer weltwirtschaftlichen Krise dieses
Ausmaßes im Vergleich zu allen anderen Industriestaaten nicht eines der kleinsten Konjunkturprogramme vorlegen.
({17})
Das ist das Versagen, das man Ihnen vorwerfen muss.
Mein letzter Punkt. Sie wollen einen Fonds zur Stützung der Industrie auflegen. Das ist nach unserer Auffassung richtig. Denn wir wissen nicht, ob in nächster Zeit
weitere Rettungsaktionen erforderlich sein werden bzw.
welches Ausmaß sie haben werden. Es wird in diesem
Zusammenhang, übrigens auch von den Kolleginnen
und Kollegen der liberalen Fraktion, immer wieder darauf hingewiesen, dass man Großbetriebe unterstützt,
während man kleine Betriebe nicht unterstützt; das ist
ein Zwiespalt, in dem sich jeder, der Verantwortung
trägt, befindet. Das ist natürlich eine völlig unbefriedigende Situation. Aber das ist auch eine moralische
Frage: Wenn Großbetriebe Pleite machen, entsteht ein
Strudel, in den viele Kleinbetriebe hineingezogen werden. Deshalb kann der Staat nicht tatenlos zusehen,
wenn Großbetriebe Konkurs anmelden. Ich muss das in
dieser Klarheit einmal ansprechen.
Die Bundesregierung diskutiert jetzt darüber, wie
man sich im Fall Schaeffler verhalten soll. Natürlich ist
diese Diskussion notwendig; aber man muss zu einem
Ergebnis kommen. Es geht hier nicht darum, das Vermögen von Frau Schaeffler zu retten oder sie risikofrei zu
stellen, es geht um 200 000 Arbeitsplätze. Der Staat
kann nicht tatenlos zusehen, wenn Fehlentscheidungen
zur Gefährdung dieser 200 000 Arbeitsplätze führen.
({18})
Deshalb ist es richtig, wenn der Staat sowohl bei Opel
als auch bei Schaeffler als auch bei anderen Betrieben
versucht, lenkend einzugreifen. Das vertrete ich hier für
unsere Fraktion.
Auf der anderen Seite sollten wir aus den Fehlentscheidungen der Vergangenheit endlich Lehren ziehen.
Schon in den 60er-Jahren ist darüber diskutiert worden,
ob es richtig ist, im Rahmen der regionalen Strukturförderung Millionen zu geben - damals ging es noch
um Millionen -, die letztlich den privaten Anteilseignern
zukommen. Dies sei, so hat der sozialdemokratische
Wirtschaftsminister Karl Schiller wörtlich gesagt, verteilungspolitisch problematisch. Seit den 60er-Jahren wird
darüber diskutiert; doch geändert hat sich überhaupt
nichts.
Als die Mauer fiel und es darum ging, die Frage zu
beantworten, was aus dem Staatsvermögen der DDR
werden soll, haben wir die Privatisierung als Antwort
gegeben. Dabei hätten wir die Chance gehabt, eine andere Wirtschaftsstruktur anzugehen. Jetzt haben wir
wieder diese Chance, weil der Staat in großem Umfang
herausgefordert sein wird, Betriebe zu unterstützen.
Die Linke gibt allerdings nicht die Antwort der Verstaatlichung, wie sie ein Ministerpräsident der CDU gegeben hat und wie die Bundeskanzlerin der Presse zufolge vernehmbar war. Die Linke sagt vielmehr:
Belegschaftsbeteiligungen sind die richtige Antwort,
wenn der Staat in großem Umfang eingreifen muss.
({19})
Die Mitarbeitergesellschaft ist für uns die Gesellschaft
der Zukunft. Wir müssen uns wieder der Frage stellen,
wie wir die Demokratie in unserem Lande verwirklichen
können.
Ein Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen hat nach dem Kriege gesagt: Demokratie in der Politik und Absolutismus in der Wirtschaft, das wird auf
Dauer nicht gut gehen. Wir haben jetzt die Chance,
durch Belegschaftsbeteiligungen und Mitarbeitergesellschaften den Absolutismus in der Wirtschaft abzubauen.
({20})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat
befinden wir uns in der schwersten Krise seit Jahrzehnten. Wenn Sie die Zahlen des letzten Quartals 2008
hochrechnen, sehen Sie, dass die Schätzung, dass wir in
diesem Jahr einen Rückgang von 2,25 Prozent haben
werden, noch optimistisch ist, und das trotz des größten
Konjunkturprogramms.
Aber ich muss mich schon wundern, Herr Lafontaine,
dass in dieser ernsten Situation immer noch Leute auftreten, die das anscheinend für eine Gelegenheit zum Abzocken halten. Vor ein paar Jahren mussten wir in der
Presse von Florida-Rolf lesen, der Sozialhilfe hinterzogen hat. Ich will heute einmal von jemand anderem reden: von Kitzbühel-Maria.
({0})
Frau Schaeffler marschiert im Pelzmantel - echter Pelz! bei Herrn Glos vorbei, hält die Hand auf und sagt:
1,5 Milliarden Euro, finanziert mir bitte eine größenwahnsinnige Übernahme, die ich als eine der reichsten
Frauen dieser Republik gegen die Wand gefahren habe. Was hier praktiziert wird,
({1})
ist die Folge davon, dass ein schlechtes Beispiel gegeben
wurde.
({2})
Schlechte Beispiele verderben gute Sitten, heißt es nicht
umsonst. Das schlechte Beispiel haben Sie selber geliefert: Das erste Paket, das CDU/CSU und SPD gegen die
Bankenkrise geschnürt haben - und die FDP hat dem zugestimmt -, war ein solches schlechtes Beispiel. Heute
sagt die FDP - ich habe genau zugehört, Herr Brüderle -:
Ohne Kontrolle wurden 100 Milliarden Euro herausgereicht, plus 400 Milliarden Euro an Bürgschaften.
({3})
Jetzt stellt sich der Bundesfinanzminister hier hin und
sagt: Das, was wir damit erreichen wollten, nämlich die
Verhinderung einer Kreditklemme, wurde nicht erreicht.
Die Kreditkonditionen für die Wirtschaft haben sich dramatisch verschlechtert.
({4})
Sie ziehen aus dieser Situation die Konsequenz, dass Sie
einen Deutschlandfonds mit einem Volumen von
100 Milliarden Euro auflegen. Dieser Deutschlandfonds
ist Ihr eigenes Eingeständnis, dass Sie bei diesem Bankenrettungspaket falsch gehandelt und ein schlechtes
Beispiel geliefert haben.
({5})
Sie sagten: Wenigstens das Interbankengeschäft
muss angekurbelt werden. - Wenn Ihnen das gelungen
wäre, hätten Sie dann wirklich mittlerweile 92 Milliarden Euro in die Hypo Real Estate hineinpumpen
müssen? - Nein! Wäre es dann nötig gewesen, für die
Übernahme von 25 Prozent der Commerzbank, die heute
an der Börse noch 3 Milliarden Euro wert ist, bzw. für
die Teilverstaatlichung insgesamt 18,5 Milliarden Euro
auszugeben? - Nein, das alles wäre nicht nötig gewesen.
({6})
Es wäre erstens richtig gewesen, dass die Bankmanager den Schutzschirm nicht freiwillig nutzen können,
sondern dass sie verpflichtet werden, dies zu tun. Es
wäre zweitens richtig gewesen, dies durch eine Teilverstaatlichung zu erreichen, und es wäre drittens richtig
gewesen, als Anteilseigner dieser Banken das zu erreichen, um was es bei diesem Paket, so Herr Kauder, angeblich ging, nämlich die Wiederherstellung eines funktionierenden Finanzmarktes in diesem Lande. Das haben
Sie nicht getan. Herr Minister, Sie haben in der Tat Geld
verbrannt.
({7})
Hinsichtlich des zweiten Versuchs haben Sie uns dann
erzählt, dass das jetzt ein transparentes Verfahren ist und
dass Sie erneut einen Schattenhaushalt aufbauen. Frau
Merkel, Sie haben hier sogar gesagt, dass der Erblastentilgungsfonds ein Musterbeispiel dafür sei, wie man getilgt habe. Die Wahrheit ist: Von den 156 Milliarden
Euro sind durch den damaligen Verkauf der UMTS-Lizenzen 34 Milliarden Euro getilgt worden. Der Rest ist
aus dem Schattenhaushalt herausgenommen worden.
Frau Merkel, Sie haben sich hier auf die schwäbische
Hausfrau berufen. Was macht man mit einer schwäbischen Hausfrau, die nicht rechnen kann? Führt man eine
Extrakehrwoche ein?
({8})
Nein, Herr Steinbrück, ich glaube, dass Sie Grund
hatten, sich hinsichtlich der Skepsis gegenüber den Wirtschaftswissenschaftlern heute hier so bedeckt zu halten;
denn es kommt ja in der Tat nicht alle Tage vor, dass ein
amtierender Finanzminister von einem frischgekürten
Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften so vernichtend kritisiert wird, wie das hier geschehen ist. Ich
glaube aber dennoch, dass Paul Krugman recht hat: Die
in diesem Paket enthaltenen Maßnahmen wirken zu
langsam, zu zaghaft und nicht zielgenau. Sie verfehlen
damit genau das Ziel der Stärkung der Binnennachfrage
bei Wegbruch der Exportnachfrage.
Dafür muss man investieren. Sie sagen selber, dass
das Geld, das an die Kommunen gezahlt wird, frühestens
in der zweiten Hälfte dieses Jahres als Investitionsleistung auch in der Wirtschaft ankommen wird. Wahrscheinlich wird das erst 2010 der Fall sein. Wenn Sie bis
dahin etwas erreichen wollen, dann hätten Sie aber die
Konsumnachfrage stärken müssen.
({9})
Das ist ganz einfach. Diese einfache Wahrheit hätte aber
zur Konsequenz gehabt, dass Sie gezielt Geringverdiener entlasten müssen und nicht mit der Schrotflinte in
der Gegend herumballern dürfen.
({10})
Was machen Sie? - Sie senken die Steuern für jene
Hälfte der Bevölkerung, die Einkommensteuer zahlt. Die
andere Hälfte hat nichts davon. Das sind aber die Ärmeren und die, durch die der Konsum steigen würde. Das
kostet Sie 7 Milliarden Euro. Was könnte man mit
7 Milliarden Euro tun? - Mit 7 Milliarden Euro könnten
Sie die Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener
endlich deutlich unter 40 Prozent senken. Für die Menschen, die noch weniger verdienen, könnten Sie sie sogar
streichen. Das wäre eine sinnvolle Investition. Dann hätten diese Menschen in der Tat mehr Netto vom Brutto.
({11})
Sie nehmen 10 Milliarden Euro aus diesem Paket in
die Hand, um Ihren Gesundheitsfonds zu finanzieren.
Was hätte man mit 10 Milliarden Euro alles machen können? Überlegen Sie einmal: 37 Prozent der Kinder in
Berlin unter 15 leben heute von Arbeitslosengeld II. Mit
10 Milliarden Euro, die Sie in Ihren verrückten Gesundheitsfonds stecken, hätten Sie die Arbeitslosengeld-IIRegelsätze von 351 Euro auf 420 Euro erhöhen können.
Sie hätten damit ein Stück mehr Würde in diese Haushalte gebracht.
({12})
Sie hätten einen verfassungswidrigen Zustand beendet,
und Sie hätten, ökonomisch vernünftig, die Nachfrage
gestärkt. Aber Sie tun es nicht.
({13})
Lieber Herr Steinbrück, Sie haben hier auf verschiedene Krisen verwiesen, die sich überlagern. Vielleicht ist
es unter den Bedingungen der Globalisierung vernünftig,
gelegentlich über die eigenen Grenzen hinwegzuschauen. Was machen Leute wie Obama?
({14})
Was empfehlen Krugman oder - für die CDUler vielleicht kompatibler - der Kollege Töpfer? Sie empfehlen,
in Bereiche zu investieren, die uns nach einer Krise zukunftsfähiger, wettbewerbsfähiger machen. Wenn Sie,
Herr Steinbrück, zum Beispiel eine Strukturkrise in der
Automobilindustrie diagnostizieren, dann müssen Sie
sich der Frage stellen: Was sind die Bereiche, die in
20 Jahren blühen und weiter wachsen werden? Wofür
wollen wir in der Zukunft arbeiten? In was wollen wir in
der Zukunft investieren?
Diesen Fragen haben Sie sich beim Schnüren Ihres
Pakets erkennbar nicht gestellt. Dabei sind sie gar nicht
so schwer zu beantworten. Wir müssen heute in all das
investieren, was unsere Wirtschaft nachhaltig unabhängiger macht. Wir müssen vor allen Dingen in das investieren, was dazu beiträgt, dass auf eine kohlenstoffärmere Produktion umgestellt wird.
({15})
Das ist die eigentliche Herausforderung. Da verknüpfen
sich Klimakrise und Finanzkrise. Das heißt, Sie müssen
in Modernisierung, vor allen Dingen in ökologische
Modernisierung investieren. Dafür hätten Sie Geld in
die Hand nehmen müssen. Das kann man auch schuldenfinanziert verantworten, weil es für kommende Generationen eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bedeutet. Aber was tun Sie? Sie investieren blind in all das,
was die verschiedenen Lobbygruppen innerhalb der Regierungsfraktionen durchgesetzt haben.
({16})
Man muss sich das einmal vorstellen: Ein richtig großer Anteil der Investitionen fließt in den Neubau von
Straßen, und das in einer Gesellschaft, die kleiner wird.
Das heißt, Sie versuchen, die Wirtschaftskrise im neuen
Jahrhundert mit den Rezepten der Nachkriegszeit, der
50er- und 60er-Jahre, zu bewältigen.
({17})
Sie können natürlich sagen: Es ist wunderbar, wenn wir
als künftiges Transitland ordentliche Straßen haben, über
die die anderen unser Land durchqueren können. Aber
mit Wertschöpfung hier vor Ort hat das alles überhaupt
nichts zu tun.
Sie, Herr Steinbrück, diagnostizieren in dieser Situation eine Strukturkrise der Automobilindustrie. Aber
was folgt daraus? Sorgen Sie dafür, dass unsere Automobilindustrie auf den Märkten von morgen wettbewerbsfähiger wird? Nein! Sie organisieren über die Abwrackprämie einen Ausverkauf der alten Flotte. Ich kann
Ihnen angesichts der Erfahrungen, die man in anderen
Ländern gemacht hat, heute schon sagen, was passiert,
wenn dieser Boom zu Ende ist - Sie werden einen gewaltigen Kater haben -: Heute werden in den Autohäusern noch Extraschichten gefahren; am Ende des Jahres
wird diese Entwicklung umschlagen in Kurzarbeit und
Entlassungen. Das ist die Wahrheit.
({18})
Die von Ihnen auf den Weg gebrachte Reform der
Kfz-Steuer bringt dem durchschnittlichen Golffahrer
60 Euro. Aber Sie scheuen sich, die daraus resultierenden Mindereinnahmen wieder hereinzuholen; Sie trauen
sich nämlich nicht, die Spritfresser, die SUVs und andere große Fahrzeuge angemessen, also stärker zu belasten.
({19})
Das ist Ausdruck der Zögerlichkeit der Großen Koalition. Das Ergebnis sind übrigens 1,8 Milliarden Euro
Mindereinnahmen. 1,8 Milliarden Euro werden künftige
Generationen wegen dieses Konjunkturpakets zusätzlich
zu zahlen haben, weil Ihnen der Mut zum Umsteuern
fehlt.
({20})
Steuern heißt mit Steuern zu steuern. Sie machen eine
Kfz-Steuerreform ({21})
- Schütteln Sie nicht so den Kopf, Herr Koppelin.
({22})
Diese Kfz-Steuerreform ist, was die Lenkungswirkung
angeht, Ihrem Vorschlag sehr nahe, die Kfz-Steuer auf
die Mineralölsteuer aufzuschlagen. Das ist eine interessante Idee, gerade von der FDP. Ich stelle mir schon jetzt
vor, wie Herr Koppelin sich an die Tankstellen stellt und
seine Steuersenkungen preist, während er gleichzeitig zu
vertreten hat, dass Benzin und Diesel zwischen 10 und
15 Cent - manche Experten sagen ja sogar: 30 Cent teurer geworden sind. Im Vergleich zu Ihren Vorschlägen, lieber Herr Koppelin, hatte die Einführung unserer
Ökosteuer sehr bescheidene Auswirkungen. Viel Spaß
bei dieser Übung!
({23})
Herr Kollege Trittin, möchten Sie den Dialog mit dem
Kollegen Koppelin noch vertiefen?
Gerne.
Das ist der Fall. Bitte schön, Herr Koppelin.
Herr Kollege Trittin, ich will Ihnen gerne erklären,
warum ich mit dem Kopf geschüttelt habe. Ich habe Ihre
Rede bisher mit großem Interesse verfolgt. Einzelne
Punkte waren sehr interessant. Ich habe dann mit dem
Kopf geschüttelt, weil ich mich angesichts der Rede, die
Sie gehalten haben, gefragt habe, wie man, ohne das Paket der Regierung zu kennen, Zustimmung im Bundesrat
signalisieren kann.
({0})
Herr Koppelin, ich hatte schon den Verdacht, dass Sie
diese Frage stellen würden. Weil ich laut Uhr des Präsidenten nur noch 1 Minute und 36 Sekunden Redezeit
hatte, hatte ich das auch gehofft. Das erlaubt nämlich
noch eine zusätzliche Auseinandersetzung.
({0})
Ich will Ihre Frage sehr präzise beantworten: Das
neue Paket löst Investitionen in Höhe von ungefähr
14 Milliarden Euro aus. Dem stehen Steuerausfälle, so
die Regierungsvorlage, in Höhe von 7 Milliarden Euro
gegenüber. Das muss man also schon einmal gegenrechnen.
({1})
Allein die Länder kostet das 3 Milliarden Euro und die
Kommunen zusätzlich 1 Milliarde Euro. Das ist so.
({2})
Jetzt stehen die Länder und insbesondere die Stadtstaaten Hamburg und Bremen vor einer ganz einfachen
Frage: Wollen sie zulassen, dass ihre Kassen noch weiter
geplündert werden, oder retten sie ihre Kassen, indem
sie dazu beitragen, dass dieses Paket verabschiedet
wird? Das ist die ganz einfache Frage.
Das, was Sie von der FDP vertreten, kann schlechterdings im Interesse von Bremen und Hamburg sein. Sie
fordern nämlich noch weitere Steuersenkungen.
({3})
Diese brächten noch weitere Einnahmeausfälle für Bremen und Hamburg mit sich.
({4})
- Sie sollten sich einmal anschauen, was Sie in Pressemitteilungen zum Besten geben. Wenn man all das zusammenrechnet, was Sie an Steuersenkungen fordern,
dann kommt man auf einen Betrag von ungefähr
50 Milliarden Euro.
({5})
Ihr Partei- und Fraktionsvorsitzender hat dafür einen
grandiosen Gegenfinanzierungsvorschlag gemacht, nämlich Entwicklungshilfe in Höhe von 400 Millionen Euro
für China zu streichen. Das macht noch nicht einmal
1 Prozent des Betrages aus. Außerdem gibt es diese in
dieser Form gar nicht. Ihre Leistungen, lieber Herr
Westerwelle, bei den Grundrechenarten sind also auch
schwach.
({6})
Das, was ich gerade gesagt habe, ist also der Grund dafür, warum Bremen und Hamburg sagen: Nein, wir lassen uns unsere Kassen nicht von der FDP plündern.
({7})
Erlauben Sie mir noch eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang, lieber Herr Koppelin:
({8})
Insbesondere freue ich mich über die Haltung des Landes Berlin. Dort hat man vorletzte Woche nämlich das
Geld schon einmal prophylaktisch verteilt, was das Land
Berlin aus diesem Fonds bekommen soll. Nachdem die
Landesregierung nun festgestellt hat, dass das Vorhaben
auf jeden Fall den Bundesrat passieren wird, hat sie sich
überlegt, dass sie auch dagegen sein könnte. Ablehnen,
weil Annahme gesichert - so sehen die Helden von heute
aus, meine Damen und Herren.
({9})
Wenn man die Krise bekämpfen will, dann muss man
in die richtigen Bereiche investieren: Klima, Gerechtigkeit und Bildung. Sie hätten 3 Milliarden Euro in einen
Energiesparfonds investieren können. Sie hätten, statt
neue Straßen zu bauen, zum Beispiel 1,7 Milliarden Euro
für den öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung stellen
können. Sie hätten sehr viel stärker auf die Netze von
morgen setzen sollen. Netze von morgen sind weder Landebahnen noch Autobahnen, sondern das sind Wärmenetze und intelligente Stromnetze. Frau Kanzlerin, Sie
waren neulich bei einer Veranstaltung des Bundesverbandes Erneuerbare Energie. Dort hat man Ihnen vorgerechnet, dass im Jahre 2020 47 Prozent unserer Stromproduktion auf erneuerbaren Energien basieren werden.
Lassen Sie es 45, 43 oder 52 Prozent sein. Eines ist aber
völlig klar: Diese Menge an erneuerbarer Energie werden
Sie nur bewältigen können, wenn Sie massiv in intelligente Stromnetze und in den Aufbau ganz anderer Kraftwerkstrukturen investieren.
({10})
Sie hätten all dies tun müssen; denn hierbei handelt es
sich um die Infrastruktur von morgen.
Was machen Sie? Sie hören: Bildung - da muss man
jetzt etwas machen! Was tun Sie? Sie investieren in neue
Schulgebäude und neue Turnhallen.
({11})
Alles richtig. Nur, meine Damen und Herren, Investitionen in Bildung dürfen sich nicht auf Investitionen in Beton beschränken. In Bildung investieren heißt auch, in
Köpfe zu investieren, verlangt also Investitionen in die
Ausbildung von Erziehern, Lehrern sowie Professoren.
Genau an dieser Stelle versagen Sie.
({12})
Das ist der Grund, warum wir dieses Konjunkturpaket
für falsch halten. Wir glauben, dass Sie mit diesem Paket
nur eines getan haben: Statt den Herausforderungen einer nachhaltigen Bewältigung der Krise gerecht zu werden, haben Sie nur erneut nachgebessert. Wir sind ziemlich sicher, dass Sie im Herbst dieses Jahres noch einmal
nachbessern werden müssen - denn der Optimismus Ihres noch amtierenden Wirtschaftsministers wird sich in
diesem Punkt nicht bestätigen -, weil Sie nicht nachhaltig handeln. Es ist die falsche Antwort auf diese Krise.
({13})
Herr Kollege Poß ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir durften eine zirzensische gedankliche Meisterleistung von
Herrn Trittin bewundern. Er hat die Frage der FDP bravourös abgewendet,
({0})
sich dann aber, wie ich fand, argumentativ verheddert.
Bedauert habe ich, Herr Trittin, dass Sie in Sachen Besserwisserei in Konkurrenz zu Oskar Lafontaine getreten
sind.
({1})
Wenn Sie die derzeitige weltwirtschaftliche Situation
betrachten und behaupten, dass die USA unter Begleitung des klugen Ökonomen Paul Krugman alles richtig
gemacht hätten, während wir herumstümperten, dann hat
das mit der Realität nichts zu tun. Schauen Sie sich doch
an, was in den USA tatsächlich abläuft! Dort wird schon
der dritte Versuch gemacht, die Finanzmarktsituation in
den Griff zu bekommen. Wir sind beim ersten Versuch
und müssen darüber diskutieren, wie wir das angestrebte
und von uns allen geteilte Ziel erreichen, den Interbankenverkehr zu verbessern.
Es reicht nicht aus, Paul Krugman zu zitieren, der im
Übrigen fahrlässigerweise Vergleiche angestellt hat, die
man nicht anstellen kann. Wer die Situation in den USA
kennt - ich bilde mir ein, etwas davon zu verstehen -,
weiß, dass man ein Land, das ökologisch und industriepolitisch in weiten Bereichen auf dem Stand eines Entwicklungslands ist, Gott sei Dank nicht mit unserem
Land vergleichen kann.
({2})
Das ist genauso abwegig wie ein Vergleich mit England, was die Industriestruktur oder die Bedeutung des
Dienstleistungssektors angeht. Solche Schlaumeiereien
helfen uns in Deutschland zurzeit nicht weiter. Hier und
heute auch im Bundestag geht es darum, das annähernd
Richtige zu tun,
({3})
um mitzuhelfen, aus der derzeitigen Krise herauszufinden. Das gilt für Bund, Länder und Kommunen, weil es
eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, Arbeitsplätze in
Deutschland zu sichern. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung, der wir gerecht werden müssen.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine Nachbemerkung. Ich finde
die Haltung der Grünen dort, wo sie mitregieren, konstruktiv, wenn es dabei bleibt, Herr Trittin. Aber Sie
könnten durchaus das, was wir mit den beiden Paketen
- denn es geht um zwei Pakete; eines ist bereits beschlossen worden, und wir diskutieren heute über das zweite gemacht haben, positiver würdigen. Beide Pakete mit
einem Volumen von insgesamt 80 Milliarden Euro enthalten starke Impulse zur Energieeinsparung, Wärmedämmung und für den gesamten Bildungsbereich. Das
müssten Sie eigentlich begrüßen; es geht in die richtige
Richtung.
Selbst bei einem hochstreitigen Thema wie der KfzSteuer ist eine Lösung gefunden worden, die eine ökologische Orientierung aufweist und um die man sich
- wenn man sich genauer zurückerinnert - schon seit
Jahrzehnten bemüht. Das ist erreicht worden.
({5})
Bei aller Kritik, die von der Opposition kommen
muss und kann - das ist unbestritten -, wird das, was wir
vorgelegt haben, nicht richtig gewürdigt.
Denn unser Paket ist ein richtiger Mix, der im Kern
auf eine Investitionsstrategie Wert legt, von der insbesondere die Kommunen profitieren. Kommunen sind
nichts Abstraktes; damit profitieren die Kinder in den
Kindergärten, die Schüler in den Schulen und die Handwerker in den Städten von dem Plan, der zu einem wesentlichen Teil von Frank-Walter Steinmeier entwickelt
wurde.
({6})
Das Vorhaben ist richtig, und es müssen alle mithelfen,
dass es gelingt.
Darüber hinaus tauchen Fragen auf - zum Beispiel
nach dem 100-Milliarden-Euro-Fonds -, die sehr schwer
zu beantworten sind. Wir - ich unterstelle, dass das für
uns alle gilt - wollen die Arbeitsplätze sichern. Aber bei
der Frage, ob man dann noch Milliardären Milliarden
hinterherwirft, kommt man ins Grübeln. Wer will genau
auseinanderhalten, ob die aufgetretenen Probleme der
Finanzmarktkrise zuzuordnen sind oder ob das auch einer falschen Unternehmensstrategie bzw. falschen unternehmerischen Entscheidungen geschuldet ist. Ich habe
heute im Morgenmagazin einen durchaus klugen Professor dazu gehört. Er hat gesagt, das müsse man auseinanderhalten. Dazu kann ich nur sagen: Good luck bei dem
Versuch, das in der Praxis auseinanderzuhalten! Das sind
doch die Schwierigkeiten, mit denen wir es hier zu tun
haben.
({7})
Eine Bemerkung zum Staats- und Bundeshaushalt.
Unser Ziel bleibt es, nach Bewältigung der Schwierigkeiten, mit denen wir es auf absehbare Zeit zu tun haben,
möglichst schnell zu einem ausgeglichenen Staats- und
Bundeshaushalt zu kommen. Nach wie vor streben wir
außerdem an, in der Föderalismuskommission für Bund
und Länder eine realitätstaugliche Verfassungsgrenze bei
der öffentlichen Verschuldung zu erarbeiten; das ist unbestritten. Ich betone: eine realitätstaugliche Verfassungsgrenze. Das gebe ich im Hinblick auf die Beratungen in der nächsten Woche zu bedenken.
({8})
Unsere Konjunkturpakete und unsere Maßnahmen
zur Stabilisierung der Finanzmärkte können nur dadurch
finanziert werden, dass wir in diesem und im nächsten
Jahr viel mehr Schulden aufnehmen, als wir ursprünglich vorgesehen hatten. Das ist eine Hypothek für die
Zukunft. Das müssen wir den Menschen offen sagen.
Das verschweigen wir auch nicht. Selbst wenn es fast
banal klingt: Vor der zukünftigen Entwicklung ist die
Gegenwart zu gestalten und sind die Krisen der Gegenwart zu bewältigen.
({9})
Das verlangen die Menschen jetzt von uns. Dem müssen
wir gerecht werden. Wenn wir ausgerechnet von Herrn
Westerwelle als Schuldenmacher kritisiert werden, dann
ist das im Kern nicht ehrlich, wenn man gleichzeitig mit
Steuersenkungsvorschlägen und politischen Lockvogelangeboten operiert, die nie Realität werden können,
wenn man Stabilität auf Dauer erhalten will; das wissen
wir doch alle. Das ist doch Volksverdummung, was hier
teilweise stattfindet.
({10})
Ich verstehe daher die Diskussion bei unserem Koalitionspartner CDU/CSU, die darüber geführt wurde, nur
sehr unvollständig; denn auch ein Land wie Bayern hat
nicht mehr die finanziellen Mittel und die haushalterischen Verhältnisse, wie das vielleicht vor ein, zwei Jahren der Fall war. Weitere Steuersenkungen zu finanzieren - unser Paket sieht sogar auch welche vor -, ist in
der Tat für Länder und Kommunen gar nicht mehr so
einfach. Ich bitte, auf den Boden der Realität zu kommen. Es ist nicht klug, den Menschen in einem Wahljahr
Dinge in Aussicht zu stellen, die so - das weiß man - in
absehbarer Zeit nicht, jedenfalls nicht in vier Jahren, zu
realisieren sind. Wir alle sind, glaube ich, gut beraten,
nicht Dinge zu versprechen, die wir erkennbar - ob wir
es wollen oder nicht - so nicht leisten können.
({11})
Im Übrigen haben wir auch Entlastungen vorgesehen. Der Kinderbonus und die Erhöhung des Kindergeldes stellen Entlastungen für die Familien dar. Ich könnte
diese Reihe beliebig fortsetzen. Ein verheirateter Alleinverdiener mit durchschnittlichem Einkommen und zwei
Kindern wird in diesem Jahr um 670 bzw. 680 Euro - je
nach Fall - entlastet. Er hat also mehr im Portemonnaie.
Angesichts dessen können Sie nicht sagen: Das ist überhaupt nichts. - Natürlich ist das ein Teil des Mixes, den
wir angestrebt haben.
({12})
Der Versuch der Opposition, in den Diskussionen hier
von dem abzulenken, was unser Konjunkturpaket eigentlich ausmacht, ist daher zu durchsichtig. Ansonsten
müssten Herr Westerwelle oder Herr Trittin und die
Linkspopulisten zugeben, dass das, was seitens der Regierung vorliegt, insgesamt gelungen ist und uns einen
großen Schritt weiterbringen wird. Insbesondere in den
finanzschwachen Kommunen, in denen aus Geldmangel
in den letzten Jahren zu wenig passiert ist, werden in den
nächsten Jahren große Schritte nach vorne gemacht werden. Das wird spürbar werden, und das ist auch gut so.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Koppelin,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, zwei Vorbemerkungen zu bisherigen Redebeiträgen zu machen. Herr Kollege Poß hat es leider
nicht angesprochen, und ich will es ihm nicht vorwerfen.
Herr Kollege Lafontaine, ich bin gern bereit, mich über
die eine oder andere Sache mit Ihnen auseinanderzusetzen. Helmut Schmidt war Kanzler einer sozial-liberalen
Koalition. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, was
Sie einmal über Helmut Schmidt gesagt haben. Ich finde,
Sie sollten Helmut Schmidt nicht zitieren.
({0})
Eine andere Bemerkung zu Ihnen, Herr Trittin. Sie
haben kritisiert und der FDP den Vorwurf gemacht, was
den Bankenschirm angehe, finde nicht genug oder überhaupt keine Kontrolle statt. Wir als FDP haben es geschafft, zusammen mit der Koalition ein Kontrollgremium einzurichten. Wenn Sie der Auffassung sind,
dieses Kontrollgremium arbeite nicht vernünftig, dann
schlage ich vor, dass Sie den Vertreter der Grünen aus
diesem Gremium abziehen.
({1})
Nun zu dem, was uns heute beschäftigt. Herr Kollege
Poß, wenn Sie wegen der Forderungen der FDP nach
Steuersenkungen von Volksverdummung sprechen,
({2})
dann frage ich mich, wieso Sie sich anmaßen, der FDP
Volksverdummung vorzuwerfen, da Sie doch vor der
letzten Bundestagswahl eine Mehrwertsteuererhöhung
massiv abgelehnt haben, um anschließend diese Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu erhöhen.
({3})
Das war Volksverdummung, nichts anderes. Bei Ihnen
würden heute 50 Abgeordnete weniger sitzen, wenn Sie
das Volk nicht so verdummt hätten. Das ist die Wahrheit.
({4})
Die Bürger fühlen sich tatsächlich verdummt. Was ist
denn gewesen? Man hat von den Bürgern Steuererhöhungen noch und noch mit der Begründung gefordert,
wir müssten einen ausgeglichenen Haushalt erreichen
- das ist vernünftig -, und jetzt haben wir die Pleite; der
ausgeglichene Haushalt kommt nicht, aber die Bürger
wurden noch und noch abkassiert.
Herr Bundesfinanzminister, ich finde, zu Ihrer Rede
heute hätte auch ein bisschen Demut gegenüber den Bürgern und das Eingeständnis gehört, dass Sie das Ziel
nicht erreicht und die Bürger abkassiert haben. Zumindest das hätte in Ihrer Rede vorkommen müssen. Was
haben wir als FDP gesagt? Wir haben gesagt: Die Konjunktur läuft gut, die Steuereinnahmen sind da, denkt
bitte daran, dass nach guten Jahren auch schlechte Jahre
kommen; legt deshalb etwas für die schlechten Jahre zurück. Das ist immer wieder unsere Forderung gewesen.
Auch Sachverständige haben das gesagt. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben sich über die FDP lustig gemacht, und Sie haben sich über die Sachverständigen
lustig gemacht. Sie alleine waren derjenige, der überhaupt wusste, wie die Weltwirtschaft läuft, vielleicht
noch unterstützt vom Kollegen Poß.
({5})
Aber der Rest der Welt wusste überhaupt nicht Bescheid.
Jetzt sitzen Sie hier und haben das Fiasko.
({6})
Ich weiß, Sie lassen sich nicht gern Ihre Zitate vorhalten. Es wird Ihnen trotzdem nicht erspart bleiben. Ich
will etwas zu dem Konjunkturprogramm sagen. Sie
haben noch vor kurzem, am 4. November, hier gestanden und gesagt:
Es macht keinen Sinn, mit nationalen Ausgabenprogrammen ein Strohfeuer zu entfachen, wenn am
Ende langwirksame Belastungen durch eine neue
Schuldenaufnahme entstehen.
Haben Sie das nicht gesagt? Gehen Sie doch einmal auf
Ihre eigenen Zitate ein und sagen Sie, dass es Ihnen leid
tut, dass Sie sich geirrt haben und die Entwicklung so
dramatisch war.
({7})
Ist nicht erst Ende Dezember der Bundeshaushalt 2009 vom Bundespräsidenten und von Kabinettsmitgliedern, von der Kanzlerin und von Ihnen unterschrieben worden und wirksam geworden? Das war
Ende Dezember. Schon jetzt müssen Sie einen Nachtragshaushalt vorlegen. Das ist doch Ihr Problem.
({8})
Wir haben Ihnen das gesagt. Wir haben Ihnen gesagt,
dass der Haushalt 2009, wie Sie ihn hier beschließen,
nicht einmal das Papier wert ist, auf dem er gedruckt ist.
Was haben Sie sich über uns lustig gemacht!
Man darf uns die Frage stellen, wo man hätte sparen
können. Deswegen habe ich unser Buch mit den Sparanträgen wieder mitgebracht. Es sind über 400 Anträge mit
einem Einsparvolumen von 10,5 Milliarden Euro. Warum haben Sie beim Nachtragshaushalt nicht ein einziges Mal auf die Ausgabenseite geschaut und sich für
Kürzungen und Streichungen ausgesprochen? Um es mit
Karl Schiller zu sagen - ich fand es so schön, als er in
Amt und Würden war -: Da muss eben so manches Zierpflänzchen herausgerissen werden.
({9})
Herr Bundesfinanzminister, Sie müssen auch erklären, warum Sie plötzlich Sondervermögen, Sondertöpfe
schaffen. War es nicht so, dass man in der rot-grünen
Koalition 1999 - ich fand, zu Recht - gesagt hat, dass
man keine Schattenhaushalte mehr will und alles in den
Bundeshaushalt hinein muss? Es waren doch Ihre Finanzminister, die gefordert haben, dass Sondervermögen
abgeschafft werden. Jetzt schaffen Sie wieder welche.
Sie müssen doch zumindest begründen, warum es damals richtig war, diese abzuschaffen, und es heute falsch
ist - oder umgekehrt, wie immer Sie das haben wollen.
Das müssen Sie doch einmal erklären. Aber nein,
Schweigen im Walde! Da kommt von Ihnen nichts.
({10})
Nach dem Konjunkturpaket I kommt Konjunkturpaket II. Ich will nicht zitieren, was Sie zu Konjunkturpaketen sonst noch gesagt haben, aber wie im Haushaltsausschuss frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister:
Schließen Sie aus, dass noch ein Konjunkturpaket III
kommt? Schließen Sie das wirklich aus?
Die Christlich Demokratische Union muss sich etwas
fragen lassen. Herr Kollege Struck hat vor wenigen Tagen verkündet, dieses Konjunkturpaket sei eine ganz
tolle Leistung; es trage zu 80 Prozent - „über 80 Prozent“, hat er, glaube ich, sogar gesagt - die Handschrift
der Sozialdemokraten.
({11})
Wo seid ihr von der Union eigentlich?
({12})
Wo sind eure Wirtschaftspolitiker eigentlich? Wo seid
ihr Christdemokraten eigentlich? Wo habt ihr bei diesem
Paket darauf geachtet, dass der Export gestützt wird? Wo
habt ihr auf die Sachverständigen gehört? Gerade die
Union wird deutlich machen müssen, ob es wirklich ihr
Konjunkturpaket ist, ob es ihr Nachtragshaushalt ist. Da
warten wir auf die Beratungen.
Erlauben Sie mir, zum Schluss doch noch ein Zitat zu
bringen, und zwar ein Zitat des Bundesfinanzministers
vom 28. November 2008, also noch aktuell:
… weil ich am Ende dieser Legislaturperiode nicht
dort enden will, wo wir angefangen haben: bei einer
strukturellen Verschuldung des Bundes von 55 Milliarden Euro. Dann hätte diese Große Koalition keinen guten Job gemacht.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({13})
Steffen Kampeter ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Kern geht es bei dem, worüber wir hier gerade diskutieren, darum, dass die Bürger in diesem Land
wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen. Dazu kann
jeder seinen Beitrag leisten: die Unternehmen, die Sozialpartner, alle, die in gesellschaftlichen Organisationen
tätig sind, und auch die Politik. Wir reden heute über ei21978
nen Teilbeitrag zur Wiedergewinnung des Vertrauens in
die nächsten Jahre. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als wären wir hier im Haus allein verantwortlich.
Die Wiedererlangung des Vertrauens ist für das Jahr 2009
eine große Gemeinschaftsaufgabe für alle in Deutschland.
({0})
Angesichts der Beschränktheit dessen, was Politik tatsächlich leisten kann - wir müssen den Bürgern sagen,
dass wir in dieser Krise nur einen beschränkten Beitrag
leisten können -, geht es mir und den Kolleginnen und
Kollegen im Haushaltsausschuss darum, deutlich zu machen, dass beim Retten und Stimulieren auch Maß und
Mitte wichtig sind. Vertrauen gewinnt man in der Politik
nicht, wenn man nur kurzfristig erfolgreich ist; die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande achten darauf,
dass die politischen Handlungen auch langfristig Vertrauen erzeugen. Das heißt, wir müssen zeigen, dass unser Krisenmanagement hilft, dieses Vertrauen kurzfristig
wiederzuerlangen, ohne dass es die zukünftigen politischen Generationen langfristig, nämlich in den nächsten
Legislaturperioden, vor erhebliche Probleme stellt. Deswegen ist es wichtig, abzuwägen: Was ist an Krisenbewältigung nötig, und wie viel Schuldenaufnahme ist dafür möglich?
In diesem Spagat bewegt sich die Bundesregierung
bei dem, was sie vorgeschlagen hat. Wenn wir am Ende
der Beratung das Konjunkturpaket mit einer wirkungsvollen Schuldenbremse kombiniert haben werden, werden wir auch Maß und Mitte des politischen Beitrags zur
Wiedererlangung des Vertrauens erreichen.
({1})
Es ist in dieser Debatte deutlich geworden, dass keine
der Fraktionen in diesem Haus gegen ein staatliches Eingreifen ist, dass in der einen oder anderen Fraktion aber
unterschiedliche Auffassungen dazu bestehen. Ich will
mich mit zwei oder drei Argumenten auseinandersetzen
und sie einmal gegen unser Programm halten.
Erstens. Mehr oder weniger öffentlich hat der Kollege
Lafontaine gesagt, dass wir zu wenig Schulden machen.
Der Kollege Trittin hat Vorschläge gemacht, die im Ergebnis auch auf eine höhere Verschuldung hinauslaufen.
({2})
Im letzten Jahr sind weltweit ungefähr 1 000 Milliarden
Dollar Staatsschulden aufgenommen worden. In diesem
Jahr werden es 3 000 Milliarden Dollar sein, eine Verdreifachung. Deswegen sollten wir auch unter dem Gesichtspunkt von Maß und Mitte nicht allzu eilfertig den
Eindruck zu erwecken versuchen, als wären mehr Schulden eine Möglichkeit, weniger Probleme zu haben. Umgekehrt ist es richtig: Zu viele Schulden werden uns zukünftig mehr Probleme machen. Deswegen sind Maß
und Mitte bei der Verschuldung wichtig.
Ich finde es nicht richtig, wenn hier ein amerikanischer Nobelpreisträger als Kronzeuge gegen die Bundesregierung angeführt wird. Ich möchte den Maßstab, den
die Amerikaner an ihre Verschuldung anlegen, nicht zum
Maßstab für die deutsche Politik machen. Das entspricht
nicht unserem Verständnis von Finanzpolitik.
({3})
Ich möchte auch nicht, dass der Staat alles an Schulden aufsaugt und die private Aktivität verdrängt, dass
wir zusätzlich zu den vielen Schulden, die wir machen
müssen, auch noch private Bürgschaften und Garantien
absichern müssen. In Amerika, wo wahrscheinlich fast
10 Prozent der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch
Verschuldung erzielt werden, werden die wirtschaftlichen Probleme durch Schulden hervorgerufen und nicht
durch Schulden gelöst. Wir setzen dagegen einen Kurs
von Maß und Mitte. Das ist gut und richtig, um Vertrauen in unserem Land zu schaffen.
({4})
Ein zweites Argument, das hier vorgetragen worden
ist, lautet: Warum gibt es nicht noch mehr Steuer- und
Beitragssenkungen? Das ist ein Argument, das in CDU
und CSU auf ein hohes Maß an Sympathie stößt. Es ist
nicht zuletzt ein Verdienst der CSU, dass wir unter den
Konjunkturmaßnahmen auch einen Einkommensteuereffekt haben.
In dem Zusammenhang bitte ich insbesondere die
Kollegen von der FDP, auch an ihre eigene Vertrauenswürdigkeit zu denken. Der Kollege Fricke erweckt den
Eindruck, als gäbe es keine Schulden mehr, sobald die
FDP an der Regierung beteiligt wäre. Der Kollege
Brüderle ist zusammen mit dem Kollegen Solms an der
Front, die sagt: Wenn die FDP regiert, werden alle Steuern gesenkt.
({5})
Und Ihre Fachpolitiker sagen: Wenn die FDP regiert, erhöhen wir die Ausgaben und helfen euch, dass es euch
besser geht.
Weniger Steuern, weniger Schulden und mehr Ausgaben - die gemeinsame Position innerhalb der FDP ist
eine leere Menge. In der Krise können wir uns keine Finanzpolitik der leeren Menge leisten. Das wäre unverantwortlich gegenüber unserem Land.
({6})
Herr Kollege Trittin, auch Sie
({7})
haben nicht nur für mehr Schulden plädiert, sondern
auch infrage gestellt, dass das Bankenrettungspaket,
wie wir es hier konstruiert haben, gut und richtig ist.
({8})
Zuerst einmal will ich sagen: Es geht bei dem Bankenrettungspaket nicht um die Rettung der Banken, sondern
um die Rettung der Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen
und Bürger mit ihren Sparkonten und Girokonten. Von
daher ist der von uns geprägte Begriff Bankenrettungspaket eigentlich eine Irreführung. Es ist ein Bürgerrettungspaket. Das muss an dieser Stelle vielleicht einmal
klar gesagt werden.
({9})
Das Zweite, Herr Kollege Trittin. Sie sagen, das Paket
sei unzureichend. Ich will festhalten: Wir haben in
Deutschland kein größeres Bankensterben zu verzeichnen.
({10})
Das war das Ziel des Paketes unmittelbar vor der drohenden Schließung einer großen Bank, die eine negative
Auswirkung für die Bürgerinnen und Bürger zur Folge
gehabt hätte. Das Paket ist erfolgreich und wirksam.
({11})
Wir haben das, was mit Lehman geschehen ist, in
Deutschland verhindert.
Das Paket ist im Übrigen auch parlamentarisch kontrolliert. Wir haben auf Wunsch der FDP und der Koalition ein Gremium eingerichtet, das den Leuten auf die
Finger schaut. Sie haben vorhin dazwischengerufen, das
geschehe ex post. Ich bin allerdings der Auffassung, dass
es nicht Aufgabe des Parlamentes ist, der Regierung im
Vorhinein das Regierungshandeln abzunehmen. Wir
kontrollieren die Regierung und bringen sie durch diese
Kontrolle hoffentlich zu Höchstleistungen.
({12})
Aber ich bin nicht der Auffassung, dass es die Aufgabe
eines einzelnen Parlamentariers ist, die Entscheidung einer Bank zu treffen. Das halte ich für ein völlig falsches
Verständnis.
({13})
Es mutet auch etwas lächerlich an, Herr Kollege
Trittin, wenn Sie als ehemaliger Bundesumweltminister
die mangelnde ökologische Komponente unseres Programms kritisieren. Es sollte Ihnen auch bei oberflächlicher
Lektüre aufgefallen sein, dass die Investitionsmaßnahmen und vieles andere in diesem Investitionsprogramm
({14})
vor allen Dingen von dem Gedanken einer effizienteren
Energieversorgung, der Gebäudeenergieeinsparung und
einer effizienteren Fahrzeugtechnologie gespeist sind.
Das ist ein ganz wesentlicher Impuls. Falls Ihnen das
noch nicht aufgefallen ist, sage ich es Ihnen hiermit.
Aber bitte behaupten Sie zukünftig nicht, dieses Programm habe keine umweltpolitische Komponente. Es ist
neben anderem auch eines der ökologischsten Impulsprogramme, das wir jemals in diesem Bereich hatten.
({15})
Ich will abschließend festhalten: Ich gehöre zu denjenigen, die sich mit Konjunkturprogrammen noch nicht
angefreundet haben. Aber wir alle und insbesondere die
Haushälter wissen: Da wir dieses Konjunkturprogramm
mit einer Schuldenbremse verknüpfen, ist es richtig,
den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, dass
wir das auf den Weg bringen, was die Politik zur Wiedererlangung des Vertrauens in die Zukunft und in die
Handlungsfähigkeit unseres Landes tun kann. Dies gilt
nicht nur bis zum Wahltermin im September. Wir übernehmen auch die Verantwortung dafür, dass die nächsten
Generationen handlungsfähig sind, indem wir eine
Schuldenbremse einführen.
Wir tun, was wir können; wir überfordern uns nicht.
Wir legen zukünftigen Schuldenmachern Regeln auf. So
wird aus dem, was hier vorgetragen worden ist, ein
Schuh. Wenn man insgesamt noch ein bisschen feilt,
dann zielt dieses Programm in die richtige Richtung.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
heute schon zwei Sozialdemokraten gehört: Steinbrück
und Poß.
({0})
Der eine bezeichnete Oskar Lafontaine als Schlaumeier
und der andere als Besserwisser. Ich muss Sie beide daran erinnern, mit welch großer Mehrheit Sie diesen
Schlaumeier und Besserwisser zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewählt haben.
({1})
- Hören Sie doch zu! - Das war in einer Zeit, als Sie
noch Wahlen gewonnen haben. Das kennen Sie gar nicht
mehr, wenn ich daran erinnern darf.
({2})
Herr Trittin, Sie kommen um eine Tatsache nicht herum: Wenn Hamburg und Bremen zustimmen, dann
stimmen Sie einem extrem unsozialen Programm zu. An
dieser Wahrheit kommen Sie nicht vorbei. Sie haben ein
ganz einfaches Motiv: Sie wollten der FDP und der Großen Koalition zeigen, dass Sie zur Verfügung stehen und
dass die Große Koalition gar nicht auf die FDP zurückgreifen muss. Deshalb ärgert sich die FDP.
({3})
In einem Punkt haben Sie aber recht: Wenn der Kompromiss mit der FDP gesucht worden wäre, dann wäre das
Programm noch schlimmer geworden. Diese Feststellung - das ist aber die Ausnahme - stimmt.
({4})
Dann haben Sie, Herr Kauder, gesagt, die Große Koalition trage für die ganze Krise keine Verantwortung.
Da unterliegen Sie einem schweren Irrtum. Sowohl die
Regierung aus SPD und Grünen als auch die Regierung
aus Union und SPD - und nicht eine Regierung allein tragen selbstverständlich Verantwortung für die Finanzund Wirtschaftskrise, mit der wir es jetzt zu tun haben.
({5})
Ich möchte daran erinnern, dass die Linke von Anfang an die neoliberale Politik kritisiert hat, die Sie alle
betrieben haben, was Deregulierung, Privatisierung oder
Sozialabbau angeht. Sie dürfen nicht vergessen, dass erst
unter Schröder und Fischer die Hedgefonds zugelassen
worden sind.
({6})
- Herr Poß, das ist eine wunderbare Aufsicht. - Sie haben zeitgleich geregelt, dass die Investoren für alles, was
sie kaufen und verkaufen, keinen einzigen Euro Steuern
zahlen müssen, was sie noch unter Kohl hätten tun müssen. Damit haben Sie sie geradezu eingeladen, ihre Spekulationen und Geschäfte in Deutschland zu machen.
({7})
Sie haben bis heute auch keine Konsequenzen daraus gezogen.
({8})
Die Banken haben Zweckgesellschaften im Ausland
gegründet, um diese Gesellschaften mit ihren faulen
Krediten nicht der Finanzaufsicht zu unterstellen. Gibt
es von Ihnen einen Gesetzentwurf, mit dem das geändert
wird? Es gibt anscheinend keinen Anlass für Sie, auf irgendeine Weise zu handeln.
({9})
Mit dem Zulassen von Leerverkäufen haben Sie aus
den Börsen Spielkasinos gemacht. Auch in dieser Beziehung ziehen Sie völlig unzureichende Schlussfolgerungen.
Die Banken sind dankbar. Die Bürgerinnen und Bürger wissen jetzt, dass zum Beispiel die Deutsche Bank
an die Union, die FDP und die SPD 500 000 Euro gespendet hat. Auf ihre Art revanchieren sich also die Banken. Ich sage Ihnen: Wenn wir die Glaubwürdigkeit der
Politik wiederherstellen wollen, müssen wir Großspenden dieser Art verbieten. Ansonsten werden Sie in allem, was Sie machen, unglaubwürdig.
({10})
Jetzt zeigen sich die wirtschaftlichen und die sozialen
Folgen der Krise. Wir haben einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in einem Monat um 387 000 Menschen. Es gab
400 000 Anträge auf Kurzarbeit im Dezember. Im Januar
gab es 400 000 Anträge zusätzlich. Kleine Handwerksbetriebe und kleinere Unternehmen stehen in der Gefahr,
in Insolvenz zu gehen, weil sie keine Kredite mehr bekommen und weil ihre Auftragseingänge rückläufig
sind. Das alles hat Folgen.
Was kommt jetzt? Was Sie Konjunkturprogramm
nennen, nenne ich höchstens Krisenpaket. Es umfasst im
Übrigen nicht 50 Milliarden Euro, sondern pro Jahr nur
25 Milliarden Euro. Addieren Sie nicht immer die Ausgaben über mehrere Jahre, um ein falsches Bild zu zeichnen.
({11})
Das ist deshalb so unzureichend, weil die Investitionen in den Bildungsbereich, die zum Teil richtig sind,
überhaupt nicht ausreichen und Sie keine Kaufkraftstärkung vornehmen. Nur weil Sie Angst haben, endlich einmal von oben nach unten umzuverteilen, verzichten Sie
auf jede Kaufkraftstärkung, die unsere Binnenwirtschaft
dringend benötigte.
({12})
Nehmen wir Ihren Vorschlag zur Einkommensteuer.
Den Grundfreibetrag zu erhöhen, ist richtig. Die kalte
Progression und den bei den durchschnittlich Verdienenden bestehenden Steuerbauch müssen wir - das hat mit
dem Konjunkturprogramm nichts zu tun - vollständig
überwinden.
({13})
- Das alles machen Sie gar nicht. Wissen Sie, was Sie
machen? Ich kann Ihnen genau sagen, was Sie machen:
({14})
Die Hälfte der Haushalte hat nichts davon, weil sie gar
keine Einkommensteuer zahlt. Von der anderen Hälfte
erlassen Sie den Geringverdienenden steuerlich insgesamt 150 Millionen Euro. Die Bestverdienenden, die
Reichen bekommen jedoch Steuern in Höhe von
1 500 Millionen Euro, also 1,5 Milliarden Euro, erstattet. Es geht weiter mit der Umverteilung von unten nach
oben; Sie korrigieren daran nichts.
({15})
Jetzt sage ich Ihnen einmal etwas zur Vermögensverteilung in Deutschland. Auf der einen Seite besitzt das
reichste 1 Prozent der Menschen in Deutschland - das
sind 820 000 Personen - 23 Prozent des Gesamtvermögens von 6,6 Billionen Euro. Das sind 1,5 Billionen
Euro. Wenn Sie das ausrechnen, hat von diesen 820 000
jede Person ein Vermögen von 1,83 Millionen Euro. Auf
der anderen Seite haben 27 Prozent der Bürgerinnen und
Bürger - das sind 22,1 Millionen Menschen - nichts
oder sind verschuldet. Daran haben Sie, als Sie mit den
Grünen regierten, und jetzt, da Sie mit der Union regieren, nichts geändert. Das ist der Vorwurf, den wir erheben.
({16})
Herr Kollege Gysi, auch Sie achten bitte ein bisschen
auf die Zeit.
Dann nenne ich Ihnen als Letztes ein Beispiel, das
mich wirklich ärgert. Sie haben ja ein leicht gestörtes
Verhältnis zum Grundgesetz.
({0})
Sie wissen, zwei Gesetze hat der Bundespräsident nicht
unterschrieben, weil sie offenkundig grundgesetzwidrig
waren. Dann hat Ihnen der Bundesfinanzhof gesagt, dass
die Kürzung der Pendlerpauschale grundgesetzwidrig
ist. Sie wollten es nicht glauben; Herr Steinbrück hat vor
dem Bundesverfassungsgericht bis zur letzten Minute
gekämpft, bis es dann gesagt hat, die Kürzung sei grundgesetzwidrig. Jetzt hat das Bundessozialgericht gesagt,
dass es nicht hinnehmbar ist, dass die Regelsätze für
Kinder von Hartz-IV-Beziehern geringer sind als die
ihrer Eltern, weil dies völlig willkürlich und nicht nachvollziehbar ist. Es hält das für grundgesetzwidrig.
Ich habe eine Bitte: Warten Sie nicht wieder ein paar
Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht entscheidet,
sondern korrigieren Sie dies gleich!
({1})
Lassen Sie es mich hier als Vater sagen: Ihre naive Vorstellung, dass Kinder weniger benötigen als Erwachsene,
zeigt, dass Sie überhaupt keine Ahnung haben. Ich kenne
hier einige Kollegen, die schon seit zehn Jahren im selben Anzug herumsitzen.
({2})
Bei Kindern geht das nicht; die wachsen ständig.
({3})
Da müssen sie neue Kleidung, neue Schuhe kaufen. Das
ist die Wahrheit. Geben Sie ihnen deshalb endlich mehr
Geld!
({4})
Nun erhält das Wort der Kollege Anton Schaaf für die
SPD-Fraktion, dem ich zu seinem heutigen Geburtstag
herzlich gratuliere.
({0})
Nicht ganz, Herr Westerwelle.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu den Begriffen, mit denen Herr
Lafontaine hier bezeichnet worden ist, einen hinzufügen
- dies bezieht sich darauf, dass er als Beispiel dafür, wie
man die Finanzkrise lösen kann, Schweden genannt
hat -: Er ist schlicht ahnungslos. Die frühere schwedische Finanzkrise ist mit dem, was wir jetzt erleben, in
keiner Weise vergleichbar. Sie war regional begrenzt und
wirkte sich nicht weltweit aus. Sie hatte keine massive
Wirtschaftskrise bzw. keine massiven Wirtschaftseinbrüche zur Folge. Deswegen sind die damaligen Rezepte
und Mittel auch nicht beispielgebend. Wir stehen vielmehr vor völlig neuen Herausforderungen. Herr
Lafontaine, Sie haben wirklich keinen Beitrag dazu geleistet, wie man diese Krise überwinden kann. Das muss
man in aller Deutlichkeit festhalten.
({0})
Von daher sollte man den Begriff „ahnungslos“ berechtigterweise hinzufügen.
Nun zur FDP. Herr Brüderle hat gesagt, mit dem
Konjunkturpaket II bediene man ein Sammelsurium von
Lobbyinteressen.
({1})
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie es in den
letzten Wochen und Monaten, vor allen Dingen aber in
den letzten Jahren bei Ihnen gelaufen ist, welche Lobbyinteressen da bedient worden sind. Sie waren es, die
ganz massiv gegen die Regulierung der Finanzmärkte
eingetreten sind.
({2})
Sie waren es, die gefordert haben, mehr privat vor Staat.
Ich stelle mir gerade vor, in dieser Krise, in der wir
uns jetzt befinden, hätten wir keinen funktionsfähigen,
starken Sozialstaat. Da werde ich selbstverständlich
Lobbyist - da gebe ich Ihnen völlig recht -, denn von
dieser uns gerade ereilenden Krise sind ja nicht die Banker und nicht die Manager am härtesten betroffen, sondern in erster Linie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. An dieser Stelle haben wir auch mit dem
Konjunkturpaket Lobbyarbeit geleistet - das ist wohl
wahr; das gebe ich unumwunden zu -, indem wir zum
Beispiel im Bereich der Kurzarbeit deutliche Verbesserungen vorgenommen haben. Ja, in der Tat, das haben
wir getan. Jetzt können auch kleine und mittelständische
Unternehmen das Instrument der Kurzarbeit vernünftig
nutzen, um zu verhindern, dass ihre Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entlassen werden. In diesem Sinne
verstehe ich mich ohne Weiteres als Lobbyist.
({3})
Diese Menschen sind die Leidtragenden dessen, was andere, für die Sie hier auch schon Wort gehalten haben, in
den Sand gesetzt haben. Das muss man in aller Deutlichkeit so formulieren.
Ich füge hinzu, dass es uns gelungen ist, mit dem Koalitionspartner auch an einer weiteren Stelle schützend
einzugreifen. Dies gehört nicht unmittelbar zum Konjunkturpaket, aber es hilft den Menschen sehr; die Geringschätzung der Linken dafür habe ich sowohl im Ausschuss als auch an anderen Stellen wahrgenommen. Dies
sind die Mindestlöhne, die wir in sechs weiteren Branchen eingeführt haben. Damit schützen wir Menschen.
Die Geringschätzung bestand darin, dass man einfach
sagte, das sei alles viel zu wenig und reiche nicht aus. Ja,
das stimmt; darin gebe ich Ihnen sogar recht. Aber wenn
man 1,7 Millionen Menschen zusätzlich unter einen
Schutz von Mindestlöhnen stellt, dann kann man dies
nicht so gering schätzen, sondern sollte es als tatsächliche Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen
anerkennen.
({4})
In diesem Sinne verstehe ich sowohl mich als Lobbyist als auch Teile dieses Konjunkturpakets als Lobbyismus. Sie waren es, die denjenigen das Wort geredet haben, die jetzt die Finanzwelt vor die Wand gefahren
haben.
Noch einmal zu der Mär von den Hedgefonds in
Deutschland, die ich gern aufgreife. Bei uns sind diese
Hedgefonds unter Kontrolle,
({5})
und es sind auch nur ein paar wenige, weil hier restriktiv
kontrolliert wird.
Wir haben nicht zugelassen - auch im Widerspruch zu
Ihnen -, dieses Land weiter zu deindustrialisieren. Wir
haben die Industrie in diesem Land gestützt, und das
kommt uns jetzt zugute, denn das, was die angelsächsischen Staaten gemacht haben, fällt ihnen jetzt auf die
Füße. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass
die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, angemessen
sind.
({6})
Man kann nicht absehen, ob es ausreichen und ob alles wirken wird. Ich bin kein Prophet, ich äußere mich
dazu nicht. Aber in einem Punkt bin ich mir sicher: Das,
was als Schutzschirm für Arbeitsplätze umschrieben
worden ist, das, was Frank-Walter Steinmeier aufgelegt
hat, ist der richtige Weg in dieser Krise, um diejenigen
zu schützen, die am wenigsten für sie verantwortlich
sind: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Nur, damit keine Geschichtsklitterung bleibt, Herr Kollege Schaaf: Die FDP
hat dem Schutzschirm für die Banken zugestimmt. Sie
hat seit 2000 eine konzentrierte Bankenaufsicht statt einer Aufteilung in zwei Behörden gefordert. Sie hat gefordert, dass sich der Staat rechtzeitig aus der IKB zurückzieht; dann hätte er 1 Milliarde Gewinn gemacht,
während so 10 Milliarden Verlust entstanden sind. Sie
können uns nicht vorwerfen, wir wären nur für die Deregulierung gewesen. Wir waren für saubere Regulierung
und konsequente Überwachung, und daran hat es eben
gefehlt.
({0})
Diese Debatten beginnen immer gleich: Der Finanzminister Steinbrück legt eine tadellose Analyse vor.
Überhaupt kein Zweifel, er ist ein guter Ökonom. Aber
wenn es an die Therapie geht, dann wird es dunkel; denn
typische Eigenschaft dieser Großen Koalition, wenn es
darum geht, Probleme zu lösen, ist es, lange, monatelange, manchmal jahrelange Diskussionen zu führen,
und im Ergebnis versagen Sie: schlechte Lösungen.
({1})
Ein typisches Beispiel ist die Erbschaftsteuerreform. Über zweieinhalb Jahre streiten Sie miteinander,
weil die Erbschaftsteuer verfassungswidrig war. Dann
beschließen Sie ein Gesetz, das offenkundig wieder verfassungswidrig ist. Das ist die Leistung der Großen Koalition.
({2})
Das gilt auch für das jetzige Konjunkturpaket: Sie legen ein Wunschpaket vor, sodass jeder etwas bekommt.
Viele bekommen wenig, aber niemand bekommt wirklich etwas. Sie müssen sich doch Folgendes fragen: Was
will ich mit einem Konjunkturpaket? Ich will das Verhalten der Konsumenten und Investoren ändern, damit die
Marktkräfte freigesetzt werden, damit ein Multiplikatorprozess in Gang gesetzt wird, damit sie wieder investieren und konsumieren. Die paar Staatsausgaben zum
Neuanstrich von Schulen reichen nicht aus; damit können Sie die Wirtschaft nicht retten. Genau deshalb müssen Sie den Konsumenten und Investoren mehr Geld von
dem lassen, was sie ja selbst verdient haben. Deswegen
fordern wir Steuersenkungen,
({3})
weil die Marktkräfte dadurch am besten freigesetzt werden.
({4})
Da Sie uns das nicht abnehmen, nenne ich Ihnen gute
Zeugen. In den Vereinigten Staaten wurden zwei ganz
neue empirische Studien veröffentlicht. Ich will auf eine
verweisen, auf die Untersuchung von Christina und
David Romer. Wissen Sie, wer das ist? Wer ist Christina
Romer? Sie ist die neue Chairwoman des Council of
Economic Advisors, die von Präsident Obama gerade
eingesetzt worden ist. Sie ist keine Spätanhängerin von
Ronald Reagan, der die Steuern aufgrund genau dieser
Philosophie gesenkt hat. Sie sagt als Vertreterin einer
Regierung der Demokraten in den Vereinigten Staaten:
Steuersenkungen haben den größten Multiplikatoreffekt,
sie lösen am ehesten die Marktkräfte aus, und - das ist
das Entscheidende - sie führen am ehesten dazu, dass
die dafür gemachten Schulden wieder getilgt werden
können, weil die Steuereinnahmen durch Ingangsetzung
des Wachstums steigen.
({5})
Genau das machen Sie aber nicht. Sie machen eine
Steuerentlastung von 6 Milliarden Euro. Davon kommen
beim Einzelnen vielleicht 10 Euro im Monat an. Glauben Sie, dass sich jemand wegen 10 Euro Mehreinnahmen im Monat ein neues Auto kauft oder sein Haus renoviert? Das ist doch lächerlich. Das spielt für
langfristige Entscheidungen keine Rolle. Das berührt ihn
nicht. Die Steuerentlastung muss so sein, dass der Konsument, der Arbeitnehmer sagt: Jetzt bleibt mir nicht nur
in diesem Jahr, sondern auch in den nächsten Jahren so
viel übrig, dass ich es mir leisten kann, ein neues Auto
zu kaufen.
Bei all Ihren Entscheidungen greifen Sie zu den falschen Instrumenten. Ich will ein paar Beispiele bringen:
Was erreichen Sie mit der Abwrackprämie? Im Wesentlichen, dass preiswerte Automobile aus dem Ausland erworben werden. Was hätten Sie richtigerweise tun
sollen, um der deutschen Automobilindustrie zu helfen?
Sie hätten die Abschreibungen für Dienst- und Geschäftswagen ändern müssen. Dann wären Mittelklassewagen gekauft worden, die in Deutschland hergestellt
werden.
({6})
- Es geht um die Automobilindustrie. Wir haben das
nicht vorgeschlagen. Ich sage nur: Wenn Sie der Automobilindustrie helfen wollen, dann müssen Sie das auch
richtig machen.
({7})
Denken Sie beispielsweise auch an die gefährlichen
Instrumente der Unternehmensteuerreform: Zinsschranke, Hinzurechnung von Mieten, Zinsen und Pachten bei der Gewerbesteuer, Einschränkung der Verlustverrechnung. Im Abschwung führt das prozyklisch zu
einer Existenzgefährdung der mittelständischen Firmen,
die wenig Eigenkapital haben. Das müssten Sie jetzt korrigieren, damit das im Abschwung keine fatale Wirkung
entfalten kann.
({8})
Nichts dergleichen tun Sie. Wir werden Ihnen Gelegenheit dazu geben. Wir werden im Finanzausschuss
Änderungsanträge einbringen. Dann will ich einmal sehen, wie Sie darauf reagieren. Ich weiß, dass die Wirtschaftspolitiker der CDU das ähnlich sehen. Dass von
diesen falschen Regelungen im Unternehmensteuerrecht
eine große Gefährdung ausgeht, ist doch klar. Wenn ein
Unternehmen keine Gewinne mehr macht und auf Kosten Steuern zahlen muss - Zinsen sind Kosten, auch
Mieten sind Kosten -, muss es diese aus dem Eigenkapital bezahlen. Es ist klar, dass dieses Unternehmen
schnell in die Insolvenz kommt, wenn es wenig Eigenkapital hat.
Beispiel Kfz-Steuer - Herr Trittin ist darauf schon
eingegangen -: Es lag doch auf der Hand, die administrativ aufwendige Kfz-Steuer jetzt abzuschaffen und die
Kosten auf die Mineralölsteuer umzulegen. Dadurch
könnte die ganze Administration beseitigt werden, die
mit der Einziehung der Kfz-Steuer beschäftigt ist: rund
5 000 Beschäftigte. Das wäre doch eine ideale Lösung.
({9})
Damit würden Sie mindestens die gleiche, wenn nicht
sogar eine stärkere Lenkungswirkung erzielen, weil die
Autos nach Verbrauch besteuert würden.
Schließlich das Beispiel Erbschaftsteuer - darauf
habe ich schon hingewiesen -: Wenn ich heutzutage meinem Neffen oder meiner Nichte das Studium bezahlen
möchte, sagen wir einmal: fünf Jahre lang 1 000 Euro im
Monat - das sind 60 000 Euro -, dann muss ich
12 000 Euro Schenkungsteuer an den Staat abführen.
Was ist denn das für eine Erbschaftsteuer? Welcher Sinn
steckt denn dahinter, dass man erst den Staat finanzieren
muss, wenn man sich im Familienkreis gegenseitig unterstützen will? Auch diese Regelung müsste beseitigt werden.
({10})
Ich will damit sagen: All das führt dazu, dass diese
Regierung diejenige ist, die die höchsten Steuern erhebt
und gleichzeitig die höchsten Schulden macht. Die FDP
tritt mit einem Gegenkonzept an: Wir wollen die Steuern
senken und die Schulden reduzieren. Das ist das Gegenprogramm zu dem Programm dieser Regierung, und das
ist erfolgreich.
({11})
Dass der Bundesfinanzminister schon verzweifelt und
nicht mehr weiß, wie er seinen Haushalt sanieren soll,
sehen Sie daran, dass er jetzt schon dazu übergeht, Lotto
zu spielen. Das wird dem Haushalt aber nicht helfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich
gebe zu, dass ich manchmal, wenn ein FDP-Kollege
spricht, auf meinen Händen sitze und aufpasse, dass ich
nicht klatsche. Heute ist das ein klein wenig anders.
Denn, sehr geehrter Herr Brüderle, wenn man seine
Rede damit beginnt, Erhard zu zitieren und zu sagen,
50 Prozent der Wirtschaft seien Psychologie, und dann
das, was wir im Rahmen eines ernsthaften und verantwortungsvollen Krisenmanagements machen, in Bausch
und Bogen verdammt, muss ich ganz ehrlich sagen: Das
ist ein ganz schlechter Beitrag zur Psychologie der Wirtschaft.
({0})
Ich hätte von der FDP an der Stelle etwas mehr Verantwortungsbewusstsein erwartet. Dann würde es mir
auch leichter fallen, Herr Solms, einiges von dem, was
Sie angesprochen haben, gutzuheißen. Insbesondere das
Thema Steuersenkungen ist ein zentrales Anliegen der
CSU,
({1})
nicht deshalb, weil wir die aktuelle Finanzkrise damit lösen wollen, sondern weil wir die vielen kleinen Finanzkrisen lösen müssen, die sich bei denen abspielen, die
durchschnittliche Einkommen haben und denen aufgrund der kalten Progression immer weniger bleibt.
({2})
Nun haben Sie in diesem Zusammenhang die Mineralölsteuer angesprochen und gesagt, dass es viel einfacher
gewesen wäre, statt eine Neuordnung der Kfz-Besteuerung durchzuführen, die Mineralölsteuer anzuheben. Ich
weiß nicht, ob Sie sich ausgerechnet haben, welcher Betrag das Ergebnis wäre. Ich weiß auch nicht, ob Sie die Situation in unseren Grenzlagen berücksichtigen, in denen
mittlerweile ohnehin schon ein Tanktourismus stattfindet,
den wir dadurch ins Unerträgliche verstärkt hätten. Deswegen ist das, was die FDP an dieser Stelle zum Bürokratieabbau vorschlägt, kein Ansatz.
Ich glaube, dass wir jenseits der Thematik der Steuersenkungen - hier hätten wir als CSU uns mehr vorgestellt - im Rahmen der parlamentarischen Beratungen,
die jetzt anstehen, noch einmal darüber reden müssen, ob
wir hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft die Besteuerung von Agrardiesel ändern sollten,
um so wichtige und richtige Akzente zu setzen. Die FDP
kritisiert die Eingriffe in die Märkte. Aber was soll man
denn angesichts der globalen Verknüpfung der Märkte,
die uns hier schmerzlich vorgeführt wird, tun? Was soll
man tun, wenn wir erleben, dass in anderen Staaten die
Automobilzulieferer und die Automobilindustrie geschützt und unterstützt werden? Sollen wir dann - so
stellt die FDP es sich vor - auf Marktbereinigung setzen
und sagen, dass es schon laufen wird? Das Ergebnis
wäre, dass bei uns die Zulieferer und die Automobilindustrie wegbrechen, während sie in anderen Ländern geschützt werden.
({3})
Das kann doch nicht ernsthaft Ihr Anliegen sein.
({4})
Uns geht es mit diesem Programm darum, die Strukturen, das Know-how und die Arbeitsplätze zu sichern.
({5})
Deshalb ist all das, was wir im Bereich der Kurzarbeit
und der Qualifizierung machen, gut und wichtig. Es
geht uns bei diesem Thema insbesondere darum, den
Mittelstand abzusichern. Das ist ganz entscheidend. Ich
möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht nur
die Großen sind, die geschützt werden, sondern dass wir
das Augenmerk auch auf den Mittelstand richten.
({6})
Hier wurde verschiedentlich über den Haushalt diskutiert. Mir ist klar, dass, wenn man Bürgschaften für Banken gibt und jetzt den Bürgschaftsrahmen für Unternehmen auf 100 Milliarden Euro ausdehnt, plötzlich Zahlen
und Eventualverbindlichkeiten im Raum stehen, bei denen den Bürgerinnen und Bürgern schwindlig wird. Ich
gehöre nicht zu denen, die sagen, dass das alles ohne
Haushaltswirkung bleiben wird. Aber die steigende Neuverschuldung können wir uns in dieser Situation leisten,
weil wir in der Großen Koalition vorher konsequent auf
Konsolidierung gesetzt haben und - das ist mir als Vertreter der jüngeren Generation wichtig - weil wir mit all
dem, was wir tun, in Innovation, Bildung und Infrastruktur investieren. Das ist etwas, was die junge Generation nicht nur etwas kostet und sie belastet, sondern
was sie letztendlich auch weiterbringt.
({7})
Nun sind viele Dinge in diesem Zusammenhang nicht
einfach zu regeln. Ich weise unter anderem darauf hin,
dass in der Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen sichergestellt werden muss, dass das, was wir an
Investitionshilfen geben, zusätzlich wirken muss, und
dass wir verhindern müssen, dass Länder und Kommunen ihre Haushalte mit dem Geld des Bundes sanieren.
Das halte ich für ganz entscheidend. Wir haben entsprechende Regelungen getroffen. Aber über den Regelungsteil hinaus muss man an die Vertreterinnen und Vertreter
von Ländern und Kommunen appellieren, das Richtige
zu tun und zusätzlich zu investieren, anstatt das Geld zur
Haushaltssanierung zu nutzen.
Es ist nicht unerheblich, dass wir im Rahmen des Innovationsprogramms sichergestellt haben, dass FuE,
Forschung und Entwicklung, nicht nur im Osten
Deutschlands gefördert werden, sondern dass das auch
im Westen passiert. Das halte ich für ganz entscheidend.
Wir brauchen nach annähernd 20 Jahren Aufbau Ost
mittlerweile auch einen Aufbau West.
({8})
Deshalb war es richtig, dass wir bei dem Thema Breitband nicht auf die Gemeinschaftsaufgabe gesetzt haben,
sondern diesem Thema im Rahmen dieses Programms
ein besonderes Augenmerk widmen werden.
Herr Trittin hat das Thema Investitionen und Ökologie sehr ausführlich angesprochen. 2009 und 2010 fließen insgesamt 500 Millionen Euro in die Erforschung
von Hybridantrieben, Brennstoffzellen und Speichertechnologien. Wir werden bei dem Thema energetische
Sanierung ganz massiv ansetzen. Herr Trittin, ich darf
Ihnen empfehlen: Vergleichen Sie einmal die Politik der
Großen Koalition im Umweltbereich mit dem, was Sie
selber gemacht haben, beispielsweise beim Ausbau der
erneuerbaren Energien und bei der energetischen Sanierung. Ich glaube, da werden Sie relativ kleinlaut werden
({9})
und sich in Zukunft mit Kritik zurückhalten,
({10})
jedenfalls dann, wenn Sie es ernst meinen und das Ganze
verantwortungsbewusst angehen.
({11})
Ich halte es für ganz entscheidend, dass wir seriös mit
dem Thema umgehen und dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind. Es gibt im Finanzbereich eine
Krise des Vertrauens. Wir müssen alles tun, damit daraus
nicht eine Vertrauenskrise in die Politik wird. Da ist die
Große Koalition auf einem sehr guten Weg.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das, was die Große Koalition bisher zur Stärkung der Konjunktur verabschiedet hat, und die vier Gesetzentwürfe, die wir heute in erster Lesung zusammen
beraten, sind, bezogen auf unser Bruttoinlandsprodukt,
der größte Beitrag einer Volkswirtschaft innerhalb der
EU zur Stärkung der Konjunktur.
({0})
Wir leisten den stärksten Beitrag in Europa, obwohl
wir eine der gesündesten und stärksten Volkswirtschaften sind.
({1})
Gerade in den letzten drei Jahren der Großen Koalition
unter Führung der Union sind wir in vielen Bereichen
ein deutliches Stück vorangekommen.
Nun ist es natürlich für die Bevölkerung gar nicht einfach, diese vielen Programme noch zu durchschauen
({2})
und sich ein Bild zu machen, wer was will. Ich will versuchen, an fünf Punkten eine Linie aufzuzeigen, die für
uns als Union Maßstab für das Handeln ist, wohl wissend, dass besondere Situationen besondere Maßnahmen
erfordern. Ich schließe nicht aus, dass auch wir irgendwann weitere Dinge beschließen müssen.
Der erste Punkt, das Motto für den Bereich der Finanzwirtschaft, ist ganz klar: Es darf zurzeit kein Finanzinstitut in Deutschland in die Insolvenz gehen. Hätten
sich die Amerikaner, als es um Lehman Brothers ging,
entsprechend verhalten, wäre der Welt und uns manches
erspart geblieben.
({3})
Als Christdemokrat hoffe ich, dass das bisherige Instrumentarium ausreicht, um auch die Bank, die jetzt in
der Diskussion ist und deren Situation besonders kritisch
ist, vor der Insolvenz zu bewahren. Ich hoffe, es reicht
aus, dass der Bund die 33 1/3 Prozent dieser Bank, die er
heute ohne Hauptversammlungsbeschluss übernehmen
kann, übernimmt.
Genauso deutlich sage ich mit Blick auf die Realwirtschaft - das ist Punkt zwei -: Wir sind nicht bereit,
uns direkt an Firmen zu beteiligen; hier bin ich auf der
Seite der FDP. Würden wir anfangen, uns irgendwo zu
beteiligen, würden wir ein Fass öffnen und wichtige
Grundsätze infrage stellen. Diesen Fehler könnten wir
nach dem Ende der Krise nur sehr schwer rückgängig
machen.
Natürlich wollen wir der Realwirtschaft helfen. Zu
diesem Zweck haben wir für alle Firmen, die einen Umsatz von bis zu 500 Millionen Euro machen, das 15-Milliarden-Euro-Programm verabschiedet. Hinzu kommt
jetzt das 100-Milliarden-Euro-Programm, mit dem wir
uns an große Unternehmen wenden. Wir legen allerdings
Wert darauf, festzustellen, dass diese Programme keine
Beteiligungen, sondern Bürgschaften und Kredite darstellen. Ich gehe noch weiter: Ich lege Wert darauf, festzustellen, dass beide Programme von Hausbanken angeboten und von der KfW verwaltet werden.
({4})
Um es klar zu sagen: Auch an dieser Stelle sollte sich der
Staat nicht übernehmen.
({5})
Der dritte Punkt. Alle Experten sind sich darüber im
Klaren, dass man in einer Zeit wie dieser die Nachfrage
stärken muss. Die Meinungen, wie man das am besten
macht, gehen aber schon innerhalb der Großen Koalition
auseinander.
({6})
- Ja, auch in den Reihen der Union, insbesondere aber in
den Reihen der Koalition. - Ich sage sehr deutlich: Für
mich persönlich wäre es ein toller Schritt, würden wir in
unserem Programm mehr Steuersenkungen vorsehen.
({7})
Wir befinden uns allerdings in einer Großen Koalition.
Ich sage es einmal so: Wenn es uns nicht gegeben hätte,
hätte es überhaupt keine Steuererleichterungen gegeben.
({8})
Wir haben es geschafft, zumindest einige Steuererleichterungen durchzusetzen.
({9})
- Herr Kollege, es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir sind der Meinung,
der Bürger weiß am besten, was er mit seinem Geld
macht. Deswegen lautet unsere These: Die Bürger brauchen mehr Netto in der Tasche. Sozialdemokraten sind
aber fast immer davon überzeugt, dass der Staat das besser weiß.
({10})
Herr Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Aber selbstverständlich, gerne.
Herr Kollege Bernhardt, jetzt bin ich ein wenig verwirrt. Sie haben gerade ausgeführt, dass mehr Steuersenkungen notwendig seien. Zuvor allerdings hat der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion gesagt,
es sei falsch, wenn die FDP weitere Steuersenkungen
fordere.
({0})
Herr Röttgen, der Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, hat darauf hingewiesen, dass die CDU
die Forderung nach weiteren Steuersenkungen bzw. nach
einer großen Steuerreform in ihr Wahlprogramm aufnehmen wird. Jetzt möchte ich gerne von Ihnen wissen
- diese Frage zielt sowohl auf ihr Wahlprogramm als
auch auf Ihre Pläne für die nächste Legislaturperiode -:
Will die CDU eine große Steuerreform, oder will sie sie
nicht?
({1})
Ich sage Ihnen jetzt, was wir wirklich wollen, und
komme damit zu Punkt vier; denn so spare ich ein wenig
Redezeit.
({0})
Natürlich sind die kleinen Steuererleichterungen, die
in diesem Programm enthalten sind, kein Ersatz für eine
große Steuerreform.
({1})
Wir werden in unser Wahlprogramm - wir nennen es natürlich Regierungsprogramm für die nächste Legislaturperiode ({2})
die Forderung nach einer großen Steuerreform aufnehmen.
({3})
Ich sage aber sehr deutlich, Herr Kollege: Steuerreform heißt nicht nur Steuersenkung. Hier geht es um
Strukturveränderungen.
({4})
Die Stichworte sind: einfacher, gerechter und auch ein
Stück niedriger. Die klare Antwort auf Ihre Frage lautet
also: Wir werden mit der Forderung, in der nächsten
Legislaturperiode eine große Einkommensteuerreform
durchzuführen, in den Wahlkampf ziehen. Ich glaube,
wir haben auch eine Chance, den dafür notwendigen finanziellen Freiraum zu schaffen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
und zwar von der Kollegin Hendricks?
Mit dem größten Vergnügen.
Herr Kollege Bernhardt, können wir uns darauf verständigen, den Slogan „Einfach, niedrig und gerecht“,
wie ihn die FDP formuliert, auf „Einfach und gerecht“
abzuwandeln?
Ich sage es einmal so, Frau Kollegin: Es kommt auf
die Schwerpunkte an. Klar ist: Bisher wird unter einer
großen Einkommensteuerreform in der Tat fast immer
ausschließlich eine Steuersenkung verstanden. Jetzt
kommen andere Attribute hinzu. Ich habe bewusst als
Erstes genannt: eine Strukturreform, als Zweites: einfacher, als Drittes: gerechter, und dann als Viertes: niedriOtto Bernhardt
ger. Das wird das Konzept sein, mit dem wir in den
nächsten Wahlkampf eintreten werden.
({0})
Das war mein vierter Punkt. Die Aussage ist klar: Wir
bleiben dabei, dass eine große Einkommensteuerreform
notwendig ist. Schauen Sie sich einmal an, was bei einem Bruttolohnzuwachs von 5 Prozent zurzeit netto
rauskommt! Viele werden überrascht sein, wie sie in die
Progression kommen. Den Druck, einen Teil dieser stillen Progression zurückzugeben - das ist ja der Ansatz
der CSU -, werden wir in der nächsten Legislaturperiode
wieder haben. Wir werden entsprechend reagieren.
Ich komme damit zu meinem fünften Punkt, der für
meine Fraktion von erheblicher Bedeutung ist. Zurückblickend auf die ersten drei Jahre Große Koalition darf
man sagen - da wird mir jeder recht geben -, dass wir
bei der Sanierung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vorangekommen sind.
({1})
Wenn ich die Ausgangsposition, 2005, mit 2008 vergleiche, kann ich nur sagen: Wir haben in den letzten Jahren
die Freiräume geschaffen, die wir heute leider dringend
brauchen, um Programme zu machen, um gegen die
weltweite Rezession anzugehen. Wir bleiben dabei: Die
Sanierung der öffentlichen Finanzen ist weiterhin von
großer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist es richtig,
dass wir für einen Teil der Einmalinvestitionen einen besonderen Tilgungsfonds einrichten. Nach dem, worüber
wir heute in erster Lesung beraten, ist vorgesehen, dass
das, was die Bundesbank über 3,5 Milliarden Euro hinaus an Überschüssen erwirtschaftet, in diesen Tilgungsfonds fließt, voraussichtlich schon im nächsten Jahr. Wir
meinen es ernst mit der forgesetzten Sanierung der öffentlichen Finanzen.
Es hat an diesem Punkt kritische Stimmen in unserer
Fraktion gegeben. Die Vertreter der jüngeren Generation
haben gesagt: Wir stimmen dem nur zu, wenn ihr gleichzeitig sicherstellt, dass eine Schuldenbremse ins Grundgesetz kommt.
({2})
Eine Schuldenbremse ist allerdings nur für Bund und
Länder gemeinsam sinnvoll. Ob uns dies gelingt, wissen
wir nicht; aber wir hoffen es.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben auf
die aktuelle Wirtschaftskrise zum richtigen Zeitpunkt,
mit den richtigen Maßnahmen und im notwendigen Umfang reagiert. Der Bürger kann sich darauf verlassen:
Wir werden auch in Zukunft alle notwendigen Entscheidungen treffen, um diese Krise, die wir nicht verhindern
konnten, abzuschwächen und eine positive Zukunft aufzuzeigen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11740, 16/11700, 16/11746, 16/11741,
16/11742, 16/11743 und 16/11747 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie
Zusatzpunkt 13 auf:
22 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und
Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der
Streitkräftepotenziale ({0})
- Drucksache 16/11690 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung
und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({2})
- Drucksache 16/9200 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({5})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({6}), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Ent21988
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
wicklung der Streitkräftepotenziale ({7})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({8})
- Drucksachen 16/7790, 16/7791, 16/5211,
16/9149 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({9})
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen
Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Zukunft der nuklearen Abrüstung, Nicht-
verbreitung und Rüstungskontrolle
- Drucksachen 16/7569, 16/9834 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine atomwaffenfreie Zukunft - Atomwaffen aus Deutschland abziehen
- Drucksache 16/9799 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Kerstin Müller ({12}), Volker Beck
({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsatzmoratorium und Ächtung von DU-Munition vorantreiben
- Drucksache 16/11439 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeit für Abrüstung und Rüstungskontrolle ist
reif - Deutschland muss einen führenden Beitrag dazu leisten
- Drucksache 16/11757 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier, das
Wort.
({16})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
Schwalbe macht noch keinen Sommer. Will sagen:
Wenn in dieser Situation eine europäische Großmacht
die Bereitschaft zeigt, von einem Rüstungsprojekt Abstand zu nehmen, mit dem noch gar nicht begonnen
wurde, dann ist das auch aus meiner Sicht noch keine
Abrüstung. Wir alle wissen das. Trotzdem ist diese Debatte zu dieser Zeit richtig und wichtig, zu einer Zeit
nämlich, in der wieder viel frischer Wind in der internationalen Politik und, so hoffe ich, auch in der Abrüstungspolitik weht.
Warum sage ich das? - Ich sage das, weil ich es als
ein gutes Zeichen ansehe, dass sich der neue amerikanische Präsident in seinem ersten Interview an die arabische und muslimische Welt wendet und dass er gleichzeitig auch in Richtung Russland Entspannungssignale
sendet und ganz offenbar eine Antwort dadurch erhalten
hat, dass Russland die Bereitschaft zeigt, seine Raketen
nicht, wie angekündigt, in Kaliningrad zu stationieren.
Das sind gute Nachrichten, und das ist eine Chance, die
wir jetzt nutzen müssen. Ich glaube, dass die Weichen
für die nächsten zehn Jahre Abrüstungspolitik in diesem
Jahr 2009 gestellt werden. Wir müssen es schaffen, die
Weichen auf die richtige Art und Weise zu stellen.
({0})
Es ist Zeit, dass wir auch in der internationalen Politik
- ich habe das auch hier in diesem Hause oft genug gesagt - von dem alten Denken in den Kategorien von Abschottung oder Abschreckung weg kommen. Wir müssen hin zu einer anderen Außen- und internationalen
Politik, die von Langfristigkeit und Vorausschau geleitet
ist, wofür ich oft geworben habe. Die Chance dafür besteht jetzt, eine Chance, die wir nicht vergeigen dürfen.
Darum bitte ich sehr.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe von Gesten gesprochen, die wir begrüßen und gerne sehen. Für die Politik kommt es darauf an, dass aus solchen Gesten Taten
werden. Dazu brauchen wir vor allen Dingen eines, was
in der internationalen Politik in den letzten Jahren verloBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
rengegangen ist, nämlich Vertrauen. Ohne Vertrauen
wird es international keine Abrüstungspolitik geben.
Deshalb müssen wir daran mitwirken, dass Vertrauen
entsteht.
({2})
Es gibt in der Abrüstungspolitik natürlich Prioritäten,
die wir uns vornehmen müssen. Die erste und wichtigste
Aufgabe ist für mich: weniger Atomwaffen. Konzepte
und Ansätze dafür liegen ja vor. Es sind ja keine Traumtänzer, die daran gearbeitet haben - auch in Deutschland
nicht. Wenn Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker,
Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr daran arbeiten
und solche Vorschläge machen, dann sind das ganz praktische Schritte hin auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt.
({3})
Das ist auch eine Antwort - so wollen sie auch verstanden werden - auf einen Vorschlag, den vier Schwergewichte der amerikanischen Außenpolitik - Henry
Kissinger und George Shultz sind darunter - bereits im
letzten Jahr entwickelt haben. Sie arbeiten dafür, dass
aus einer solchen Vision Wirklichkeit wird.
Wir müssen das tun. Deshalb sollten wir miteinander
dafür sorgen, dass diejenigen, die auf der amerikanischen und der deutschen Seite solche Vorschläge gemacht haben, hier in Berlin zusammenkommen und die
Vorschläge und Konzepte, die erarbeitet worden sind,
bündeln. Wir sollten dabei helfen, dass aus solchen Vorschlägen und Ideen praktische Politik wird.
({4})
Herzstück dessen, was wir dort vor uns haben, ist
ganz sicher der Nichtverbreitungsvertrag. Wir haben
deprimierende Erfahrungen hinter uns. Die letzte Reformperiode ist ohne jedes Ergebnis zu Ende gegangen.
Ganz klar ist ebenso, dass Russland und die USA, die
mehr als 90 Prozent des gesamten Kernwaffenbestandes
besitzen, hier vorangehen müssen.
Ich will - auch von hier aus - den Appell an die beiden jungen Präsidenten in den USA und in Russland
richten, sich dieser Verantwortung zu stellen und den
Blick nach vorne zu richten. Solche Signale sehe ich im
Augenblick vor allen Dingen von der amerikanischen
Seite. Drei Signale sind es, die ich kurz erwähnen will.
Erstens: die Bereitschaft der USA, den START-Vertrag, das Abkommen über weitere nukleare Abrüstung,
zu verlängern, nachdem es Ende dieses Jahres ausgelaufen sein wird.
Zweitens - für jeden, der hier im Saale sitzt und sich
in den letzten acht Jahren auch mit Abrüstungspolitik befasst hat, fast eine Sensation -: Präsident Obama hat angekündigt, den Atomteststoppvertrag dem Senat jetzt zur
Ratifizierung zuzuleiten.
({5})
Das ist ein entscheidendes Signal, auf das wir jahrelang
vergeblich gewartet haben. Wir wissen nun, dass wir die
neuen Spieler auf der internationalen Bühne davon abhalten können, weiter nuklear aufzurüsten.
Drittens - auch nicht unwichtig -: das Nachdenken in
der neuen amerikanischen Regierung darüber, ob man
die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial einstellt. Wenn wir es schaffen würden, das wieder aufzunehmen, auch in den internationalen Verhandlungen,
dann packen wir das Problem der Nuklearbewaffnung in
der Tat endlich an der Wurzel; denn wir würden dazu
kommen, dass Material, das nach vielen Jahren der Verhandlungen endlich vernichtet worden ist, nicht ersetzt
werden kann.
Das sind drei wichtige Signale, die für uns einen Zeitsprung nach vorne in der Denuklearisierung der Waffentechnologie bedeuten könnten.
Niemand hier ist naiv. Auch wir wissen, dass wir
durch einen Verzicht auf Kernenergie und durch den
Verzicht auf Nuklearwaffen hier in Deutschland die Welt
noch nicht endgültig zum Guten wenden. Es gibt Regionen, es gibt Staaten, die ihren Ehrgeiz darauf verwenden,
zumindest die zivile Produktion von Kernenergie auszuweiten. Natürlich wirft das nicht erst heute erstmals die
Fragen auf: Wie begrenzen wir, wie bannen wir eigentlich die Gefahren, die durch die Ausbreitung der zivilen
Nutzung der Kernenergie entstehen können? Wie sorgen
wir vor allen Dingen dafür, dass hier nicht auf Nebenwegen am Ende spaltbares Material für Nuklearwaffen hergestellt wird?
Ich habe für die deutsche Seite bei der Internationalen
Atomenergiebehörde mit einem Vorschlag zur Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufes geworben,
was nichts anderes heißt, als dafür zu sorgen - in die Details müssen wir jetzt gar nicht gehen -, dass überall da,
wo Anreicherungstechnologie Anwendung findet, internationale Kontrolle, aus meiner Sicht: möglichst durch
die IAEO, ausgeübt wird.
({6})
Die Unterstützung für diesen Vorschlag wächst. Wir
werden uns weiter intensiv dafür einsetzen. Ich werde
mein nächstes Gespräch mit Herrn al-Baradei am kommenden Wochenende in München führen.
Die IAEO wird nur dann funktionieren, wenn die
Staaten bereit sind, mit dieser wichtigen VN-Kontrollfunktion zusammenzuarbeiten. Das sage ich deshalb,
weil es wichtige Staaten wie Iran und Syrien sind, die
Risiken in die internationale Politik hineintragen. Wir
müssen an diese Staaten appellieren, wir müssen sie auffordern, wir müssen sie drängen, mit der IAEO tatsächlich zusammenzuarbeiten. Sie haben das alles aus nächster Nähe verfolgt.
Wir haben uns mittlerweile schon vier Jahre intensiv
bemüht, mit dem Iran klarzukommen, dafür zu sorgen,
dass das nukleare Programm, vermutlich auch ein nukleares Waffenprogramm, nicht weiterverfolgt wird. Wir
haben Angebote an den Iran ausgereicht. Wir haben aber
auch Sanktionen beschlossen. Wir wollen und brauchen
weiterhin eine diplomatische Lösung. In diesem Sinne
ist es gut, dass Präsident Obama seine Hand ausgestreckt
hat, dass er Bereitschaft zu Direktgesprächen mit dem
Iran gezeigt hat. Ich glaube nur, es ist an der Zeit, dass
wir auch heute, auch von hier aus an den Iran und die
iranische Führung appellieren, diese Hand nicht zurückzuweisen. Ich verweise gezielt mit Blick auf die Nachrichten von gestern, die auch Sie gesehen haben, darauf,
dass der Iran, nachdem die USA ihre Gesprächsbereitschaft betont haben, anfängt, die Hürden für Direktgespräche zu erhöhen. Deshalb sage ich: Seid vernünftig!
Geht auf dieses Angebot der USA ein - gar nicht einmal
wegen der USA und des Restes der Welt - natürlich
möchten auch wir, dass es zu einer Lösung kommt -,
sondern vor allen Dingen wegen der Menschen, die unter der Isolation und Konfrontation, die die iranische Politik hervorruft, leiden. Das geht sogar so weit, dass dort
viele Menschen hungern.
({7})
Neue Themen stellen sich im Laufe der Zeit. Dennoch
bleiben manchmal über Jahre und Jahrzehnte Stichworte
und Überschriften dieselben. Das deutet darauf hin, dass
wir die Aufgaben noch nicht gelöst haben. Der gemeinsame Raum der Sicherheit in Europa bzw. von Vancouver
bis Wladiwostok ist wahrlich kein neues Stichwort. Nur,
aktuell ist dieses Thema nach wie vor. Ich mag nach wie
vor nicht einsehen, dass wir dann, wenn wir feststellen,
dass dieser Raum neuen Bedrohungen, die alle gemeinsam betreffen, ausgesetzt ist, nicht Mittel und Wege finden können, um uns gemeinsam vor diesen neuen Bedrohungen auch tatsächlich zu schützen. Die Zeit dafür
ist reif. Wir sollten sie nutzen und die Bedrohungen, die
alle gemeinsam betreffen, nicht zum Anlass nehmen,
noch neue überflüssige Konflikte zwischen Ost und
West zu begründen. Das ist nun wirklich nicht Sinn der
Sache.
({8})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch einen
Neubeginn bei der Debatte über den KSE-Vertrag. Es
gibt ein Argument, das Russland dagegen zu Recht einwendet. So wird gesagt, der KSE-Vertrag stamme aus einer Zeit, die vergangen ist, nämlich aus der Zeit vor der
NATO-Osterweiterung. Ich sage: So richtig das Argument ist, so falsch wäre der Schluss, dass man deswegen
in Untätigkeit verfallen dürfe.
({9})
Der richtige Schluss lautet: Wir müssen den KSE-Vertrag, weil wir ihn brauchen, an die neuen Bedingungen
anpassen. Er ist nicht obsolet. Wer wie Sie die Entwicklung und den Verlauf des Südkaukasus-Konfliktes im
vergangenen Sommer erlebt hat, der weiß, dass das, was
der KSE-Vertrag inhaltlich bezweckte, nämlich mehr
Stabilität im europäischen Raum, wahrlich nicht obsolet
geworden ist. Wir werden deshalb die Beteiligten erneut
nach Berlin einladen und versuchen, beim KSE-Vertrag
mehr Fortschritte als in der Vergangenheit zu erreichen.
({10})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Abrüstungspolitik dauert. Das ist in der Regel kein
Thema für Sprücheklopfer. Ich weiß das wohl. Trotzdem
- das will ich Ihnen sagen - lohnt sich der Einsatz. Gelegentlich erfährt man das auch in seiner aktiven Zeit: So
durfte ich vor wenigen Wochen in Oslo das Übereinkommen über ein Verbot von Streumunition mit unterzeichnen. Das ist gut. Wir müssen aber gleichzeitig feststellen: Viele Staaten haben noch nicht unterschrieben.
Der Druck wächst zwar, aber er muss weiter wachsen.
Dafür zu sorgen, dass er weiter wächst, das schafft der
Außenminister nicht allein. Deshalb braucht er ein Parlament und Abgeordnete, die ihn dabei unterstützen und
sich dieser Aufgabe annehmen.
({11})
Sie können sicher sein: Ich weiß sehr wohl, dass das eine
Arbeit ist, bei der sich der Fortschritt eher in Millimetern
bemisst bzw. über Jahre gar nicht eintritt. Ich weiß, dass
das eine Arbeit ist, für die man nicht am nächsten Tag in
den Medien gelobt wird. Es handelt sich aber um eine
notwendige Arbeit. Deshalb bedanke ich mich für Ihre
Unterstützung in der Vergangenheit und setze auf Sie in
der Zukunft.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Werner Hoyer für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Minister Steinmeier, wir nehmen Ihr Angebot gerne an. Wir fühlen uns nämlich dem Ziel, das Sie
dargelegt haben, verpflichtet. Wir sind auch hinsichtlich
der Analyse der Gefahren einer weltweiten Aufrüstung
und einer wachsenden Proliferation mit Ihnen einig, und
das nicht erst seit heute. Wir beschwören das mehrfach
im Jahr in jeder entsprechenden Debatte. Wir wiederholen das ebenso wie Sie in diesem Hause seit Jahren gebetsmühlenartig. Wir loben Sie dafür, aber dann passiert
nichts.
Es ist für meine Fraktion und mich völlig unverständlich, dass Deutschland bis heute in einem abrüstungspolitischen Tiefschlaf liegt,
({0})
dass es seit mehr als zehn Jahren keine abrüstungspolitischen Initiativen und international oder auch nur national diskutierte Konzepte aus der Feder der Bundesregierung gibt. Ich nenne eine Ausnahme - Sie haben sie eben
selber erwähnt -: Den Vorschlag der Multilateralisierung
des Brennstoffkreislaufs finde ich sehr interessant. Das
kann letztlich durchaus ein Teil des Gesamtpaketes sein.
({1})
Abrüstung und Rüstungskontrolle waren Kernelemente
der Entspannungspolitik, die zum Ende des Kalten
Krieges geführt haben. Kaum ein Land hat der Entspannungspolitik so viel zu verdanken wie Deutschland.
Heute sind alle relevanten Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge entweder gekündigt, oder sie werden
unterlaufen oder liegen auf Eis.
Das Schicksal des Nichtverbreitungsvertrages aus
dem Jahr 1968 ist ungewiss. Der ABM-Vertrag von 1972
ist gekündigt. Die INF-Verträge sind so gut wie ausgesetzt, und der Nachfolger des KSE-Vertrages wartet immer noch auf die Ratifizierung durch die NATO-Staaten.
Hinzu kommt ein Faktor, der vielleicht noch größere
Auswirkungen hat, weil wir ihn nach der Überwindung
des Kalten Krieges möglicherweise etwas aus dem
Blickfeld verloren haben. Seit 1967 ist die Sicherheitspolitik der NATO mehr vom Harmel-Bericht inspiriert
als von irgendeinem anderen Dokument. Die NATO
vollzog damals einen veritablen Paradigmenwechsel, der
uns befähigt hat, die Gefahren des Kalten Krieges zu
bannen. Militärische Abschreckung und politische Dialogbereitschaft wurden nicht mehr als Widersprüche,
sondern als sich ergänzende Prinzipien verstanden.
Heute sind wir in gewisser Weise hinter die 90erJahre zurückgefallen. Eindämmung, unilaterales Vorgehen und Aufrüstung bestimmen die Szene. Dieser Trend
muss umgekehrt werden, und vielleicht wird das jetzt
auch möglich. Die Signale - insbesondere von unserem
amerikanischen Bündnispartner - sind ermutigend.
Die richtige Konsequenz ist nicht weniger, sondern
mehr vertragliche Bindung. Vielleicht leistet die Weltwirtschaftskrise dabei durchaus katalytische Dienste. Es
wird möglich, was sonst nicht möglich bzw. vielleicht
sehr viel schwieriger oder erst später möglich geworden
wäre. Wir sollten diese Chance nutzen.
In der Abrüstungspolitik kann Deutschland zu jedem
Zeitpunkt glaubwürdig wie sonst kaum ein Land auftreten. Aber wir erleben eine Abfolge von Versäumnissen
und Fehlentscheidungen. Ich nenne einige Beispiele:
Bis heute verweigern wir uns der Ratifizierung des
AKSE-Vertrages. Die Signalwirkung ist fatal und spielt
den Hardlinern in Moskau geradezu in die Hände.
({2})
Ein zweites Beispiel: Seit 2005 hat Washington mit
Prag und Warschau über die Stationierung eines Raketenschildes verhandelt, als gehe das Europa gar nichts
an. Auch die Bundesregierung ist nicht richtig auf das
Thema eingestiegen.
({3})
Schließlich, Herr Minister - damit komme ich zu dem
Tiefpunkt der deutschen Rüstungskontrolle- und Abrüstungspolitik der letzten Jahrzehnte -: Deutschland führt
seit letztem Jahr den Vorsitz in der Nuclear Suppliers
Group, in der über die proliferationsrelevanten Ausfuhren im Konsens entschieden wird. Entgegen den von Ihnen selber aufgestellten Kriterien stimmt Deutschland
ohne Not einer Ausnahmegenehmigung für Indien zum
Import nuklearer Brennstoffe und Technologien zu.
Warum ist die Bundesregierung eigentlich so wild
darauf gewesen, den Vorsitz in der Nuclear Suppliers
Group zu übernehmen?
({4})
Am Ende waren wir die nützlichen Idioten für eine
scheidende amerikanische Regierung. Die neue Regierung will davon wahrscheinlich relativ wenig wissen.
({5})
Berechenbarkeit schafft Vertrauen. Vertrauen schafft
Sicherheit, und Sicherheit gibt die Kraft zu politischer
Annäherung. 2007 haben vier ehemalige amerikanische
Außen- und Verteidigungsminister für die Vision einer
nuklearen Nulllösung geworben. Sie haben das dankenswerterweise angesprochen.
Diese Initiative hat lange auf ein Echo aus Deutschland warten müssen. Jetzt haben Richard von Weizsäcker,
Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon
Bahr ein solches Echo gegeben. Das kann man nicht genug würdigen.
({6})
Wenn vier deutsche Staatsmänner, mit denen sich Wegmarken erfolgreicher deutscher Außen- und Friedenspolitik verbinden, sich in dieser Form zu Wort melden,
dann schreit das geradezu danach, berücksichtigt zu werden. Das muss uns eine Verpflichtung sein.
({7})
Das dürfen wir doch nicht unseren Vorgängern überlassen. Wir - unsere Politikergeneration - müssen das
endlich angehen. Aber von der Bundesregierung ist zu
dieser jetzt schon seit zwei Jahren diskutierten Initiative
keine Stellungnahme in der Sache zu hören. Stattdessen
wird das, was in Zeiten des Kalten Krieges richtig und
wichtig war, häufig genug kritiklos wiederholt. Niemand
im offiziellen Berlin geht auf das Argument ein, dass
sich das, was im Kalten Krieg qua erfolgreiche Abschreckung Teil der wirksamen Problemlösung war, in Zeiten
asymmetrischer Bedrohung und kaum noch zu stoppender Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als Teil
des Problems selbst erweisen könnte. Präsident Obama
hat sich die Vertrauensbildung auf die Fahnen geschrieben und die Vision einer atomaren Nulllösung zu eigen
gemacht. Seine Mitarbeiter legen in Gesprächen immer
wieder Wert darauf, dass er das, was er im Wahlkampf
dazu gesagt hat, wirklich meint. Wir werden Fragen beantworten müssen, die uns die amerikanischen Freunde
stellen werden.
Man darf natürlich nicht nur in das Papier selber
schauen, sondern muss auch die diesem Papier zugrunde
liegenden sehr elaborierten Studien berücksichtigen.
Dann fallen viele Argumente weg, die bei uns sehr
schnell vorgetragen werden. Mancher sagt, das alles sei
naiv, nicht zu Ende gedacht. Mancher ist auch der Auffassung, der Verzicht auf Atomwaffen bringe uns einem
konventionellen Krieg näher oder werde ihn leichter
führbar machen. Das träfe nur zu, wenn man die Verknüpfung übersähe, die zwischen Abrüstung und Rüstungskontrolle in nie vorhandener Dichte hergestellt
werden muss, genauso wie zwischen nuklearer und nicht
nuklearer Abrüstung.
({8})
Ich denke, wir haben eine neue Chance in der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Wir müssen sie jetzt
endlich beherzt nutzen.
({9})
Ich erteile das Wort Eckart von Klaeden für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nichtverbreitungs-, Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik
hat das Ziel, die Welt für unsere Bürgerinnen und Bürger
sowie die Völker dieser Welt sicherer zu machen. Gerade weil wir uns diesem Ziel verpflichtet fühlen, dürfen
wir in einer solchen Debatte nicht nur über die Welt
sprechen, wie wir sie uns wünschen, sondern müssen
auch darüber sprechen, wie die Welt ist. Dazu gehört,
dass es in den letzten Jahren Fortschritte in den Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle gegeben
hat. Der Hinweis auf das Streumunitionsabkommen
- mit den Einschränkungen, die der Bundesaußenminister gemacht hat - gehört in diesen Zusammenhang.
Wir müssen aber auch erkennen, dass es eine Reihe
von Rückschlägen gegeben hat. Zu diesem Schluss
kommen wir, wenn wir uns an die Proliferation von Nuklear- und Raketentechnik erinnern und unseren Blick
auf die Länder Iran, Nordkorea und Syrien richten. Insbesondere der Iran und seine unverminderten Aktivitäten
bei gleichzeitiger Verweigerung einer angemessenen
Kooperation mit der Internationalen Atomenergiebehörde erfüllen uns zunehmend mit Sorge. Es ist wichtig,
dass die internationale Gemeinschaft ihren Kurs fortsetzt
und gegenüber dem Iran geschlossen auftritt. Es ist eine
Chance, dass der amerikanische Präsident Obama als einen Teil seiner Verhandlungsstrategie direkte Gespräche
mit dem Iran in Aussicht gestellt hat.
({0})
Das gibt die Möglichkeit, dem bisherigen Ansatz der
Double-Track-Strategie weitere Elemente hinzuzufügen, wie zum Beispiel Gespräche über eine Sicherheitsordnung für den Nahen und Mittleren Osten, bei der der
Iran ein wichtiger Akteur sein könnte, wenn er bereit ist,
seine Haltung im Nahostkonflikt grundlegend zu verändern und sich den Friedensvorschlägen der Arabischen
Liga anzuschließen. Es geht darum, den bisherigen Ansatz der Double-Track-Strategie fortzusetzen und auszubauen sowie ein strategisches Umfeld zu schaffen, das
deutlich macht, dass die weiteren nuklearen Ambitionen
des Iran ihm selbst und seiner Bevölkerung schaden. Das
ist auch wichtig, damit der Iran für den Fall, dass er
seine nuklearen Ambitionen wie bisher fortsetzt, nicht
beispielgebend ist und keine Nachahmer in der Region
und darüber hinaus findet.
Wir begrüßen die Initiativen des US-Präsidenten
Barack Obama im Bereich der Rüstungskontrolle und
Abrüstung. Wir hoffen, dass er die Verhandlungen zu einem Nachfolgeabkommen des START-I-Vertrages zügig
fortsetzt. Wir begrüßen auch die gemeinsame amerikanisch-russische Initiative zu einer Multilateralisierung
des INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckensysteme.
Der NVV bedarf einer Reform. Dafür sollte die im
Jahr 2010 stattfindende Überprüfungskonferenz genutzt
werden. Meine Fraktion unterstützt ausdrücklich den
Vorschlag von Herrn al-Baradei und des Außenministers, zu einer Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs zu kommen, weil wir dafür sorgen müssen, dass
Staaten, wie wir es jetzt leider beim Iran erlebt haben,
nichtzivile Nuklearprogramme nutzen können, um hinter
ihnen ein militärisches Nuklearprogramm zu verstecken.
Es ist vom Kollegen Hoyer der Vorsitz Deutschlands
in der Nuclear Suppliers Group und der Vertrag zwischen Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika angesprochen worden,
({1})
der aus Sicht der FDP eine Schwächung des Nonproliferationsregimes ist. Man kann in der Tat, was dieses Abkommen angeht, unterschiedlicher Ansicht sein. Gerade
bei dieser Frage beweist sich, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle und Außenpolitik häufig nicht schwarzweiß zu beurteilen sind,
({2})
und die Bedenken, die genannt worden sind, sind sicherlich relevant. Ich glaube dennoch, dass dieses Abkommen insgesamt ein Fortschritt ist, und zwar deswegen,
weil es das strategische Umfeld für Indien verbessert; Indien wird es sich künftig nicht leisten können, zum Beispiel gegen die Zusage, in Zukunft auf Atomwaffentests
zu verzichten, zu verstoßen. Das ist ein wesentlicher
Schritt in einem Prozess, der Indien immer näher an das
internationale Nichtverbreitungsregime heranführen
wird. Darin liegt der eigentliche strategische Nutzen dieses Abkommens, der aus meiner Sicht die Nachteile
überwiegt, die hier immer wieder angesprochen worden
sind. Indien hat sich in den letzten Jahrzehnten würdig
erwiesen, dass man dieses Abkommen unterstützen
kann. Über 30 Jahre hat Indien seine Zusage eingehalten, keine Proliferation von Technik oder Material vorzunehmen. Indien hat von Anfang an auf eine First-UseEckart von Klaeden
Strategie von Nuklearwaffen verzichtet, und Indien hat
- das ist zur Beurteilung des Falles auch wichtig - im
Gegensatz zu Iran oder anderen Staaten nicht den Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben. Deshalb ist es angesichts der Beurteilung dieser strategischen Lage richtig
gewesen, dass die Bundesrepublik als Vorsitzende der
Nuclear Suppliers Group diesem Abkommen zugestimmt hat.
Ein Wort möchte ich zur konventionellen Abrüstung
verlieren. Wenn ich davon spreche, dass wir nicht nur
über die Welt sprechen dürfen, wie wir sie uns wünschen, sondern auch über die Welt, wie sie ist, dann gehört es schon dazu, im Zusammenhang mit dem KSEoder dem AKSE-Vertrag darauf hinzuweisen, dass Russland diesen Vertrag zweimal in gravierender Weise gebrochen hat. Mich erstaunt, Herr Kollege Hoyer, dass
das in Ihrer Aufforderung, den Vertrag zu ratifizieren,
hier keine Erwähnung gefunden hat. Russland hat zum
einen den Vertrag ausgesetzt, suspendiert. Das ist ein
klarer Vertragsbruch; denn eine solche Suspendierung ist
nicht vorgesehen. Wir sind jetzt in der paradoxen Situation, dass Russland gegen seine völkerrechtliche Verpflichtung den Informationspflichten aus dem Vertrag
nicht nachkommt, während wir - auch das gehört zur
Wahrheit - den Vertrag nicht ratifiziert haben, aber den
Informationspflichten aus dem Vertrag nach wie vor
nachkommen. Wir haben den Vertrag deswegen nicht ratifiziert, weil Russland seinen Verpflichtungen aus den
Vereinbarungen mit der NATO, die in Istanbul im
Jahre 1999 getroffen wurden, nicht nachgekommen ist.
Zum anderen muss man, wenn man über den AKSE-Vertrag spricht, auch feststellen, dass der zweite gravierende
Vertragsbruch von Russland die Ankündigung ist, in den
abtrünnigen Provinzen Georgiens Südossetien und Abchasien jeweils 3 800 Soldaten zu stationieren. Das kann
das faktische Ende des KSE- bzw. des AKSE-Vertrages
sein.
Ich bin nicht der Ansicht, dass wir dieses Verhalten
Russlands hinnehmen dürfen und dass wir unsere Ratifizierungsbemühungen jetzt fortsetzen können, ohne das
anzusprechen und ohne von Russland entsprechende Reaktionen zu erwarten. Wir brauchen von Russland ein
klares Bekenntnis zum rüstungskontrollpolitischen Acquis des Nachwende-Europa und eine Erklärung, dass es
sein Handeln an dessen Erhalt auszurichten bereit ist.
Wir brauchen von Russland ernsthafte Bemühungen, die
darauf gerichtet sind, in die internationalen Konfliktlösungsmechanismen eingebunden zu bleiben und nicht
eine Politik der freien Hand zu betreiben, wie wir sie im
Georgien-Konflikt leider haben beobachten müssen. Wir
müssen gerade jetzt Wert auf die Einhaltung der Istanbul-Kriterien legen, damit nicht der Eindruck entsteht,
militärisches Vorgehen oder militärische Aggression
lohne sich und führe nicht zu Konsequenzen.
Ich weiß, dass das den allgemein harmonischen Ton
einer solchen Abrüstungsdebatte stört, aber es gehört
eben dazu, die Welt nicht nur so zu sehen, wie man sie
sich wünscht, sondern auch so, wie sie bedauerlicherweise ist.
({3})
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir nicht
in erster Linie über die Vergangenheit, sondern über die
Zukunft der Abrüstung reden; schließlich ist die Hoffnung groß, dass die bleierne Zeit der Rüstungskontrolle
mit der Ära Bush zu Ende geht. In der Tat, das ist die
erste Frage: Wie kann die Aufrüstungsdynamik der letzten zehn, zwölf Jahre umgekehrt und in eine Dynamik
der Abrüstung verwandelt werden? Die zweite Frage
lautet: Was kann die Bundesregierung dazu tun?
({0})
Wurschtelt sie weiter vor sich hin, oder geht sie unverzagt ans Werk und versucht, eine solche Dynamik herbeizuführen?
Dabei reicht es nicht, alle Hoffnung auf Obama und
das Weiße Haus zu projizieren. Natürlich, was dort geschieht, eröffnet neue Chancen, aber wir müssen sie selber nutzen. Die Chancen liegen darin, dass das, was
noch gestern nur als eine schöne Utopie erschien, die
atomwaffenfreie Welt, heute greifbar näher ist; selbst
erzkonservative Politiker fordern sie. Nur die Unionsfraktion scheint nicht gemerkt zu haben, dass die Welt
sich weiterdreht.
({1})
Was wir gerade an altem Denken gehört haben, ist schon
schwer verdaulich.
({2})
Erstens. Wenn sich der neue US-Präsident jetzt die
Vision einer Welt ohne Atomwaffen zu eigen macht
und zu drastischen Einschnitten in das Atomwaffenarsenal bereit ist, dann kann und muss die Bundesregierung
einiges tun: Abzug der US-Atomwaffen aus der Eifel,
Beendigung der nuklearen Teilhabe. Das ist doch jetzt
angesagt!
({3})
Wir erwarten von der Bundesregierung, Herr Außenminister, dass sie darum kämpft, beim kommenden NATOGipfel die Frage des Ersteinsatzes von Atomwaffen auf
die Tagesordnung zu bringen,
({4})
Paul Schäfer ({5})
und dafür eintritt, dass diese Doktrin von der Allianz unwiderruflich ad acta gelegt wird. Das wäre übrigens auch
ein entscheidender Beitrag dazu, die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg zu führen.
In diesem Zusammenhang: Dem Antrag der Grünen
werden wir zustimmen. Er ist zwar zahnlos, aber ansonsten okay.
Zweitens. Wenn sich der neue US-Präsident bei der
Aufstellung der Raketenabwehr in Polen und in Tschechien zumindest zögerlich zeigt, dann kann die Bundesregierung mehr tun, als nur zustimmend zu nicken. Es ist
ja richtig, wenn diese Aufrüstungspläne erst einmal auf
Eis gelegt werden, wenn es neue Gespräche mit Russland gibt, aber es wäre ein wichtiges Signal, wenn auch
die gleichgerichteten bzw. komplementären Programme
der NATO - daran ist die Bundesrepublik beteiligt - erst
einmal gestoppt würden.
Drittens. Wenn sich die neue US-Präsidentschaft jetzt
für direkte Verhandlungen mit dem Iran ausspricht
- hierbei geht es um eine zentrale Abrüstungsfrage -,
dann sollte die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen Union darauf hinwirken, dass ein neuer diplomatischer Ansatz entwickelt wird. Die Politik des immer
schärferen Drucks auf den Iran hat nicht zum Erfolg geführt; sie wird nicht zum Erfolg führen. Aber man hört,
gerade die Bundeskanzlerin sei besonders verbissen dabei, immer weiter an der Sanktionsschraube zu drehen.
Lassen Sie diesen Unsinn!
({6})
Wenn man den Druck auf die Staaten, die einen Appetit
auf Atombomben entwickelt haben, erhöhen will, dann
muss man den Pfad der allgemeinen, vollständigen und
verifizierbaren Abrüstung der Atomwaffen beschreiten.
Außerdem muss man die Anreize erhöhen, von der
Bombe zu lassen, indem man weitreichende Angebote
zur Kooperation bei der wirtschaftlichen Entwicklung
macht. Das wäre vernünftige Politik.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Atomrüstung ist
ein zentrales Thema, aber nicht das einzige. Russland hat
das Nukleare aufgewertet, weil man sich gegenüber der
NATO im konventionellen Bereich im Hintertreffen und
durch den bestehenden KSE-Vertrag benachteiligt sieht.
Das kann uns nicht gefallen, aber es ist nachvollziehbar.
Daher müssen wir auch darüber sprechen, wie wir bei
der konventionellen Abrüstung vorankommen. Ob es
jetzt zweckmäßig und sinnvoll ist, im Rahmen - der
Herr Außenminister hat es angesprochen - von Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag über neue Flanken- und Stationierungsregeln sowie über neue Obergrenzen, die längst obsolet sind, zu sprechen, ist sehr
genau zu hinterfragen.
Die Linke hat vor einem Jahr hier vorgeschlagen - das
ist ein einfacher, transparenter und guter Vorschlag -,
alle KSE-Teilnehmer sollten ihre Waffen und Streitkräfte
proportional reduzieren. Alle könnten ihr Militärpotenzial um 30 Prozent abbauen, und es wären immer noch
- ich habe die Zahlen hier vorgetragen - übergenug Soldaten und Waffen vorhanden. Eines könnte über diesen
Schritt vor allem erreicht werden - ich stimme Ihnen zu,
Herr Außenminister, dass es nicht zuletzt darum geht -:
Vertrauensbildung. Dadurch könnte man wirklich Vertrauen bilden.
Die Bundesregierung ist jetzt am Zuge. Mutige Initiative und Konsequenz sind gefragt. Ich verhehle nicht,
dass ich in dieser Hinsicht sehr skeptisch bin. Wir wollen
nämlich eines nicht vergessen: Die Bundesrepublik
Deutschland als Mitglied der EU und der NATO ist seit
mehr als zehn Jahren Bestandteil dieser Aufrüstungsdynamik, siehe Rüstungsetat, siehe qualitative Rüstungsmodernisierung, siehe wachsende Zahl der Out-of-areaEinsätze. Wenn die Bundesrepublik aus dieser globalen
Aufrüstungsdynamik aussteigen will, dann ist mehr gefragt als Abrüstungsrhetorik. Die deutschen Friedensforschungsinstitute haben sich in ihrem letzten Jahresgutachten mit dem Problem der Hochrüstung beschäftigt
und das mit einer Renaissance traditioneller Machtpolitik in Verbindung gebracht.
Wir müssen also auch über die Grundlagen von Außenpolitik reden. Wenn zwei Drittel der Weltmilitärausgaben auf das Konto der NATO-Staaten gehen, könnte das
dann, frage ich Sie, nicht auch mit der Hybris dieser
Allianz zu haben,
({8})
sich als eine Ordnungsmacht zu verstehen, die global
militärisch intervenieren will? Wenn in diesem Kontext
auch noch formuliert wird, dass die Allianz notfalls auch
militärisch „unsere“ strategische Rohstoff- und Energieversorgung sichern müsse, dann werden wir - das sage
ich Ihnen voraus - keinen Ausweg aus der Rüstungsspirale finden.
Auch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es darum
geht, über neue Philosophien, neues Denken, neue
Grundlagen zu sprechen. Ein Hinweis auf Gorbatschow
muss hier genügen. Das war eine kurze Phase, in der Abrüstungspolitik stattgefunden hat. Damals war man der
Auffassung, Sicherheit sei nur gemeinsam und kooperativ zwischen Ost und West zu erreichen und die Menschheit müsse sich, statt Mittel sinnlos im Wettrüsten zu
vergeuden, den eigentlichen Aufgaben zuwenden: Überwindung von Armut und Hunger, Bewahrung der natürlichen Grundlagen unseres Planeten, Schaffung gerechter
Weltwirtschaftsbeziehungen. Diese Aufgaben sind heute
dringender denn je. Darauf muss sich die Außenpolitik
jetzt konzentrieren.
Es ist gut, dass Hillary Clinton jetzt formuliert hat,
Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie seien die
wichtigsten Mittel, um die amerikanische Sicherheit zu
gewährleisten. Das ist ein guter Denkansatz. Er muss
aber zu praktischer Politik werden. Das wird er aber
nicht, wenn wir nur auf Heilsbringer in den USA schielen; vielmehr müssen dazu Menschen aktiv werden und
sich engagieren, was ja viele nächste Woche in München
Paul Schäfer ({9})
oder im April anlässlich des NATO-Gipfels tun wollen.
Wir unterstützen sie dabei, und das ist gut so.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte über den Jahresabrüstungsbericht der
Bundesregierung ist für mich zuerst Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes
für ihre vorzügliche Arbeit auf diesem mühsamen Feld
zu danken. Unter Botschafter Gottwald wird hier eine
sehr kompetente, sehr geduldige und differenzierte Arbeit geleistet.
({0})
Im vorigen Jahrzehnt erlebte die Welt eine Abrüstung
im Frieden, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Dieser Trend verkehrte sich ungefähr seit der
Jahrtausendwende ins Gegenteil. Im Jahr 2007 erreichten die weltweiten Rüstungsausgaben die extreme Höhe
von 1,34 Billionen Dollar. Wir wissen, wo die Steigerungsraten am höchsten waren: in den USA mit über
50 Prozent, aber auch in Südasien, im Nahen Osten und
in Nordafrika.
Seit der letzten Debatte über den Jahresabrüstungsbericht vor ungefähr einem Jahr hat es materielle Verbesserungen auf diesem Feld nahezu nicht gegeben. Ich
nenne Beispiele dafür: Es ist ein Skandal, dass die Genfer Abrüstungskonferenz - sie ist das einzige ständige
globale Forum für Fragen von Rüstungskontrolle und
Abrüstung - nicht vom Fleck kommt. Das Nichtverbreitungsregime ist in seiner Glaubwürdigkeit schwer geschädigt durch die Billigung des amerikanisch-indischen
Nuklearabkommens durch die Nuclear Suppliers Group.
Hier ist von Vorrednern zu Recht darauf hingewiesen
worden, dass die Bundesregierung leider und im Widerspruch zu ihren sonstigen Beteuerungen für dieses Versagen mitverantwortlich ist.
({1})
Allein der Vertrag zum umfassenden Verbot von
Streumunition war im letzten Jahr ein Lichtblick. Wir
müssen dennoch feststellen: Auch hier waren der Druck
aus der Zivilgesellschaft und das Verhalten einsichtiger
Regierungen ausschlaggebend. Die Bundesregierung trat
längere Zeit nicht für ein umfassendes Verbot ein, sondern stand teilweise auf der Bremse.
Der Zeitpunkt für diese Debatte könnte nicht besser
gewählt sein angesichts der Entwicklung in den USA,
wo die Eiszeit, in der es ein Nachlassen bei der Rüstungskontrolle und eine Verweigerung bei der Abrüstung
gab, offenkundig zu Ende geht und sich ein Klimawandel im positiven Sinne anbahnt.
Zum zentralen Bereich der nuklearen Abrüstung,
Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle: Hier sind die
Entwicklungen besonders bedrohlich und ist der Handlungsbedarf besonders dringlich. Mit der Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr stehen wir an einem
Wendepunkt. Sie, Herr Minister, haben völlig zu Recht
gesagt: In diesem Jahr geht es um entscheidende Weichenstellungen. Wir müssen es schaffen, dass die Überprüfungskonferenz nicht wieder gegen die Wand gefahren wird, weil dann die Konsequenzen viel verheerender
als noch vor fünf Jahren wären.
({2})
Wenn so erfahrene Realpolitiker wie Henry Kissinger,
George Shultz, William Perry und Sam Nunn in den
USA zu einer atomwaffenfreien Welt aufrufen und darin
von Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon
Bahr und Hans-Dietrich Genscher voll unterstützt werden - Helmut Schmidt redet jetzt nicht mehr davon, dass
man zum Arzt gehen müsse, wenn man Visionen hat -,
dann muss das unsere Gesellschaft aufwühlen.
({3})
Die Bundesregierung bekennt sich immer wieder zu
vertraglich abgesicherter Nichtverbreitung, Abrüstung
und Rüstungskontrolle und dem Ziel der vollständigen
Abschaffung von Massenvernichtungswaffen. Sie, Herr
Minister, setzen sich bei verschiedenen Gelegenheiten
dafür ein; das nehme ich Ihnen auch ab. Aber wie sind
diese Bekenntnisse mit dem vereinbar, was Sie noch vor
wenigen Monaten in Ihrer Antwort auf unsere Große
Anfrage zu Aspekten der nuklearen Abrüstung geschrieben haben? Die Bundesregierung gesteht da ein,
dass die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung keine
operative Rolle bei friedenssichernden und friedensstiftenden Einsätzen und beim Kampf gegen den Terrorismus spiele. Zugleich aber begründen Sie den politischen
Zweck der Nuklearstrategie der NATO mit „Wahrung
des Friedens, Verhinderung von Zwang und jeder Art
von Krieg“.
Dies sind übrigens genau die Worte, die im strategischen Konzept der NATO von 1991 stehen. Dies ist eine
Begründung - so muss ich sagen -, die von jeder Veränderung der Bedrohungslage losgelöst ist. Dieser Wortlaut ist schlichtweg eine Ewigkeitserklärung für die nukleare Abschreckung.
({4})
Wie ist es mit Ihren Bekenntnissen zur nuklearen Abrüstung vereinbar, dass die Bundesregierung einerseits
die von der Blix-Kommission geforderten demokratischen Kontrollmöglichkeiten vonseiten des Parlaments,
der Nichtregierungsorganisationen und der Öffentlichkeit befürwortet, andererseits an derselben Stelle jede
konkrete Antwort auf die Modernisierung von Nuklearwaffen in verschiedenen Staaten, auf die diesbezügliche
Diskussion in der NATO oder auf die Diskussion über
Atomwaffen in Deutschland einfach ablehnt? Das ist
eine notorische Verhinderung einer öffentlichen Diskussion über diese Punkte.
({5})
Die zentralen Schritte zur nuklearen Abrüstung und
Nichtverbreitung sind bekannt und liegen seit langem
auf dem Tisch; Herr Minister, Sie haben diese Kernpunkte vorhin deutlich hervorgehoben.
In den nächsten Wochen werden sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz und dann vor allem auf dem
NATO-Gipfel Gelegenheiten für deutsche Impulse ergeben. Sie selbst haben die Erklärung von Helmut Schmidt
und anderen zitiert; sie ist auf der Website des Auswärtigen Amtes nachzulesen. Lesen Sie bitte die Erklärung
und das, was der Bundesregierung vorgeschlagen wird,
nämlich sich dafür einzusetzen, dass die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Atomwaffen aus der Nuklearstrategie der NATO herausgenommen wird. Joschka
Fischer hat vor zehn Jahren einen solchen Versuch unternommen. Damals ist er unter anderem von der FDP kräftig gerügt worden. Das wäre ein wichtiger Schritt. Der
andere wichtige Schritt, den Helmut Schmidt und andere
vorschlagen, ist der Abzug der letzten amerikanischen
Atomwaffen von deutschem Boden.
({6})
Selbstverständlich dürfen wir über die brennenden
Fragen der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung
die bei der konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle bestehende Herausforderung nicht vergessen.
Mit dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, also dem angepassten KSE-Vertrag, ist es nach
dem Georgien-Krieg erheblich schwieriger geworden.
Daher muss es verstärkte Bemühungen zur Weiterentwicklung geben. Dazu gehört zunächst die zügige Ratifizierung, damit wir auf dieser Basis fortfahren können.
({7})
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Bereich ist auf
UN-Ebene die energische Förderung des Prozesses zum
Abschluss eines Vertrages über den Waffenhandel, was
immerhin inzwischen von mehr als 130 Abgeordneten
dieses Hauses unterstützt wird. Schließlich sollten die
sehr guten Ansätze zur Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration vor Ort, die auch von der Bundesrepublik, zum Beispiel vom BICC in Bonn, unterstützt werden, mit deutlich größerer Intensität gefördert
werden.
({8})
Die Bundesregierung unternahm im Jahre 2007 zusammen mit Norwegen in der NATO eine Initiative zur
„Schärfung des rüstungskontrollpolitischen Profils der
NATO“. Diese Initiative fand ihren Niederschlag in einem Beschluss des Bukarester NATO-Gipfels vom April
letzten Jahres, in dem die NATO zusagte, „Rüstungskontroll- und Abrüstungsthemen aktiv weiterzuverfolgen
und zu den Bemühungen um Abrüstung und Nichtverbreitung beizutragen“. Das ist löblich,
({9})
aber an Unverbindlichkeit wahrhaftig nicht zu übertreffen.
({10})
Ich glaube, dass etwas für die NATO überfällig ist:
Das Denken - ich sage es einmal behutsam - ist zu erweitern. Es gilt, die bisherige rüstungskontrollpolitische
Selbstzufriedenheit, ja Selbstgerechtigkeit, die darin besteht, dass nur die anderen Probleme bei der Aufrüstung
machen und man selbst immer nur das Beste will, zu
überwinden.
Der Umbau und die Modernisierung von NATOStreitkräften zum Zwecke der Krisenbewältigung, auch
von uns über Jahre mitgetragen, ist - darauf habe immer
wieder hingewiesen - ein zweischneidiges Schwert.
Diese Modernisierung ist nur dann mit den Zielen von
Abrüstung und Rüstungskontrolle vereinbar, wenn
gleichzeitig erstens die Bindung an die UN-Charta verbindlich und glaubwürdig ist, wenn es zweitens vor allem um die Stärkung von UN-Fähigkeiten geht und
wenn es drittens mit einer besonderen Förderung der zivilen Fähigkeiten im Bereich von Krisenprävention,
Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung einhergeht.
({11})
Es ist gut, dass Abrüstung wieder ein Thema ist. Abrüstung braucht aber Bewegung in Positionen, in der Diplomatie, in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung.
Heute sind die Chancen, die bisherige Rüstungsdynamik
in eine Abrüstungsdynamik umzukehren, so groß wie
noch niemals in diesem Jahrhundert. Aber warten wir
bitte nicht nur auf Obama, sondern setzen wir dazu eigene Impulse! Ich habe dazu Vorschläge gemacht.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
möchte am Anfang den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes ganz herzlich danken, und
zwar auch deswegen, weil wir sie zeitlich ein bisschen
überfordert haben. Wir wollten diese Debatte etwas früher durchführen. Botschafter Gottwald ist schon genannt
worden, aber auch den ehemaligen Botschafter Gröning
sollten wir hier lobend erwähnen; denn meines Erachtens ist hier von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
eine Menge bewegt worden. Wir sollten uns vonseiten
des Deutschen Bundestages überlegen, ob wir diese Debatte nicht immer am Anfang eines Jahres führen wollen; denn damit könnten wir der Abrüstung und der Rüstungskontrolle größere Aufmerksamkeit zuteil werden
lassen.
({0})
An Appellen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
herrscht kein Mangel. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder gelesen. Ich sage es ganz offen: Für
mich ist es ein bisschen ein Problem, dass alle diese Politiker und Generäle außer Dienst sind. Sie hätten eine
Menge bewegen können, als sie damals im aktiven
Dienst waren.
({1})
Deswegen, Herr Minister, interessieren mich eigentlich mehr diejenigen, die jetzt in Verantwortung sind. Insofern bin ich sehr dankbar, dass Sie von Anfang an,
zum Beispiel am 26. Juni 2005, damals gemeinsam mit
Kurt Beck, Abrüstung und Rüstungskontrolle bei der
SPD wieder zum Thema gemacht haben,
({2})
dass Sie im letzten Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz als erster Politiker wieder über Abrüstung gesprochen haben und dass Sie versucht haben, den
AKSE-Vertrag zu retten. Das sind doch genügend Beispiele für die Leistungen des Auswärtigen Amtes, aber
auch des Ministers, diesem Thema wieder genügend
Aufmerksamkeit gewidmet zu haben.
({3})
Herr Kollege Steinmeier, ich freue mich darauf, was Sie
alles bei diesem Thema bewegen werden, wenn Sie erst
mal Kanzler sind.
({4})
Meine Damen und Herren, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind gut und wichtig. Aber ebenso muss das
Denken über die Rolle und den Status von Waffen verändert werden. Anfang des Jahres haben ehemalige britische Generäle darauf hingewiesen, dass Großbritannien
auf die Kernwaffen verzichten könne. Das war ein
wichtiges Signal, ohne Zweifel. Aber wir sollten ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass der konservative Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus darauf geantwortet hat, nur die Nuklearkapazität garantiere
Großbritannien einen Platz als ständiges Mitglied im
UN-Sicherheitsrat. Welch verheerendes Zeichen an den
Iran, an Pakistan, an Indien ist es,
({5})
wenn wir aus Kernwaffenbesitz politischen Status in der
Welt und eine entsprechende Stellung im politischen
Machtgefüge ableiten!
({6})
Das sind genau die falschen Schritte.
Wir sollten uns auch bei der Fortschreibung der europäischen Sicherheitsstrategie überlegen, nicht nur über
die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu diskutieren,
sondern gleichzeitig auch an die Abrüstungsverpflichtungen der Länder zu erinnern, die in Europa über Kernwaffen verfügen. Auch das gehört zur Glaubwürdigkeit
europäischer Sicherheitspolitik.
({7})
Abrüstung und Rüstungskontrolle ist mehr als
Waffen zählen; das ist gar keine Frage. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass dadurch
nicht nur die Kosten im Verteidigungsetat reduziert werden, sondern auch das Sicherheitsdilemma zwischen den
Staaten verringert wird, und auch das ist ganz wichtig.
Wir haben in unserer Nachbarschaft im Zusammenhang
mit dem Vertrag von Dayton erlebt, dass Abrüstung und
Rüstungskontrolle ein wichtiges Instrument zur Befriedung von Bürgerkriegsgesellschaften ist. Ich finde, es
lohnt sich, auch darüber zu diskutieren, wenn es um Entwicklungspolitik und viele andere Dinge geht.
Abrüstung und Rüstungskontrolle ist aber auch für
andere Regionen ein Thema. Ich erinnere daran, dass die
südostasiatischen Staaten in den 90er-Jahren eine kernwaffenfreie Zone beschlossen haben. Das war bei uns
nur ein Randthema. Vietnam, Laos und Kambodscha
sind damals über die kernwaffenfreie Zone - das war
quasi der Türöffner - zu dem regionalen Sicherheitssystem hinzugekommen. Deswegen begrüße ich nachdrücklich, dass der Golfkooperationsrat für den Persischen
Golf eine kernwaffenfreie Zone vorgeschlagen hat.
({8})
Das ist eine Möglichkeit, das Thema Abrüstung und
Rüstungskontrolle angesichts der verheerenden Sicherheitssituation in diese Region einzubringen und dem Iran
Angebote zu machen, den Weg der Abrüstung und Rüstungskontrolle zu gehen.
Wir haben gehört - diese Forderung unterstützen wir
nachdrücklich -, dass die Überprüfungskonferenz
2010 ein Erfolg werden muss. Sie muss gerettet werden.
Es war gut, dass die Europäische Union damals mit einer
gemeinsamen Initiative nach New York gegangen ist.
Ich würde mich freuen, wenn vonseiten des Auswärtigen
Amtes auch jetzt eine Menge dafür getan würde. Ich
würde es auch begrüßen, wenn die verantwortlichen
Staaten beim NATO-Gipfel im April dieses Jahres im
Zusammenhang mit der NATO-Doktrin auch über den
nuklearen Ersteinsatz sprechen würden; denn auch das
gehört zur Glaubwürdigkeit. Ich glaube, dies ist das richtige Forum dafür.
({9})
Ich glaube, wir stehen vor neuen Möglichkeiten der
Rüstungskontrolle. Die Außenministerin der USA,
Hillary Clinton, hat in einer Anhörung des Senats sehr
deutlich gemacht, in welche Richtung sie gehen will. Sie
will den START-Vertrag entweder verlängern, ihn neu
verhandeln oder den Verhandlungen mit Russland Zeit
geben. Sie hat den Atomteststoppvertrag angesprochen,
was ein sehr wichtiges Signal an Indien ist.
Ich bin der Meinung - ich habe das hier schon bei
verschiedenen Gelegenheiten deutlich gemacht -, dass
die Gefechtsfeldwaffen, die in Deutschland lagern, vollkommen überflüssig sind. Sie spielen für Deutschland in
sicherheitspolitischer Hinsicht keine Rolle. Wir müssen
aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass die anderen taktischen Atomwaffen, die Tausende von Waffen, die in
Russland lagern, genauso verschrottet werden müssen.
Beide Aspekte müssen aus Gründen der Glaubwürdigkeit zusammen betrachtet werden.
({10})
Ich möchte betonen, dass auch ich der festen Überzeugung bin, dass mit Präsident Obama die Möglichkeiten der Diplomatie eine größere Bedeutung erhalten
werden. Wir brauchen mehr Diplomatie und weniger Raketen. Ich glaube, dass dies das Motto der nächsten Jahre
sein wird. Das bedeutet aber auch - das hat hier noch
keine Rolle gespielt -, dass man auf die Raketenabwehr
hinweisen muss. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger
Aspekt ist. Ich bin mir nicht sicher, ob die Obama-Administration auf die amerikanische Raketenabwehr verzichten wird. Das wird sich in den nächsten Monaten
zeigen.
Aber warum starten wir in Europa nicht eine Initiative
für einen neuen ABM-Vertrag? Warum fordern wir einen
solchen Vertrag nicht von den USA, von Russland und
allen Staaten, die sich möglicherweise eine Raketenabwehr zulegen? Wenn es gelingen würde, die Offensivkapazitäten mit einem neuen START-Abkommen herunterzufahren, dann würde es sich doch lohnen, auch über
eine Begrenzung bei der Raketenabwehr zu diskutieren.
Der ABM-Vertrag hat in den 80er- und 90er-Jahren, also
vor seiner Kündigung, bewiesen, dass er zur Stabilität
beitragen kann. Ich glaube, ein neuer ABM-Vertrag
würde auch Europa mehr Sicherheit bieten, zumindest
für mehr Gelassenheit bei diesem Thema sorgen. Ich
finde, dies ist ein dankbares Thema, und es wäre gut,
wenn sich insbesondere die europäischen Staaten, die
sich zur Stationierung einer Raketenabwehr bereiterklärt
haben, zusammen mit den skandinavischen Partnern
oder Deutschland dieses Themas annehmen würden.
({11})
Der letzte Punkt. Sie haben zu Recht die konventionelle Rüstungskontrolle angesprochen. Ich bin dankbar,
dass Sie die betroffenen Staaten dieses Jahr wieder einladen werden, um über die Zukunft des AKSE-Vertrages
zu sprechen. Aufgrund der Ankündigungen von
Medwedew und des Signals, das jetzt die russische Seite
bezüglich Kaliningrad gegeben hat, können wir vielleicht auf einer neuen Grundlage wieder mit den Russen
diskutieren. Das wäre, glaube ich, ein wichtiges Zeichen.
Wenn Sie den AKSE-Vertrag ratifizieren lassen wollen,
senden Sie ihn an das Parlament! Wir als SPD-Fraktion
sind bereit - das sagen wir schon seit Jahren -, entsprechend abzustimmen. Wenn Sie aber der Meinung sind,
dass wir einen neuen Vertrag über konventionelle Abrüstung und Streitkräfte brauchen, sind wir bereit, auch daran mitzuarbeiten.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass Nichtregierungsorganisationen eine wichtige Funktion bei der Rüstungskontrolle hatten. Aber ich will auch daran erinnern,
dass Regierungen weiter Verantwortung tragen. Das
Abkommen zur Ächtung von Streumunition ist nur deswegen in Oslo unterzeichnet worden, weil drei wichtige
Sozialdemokraten - aus Norwegen, aus Großbritannien
und aus Deutschland - dies vorangebracht haben. Daran
sollten wir in den nächsten Jahren weiterarbeiten. Ich
glaube, es gibt eine vielversprechende Zukunft für eine
gute Abrüstungskultur.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Rolf Mützenich, warum so verzagt?
Ich meine, Herr Steinmeier muss nicht unbedingt Kanzler werden;
({0})
als Außenminister und Vizekanzler hat er bereits heute
die Möglichkeit, im Bereich der Abrüstung sehr segensreich zu wirken.
({1})
- Ja, ja, er tut es sogar. Schauen wir mal.
Wir alle in diesem Haus - das hat die Debatte sehr
deutlich gezeigt - teilen die Einschätzung, dass die vergangenen Jahre schwarze Jahre für die internationale
Abrüstung und Nichtverbreitung waren. Gerade vor dem
Hintergrund der neuen Entwicklungen brauchen wir
neue und kraftvolle Initiativen. Das Risiko der nuklearen Proliferation wird weiter steigen, auch deshalb,
weil der Bedarf an Energie in den verschiedenen Regionen dieser Welt wächst und daher immer mehr Staaten
auf die zivile Nukleartechnologie zurückgreifen wollen.
Weltweit nähern sich immer mehr Staaten, beispielsweise Ägypten und Algerien, der Schwelle zur nuklearen Anreicherungskapazität. Deshalb, sehr geehrter Herr
Minister, steht hinter Ihrer Initiative zur Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufes grundsätzlich
ein richtiger Gedanke. Aber es reicht nicht, diese Einzelinitiative immer wieder stolz vorzuzeigen und zu versuchen, damit die Abrüstungspolitik der Bundesregierung
insgesamt schönzureden, vor allem dann nicht, wenn
diese Bundesregierung bei der entscheidenden Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit deutscher Abrüstungsund Nichtverbreitungspolitik unlängst - ich muss es an
dieser Stelle wiederholen - auf der ganzen Linie eingebrochen ist.
({2})
Unter deutschem Vorsitz hat die Gruppe der nuklearen Lieferländer mit Indien erstmals einem Kernwaffenstaat außerhalb des Atomwaffensperrvertrages kostbare
Handelsrechte für Nukleartechnologie eingeräumt, die
sonst ausschließlich den Vertragsstaaten zur Verfügung
stehen, und das, ohne im Gegenzug von Indien die entsprechenden und dringend notwendigen Abrüstungsverpflichtungen einzufordern. Kollege von Klaeden, ich
teile nicht Ihre Meinung, dass Indien damit näher an den
Atomwaffensperrvertrag herangeführt worden ist. Im
Gegenteil: Eine Chance ist vertan worden. Jetzt ist es
Spekulation, wie sich Indien möglicherweise verhalten
wird. Durch eine klare vertragliche Fixierung hätte auch
von indischer Seite das Signal ausgesendet werden können, dass es sich in dem Konzert und im Rahmen des
Atomwaffensperrvertrages beheimatet fühlt und bereit
ist, die entsprechenden Regularien anzuerkennen.
So sieht aus unserer Sicht keine verantwortungsvolle
deutsche Abrüstungspolitik aus. Diese Politik bereitet
den Weg in nukleare Doppelstandards. Sie befördert die
Unterscheidung zwischen guter und schlechter Proliferation. Sie ist daher aus unserer Sicht ein abrüstungspolitischer Irrweg. Denn in letzter Konsequenz bedeutet das
auch eine Aufweichung und ein Ende des Atomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalen Nichtverbreitungskonsenses und den Beginn einer Phase unkontrollierter nuklearer Aufrüstung.
Natürlich ist es genauso wichtig, endlich eine diplomatische und tragfähige Lösung im Streit um das iranische Nuklearprogramm zu finden. Wenn die Sanktionen Wirkung entfalten würden, wären wir sicherlich die
Letzten, die sagen: Damit kann man nicht operieren. Angesichts dessen, dass viel Energie allein dafür verschwendet werden muss, unter den Staaten, die sich für
den Weg der Sanktionen entschieden haben, überhaupt
Einvernehmen darüber zu erzielen, dass die Reaktionen
darauf zu einer Solidarisierung innerhalb Irans mit moderaten Kräften führen, und außerdem eines der wesentlichen Themen nicht besprochen wird, nämlich wie zukünftige Sicherheitsgarantien in der Region - auch für
den Iran - aussehen können, wird auch eine Verschärfung der Sanktionen nach unserer Auffassung ein stumpfes Schwert bleiben. Herr von Klaeden, Sie haben über
die Tatsachen der Politik geredet. Hier geht es darum,
ein Stück weit die Realitäten des Landes Iran zu erkennen und einen neuen Weg zu finden.
({3})
Die ausgestreckte Hand der Obama-Administration,
die angekündigt hat, direkte Gespräche aufnehmen zu
wollen, ist der einzig vernünftige Weg. Wir müssen natürlich abwarten, wo in dieser neuen Gesprächsstrategie
die Schwerpunkte liegen werden. Man kann in der Tat an
Iran nur appellieren, hier die Messlatte nicht zu hoch zu
hängen und die Gespräche, die auf einen richtigen Weg
führen könnten, nicht durch unsinnige Forderungen zu
gefährden.
Es laufen eine Reihe von fundamentalen Rüstungskontrollverträgen wie START I und SORT aus, ohne
dass belastbare Nachfolgeverträge zwischen Washington
und Moskau in Sicht wären. Parallel dazu siecht der
KSE-Vertrag dahin, der einst einer der bedeutendsten
Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur war.
In gut einem Jahr, im Frühjahr 2010, wird die Überprüfungskonferenz des erodierenden Atomwaffensperrvertrages zum Testfall für die Zukunftsfähigkeit der nuklearen Nichtverbreitung und damit der multilateralen
Rüstungskontrolle insgesamt.
Wir brauchen eine neue und ehrliche Abrüstungsinitiative. Deutschland muss dabei - darüber sind wir uns
im Parlament einig - eine Vorreiterrolle einnehmen.
Deshalb ist es natürlich erfreulich, dass die GrünenFraktion in ihrem Antrag den gemeinsamen Aufruf der
deutschen Staatsmänner Genscher, Schmidt, Weizsäcker
und Bahr zur Abrüstung unterstützt. Allerdings vermisst
man einen Namen: Wo ist Joseph Fischer, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir werden diesem Antrag aber
zustimmen.
Herr Bundesaußenminister, auf der letzten Münchner
Sicherheitskonferenz haben Sie an den ehemaligen USPräsidenten Eisenhower, den Begründer der nuklearen
Abrüstung, erinnert und drei Punkte aus seiner berühmten „Atoms for Peace“-Rede beschworen: Führung, Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Dieser Dreiklang, so haben
Sie zu Recht gesagt, bilde das Fundament für den Erfolg
internationaler Abrüstung. Beweisen Sie diese Glaubwürdigkeit, indem Sie eine umfassende Abrüstungsinitiative auf den Weg bringen. Zeigen Sie Führung! Fordern Sie unsere Verbündeten dazu auf, rasch belastbare
Nachfolgeregelungen für die auslaufenden Abrüstungsverträge zu finden. Bilden Sie hiermit Vertrauen zwischen den weltweiten Nichtkernwaffenstaaten, dass wir
gemeinsam und geschlossen bei der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010 für das Ziel einer Welt ohne Kernwaffen einstehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Eduard Lintner, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft - das
kam schon mehrfach zum Ausdruck - gab es beim
Thema Abrüstung auch in den vergangenen Monaten
Licht und Schatten. Der uns heute vorliegende Bericht
zeigt aber auch, dass sich die Bundesregierung im zurückliegenden Jahr wieder nach Kräften bemüht hat, für
möglichst viele Fortschritte zu sorgen. Dafür gebührt ihr
zunächst einmal Dank und Anerkennung. Vor allem
möchte ich dabei die prominente Rolle der Regierung
bei den Verhandlungen zur Streumunitionskonvention
hervorheben.
({0})
Das im vergangenen Monat in Oslo unterzeichnete Abkommen stellt eine wichtige Weiterentwicklung auf dem
Gebiet der konventionellen Rüstungsbegrenzung dar. Ich
hoffe, dass uns dieses Abkommen nach dem Kabinettsbeschluss in der vergangenen Woche rasch zur Ratifikation zugeleitet wird.
Natürlich endet unser Engagement für das Verbot von
Streumunition damit nicht. Sie wird nämlich nach wie
vor eingesetzt - zum Beispiel erst kürzlich im GeorgienKrieg -, und wichtige Staaten wie die USA, Russland
und China haben die Konvention bislang nicht unterzeichnet. Wir müssen nun geduldig und nachhaltig alles
daransetzen, auch diese Staaten zu überzeugen, damit
das Verbot von Streumunition nach und nach weltweit
wirksam werden kann. Auch bei der Reise nach Moskau,
die der Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung in der kommenden Woche unternimmt, wird dies sicherlich ein prominentes Gesprächsthema sein.
Ebenfalls zu loben ist die Entscheidung der Bundesregierung - sie hat sie gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Nuclear Suppliers Group getroffen -, Indien
den Bezug von Nukleartechnologie zu gestatten. Ich
weiß, es gab an dieser Entscheidung viel Kritik. Es bleibt
aber positiv festzuhalten, dass sich Indien als Gegenleistung für dieses Entgegenkommen verpflichtet hat, mehr
Kontrollen seiner Nuklearanlagen durch die IAEO zuzulassen und nicht zur Weiterverbreitung von Nukleartechnologie zu militärischen Zwecken beizutragen. Das ist,
wie ich glaube, ein wichtiger Beitrag zum weltweiten
Bemühen, die Proliferation militärischer Nukleartechnik einzudämmen, und ein Beitrag zur Heranführung Indiens an den Atomwaffensperrvertrag.
({1})
Einige prominente ehemalige Mitglieder dieses Hauses, unter ihnen Richard von Weizsäcker und Helmut
Schmidt - sie sind schon erwähnt worden -, sind Anfang
dieses Jahres einem Beispiel aus den USA gefolgt und
haben öffentlich dazu aufgerufen, Schritte in Richtung
einer atomwaffenfreien Welt zu unternehmen. Die Bundesregierung hat diesen Aufruf wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ich fordere die gesamte Bundesregierung, insbesondere Sie, Herr Außenminister, auf, nun
entsprechende Schritte einzuleiten. Die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag im kommenden Jahr bietet dazu eine gute Gelegenheit. Wir alle sollten die USA und Russland darin bestärken, bei den
START-Nachfolgeverhandlungen einen mutigen Schritt
zu machen und sich der Vorbildfunktion, die sie beim
Thema nukleare Abrüstung haben, bewusst zu sein.
Neben diesen positiven Entwicklungen gibt es auf
dem Gebiet der Abrüstungspolitik aber auch einiges
Negative zu berichten. So blockiert Russland durch
seine Weigerung, die Istanbul Commitments zu erfüllen,
weiterhin die Ratifikation des angepassten KSE-Vertrags
und ist nach dem Georgien-Krieg immer noch weit von
der Umsetzung der dort eingegangenen Verpflichtungen
entfernt.
({2})
Damit blockiert Moskau derzeit eine umfassende konventionelle Abrüstung in Europa und verschärft, wie ich
meine, ohne Not die Spannungen mit den anderen Staaten unseres Kontinents. Klar ist - auch das ist schon gesagt worden -, dass Deutschland weiter am KSE-Vertrag
festhalten wird.
({3})
Die Tatsache, dass der neue amerikanische Präsident
Obama über den Plan, in Polen und in der Tschechischen
Republik Raketenabwehranlagen zu installieren, offenbar neu nachdenken will und Russland auf die Stationierung taktischer Abwehrraketen verzichtet, schafft vielleicht neue Bewegungsspielräume. Das könnte der
Abrüstung zugutekommen.
({4})
Der Konflikt im Hinblick auf das Nuklearprogramm
des Iran ist nach wie vor ungelöst. Auch hier ist es
wichtig, dass die Bundesregierung und unsere Verbündeten an ihren grundlegenden Positionen festhalten und
alles tun, um zu verhindern, dass Nuklearwaffen in die
Hände eines sich radikal-fundamentalistisch gebärdenden und deshalb unberechenbaren Regimes geraten. Das
ausdrückliche Angebot des neuen amerikanischen Präsidenten, in einen direkten Dialog mit der iranischen Führung zu treten, und die Wahlen, die in diesem Sommer
im Iran stattfinden, nähren die Hoffnung - ich hoffe,
dass ich nicht zu positiv gestimmt bin -, dass das
Jahr 2009 eine entscheidende Wende in diesem Konflikt
bringen kann und das Ziel der Nichtweiterverbreitung
von Massenvernichtungswaffen erreicht wird.
Angesichts der internationalen Konflikte beim Thema
Rüstung ist es wichtig, auch nach den Gründen für Aufrüstung zu fragen und zu verstehen, warum sich manche
Staaten gegen Abrüstung wehren. Abrüstung kann eigentlich nur in Staaten funktionieren, die sich sicher,
also nicht bedroht fühlen. Wir müssen uns in unserer
Außenpolitik daher weiter für Systeme kollektiver Sicherheit einsetzen und das Prinzip der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten fördern. Es sollen sich alle
Staaten sicher fühlen können; niemand soll Bedarf für
Aufrüstung sehen.
Zum Schluss bleibt mir, festzuhalten, dass Maximalforderungen, wie wir sie in diesem Haus immer wieder
hören, auf dem Gebiet der Abrüstung zu nichts führen.
Es mag wünschenswert erscheinen, dieses oder jenes
Waffensystem ersatzlos abzuschaffen; doch realistisch
ist es meistens nicht. Eine kompromissbereite Abrüstungspolitik verspricht mehr Erfolg. So hat die Bundesregierung mit ihrer Konzeption einige Erfolge erzielt. Sicher lassen sich weitere Erfolge erzielen.
Die heute zum Thema Abrüstung vorliegenden Anträge der Oppositionsfraktionen sind leider nicht hilfreich. Deshalb werden wir sie ablehnen. Zudem möchte
ich anmerken, dass die Anträge der FDP und der Linken
bereits älteren Datums sind. Das ist nicht unbedingt Ihr
Versäumnis; aber die Anträge sind deshalb inhaltlich
nicht mehr auf dem neuesten Stand. Wir bleiben also bei
unserem Antrag.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Inge Höger, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Weniger
Waffen bringen mehr Sicherheit“, diese einfache Einsicht ist in Deutschland und in der Welt leider immer
noch nicht verbreitet. Die Abrüstungsberichte, die wir
heute diskutieren, enthalten zwar viele unterstützenswerte Ziele, aber internationale Rüstungskontrolle und
Abrüstung braucht mehr als Bemühungen, braucht mehr
als Ankündigungen.
Das Abkommen über das Verbot von Streumunition
wurde schon von einigen Vorrednern angesprochen. Ja,
das ist ein Erfolg. Dieser Erfolg hat aber einen faden
Beigeschmack. Die Bundesregierung hat dazu beigetragen, dass das Verbotsabkommen Lücken hat. Gemeinsame Übungen und Kriegseinsätze mit NATO-Partnern,
die Streumunition einsetzen, sind weiter möglich. Ausnahmen für angeblich fortschrittliche Streumunition machen es möglich, dass deutsche Unternehmen auch künftig Geschäfte damit machen. Bündniserwägungen und
Exportinteressen dürfen keinen Vorrang vor humanitären
Erwägungen haben!
({0})
In den Kriegen und Konflikten dieser Welt sterben
mehr Menschen an den Folgen des Einsatzes von Kleinwaffen als durch alle anderen Waffensysteme. Kleinwaffen sind faktisch Massenvernichtungswaffen. Deutsche
Unternehmen verdienen an der Produktion von Kleinwaffen und dem Handel damit.
({1})
Der Abrüstungsbericht beschreibt das Problem des illegalen Waffentransfers. Doch der legale Handel mit Waffen und Waffenteilen und die Vergabe von Lizenzen sind
ein mindestens ebenso großes Problem.
({2})
Waffen töten, egal ob sie legal oder ob sie illegal erworben wurden. Die Linke begrüßt, dass die Bundesregierung an der internationalen Konferenz zur Kontrolle des
Transfers konventioneller Waffen teilnimmt. Ein internationales Waffenhandelsabkommen ist dringend nötig.
({3})
Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung steht und
fällt jedoch mit der Praxis ihrer Rüstungspolitik. In den
letzten Jahren sind die Ausgaben für Rüstung deutlich
gestiegen. Auch der Rüstungsexport hat zugenommen.
Deutschland ist der drittgrößte Rüstungsexporteur der
Welt. Von 2005 auf 2006 sind die Einnahmen aus dem
Waffenexport um 1,5 Milliarden Euro auf 7,7 Milliarden
Euro gestiegen; die Genehmigungen wurden erteilt.
({4})
Waffen für 1 Milliarde Euro gehen an Länder, die gleichzeitig Entwicklungshilfe erhalten; mehr als 50 Millionen Euro davon betreffen den Export von Kleinwaffen
und Munition. Hinzu kommt die Lieferung von Rüstungsbestandteilen, die erst außerhalb Deutschlands zu
fertigen Waffen montiert werden.
Es scheint wenig Interesse an der Exportkontrolle zu
geben. Wie sonst konnten G-36-Gewehre der deutschen
Firma Heckler & Koch in die Hände der georgischen Armee gelangen? Wie steht es mit der Kontrolle von bestehenden Exportgrundsätzen? Fehlanzeige!
Die Bundesregierung bekennt sich beim Export von
Kleinwaffen zu dem Prinzip „alt für neu“. Damit ist gemeint, dass die Empfänger neuer Kleinwaffen ihre alten
vernichten. Eine Anfrage der Linksfraktion ergab, dass
es keine Hinweise gibt, dass dieses Prinzip umgesetzt
wird. Die Bundesregierung verkauft ihre Altwaffen ja
auch lieber, als diese zu vernichten. 2007 wurden Altwaffen im Wert von 113 Millionen Euro verkauft. Woher
nimmt die Bundesregierung deshalb den Optimismus,
dass andere Staaten ihre alten Waffen verschrotten - insbesondere, wenn dies nicht überprüft wird?
Die Linke steht für eine konsequente Abrüstungspolitik. Wir brauchen ein Ende der Rüstungsexporte und ein
Ende der Rüstungsexportförderung. Abrüstung beginnt
im eigenen Land.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Uta Zapf für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es etwas bedauerlich, dass hier noch so viel Depression wie vor einem Jahr oder vor zwei Jahren
herrscht, als wir dafür in der Tat noch Anlass hatten. Ich
habe im Moment ein positives Gefühl, da wir, Herr von
Klaeden, nicht darüber diskutieren, wie die Welt sein
könnte, sondern in der Tat ganz handfest darüber diskutieren können, wie die Welt in Zukunft aussehen kann,
weil nach den vielen bedauerlichen Rückschritten unter
der Bush-Administration durch die neue Regierung unter
Obama die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wenn
ich an die sehr konkreten Aussagen Obamas zu den Aufgaben im Bereich der Abrüstung denke - ich beziehe
mich hier insbesondere auf die nukleare Abrüstung, zur
konventionellen Abrüstung gibt es keine belastbaren
Aussagen -, dann wird mir ganz leicht ums Herz. Ich
glaube, dass einiges sehr schnell in die Tat umgesetzt
werden kann, zunächst einmal auf der Ebene zwischen
Russland und den USA, zum Beispiel Neuverhandlungen im Rahmen von START.
Bei den Russen gibt es eine genauso große Bereitschaft, diese Verhandlungen fortzusetzen. Schon Putin
hat in seiner Zeit als Präsident gesagt, er sei bereit, die
Zahl der Nuklearwaffen auf 1 500 zu senken und eventuell noch weiter herunterzugehen. Dasselbe hören wir
dazu von Obama. In diesem Zusammenhang finde ich es
besonders erfreulich, dass Obama vorgeschlagen hat, sowohl die stationierten als auch die eingemotteten Systeme einzubeziehen und entsprechend zu zerstören. Das
soll auch die Trägersysteme betreffen. Das ist ein weiterer Fortschritt in diesem Bereich.
({0})
- Ja, da kann man wirklich einmal klatschen. - Ich
glaube, dass auf russischer Seite Bereitschaft dazu besteht; dies ist von dem damaligen Verhandlungsführer
Sergej Kisljak, der jetzt in Washington Botschafter ist, in
Interviews kürzlich noch einmal bekräftigt worden. Momentan läuft noch das Forum zu Art. VI des Atomwaffensperrvertrages, auf dem es auch um die nukleare Abrüstung geht und auf dem wir verschiedene Experten
gehört haben, unter anderem auch einen Russen, der dies
ebenfalls bestätigt hat. An dieser Stelle wird mir also
ganz leicht ums Herz.
Ich schlage vor und erhoffe mir, dass auch alles, was
unter SORT fällt, mit einbezogen wird, sodass es ein
neues Bündel gibt. Wir haben daneben immer gefordert
- das wurde hier auch noch einmal erwähnt -, dass auch
die taktischen Nuklearwaffen einbezogen werden.
({1})
Aufgrund des russischen Verhaltens bin ich in diesem
Punkt allerdings skeptisch. Hier könnte für uns natürlich
ein Ansatzpunkt liegen; das wurde schon erwähnt. Ich
unterstütze dies ausdrücklich. Wir können dort ansetzen,
wo in Europa noch taktische Nuklearwaffen der USA
stationiert sind. Ich komme darauf später vielleicht noch
einmal zu sprechen.
An einem bestimmten Punkt, der schon erwähnt worden ist, haben wir eine gewisse Verantwortung - das haben wir in der Vergangenheit nicht ausdrücklich artikuliert -: Wenn Missile Defense in Europa so umgesetzt
wird, wie es von der Bush-Administration vorgesehen
war, dann wird der Abrüstungsprozess START insgesamt sehr schwierig werden. Ich weiß nicht, ob es möglich wäre, einen neuen ABM-Vertrag zu schließen. Es
müsste auf alle Fälle möglich sein, dass sich die Europäer, die Russen und die USA zusammensetzen. Ich erinnere an den Vorschlag von Putin - ich glaube, er hat
ihn im Jahr 2001 gemacht -, über die Sicherheitsstrukturen in Europa gemeinsam mit den USA, Europa und
Russland zu verhandeln. Wenn sich Russland in seiner
Sicherheit bedroht fühlt, dann wird es unmöglich sein,
dass es auf einen Teil seines Abschreckungspotenzials
im nuklearen Bereich verzichtet.
Ich finde es ausgesprochen positiv, dass Obama ausdrücklich und dezidiert auf die Neuentwicklung von
Nuklearwaffen verzichtet hat: keine bunkerbrechenden
Waffen, keine Mini-Nukes und keine Reliable Replacement
Warheads. Es gab Anzeichen dafür, dass Nuklearwaffen
zu Kriegsführungswaffen taugen könnten und damit in
einem Kontext eingesetzt werden, der breiter ist als eine
Minimalabschreckung, die immer noch vorhanden ist,
wenn auf jeder Seite Tausend Sprengköpfe vorhanden
sind.
Eine weitere Diskussion finde ich ausgesprochen erfreulich. Angestoßen haben diese Diskussion die „apokalyptischen Vier“, wie sie manchmal genannt werden
- Shultz, Perry, Kissinger und Nunn -, indem sie die
Frage einer atomwaffenfreien Welt aufgeworfen haben.
Dieser Diskussion haben sich eine ganze Menge Viererund Fünferbanden angeschlossen, etwa Hurd, Rifkin,
Owen und Robertson, Italiener und zuletzt unsere vier
Weisen. Ich finde, das ist ein Potenzial, mit dem politisch etwas bewegt werden kann. Es gibt eine Reihe von
neuen und alten Initiativen, die alle totale Abrüstung im
nuklearen Bereich, Global Zero und Ähnliches, im Sinn
haben. Ban Ki-moon hat sich für eine Nuklearwaffenkonvention ausgesprochen.
Ich finde - wir haben es gerade im Unterausschuss für
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung diskutiert -, dass auch wir uns das einmal näher anschauen
sollten. Vor dem Hintergrund von Verhandlungen über
nukleare Abrüstung wäre die Festlegung „Jawohl, wir
sind willens, uns diesem Ziel step by step, also Schritt
für Schritt, anzunähern“ wichtig. Schließlich sind noch
andere Akteure auf dem nuklearen Feld zugange: China,
Frankreich und Großbritannien.
Ich bedauere wirklich von Herzen, dass Herr Miliband
einerseits sagt: „Wir wollen eine atomwaffenfreie Welt“
und andererseits gleichzeitig die Erneuerung und Modernisierung von Trident ausruft und für notwendig erklärt,
um die Abschreckung aufrechtzuerhalten, solange noch
Atomwaffen in der Welt existieren. Vielleicht sollte man
das Ganze ein bisschen anders angehen. Pensionierte
britische Generäle haben entsprechend darauf reagiert.
Ich glaube, es ist wichtig, die 13 Schritte, die im
Jahre 2000 - zu unserer großen Befriedigung - beschlossen worden sind, wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Dazu gehören zum Beispiel De-Alerting und anderes.
CTBT und Fissile Material Cut-off Treaty sind hier
schon genannt worden; ich werde darauf nicht noch einmal eingehen.
Ich finde es schön, dass Frau Clinton, die Außenministerin der USA, im Zusammenhang mit CTBT ausdrücklich Indien erwähnt hat; denn ich denke, da wird
ein Teil des Schadens wieder behoben. Ich war nur etwas
traurig, dass die indischen Offiziellen gleich in der Form
reagiert haben, dass sie ihre Befürchtung zum Ausdruck
gebracht haben, Obama wolle sowohl das Testen als
auch die Produktion von Spaltmaterial für militärische
Zwecke unterbinden. Das fanden die nicht schön.
Um gerade diese Länder zu überzeugen, liegt noch
sehr viel Arbeit vor uns. Wenn wir es aber schaffen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die ersten Schritte zu
gehen und das bis zur nächsten PrepCom vielleicht auch
in einem gemeinsamen Antrag zu befestigen, dann
könnte im Jahre 2010 tatsächlich ein Erfolg in diesem
Bereich zu erwarten sein. Damit wäre ich sehr zufrieden.
Meine Depression ist nicht so groß wie Ihre, Herr Hoyer.
Meine Skepsis ist auch nicht so groß wie Ihre, Herr von
Klaeden. Machen wir uns doch gemeinsam an die Arbeit. Ich fordere Sie dazu auf, diesen Weg zu gehen.
Dann könnten die Mottos von Obama „Hope“ und „Yes,
we can“ tatsächlich auch für uns Geltung erlangen.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Ernst-Reinhard Beck für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Bericht der
Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung nennt
für das Jahr 2009 eine umfangreiche rüstungskontrollpolitische Agenda, die meiner Einschätzung nach geeignet ist, den in vielen Feldern stagnierenden Abrüstungsprozess voranzubringen. Die 24 Punkte umfassende
Aufzählung reicht von Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen über Raketenabwehr bis hin zum
Schutz vor Streumunition. Es sind im Wesentlichen natürlich dieselben Themen, die in unterschiedlicher Weise
in der Bilanz der Jahre 2006 bis 2008 erscheinen. Nun
könnte man sagen: Auch in diesem Bereich ist der Fortschritt eine Schnecke. Ein langer Atem ist sicherlich gefragt.
Nach meiner Einschätzung ist die Entwicklung im
rüstungskontrollpolitischen Bereich durch zwei Faktoren
gekennzeichnet: durch neue Bedrohungsszenarien einerseits und die Wiederbelebung alter Konfliktmuster und
alter Konfliktherde andererseits; man spricht auch von
sogenannten eingefrorenen Konfliktherden. Dies macht
die Abrüstungspolitik in diesem Bereich so schwierig,
aber, wie ich meine, auch so unverzichtbar.
Konzentriert man sich auf den konventionellen Bereich - ich mache das ganz bewusst, weil vorher der atomare Bereich im Mittelpunkt stand -, so ist zu sagen,
dass die Aussetzung der Implementierung des KSE-Vertrages durch Russland am 12. Dezember 2007 sicherlich
der schwerwiegendste Rückschlag für ein Konzept umfassender kooperativer Sicherheit war. Herr Außenminister, ich unterstütze ausdrücklich Ihren Vorschlag,
diesen Prozess vonseiten der Bundesregierung wieder
anzufachen und die Verhandlungen neu aufzunehmen.
({0})
Ebenso kann die Unterzeichnung des Oslo-Übereinkommens zum Verbot der Streumunition Anfang Dezember 2008 durch 94 Staaten, darunter die Bundesrepublik, als der wohl bedeutendste Durchbruch beim Schutz
der Bevölkerung vor diesem Munitionstyp gelten.
({1})
Ich bin sehr froh, dass dieser Vertrag zustande gekommen ist, durch den Druck von außen, Kollege Nachtwei,
und auch durch die Zustimmung weiterer Parteien neben
den Sozialdemokraten, was ich sehr positiv empfand und
hier auch festhalten möchte.
Ich möchte an der Stelle auch an den Beitrag der Bundesrepublik Deutschland für die Rüstungskontrolle und
Abrüstung erinnern. Es sollte erlaubt sein, im 20. Jahr
nach dem Mauerfall daran zu erinnern, dass seit der
deutschen Wiedervereinigung die Bundeswehr die Zahl
ihrer Soldaten von 585 000 auf 250 000 Soldaten reduziert hat. Damit einher ging eine beispiellose Reduzierung von Kampf- und Schützenpanzern, von Geschützen, von Schiffen, von Luftfahrzeugen aller Art. Die im
Wiener Dokument festgeschriebenen Höchstgrenzen für
Wehrmaterial wurden von uns sehr deutlich unterschritten. Der Bundesrepublik Deutschland kam ferner bei allen entscheidenden Verbesserungen der vergangenen
Jahre eine Vorreiterrolle zu, so etwa bei der Ächtung der
Antipersonenminen oder auch beim Verbot von Streubomben. Ich möchte den Beitrag, den insbesondere die
Bundeswehr erbringt, an einigen Beispielen aufzeigen.
Die Bundeswehr taucht im Jahresabrüstungsbericht naturgemäß nur ganz am Rande auf. Dennoch glaube ich,
dass es in diesem Hause wichtig ist, auch daran zu erinnern.
Ich nenne das Zentrum für Verifikationsaufgaben der
Bundeswehr. Noch in der Amtszeit der Minister
Stoltenberg und Genscher fiel die Entscheidung, ein
Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr einzurichten. Seit 1991 sind die Soldaten und Angestellten
in diesem Zentrum aktiv und passiv an der Rüstungskontrolle beteiligt.
({2})
Sie stellen nach den Vorgaben des Auswärtigen Amts
und unter fachlicher Leitung des Verteidigungsministeriums sicher, dass Rüstungskontrollverträge auch umgesetzt werden.
Ernst-Reinhard Beck ({3})
Gleichzeitig beteiligt sich das Zentrum selbst an Inspektionen und ist mit der ständigen Weiterentwicklung
von Kontrollmaßnahmen im In- und Ausland befasst.
Spätestens innerhalb eines Tages vor Beginn einer Inspektion wird die Kontrolle angekündigt. Aber erst nach
Einreise in das jeweilige Land benennt das Team den Inspektionsort und darf innerhalb von neun Stunden vor
Ort sein. Die eigentliche Inspektion entspricht dann im
Endeffekt einer kaufmännischen Inventur, bei der Ist und
Soll miteinander verglichen werden. Dank dieser Verfahren ist es gelungen, wie ich meine, Manipulationen in
diesem Bereich weitgehend zu vermeiden.
({4})
Für die Rolle des Zentrums für Verifikationsaufgaben
der Bundeswehr im Rahmen der Kleinwaffenkontrolle
möchte ich noch ein sehr anschauliches Beispiel anführen. Derzeit vermitteln deutsche Soldaten auf Bitten der
kambodschanischen Regierung vor Ort Fähigkeiten im
Bereich der Kleinwaffenkontrolle sowie der Lagerung
und Vernichtung von Munition und Explosivstoffen. Die
Bundeswehr orientiert sich in der Ausbildung der kambodschanischen Kräfte streng an den deutschen Vorschriften und hält internationale Standards ein. Hier arbeiten Auswärtiges Amt, Verteidigungsministerium und
Entwicklungsministerium Hand in Hand. Die bisher in
Kambodscha durchgeführte Ausbildung trägt nach einhelliger Meinung bereits erkennbar Früchte. An dieser
Stelle ein herzliches Dankeschön an unsere Soldaten.
({5})
Zukünftig wird der Ausbildungsschwerpunkt nach
Deutschland verlagert, wo mit der eigentlich technischen
Wissensvermittlung ein neunmonatiger Sprachlehrgang
beim Bundessprachenamt einhergeht.
Besonders wichtig ist die Ausbildung zur Verbesserung der Munitionslagersicherheit gegenüber unberechtigten Zugriffen. Wenn man bedenkt, dass für die Herstellung von IEDs - also selbst gebauten Sprengfallen überwiegend aus großkalibriger Munition gewonnene
Sprengstoffe verwendet werden, bekommt dieser Aspekt
auch eine wichtige Bedeutung für die Terrorismusabwehr.
Ich nenne das Stichwort „Verbot von Antipersonenminen“. Sie sind eine besonders heimtückische Waffe,
da sie auch noch nach Jahrzehnten ihre verheerende Wirkung nicht verlieren. Opfer sind Zivilisten, zumeist Kinder. Seit fast zehn Jahren gilt das Ottawa-Abkommen,
ein umfassendes und unbedingtes Verbot von Herstellung, Einsatz und Weitergabe dieser besonders grausamen Waffen. Die Bundeswehr hat ihre gesamten Bestände verschrottet und ist damit dem Anspruch des
Abkommens gerecht geworden.
Darüber hinaus beteiligt sich die Bundesrepublik seit
Jahren weltweit an der Auffindung und Zerstörung von
noch im Boden liegenden Minen. Allein im vergangenen
Jahr förderte die Bundesregierung mit 17,5 Millionen
Euro Projekte des humanitären Minenräumens.
Es ist bedauerlich, dass Staaten mit großem Minenarsenal dem Abkommen nicht beigetreten sind. Allerdings ist der Handel mit Antipersonenminen derzeit
praktisch zum Erliegen gekommen.
Ich nenne das Stichwort „Verzicht auf Streumunition“. Auch im Hinblick auf die Bemühungen um ein
wirksames Streumunitionsverbot hat Deutschland eine
Vorreiterrolle gespielt. Das ist - es ist schon erwähnt
worden - auch der Erfolg von Oslo.
Ich komme zum Schluss. Die Themen Abrüstung und
Rüstungskontrolle stehen und fallen mit dem gegenseitigen Vertrauen, der Glaubwürdigkeit und dem ernsthaften
Willen aller Beteiligten. Wenn diese Prämissen nicht gegeben sind, bleiben alle wohlmeinenden Absichten oder
konkreten Bemühungen Makulatur.
Kollege Beck, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ich komme mit einem letzten Satz zum Schluss. - Die
Bundesregierung nennt in ihrem Bericht als Zielsetzung
der nationalen und internationalen Abrüstungspolitik
eine Vorreiterrolle der Bundesrepublik. Dieses Ziel unterstützen wir voll und ganz.
({0})
Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In
den jährlichen Abrüstungsberichten wird gern das Modewort „kohärent“ benutzt, so auch diesmal an mehreren
Stellen. Auf dessen Bedeutung möchte ich hier gerne
einmal eingehen. „Kohärenz“ wird ja in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen benutzt.
Kohärenz steht hier für die Widerspruchsfreiheit einer
wissenschaftlichen Aussage im Hinblick auf andere
sachverhaltsbezogene Aussagen. Wenn die Bundesregierung also behauptet, eine Abrüstungspolitik zu betreiben, die im Verhältnis zu anderen Politikfeldern unter ihrer Verantwortung widerspruchsfrei ist, dann muss ich
ihr leider mehr als nur ein paar Tropfen Essig in den
Wein gießen. Dabei spreche ich auch über Rüstungsexporte und Bündnispolitik.
Ich erkenne durchaus an, dass Sie sich bei vielerlei
Abrüstungsinitiativen engagieren, dass es sogar den einen oder anderen Erfolg bzw. Anfangserfolg gibt, zum
Beispiel bei der Ottawa-Konvention, die alle Landminen
verbietet. Aber die zentrale Frage ist doch, ob Abrüstungspolitik wirksam sein kann, wenn man führendes
Mitglied in einem sogenannten Verteidigungsbündnis
ist, das sich anmaßt, die Charta der Vereinten Nationen
zu unterlaufen, das sich seit 1999 mit deutscher Zustimmung eine globale Interventionsrolle gegeben hat, das
unter US-amerikanischer Führung mit seiner aggressiGert Winkelmeier
ven Erweiterungspolitik nach Osten - bis in den Kaukasus - gegen europäische Sicherheitsinteressen handelt,
einem Militärbündnis, das für rund 70 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben in Höhe von 1,4 Billionen
US-Dollar steht, einem Bündnis, das nach wie vor an der
nuklearen Ersteinsatzoption festhält, weil seine Führungsmacht das so will.
Nein, meine Damen und Herren, so wird das nichts
mit der Abrüstung. Internationale Bemühungen werden
nur dann zum Erfolg führen, wenn die führenden Industrienationen dieser Welt deutlich und glaubhaft andere
Signale als bisher aussenden, zum Beispiel diese: Erstens. Wir wollen eine Weltordnung, in der keine Macht
die andere ökonomisch und militärisch dominiert. Zweitens. Wir beweisen dies, indem wir einseitig mit gutem
Beispiel vorangehen und unsere Arsenale so reduzieren
und strukturieren, dass sie für andere Länder keine Bedrohung darstellen. Drittens. Wir verzichten auf eine
Politik, die von anderen als Bedrohung wahrgenommen
wird, gegen die sich andere nur noch mit der Entwicklung eigener Atomwaffen glauben schützen zu können.
Viertens. Wir hören damit auf, die ganze Welt mit unseren Rüstungsgütern zu überschwemmen, damit bestehende Konflikte friedlich gelöst werden und bisherige
Rüstungsausgaben in die wirtschaftliche Entwicklung
der armen Länder fließen können. Hier könnte Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen, macht es aber leider nicht.
Noch immer lagern US-Atomwaffen in Büchel in der
Eifel. Noch immer, zwanzig Jahre nach dem Ende des
Kalten Krieges, hält Deutschland am Anachronismus der
nuklearen Teilhabe fest und bildet Piloten für den Atomwaffeneinsatz aus. Wofür? - fragt sich die Welt außerhalb der NATO zu Recht. Ich fordere die Bundesregierung auf, den vom neuen US-Präsidenten angekündigten
Wechsel zu nutzen und den Abzug dieser Waffen zu verlangen. Denn Herr Obama erklärte in Berlin, dass es Zeit
sei, damit zu beginnen, dass die Welt von Kernwaffen
befreit wird. Ein souveräner Staat kann den Atomwaffenabzug fordern. Rückendeckung für diese Forderung
haben Sie ja kürzlich von den Herren Schmidt, Bahr, von
Weizsäcker und Genscher erhalten.
Solange die deutschen Rüstungsexporte jedoch auf
Platz 3 der Hitliste in der Welt stehen und zunehmend
auch in Spannungsgebiete gehen, wird der Bundesregierung niemand das behauptete Engagement für Abrüstung
abnehmen. Die GKKE-Fachgruppe „Rüstungsexporte“
der beiden Kirchen legt genau den Finger in die Wunde:
Auf moralischer Ebene scheint die Verknüpfung
von Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik als Merkmal deutscher Außenpolitik zur Disposition zu stehen.
Diese Einschätzung zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Bundesregierung in ihrer Abrüstungspolitik.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Helmut
Lamp das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst einmal begrüßen, dass wir
doch sehr zeitnah diesen Jahresabrüstungsbericht beraten können. Das zeigt, wie wichtig dieser Bereich ist
oder - besser gesagt - wieder geworden ist. Einerseits
können wir wirkliche Fortschritte hin zum weltweiten
Verbot der Streumunition begrüßen, andererseits müssen
wir jedoch feststellen - das ist hier mehrfach gesagt worden -, dass ansonsten nur wenig Bewegung in der
Abrüstungspolitik insgesamt erkennbar ist. Die internationalen Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle treten insgesamt nach wie vor auf der Stelle. Zum
Beispiel kann nicht über Fortschritte bei der Abrüstung
von Massenvernichtungswaffen berichtet werden.
Allerdings ist die weltpolitische Situation in den letzten Jahrzehnten erheblich unübersichtlicher geworden.
Nicht mehr zwei Blöcke sitzen sich am Verhandlungstisch gegenüber, sondern es muss eine Vielzahl von
Kompliziertheiten austariert werden. Die einzig verbliebene Supermacht befindet sich in einer tiefen Krise und
steht einem wirtschaftlich und politisch aufstrebenden
China und einem Russland gegenüber, das verlorene
Größe und Selbstachtung zurückzugewinnen sucht. Es
gibt aufstrebende Schwellenländer, die konstruktiv an
Lösungen internationaler Probleme mitarbeiten, und es
gibt Staaten wie Nordkorea, Iran und Syrien, die der
Weltgemeinschaft unkalkulierbare Risiken zumuten.
Dazu kommt die neue Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
Die Belange und Sicherheitsinteressen der Beteiligten
sind so vielfältig geworden, dass wir uns wohl realistischerweise auf künftig nur kleine Fortschritte in der Abrüstungspolitik werden einstellen müssen. Auch diese
lassen sich nur dann erreichen, wenn die Abrüstungspolitik weiter international thematisiert und unbeirrt,
nachdrücklich und beharrlich eingefordert wird. Dabei
muss Deutschland wie schon bisher ein ernsthafter und
glaubwürdiger Partner auf internationaler Ebene bleiben.
Als ernsthafter Verhandlungspartner wird aber nur derjenige akzeptiert, der partnerschaftlich nach gemeinsamen
Wegen sucht und sich nicht mit Alleingängen aus laufenden Verhandlungsrunden verabschiedet, was im Menschenrechtsausschuss hin und wieder beim Thema Streumunition gefordert wurde. Nicht zuletzt durch die über
Jahre beständige Haltung der Bundesregierung fand im
Dezember der Oslo-Prozess zur Ächtung von Streumunition einen ersten erfolgreichen Abschluss. Damit sind
wir im Menschenrechtsausschuss einem zentralen Ziel
erheblich näher gekommen. Ich habe deshalb das ausdrückliche Bedürfnis, Ihnen, Herr Außenminister, und
Verteidigungsminister Jung und der Bundesregierung
meinen Dank hierfür auszusprechen.
({0})
Aus menschenrechtspolitischer Sicht ist das Abkommen
zur Ächtung von Streumunition ein Meilenstein. Ein
wichtiger Schritt hin zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts konnte in Oslo erreicht werden. Der
norwegische Ministerpräsident Stoltenberg hat völlig
recht, wenn er sagt:
Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein, wenn diese
bestialische Waffenart nun endlich verboten und
vernichtet wird.
Doch der in Oslo gesetzte Meilenstein markiert leider
noch nicht das Ende, sondern erst ein wichtiges Teilstück der Wegstrecke; denn Staaten wie Russland, China
oder auch die USA - sie wurden hier schon genannt haben das Vertragswerk noch nicht unterzeichnet. Die
Äußerungen und ersten Entscheidungen der neuen amerikanischen Regierung lassen jedoch hoffen, dass auch
bei den Abrüstungsverhandlungen der Stillstand überwunden werden kann.
Ebenso - das wurde schon viermal angedeutet - sind
die jüngsten Signale aus Russland sehr positiv zu werten. Der russische Generalstab hat vor zwei Tagen verkündet, dass man die beabsichtigte Aufstellung von
Kurzstreckenraketen in der Region Kaliningrad aussetzen werde. Ich stimme Ihnen, Herr Minister, völlig zu:
Wir sollten die Zeichen der Zeit nutzen und neben der
dringend notwendigen Verbesserung der transatlantischen Beziehungen insbesondere auch mit Russland ein
vertrauensvolles, freundschaftliches Miteinander anstreben.
Es ist richtig: Russland befindet sich derzeit in einer
schwierigen politischen Entwicklungsphase und macht
es uns nicht immer leicht, seine Politik nachzuvollziehen
oder zu akzeptieren. Aber auch hier können wir eher aus
freundschaftlich-kritischer Nähe als aus vornehmlich aburteilender Distanz heraus Einfluss auf den Gang der
Dinge nehmen.
Nach dem Fall der Mauer schien sich ein wirklich
partnerschaftliches Verhältnis zu Russland anzubahnen.
Hier sollten wir wieder anknüpfen. Gerade wir Deutschen müssen aus vielfältigen Gründen an guten und engen Beziehungen zu Russland interessiert sein.
({1})
Wir brauchen Beziehungen zu Russland, die auch Meinungsunterschiede aushalten, Beziehungen, die es ermöglichen, in problematischen Situationen gemeinsam
Lösungen zu entwickeln, auch hinsichtlich von Menschenrechtsfragen. Deshalb müssen wir darauf drängen,
dass es in Europa keine international relevanten Entscheidungen, die Osteuropa betreffen, ohne Einbeziehung Russlands geben darf.
Der letzte Satz: Wenn es gelänge, unter allen europäischen Staaten Stück für Stück ein beständiges Klima des
Vertrauens und der Partnerschaft zu entwickeln, wäre
dies die Basis für wirkliche Fortschritte in der Abrüstungspolitik.
Schönen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zu den Überweisungen. Inter-
fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/11690, 16/9200, 16/9799 und 16/11439
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/9149.
Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, in Kenntnis des Jahresabrüstungsberichts
2006 der Bundesregierung auf Drucksache 16/5211 den
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/7790 zu dem genannten Bericht abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke gegen die Stim-
men der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7791 zu dem
genannten Bericht. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11757
mit dem Titel „Zeit für Abrüstung und Rüstungskon-
trolle ist reif - Deutschland muss einen führenden Bei-
trag dazu leisten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht
der Fall. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 16/10235 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vizepräsidentin Petra Pau
Freie Schulen zum Gegenstand deutscher Bil-
dungsforschung machen
- Drucksache 16/6793 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen - Bildungsteilhabe für alle Kinder
und Jugendlichen sichern
- Drucksachen 16/5139, 16/11733 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Gesine Multhaupt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Patrick Meinhardt für die FDP-Fraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Schule ist Ländersache. Aber gerade bei
Schulen in freier Trägerschaft können wir auf der Bundesebene klare Rahmenbedingungen setzen, die das Leben für Privatschulen entweder erschweren oder vereinfachen. Das haben wir gerade erst bei der Frage der
steuerlichen Absetzbarkeit von Schulbesuchen an Privatschulen gesehen. Durch den Erhalt dieser Absetzbarkeit
und durch die Ausdehnung der Grenze auf 5 000 Euro ist
ein wichtiger Schritt hin zu ein bisschen mehr Fairness
in der Behandlung von Schulen in freier Trägerschaft
fortgeschrieben worden. Wenn wir in Deutschland ein
Bildungssystem wollen, das auf der Vielfalt der Angebote beruht, müssen wir für die Schulen in freier Trägerschaft Hürden abbauen. Sie sind in ihrem Bildungsauftrag gleichrangig mit jeder staatlichen Schule.
({0})
Die Entwicklung ist beachtlich. 43 Prozent Steigerung der Schülerzahlen von 1992 bis 2006 machen doch
deutlich, dass es einen Bedarf, ja noch mehr: ein Bedürfnis gibt. 4 500 Schulen in freier Trägerschaft mit einer
Schülerzahl, die stark auf die Millionengrenze zuläuft,
sind beeindruckende Zahlen. Wenn wir von Schulen in
freier Trägerschaft sprechen, dann meinen wir doch alle
die evangelischen und die katholischen Schulen, die
Waldorf- und die Montessori-Schulen, die Alternativschulen und all die Elterninitiativen, die Vereine gründen, um Schulen aufzubauen. Das tun sie nicht, weil sie
dicke Geldbeutel haben, sondern sie tun es, weil sie für
ihre Kinder eine andere Art der Bildung wollen, weil sie
mehr Vielfalt wollen, weil sie neue pädagogische Wege
erproben wollen, weil sie auch als Eltern mehr in der
Schule vor Ort mitwirken wollen. Daraus können wir für
ein modernes, vielfältiges Bildungssystem alle nur Nutzen ziehen.
({1})
Wir Liberale legen Ihnen deswegen heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir ein offensichtliches
Hemmnis in der Bundesrepublik Deutschland zur Gründung von privaten Grundschulen auf einem ganz einfachen Weg beseitigen können. Art. 7 im Grundgesetz regelt klar das Schulwesen. Art. 7 Abs. 4 regelt die
Errichtung von privaten Schulen, mit der klaren Maßgabe der Genehmigung des Staates und der genauso
glasklaren Regelung, dass diese den Landesgesetzen und
damit ganz selbstverständlich auch der Schulaufsicht unterstehen. Mehr gibt es nicht zu regeln. Gleiches Recht
für alle Schulen, egal ob sie staatlich oder privat sind.
({2})
Jetzt gibt es aber noch Art. 7 Abs. 5, der hohe und
höchste Hürden für die Errichtung einer privaten Volksschule baut, eine Regelung, die eins zu eins aus der Weimarer Reichsverfassung in einem völlig anderen Umfeld
übernommen wurde und spätestens jetzt, nach 60 Jahren
Bundesrepublik, überprüft werden muss.
({3})
Die Denkschrift der evangelischen Kirche zu Schulen
in evangelischer Trägerschaft - es lohnt sich wirklich
sehr, sie zu lesen - weist genau auf diesen Missstand hin.
Noch sehr zurückhaltend in ihren Formulierungen stellt
sie fest, dass die Genehmigungsbedingungen sehr einengend interpretiert werden, sowohl hinsichtlich der Interpretation des alten Begriffs „Volksschule“ als auch hinsichtlich der konkreten Genehmigungspraxis.
({4})
Unser Antrag hat ein ganz klares Ziel: kein Sonderrecht
für Grundschulen. Es soll ein Recht für Privatschulen
geben, sonst nichts.
({5})
Die Bundesregierung gibt uns recht. Wir haben im
Jahr 2007 eine Anfrage eingereicht, und die Antwort
darauf hat uns motiviert, hier aktiv zu werden. Die Frage
war:
Welche voraussichtlichen Konsequenzen hätte die
Aufhebung des Artikels 7 Abs. 5 GG für die Entwicklungen im föderalen Bildungsraum Deutschlands?
Antwort der Bundesregierung:
Im Falle der Aufhebung des Artikels 7 Abs. 5 GG
würde sich die Zulassung von Grund- und Haupt22008
schulen in privater Trägerschaft durch die hierfür
zuständigen Länderbehörden nach den Voraussetzungen richten, die für alle privaten Schulen … bestimmt sind.
({6})
Die Aufhebung würde die unterschiedliche Entwicklung in den Ländern bei der Zulassung Freier
Ersatzschulen befördern.
({7})
So weit die Antwort der Bundesregierung. Dem ist
rechtlich nichts hinzuzufügen.
Ich möchte an dieser Stelle auf einen für uns bedeutsamen Zahlenzusammenhang hinweisen. Im Bereich der
frühkindlichen Bildung und Betreuung sind in der Bundesrepublik Deutschland 61,3 Prozent der Einrichtungen
in der Hand privater Träger. Zwei Drittel aller Einrichtungen sind also nicht staatlich. Dies zeigt: Die privaten
Träger haben ein Angebot, das sich großer Beliebtheit
erfreut. Politisch wollen wir das ja auch. Es zeigt aber
auch: In den privaten Trägern haben wir einen verlässlichen Partner, einen Partner, dem wir offensichtlich großes Vertrauen bei der Erziehung, bei der Sprachstandsdiagnose und bei der Entwicklung sozialer Kompetenzen
entgegenbringen. Diese wichtigen ersten drei Jahre der
frühkindlichen Bildung werden in der Bundesrepublik
Deutschland zu zwei Dritteln von freien Trägern inklusive der Kirchen gestaltet.
Schaut man sich aber den Anteil der privaten Träger
an den Grundschulen an, dann stellt man fest, dass der in
der Bundesrepublik Deutschland nur bei 3,1 Prozent
liegt. Hieran wird deutlich: Art. 7 Abs. 5 des Grundgesetzes verhindert massiv ein Engagement der privaten
Träger im Primarbereich. Das ist schon deswegen bildungspolitisch falsch, weil wir Kindergarten und Grundschule als Bildungsphase aus einer Hand begreifen müssen. Jede andere Denke ist nicht im 21. Jahrhundert
angekommen.
({8})
Um genau das alles aufzubereiten, brauchen wir eine
breite Bildungsberichterstattung und eine regelmäßige
Bildungsforschung über den Bereich der privaten Schulen. Bei 850 000 betroffenen Schülern bietet sich das
auch an.
Schulen in freier Trägerschaft sind - ich zitiere hier
noch einmal die EKD-Denkschrift - ein „wichtiger Bestandteil zur Pluralität des öffentlichen Bildungswesens
und zu einem vielfältigen Bildungsangebot“. Dem ist
nichts mehr hinzuzufügen. Wir bitten darum, dass die
Grundgesetzänderung in diesem Hohen Haus eine Mehrheit finden wird. Denn sie ist dringend notwendig, um
eine faire Behandlung von Grundschulen in freier Trägerschaft zu erreichen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute mit drei Vorlagen, in denen
recht unterschiedliche Ansätze verfolgt werden. Im Antrag der FDP geht es darum, die Schülerzahlen von Privatschulen zu erhöhen. Im Antrag der Linken wird dieses Ansinnen als suspekt angesehen. Die Linke möchte
private Nachhilfe, Sponsoring und dergleichen lieber
einschränken. Das zeigt, welche Bandbreite der Gegenstand hat, über den wir diskutieren, und mit welcher
Blickrichtung man an das Thema herangehen kann.
({0})
Aus meiner Sicht ist klar: Wir brauchen für unsere
Gesellschaft und deshalb auch für die Schule die richtige
Mischung. Das Schulsystem muss einerseits Individualität und Pluralität, neidfreie Entfaltungsmöglichkeiten
und Fördermöglichkeiten für den Einzelnen sowie Vielfalt der Bekenntnisse, der Konzepte und der Weltanschauungen gewährleisten. Andererseits muss es eine
Grundlage für eine solidarische Gesellschaft legen, in
der sich die Schichten mischen können. Wir brauchen
ein System, das niemanden zurücklässt, das durchlässig
ist und das gute und gleiche Bildungschancen bietet. Vor
allen Dingen darf es keinen Unterschied in Abhängigkeit
vom familiären oder sozialen Hintergrund des Einzelnen
machen.
({1})
Das sind ganz wichtige Ziele. Aber keines dieser
Ziele darf absolut gesetzt werden auf Kosten der anderen
Ziele. Vor diesem Hintergrund sind die vorliegenden Anträge nicht zu rechtfertigen.
Zunächst zu den Privatschulen. Es ist richtig, dass die
Privatschulen in unserem pluralen System - zugegebenermaßen: oft mit guten Ergebnissen - einen wichtigen
Beitrag leisten. Trotzdem ist es aus christdemokratischer
Sicht kein Selbstzweck, möglichst viele Kinder in die
Privatschulen zu schicken und den öffentlichen Schulen
den Rücken zu kehren.
({2})
Pluralität und Vielfalt sind wichtige Kategorien. Es geht
aber nicht darum, um jeden Preis möglichst viele Schultypen, möglichst viele Träger und möglichst viele Konzepte zu haben.
({3})
Wir erwarten von allen öffentlichen Schulen, dass sie
intern Pluralität, Vielfalt der Meinungen und Konzepte
verwirklichen und dass sie - das ist das Entscheidende den Schülern Fähigkeiten vermitteln, sich in einer modernen und offenen Gesellschaft einzubringen. Ich kenne
viele öffentliche Schulen, die solche besonderen Konzepte übernommen haben und damit eine sehr gute Arbeit leisten.
({4})
- Genau, unter häufig schwierigen Bedingungen.
Eine Ergänzung dieses Systems durch gute private
Ansätze ist natürlich immer willkommen. Dies ist fest
im Grundgesetz verankert und soll gewiss nicht angerührt werden. Aber dies ist für den Staat kein Ziel
schlechthin. Im Gegenteil - dies galt nicht nur zu Zeiten
der Weimarer Reichsverfassung -: Im Jahre 1992 hat das
Bundesverfassungsgericht zum Recht auf die Gründung
von Privatschulen ausgeführt:
Bleiben gesellschaftliche Gruppen einander fremd,
kann dies zu sozialen Reibungen führen, die zu vermeiden legitimes Ziel auch staatlicher Schulpolitik
ist.
Auch das ist sicherlich ein Ansatz, den wir mit staatlicher Schulpolitik verfolgen müssen.
({5})
Vor allem: Ich kann nicht erkennen, dass hier eine
Änderung des Grundgesetzes erforderlich wäre. Sie
schildern keine Fälle und legen keine Zahlen vor, die
Gründe erkennen ließen, weshalb im Einzelfall die Genehmigung einer privaten Grundschule nicht erfolgt ist.
Sie nennen nur Schülerzahlen im Vergleich zu denen anderer Länder. Unsere Zahlen sind in der Tat geringer;
aber das kann nun wirklich viele Ursachen haben. Es ist
nicht immer die böse Unterrichtsverwaltung, die aus
sachfremden Erwägungen solche Gründungen verhindern will.
Ein wichtiger Grund ist aus meiner Sicht, dass wir in
Deutschland die Religionsgemeinschaften in die Schule
einbeziehen. In vielen Schulen findet konfessioneller
Religionsunterricht statt. In den Ländern, in denen das
nicht der Fall ist, ist die Gründung konfessionsgebundener Schulen naturgemäß mit einem anderen Stellenwert
zu bewerten. Dies führt zu höheren Zahlen. Es ist vielleicht ein guter Hinweis an die Berliner Schulpolitik,
dass man dadurch, dass man den Religionsunterricht aus
den Schulen hinausdrängt, dazu beiträgt, dass es mehr
private Schulen gibt.
({6})
Dass wir weniger Schüler in Privatschulen haben,
könnte vielleicht daran liegen, dass die Eltern öffentliche
Schulen unter dem Strich gut finden, dass sie, wenn sie
sich engagieren wollen und Verbesserungsvorschläge
haben, diese in die bestehenden öffentlichen Schulen
einbringen können. Wir wissen, dass sich viele Eltern an
öffentlichen Schulen im Rahmen von Elternpflegschaften und Schulkonferenzen engagieren
({7})
und sie nicht immer gleich den großen Schritt tun, eine
private Schule zu gründen, sondern in der öffentlichen
Schule mitarbeiten und viel Positives bewegen.
Natürlich ist unbestritten, dass es auch Eltern gibt, die
ihr Kind gerne auf eine Privatschule schicken würden,
aber keine finden und selber keine gründen wollen. Das
ist aber nicht das Ergebnis staatlicher Restriktion, sondern beruht auf der Tatsache, dass sich zu wenige Träger
aufmachen und solch eine Schule gründen, wozu sie in
dem rechtlichen Rahmen, den wir jetzt haben, durchaus
berechtigt wären.
Das alles zu befördern, soll den Trägern überlassen
bleiben. Art. 7 Abs. 4 und 5 des Grundgesetzes gewährt
ein Freiheitsrecht. Dies kann wahrnehmen, wer immer es
mag. Aber es ist nicht das vorrangige Ziel des Staates,
das zu forcieren. Um diesen Punkt abzuschließen: Eigentlich wären die Länder in diesem Bereich zuständig.
Mir ist keine Forderung irgendeines Landes bekannt
- die FDP ist ja an einigen Länderregierungen beteiligt -,
({8})
dass wir an dieser Stelle den Handlungsspielraum der
Länder erweitern sollten. Sie kommen mit dem, wie es
jetzt geregelt ist, sehr gut zurecht.
Ich habe den Eindruck, Sie versuchen hier ein Problem zu lösen, das keiner hat.
({9})
Dafür ist mir unsere Verfassung, insbesondere der
Grundrechtekatalog, zu schade. Ich denke, es gibt in der
letzten Zeit eine Inflation von Änderungsanträgen, bezogen auf das Grundgesetz. Das tut der Sache nicht gut und
senkt die Hemmschwelle, mit der man an Änderungen
des Grundgesetzes herangeht. Dem sollten wir einen
Riegel vorschieben.
({10})
Für Forschungsanstrengungen des Bundes sehe ich
überhaupt keinen Bedarf. Wenn überhaupt, dann sollen
das die Länder machen, wenn sie daraus Erkenntnisse
für ihre Schulpolitik erwarten.
Lassen Sie mich noch kurz auf den Antrag der Linken
eingehen. Auch ein gutes öffentliches Schulsystem bietet natürlich Raum für Verbesserungen. Lernmittelfreiheit würde auch mir gefallen; aber das ist Sache der Länder. Sie haben das zu entscheiden und dann auch zu
bezahlen.
Wenn man die Tatsache, dass Eltern ihre Kinder in die
Nachhilfe schicken, und Sponsoring misstrauisch beäugt, dann hat das mit der Forderung nach besserer Förderung und dem Anliegen einer Schule für alle nichts zu
tun. Das führt dazu, dass alle etwas weiter zurückbleiben, als es nötig wäre. Es macht wirklich keinen Sinn,
die Nachhilfe zu verteuern, weil man sie für ein Privileg
hält. Wenn man sie verteuert, ist sie nur noch für wenige
Schüler aus noch reicheren Familien bezahlbar. Sie wäre
also erst recht ein Privileg. Wenn der gesponserte PC,
meinetwegen von Microsoft, dazu führt, dass ein Kind
aus einer ärmeren Familie erstmals einen Internetzugang
hat oder einen besseren Zugang zum Internet bekommt,
dann ist das ein wichtiger Beitrag zur Chancengleichheit. Kinder aus sozial schwächeren Familien sind stärker darauf angewiesen als Kinder aus Mittelstandsfamilien, in denen alle Medien vorhanden und zugänglich
sind.
Deshalb sollten wir uns freuen, wenn Sponsoren in
Bildung investieren, und sollten das nicht immer misstrauisch beäugen. Wir sollten uns nicht so große Sorgen
um die Urteilsfähigkeit der Schüler machen. Natürlich
sehen sie, dass da ein Name draufsteht. Sie können sich
vielleicht auch denken, dass damit ein Werbeanliegen
verbunden ist. Vielleicht ist das aber auch ein Anlass,
das Ganze kritisch zu sehen, darüber zu diskutieren und
richtig einzuordnen. Ich denke, an dieser Stelle überwiegen die Vorteile deutlich gegenüber den wenigen Nachteilen. Deshalb, in der Conclusio, lehnen wir alle Ihre
Anträge ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Volker Schneider das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Patrick Meinhardt, die Worte hör ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube.
({0})
Bezüglich der freien gemeinnützigen Träger könnten
wir uns schnell einigen. Aber es gibt nun einmal auch
private Träger, die ein Profitinteresse haben, und auch
die sind unzweifelhaft Gegenstand dieses Antrags. Daher sage ich: Dieser Antrag ist ein Schlag ins Gesicht der
Chancengleichheit. Einmal mehr wird von der FDP gefordert: Weniger Staat und mehr privat.
Das hieß im ersten Schritt: Entlastung der Unternehmen, der Vermögenden, der Besser- und Bestverdienenden. De facto bedeutet dies weniger Einnahmen für die
öffentlichen Haushalte, die dafür bei Arbeitslosen, Rentnern, Sozialleistungsbeziehern und Geringverdienern
kräftig sparen. Sicher, da hat sich die FDP die Finger
überhaupt nicht schmutzig machen müssen. Das haben
Rot-Grün und Schwarz-Rot schon in hervorragender
Weise geleistet. Ich erinnere mich, dass Guido
Westerwelle schon 1999 einmal gesagt hat: Hätten wir
diese Politik umgesetzt, wären wir als Partei des Turbokapitalismus beschimpft worden. Wo er recht hat, hat er
recht.
({1})
Zurück zu den öffentlichen Haushalten. Nach Berechnungen des Wirtschaftsweisen Bofinger waren die Einnahmen des Staates 2008 im Vergleich zu 1999 aufgrund
der genannten Umverteilung zugunsten von Unternehmen, Vermögenden und Bestverdienenden um 118 Milliarden Euro niedriger. Diese Einnahmen fehlen jetzt in
jedem Jahr, zum Beispiel für den Bereich der Bildung.
Wenn ich ein derart großes Loch in die Kasse reiße, darf
ich mich nicht wundern, wenn ich im internationalen
Vergleich weniger ausgeben kann als andere Länder.
Als Sozialarbeiter kenne ich Schulen, in denen es
durch das Dach regnet, in denen der Kalk von den Wänden rieselt, in denen sich Funktionsräume in einem bedauernswerten Zustand befinden, in denen es an Lehrkräften mangelt und folglich massiver Unterrichtsausfall
zu beklagen ist. Jetzt beklagt die FDP scheinheilig, der
Staat könne es nicht richtig. Das ist schon dreist. In
Wahrheit geht es doch nur darum, dass man den eigenen
Kindern nicht die Schulen zumuten will, die man im
Grunde genommen selber zugrunde gerichtet hat. Das
erforderliche Schulgeld zu zahlen, ist für Vermögende
und Bestverdienende angesichts ihrer Einkommenszuwächse in den letzten Jahren eine Kleinigkeit. Kurz: Dadurch, dass in der Breite und an vielen Schulen gespart
wird, lassen sich die De-luxe-Angebote für eine privilegierte Minderheit der Bevölkerung finanzieren. Eine
Entsolidarisierung der Gesellschaft, das ist doch der
wahre Kern Ihrer Politik.
Um den unsozialen Kern ihrer Politik zu verbergen,
greift die FDP tief in die Argumententrickkiste. Da heißt
es zum Beispiel, Privatschulen seien bezogen auf die
Leistungsergebnisse besser als öffentliche Schulen. Die
Studie, auf die Sie sich dabei stützen, ist mal wieder aus
der Abteilung „Meine Birne schmeckt mehr nach Birne
als der öffentliche Apfel“; denn Tatsache ist: Diese
Schulen schneiden keinen Deut besser ab. Das wird
deutlich, sobald man die Schüler ähnlicher sozialer Herkunft in beiden Schulformen vergleicht. Die angebliche
Überlegenheit der Privatschulen begründet sich allein
dadurch, dass die soziale Auswahl zulasten von Problemschülern so gut funktioniert. Genauso unsinnig ist
die Behauptung, Privatschulen beförderten den Wettbewerb und würden damit zu einer Anhebung des Niveaus
öffentlicher Schulen führen. Sie verweisen dabei auf die
PISA-Studie und die höhere Privatschulquote in Ländern
wie den Niederlanden und Großbritannien, die im PISAVergleich vor uns liegen.
({2})
Lieber Patrick Meinhardt, konsequenterweise müsstest
du eigentlich gegen Privatschulen argumentieren; denn
die Privatschulquote bei den Spitzenreitern Schweden
und Finnland ist niedriger als bei uns.
({3})
Wir Linke sagen klar und deutlich: Schulen sind nicht
dazu da, um mit ihnen Geld zu verdienen. Schulen sind
dazu da, das Recht auf Bildung zu verwirklichen, und
zwar völlig unabhängig von der sozialen Herkunft. Jedem ein Optimum an Bildung zukommen zu lassen und
Volker Schneider ({4})
nicht nur einer kleinen privilegierten Schicht, ist nicht
nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch
eine zwingende Notwendigkeit für ein Land, dessen wesentliche Ressource das Leistungsvermögen seiner Menschen ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. CarlChristian Dressel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
erste Abschnitt des Grundgesetzes trägt die Überschrift
„Grundrechte“ und beinhaltet die Art. 1 bis 19. Im
Grundrechtsteil des Grundgesetzes hat der Deutsche
Bundestag seit 1949 nur in Ausnahmefällen und nur,
wenn es als dringend notwendig angesehen wurde, Änderungen vorgenommen. Sie von der FDP schlagen jetzt
vor, Art. 7 Abs. 5 des Grundgesetzes aufzuheben, der
das Nebeneinander von staatlichen Grundschulen und
Schulen in privater Trägerschaft ausbalanciert.
({0})
Zu Beginn möchte ich feststellen: Wir Sozialdemokraten wollen keine Aussonderung nach sozialen oder
materiellen Gesichtspunkten an Schulen. Die Aufhebung
des Abs. 5 in Art. 7 des Grundgesetzes würde Chancenungleichheit im Bildungswesen weiter verschärfen.
({1})
Der Sinn dieser Vorschrift liegt gerade darin, dass die
gesellschaftliche Integration von Kindern in den ersten
Lebensjahren gewährleistet und dass einer Aussonderung vorgebeugt wird.
({2})
Abs. 5 muss man im Zusammenhang mit Abs. 6 lesen, den heutzutage kaum jemand versteht: „Vorschulen
bleiben aufgehoben.“ Vorschulen waren bis 1918 den
Gymnasien vorgeschaltete besondere Schulen für die höheren Stände. Aus dieser Erfahrung bis 1918 resultiert
der Schulkompromiss der Verfassung für das Deutsche
Reich von 1919 mit der Zielrichtung, eine gemeinsame
Grundschule für alle ohne Rücksicht auf den Geldbeutel
und ohne Rücksicht auf die Herkunft zu schaffen.
({3})
Diese Forderung ist entgegen der Ansicht der FDP
auch heute noch aktuell. Das sage nicht nur ich als
Sozialdemokrat und unser Koalitionspartner, das sagt
auch das Bundesverfassungsgericht. Wenn jemand von
Ihnen es nachlesen möchte: Sie finden die Entscheidung
von 1992, die die Kollegin Winkelmeier-Becker schon
angesprochen hat, im 88. Band auf Seite 40 ff. Ich darf
mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitieren:
Nach wie vor verfolgen die in Rede stehenden Verfassungsbestimmungen mithin den Zweck, die Kinder aller Volksschichten zumindest in den ersten
Klassen grundsätzlich zusammenzufassen und private Volks- oder Grundschulen nur zuzulassen,
wenn der Vorrang der öffentlichen Schulen aus besonderen Gründen zurücktreten muß. Dahinter steht
eine sozialstaatliche und egalitär-demokratischem
Gedankengut verpflichtete Absage an Klassen,
Stände und sonstige Schichtungen.
Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus:
Auch jüngere pädagogische, gesellschaftliche und
verfassungsrechtliche Entwicklungen lassen es
nicht als überholt erscheinen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß Privatschulen ein einseitiges Bild
von der Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln und den Schülern vermitteln, wenn sie nur
von Kindern der Anhänger bestimmter pädagogischer, weltanschaulicher oder auch religiöser Anschauungen besucht werden. Bleiben gesellschaftliche Gruppen einander fremd, kann dies zu sozialen
Reibungen führen, die zu vermeiden legitimes Ziel
auch staatlicher Schulpolitik ist.
Dem füge ich hinzu: die zu vermeiden Ziel dieser
Verfassungsbestimmung ist. Der Zugang zu Bildung und
Bildungserfolg darf nicht von der sozialen Herkunft oder
dem Geldbeutel der Eltern abhängen. Das gilt auch und
besonders für die Grundschulen.
({4})
Das Grundgesetz sieht die Errichtung und den Betrieb
von Schulen in freier Trägerschaft explizit vor. Dennoch
oder gerade deshalb gibt es längst eine Vielzahl von
staatlichen Grundschulen, die die Reformideen von
Schulen in freier Trägerschaft aufgenommen und im
organisatorischen wie im pädagogischen Bereich umgesetzt haben. Im Zusammenhang mit dem Thema Ganztagsbetreuung, das gerade in der 15. Wahlperiode besonders aktuell war, wurden auch hier Meilensteine gesetzt.
Die Symbiose zwischen dem öffentlichen und dem
privaten Schulwesen ist das Ergebnis des Pluralismus in
der offenen Gesellschaft. Überlegungen, wie sich diese
Symbiose optimieren lässt, sind auch verfassungspolitisch grundsätzlich immer zu begrüßen. Ihre Äußerungen aber, Herr Kollege Meinhardt, sind entlarvend und
zeigen, dass Sie den dafür von der Verfassung gesetzten
Rahmen außer Acht lassen wollen. Wenn Sie sagen, Sie
wollen eine andere Art der Bildung, sage ich nur: Nein,
gerade in diesem Bereich wollen wir das keinesfalls.
Danke schön.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Priska Hinz.
Herr Kollege Meinhardt, ich glaube, Sie haben heute
mit Ihrem Antrag kein Glück. Sie werden keine Mehrheit dafür finden; denn auch wir sind der Meinung, dass
die Schwelle im Grundgesetz für die Genehmigung von
Grundschulen aus gutem Grunde höher als bei der Genehmigung von Schulen für den Sekundarstufenbereich
liegt.
({0})
Der Artikel ist so ausgestaltet, dass in Grundschulen
eben möglichst wenig Sonderung nach Einkommen und
sozialem Status stattfinden soll.
Seien wir doch einmal ehrlich: Die Grundschulen im
öffentlichen Schulwesen sind das Erfolgsmodell überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland, die beste
Schulform, die wir haben.
({1})
Schauen Sie sich die internationalen Vergleichsstudien
an. Dabei liegen wir mit unseren Grundschulen im
obersten Drittel.
({2})
Gerade in den öffentlichen Grundschulen finden so viele
pädagogische Innovationen statt, dass ich mir wünsche,
dass sich so manches traditionelle Gymnasium, auch Privatgymnasium, davon einmal eine Scheibe abschneidet.
({3})
Nicht alles, was privat heißt, ist gleichermaßen gut.
Das Drama beginnt nach der vierten Klasse mit der
Sortierung nach den angeblichen Begabungen in die unterschiedlichen Schulformen. Daran haben, grundsätzlich jedenfalls, die Ersatzschulen ihren Anteil. Auch bei
den Privatschulen wird sehr oft, außer wenn sie Gemeinschaftsschulen auch im Sekundarstufenbereich haben,
nach der vierten Klasse sortiert. Das halten wir im Prinzip für nicht richtig. Hinter die Behauptung, dass die Privatschulen grundsätzlich besser seien, wie Sie in Ihrer
Begründung anführen, kann man ein großes Fragezeichen setzen.
({4})
Dazu gibt es völlig unterschiedliche Meinungen. Die
einen sagen: Der Bildungserfolg bei privaten Trägern ist
grundsätzlich größer. - Die anderen sagen: Sie sind genauso gemischt wie alle anderen und deshalb nicht erfolgreicher. - Ich glaube, dass es durchaus Faktoren gibt,
die dazu führen, dass in manchen Privatschulen die Zahl
der erfolgreichen Schüler höher ist, weil nämlich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft eine andere
als bei öffentlichen Schulen ist. Die Bildungsforschung
sollte einmal untersuchen, ob Privatschulen tatsächlich
besser sind und aufgrund welcher Faktoren sie besser als
andere Schulen sind. Insofern hat die Bildungsforschung
durchaus ihren Wert. Darüber können wir im Ausschuss
sicher noch diskutieren.
Bei aller Wertschätzung für freigemeinnützige Privatschulen: Auch wir Grünen haben in manchen Ländern
dafür gekämpft, dass es freie Schulen als Alternativschulen gibt. Pluralität und Vielfalt gibt es aber nicht nur
durch freigemeinnützige Träger. Pluralität und Vielfalt
gibt es inzwischen Gott sei Dank durch die Profilierung
einzelner Schulen. Diese müssen wir voranbringen.
({5})
Früher waren Waldorfschulen und Montessorischulen
in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit Ausnahmen.
Inzwischen gibt es viele öffentliche Schulen, die diesen
Modellen nacheifern oder andere gute pädagogische
Konzepte umsetzen.
({6})
Auch diese gilt es zu fördern.
Warum Sie, Herr Meinhardt, meinen, dass Gemeinschaftsschulen und Grundschulen eher eine polarisierende statt eine integrierende Wirkung gehabt hätten, das
bleibt mir auch nach Ihrem Redebeitrag verborgen. Die
Ansicht, dass eine gemeinschaftliche Beschulung soziale
Selektivität nicht verhindert, haben unsere öffentlichen
Grundschulen bislang widerlegt.
Wir brauchen eine bessere Bildungsforschung. Ich
denke, es ist sinnvoll, dass private und öffentliche Schulen voneinander lernen. Wenn wir das Grundgesetz ändern, dann tun wir das nur an einer Stelle. Wir müssen
nämlich das Kooperationsverbot aufheben,
({7})
damit der Bund die Schulen in den Ländern wieder fördern kann. Davon hätten auch die Privatschulen etwas.
({8})
Danke schön.
({9})
Der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann hat nun für
die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann aus Überzeugung nahtlos an das anknüpfen, was Frau Hinz gesagt hat. Das Gute ist, dass
ich auch an Frau Winkelmeier-Beckers Rede anknüpfen
kann. Ich finde, auch vonseiten der Linken sind wichtige
Argumente genannt worden, was die Balance des
Grundgesetzes, die Priorität öffentlicher Bildung, die
Anerkennung von freier Bildung und das Verhältnis dieser Aspekte zueinander, auch im Hinblick auf den
Grundrechtscharakter, angeht.
({0})
So gibt es zum Beispiel ein Elternrecht und ein Recht
darauf, in der Schule auch religiöse Freiheit zu erleben
bzw. zu leben.
Herr Meinhardt, eine grundsätzliche Frage an Ihre
Adresse: Nehmen Sie eigentlich die wichtigste Aufgabe,
die wir im Zusammenhang mit dem Schulwesen in
Deutschland haben, zur Kenntnis: zusammenzuführen
und zu verhindern, dass in unserer Gesellschaft desintegrierende Tendenzen gestärkt werden? Dieses Zusammenführen wird in Deutschland im Rahmen des guten
öffentlichen Bildungswesens gewährleistet. Deshalb ist
es gut, dass CDU/CSU, SPD, Grüne und andere das öffentliche Bildungswesen stärken, gleichzeitig aber auch
dafür sorgen wollen, dass es noch genug Freiraum gibt,
um über freie Schulen neue bzw. andere pädagogische
Impulse einfließen lassen zu können. Das ist unsere
Grundposition. Die FDP allerdings stellt sich in dieser
Frage gegen den Geist des Grundgesetzes.
({1})
Sie sind in Ihrem klassischen separierenden Denken gefangen.
({2})
Außerdem müssen wir feststellen, dass Sie sich nicht
fair auf Quellen berufen.
({3})
Sie haben den Bildungsforscher Fend angeführt. Das
war nicht ehrlich. Durch den Zusammenhang, in dem Sie
den Bildungsforscher Fend erwähnten, erweckten Sie
den Eindruck, als habe das Sonderungsverbot in der
Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland dazu beigetragen, dass man sich erst recht absondern würde. Genau dies sagt Fend aber nicht.
({4})
Fend sagt - das gilt für seine Analyse der PISA-Studie bis hin zu seinen Bildungsstudien -: Es ist so, dass
gemeinsames Lernen die soziale Integration befördert.
Er macht aber auch deutlich, dass das nicht alles ist, und
weist darauf hin, dass es dahinter auch familiäre Prägungen, soziale Unterschiede und ein berufliches Umfeld
gibt.
({5})
Diese Aussage umzukehren und sozusagen gegen Fend
zu verwenden, das ist nicht ehrlich, nicht wissenschaftlich und auch nicht politisch sauber.
Fend hat den Gedanken aufgegriffen, dass man das
soziale Umfeld verbessern muss, um soziale Durchlässigkeit zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund möchte
ich Ihnen von der Linkspartei, da Sie immer sehr viel
fordern, Folgendes sagen: Erkennen Sie zumindest an,
dass wir jedem Kind mit besonderem Unterstützungsbedarf einen Zuschuss in Höhe von 100 Euro zukommen
lassen! Erkennen Sie an, dass wir, was die Transfers betrifft, mittlerweile eine Größenordnung von 70 Prozent
zu verzeichnen haben! Und erkennen Sie an, dass wir
das Schulstarterpaket auf den Weg gebracht haben!
Das waren drei Schritte in die richtige Richtung. Die
Mittel, die wir bereitstellen, werden verstärkt in Maßnahmen zur Förderung des sozialen Ausgleichs und zur
Verbesserung der sozialen Chancen investiert. Das muss
die CDU/CSU aushalten. Auch heute möchte ich bei Ihnen dafür werben: Lassen Sie uns das Schulstarterpaket
nicht auf Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I
begrenzen! Wir sollten uns einen Ruck geben und das
Schulstarterpaket auf die Schüler ausweiten, die in der
Oberstufe eines Gymnasiums, einer Gemeinschaftsschule oder einer Gesamtschule sind.
({6})
Das wäre ein Zeichen, das wir gemeinsam setzen könnten. Wir waren schon einmal sehr dicht dran. Lassen Sie
uns noch einmal versuchen, diesen Schritt zu gehen.
({7})
Dazu braucht man, um auf den letzten Punkt der FDP
einzugehen, keine Bildungsforschung. Sie ignorieren,
dass es schon jetzt in Bezug auf alle Schülerinnen und
Schüler Bildungsforschungsanstrengungen gibt. Das
Bildungspanel wird in diesen Tagen gestartet. Selbstverständlich geht es um alle Schülerinnen und Schüler. Es
gibt aber auch spezielle Bildungsforschungsaufträge,
etwa PERLE, wo es mit um bildungskulturelle Fragen
geht. Frau Hinz hat den Vorschlag gemacht, dies zu vertiefen. Das kann man gerne überlegen. Wichtiger ist
aber, dass wir die Balance und die Priorität für gute öffentliche Bildung halten. Deshalb sage ich noch einmal:
Heute ist kein guter Tag für die FDP, aber ein guter Tag
für die Bildung in Deutschland.
Danke.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10235 und 16/6793 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/10235 soll federführend
beim Rechtsausschuss beraten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen - Bildungsteilhabe für
alle Kinder und Jugendlichen sichern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11733, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/5139 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 16/11609 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/11782 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Michael Müller.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes.
Nachdem wir den Entwurf in den Ausschüssen intensiv
beraten haben, bleibt mir, auf die wichtigsten Punkte
einzugehen.
Die Entwicklung der Asse II macht uns große Sorgen.
Wir sind alarmiert über die Zuflüsse von Salzlösungen,
die mangelnde Tragfähigkeit aufgrund der Durchfeuchtung und Entfestigung des Grubengebäudes. Deshalb
will ich als Erstes sagen: Gestern hat ein Fachgespräch
stattgefunden, in dem das Bundesministerium die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Institute, die Verwaltungseinrichtungen und die entsprechenden Bundesämter vertreten waren. In diesem Fachgespräch ging es um
die neuen gebirgsmechanischen Berechnungen. Man ist
zu dem Ergebnis gekommen, dass wir sechs Jahre mehr
Zeit haben, zu einer dauerhaften Lösung zu kommen. Es
hat sich als wissenschaftlich belastbar herausgestellt,
dass wir nicht lediglich bis 2014, sondern bis 2020 Zeit
haben. Ich halte das für positiv. Das heißt nicht, dass wir
in unseren Anstrengungen nachlassen dürften. Aber die
Neuorganisation und der personelle Wechsel haben erhebliche Herausforderungen mit sich gebracht. Wir haben, wie gesagt, genügend Zeit, für diese schwierige und
sicherheitsrelevante Problematik eine saubere, allseits
akzeptierte Lösung zu finden.
Ich finde, wir sollten im Umgang mit diesen Fragen
zu viel mehr Transparenz kommen. Wir haben doch in
der Vergangenheit bedauert, dass es gewissermaßen eine
geschlossene Gesellschaft war, die sich mit diesen Themen beschäftigt hat. Darum biete ich an, dass wir den
Fraktionen die Ergebnisse des Fachgesprächs mitteilen,
sodass jeder weiß, was abläuft. Ich biete Ihnen auch an,
dass wir Ihnen die Ergebnisse der Berechnungen zu
möglichen radiologischen Auswirkungen der berühmtberüchtigten Einlagerungskammer 4, in der in besonderer Weise die Problematik neuer Gefahren aufgetreten
ist, zukommen lassen. Diese Untersuchungen werden
derzeit ausgewertet; die Ergebnisse werden wahrscheinlich Mitte Februar vorliegen.
Ich halte es für notwendig, dass in diesen Fragen so
viel Transparenz und Öffentlichkeit hergestellt wird,
dass unbeschadet, ob man unterschiedlicher Meinung ist,
auf jeden Fall alle Fakten auf dem Tisch liegen und niemand den Eindruck erwecken kann, dass man hier mit
einem schwierigen Zukunftsproblem spielt.
({0})
Die Aussage ist klar: Das Ergebnis der gebirgsmechanischen Bewertung der Einlagerungskammer 4 lautet im
Augenblick, dass der Stopfen hält, dass derzeit also
keine Gefahr vorliegt. Es gibt aber auch dort eine Vielzahl unbeantworteter Fragen. Wir bemühen uns, diese so
schnell wie möglich zu beantworten.
Insgesamt kommen wir nach dem derzeitigen Stand
zu dem Ergebnis, dass wahrscheinlich bis Herbst - eventuell auch bis zum Ende dieses Jahres - ein Gesamtkonzept für die Asse vorliegen wird. Wir möchten dann natürlich intensiv über die entscheidende Frage reden, wie
wir eine dauerhafte Lösung finden können, in die beispielsweise auch der Punkt einbezogen wird, den die
Fraktion der Grünen angesprochen hat, nämlich die Option der Rückholbarkeit. Dies alles werden wir tun.
Aus unserer Sicht gibt es im Übrigen auch gar keine
Alternative dazu, auch die Option der Rückholbarkeit
auf der Grundlage des Gesetzes mit einzubeziehen. Wir
sind uns ziemlich klar darüber, dass das sein muss. Wir
werden dies einfach auch deshalb erreichen, weil wir dadurch, dass die Behandlung dieses Themas jetzt dem
Bundesamt für Strahlenschutz übertragen wurde, in der
Tat in der Lage sind, zu einem viel geordneteren, rechtlich sehr viel besser nachvollziehbaren und insgesamt
transparenten Verfahren zu kommen.
Es ist der große Vorteil der Entscheidung der Bundesregierung, dass es jetzt eine Behörde gibt, die aufgrund
ihrer Erfahrungen mit der Schließung des ehemaligen
DDR-Endlagers in Morsleben, mit der Errichtung des
Endlagers Konrad und der Überwachung des Offenhaltungsbetriebs in Gorleben so viel Know-how bietet, um
zu einem wirklich vernünftigen Verfahren zu kommen.
Sie kann die entsprechenden Planfeststellungsverfahren
und die Verfahren für die Öffentlichkeitsbeteiligung natürlich so vorbereiten, dass wir auch den Anforderungen
einer kritischen Öffentlichkeit gerecht werden können.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf
wird durch die Verpflichtung zur Anwendung der für
Bundesendlager geltenden Vorschriften gesichert, dass
für den Betrieb und die Stilllegung die nach dem Stand
der Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen werden muss. Das heißt, um das
auf den Antrag der Fraktion der Grünen zu beziehen:
Um bei der Stilllegung den bestmöglichen Schutz vor
schädlichen Auswirkungen radioaktiver Strahlung zu
verwirklichen, sind auch eine umfassende Prüfung und
ein Vergleich aller zur Verfügung stehenden Optionen
erforderlich. Das bedeutet in der Konsequenz, dass ausdrücklich auch die Option geprüft werden muss, die radioaktiven Abfälle ganz oder teilweise zurückzuholen.
({1})
Das ist der entscheidende Punkt. Dieser ist aus unserer
Sicht gesetzlich entsprechend geregelt.
({2})
Es gab zwischen uns noch Meinungsunterschiede hinsichtlich der Verteilung der Kosten. In der Zwischenzeit
sind wir der Bitte des Bundesrates nachgekommen, indem
wir eine ausdrückliche Klarstellung im Gesetzentwurf
vorgenommen haben. Über 90 Prozent der eingelagerten
radioaktiven Materialien stammen aus öffentlichen Einrichtungen, insbesondere aus Forschungseinrichtungen.
Daraus ergibt sich auch die Verteilung der Kosten.
Kollege Müller, Sie können selbstverständlich weiterreden, dann aber auf Kosten Ihres Kollegen.
Ja, natürlich. Ich komme sofort zum letzten Satz. Wir hätten es natürlich gerne gesehen, wenn auch private
Einlagerer mit zur Kasse gebeten worden wären, aber
nach all unseren Prüfungen kamen wir zu dem Ergebnis,
dass dies verfassungsrechtlich leider nicht möglich ist,
sodass wir zu dieser Lösung gekommen sind.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika
Brunkhorst das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bundesminister Gabriel hat bereits Ende 2008 angeordnet, dass die Atomaufsicht für die Asse II auf das BMU
übertragen wird. Die Verantwortung für den Betrieb der
Asse ist auf das Bundesamt für Strahlenschutz übertragen worden. Die notwendige gesetzliche Grundlage dafür haben wir heute auf dem Tisch.
Die Vorlage der Bundesregierung ist sachgerecht,
weil sie den Realitäten nach dem aktuellen Stand der
Dinge Rechnung trägt. Die Atomgesetznovelle gibt somit allen Beteiligten die notwendige Rechtssicherheit.
Die FDP-Fraktion wird dem Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes zustimmen, weil die darin vorgesehenen Regelungen - abgesehen von den aktuellen Problemen mit der Asse II - sachgerecht sind.
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass es natürlich darauf ankommt, dass man den Menschen, die in
der Region um die Asse leben und arbeiten, Angebote
macht, dass man ihnen zeigt, dass wir in dieser ernsten
Situation Abhilfe schaffen wollen, und zwar seriös und
professionell.
Bundesminister Gabriel hat bezüglich des Betreiberwechsels unheimlich Gas gegeben. Die FDP erwartet
jetzt natürlich, dass eine tragfähige Lösungsstrategie entwickelt und dass die offenen Fragen, die von Herrn
Staatssekretär Müller eben angesprochen worden sind,
sorgfältig und möglichst zügig abgearbeitet werden.
Minister Gabriel steht in der Pflicht, umgehend gezielte und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die
größtmögliche Sicherheit für Mensch und Umwelt in der
Region zu gewährleisten.
({0})
Unsere Zustimmung ist auch für das BMU ein Vertrauensvorschuss.
Professionalität ist gefragt. Nichts brauchen die Menschen im Moment dringender als tatkräftiges, professionelles und verantwortungsvolles Handeln von Leuten,
die von der Sache etwas verstehen; darauf lege ich Wert.
Damit kein Missverständnis entsteht: Damit meine ich
nicht, dass alle, die für die Asse bisher Verantwortung
getragen und die Entscheidungen gefällt haben, inkompetent sind oder unverantwortlich gehandelt haben mitnichten. Aber wir alle wissen mittlerweile, dass in der
Asse entscheidende Dinge offenbar in erheblichem
Maße schiefgelaufen sind und dass wir nun Vernunft und
ein professionelles Krisenmanagement brauchen. Die
FDP wird sich daran auf jeden Fall konstruktiv beteiligen; das kann ich Ihnen versichern.
Nun zu den Kolleginnen und Kollegen der grünen
Fraktion. Die Menschen brauchen im Moment wirklich
Sicherheit. Es kann nicht sein, dass wir jetzt politische
Grabenkämpfe austragen. Bitte, lassen Sie uns der Versuchung widerstehen, die alten Lieder wieder zu singen:
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die es schon immer gewusst haben, die schon immer gegen die Kernenergie gewesen sind und die auch immer alles besser
als die anderen wissen werden, und auf der anderen Seite
gibt es diejenigen, die immer von allem gar nichts wissen wollten. Damit folgt man zu sehr einem
Schwarz-Weiß-Schema, und das hilft uns an dieser Stelle
nicht weiter. Was den Menschen hilft, ist - das ist mein
Petitum an Sie -, dieses Schema aufzugeben. Darum
bitte ich Sie an dieser Stelle.
({1})
Es stimmt: Die FDP hat eine grundlegend andere politische Einstellung zur Frage des Umgangs mit der Endlagerung. Eine andere Sache hat aber damit nichts zu tun
- das sage ich hier ganz klar und deutlich -: Das deutsche Bundesumweltministerium genießt auf der fachlichen Ebene deutschlandweit und auch international ein
sehr hohes Ansehen und Respekt, und dies zu Recht.
Von grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten und
von einer unterschiedlichen Bewertung des Verhaltens
einzelner Personen einmal abgesehen, steht eines fest:
Die fachliche Kompetenz unserer obersten Fachbehörden können wir hier wirklich ausdrücklich loben. Wir
von der FDP wollen diese Fachkompetenz erhalten und
unter Umständen stärken. Ich möchte an dieser Stelle
den Fachleuten für die bereits geleistete Arbeit danken.
Sie haben noch viel vor sich. Das, was da zu tun ist, ist
sicherlich nicht einfach. Ich wünsche den Personen, die
dort eingebunden sind, die Lösungen finden müssen, ein
gutes Stück Durchhaltevermögen.
Insgesamt kann ich nur sagen, dass ich die Skepsis
der Grünen hier nicht teile. Wir können rundum zuversichtlich sein. Die Verantwortung für die Asse II ist in
guten Händen. Alles ist auf einem guten Weg. Das gilt
auch für das, was Sie sich immer gewünscht haben: Die
Asse wird jetzt nach Atomrecht behandelt; das Bundesamt für Strahlenschutz, inklusive Herrn König, ist Betreiberin der Asse; die AG Optionenvergleich erarbeitet
ein Gutachten, in dem verschiedene Schließungskonzepte für die Asse geprüft werden.
Also alles bestens.
({2})
- Da handelt es sich aber nur um die von Ihnen gefühlte
Skepsis, Frau Kotting-Uhl.
Die FDP stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, meine Damen
und Herren, und ein schönes Wochenende!
({3})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg
Nüßlein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Worüber reden wir? Wir reden darüber, dass wir im Gesetz
einen besseren personellen Sabotageschutz verankern
wollen. Das müsste im Grunde eine Formsache sein,
weil es jedem klar ist. Deshalb hat es mich schon ein wenig gewundert, dass die Grünen im Rahmen der Ausschussdebatte am Datenschutz herumgemäkelt haben
und gesagt haben, dieser gehe ihnen zu weit. Eigentlich
sind doch die Grünen immer diejenigen, die sagen, die
Sicherheitsmaßnahmen könnten angesichts der Gefahren
nicht weit genug gehen.
({0})
Mich hat noch mehr geärgert, dass bei derselben Debatte
im Umweltausschuss die Linke die Diskussion darüber
am liebsten auf eine Diskussion über die Terrorgefahren
an sich und überhaupt ausweiten wollte. Das ist nicht
sachgerecht.
Wir wollen hier sehr sachlich über die Dinge diskutieren, die notwendigerweise getan werden müssen. Dazu
gehört der personelle Sabotageschutz, und dazu gehört
der Wechsel vom Bergrecht zum Atomrecht. Diese juristische Notwendigkeit vollziehen wir im Gesetz eigentlich nur nach.
({1})
Bei Diskussionen über das Thema Asse ist es schon
wichtig zu betonen, dass es der Politik insgesamt darum
gehen muss, Vertrauen zu sichern und zu schaffen. Der
Herr Staatssekretär hat das in vorbildlicher Art und
Weise getan, indem er zum einen auf das hingewiesen
hat, was momentan Stand der Wissenschaft ist, nämlich
die Standsicherheit bis zum Jahr 2020 - das trägt ja dazu
bei, die zu Recht beunruhigten Menschen vor Ort zu beruhigen -, und indem er zum anderen klargestellt hat,
dass es ihm um die Herstellung eines hohen Maßes an
Transparenz geht. Das ist auch ein Anliegen der Union.
Ganz bewusst und ganz gezielt richte ich meine Bemerkung, dass es notwendig ist, Vertrauen zu schaffen,
an die Adresse der Grünen und der Linken. Wer nämlich
an dieser Stelle versucht, zu überzeichnen, zu verunsichern oder zu verängstigen, der macht aus meiner Sicht
einen entscheidenden Fehler. Gerade die Grünen müssten ja Erfahrung damit gesammelt haben. Bis zum Beginn der rot-grünen Koalition haben sie ja die Risiken
der Atomkraft immer überzeichnet
({2})
und als Konsequenz daraus den sofortigen Ausstieg gefordert. Dieser war ihrer Meinung nach unabdingbar.
Kaum waren sie aber Mitglied einer Bundesregierung
und nicht mehr in der Opposition, haben sie gesagt,
Atomkraft sei doch noch 20 Jahre verantwortbar. Das
müssen Sie sich vorhalten lassen.
({3})
Machen Sie jetzt nicht wieder denselben Fehler! Zeigen
Sie Verantwortung und entsprechende Zurückhaltung!
Lassen Sie uns sachlich und ohne die Leute zu verunsichern die nicht zu leugnenden Probleme an der Asse lösen.
({4})
Nachdem ich vernommen habe, dass es manchem
Grünen nicht schnell und transparent genug geht,
möchte ich wiederum unter Hinweis auf die Zeit Ihrer
Regierungsbeteiligung ganz deutlich sagen: Stellen Sie
sich bitte selber im Rahmen einer allenthalben fälligen
Gewissenserforschung die Frage, was Ihr Umweltminister Trittin in den sieben Jahren, in denen er Regierungsverantwortung trug, hier tatsächlich getan hat. Nichts,
meine Damen und Herren! Das halte ich doch durchaus
für bemerkenswert.
Sie versuchen nun, auch dieses Gesetz in Misskredit
zu ziehen. Ich verstehe das nicht - das sage ich ganz offen -, weil ich der Meinung bin, dass es hier um Formsachen und nicht um die Frage „pro oder kontra Kernenergie“ geht.
({5})
Sie tun das, indem Sie kritisieren, im Gesetzentwurf sei
keine Option einer Rückholung vorgesehen. Aber das ist
nicht wahr.
Wir schaffen nicht die technologischen Rahmenbedingungen - das können wir gar nicht -, sondern die
politischen. Bei den politischen Rahmenbedingungen ist
ein voller Optionenvergleich inklusive der Rückholung
vorgesehen. Das haben Sie von der Bundesregierung
schriftlich bekommen, und der Staatssekretär hat es
heute noch einmal betont. Im Übrigen lässt sich auch aus
§ 9 b Abs. 4 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Atomgesetz
herauslesen, dass es uns darum geht, nach dem Stand
von Wissenschaft und Technik die erforderliche Vorsorge gegen Schäden zu treffen. Dazu gehört auch die
Option einer Rückholung, sofern sie technisch machbar
ist.
Im selben Atemzug stimmen dann etliche Damen und
Herren eine Kostendebatte an. Auch davor kann ich nur
warnen. Wie kann man denn, bevor man die Optionen
kennt, schon wissen, welche Kosten letztlich anfallen
werden? Wer kann das wissen? Offenbar ist jemand daran interessiert, irgendwelche Zahlen in den Raum zu
stellen, so wie Sie. Sie haben von 2,5 Milliarden Euro
gesprochen.
({6})
Zum einen meine ich, dass Sie nicht wissen, wie hoch
die Kosten sind. Zum anderen weise ich für die Union
darauf hin, dass das kein Kostenthema ist. Bei diesem
Thema geht es nicht um Betriebswirtschaft, sondern darum, Vertrauen zu bilden und das zu tun, was notwendig
und sinnvoll ist, um Schaden von der Umwelt und den
Menschen abzuwenden.
({7})
Wir werden alles Notwendige tun, aber keine Kostendiskussion führen. Das wäre in höchstem Maße unseriös.
({8})
Ich weiß, dass es Ihnen um etwas anderes geht. Sie
wollen über die Kostendiskussion die Kernenergie in
Misskredit bringen, wenn Sie fordern, die Kosten anders
zu verteilen, als es seinerzeit vor mehr als 30 Jahren geschehen ist. Ihr Anliegen ist auch, darüber zu diskutieren, ob der Bund die Kosten tragen muss.
Fakt ist - das hat auch das Bundesumweltministerium
bestätigt -, dass über 90 Prozent der radioaktiven Abfälle von öffentlichen Verursachern stammen. Zudem
handelt es sich bei der Asse um ein Forschungsbergwerk
des Bundes. Deshalb ist aus meiner Sicht auch klar, wer
die Kosten trägt. Das halte ich für absolut klar, ohne dass
darüber diskutiert werden kann.
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Kotting-Uhl?
Herzlich gerne. Es ist zwar schon spät am Tag, aber
bitte schön.
Das muss uns die Asse schon Wert sein.
Ja, darum habe ich die Zwischenfrage auch zugelassen.
Lieber verehrter Kollege Nüßlein, helfen Sie mir und
vielleicht auch sich selber auf die Sprünge. Sie haben gerade festgestellt, wir hätten eine Kostendebatte angestimmt. Würden Sie mir bitte sagen, wer die Kostendebatte in das parlamentarische Verfahren eingebracht hat?
Ich habe mich auf eine Diskussion bezogen, die friedlich, aber trotzdem etwas erregt am Mittwoch im Umweltausschuss stattgefunden hat und in der Sie, liebe
Kollegin, über die Frage philosophiert haben, wer die
Kosten letztendlich trägt und wie es zu begründen ist,
dass dies durch die öffentliche Hand erfolgen muss. Sie
meinten, dass in diesem Zusammenhang die Energieversorger sehr viel stärker belastet werden müssten. Dazu
haben meine Kollegen im Ausschuss bereits darauf hingewiesen, dass es sich um ein Forschungsbergwerk des
Bundes handelt. Damit ist klar, wer die Kosten trägt.
Wir nehmen selbstverständlich auch zur Kenntnis,
dass von Privaten, die damals Material eingelagert haben, Gebühren verlangt worden sind. Es mag sein, dass
sie aus heutiger Sicht zu niedrig waren.
({0})
Aber damals ist anders damit umgegangen worden.
Unter dem Gesichtspunkt werden wir nicht umhinkommen, dass der Bund die Kosten zu tragen hat. Es ist
unsere Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern, auch mit Geld dafür zu sorgen, dass Gefahren
von ihnen abgewendet werden. Das ist die Realität.
({1})
- Genau. Jetzt ist die Beantwortung fertig, nicht dann,
wenn die Kollegin sich hinsetzt. Aber gut.
Aus meiner Sicht ist es erforderlich, das Thema Asse
in gebotener Ruhe weiterzuverfolgen. Wir sollten nicht
versuchen, grundsätzliche Debatten über diese Thematik
zu führen, und den Gesetzentwurf wie vorgesehen verabschieden.
Abschließend sage ich Ihnen: Jeder Versuch, einen
Zusammenhang zwischen Asse auf der einen Seite und
Gorleben auf der anderen Seite herzustellen, ist aus meiner Sicht untauglich, weil es sich zum einen um ein ausgebeutetes Bergwerk handelt, in dem vor mehreren Jahrzehnten nach anderen Maßstäben eingelagert wurde, und
weil wir zum anderen viele Jahre erkundet haben
- nichts sonst -, ob sich der Salzstock in Gorleben als
Endlager eignet. Man muss das bestehende Moratorium
- das ist an dieser Stelle ein ceterum censeo - aufheben,
um bei diesem Thema endlich weiterzukommen. - Frau
Kotting-Uhl, Sie schütteln den Kopf. Selbst wenn Ihnen
das nicht gefällt: Wir sind nicht nur verpflichtet, bei der
Asse etwas zu tun. Vielmehr müssen wir irgendwann der
Verpflichtung nachkommen, ein nationales Endlager bereitzustellen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man
pro oder kontra Kernenergie ist. Fakt ist: Radioaktive
Abfälle fallen in Kernkraftwerken und anderen Bereichen an. Wir werden sie national endlagern müssen.
Deshalb müssen wir das Notwendige tun. Ich finde es
bedauerlich, dass die Große Koalition an dieser Stelle
nicht, wie von uns, der Union, erwartet, weitergekommen ist.
({2})
Das liegt mit Verlaub am Bundesumweltminister.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Nüßlein, Sie haben auf die Kostenfrage hingewiesen. Damit befassen sich Menschen nicht nur hier im
Haus, sondern auch draußen. Nicht nur ich habe massenhaft E-Mails bekommen, in denen uns Bürgerinnen und
Bürger auffordern, dem vorliegenden Gesetzestext nicht
zuzustimmen, unter anderem mit der Begründung, dass
die Konzerne, die mit Atomenergie Gewinne gemacht
haben und nach wie vor machen, stärker an den Kosten
zu beteiligen seien.
({0})
Das Umweltministerium hat uns wiederholt mitgeteilt, an der Finanzierung im Zusammenhang mit Asse
sei nichts zu ändern, weil man aus der schon vor Jahren
übernommenen Verpflichtung nicht herauskomme. Aber
es stellt sich sehr wohl die Frage, warum das in dem vorliegenden Gesetzestext so explizit formuliert ist. Auf
diese Frage habe ich keine Antwort. Dass die Menschen
ein ungutes Gefühl haben, wenn RWE, Eon, EnBW und
Vattenfall seit Jahrzehnten hohe Gewinne machen, während der Steuerzahler, der Bürger, die Kosten trägt, ist
ihnen nicht zu verübeln.
({1})
Das ist wieder eine Umverteilung von unten nach oben,
wie wir sie aus vielen Bereichen dieser Gesellschaft kennen. Nebenbei: Jeder kleine Gewerbetreibende muss für
die Kosten seiner Abfallentsorgung selber geradestehen.
({2})
Mit dem Gesetz wird das Forschungsbergwerk Asse
mit einem Federstrich zu einem Endlager erklärt. Hier
kann und hier wird die Linke ebenfalls nicht zustimmen.
({3})
Die Subventionierung der Atomindustrie hat Tradition; das ist nicht erst bei dieser Regierung so. Dass die
Gegenwehr der Konzerne entsprechend ist, verwundert
nicht. Die Gegenwehr und die Subventionierung der
Stromkonzerne waren häufig genug Thema. Ich möchte
unseren Blick heute auf einen anderen Konzern lenken,
und zwar auf den DAX-Konzern K+S, auch als Kali und
Salz bekannt. Es handelt sich um einen Konzern, der an
der Asse und der atomaren Endlagerung nicht geringe
Mittel verdient hat. Es beginnt damit, dass das VorgänDorothée Menzner
gerunternehmen dem Bund seinerzeit das alte Bergwerk
verkauft hat. Der Konzern hat immer wieder Geld mit
der Lieferung von Abraum zur Verfüllung der oberen
Sohlen verdient und die abgepumpten Laugen in seine
geschlossenen Bergwerke überführt. Des Weiteren hat
der Konzern Forschungsaufträge rund um die Asse erhalten. Nicht zuletzt handelt es sich hierbei um einen der
zwei Konzerne, die weltweit das Magnesiumchlorid produzieren und anbieten können, mit dem die Asse einst
geflutet werden sollte.
Dieser Zusammenhang macht deutlich,
({4})
dass wir neben den bergtechnischen Vorgängen, die wir
klären müssen, auch insgesamt in die Vorgänge, die mit
der Asse zusammenhängen, noch viel Licht bringen
müssen und dass wir dort sehr genau hinsehen müssen.
Das vorliegende Atomgesetz wird uns dabei nicht helfen; vielmehr sät es weiter Misstrauen und schürt Ängste
und die Wut bei den Menschen in der Region. Das kann
nicht das sein, was wir hier gemeinsam wollen.
({5})
Aus diesem Grunde stimmen wir gegen das vorliegende Gesetz. Weil Licht in das Dunkel um die Asse gebracht werden muss, rufen wir als Linke auf, sich am
26. Februar an der Lichterkette zu beteiligen, die von
Braunschweig über Wolfenbüttel bis zur Asse gehen
soll. Diese Lichterkette steht unter dem Motto: „AufpASSEn! Wir bringen Licht ins Dunkel.“
({6})
Ich glaube, wir alle sind gut beraten, das Engagement
der Bürgerinnen und Bürger in der Region sehr ernst zu
nehmen und es als Hilfe und Unterstützung für unsere
gemeinsamen Bemühungen zu betrachten.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl das Wort.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Staatssekretär Müller, Ihnen erst einmal herzlichen Dank für die versprochene Offenheit,
aber Sie sehen es mir nach, wenn ich in diesen vier
Minuten nur zu dem rede, worauf sich unser Änderungsantrag begründet. Ich will ganz kurz auf die missverständlichen Formulierungen eingehen. Frau Menzner hat
darauf schon Bezug genommen. Ich kann wirklich nicht
verstehen, mit welcher Beratungsresistenz Sie vorgehen.
Es wäre ein Leichtes gewesen, mit zwei Federstrichen an
zwei Stellen die missverständlichen Formulierungen
auszuräumen. Sie hätten damit der Bevölkerung vor Ort
beweisen können, dass sie Vertrauen haben kann.
({0})
Sie wissen doch, welches Misstrauen dort herrscht. Warum machen Sie das denn nicht? Was hätte es Sie gekostet? Nichts, vielleicht ein bisschen Zeit, aber die wollten
Sie sich offensichtlich nicht nehmen. Das Beratungsverfahren kann man gar nicht als solches bezeichnen. Eine
Woche Zeit veranschlagen Sie für die Atomgesetznovelle, die vor Ort auf solchen Widerstand stößt und
dort so viel Misstrauen weckt. Sie nehmen sich keine
Zeit, die Leute vor Ort zu der Atomgesetznovelle anzuhören, Sie nehmen sich keine Zeit, hier ein anständiges
Beratungsverfahren durchzuführen, aber Sie haben Zeit,
einen Änderungsantrag einzubringen, der die ganze Sache noch einmal verschärft und das Misstrauen vor Ort
weiter steigert.
({1})
Den haben die Koalitionsfraktionen eingebracht, und damit haben sie die Kostenfrage in die Debatte geworfen.
Vorher hat nämlich niemand von den Kosten geredet.
Jetzt wird darüber durchaus debattiert.
Die Frage, die die Kollegin Menzner eben aufgeworfen hat, warum bei all den guten Argumenten, die Sie haben, nämlich dass man die Atomkraftwerksbetreiber gar
nicht an den Kosten beteiligen könne, das eigentlich in
die Novelle musste, kann ich Ihnen beantworten. Es
musste in die Novelle, weil die Argumente, die vorgebracht werden, zumindest in der öffentlichen Sicht überhaupt nicht berechtigt sind. Es ist eine vollkommen
unberechtigte Argumentation, zumindest in der Wahrnehmung der Menschen vor Ort und derjenigen, die das
Verursacherprinzip ernst nehmen.
({2})
- Wir brauchen den Menschen vor Ort nichts einzureden. Die sind kompetent, die leben seit Jahrzehnten mit
der Asse und wissen, worum es geht.
({3})
Ihr Hauptargument ist, dass 90 Prozent des Inventars
der Asse aus der WAK kommen. Das ist eine öffentliche
Forschungseinrichtung, und deshalb muss die öffentliche
Hand die Kosten tragen. Ja, 90 Prozent des radioaktiven
Inventars kommen aus der WAK. Und wie kam es in die
WAK? Ist es dort geboren worden? Ist es vom Himmel
gefallen? Hat es der Klapperstorch gebracht? Nein, die
Kraftwerksbetreiber haben es gebracht, es war Atommüll aus den Kraftwerken.
({4})
Wir haben den Inventurbericht von 2002, den jeder von
Ihnen nachlesen kann. Da ist genau aufgelistet, was in
die WAK eingeliefert wurde und von da aus in die Asse
kam.
({5})
60 Prozent des radioaktiven Inventars der Asse - das
lässt sich leicht errechnen - stammen allein aus dem
Kernkraftwerk Obrigheim. Gilt das Verursacherprinzip
nicht mehr, wenn das Material einmal in einer Versuchsanlage war, oder wollen wir das Verursacherprinzip gelten lassen? Ich kann Sie an dieser Stelle wirklich nicht
verstehen. Ich glaube, Sie sind in diesen ganzen Krisen,
in denen Sie ständig Schutzschirme aufspannen, schon
so an Schutzschirme gewöhnt, dass Sie gar nicht anders
können, als jetzt in der Asse-Krise einen Schutzschirm
auch über die Atomkonzerne zu spannen, damit diese
ihre Milliardengewinne behalten können.
({6})
Diese wiederum nutzen das Geld für ihre Kampagnen,
sie nutzen es, um die Mär vom billigen Atomstrom zu
erzählen. Das ist die Kette, die Sie damit unterstützen.
({7})
- Das ist wahrscheinlich die ehrlichste Rede der Woche,
und das stört Sie vielleicht; das kann ich gut verstehen.
({8})
- Nein, die Redezeit ist noch nicht um. Ich habe noch ein
bisschen.
({9})
Ich will noch etwas zu dem Optionenvergleich sagen.
Wie uns Staatssekretär Müller vorhin dargelegt hat, gibt
es inzwischen die Aussage: Stabilität bis 2020. Das
heißt, die Realisierbarkeit der Option, den Müll herauszuholen, rückt deutlich näher; die Zeitschiene wird besser.
Wenn wir die Sicherheit der Anwohner im Sinn haben,
({10})
dann müssen wir die beste Option wählen. Wenn wir das
tun, dann wird es wirklich richtig teuer. Ich kann nicht
verstehen, warum die Verursacher des Atommülls, die
mit der Gefährlichkeit des Atommülls letztlich ursächlich zu dieser Sachlage beigetragen haben, bei der Frage,
wie wir vor Ort Sicherheit schaffen, völlig herausgehalten werden. Da finde ich Sie absolut inkonsequent.
Ich finde auch Umweltminister Gabriel absolut inkonsequent. In der gemeinsamen Sitzung von Forschungs- und Umweltausschuss hat er uns noch gesagt,
es sei richtig, die Atommüllverursacher zu beteiligen, er
wisse aber, dass es keine rechtliche Handhabe gebe und
der moralische Appell nicht reichen werde. Jetzt wischen Sie den moralischen Appell auch noch beiseite, indem Sie ausdrücklich hineinschreiben, dass die Kosten
der Bund trägt.
({11})
Sie machen sich damit bei den Menschen vor Ort doppelt unglaubwürdig. Sie machen die gute Arbeit, die dort
geleistet wird, ein Stück weit wieder kaputt. Das ist das
Bedauerlichste an der ganzen Geschichte.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Christoph Pries für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Pries.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die zehnte Novelle zum Atomgesetz
stand schon seit längerem auf unserer Agenda. Durch
eine Ausweitung wird die atomrechtliche Zuverlässigkeitsprüfung an die veränderte Sicherheitslage nach dem
11. September 2001 angepasst. Dass wir dies tun, ist
richtig. Dass es notwendig ist, macht wieder einmal
deutlich: Atomenergie ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie. Deshalb gilt: Die SPD-Bundestagsfraktion
steht zum Atomausstieg.
({0})
Im Zentrum des öffentlichen Interesses steht der
zweite Teil der vorliegenden Novelle: die Regelungen
zur Schachtanlage Asse II. Mit unserer heutigen Entscheidung schaffen wir die Rechtsgrundlage für den Betreiberwechsel.
Seit nunmehr 30 Tagen ist das Bundesamt für Strahlenschutz und damit das Bundesumweltministerium für
die Schachtanlage Asse II zuständig. Sie haben den Auftrag, die Anlage im Rahmen eines atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens stillzulegen. Wir ziehen damit
die Konsequenzen aus den Missständen in der Einrichtung, die im vergangenen Jahr an die Öffentlichkeit gelangt sind. Gleichzeitig erfüllen wir die Forderungen
vieler Bürgerinitiativen vor Ort.
Ich möchte aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion auf
zwei Aspekte eingehen, die die öffentliche Debatte der
letzten Wochen bestimmt haben: erstens auf den Optionenvergleich und die Möglichkeit einer vollständigen
oder teilweisen Rückholung der eingelagerten radioaktiven Abfälle. Von 1967 bis 1978 wurden in der
Schachtanlage Asse II 46 930 Kubikmeter schwach- und
mittelradioaktiver Abfall eingelagert. Laugenzuflüsse,
Einsturzgefahr oder radioaktive Kontaminierung, mit
denen wir heute zu kämpfen haben, wurden damals von
allen Experten ausgeschlossen. Wir müssen feststellen:
Die sogenannten Experten haben sich geirrt.
Unsere Aufgabe ist jetzt, unter den gegebenen Umständen die bestmögliche Lösung für Menschen und
Umwelt zu finden. Deshalb ermöglicht das vorliegende
Gesetz im Rahmen der Stilllegung der Schachtanlage
Asse II einen ergebnisoffenen Optionenvergleich. Dieser
Optionenvergleich umfasst auch die vollständige oder
teilweise Rückholung der eingelagerten Abfälle.
Der Bundesumweltminister und alle Fraktionen haben
sich sowohl hier im Plenum als auch bei der Beratung im
Ausschuss zur Durchführung des Optionenvergleichs bekannt. Das begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich.
({1})
Welche Lösung am Ende die größte Sicherheit bietet und
realisierbar ist, bleibt abzuwarten.
Entscheidend sind die Antworten auf folgende Fragen: Ist es möglich, das Grubengebäude so zu stabilisieren, dass eine Rückholung ohne Gefahr für Mensch und
Umwelt durchgeführt werden kann? Sind die Risiken für
die Beschäftigten bei einer möglichen Rückholung der
Abfälle vertretbar? Bis Ende des Jahres wird das Bundesamt für Strahlenschutz einen Abschlussbericht zum
Optionenvergleich vorlegen. Auf dieser Grundlage wird
dann eine Entscheidung über das Stilllegungskonzept für
die Schachtanlage Asse II zu fällen sein.
Der zweite Aspekt der Diskussion, den ich kurz beleuchten möchte, ist die Kostenfrage. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen und den Linken, Sie haben gefordert, die Atomindustrie an den Kosten der Stilllegung der Asse zu beteiligen. Solche Forderungen sind
ganz klar populistisches Wahlkampfgeklingel.
({2})
Es gibt 30 Jahre nach der Einlagerung keinerlei rechtliche Handhabe mehr, die Atomindustrie an den Kosten zu
beteiligen.
({3})
Die Schachtanlage Asse II war und ist eine bundeseigene Einrichtung. Daher steht der Bund auch in der finanziellen Verantwortung. Es ist unredlich, Frau
Kotting-Uhl, den Eindruck zu vermitteln, als würden wir
den Bürgerinnen und Bürgern leichtfertig Kosten aufbürden. Dem ist nicht so.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotzdem hat die
Kostendebatte auch einen positiven Nebeneffekt. Sie
macht wieder einmal deutlich, dass das Gerede vom billigen Atomstrom ein Märchen ist. Die dicke Atomrechnung für die Bürgerinnen und Bürger kommt oft spät,
aber, Herr Nüßlein, sie kommt immer.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Atomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11782, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11609 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
16/11783? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Vizepräsidentin Petra Pau
zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation ({0})
- Drucksache 16/10816 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/11763 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Michael Hartmann ({2})
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf Göbel
für die Unionsfraktion, Frank Hofmann für die SPDFraktion, die Kollegin Gisela Piltz für die FDP, der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke und der Kollege Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Der Beschluss des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung
des Schengener Informationssystems der zweiten Generation, SIS II, entwickelt den durch SIS I geschaffenen
Ausgleich für den Wegfall der europäischen Binnengrenzen zeitgemäß weiter. Die EU reagiert damit im Schengen-Raum auf neue Herausforderungen und eröffnet der
notwendigen Sicherung der Außengrenzen neue Perspektiven
Wir bedauern sehr, dass bis heute im Bereich der technischen Realisierung erhebliche Probleme aufgetreten
sind. Die Ursachen hierfür sollten schnellstmöglich beseitigt werden, um das Projekt zu einem erfolgreichen
Ende zu bringen. Der EU selbst müsste daran gelegen
sein, ihre Fähigkeit zur Schaffung komplexer Systeme unter Beweis zu stellen. Wegen der Hemmnisse im Bereich
der technischen Entwicklung von SIS II musste 2001 das
als Zwischenlösung von den Schengen-Staaten konzipierte „SISone4all“ in Betrieb genommen werden. Damit
konnten zunächst Teile der notwendigen Erweiterung umgesetzt werden.
Entgegen ersten Erwartungen ist es glücklicherweise
möglich, das „SISone4all“ sowohl qualitativ als auch
quantitativ mit den erforderlichen Aufrüstungen und Erweiterungen zu versehen. Dennoch muss die Entwicklung
von SIS II von der Kommission zügig zum Abschluss gebracht werden
Trotz dieser prozessualen Schwierigkeiten bei SIS II ist
die bereits angesprochene Umsetzung in nationales Recht
dringend geboten, um rechtzeitig die Legitimation für die
Nutzung und Verwendung von Daten zu schaffen. Die wesentlichen nationalen Rechtsvorschriften, die angepasst
werden, betreffen folgende Bereiche: Im Bundeskriminalamtgesetz wird die bislang in dem Gesetz zum
Schengener Durchführungsübereinkommen geregelte
Zentralstellenaufgabe des Bundeskriminalamtes für den
nationalen Teil des Schengener Informationssystems aufgenommen. Zudem werden Verweise auf das Schengener
Durchführungsübereinkommen durch Verweise auf den
Ratsbeschluss ersetzt und die Befugnis zur Datenübermittlung auf Basis völkerrechtlicher Verträge um
Rechtsakte der Europäischen Union ergänzt.
Im Bundesverfassungsschutzgesetz werden Bezugnahmen auf das Schengen-Recht entsprechend angepasst.
Zudem wird in der Strafprozessordnung die Ausschreibungsbefugnis für Fahrzeuge, welche bislang auf Kraftfahrzeuge beschränkt war, entsprechend den Möglichkeiten des Ratsbeschlusses auf Luft- und Wasserfahrzeuge
sowie auf Container erweitert.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
wurde bereits bei der letzten Änderung des BKA-Gesetzes
umfassend berücksichtigt. Nachträgliche Informationspflichten über erfolgte heimliche Maßnahmen des Staates
sind aus Gründen des Grundrechtschutzes notwendig.
Besondere Mechanismen, die verfassungsrechtlich
zwar nicht notwendig sind, sich aber in den Gesamtzusammenhang des Gesetzes einfügen, wurden in das
Gesetz integriert. So wurde die im Beschluss zum SIS II
enthaltene Vorschrift hinsichtlich der nachträglichen Benachrichtigung erweitert: Grundsätzlich muss der Betroffene nach Beendigung der Ausschreibung über diese
informiert werden. Wenn durch solch eine Benachrichtigung jedoch der Zweck der Ausschreibung gefährdet ist,
kann diese zurückgestellt werden. Wird solch eine Benachrichtigung länger als zwölf Monate zurückgestellt,
erfolgt eine richterliche Überprüfung auf Antrag der die
Ausschreibung veranlassenden Stelle. Damit bleibt die
Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Ausschreibung
bei der für die Einstellung der Daten innerstaatlich verantwortlichen Stelle.
Generell sind die hier geregelten Maßnahmen an das
Inkrafttreten des europäischen Beschlusses gekoppelt.
Dies kann natürlich nicht für die Vorschriften für die Ausschreibung zur Sachfahndung gelten. Diese treten früher
in Kraft, um bereits jetzt die entsprechenden Fahndungen
durchführen zu können.
Abschließend will ich nochmals betonen, dass das
SIS-II-Gesetz die notwendige Kompensation des Wegfalls
der Binnengrenzen im Schengen-Raum und damit einen
wesentlichen Bestandteil zur Verwirklichung des europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts darstellt. Daher hat es eine breite Zustimmung
verdient.
Der Titel der heutigen zweiten und dritten Lesung
„Entwurf eines Gesetzes zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation ({0})“ suggeriert, es gäbe schon die zweite Generation des Schengener Informationssystems. Weit gefehlt!
2001 wurde der EU-Kommission die Entwicklung von
SIS II übertragen, und dies sollte ursprünglich im DezemFrank Hofmann ({1})
ber 2007 eingeführt werden. Heute ist das immer noch
Zukunftsmusik, und wohl niemand ist sich mehr sicher, ob
SIS II in absehbarer Zeit ans Laufen kommt.
Was ist das SIS? Es handelt sich hierbei um ein automatisiertes Personen- und Sachfahndungssystem, das es
den für die Grenz- und sonstigen Zoll- und Polizeikontrollen und deren Koordinierung zuständigen Behörden
der beteiligten Länder ermöglicht, sich Informationen
über Personen und Objekte zu beschaffen. Dieses Informationssystem ist seit dem 26. März 1995 in Betrieb. An
diesem Tage wurden die Binnengrenzen der an der Schengen-Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten abgeschafft.
Dieses Fahndungssystem über Ländergrenzen hinweg
ist ein Erfolgsmodell für die schnelle und effektive Fahndung in einer globalisierten EU. Ein Europa ohne Grenzkontrollen, aber mit den herkömmlichen Instrumenten
der grenzüberschreitenden Fahndung wäre nicht denkbar. Das Ausschreibungsvolumen beträgt ausweislich des
Erfahrungsberichts von 2007 17,6 Millionen Fahndungen und hat sich gegenüber 2004 um 50 Prozent erhöht.
Heute, im erweiterten Schengen-Raum, sind ungefähr
26 Millionen Fahndungen mit steigender Tendenz zu verzeichnen. Fahndungstreffer mit Deutschlandbezug stiegen um circa 30 Prozent. Zu den Schengen-Mitgliedstaaten zählen die EU-Staaten in der Ausdehnung von 2007,
ohne Großbritannien, Zypern, Irland, Bulgarien, Rumänien, zuzüglich Island und Norwegen.
Da das SIS von 1995 für den Anschluss von maximal
18 Staaten ausgelegt ist, konnten nicht alle Staaten nach
den EU-Erweiterungen aufgenommen werden. Eine Interimslösung - SISone4all - ermöglichte die zeitnahe Einbindung von 24 Teilnehmerstaaten. Fünf EU-Staaten sind
noch nicht an das SIS angeschlossen. Die Unsicherheit
über die tatsächliche Inbetriebnahme von SIS II veranlasste die Koalitionsfraktionen, das Gesetz in zwei Teilen
in Kraft treten zu lassen. Alle Rechtsgrundlagen, die nicht
an die Anwendbarkeit von SIS II gekoppelt sind, können
sofort in Kraft treten. Das ist vernünftig.
Des Weiteren wird dieses Gesetz für gesetzestechnische Bereinigungen genutzt. So wird die Aufgabenzuweisung an das BKA als Zentralstelle nun im BKA-Gesetz zu
finden sein. Die Regelung zur Ausschreibung von amtlichen Kennzeichen von Kfz auch auf Wasser-, Luftfahrzeuge und Container wird erweitert, da sich hier ebenfalls oftmals ein fahndungsrelevanter Personenbezug
feststellen lässt.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben mit der CDU/CSU vereinbart, dass künftig bei der
Benachrichtigung von verdeckten Ausschreibungen die
neuen Regelungen, wie sie in der Strafprozessordnung,
§ 101 Abs. 5 und 6, und im neuen BKA-Gesetz, § 20 w
Abs. 2 und 3, entwickelt wurden, gelten sollen. Das heißt:
Sollte der Betroffene bei verdeckten Maßnahmen nachträglich nicht unterrichtet werden, hat das letztendlich
ein Gericht und nicht die involvierte Behörde zu entscheiden. Dies ist für uns Ausfluss aus der Rechtswegegarantie
des Art. 19 IV GG. Die damit verbundene Frage nach der
gerichtlichen Zuständigkeit haben wir praxisnah gelöst.
Das SIS ist eine effiziente und erfolgreiche Ausgleichsmaßnahme, die einen einheitlichen Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts ermöglicht. Dieses Instrument muss ständig angepasst und fortgeschrieben werden. Das tun wir heute. Deshalb bitte ich um Zustimmung
zu diesem Gesetz.
Das Schengener Informationssystem steht schon von
Anfang an im Verdacht, nicht allein dazu zu dienen, die im
Schengen-Raum entfallenen Grenzkontrollen durch verbesserte Zusammenarbeit der europäischen Strafverfolgungsbehörden bei der Fahndung zu kompensieren, sondern vielmehr den Grundstein für eine gemeinsame
allgemeine Kriminalitätsdatei zu legen. Mit den geplanten Weiterungen zu SIS II wird diese Gefahr evident.
Denn durch die Einbeziehung zahlreicher neuer Merkmale in die Datei, durch die - noch freiwillige - Möglichkeit, die Daten für alle durch zentralen Serverzugriff
zugänglich zu machen, und durch die nach wie vor ausgesprochen mangelhaften Benachrichtigungspflichten
verändert sich der Charakter der Fahndungsdatei zusehends weiter in Richtung einer allgemeinen Informationsdatei der Sicherheitsbehörden in Europa.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es im Grunde sogar zu
begrüßen, dass die Einführung von SIS II immer weiter
verschoben wurde und so die Neuerungen aufgrund technischer Unfähigkeit noch nicht in Kraft treten konnten.
Allerdings ist es ja kein Zustand, dass hier Haushaltsmittel verbrannt werden, ohne dass ein Erfolg auch nur in
greifbare Nähe gerückt ist. Und erst recht wird dadurch
nicht das grundsätzliche Problem gelöst: SIS ist unter
dem Gesichtspunkt der Achtung der Grundrechte fragwürdig und muss von Grund auf verbessert werden.
Unter den Neuerungen, die mit SIS II geplant sind, gibt
es einige, die besonders kritisch zu betrachten sind. So ist
die Aufnahme von biometrischen Daten wie Lichtbildern
und Fingerabdrücken in das System vorgesehen, wobei
eine Speicherung und Abfrage auch über den Ablauf aktueller Fahndungen hinaus vorgenommen werden kann.
Damit wird SIS zu einer zentralen europäischen Datenbank mit biometrischen Daten ausgebaut, ohne aber auf
der anderen Seite den Schutz der informationellen Selbstbestimmung zu verbessern, was angesichts der besonderen Art dieser sensiblen Daten unerlässlich ist.
Auch die Erweiterung der Tatbestände, zu denen
Fahndungen in SIS eingespeist werden können, zeigt,
dass es darum geht, mittelfristig eine zentrale Kriminalitätsdatei in Europa aufzubauen, die mit dem ursprünglichen Zweck, diejenigen, die früher an den Grenzen aufgegriffen worden wären, auch weiterhin dingfest machen
zu können, nichts mehr zu tun hat. Das Ganze scheint sich
mehr und mehr zu verselbstständigen und von seiner ursprünglichen Zielsetzung zu entfernen.
Dafür spricht auch, dass künftig EUROPOL auf die
Datenbank zugreifen können soll. Dies ist umso bedenklicher, als der Status von EUROPOL, der mit dem Lissabon-Vertrag rechtsstaatlich hätte abgesichert werden
sollen, nach wie vor unbefriedigend ist. Die parlamentarische Kontrolle ist derzeit nicht gegeben. Eine Weiterung
Zu Protokoll gegebene Reden
der Kompetenzen ist daher jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt strikt abzulehnen.
Der bereits erwähnte Zugriff auf die Zentraldatei in
Straßburg statt auf die jeweiligen nationalen Kopien der
Datenbank birgt neue Gefahren für die informationelle
Selbstbestimmung, wenn zentral gespeichert, verknüpft,
ausgewertet und referenziert werden kann, welche Behörde zu welchem Zeitpunkt welche Suchabfragen getätigt hat. Diese Art des zentralen Zugriffs ist mehr als nur
ein technisches Merkmal, sondern birgt neue Gefahren
für die Grundrechte. Schon das derzeitige SIS krankt an
der mangelnden Kontrolle vor allem im Hinblick auf die
Wahrung der Grundrechte. Durch die Weiterungen des
Systems in SIS II werden diese Probleme nicht behoben,
sondern fortgeführt - und sogar noch verschärft, weil
weitere sensible Daten eingespeist und der Zugriff darauf
noch ausgeweitet wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die
rechtsstaatliche Bedeutung von Benachrichtigungspflichten im Zusammenhang mit heimlichen Maßnahmen
der Sicherheitsbehörden hervorgehoben. Die Möglichkeit, sich gegen Maßnahmen des Staates durch Nutzung
des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes wehren
zu können, werden endgültig abgeschnitten, wenn nicht
benachrichtigt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat
hierfür zu Recht hohe Hürden gefordert. Ich will nicht
verkennen, dass die Regierungskoalition mit ihrem Änderungsantrag immerhin diese Problem aufgegriffen hat
und nun wenigstens vorgesehen ist, dass bei einer Verlängerung der Zurückstellung der rechtsstaatlich gebotenen
Benachrichtigung eine richterliche Entscheidung einzuholen ist. Die zuvor vorgesehene alleinige Entscheidung
der zuständigen Behörde wäre gänzlich unerträglich gewesen. Allerdings ändert auch der neue Gesetzentwurf
nichts daran, dass zahlreiche Ausnahmen ermöglichen,
von der Benachrichtigung abzusehen. Die traurige Erfahrung mit derartigen Regelungen zeigt, dass von diesen
fleißig Gebrauch gemacht wird und schließlich die Benachrichtigung eher zur Ausnahme wird. Das steht in
eklatantem Widerspruch zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts.
Die nun eingetretene Verzögerung bei der Einführung
von SIS II muss dazu genutzt werden, innezuhalten und
das gesamte System von Grund auf kritisch zu prüfen und
zu überarbeiten. Ein schlichtes „Weiter so“ darf es
keinesfalls geben. Bevor aber diese Grundsatzentscheidungen getroffen sind, ist eine Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs nicht sinnvoll. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf daher ab. Statt
dessen fordert sie von der Bundesregierung, sich in Brüssel dafür einzusetzen, das SIS einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen, in der Zwischenzeit keine weiteren
Mittel in die Umsetzung von SIS II zu verschwenden und
auf europäischer Ebene darauf hinzuwirken, das SIS auf
den ursprünglichen Sinn und Zweck beschränkt wird und
zudem rechtsstaatlich gebotene Sicherungsmechanismen
strikt beachtet werden.
Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in
Europa benötigt zu ihrer rechtsstaatlichen Absicherung
dringend ein datenschutzrechtliches Korrektiv. Es ist
höchste Zeit für einen entsprechenden Rahmenbeschluss.
Wir beraten heute in abschließender Lesung über einen Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zum
Schengener Informationssystem der zweiten Generation,
SIS II. Soll heißen: Wir diskutieren heute erneut über ein
Gesetz, das auf ein technisches System zurückgeht, welches gar nicht existiert, eine Seifenblase, die längst geplatzt ist. Wir diskutieren also über ein System, das nicht
nur nicht existiert, sondern das auch nicht funktioniert
und das zudem niemand in Europa braucht. Mehr noch:
Wir beraten über ein Gesetz der Bundesregierung, das
sich auf ein Überwachungsprojekt der Regierungen und
ihrer Law-and-Order-Fraktionen bezieht, das gescheitert
ist.
Bundesminister Schäuble hält dennoch an SIS II fest.
Daher muss es auch nicht verwundern, dass ein Gesetz
zur Handhabung von SIS II in Deutschland, in und zwischen den verschiedenen Sicherheitsinstitutionen, trotz
des Wegfalls der logischen Grundlage verabschiedet werden soll. Schäuble betätigt sich als Geisterfahrer, nach
dem Motto: Augen zu und durch!
Dies kann nicht auf das Wohlwollen der Mitglieder des
Deutschen Bundestages stoßen. Die Linke wird vor dem
Hintergrund der Nichtexistenz von SIS II dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen, auch weil, wie dem
informellen Ratstreffen der Innen- und Justizminister der
EU in Prag zu entnehmen war, wohl in Zukunft nicht mit
einem erfolgreichen Einsatz von SIS II zu rechnen ist.
Vielmehr geht der Weg dieses System geradewegs in die
Mülltonne. Aus gutem Grund: Vor der Erweiterung des
Schengen-Raumes auf die nach 2004 zur EU neu hinzugekommen Mitgliedstaaten wurde die Initiative zum Aufbau von SIS II geboren und mit viel personellem, technischem und vor allem finanziellem Aufwand durch
deutsche und europäische Sicherheitsbehörden befördert.
Seit 2007 warten wir nun auf SIS II. Doch bis heute kann
niemand, auch die Bundesregierung nicht, sagen, wann
das System arbeitsfähig sein wird. Augenscheinlich bereitet die technische Umsetzung der Speicherung biometrischer Daten und der Anschluss weiterer, auch geheimdienstlicher Behörden europaweit Probleme bei der
Verwirklichung von SIS II. Technische Probleme gibt es
aufgrund zusätzlicher Funktionen gegenüber dem heute
verwendeten System, SISone4all also, die die Linke immer auch aus politischen, rechtlichen und bürgerrechtlichen Aspekten kritisiert und abgelehnt hat.
Die Linke hat deshalb einen Entschließungsantrag zu
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung eingereicht, und
ich bitte Sie um Zustimmung. Kern unseres Entschließungsantrages ist, dass es trotz mehrjähriger Vorbereitungs- und Planungsphase der Europäischen Union und
den Mitgliedstaaten der EU nicht gelungen ist, ein arbeitsfähiges Schengener Informationssystem der zweiten
Generation, SIS II, aufzubauen oder in Betrieb zu nehmen. Das SIS-II-Projekt befindet sich komplett außerhalb
des Zeitplans. Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung,
der eine Anpassung der Rechtsvorschriften auf der
Zu Protokoll gegebene Reden
Grundlage der Verordnung und des Beschlusses des
Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung von SIS II vorsieht,
wurde durch die objektiven Probleme und Defizite die logische Grundlage entzogen. Eine Änderung nationaler
Rechtsvorschriften ist zum jetzigen Zeitpunkt deshalb
nicht zu vertreten. Die deutsche Bundesregierung hat zudem bis heute keine Auskunft über die durch sie exakt aufgewendeten finanziellen Mittel zur Entwicklung von
SIS II gegeben. Auch die Mehrkosten, die durch die
„technischen Probleme“ bei der Entwicklung von SIS II
der EU und den Mitgliedstaaten entstanden sind, wollte
die Bundesregierung bislang nicht exakt beziffern.
Wichtig ist aber vor allem die Tatsache, dass die Erweiterung des Schengen-Raumes auch ohne die Inbetriebnahme oder schlichte Existenz von SIS II ohne erkennbaren Sicherheitsnachteil für die Bürgerinnen und
Bürger der Mitgliedsstaaten der EU vorgenommen werden konnte.
Die Linke fordert daher, die weitere Arbeit am Schengener Informationssystem der zweiten Generation einzustellen, sich im zuständigen Ministerrat auf europäischer
Ebene für einen endgültigen Stopp des Projektes einzusetzen und von einer späteren Einführung von SIS II oder
ähnlichen Konzepten Abstand zu nehmen. Das bedeutet
eben auch, den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung abzulehnen. Vielmehr müssen alle verfügbaren
Informationen zur technischen Entwicklung und finanziellen Ausgestaltung von SIS II für eine intensive Evaluation durch den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament den jeweils zuständigen Ausschüssen
umgehend zugeleitet werden.
Oft werden wir hier in Berlin mit dem Vorurteil konfrontiert, die europäische Politik eile uns voraus und wir
würden bloß hinterherhinken. Heute ist das mal anders.
Doch anstatt mich darüber zu freuen, begegne ich dem
hier Geplanten mit Sorge und Verärgerung. Es geht heute
darum, in Deutschland die rechtliche Grundlage für die
Einführung eines neuen europaweiten Informationssystems zu legen, des Schengener Informationssystems der
zweiten Generation oder abgekürzt SIS II. Allerdings ist
dieses System nach vielen Jahren der Vorbereitung und
Planung immer noch nicht funktionsfähig. Zu allem
Überdruss wissen wir auch nicht, wann wir mit der Einsatzfähigkeit von SIS II rechnen können und ob dieses einmal als europäisches Vorzeigeprojekt betitelte System
überhaupt arbeitsfähig sein wird.
Das SIS II, mit dem personenbezogene und andere Daten zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden
sollen, soll das Schengener Informationssystem bzw. das
Übergangssystem SISone4Aall ersetzen. Die Inbetriebnahme von SIS II war für März 2007 geplant. Dies, so
hatte die Bundesregierung mit lautem Getöse verkündet,
sei eine Priorität ihrer Ratspräsidentschaft.
Nun haben wir Januar 2009 und das Prestigeprojekt
der europäischen Innenminister hängt immer noch in der
Luft. Der Grund seien technische Probleme, so heißt es
jedenfalls. Fakt ist jedoch, dass die Bundesregierung als
wichtige Initiatorin und Befürworterin des SIS II die
Gründe für die jahrelange Verzögerung nicht transparent
macht. Noch nicht einmal der Bundestag kann somit
nachvollziehen, wie es zu dieser fatalen Fehlplanung
kommen konnte und was genau die Gründe dafür sind.
Der Bundesminister des Innern scheint wohl einfach zu
hoffen, dass die weitere Entwicklung von SIS II in dem
Wust der zahlreichen neuen Initiativen in der europäischen Innen- und Justizpolitik untergeht. So einfach ist es
aber nicht, Herr Schäuble. Sie müssen Verantwortlichkeit
beweisen und den Sachstand auf nachvollziehbare Weise
dem Bundestag und den Bürgerinnen und Bürgern erklären, zumal - und das ist ein ganz wesentlicher Punkt - die
deutschen Steuerzahler für solche Projekte aufkommen.
Das SIS II ist auf dem besten Weg, ein schwarzes Loch zu
werden, in dem horrende Summen von Steuergeldern der
europäischen Bürgerinnen und Bürger einfach verschwinden. Gerade in Zeiten, in denen immer mehr persönliche Daten europaweit und weltweit ausgetauscht
werden und der Datenschutz eine entscheidende Rolle
spielt, nehmen wir eine solche Entwicklung nicht einfach
hin.
Auf ihrem informellen Treffen am 15. und 16. Januar
2009 in Prag haben sich die europäischen Innen- und
Justizminister und -ministerinnen mit der zukünftigen
Entwicklung von SIS II befasst. In dem Nachbericht des
Bundesinnenministeriums heißt es, dass man nun zweigleisig fahren wolle. Einerseits soll ein Reparaturszenario für SIS II entworfen werden und andererseits soll an
einer Alternative gearbeitet werden, die auf dem bisherigen System - dem SISone4all - aufbaut. Ich weiß nicht,
was Sie sich, meine Damen und Herren, darunter konkret
vorstellen, aber bei mir wirft eine solche Aussage eher
neue Fragen auf, als dass alte beantwortet werden.
Wir Grüne haben die konzeptionelle Ausrichtung von
SIS II von Beginn an mit Sorge verfolgt. SIS war ursprünglich ein System, welches die Fahndung nach Personen und Sachgegenständen in einem Europa der offenen Grenzen möglich machen sollte. Doch SIS II sieht
eine Ausweitung der gespeicherten Datensätze, eine Verlängerung der Speicherfristen und dazu noch eine Speicherung biometrischer Daten vor. Somit läuft es Gefahr,
zu einem umfassenden polizeilichen Informationssystem
zu werden. Darüber hinaus soll mit SIS II auch der Kreis
der zugriffsberechtigten Behörden erweitert werden. Das
führt zu einer Aufweichung der Zweckbindung der vorhandenen Daten und öffnet die Tür für eine uferlose Verbreitung personenbezogener Daten. Gleichzeitig weist
der Datenschutzstandard innerhalb der EU immer noch
Schwächen auf. In diesem Zusammenhang haben wir
Grüne immer die Auffassung des Europäischen Datenschutzbeauftragten geteilt. Der hatte sich für eine Folgenabschätzung hinsichtlich der Einführung von SIS
ausgesprochen. Solch eine Abschätzung hat es aber bedauerlicherweise nie gegeben.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die schlechte Einbindung
der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments: Bereits bei der konkreten Ausgestaltung von SIS II
waren sie nicht beteiligt und nun werden sie auch über die
zeitliche Verzögerung und deren Gründe unzureichend
informiert. Ein gutes Beispiel für den unverantwortlichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Umgang der Bundesregierung mit diesem Thema war ihr
Versuch im Oktober 2006, nationalen Geheimdiensten einen direkten Zugang zu SIS II zu ermöglichen. Bundesinnenminister Schäuble wollte somit das verfassungsrechtlich verankerte Trennungsgebot zwischen Polizei
und Nachrichtendiensten durch die europäische Hintertür umgehen. Zum Glück hat das Europäische Parlament
dies in erster Lesung verhindert.
Die Freizügigkeit und die ungehinderte Reisefreiheit
der Menschen in Europa sind zentrale Errungenschaften
der Europäischen Union. Der Abbau der Grenzposten
macht das Zusammenwachsen Europas für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar. Deshalb haben wir die Ausweitung des Schengen-Raumes auf den Großteil der neuen
Mitgliedstaaten im Dezember 2007 sehr begrüßt. Die
Schaffung einer Übergangslösung des SISone4all war
hier richtig. Dass nun die Bürger und Bürgerinnen
Zyperns, Bulgariens und Rumäniens ihr Recht auf ungehinderte Reisefreiheit auch wahrnehmen wollen, ist verständlich. Doch die offenen Fragen und die datenschutzrechtlichen Bedenken in Bezug auf SIS II bleiben. Es muss
doch möglich sein, Freizügigkeit für alle Bürger und Bürgerinnen der EU herzustellen, ohne ihre Bürgerrechte,
wie zum Beispiel den Schutz ihrer persönlichen Daten,
massiv zu beschneiden.
Das Gezerre und Gezetere um SIS II ist unklar und unverantwortlich. Demzufolge lehnen wir den Gesetzentwurf zur Umsetzung von SIS II ab, entlassen den Bundesminister des Innern aber nicht aus seiner Verantwortung,
die Probleme mit SIS II zu klären.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation. Der
Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11763, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10816 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDPFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/11776. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung im SGB II - Beschäftigung
fördern statt Zwangsumzüge
- Drucksache 16/11683 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einiger Zeit erzählte mir eine junge Frau, die infolge einer
schweren Krankheit jetzt auf Hartz IV angewiesen ist,
von ihren Schwierigkeiten bei der Suche nach einer
neuen Wohnung. Mehrere Vermieter hatten sie abgelehnt, als sie hörten, dass sie auf Hartz IV angewiesen
ist. Als sie endlich eine kleine Wohnung gefunden hatte,
musste sie feststellen, dass die Miete immer noch 7 Euro
über dem erlaubten Satz liegt. Dann begann eine schwierige Verhandlung über eine Mietsenkung um 7 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, eines
sollten wir uns immer wieder vergegenwärtigen, wenn
wir hier über die Angemessenheit von Wohnkosten für
Hartz-IV-Betroffene reden: Für Menschen, die auf
Hartz IV angewiesen sind, ist die Suche nach einer
neuen Wohnung eben kein Kinderspiel. Der Umzug wird
von vielen Menschen als Manifestation des sozialen Abstiegs gewertet und empfunden.
({0})
Vor diesem Hintergrund meine ich: Wir brauchen
deutlich großzügigere Regelungen für die Wohnkosten
im Bereich Hartz IV. Denn der Umzug in eine kleinere
und billigere Wohnung nach Hartz-IV-Kriterien bedeutet
eben häufig auch den Verlust von sozialen Netzwerken,
von vertrauten Hilfenetzwerken. Bisher konnte sich beispielsweise die Alleinerziehende darauf verlassen, dass
im Bedarfsfalle auch einmal die Nachbarin nach den
Kindern schaute. Im neuen Wohngebiet kennt sie noch
niemanden. Dabei ist der Aufprall in Hartz IV schon ohnedem wahrlich schwer genug.
Hinzu kommt: Je strikter die Kriterien für die Angemessenheit, umso stärker ist die Gefahr einer sozialen
Aufspaltung nach Wohnorten. Wenn Hartz-IV-Beziehende nur noch in ganz bestimmten Wohnvierteln überhaupt eine Wohnung finden, die den Kriterien entspricht,
dann droht eine Gettoisierung von Hartz-IV-Beziehenden. Über kurz oder lang wird es womöglich heißen:
Sage mir, wie deine Postleitzahl ist, und ich sage dir, wie
dein sozialer Status ist. Das muss verhindert werden.
({1})
Nun hat es in Berlin mit der AV-Wohnen eine Regelung gegeben, wonach für Hartz-IV-Betroffene die tatsächlichen Wohnkosten die ersten zwölf Monate komplett übernommen wurden. Erwerbslose waren also nicht
sofort gezwungen, sich eine neue Wohnung zu suchen.
Für diese Regelung gab es einen guten Grund:
43 Prozent all derjenigen, die in Hartz IV gelandet sind,
haben es geschafft, innerhalb der ersten zwölf Monate
den Leistungsbezug zu beenden. In Berlin hat man also
die gute Erfahrung gemacht, dass es besser ist, die Menschen konzentrieren sich auf die Suche nach einer neuen
Arbeit oder nach einer neuen Betätigung, anstatt dass sie
sich auf die mühselige Suche nach einer neuen Wohnung, die den Hartz-IV-Kriterien entspricht, machen.
Generell kann man sagen, dass die Berliner Regelung
im Vergleich zum Bundesdurchschnitt vorbildlich ist.
Nur 1,8 Prozent aller Betroffenen haben in Berlin eine
Aufforderung bekommen, die Wohnkosten zu senken.
Dies sieht in anderen Städten wahrlich schlechter aus. In
Dresden oder anderswo beträgt der Anteil derjenigen,
die eine solche Aufforderung bekommen, bis zu 30 Prozent.
Diese gute Berliner Regelung im Sinne der Erwerbslosen wird nun durch das Bundesgesetz behindert. § 22
des SGB II schreibt vor, dass nur noch für die ersten
sechs Monate die Wohnkosten komplett übernommen
werden können. Danach müssen Erwerbslose in eine billigere Wohnung umziehen. Deswegen sagen wir von der
Linken: Wir müssen dringend § 22 ändern. Anstatt Berlin zu einer Verschlechterung zu zwingen, sollte das Berliner Beispiel bundesweit Schule machen.
({2})
In diesem Zusammenhang werbe ich um Zustimmung
für unseren Antrag. Wenn man diese Regeln und die
großzügigeren Vorschläge des Deutschen Vereins zur
Ausgestaltung der Angemessenheit der Unterkunftskosten anwendet, dann werden wir die soziale Aufspaltung
zwar nicht komplett verhindern, aber wir werden sie zumindest abmildern. Damit können wir einen Beitrag
dazu leisten, dass es in Zukunft nicht heißt: Sage mir,
wie deine Postleitzahl ist, und ich sage dir, wie dein sozialer Status ist.
Besten Dank.
({3})
Die Rede des Kollegen Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll. Ebenfalls neh-
men wir die Rede des Kollegen Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion, die Rede der Kollegin Angelika
Krüger-Leißner für die SPD-Fraktion und den Beitrag
des Kollegen Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufnahme von Gefangenen aus Guantánamo
Bay ermöglichen
- Drucksache 16/11759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bundesinnenminister Schäuble hat kürzlich
erklärt, wer fünf Jahre in Guantánamo inhaftiert gewesen sei, sei wahrscheinlich noch gefährlicher als ohne
eine solche Leidenszeit. Der bayerische Innenminister
hat hinzugefügt, dass die Gefangenen dort gewiss nicht
völlig grundlos einsäßen. Damit erklärt also ein deutscher Innenminister die Unschuldsvermutung für erledigt.
({0})
Mit solchen Äußerungen stellen sich deutsche Minister
außerhalb des so überaus wertvollen Prinzips der Un-
schuldsvermutung, das ein Rechtsstaatsprinzip ist.
Wir alle hier kritisieren das Lager Guantánamo Bay
seit Jahren. Darin sitzen - das wissen wir nicht erst seit
gestern - seit vielen Jahren Menschen ohne Aussicht auf
ein freies und faires Verfahren. Da ich aus Bremen
komme, das mit dem Namen Murat Kurnaz verbunden
ist, weiß ich, wovon ich rede. Es gab in Guantánamo Er-
eignisse, die unter dem Begriff Folter subsumiert werden
müssen. Denn sind Elektroschocks, sexuelle Demütigun-
gen, die Androhung der Erschießung und die Simulation
des Ertränkens, das schreckliche Water-Boarding, anders
als Folter zu bezeichnen?
1) Anlage 2
Marieluise Beck ({1})
({2})
Guantánamo war und ist ein Schandmal der USA und
damit auch ein Schandmal des Westens. Mit Guantánamo
ist auf dramatische Weise menschenrechtliche Glaubwürdigkeit verspielt worden. Gestärkt worden sind damit extremistische Kräfte in muslimischen Ländern, die
sicherlich oft gar nicht so böse über die Bilder waren, die
aus Guantánamo kamen.
Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grindel?
Ja.
Frau Kollegin, würden Sie mir vor dem Hintergrund,
dass Sie die Lage in Guantánamo sehr eindrucksvoll
schildern, Sie als Bremer Abgeordnete auf den Fall
Murat Kurnaz hinweisen und Sie ein Mitglied der Fraktion der Grünen sind, einmal schildern, ob Sie mit dem,
was der frühere Außenminister Fischer getan oder vielleicht auch nicht getan hat, um Herrn Kurnaz dieses Leid
zu ersparen, einverstanden sind. Oder sagen Sie, dass es
auch in Ihren Reihen das eine oder andere Defizit gibt,
wenn es darum geht, Menschen ein solches Schicksal zu
ersparen?
Sie sind im Untersuchungsausschuss bis ins Einzelne
der Frage nachgegangen, wer an welcher Stelle nicht
korrekt gehandelt hat. Wenn ich es richtig sehe, sind
keine Vorwürfe gegenüber dem früheren Bundesaußenminister Fischer im Raum geblieben.
({0})
Der neue amerikanische Präsident hat nun endlich
entschieden, dass das Lager geschlossen wird. Für die
Insassen soll es endlich rechtsstaatliche Verfahren geben, und all diejenigen, die nicht mehr tatverdächtig
sind, sollen freigelassen werden. Schon unter der BushAdministration ist davon gesprochen worden, dass mehr
als 60 Insassen nicht tatverdächtig sind.
Nun tut sich ein neues Problem auf: Wohin mit den
Menschen, die freigelassen werden sollen, aber nicht
mehr in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil
ihnen dort Folter und Verfolgung drohen? Wir Grünen
halten es für richtig, dass die Bundesregierung als Partner der demokratischen Allianz zur Lösung dieses Problems beiträgt. Wir sollten mit unseren europäischen
Partnern darüber beraten, wie wir die Aufnahme gemeinsam bewerkstelligen können, damit dieses menschenrechtliche Schandmal so zügig wie möglich beseitigt werden kann. Das allerdings würde die deutsche
Bereitschaft voraussetzen, zu prüfen, wen wir aufnehmen können; denn nur auf diese Art und Weise wird die
Schließung von Guantánamo möglich bzw. beschleunigt.
Ich bin mir sicher, so eine Haltung würde auch unseren Soldaten in Afghanistan bei ihrer schweren Aufgabe
helfen; denn die muslimischen Extremisten schüren
Hass auf der Grundlage der Bilder von Guantánamo.
Das Zeichen, dass wir bereit sind, mitzuhelfen, damit
Guantánamo geschlossen wird, würde - da bin ich mir
sicher - zu Anerkennung führen. Nicht ohne Grund gibt
es bei der Bewertung dieser Frage innerhalb der Bundesregierung eine Kluft. Bundesaußenminister Steinmeier
sieht das auch so; aber Bundesinnenminister Schäuble
nimmt diese außenpolitischen Interessen Deutschlands
anscheinend nicht wahr und bezieht sie nicht in seine
Überlegungen ein, was ein Bundesinnenminister aber
tun muss.
({1})
Auf einmal ist von transatlantischer Solidarität bei der
Union nicht mehr viel zu sehen. Guantánamo wurde
flugs zu einem Problem der USA erklärt. Jeder versteckt
sich hinter einer anderen Ausrede. Manch einer - oder
sollte ich besser sagen: manch „eine“ -, der vor vier Jahren den Waffengang der USA gegen den Irak für richtig
erklärt hat, ist heute eines Besseren belehrt. Ich fordere
die Bundesregierung deswegen auf, alles zu tun, damit
die durch die Bush-Administration zerstörte Glaubwürdigkeit des Westens in Menschenrechtsfragen wiederhergestellt wird, und zwar auch mit unserer Hilfe. Die
Bereitschaft, einige der in Guantánamo nachweislich unschuldig festgehaltenen Menschen hier aufzunehmen,
wäre so ein Schritt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Erika
Steinbach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es gibt eine wirklich gute Botschaft. Der neue
Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, einem
Land, dem wir uns sehr verbunden fühlen, hat erklärt:
Das Lager Guantánamo wird innerhalb eines Jahres geschlossen werden. Das ist eine gute Botschaft für die
Menschenrechte und für die seit vielen Jahren dort einsitzenden Gefangenen, die lange Zeit ohne die Möglichkeit einer Rechtsvertretung und ohne Aussicht auf einen
fairen Prozesses inhaftiert waren und zum Teil tatsächlich, wie uns die Bilder vor Augen geführt haben, der
Folter ausgesetzt waren.
({0})
Barack Obama, der Präsident, der das verkündet hat,
kann damit eines erreichen: Er kann die verlorene Ehre
der Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Frage
wiederherstellen. Das begrüße ich nachdrücklich.
Die USA haben dieses Lager eingerichtet. Die USA
haben die Menschen eingesperrt, und sie haben ihnen
den Rechtsweg versperrt. Natürlich ist es Aufgabe des
Verursachers, wenn das Lager aufgelöst werden soll,
selbst alles daranzusetzen, damit das auch geschieht. Ich
traue - das muss ich sagen - den Vereinigten Staaten von
Amerika, dem mächtigsten Land der Welt, zu, dass sie
das Lager, wo es noch nicht einmal um 500 Menschen
geht, auflösen können und werden, und zwar aus eigenen
Kräften. Dazu brauchen sie nicht die Unterstützung eines anderen Landes auf diesem Erdball. Das schaffen sie
alleine. Sie haben schließlich noch ganz andere Aufgaben vor sich, die sie lösen wollen.
Ich bin davon überzeugt: Nur wenn die USA das alleine schaffen, werden sie ihre Würde wiederherstellen
können. Sie müssen deutlich machen: Wir wollen wirklich alles tun, um das wieder in Ordnung zu bringen, was
wir verursacht haben. Dazu gehört auch eine Entschädigung der Insassen. Man kann nicht Menschen vieler
Jahre ihres Lebens berauben und sie am Ende einfach
nur entlassen und vielleicht auch noch in andere Gegenden abschieben. Es ist also nötig, dass Barack Obama,
dass die Vereinigten Staaten von Amerika in dieser
Frage sagen: Yes, we can! Das ist, glaube ich, ganz wesentlich.
Mich irritiert ein wenig, dass man hier in Deutschland
und manch anderem Nachbarland in Europa das Gefühl
hat, dass gesagt wird: Bitte, bitte, gebt uns doch auch einen Guantánamo-Häftling. Ich finde das bemerkenswert
vor dem Hintergrund, dass bis heute noch keine Anfrage
aus den USA vorliegt, wir mögen bitte Häftlinge aufnehmen. Ich glaube, es dauert noch eine ganze Weile, bis alles in die Wege geleitet ist, um das Lager aufzulösen.
Wir haben ja gesehen: Die Forderung, die Strafverfahren
um 120 Tage auszusetzen, ist im Moment in dem einen
oder anderen Fall gescheitert. Es wird noch mehr Probleme geben. Aber diese Probleme - davon bin ich fest
überzeugt - werden unsere Freunde in den Vereinigten
Staaten mit eigenen Kräften wunderbar selber lösen können.
Danke schön.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Werner
Hoyer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Präsident Obama setzt zu Beginn seiner Amtszeit sogleich deutliche Signale in der Außen- wie in der Innenpolitik. Das ist gut so. Die Schließung des Gefängnisses
in Guantánamo Bay ist überfällig; es hätte nie entstehen
dürfen.
({0})
Es ist mir als Freund der Vereinigten Staaten von
Amerika unbegreiflich, dass die letzte US-Administration die Augen davor verschlossen hat, welch unermesslichen Glaubwürdigkeitsverlust ihr Eintreten für Demokratie, Rechtsstaat und den Antiterrorkampf erlitten hat.
Das zeigt mir auch, dass die Werte des Westens, die Errungenschaften der Aufklärung und unseres modernen
Rechtsstaates, auch nach innen immer wieder verteidigt
und erneuert werden müssen.
({1})
Es ist vollkommen klar, dass Präsident Obama alles
daransetzen wird, das Gefängnis als Symbol des Unrechts und der Demütigungen so schnell wie möglich aus
der Welt zu schaffen. Er muss schnellstens diesen Schatten, der über der Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten liegt, loswerden, insbesondere dann, wenn sein sehr
begrüßenswerter neuer Ansatz in der muslimischen Welt
gelingen soll.
Zur Zurückgewinnung
der Glaubwürdigkeit gehört, dass die USA selbst die
Verantwortung für das Unrecht übernehmen, das sie den
Insassen von Guantánamo Bay angetan haben. Sie müssen und wollen zeigen, dass sie zu einer Kurskorrektur in
der Lage sind, dass sie Fehler eingestehen können und
hierfür die Verantwortung übernehmen. Ich finde übrigens: Das, was wir von der Entwicklung der letzten
zwölf Monate in den Vereinigten Staaten lernen können,
ist die Fähigkeit unserer amerikanischen Freunde zur
Selbstkorrektur und zur Wiederbesinnung auf die besten
amerikanischen Tugenden und Traditionen.
({0})
Das schließt die Möglichkeit eines Aufenthalts der
entlassenen Gefangenen in den Vereinigten Staaten und
entsprechende Entschädigungen ein. Verantwortung abzuwälzen wäre nur ein Teilerfolg. Das entspricht nicht
dem Geist, in dem Präsident Obama seine Präsidentschaft begonnen hat. Deswegen finde ich eine pauschale
Angebotspolitik oder eine Übernahmeangebotsüberbietungspolitik daneben.
Für uns Liberale ist klar: Die Vereinigten Staaten sind
hier selber in der Pflicht. Ich füge hinzu: Sie sind für alle
Insassen des Gefängnisses in Guantánamo Bay in der
Pflicht. Ich bin nicht bereit, eine weitere Kategorie von
Insassen zu schaffen, denen man zwar nichts nachweisen
konnte, bei denen man aber ein ungutes Gefühl hat; das
schwingt ja in den Diskussionen hierzulande manchmal
ein bisschen mit. Es wäre geradezu grotesk, wenn die
grundlose Inhaftierung in Guantánamo jetzt auch noch
als neues Verdachtsmoment gesehen würde. Das stellt
das Legalitätsprinzip auf den Kopf.
({1})
Wenn es am Ende des Tages tatsächlich noch Einzelfälle geben sollte, für die ein Aufenthalt in den USA
nicht möglich sein sollte, dann sind gegebenenfalls die
Europäische Union und auch Deutschland gefragt. Es
wird auf jeden Einzelfall ankommen und geprüft werden, welche Person in welchem europäischen Land aufgenommen werden kann. Deutschland sollte und wird
sich nicht sperren, wenn es einen Beitrag dazu leisten
kann, eines der düstersten Kapitel des Antiterrorkampfes
zu beenden und unserem amerikanischen Partner zu helfen.
Ich habe zum Schluss, Herr Staatsminister - Sie sprechen gleich nach mir -, noch eine Frage: Können Sie uns
einen Überblick geben, welche Probleme noch auf uns
zukommen, die nicht mit Guantánamo Bay zu tun haben,
sondern mit Bagram, mit anderen Gefängnissen in Afghanistan, im Irak und around the world? Bei diesen sind wir
möglicherweise direkter betroffen, weil es sich um Insassen handeln könnte - ich behaupte das nicht; aber ich
könnte es mir vorstellen -, deren Einweisung in diese
Strafanstalten mit aktivem Zutun deutscher Staatsbürger
geschehen ist. Darüber würde ich gern eine Information
haben.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Herr Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
US-Präsident Obama hat in einer seiner ersten Amtshandlungen die Schließung des Gefangenenlagers in
Guantánamo binnen Jahresfrist angeordnet. Damit löst
er nicht nur sein eigenes Wahlkampfversprechen ein. Er
kommt damit dem Wunsch zahlreicher befreundeter
Staaten nach, darunter auch Deutschland, die schon seit
langem die Schließung von Guantánamo gefordert hatten. Die Bundesregierung begrüßt daher die von Präsident Obama angeordnete Schließung des Gefangenenlagers; denn aus unserer Sicht - das haben andere
Kollegen auch schon zum Ausdruck gebracht - hat
Guantánamo nicht nur den USA, sondern auch der westlichen Wertegemeinschaft insgesamt erheblichen Schaden zugefügt.
({0})
Die Frage eventueller Beiträge europäischer Staaten
zur Schließung des Lagers wird derzeit nicht nur bei uns,
sondern auch in den USA selbst und in vielen anderen
Ländern kontrovers diskutiert. Die tschechische Ratspräsidentschaft hat das Thema auf die Tagesordnung des
EU-Außenministerrats Anfang dieser Woche gesetzt.
Die Außenminister waren sich einig, dass die EU hier
abgestimmt vorgehen sollte. Javier Solana wird gemeinsam mit der EU-Kommission Vorschläge für die weitere
Diskussion erarbeiten. Auch die EU-Innenminister haben sich zu dieser Frage bereits ausgetauscht. Sie sehen,
das Thema ist nicht vom Himmel gefallen, sondern
längst Gegenstand intensiver Diskussionen auf europäischer Ebene.
({1})
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Innenminister Wolfgang Schäuble haben am Dienstag zu diesem Thema miteinander gesprochen. Beide waren sich
einig, dass die Bundesregierung ein konkretes Anliegen
der US-Regierung an Deutschland, wenn es vorliegt,
verantwortungsvoll und konstruktiv prüfen wird. Das
schließt selbstverständlich ein, dass eventuelle Maßnahmen der Bundesregierung sowohl im Kreis der EU-Partner als auch mit den Bundesländern abgestimmt werden.
Um es ganz klar zu sagen: Es geht nicht um die Aufnahme von Terroristen, sondern darum, zu prüfen, ob
einzelnen Personen, die nach gründlicher Einzelfallprüfung offensichtlich unschuldig sind und denen zugleich
- das ist das Entscheidende - die Rückkehr in ihr Heimatland versperrt bleibt,
({2})
weil ihnen dort Repressalien drohen, Aufnahme gewährt
werden kann.
({3})
Dass es sich dabei zahlenmäßig um eine sehr überschaubare Anzahl von Personen handelt, sollte an dieser Stelle
noch einmal betont werden. Bislang gibt es jedoch noch
keine bilateralen Verhandlungen mit der US-Regierung
zu diesem Thema, auch nicht seitens der EU.
Die Schließung des Lagers Guantánamo entspricht einer langjährigen Forderung von Bundesregierung und
Europäischer Union. Wir haben immer wieder betont,
wie wichtig es ist, zwischen EU und USA zu einem gemeinsamen Verständnis von anwendbarem Völkerrecht,
der Wahrung der Menschenrechte und unseren rechtsstaatlichen wie humanitären Standards bei der Terrorismusbekämpfung zu gelangen.
Vor diesem Hintergrund stellen die jüngsten Entscheidungen Präsident Obamas einen bedeutenden Fortschritt
dar. Sie sind im europäischen Interesse und im Interesse
einer intensiven transatlantischen Partnerschaft. Für die
Bundesregierung ist es daher eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass wir die politische Initiative der neuen USRegierung, die einen möglichen Beitrag dritter Staaten
zur Schließung des Lagers umfasst, unterstützen. Eine
geringe Zahl von Personen - das sind konkrete Einzelfälle - wurde der Bundesregierung von einer amerikanischen Anwaltsvereinigung zur Aufnahme empfohlen.
Das New Yorker Center for Constitutional Rights hat
meines Wissens im November des vergangenen Jahres
auch mit Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses Gespräche geführt.
Selbstverständlich ist, abgesehen von den Herkunftsstaaten, zunächst die amerikanische Regierung für das
weitere Schicksal der Häftlinge verantwortlich. Doch
wir wissen auch, dass nicht alle Häftlinge - ich sagte es
schon - in ihre Herkunftsstaaten zurückkehren bzw. in
den USA verbleiben können.
Es ist unser gemeinsames transatlantisches Interesse,
das Vertrauen in die rechtsstaatliche und menschenrechtsstaatliche Substanz des Westens wiederherzustellen. Hierzu ist die rasche Schließung Guantánamos erforderlich. Deshalb sollten wir auch bereit sein, einen
Beitrag zu leisten, wenn dieser Wunsch an uns herangetragen wird.
Herr Kollege Hoyer, weil ich nicht in der Lage bin, in
meinen vier Minuten Redezeit auch noch Ihre Frage zu
beantworten, schlage ich vor, dass wir das im Ausschuss
nachholen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Michael Leutert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke hat das US-Gefangenenlager von Anfang an
als das bezeichnet, was es ist: als einen rechtsfreien
Raum, einen Ort der Folter, einen Ort, den es eigentlich
überhaupt nicht geben dürfte.
Die Grünen haben heute einen Antrag vorgelegt. Wir
unterstützen die darin erhobenen Forderungen. Im Wesentlichen geht es um die Aufnahme von erwiesenermaßen unschuldigen Inhaftierten, die nicht in ihre Heimat
zurückkehren können. Es geht darum, einen deutschen
Beitrag zu leisten, um den rechtsfreien Raum in
Guantánamo möglichst schnell zu schließen. Dabei geht
es um gerade einmal 50 unschuldige Menschen.
({0})
Die Linke sieht aufgrund dieser humanitären und politischen Erwägungen keinen akzeptablen Grund, diesem
Antrag nicht zuzustimmen.
Dennoch ein paar Anmerkungen, zunächst zur Haltung des Bundesinnenministers bzw. der Union. Auf den
ersten Blick ist das Argument von Herrn Schäuble einleuchtend: Die US-Regierung hat das Problem
Guantánamo geschaffen, also soll sie sich bitte schön
auch um die Folgen kümmern.
Erstens haben wir es aber mit zwei ziemlich unterschiedlich agierenden US-Regierungen zu tun. Zweitens
stößt dieses Verursacherprinzip schnell an seine Grenzen, weil es in dieser Debatte nicht um eine rechtliche
Pflicht zur Aufnahme geht, Frau Kollegin Steinbach,
sondern lediglich um eine humanitäre Geste.
({1})
Außerdem können Sie nicht so tun, als hätte die Bundesregierung mit dem System Guantánamo, also mit der
Verweigerung rechtsstaatlicher Normen und der Anwendung von Folter, überhaupt nichts zu tun. Es waren diese
Regierung und ihre Vorgängerregierung, die die Praktiken in Guantánamo viel und oft kritisiert haben. Mit ihren Taten haben sie sich aber sehr wohl in Komplizenschaft mit dem System Guantánamo geübt.
({2})
Ich erinnere nur an den Fall Murat Kurnaz und an die
geheimen CIA-Überflüge mit Gefangenen, die der Bundesregierung sehr wohl bekannt gewesen sind. Aus genau diesen Vorkommnissen erwächst eine moralische
Pflicht, in Guantánamo Inhaftierte auch in Deutschland
aufzunehmen.
({3})
Das alles wissen Sie, Frau Steinbach, und das weiß auch
der Bundesinnenminister. Ich vermute aber, dass Sie sich
wieder einmal als innenpolitische Hardliner für das
Superwahljahr 2009 profilieren wollen.
Im Gegensatz zu Herrn Schäuble inszeniert sich nun
sein Kabinettskollege Bundesaußenminister Steinmeier
als sein humanitär gesinnter Gegenspieler. Das ist in
doppelter Hinsicht bemerkenswert: Bemerkenswert ist,
dass die Regierung in dieser humanitären Frage zu keiner klaren Entscheidung fähig ist; dabei geht es, wie gesagt, um lediglich 50 unschuldige Menschen, und die
sollen noch nicht einmal alle nach Deutschland.
Bemerkenswert ist aber noch etwas anderes: Im
Grunde ist es nämlich so, dass gerade die damalige Haltung des Bundesaußenministers im Fall Kurnaz - die aktive Weigerung, dem Deutschtürken die Wiederaufnahme in Deutschland zu ermöglichen - jetzt das
Vorbild für die Haltung des Innenministers und der Unionsfraktion ist.
({4})
Bereits im Jahre 2005 hätte Steinmeier die Chance
gehabt, die Weichen für diese Debatte so zu stellen, dass
sie heute im Bundestag überflüssig gewesen wäre. Das
Versagen der Bundesregierung im Fall Guantánamo begann allerdings bereits vor 2005, noch unter Rot-Grün.
Der Fall Murat Kurnaz und die CIA-Überflüge fanden
vor dem Regierungswechsel 2005 statt.
Das wird von dem einen oder anderen heute sicherlich gerne vergessen. Doch auch die Grünen können
nicht leugnen, dass sie diese Form des Kampfes gegen
den Terrorismus in der Regierungskoalition bejaht, zumindest aber geduldet haben. Wahrscheinlich war damals nicht nur der Guantánamo-Häftling Kurnaz von der
Außenwelt abgeschnitten, sondern - bei allem Respekt auch die einstige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Claudia Roth. Insofern werte ich diesen Antrag der Grünen auch als eine Form der Selbstkritik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachten wir das
Handeln der Bundesregierung in Sachen Guantánamo in
seiner Gesamtheit, so ist festzustellen: Im vorliegenden
Antrag geht es um eine dringend notwendige Korrektur.
Auch aus diesem Grund werden wir diesem Antrag zustimmen.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. HansPeter Uhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Alle Rednerinnen und Redner haben festgestellt - ich möchte mich dem anschließen -, dass wir uns
einig sind in der Begrüßung des Umstands, dass das Lager Guantánamo geschlossen wird. Das ist gut so.
Nicht gut ist allerdings die öffentliche Debatte, die
Außenminister Steinmeier im Vorfeld einer Anfrage der
Amerikaner losgetreten hat: ob Deutschland Gefangene
aus Guantánamo aufnehmen soll. Diese Debatte war in
der Form und im Inhalt völlig verfehlt.
({0})
Die Errichtung des Lagers ist eine Angelegenheit der
USA gewesen, eine Verirrung der Regierung Bush, wie
man aus rechtsstaatlicher Sicht sagen muss. Entsprechend ist die Abwicklung des Lagers ebenfalls Angelegenheit der USA. Die USA sind derartig groß und die
Möglichkeiten sind derartig vielfältig, dass ich mir
durchaus vorstellen kann, dass die USA diese Probleme
im eigenen Lande lösen können.
({1})
Wenn man dem Gedanken der Aufnahme einiger weniger Häftlinge überhaupt näher treten will, ist ein Verfahren einzuhalten. Im Gesetz steht, dass die Innenminister der Länder entscheiden und sich mit dem
Innenminister des Bundes abstimmen. Es ist gut, dass
das so im Gesetz steht; denn die Länder müssen für die
Sicherheit der Bürger einstehen, sie müssen die Gefährlichkeit desjenigen, der reingelassen werden soll, prognostizieren, eine Bewertung vornehmen und die Verantwortung übernehmen - nicht der Außenminister, der
bei irgendeinem Gespräch in welchem Land auch immer
von der Aufnahme schwadroniert.
({2})
Nun zu der Gefahr, die von diesen Menschen ausgeht,
und damit komme ich zur Naivität des Antrags der Grünen. Die Grünen schreiben, man soll die nicht mehr tatverdächtigen Gefangenen aufnehmen. Wenn es strafrechtlich so einfach wäre! „Nicht mehr tatverdächtig“
klingt so, als wäre die Tat abgeschlossen, und es hätte
sich herausgestellt, dass die Person mit der Tat zu Unrecht in Verbindung gebracht worden ist. So liegt der
Fall ja nicht.
Kollege Uhl, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Kolbow?
Bitte schön, Herr Kolbow.
({0})
Lieber Kollege Uhl, sind Sie bereit, Ihre Wahl der
Worte, die Sie im Hinblick auf unseren Außenminister
gebraucht haben, zu überprüfen angesichts der Tatsache,
dass gestern im Bayerischen Landtag eine Mehrheitsentscheidung - von SPD, Grünen, Freien Wählern und
Freien Demokraten - gefallen ist, 17 Uiguren - dann ist
mit einem Änderungsantrag die „17“ gestrichen worden;
ich nehme an, auf Initiative der CSU - im Freistaat Bayern aufzunehmen? Sehen Sie hier nicht einen Zusammenhang von Humanität, der auch im Freistaat geprägt
wird, der Ihrer Wortwahl im Zusammenhang mit den
Vorwürfen an den Außenminister zutiefst widerspricht?
({0})
Wenn Sie so lange stehen bleiben, erkläre ich das
ganze Thema mit den Uiguren zuerst und komme dann
auf den Vorgang im Bayerischen Landtag zu sprechen.
Die Uiguren sind ein Turkvolk, das in einem Randbereich Chinas, in der Provinz Xinjiang, die an Afghanistan grenzt, wohnt.
({0})
Man weiß, dass sich die Uiguren von China lossagen
wollen.
({1})
Dies führt dazu, dass sie von China mehr oder weniger
pauschal als potenzielle Terroristen angesehen werden;
das ist sicher übertrieben.
In Deutschland leben 268 Uiguren, die als Asylbewerber anerkannt sind. Die meisten von ihnen leben
merkwürdigerweise in München.
({2})
- Das muss man wissen, wenn man darüber schwadroniert - um dieses Wort noch einmal zu gebrauchen.
({3})
Diese Uiguren sind natürlich keine Terroristen.
({4})
Doch einige der Uiguren, die sich in München aufhalten,
werden aus guten Gründen verdächtigt, Terroristen zu
sein. Deswegen müssen sie mit großem Aufwand rund
um die Uhr vom Verfassungsschutz und von der Polizei
bewacht werden. Das ist der Sachverhalt bei den Uiguren in Deutschland, wie er sich derzeit darstellt.
Jetzt komme ich zum Landtag. Der Bayerische Landtag hat in der Tat einen Beschluss gefasst. Deswegen
sind wir wieder beim Wort „schwadronieren“.
({5})
- Der Ausschuss hat den Beschluss gefasst, jetzt kommt
der Vorgang ins Plenum des Landtages; das ist richtig.
Das war ein Beschluss derer, die keine Verantwortung
übernehmen müssen. Das sind all diejenigen - inklusive
der FDP, die den Innenminister dort nicht stellt -, die
keine Verantwortung hinsichtlich der Sicherheitslage in
Bayern übernehmen müssen.
({6})
Das heißt: Erst dann, wenn der bayerische Innenminister
nach gehöriger Prüfung im Einzelfall feststellt, dass man
diese oder jene Uiguren aufnehmen kann - ich warne davor, das leichtfertig zu tun -, kann man dem Gedanken
nähertreten. Deswegen halte ich den Beschluss im Bayerischen Landtag für völlig deplatziert, völlig verfehlt und
eigentlich unverantwortlich.
({7})
Ich verstehe Ihre Sorge darüber, dass das Wort
„schwadronieren“ bei Ihrem Kanzlerkandidaten natürlich nicht gerne gehört wird; das gebe ich zu. Ich meine
aber, Außenminister Steinmeier müsste wissen, was im
Gesetz steht, dass er so etwas nämlich nicht zusagen
darf, sondern dass er den Innenministern der Länder und
dem Innenminister des Bundes das Feld überlassen
muss. Wenn diese zu einer abschließenden Gefährdungsanalyse gekommen sind, dann kann er den Ball übernehmen und seinem Geschäft im Ausland nachgehen, indem
er signalisiert, dass wir unter Umständen bereit sein
könnten, diesen oder jenen zu übernehmen.
Kollege Uhl, ich frage Sie, ob Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kolbow zulassen.
Ich weiß nicht, wer alles nach Hause will, da dies die
vorletzte Rede ist, aber bitte schön.
Herr Kollege Uhl, angesichts der Menschenrechte
und rechtswidrig behandelter Häftlinge in Guantánamo
frage ich Sie, ob Sie Ihre Wortwahl - „schwadronieren“ aufrechterhalten.
Des Weiteren frage ich Sie, ob Sie angesichts der Voraussetzung der erfolgreichen Unschuldsprüfung, bezogen auf die Uiguren in Guantánamo, bereit sind, Ihren
Parteifreunden in München zu empfehlen, sich der
Mehrheitsmeinung im beschließenden Ausschuss, diese
aufzunehmen, anzuschließen?
({0})
Dieser Meinung werde ich mich natürlich nicht anschließen, und zwar aus folgendem Grunde nicht: Ich
habe vorhin etwas ausführlicher die Lage der Uiguren im
Verhältnis zu China dargestellt. Sie können nicht automatisch, per se und pauschal sagen, dass alle Uiguren,
die sich in Guantánamo befinden, völlig unverdächtig
sind.
({0})
Verwechseln Sie bitte nicht den Terrorverdacht einerseits
mit der menschenrechtswidrigen Behandlung andererseits. Darin sind wir uns alle ja einig: Das darf nicht fortgesetzt werden.
({1})
Noch einmal: Wir werden im Einzelfall eine Gefahrenprognose abgeben müssen. Dann wird man sehen, was
man tun kann.
Nehmen Sie bitte noch eines zur Kenntnis: Es wurden
ja bereits Häftlinge aus Guantánamo entlassen. Man hat
schon Erfahrungen mit den entlassenen Häftlingen aus
Guantánamo gemacht. Amerikanische Sicherheitsbehörden melden uns, dass von den entlassenen Häftlingen
mindestens 18, vielleicht sogar 61, in das Lager von
al-Qaida zurückgekehrt sind und den Kampf gegen die
USA wieder aufgenommen haben. Von den entlassenen
Guantánamo-Häftlingen! Nehmen Sie das bitte zur
Kenntnis! Das heißt, die Dinge sind etwas komplizierter,
als sie hier dargestellt werden.
Deswegen sagte ein Fachmann aus Ihrer Partei, Herr
Kollege Kolbow, nämlich der Innensenator von Berlin,
Herr Körting, laut Spiegel - ich nehme an, dass das Zitat
stimmt -: Ich - Körting - habe jedenfalls keine Lust, von
diesen Leuten auch nur einen einzigen nach Deutschland
zu holen.
({2})
Er begründet das auch, und zwar damit, dass er sagt:
Guantánamo-Häftlinge sind keine Trekking-Touristen,
die irgendwo aufgegriffen und widerrechtlich in ein Gefangenenlager transportiert wurden.
({3})
Das alles ist der Originalton von Körting, SPD. Ich bitte
also Herrn Steinmeier, einmal ein Gespräch mit dem
Berliner Innensenator zu führen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Dieses Thema ist tragisch
und sehr kompliziert; schließlich haben wir selber Probleme mit den Gefährdern, die in Deutschland leben. Die
Gefährder, die wir als solche erkannt haben, müssen wir
rund um die Uhr bewachen. Deswegen sind wir nicht gut
beraten, die Zahl der Gefährder in Deutschland mutwillig zu erhöhen. Das ist der Punkt.
Es darf auch nicht darum gehen, den Kanzlerkandidaten der SPD als Menschenrechtler herauszustellen, um
damit zu punkten, oder darum, tätige Reue üben zu wollen, etwa im Fall Murat Kurnaz. Das ist nämlich das eigentliche Gebiet von Herrn Steinmeier. Da hätte er handeln können; er war aber untätig. Das wissen wir ganz
genau. Wer die Bücher kennt und wer die Akten gelesen
hat, weiß das. Steinmeier hätte Murat Kurnaz aus
Guantánamo befreien können. Es war Frau Merkel als
Kanzlerin dieser Regierung, die ein Machtwort gesprochen und dafür gesorgt hat, dass er zu uns gekommen ist.
Dafür verantwortlich war nicht Kanzleramtsminister
Steinmeier unter Schröder. Das wissen wir und das wissen Sie ganz genau.
({5})
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will den letzten Beitrag
nicht kommentieren, Herr Kollege Uhl, ich will Ihnen
nur sagen: An vielen deutschen Stammtischen wird differenzierter argumentiert, als Sie es hier im Deutschen
Bundestag tun.
({0})
Ich möchte mit dem „Schwadronieren“ fortfahren.
Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Beauftragten der Bundesregierung für Menschrechte und
Humanitäre Hilfe, Günter Nooke - in Klammern: CDU -,
zitieren.
({1})
Das Handelsblatt schrieb:
„Wir können nicht einerseits die Schließung des Lagers lautstark fordern und uns dann wegducken,
wenn es darum geht, hierbei Unterstützung zu leisten“, sagte Nooke und fügte hinzu: „Wir sollten
deshalb bereitstehen, wenn uns die US-Administration um Hilfe bittet.“
({2})
Dieser Aussage von Herrn Nooke ist in dieser Debatte
nichts mehr hinzuzufügen.
({3})
Ich will die Lehrstunde über die Uiguren nicht fortsetzen. Ich erlaube mir nur, zu sagen, dass Sie darüber
schwadronieren, dass am Terrorverdacht bezüglich Menschen sicher etwas dran ist, die in der Nähe irgendeines
Camps, etwa eines Terrorcamps, aufgegriffen werden.
Ihr bayerischer Kollege Herrmann hat sich in treffender
Art und Weise in diese Richtung geäußert. Ein Innenminister, der so mit der Unschuldsvermutung umgeht, ist
dabei, den Rechtsstaat abzuschaffen.
({4})
Die Unschuldsvermutung ist die tragende Säule unseres
Rechtsstaats. Wer als Innenminister so damit umgeht,
der muss eigentlich zurücktreten.
({5})
Das ist meine ganz klare Position an dieser Stelle.
Ich komme nun auf die Uiguren zu sprechen, die in
Guantánamo einsitzen. Eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung lautet: „Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Ein Beispiel für viele: Warum ein längst freigesprochener Uigure noch immer in Guantánamo einsitzt“. Wenn
es hier in entsprechenden Diskussionen um die Menschenrechtssituation in China geht, dann sind Sie immer
die Ersten, die Forderungen erheben. Es kann doch wohl
nicht wahr sein, dass Uiguren, die als Wanderarbeiter
unterwegs waren und verhaftet worden sind, als Terroristen bezeichnet werden, obwohl selbst die amerikanische Militärgerichtsbarkeit sie freigesprochen hat. Man
hat festgestellt, dass es noch nicht einmal den Anschein
eines Beweises gibt. Dennoch sagen Sie: Das interessiert
uns nicht; wir lehnen uns bequem zurück und lassen
Herrn Obama mal machen. - Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich finde das schäbig. So kann man mit dieser
Frage nicht umgehen.
({6})
Kollege Strässer, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Steinbach?
Ja, sicher.
Herr Kollege Strässer, da wir bei dem Spezialthema
Uiguren sind: Ist Ihnen bekannt, dass - das wissen wir
aus Gesprächen - Uiguren, die zurzeit inhaftiert sind,
liebend gern in den Vereinigten Staaten leben würden?
Ist es daher nicht die Aufgabe der Vereinigten Staaten,
diesem Wunsche nachzukommen? Denn diese Menschen wurden von diesem Staat eingesperrt. Diese unschuldigen Menschen möchten dort leben; Schuldige
können wir sowieso nicht aufnehmen.
Das behauptet hier auch niemand.
Schuldige aufzunehmen, ist vollkommen ausgeschlossen. Diese Menschen möchten dort leben; aber die
für ihre Inhaftierung Verantwortlichen sagen: Nein, wir
nehmen sie nicht. Können Sie verstehen, dass ich sage,
dass die Vereinigten Staaten ihre Ehre so nicht wiederherstellen?
Frau Kollegin Steinbach, mir geht es im Moment gar
nicht um Ehre, sondern darum, ob wir in der Lage sind
und ob wir wollen, auf der Grundlage unseres Wertesystems Menschen zu helfen, die in Not sind.
({0})
- Ich komme noch zu Ihrer Frage. Ich will sie ganz klar
beantworten. Dieser Mensch, um den es hier geht, ein
Herr Parhat, Uigure aus China - lesen Sie bitte einmal
diesen Artikel durch; er ist vom 23. Januar -, der behauptet das Gegenteil von dem, was Sie sagen, und zwar
insbesondere aufgrund der Erfahrung mit der amerikanischen Administration in dem Lager. Er ist als Gefangener dorthin gekommen - er ist nicht freiwillig dorthin
gegangen - und wird einen Deiwel tun, freiwillig in dieses Land, von dem er gepeinigt worden ist, auszuwandern. Das sagt er auch so. Das sollten Sie bitte schön zur
Kenntnis nehmen. Das ist nämlich die Realität.
({1})
Wir haben da im Moment aus meiner Sicht eine völlig
verquere Situation zu beklagen.
({2})
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, was mir am Herzen liegt: Es wird immer wieder gesagt, es handle sich
um ein Problem der Vereinigten Staaten, das wir nun lösen sollten. Wenn man die Debatte, die im Moment läuft,
rational verfolgt, dann erkennt man, dass es jedenfalls
mir und vielen anderen, die sich dafür einsetzen, dass
Uiguren und andere unschuldige Menschen eine Chance
erhalten, wieder in ein vernünftiges Leben zurückzukehren, um diese Menschen geht und nicht darum, ein Problem der USA zu lösen.
Natürlich ist Guantánamo ein Problem der USA. Aber
es ist doch unsere Aufgabe, zu sagen, wie wir mit dem
Problem der Menschen, die dort einsitzen, umgehen
wollen. Das Problem ist nämlich, dass Vertreter der Vereinigten Staaten sehr deutlich sagen: Wenn diese Leute
in die USA einreisen wollen, müssen sie ein Visum beantragen. Joe Biden zum Beispiel, einer der engsten
Weggefährten von Barack Obama, sagt dazu sehr klar
und sehr deutlich: Sie bekommen kein Visum für die
Einreise in die USA.
({3})
Wollen Sie den Menschen in Guantánamo vor diesem
Hintergrund wirklich sagen: Ihr müsst dort bleiben? Wir haben eine klare Position und eine klare Botschaft:
Wir haben gesagt: Uns geht es an erster Stelle darum,
Menschen zu helfen, die in Not sind.
Ihnen, Frau Steinbach, die Sie immer so schön die
Frage der Verantwortung und der Verantwortlichkeiten
in den Raum stellen, möchte ich sagen: Sie haben gemeinsam mit uns dafür gesorgt - ich bin sehr stolz darauf, dass das gelungen ist -, 2 500 Flüchtlingen aus dem
Irak Zugang nach Deutschland im Rahmen eines größeren Abkommens zu verschaffen. Nun frage ich Sie allen
Ernstes auf der Basis der Argumentation, die Sie nun gebrauchen, nämlich dass es darum gehe, ein Problem der
USA zu lösen, da ja die USA den Irakkrieg begonnen
haben und dafür verantwortlich sind, dass Menschen in
ihrem Land nicht weiter leben können und fliehen müssen: Wieso nehmen wir denn dann 2 500 Flüchtlinge aus
dem Irak auf? Die Logik Ihrer Argumentation wäre
doch: Die müssen in die USA.
({4})
Das kann nicht wahr sein, und das wollen wir auch nicht.
Deshalb, Herr Staatsminister, können Sie die klare
Botschaft mitnehmen, dass Sie, wenn diese Situation
eintritt - nur dann müssen wir ja noch einmal darüber reden -, jede Unterstützung von der SPD-Fraktion bekommen, die Sie brauchen, um dieses Problem in der Art zu
lösen, wie wir es gerne möchten.
Frau Steinbach, Ihre Empathie für „Yes, we can“ ist ja
in Ordnung.
({5})
Aber wenn Sie gleich beim ersten Mal, wo Sie „Yes, we
can“ sagen könnten, sagen,
({6})
wir helfen nicht, dann bleibt mir nur übrig, zu sagen: Mr
President, yes, we help. Wir werden dem Präsidenten der
Vereinigten Staaten helfen, das Problem in dem Umfang
zu lösen, wie wir selbst dazu beitragen können.
({7})
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11759 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor ich die Sitzung schließe, kommen wir noch zu
einer nachträglichen Ausschussüberweisung.
Interfraktionell ist vereinbart, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs auf Drucksache 16/10144 nachträglich auch
an den Innenausschuss und an den Verteidigungsausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Februar 2009, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.