Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Wie meistens am Donnerstagvormittag, gibt es einige Mitteilungen zu machen, bevor
wir in unsere Tagesordnung eintreten.
Zunächst gibt es einige Glückwünsche zu übermitteln. Der Kollege Ludwig Stiegler hat am 9. April seinen 65. Geburtstag gefeiert.
({0})
- Ja, aber bedeutende Ereignisse verdienen trotz eines
zeitlichen Abstandes eine angemessene Würdigung.
Ihre 60. Geburtstage begingen die Kollegin Anke
Eymer am 12. April und der Kollege Frank Hofmann
am 21. April. Im Namen des ganzen Hauses übermittle
ich ihnen alle guten Wünsche für die nächsten Jahre.
({1})
Der Kollege Dr. Rainer Wend hat mit Wirkung zum
1. April auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin begrüße ich herzlich die
uns bereits aus früheren Wahlperioden bekannte Kollegin Hildegard Wester.
({2})
Herzlich willkommen und auf gute Zusammenarbeit!
Als Nachfolger des ausgeschiedenen Kollegen
Dr. Rainer Wend im Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des
Zollfahndungsdienstgesetzes schlägt die SPD-Fraktion
den Kollegen Rolf Hempelmann vor. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
der Kollege Hempelmann gewählt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat vorgeschlagen, die Kollegin Julia Klöckner als Nachfolgerin des ebenfalls ausgeschiedenen Kollegen Ralf Göbel zum neuen stellvertretenden Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Haus
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ zu
wählen. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Kollegin Klöckner in diese Funktion gewählt.
Die Kollegin Karin Binder hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion
Die Linke die Kollegin Sabine Zimmermann vor. Gibt
es auch dazu Einvernehmen? - Das ist offenkundig der
Fall. Dann ist die Kollegin Sabine Zimmermann zur
Schriftführerin gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Konsequenzen aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zur militärischen Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide vom 27.03.2009 ({3})
({4})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Chancen für die berufliche Bildung
- Drucksache 16/12665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({6})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, CarlLudwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform
- Drucksache 16/12525 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Geschmacksmustergesetzes
- Drucksache 16/12586 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christel
Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke Ferner
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes
- Drucksache 16/12664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Erhöhung des Schonvermögens im Alter für
Bezieher von Arbeitslosengeld II
- Drucksache 16/5457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie
und Gastronomie in Deutschland einführen
- Drucksache 16/12287 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss so schnell wie möglich durchgeführt werden
- Drucksache 16/12669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz von Arbeitnehmerdaten durch transparente und praxisgerechte Regelungen gesetzlich absichern
- Drucksache 16/12670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas
Scheuer, Dirk Fischer ({13}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,
Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern
- Drucksache 16/12693 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Manipulierte Strompreise - Verbraucherinteressen wahren
- Drucksache 16/12692 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vergaberecht konsequent sozial gestalten Gemeinnützige Unternehmen nicht benachteiligen
- Drucksache 16/12694 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({18})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({19})
Präsident Dr. Norbert Lammert
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen
und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft
sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/11385 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 16/12717 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Carl-Christian Dressel
Christoph Strässer
Wolfgang Nešković
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht
- Drucksache 16/12061 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21})
- Drucksache 16/12718 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({22})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle
und weiterer Abgeordneter der Fraktion der
FDP
sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck ({23}), Volker Beck ({24})
und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Dieter Wiefelspütz
Volker Schneider ({25})
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zum Anbauverbot des gentechnisch veränderten Mais MON 810
ZP 6 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen
- Drucksachen 16/11131, 16/11641 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
- Drucksache 16/12465 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({27})
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
- Bericht des Haushaltsausschusses ({28}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12466 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Andreas Weigel
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({29}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva
Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen
- Drucksachen 16/5679, 16/12699 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Dr. Axel Troost
ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff ({30}), Dr. Max Stadler,
Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
- Drucksache 16/12663 23498
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({31})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Kontopfändungsschutzes
- Drucksache 16/7615 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({32})
- Drucksache 16/12714 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Wolfgang Nešković
ZP 10 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei
Menschen ({33})
- Drucksachen 16/10532, 16/10582 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Volker Beck ({34}),
Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({35})
- Drucksache 16/3233 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({36})
- Drucksache 16/12713 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Elke Hoff, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für einen Abzug der in Deutschland noch verbliebenen US-Nuklearwaffen
- Drucksache 16/12667 ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die NPT-Überprüfungskonferenz im Jahre 2010
zum Erfolg führen - Für ein klares Bekenntnis
zu dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt
- Drucksache 16/12666 ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({37}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konkrete Schritte zur nuklearen Abrüstung
jetzt einleiten - Nichtverbreitungsvertrag stärken
- Drucksache 16/12685 ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Marieluise Beck ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Initiative für eine atomwaffenfreie Welt unterstützen - Atomwaffen aus Deutschland abziehen
- Drucksache 16/12686 ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Jens Ackermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klarheit beim Konjunkturpaket II - Bildungspolitische Handlungsspielräume für Länder
und Kommunen einräumen
- Drucksache 16/12668 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({39})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 16 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Investitionsund Tilgungsfonds“
- Drucksache 16/12662 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({40})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 17 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Anordnung des Zensus 2011
sowie zur Änderung von Statistikgesetzen
- Drucksache 16/12219 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({41})
- Drucksache 16/12711 Berichterstattung:
Abgeordnete Kristina Köhler ({42})
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Bericht des Haushaltsausschusses ({43}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12712 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Roland Claus
Omid Nouripour
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 27 wird abgesetzt.
Aufgrund der Auf- und Absetzung von Tagesordnungspunkten gibt es Änderungen in der Reihenfolge.
Heute wird der Tagesordnungspunkt 8 nach dem Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen, 12 nach 13, 14 nach 17,
16 nach 19, 18 nach 21, 20 nach 23, 22 nach 25, 24 nach
28 sowie 26 nach 29.
Mich überrascht, dass niemand mitschreibt.
({44})
- Herr Kollege Westerwelle, das Angebot des Präsidiums, dass das, was man nicht sofort begreift oder mitbekommt, auf gezielte Nachfrage hin erläutert wird, gilt
selbstverständlich für Koalition und Opposition in gleicher Weise.
({45})
Morgen wird der Tagesordnungspunkt 32 nach dem
Tagesordnungspunkt 34 aufgerufen.
Schließlich mache ich auf eine Reihe von nachträglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({46}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung
datenschutzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12011 überwiesen:
Innenausschuss ({47})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({48}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/12255 überwiesen:
Finanzausschuss ({49})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({50}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12279 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({51})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({52}) und dem Sportausschuss ({53}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts
- Drucksache 16/12275 überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({54})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Der in der 215. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({55}) zur
Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer,
Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie den Abgeordneten Thomas Oppermann,
Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter
Struck und der Fraktion der SPD
Präsident Dr. Norbert Lammert
sowie den Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle
der Nachrichtendienste des Bundes
- Drucksache 16/12411 überwiesen:
Innenausschuss ({56})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen unbeschadet der
sofortigen kompletten Wahrnehmung einverstanden? ({57})
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist
es genau zehn Jahre her, seit der Bundestag seine Arbeit
in Berlin aufgenommen hat. Ich darf vielleicht daran erinnern, dass es nach der leidenschaftlichen Debatte und
der denkbar knappen Entscheidung über den Umzug von
Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin eine erstaunlich schnelle und breite Übereinstimmung gegeben
hat, das historische Reichstagsgebäude als Sitz des gesetzgebenden Verfassungsorgans zu nehmen. Heute sind
beide Entscheidungen nahezu unumstritten. Nicht alle
Erwartungen von damals mögen sich erfüllt haben, aber
fast alle damaligen Besorgnisse oder Befürchtungen sind
längst ausgeräumt. Berlin, die deutsche Hauptstadt, hat
sich als Sitz von Regierung und Parlament ebenso bewährt wie der Reichstag als Parlamentsgebäude.
Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es uns
heute erscheint. Deswegen möchte ich all denen danken,
die den Umzug vorbereitet und durchgeführt haben, allen, die ihren besonderen Beitrag zum Gelingen geleistet
haben. Das gilt für Bonner wie für Berliner, für Parlamentarier wie für Regierungsmitglieder und vor allen
Dingen für die vielen, meist unauffälligen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den beteiligten Verwaltungen.
({58})
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b so-
wie Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2009
- Drucksache 16/12640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({59})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({60}), Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Recht auf Ausbildung umsetzen - Ausbildungssystem reformieren, überbetriebliche Ausbildungsstätten ausbauen und Übergangsmaßnahmen anrechnen
- Drucksache 16/12680 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({61})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Chancen für die berufliche Bildung
- Drucksache 16/12665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({62})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Annette Schavan.
({63})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Jeder Jugendliche braucht
ein Angebot zu Ausbildung und Qualifizierung. Das war
und ist das Ziel unserer Berufsbildungspolitik in den vergangenen Jahren. Der Berufsbildungsbericht 2009 zeigt
ermutigende Fortschritte. Jugendliche in Deutschland
haben wieder mehr Chancen als noch vor einigen Jahren.
Das will ich anhand der Zahlen in drei Bereichen deutlich machen.
Die erste und, wie ich finde, zentrale Zahl ist: Rund
619 000 Jugendliche waren im Jahre 2005 arbeitslos. Im
Jahre 2008 waren es rund 340 000. Das sind 340 000 zu
viel; aber es gab eine deutliche positive Veränderung in
diesen drei Jahren.
({0})
Zweitens. Die Zahl der unvermittelten Bewerberinnen
und Bewerber lag 2005 - Stichtag ist immer der 30. September - bei rund 40 000. Zum gleichen Zeitpunkt 2008
waren es rund 14 500. Das ist ein Rückgang um 64,5 Prozent.
Drittens. Die Zahl der Ausbildungsverträge stieg von
550 000 im Jahre 2005 auf rund 616 000 im Jahr 2008.
Das ist eine Steigerung um 12 Prozent.
({1})
An dem Verhältnis zwischen den Zahlen unvermittelter Bewerber und geschaffener Ausbildungsplätze wird
zugleich deutlich, dass wir schon längst die Konsequenzen der demografischen Entwicklung zu tragen haben:
Die Zahl der Schulabsolventen geht zurück - im vergangenen Jahr bereits um 33 000 -, und diese Entwicklung
wird sich fortsetzen.
Diese Zahlen für den Zeitraum zwischen 2005 und
2008 sind das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen im
Ausbildungspakt - in der Großen Koalition, vor allem
in den Unternehmen in Deutschland, beim Bund und den
Ländern.
Wir wissen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Der enge Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und
Ausbildungsmarkt gilt auch jetzt. Die Erfolge bleiben
nur dann bestehen, wenn alle am Ball bleiben und jedem
klar ist: Ausbildung hat Vorrang. Wer in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten nicht ausbildet, dem fehlen in wirtschaftlich guten Zeiten Fachkräfte. Das muss auch in
diesem Jahr die Devise sein.
({2})
Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des
Bundesinstituts für Berufsbildung, die heute veröffentlicht
werden - befragt wurden rund 1 000 Unternehmen -,
zeigen für 2009: 22 Prozent der Betriebe wollen ihr Ausbildungsplatzangebot im Vergleich zum letzten Ausbildungsjahr steigern; das ist die gute Nachricht. 32 Prozent
der Betriebe geben an, ihr Engagement auf dem Niveau
des Vorjahres halten zu wollen; auch das ist nicht
schlecht. Aber immerhin 25 Prozent der Betriebe beabsichtigen, weniger Ausbildungsplätze anzubieten. Diese
25 Prozent begründen diesen Schritt, wie wir es aus der
Vergangenheit kennen, mit der wirtschaftlich schwierigen Lage. Das gilt vor allen Dingen für Betriebe im Bereich Industrie und Handel und ganz besonders für Branchen, die in hohem Maße export- und konsumabhängig
sind. Im Handwerk ist die Situation positiver.
Insbesondere an die Adresse dieser 25 Prozent der
Betriebe sage ich: Alles, was wir auf den verschiedenen
politischen Ebenen jetzt tun, ist darauf ausgerichtet,
möglichst bald wieder bessere Wachstumsquoten zu erreichen. Wer sich auf die Zeit nach der Krise vorbereiten
und daran mitwirken will, dass - wovon wir alle überzeugt sind - Deutschland nach der Krise stärker ist als
vorher, der muss jetzt stark in Ausbildung investieren.
({3})
Es wird in den nächsten Wochen wichtig sein, dass
wir alle Instrumente nutzen, um einem Abwärtstrend
entgegenzusteuern. Dazu gehören Programme des Bundes wie Jobstarter, das Ausbildungsprogramm Ost, der
Ausbildungsbonus und die Qualifizierungsmaßnahmen
für jene Jugendliche, die noch nicht die Voraussetzungen
für eine erfolgreiche Ausbildung erfüllen. Wichtig sind
darüber hinaus auch die zahlreichen Instrumente unserer
Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“.
Dass all diese Maßnahmen helfen, zeigt die Bilanz der
letzten drei Jahre. Im schwierigen Jahr 2009 sind sie
umso bedeutender.
Wir - die Kollegen Scholz, zu Guttenberg und ich werden mit unseren Partnern im Ausbildungspakt im
Rahmen einer Sondersitzung im Juni dieses Jahres beraten: Welche Maßnahmen sind zusätzlich zu denen, die
wir schon auf den Weg gebracht haben, von Bedeutung?
Wo müssen zusätzliche Initiativen ergriffen werden?
Was kann zum Beispiel getan werden, um für Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind oder die Unterstützung brauchen, um ihre Ausbildungskapazität erhöhen zu können, so etwas wie einen Schutzschirm für
Ausbildungsplätze zu spannen?
An die Adresse des Deutschen Bundestages und der
Ministerien sage ich: Auch wir sollten in dieser sensiblen Situation alles tun, um unsere Ausbildungsquoten
zu erhöhen. Die Ausbildungsquote im Bundesbildungsministerium beträgt derzeit knapp 10 Prozent. Ich finde,
das ist für alle öffentlichen Behörden eine gute Marke.
Wir müssen in einer solchen Situation vorangehen, um
deutlich zu machen, dass wir es ernst meinen, wenn wir
sagen: Jeder Jugendliche braucht eine Chance.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser besonderes
Augenmerk muss den Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelten. Wir wissen, dass der Anteil der Jugendlichen, der die Schule ohne Abschluss verlässt, unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund doppelt so
hoch ist wie unter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Wir wissen, dass ihr Anteil an der Berufsausbildung mit 24 Prozent niedrig ist und dass sie damit unterrepräsentiert sind. Deshalb war es gut, dass unter
Federführung von Herrn Staatssekretär Storm und Frau
Staatsministerin Böhmer Regionalkonferenzen stattgefunden haben mit Unternehmen und Unternehmern, die
selbst, wie es immer heißt, einen Migrationshintergrund
haben. Wir haben vereinbart, dass im Zeitraum 2005 bis
2010 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt;
doch auch da dürfen wir nicht nachlassen.
An die Adresse der Länder gerichtet füge ich hinzu:
Entscheidend ist - vor jeder Vermittlung derer, die keinen Schulabschluss haben -, dass wir erreichen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Schulabschluss
macht und damit die Voraussetzungen mitbringt, eine
Ausbildung erfolgreich durchlaufen zu können.
({5})
Richtig ist auch - ich habe es anfangs erwähnt -: Die
Zahl der Schulabsolventen geht zurück. Die demografische Entwicklung hat dazu geführt, dass 2008 zwei Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ganz anders als in den
Jahren zuvor waren: Auf der einen Seite waren rund
19 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, auf der anderen
Seite hatten wir 14 479 unvermittelte Bewerber. Das
heißt, aus der rechnerischen Lücke, über die wir in der
Vergangenheit im Herbst oft gesprochen haben, ist ein
sogenannter rechnerischer Überhang geworden. Ich sage
aber ausdrücklich: Das ist nicht nur ein Erfolg der Ausbildungsbilanz, sondern das steht im Zusammenhang mit
der demografischen Entwicklung, die uns auch in den
nächsten Jahren beschäftigen wird. Die Zahlen haben
noch einmal gezeigt, wie sehr das Thema Fachkräftemangel mit Berufsbildung und Ausbildungsbilanzen
verbunden ist.
Besonderes Augenmerk müssen wir auf die 82 000
Jugendlichen richten, die eigentlich eine Ausbildung
wünschen, sich aber noch in Berufsvorbereitungsmaßnahmen und Praktika befinden. Dazu haben wir mit den
Ländern beim Qualifizierungsgipfel zahlreiche Maßnahmen vereinbart. Es muss klar sein, dass nach Abschluss der Schule die Voraussetzungen für eine Ausbildung gegeben sind. Es dürfen nicht weitere
Verzögerungen entstehen. Jugendliche, die so weit sind,
müssen mit Vorrang ermutigt werden, indem man ihnen
die Chance zu einer qualifizierten Ausbildung gibt. Es
ist für sie von zentraler Bedeutung, dass sie im Anschluss an die Schule eine duale Ausbildung aufnehmen
können. Schließlich sind da noch die sogenannten Altbewerber. Auch hier sage ich allerdings: Im Zeitraum von
2007 bis 2008 ist auch die Zahl der Altbewerber um fast
65 000 zurückgegangen.
Ich nenne diese wenigen Zahlen, weil sie deutlich machen: Das, was an Maßnahmen auf den Weg gebracht
worden ist - übrigens mit großem Engagement der Unternehmen und mit einer neuen Konzeption der Berufsvorbereitung: mit mehr Erfahrung in der Praxis, mit
mehr individueller Förderung -, wirkt. Wir müssen jetzt
dafür Sorge tragen, dass die Erfolge, die in den vergangenen drei Jahren erreicht worden sind und über die der
Berufsbildungsbericht 2009 Rechenschaft ablegt, nicht
aufs Spiel gesetzt werden. Gerade am Ende dieses Jahres
müssen wir sagen können: Dieses Jahr ist genutzt worden, um Jugendliche in Deutschland zu ermutigen und
ihnen die Chance zu geben, die sie brauchen und die sie
erwarten können, und um damit zugleich das zu tun, was
notwendig ist, damit der Fachkräftemangel in Deutschland in den nächsten Jahren nicht zu einer zentralen
Wachstumsbremse wird.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Man kann
sich, man muss sich und man soll sich über gute Nachrichten freuen. In diesem Sinne ist es ein positives Zeichen, dass mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber
zu verzeichnen waren. Die mittelständische Wirtschaft,
das Handwerk, der Handel erfüllen ihre Pflicht, und das
weit über Soll. Das ist das herausragende Ereignis in
wirtschaftlich schweren Zeiten.
({0})
Machen wir uns aber bitte nichts vor, Frau Ministerin:
Wenn Sie aufgrund der Tatsache, dass am 30. September
des vergangenen Jahres rund 19 500 unbesetzte Ausbildungsplätze circa 14 500 unversorgten Bewerberinnen
und Bewerbern gegenüberstanden, am 1. April dieses
Jahres in einer Presseerklärung davon sprechen, dass
eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt geschafft
sei, beschreibt das die Realität nun wirklich nicht richtig.
Hier erwarte ich von einer Bundesregierung ein solideres
Handeln. Es bedarf einer riesigen Kraftanstrengung, damit aus der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland
nicht auch noch eine Ausbildungskrise wird.
({1})
Sie wissen genau, dass Ihr Glück bei der Ausbildungsbilanz die rückgängigen Schülerzahlen sind. Reden wir einmal Tacheles: 5 000 offene Stellen „über den
Durst“ ist Ihr Argument. Demgegenüber stehen eine beträchtlich zurückgegangene Zahl von Schulabgängern
- dies haben Sie selbst angeführt -, 29 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze, die im Vorjahr zusätzlich geschaffen worden sind, 28 000 Plätze aus den Ländern
Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die im Jahr zuvor mit dortigen Ausbildungsbonusregelungen geschaffen worden sind, und unversorgte
Altbewerber im Berufsvorbereitungsjahr, von denen
4 000 in ein Praktikum gekommen sind und 16 000 in
berufsvorbereitenden Maßnahmen geparkt werden. Mit
diesen Zahlen müssen wir uns neben den von Ihnen genannten in der Realität beschäftigen. Deswegen, Frau
Ministerin, darf sich die Bundesregierung nicht auf der
demografischen Entwicklung ausruhen, auch nicht auf
den Kraftanstrengungen des Mittelstandes, nicht auf der
Arbeit von aktiven Landesregierungen und erst recht
nicht auf statistischen Zahlen, die ausblenden, wie viele
junge Menschen heute in der Bundesrepublik Deutschland leider immer noch in irgendwelchen Maßnahmen
geparkt werden.
({2})
In wirtschaftlich guten Zeiten hätten wir eine Modernisierung der beruflichen Bildung gut vorbereiten können. Dass wir es nicht getan haben, holt uns nun ein.
Spätestens jetzt erwarte ich von der Bundesregierung ein
Handlungspaket Ausbildung, mit dem den jungen Menschen in Deutschland eine bildungspolitische und damit
für ihr Leben sehr reale Perspektive gegeben wird. Um
neue Chancen für eine berufliche Bildung aufzuzeigen,
bedarf es eines umfangreichen Handlungspakets aus einem Guss. Ich greife einige Punkte heraus:
Wir brauchen unbedingt mehr Flexibilität. Module,
wie sie die IHK und der ZDH vorschlagen, sind der richtige Weg. Die Zahl zweijähriger Ausbildungen stagniert
und geht sogar zurück. Sie sind aber ein wichtiger Einstieg gerade für junge Menschen, die aufgrund ihrer BilPatrick Meinhardt
dungsabschlüsse eine Perspektive in Form eines schnellen Einstiegs in Ausbildung brauchen.
Ferner brauchen wir ein besseres überbetriebliches
Ausbildungsmanagement. Wir müssen jungen Menschen
Chancen eröffnen, die mehr Zeit brauchen; wir müssen
ihnen die Zeit geben, ihren Abschluss zu machen. Das ist
eine wichtige Herausforderung in einer Krisenzeit.
({3})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
brauchen auch mehr Leistungsstärke. Gemeinsam mit
dem ZDH haben wir als FDP die berechtigte Forderung
nach einer Exzellenzinitiative für die Berufsbildung
erhoben. Eine Ausbildung in einem Beruf spricht auch
leistungsstarke Jugendliche an. Sich für eine Berufsausbildung oder eine Fortbildung zu entscheiden, bedeutet,
in einem unternehmerischen Umfeld zu lernen und zu arbeiten, das vielfältige Karrierechancen, Selbstständigkeit
und Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Auch diese Botschaft müssen wir immer wieder herausstellen: Eine Exzellenzinitiative „Berufliche Bildung“ würde dazu beitragen, dass die Kultur der Selbstständigkeit in der
Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Fundament
bekommt.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade am
heutigen Girls’ Day muss man darauf hinweisen, wie
wichtig es ist, dass Ausbildungsberatung verbessert wird
und Stereotypen aufgebrochen werden. Immer noch bewerben sich 75 Prozent der jungen Frauen auf 25 Ausbildungsberufe, und immer noch bewerben sich junge
Männer schwerpunktmäßig im Bereich der Fertigungsberufe. Wir müssen über eine intensive Ausbildungsberatung erreichen, dass solche stereotypen Vorgehensweisen aufgebrochen werden und so für junge Menschen die
Perspektive geschaffen wird, in andere Ausbildungsbereiche hineinzugehen.
({5})
Der Erfolg bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels hängt maßgeblich davon ab, ob wir es schaffen, die
Ausbildungsreife der Absolventen zu verbessern. Deswegen ist es enorm wichtig, dass hier Transparenz geschaffen wird. Ein angehender Auszubildender muss
sich schon in seiner Schullaufbahn umfassend über Anforderungsprofile und Perspektiven informieren. Der
Praxisbezug muss verstärkt werden. Dabei ist darauf zu
achten, dass Schulabgänger nicht von einer Berufsvorbereitungsmaßnahme zur nächsten geschickt werden. Um
dem entgegenzuwirken, brauchen wir vom ersten Tag an
eine praktische Berufsberatung in den Schulen.
Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Gerade
in der Krise muss gewährleistet werden, dass jeder Auszubildende die Sicherheit hat, seine Ausbildung auch
dann fortsetzen zu können, wenn der Betrieb, in dem er
ausgebildet wird, insolvent wird. Hier haben Sie, Frau
Ministerin, und die Bundesregierung die Chance, mit einem guten Konzept der Ausbildungssicherheit eine
breite Mehrheit dieses Parlamentes hinter sich zu bringen. Nutzen Sie diese Chance! Die jungen Menschen
sollten sehen, dass die Ausbildungspolitik nicht zum
Spielball der Politik wird, sondern dass uns der persönliche Weg des einzelnen Auszubildenden über die Fraktionsgrenzen hinweg am Herzen liegt. Hier ist die Chance
gegeben, dass wir mit einem gemeinsamen Konzept dieses Deutschen Bundestages einen richtigen Weg gehen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Bundesminister für Arbeit
und Soziales, Olaf Scholz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren in Deutschland, was Fachkräfte und Qualifikationspotenziale betrifft, viel über die
Anforderungen. Eine der Aussagen, die bei dieser Gelegenheit zu Recht immer wieder diskutiert werden, ist,
dass wir in Deutschland mehr akademisch Qualifizierte
brauchen.
Von der OECD und vielen anderen wird gesagt: Etwa
ein Drittel aller jungen Leute eines Altersjahrgangs
sollte studieren und ein Studium abschließen. Während
wir das sagen, übersehen wir aber gerne - deshalb will
ich darauf hinweisen -: Mit dieser Aussage ist verbunden, dass auch in Zukunft zwei Drittel aller jungen Leute
in diesem Lande ihr ganzes Berufsleben auf der Basis einer klassischen Berufsausbildung, also einer Lehre, verbringen werden. Deshalb ist die Berufsausbildung auch
in Zukunft die wichtigste Ausbildung in Deutschland.
({0})
Es ist deshalb wichtig, dass wir alles dafür tun, dass
tatsächlich jeder eine Chance auf eine berufliche Qualifizierung bekommt. Das heißt, dass es in diesem Jahr, in
dem die wirtschaftliche Lage schwerer und schwerer
wird und in dem wir jeden Tag neue Meldungen darüber
hören, wie die Wirtschaftsleistung zurückgeht, keine
Konsequenzen für die Zahl der Ausbildungsverträge in
Deutschland geben darf.
({1})
Die jungen Leute, die jetzt die Schule verlassen, können nichts dafür, dass sich einige anderswo auf der Welt
an der Börse verspekuliert und mit Renditeerwartungen,
die unrealistisch waren, die ganze Weltwirtschaft in eine
Katastrophe geführt haben. Wir müssen dafür sorgen,
dass genügend Ausbildungsverträge zur Verfügung stehen. Das heißt, die Zielmarke muss auch für dieses Jahr
sein: Wir brauchen wieder über 600 000 Ausbildungsverträge.
({2})
Das geht nur mit gemeinsamer Anstrengung: der
Wirtschaft, der Kammern, der Verbände, der Gewerkschaften, der Betriebsräte, der Unternehmensleitungen.
Ich höre, dass viele zu dieser Anstrengung bereit sind.
Ich unterhalte mich jetzt jeden Tag mit den Verantwortlichen. In den Gesprächen mit den Personalvorständen der
DAX-30-Unternehmen haben alle zugesagt, dass sie ihre
Ausbildungsleistungen in diesem Jahr nicht reduzieren
werden.
({3})
Ich höre das auch aus dem Mittelstand und dem Handwerk. Wichtig ist, dass das am Ende auch stimmt und
dass wir diese Zahlen tatsächlich erreichen, damit jeder
diese Möglichkeit realisieren kann.
({4})
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen,
wenn wir über Ausbildung diskutieren, auch darüber diskutieren, was wir für diejenigen tun, die nicht so gut
sind. Natürlich haben wir es uns in unserer Sprache angewöhnt, darüber zu reden, dass wir erreichen wollen,
dass alle ausbildungsgeeigneten jungen Leute einen
Ausbildungsplatz finden. Aber da sind ja auch noch die
anderen. Das sind keineswegs hoffnungslose Fälle, wie
der Begriff der „Ausbildungsungeeigneten“ manchmal
suggeriert.
({5})
Darunter sind ganz viele, bei denen es mit einiger Anstrengung schnell gelingen kann, dass sie eine Berufsausbildung erhalten.
Wir haben viele gute Erfahrungen mit den Einstiegsqualifizierungen gemacht, die wir ausbauen und weiter
fördern.
Wir haben aber auch viele gute Erfahrungen mit ganz
unterschiedlichen tariflichen und betrieblichen Modellen
gemacht, in denen junge Leute, bei denen es mit der
Ausbildung noch nicht gut hingehauen hat und die ein
halbes Jahr, ein Dreivierteljahr oder ein Jahr lang ein
Praktikum gemacht haben, hinterher erfolgreich die Berufsausbildung bestanden haben, und zwar mit Quoten
von 90 bis 100 Prozent. Das zeigt: Niemand darf durch
den Rost fallen; niemand darf aufgegeben werden.
({6})
Wir müssen uns natürlich mit den Konsequenzen der
Bildungspolitik in Deutschland auseinandersetzen. Dass
nach wie vor jedes Jahr 80 000 junge Leute die Schule
verlassen, ohne einen Schulabschluss zu haben, das ist
nicht naturgegeben, das ist Staatsversagen, und das dürfen wir nicht weiter hinnehmen.
({7})
Der Zusammenhang zwischen beruflicher Qualifikation, Schulbildung und Chancen im Arbeitsleben ist so
offensichtlich, dass man gar nicht oft genug darauf hinweisen kann. 500 000 der Arbeitslosen haben keinen
Schulabschluss, und fast alle sind Langzeitarbeitslose.
Von daher ist es von zentraler Bedeutung, dass wir an
dieser Situation etwas ändern. Ich bin froh darüber, dass
wir im letzten Jahr beschlossen und in diesem Jahr rechtlich verankert haben, dass jeder dieser 500 000 Arbeitslosen sein Leben lang das Recht hat, den Schulabschluss
nachzuholen, um seine Arbeitsmarktchancen zu verbessern.
({8})
Es ist auch richtig, dass wir dafür gesorgt haben, dass
diejenigen, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz
warten, bessere Chancen bekommen. Deshalb war es
vernünftig, dass wir den Ausbildungsbonus auf den
Weg gebracht haben. Über 13 000 junge Leute haben bereits von der Regelung profitiert, dass es gefördert wird,
wenn für jemanden, der schon länger als ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz wartet, ein neuer Ausbildungsplatz geschaffen wird. 13 000 junge Leute profitieren
von einer Regelung, die erst seit Ende August gilt. Das
ist ein großer Erfolg, und das ist ein guter Ansatzpunkt
für dieses Jahr.
({9})
Wenn wir über Ausbildung reden, dann müssen wir
auch darüber reden, dass wir denjenigen, die etwas können, die Talent haben, die Chance eröffnen, dass sie
mehr aus dieser Berufsausbildung machen. Von daher ist
es eine gute Entscheidung des Bildungsgipfels in Dresden gewesen, dass wir gesagt haben: Überall in Deutschland soll es neue Möglichkeiten des Zugangs zur
Universität geben, ohne dass man eine Hochschulreife
auf klassische Weise erworben hat.
({10})
Wie notwendig das Handeln in dieser Frage ist, sieht
man an den Zahlen. In Deutschland studieren etwa
1,5 Prozent mit etwas anderem als der Hochschulreife.
In anderen Ländern um uns herum sind es 10 bis 15 Prozent. Ein großer Teil derjenigen, die eine Berufsausbildung in der Schweiz beendet haben, geht direkt an die
Universität. Das brauchen wir in Deutschland auch. Das
wird auch den Ingenieurmangel in unserem Lande besser
bekämpfen.
({11})
Wir müssen also etwas für diejenigen tun, die eine
Berufsausbildung wollen. Ich will ein sehr ehrgeiziges
Ziel für Deutschland, für unser Land und für unsere gemeinsamen Anstrengungen formulieren: Eigentlich müssen wir erreichen wollen, dass jeder, der Anfang 20 ist,
entweder das Abitur oder einen Berufsschulabschluss
hat. Das ist die Zielsetzung, die wir für Deutschland
brauchen. Niemand sollte mit weniger als mit einer Berufsausbildung durch das lange Arbeitsleben gehen.
({12})
Das bedeutet auch, dass wir eine Garantie dafür brauchen, dass diejenigen, bei denen dies bis zum Alter von
20 Jahren nicht geklappt hat, notfalls ein staatliches Ausbildungsangebot bekommen, damit sie nicht weiter
chancenlos versuchen müssen, auf dem Arbeitsmarkt
Fuß zu fassen. Diese Garantie brauchen wir auch, und
wir müssen dafür sorgen, dass das funktioniert.
({13})
Ein Angebot, das ich den Unternehmen machen will,
soll an dieser Stelle formuliert sein - dazu brauchen wir
nicht einmal neue Gesetze; das können wir mit unseren
Förderinstrumentarien bereits jetzt verwirklichen -: Wer
einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin hat, der oder
die vielleicht schon 27 oder 31 Jahre alt ist und keine
Ausbildung absolviert hat, jedoch will, dass das noch
klappt, soll gefördert werden, weil man diese nicht mehr
ganz so jungen Leute nicht auf das erste Lehrjahr mit
den entsprechenden Ausbildungsvergütungen verweisen
kann. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass es auch
für diese Arbeitnehmer, die sich im Betrieb bewährt haben, die Chance gibt, in dem eigenen Unternehmen die
Berufsausbildung nachzuholen, und zwar zu vertretbaren wirtschaftlichen Konditionen.
({14})
Wenn wir uns also dafür einsetzen, dass mehr qualifiziert wird, wenn wir dafür Sorge tragen, dass letztendlich jeder eine berufliche Qualifikation hat, dann tun wir
auch das Richtige für die Zukunft unseres Landes. Ich
werbe dafür, dass wir die Chance erkennen, die wir in
Deutschland haben, und dass wir sie nicht an uns vorbeigehen lassen. Es gibt die einmalige Chance - vielleicht
10 bis 20 Jahre lang, das heißt im nächsten und übernächsten Jahrzehnt -, dass wir uns von der Massenarbeitslosigkeit der letzten drei Jahrzehnte verabschieden. Das hat etwas mit der Wirtschaftskraft dieses
Landes, aber natürlich auch mit der demografischen
Entwicklung zu tun, über die wir in den letzten Jahren
immer wieder in der Form diskutiert haben, was es für
Probleme macht, vor diesem Hintergrund die Finanzstabilität der Sozialversicherung zu organisieren.
Aber auch der umgekehrte Effekt tritt jetzt ein - alle
haben darüber gesprochen -, nämlich dass es weniger
Arbeitnehmer gibt, die auf dem Arbeitsmarkt nach Arbeitsplätzen suchen. Man merkt es jetzt schon: Es wird
sehr schnell dazu kommen, dass nicht jeder Ausbildungsplatz besetzt werden kann. Schon im nächsten
Jahrzehnt - es beginnt in Kürze, falls man den einen
oder anderen noch darauf hinweisen muss - wird das in
diesem Lande so sein.
Von daher sollten wir die Chance nutzen. Sie ist aber
nur dann nutzbar, wenn wir sicherstellen, dass jeder über
eine berufliche Qualifikation verfügt. Denn es gibt zwei
Szenarien der künftigen Entwicklung. Ein Szenario ist,
dass wir einen Fachkräftemangel haben, dass sich die
Unternehmen um jeden Arbeitnehmer, der eine gute
Ausbildung hat, balgen und dass es gleichzeitig Millionen Arbeitslose gibt, weil wir nicht ausreichend qualifiziert und ausgebildet haben.
Das andere Szenario ist, dass wir jedem eine Ausbildung ermöglicht haben, über genügend Fachkräfte verfügen und deshalb die Arbeitslosigkeit sinkt, wie es in
den letzten Jahrzehnten nicht möglich war. Wir dürfen
nicht die Gelegenheit versäumen, dass das humane Interesse der Menschen und das wirtschaftliche Interesse der
Unternehmen zusammenkommen. Das muss ausgenutzt
werden.
({15})
Dass man für Bildung und Qualifizierung etwas tun
muss, ist offensichtlich. Das zeigt sich auch im Etat des
Bundesministers für Arbeit und Soziales und der BA;
denn sie geben viel Geld für Bildung und Qualifizierung
aus.
({16})
- Das war nicht die richtige Stelle.
({17})
Herr Minister, Sie müssen es allerdings ertragen, dass
ein Parlament selbstständig entscheidet, wann es der Regierung zustimmen will und wann nicht.
({0})
Herr Präsident, auch wenn es Sie überrascht: Über
Beifall beschwere ich mich eigentlich nie.
({0})
Trotzdem will ich auf Folgendes hinweisen: Dass wir
so viel Geld dafür ausgeben, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass im Bildungssystem dieses Landes etwas
im Argen liegt. Insofern sind es zwar stolze Zahlen, die
zeigen, was wir unternehmen. Aber sie weisen auch darauf hin, dass man am Anfang mehr tun müsste, damit
nicht hinterher so viel Geld ausgegeben werden muss.
({1})
Wir haben im Bereich SGB II und SGB III im letzten
Jahr 330 000 junge Leute gefördert und dafür 2,73 Milliarden Euro ausgegeben. Insgesamt geben wir im Bereich SGB II und SGB III 9 Milliarden Euro für Bildung
und Qualifizierung aus. Das beweist, dass wir den richtigen Trend unterstützen und etwas für die Qualifikation
unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit
für die Zukunft unseres Landes tun. Aber es ist auch ein
Ansporn, dafür zu sorgen, dass es im Primärsystem der
Ausbildung besser läuft. Das dürfen wir in diesem Zusammenhang niemals vergessen.
({2})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
alles dafür tun, dass es gelingt. Auch in diesem Jahr
muss jeder junge Mann und jede junge Frau einen Ausbildungsplatz finden. Wir wollen mehr als 600 000 Ausbildungsverträge auch im Jahr 2009.
Schönen Dank.
({3})
Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, Herr Minister, im Appellieren und Halten von Sonntagsreden bekommen Sie von uns ganz gewiss eine Eins. Was aber die konkrete Politik betrifft, ist
es eine glatte Sechs.
({0})
Frau Schavan, Sie haben von einem Schutzschirm für
die Ausbildung gesprochen. Tatsächlich zeigt das, was
Sie konkret anbieten und was Sie hier vorgeschlagen haben, aber, dass Sie tatenlos zusehen, wie die Wirtschaftskrise jetzt auch den ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen voll und ganz auf die Füße fällt. Die Linke sagt:
Das darf nicht sein. Wir brauchen in der beruflichen Bildung endlich eine Politik, die Ernst damit macht, dass jeder Jugendliche das Recht auf eine Ausbildung hat.
({1})
Frau Schavan, Sie haben von ermutigenden Fortschritten gesprochen. Wir haben die übliche Behauptung
gehört, dass alles in schönster und bester Ordnung sei.
Damit lassen sich Jugendliche heutzutage aber nicht
mehr abspeisen.
Ich beginne mit der ersten Behauptung, der Statistik.
Im Berufsbildungsbericht ist nachzulesen, dass es
19 500 offene Stellen gibt und dass fast alle Jugendlichen versorgt sind. Man kann sich für diesen Befund selber auf die Schultern klopfen. Wenn man aber etwas genauer nachliest und sich anschaut, was sich in Ihrer
Statistik hinter dem Terminus „versorgte Jugendliche“
verbirgt, dann stellt man fest, dass es sich zu einem ganz
großen Prozentsatz um Jugendliche handelt, die in eine
Berufsvorbereitungsmaßnahme abgeschoben wurden,
eine Einstiegsqualifizierung absolvieren oder angefangen haben, zu jobben, und sich zunächst nicht zurückgemeldet haben. Es kann keine Rede davon sein, dass diese
Jugendlichen versorgt sind, wenn sie in Wirklichkeit im
Übergangssystem irgendwo in der Statistik verschwunden sind.
Um auf die Zahlen zurückzukommen: Wenn man sich
anschaut, wie viele Jugendliche einfach „verschwunden“
sind, dann muss man davon ausgehen, dass es sich um
mindestens 250 000 Jugendliche handelt. Demgegenüber steht Ihre Behauptung von 19 500 offenen Stellen.
Man braucht wirklich kein Mathematikstudium absolviert zu haben, um festzustellen, dass hier ein krasses
Missverhältnis besteht und dass nicht jeder Jugendliche
eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hat.
({2})
Die zweite Behauptung, die immer wieder aufgestellt
wird, lautet: Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Sie
selber sagen, der Ausbildungspakt solle dazu dienen, ein
ausreichendes Ausbildungsplatzangebot für alle Jugendlichen zur Verfügung zu stellen. Nun haben wir erst gestern gehört, dass im letzten Jahr 2,1 Prozent weniger
Ausbildungsverträge geschlossen wurden. Da frage ich
mich: Wie passt das zusammen? Der Ausbildungspakt
soll ein Erfolg sein? In Wirklichkeit führt er aber dazu,
dass mehr Ausbildungsplätze abgebaut als geschaffen
werden. Die Linke sagt deshalb: Der Ausbildungspakt
ist kein Erfolg, sondern ein grandioser Misserfolg und
gehört beendet.
({3})
Das Schlimmste ist: Die Auswirkungen der Krise
werden wir erst noch zu spüren bekommen; Sie kennen
die Prognosen genauso gut wie ich. Es wird davon ausgegangen, dass das Ausbildungsplatzangebot in diesem
Jahr um bis zu 10 Prozent abnehmen wird. Im Berufsbildungsbildungsbericht 2009 der Bundesregierung lässt
sich dazu die Bemerkung finden: Da sich die Zahl der
Schulabsolventen verringern wird, wird die Situation
„für Jugendliche nicht schlechter werden“. Frau Ministerin, Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich Sie fragen:
Was sagt denn ein Hauptschulabsolvent dazu, der nun
schon seit drei Jahren verzweifelt versucht, einen Ausbildungsplatz zu finden, oder eine Absolventin der Realschule, die im letzten Jahr nur eine Einstiegsqualifizierung bekommen hat, dann nicht übernommen wurde und
weiterhin ohne einen Ausbildungsplatz dasteht? Zu diesen Jugendlichen sagen Sie nun: Keine Panik! Zumindest wird es nicht schlimmer. - Diese Politik, die angeblich für Jugendliche betrieben wird, ist ein Skandal. So
etwas wird die Linke nicht mitmachen.
({4})
Es muss endlich eine verbindliche Vereinbarung geben,
das heißt ein Ende des Ausbildungspaktes und die Einführung einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage.
({5})
Die dritte Behauptung, die immer wieder aufgestellt
wird, lautet: Ihr Ausbildungsbonus unterstützt benachteiligte Jugendliche. In der Praxis wird dieser Bonus
kaum genutzt, und es gibt viele Mitnahmeeffekte. Die
Linke sagt: Das ist der falsche Ansatz. Wenn Sie wirklich Förderung betreiben wollten, dann müssten Sie ausbildungsbegleitende Hilfen stärken und ausbauen und als
Rechtsanspruch verankern. Dann dürften Sie die Unternehmen für ihre jahrelange Ausbildungsverweigerung
nicht noch belohnen. Das ist der falsche Weg. Ausbildung ist keine Wohltätigkeit der Unternehmen, sondern
ihre Pflicht.
({6})
Ich fasse zusammen: Sie betreiben Ausbildungspolitik nach Konjunktur und Kassenlage. Das führt gerade in
einer Krise zu einer Katastrophe. Die Linke will dagegen
das Recht auf Ausbildung für alle Jugendlichen durchsetzen. Wir meinen es mit dem Schutzschirm für Ausbildung ernst.
Besten Dank.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Scholz, vonseiten der Grünen waren wir doch etwas erstaunt, dass Sie die Studienanfängerquote in
Deutschland jetzt auf 33 Prozent senken wollen.
({0})
Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Bundesregierung Schwierigkeiten mit der Deutung von Zahlen
hat.
({1})
Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Berufsbildungsbericht. Die Regierung brüstet sich mit einem ausgeglichenen Ausbildungsmarkt; das haben wir heute
Morgen auch von Frau Dr. Schavan gehört. Es stimmt:
Rechnerisch war der Ausbildungsmarkt im letzten Jahr
ausgeglichen. Aber was steckt dahinter? Es fanden nach
wie vor 14 000 Jugendliche im Jahr 2008 keinen Ausbildungsplatz, und 82 000 Jugendliche wurden in sogenannten Übergangsmaßnahmen versorgt.
({2})
Das heißt: Fast 100 000 Jugendliche sind im letzten Jahr
fehl- und unterversorgt gewesen - und das in einem konjunkturell guten Jahr. Da kann man doch nicht sagen: Eigentlich ist alles wunderbar. Wir brauchen gar nicht so
viel zu ändern.
({3})
Frau Kollegin Hinz, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Im Moment nicht.
Wir haben im letzten Jahr 320 000 Altbewerber gehabt. Das sind junge Leute, die ein Jahr oder länger keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Das sind 51,7 Prozent gewesen. Im Jahr 2006 waren es 50,8 Prozent. Wie
man da von einer Trendwende sprechen kann, erschließt
sich mir nicht. Das müssen Sie schon einmal genauer erklären. Im Gegenteil: Es war ein Trend zum Schlechteren. Hier muss man doch überlegen, wie man das Ganze
anders gestalten und das Berufsbildungssystem so umstrukturieren kann, dass wir keine Altbewerberinnen und
Altbewerber mehr haben.
({0})
Wir leisten uns ein Übergangssystem, das selbst in
wirtschaftlich besseren Zeiten 500 000 Jugendliche umfasst, die mit einer Summe von 3 bis 4 Milliarden Euro
in Warteschleifen gehalten werden. Auf diese Summe
kann man nicht stolz sein, Herr Scholz, sondern man
muss darüber beschämt sein, dass so viel Geld für irgendwelche ineffektiven Maßnahmen verschwendet
wird, in denen Jugendliche keine Qualifizierung in Form
einer Ausbildung erhalten, die zu einem Abschluss führt.
Das zu ändern, wäre wichtig, damit wir gute Fachkräfte
bekommen, die auf dem Arbeitsmarkt unterkommen.
({1})
Wie begegnet die Bundesregierung dieser Situation?
Mit immer neuen Einzelmaßnahmen. Auch das zeigt der
Berufsbildungsbericht. Es gibt unendlich viele Maßnahmen, die zusammengestoppelt und nicht aufeinander bezogen sind. In diesem Berufsbildungsbericht breitet sich
ein Flickenteppich aus. Die SPD hat in den letzten Jahren das Ihre dazu beigetragen, diesen Flickenteppich
noch zu vergrößern, zum Beispiel mit dem Ausbildungsbonus, der bis 2010 100 000 Plätze schaffen soll.
Bis jetzt sind 12 700 Anträge gestellt worden. Das ist
nicht gerade der Bringer, würde ich sagen.
({2})
Die Berufsorientierung ist ein neues Programm neben
einem alten Programm. Warum läuft das alte weiter?
Wenn es schlecht war, dann könnte man es einstampfen.
Wenn es gut war, dann hätte man es ausweiten können.
Die Berufseinstiegsbegleitung, die die Eingliederung in eine Ausbildung leider nur bis zu einem halben
Jahr unterstützen soll - dies gilt aber nur für 1 000 Schulen -, soll im Jahr 2013 wieder enden. Ich frage mich:
Haben wir im Jahr 2013 keine Altbewerber, keine Schulabbrecher, keine Abgänger mit einem schlechten Schulabschluss und keine Migranten mehr, die ein Problem
mit dem Übergang in die Ausbildung haben? Das wäre
schön; aber die Erfahrungen mit unserem Schulsystem
und mit der beruflichen Ausbildung deuten auf etwas anderes hin.
Auch das Programm „Jobstarter Connect“ ist gut gemeint. Eine Einführung von Ausbildungsbausteinen fordern auch die Grünen. Aber Ihr Modell hat einen Geburtsfehler. Die Ausbildungsbausteine sollen nicht
einzeln anerkannt werden. Ihr Programm soll nicht dazu
führen, dass die Ausbildungsschritte jeweils anerkannt
werden. Das brauchen wir aber. Wir müssen auf eine
Modularisierung der Ausbildung und eine strukturelle
Reform des Ausbildungssystems zusteuern.
({3})
Priska Hinz ({4})
Diese Maßnahmen sind alle gut gemeint und im Einzelnen mehr oder minder sinnvoll. Das Hauptproblem
aber ist, dass die Konjunkturanfälligkeit des Berufsbildungssystems durch diese einzelnen Maßnahmen
nicht beseitigt wird. Sie haben es in wirtschaftlich guten
Zeiten nicht geschafft, die Zahl der Altbewerber zu senken. Sie haben es nicht geschafft, das Übergangssystem
abzubauen. Sie haben es nicht geschafft, das Berufsbildungssystem auf neue Füße zu stellen. Das heißt, das
Berufsbildungssystem dokumentiert das Scheitern der
Bundesregierung in der Berufsbildungspolitik.
({5})
Wenn das duale System auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten bestehen soll, dann muss man es verändern.
Wenn es in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht bestehen
kann, dann ist es nichts wert. Die Umfragen des DIHK
zeigen, dass es in diesen schwierigen Zeiten wieder weniger Ausbildungsangebote gibt. Deswegen schlagen wir
Grünen vor, das Modell „DualPlus“ einzuführen. Das
heißt, die berufliche Ausbildung wird nach dem dualen
Prinzip, an dem wir festhalten, in Ausbildungsbausteinen absolviert. Damit werden alle Qualifizierungsschritte, auch die der Berufsvorbereitung, anerkannt und
führen zu einem Ausbildungsabschluss. Das ist ganz wesentlich. Damit werden Warteschleifen zu Qualifizierungsketten. Die ineffiziente Zeitverschwendung für die
Jugendlichen hat so ein Ende.
Die Ausbildungsdauer muss zukünftig flexibler gestaltet werden. Leistungsschwächere Jugendliche sollen
eine Ausbildung von vier Jahren machen können, und
zwar von Anfang an. Leistungsstärkere Jugendliche sollen weitere Module wählen können, die zur Fachhochschulreife führen. Beides soll im BBiG vorgesehen werden.
Wir wollen den Ausbau der überbetrieblichen Einrichtungen. Das heißt, alle Betriebe werden in die Berufsausbildung eines Kammerbezirkes einbezogen.
Auch die Betriebe, die keine Ausbildungstradition haben
und sehr spartenspezifisch arbeiten, können dann eine
Ausbildung anbieten. Das heißt, wir erhalten eine größere Zahl von Ausbildungsplätzen. Diese überbetrieblichen Einrichtungen können von Kammern, von Berufsschulen und freien Trägern gestaltet werden. Sie bieten
zusätzliche Ausbildungsplätze, und zwar konjunkturunabhängig. Das ist das Wesentliche dieses Modells.
({6})
Wir wollen die Einführung und Förderung von Produktionsklassen oder Produktionsschulen für Schulabbrecher. Die CDU macht genau das gemeinsam mit den
Grünen in Hamburg. Die CDU kann also hier zustimmen. Hamburg ist ein gutes Vorbild für die Verzahnung
von Berufsschulen mit Stadtteilschulen und für den Ausbau von Produktionsschulen, damit schulmüde junge
Leute und solche, die die Schule abgebrochen haben, in
eine Berufsausbildung einsteigen und damit den Schulabschluss nachholen können. Das Ganze kann mit den
4 Milliarden Euro aus dem Übergangssystem finanziert
werden.
Wir Grünen sind der Meinung, dass man nicht nur
über einen Rechtsanspruch auf Ausbildung reden, sondern ihn auch faktisch umsetzen soll. Dafür bietet unser
Modell die Gelegenheit. Sie haben heute die Chance,
dem zuzustimmen, damit wir endlich zu einer Reform
des Ausbildungssystems kommen und nicht weiter an
dem Flickenteppich, so wie er sich im Berufsbildungsbericht zeigt, herumdoktern.
Danke schön.
({7})
Stefan Müller ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Botschaft des Berufsbildungsberichtes, den wir heute
diskutieren, ist klar: Die Bilanz des Ausbildungsjahres
2008 ist gut. Erstmals seit dem Jahr 2001 haben wir
rechnerisch in Deutschland wieder eine höhere Zahl von
Ausbildungsplätzen als von Interessenten. Ich finde, das
ist erfreulich. Erfreulich ist nicht nur der Umstand, dass
viele Schulabgänger einen Ausbildungsplatz gefunden
haben, sondern auch die Tatsache, dass es zahlreiche
Altbewerber geschafft haben, eine berufliche Ausbildung zu finden.
({0})
Bis 2006 ist die Zahl der jungen Menschen, die sich in
Warteschleifen befunden haben, immer weiter gestiegen.
Erfreulich ist für mich daher ebenfalls, dass die Zahl derer, die sich in Warteschleifen befinden, 2008 erstmals
reduziert werden konnte. Man kann diese Debatte zum
Anlass nehmen, seiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass junge Menschen in diesem Land tatsächlich
eine Lehrstelle gefunden haben.
({1})
Schließlich ist nichts schlimmer, als dass ein junger
Mensch die Schule verlässt und sich unmittelbar nach
seiner Schulzeit erfolglos um eine Lehrstelle bemüht und
damit das Gefühl bekommt, dass er in dieser Gesellschaft nicht gebraucht wird.
Junge Menschen brauchen eine Perspektive. Es ist die
vordringlichste Aufgabe der Gesellschaft und auch der
Politik, dafür zu sorgen, dass junge Menschen eine solche Perspektive bekommen. Ich stelle fest, dass die
Große Koalition in den vergangenen Jahren dementsprechend gehandelt hat. Ein Teil des Erfolges der letzten
Jahre - gerade am Ausbildungsstellenmarkt - ist auch
ein Erfolg dieser Großen Koalition.
({2})
Der Ausbildungspakt hat zu diesen positiven Entwicklungen ganz wesentlich beigetragen. Das Angebot
an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist im vergangenen
Stefan Müller ({3})
Jahr weiter gestiegen. Zugesagt waren von den Unternehmen 60 000 Ausbildungsstellen. Fast 87 000 sind
von der Wirtschaft eingeworben worden. Ich halte das
allein schon deswegen für bemerkenswert, weil zumindest im zweiten Halbjahr des Jahres 2008 die Auswirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sehr wohl
spürbar waren. Ich will heute die Gelegenheit nutzen,
mich ausdrücklich bei den Unternehmen in Deutschland
zu bedanken, vor allem bei den kleinen und mittelständischen Betrieben, die immer noch - Gott sei Dank! Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, die jungen
Menschen eine Chance geben. Wir haben wirklich allen
Grund, dafür dankzusagen.
({4})
Natürlich gilt es auch, den Blick nach vorne zu richten. Die Lage wird schwieriger; das wird angesichts der
Zahlen und Prognosen, die wir jeden Tag zur Kenntnis
nehmen müssen, niemand bestreiten wollen. Wir müssen
leider davon ausgehen, dass diese Wirtschaftskrise den
Arbeitsmarkt und auch den Lehrstellenmarkt erreichen
wird. Viele Unternehmen sehen sich heute gezwungen,
Kurzarbeit anzumelden. Die Befürchtung ist - wir alle
hoffen, dass sie nicht eintritt -, dass bis zum Sommer aus
Kurzarbeitern Arbeitslose werden.
Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass es Unternehmen gibt, die, wenn sie ihre Mitarbeiter heute nicht
beschäftigen können, nicht über den Fachkräftemangel
von morgen oder übermorgen nachdenken. Das Bundesinstitut für Berufsbildung prognostiziert uns einen Rückgang von etwa 56 000 Ausbildungsplätzen im Jahr 2009.
Diese Prognose wird durch verschiedene Umfragen der
Wirtschaft gestützt. Aber man muss schon zur Kenntnis
nehmen, dass dem Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze ein Rückgang der Zahl derjenigen gegenübersteht,
die überhaupt eine Lehrstelle suchen. Die Bewerbergruppe, die Zahl der jungen Menschen, die die Schule
verlassen, wird nämlich allein aufgrund des demografischen Wandels kleiner. Man muss auch berücksichtigen, dass im vergangenen Jahr eine hohe Zahl von Altbewerbern vermittelt werden konnte. Wir haben allen
Grund, davon auszugehen, dass in diesem Jahr wie in
den Jahren 2007 und 2008 der überwiegende Teil der
jungen Menschen, die eine Lehrstelle suchen, ohne staatliche Hilfe einen Ausbildungsplatz finden wird. Insofern
besteht hier überhaupt kein Anlass zur Panikmache. Das,
was hier teilweise abläuft - auch in dieser Debatte -,
halte ich für unverantwortlich, weil es Ängste schürt, anstatt jungen Menschen Mut zu machen.
({5})
Frau Hinz, Sie tun so, als wäre die von Ihnen vorgeschlagene Modularisierung die Lösung aller Probleme.
Das geht meines Erachtens am Kern vorbei.
({6})
Durch eine Debatte darüber wird nur der Eindruck erweckt wird, als wäre unser Erfolgsmodell der dualen Berufsausbildung nichts mehr wert. Es ist ein Modell, für
das uns andere Länder beneiden und das in anderen Ländern kopiert wird. Ich finde, wir sollten mit Kritik daran
sehr zurückhaltend sein. Die duale Berufsausbildung in
Deutschland ist ein Erfolgsmodell, und sie wird es auch
in Zukunft sein.
({7})
Natürlich brauchen bestimmte Gruppen von jungen
Menschen Unterstützung, aber dafür gibt es kein Patentrezept. Es gibt strukturschwache Regionen, in denen
selbst durchschnittliche Schulabgänger Hilfe benötigen.
Dort können wir durchaus über außerbetriebliche Angebote oder Ausbildungsverbünde eine Lösung herbeiführen. Anderswo gibt es Ausbildungshemmnisse, die in der
Person des Bewerbers oder in seinem familiären Umfeld
liegen oder die allein darin begründet sind, dass jemand
aus einem schwierigen sozialen Umfeld kommt. Migrationshintergrund spielt sehr oft eine große Rolle. Aber
gerade dafür gibt es doch individuelle Maßnahmen, mit
denen wir dafür sorgen, dass auch diejenigen eine
Chance bekommen. Es reicht doch nicht ein Hammer,
sondern wir brauchen einen ganzen Werkzeugkasten, um
für differenzierte Ausbildungsangebote und passgenaue
Unterstützungsangebote zu sorgen.
({8})
Genau deswegen haben wir in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Programmen und Maßnahmen auf den Weg gebracht.
({9})
Einige wurden schon angesprochen: der Ausbildungsbonus, den wir im vergangenen Jahr gemeinsam auf den
Weg gebracht haben, das Projekt JOBSTARTER und
vieles andere mehr. Ich muss das nicht weiter betonen.
Es geht hier um individuelle Lösungen, mit denen Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen geholfen werden kann. Deswegen ist das, was wir an der Stelle gemacht haben, richtig.
({10})
Entscheidend sind aber nicht allein staatliche Unterstützungsmaßnahmen, sondern entscheidend ist auch die
Bereitschaft der Unternehmen, auszubilden. Wir erwarten von keinem Unternehmen, dass es aus purer
Selbstlosigkeit junge Menschen ausbildet. Darum geht
es überhaupt nicht. Dass Unternehmen ausbilden, ist im
Interesse der Wirtschaft und im Interesse der Unternehmen, um den Fachkräftebedarf auch in Zukunft zu decken. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl der Schulabgänger um mehr als 20 Prozent, also deutlich sinken. Wer es
sich also leisten kann, in diesem Jahr auszubilden, der
sollte es auch tun.
({11})
Stefan Müller ({12})
Anders formuliert: Wer heute und morgen nicht ausbildet, braucht sich übermorgen auch nicht über einen
Mangel an Fachkräften zu beklagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({13})
Ich fasse zusammen: Die Lage am Ausbildungsstellenmarkt hat sich im vergangenen Jahr verbessert. Wir
haben trotz aller Krisenszenarien eine gute Ausgangslage für das Jahr 2009. Wir sind gemeinsam aufgerufen,
alles zu tun, damit junge Menschen in diesem Land eine
Perspektive und auch eine Chance auf eine Berufsausbildung bekommen.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Uwe Barth, FDPFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der bemerkenswerte Satz ist
schon öfter zitiert worden: Die Bundesregierung sieht
eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt. - Nun
zeigt ein Foto ja immer die Situation in dem Moment, in
dem das Foto gemacht wird, und nicht in dem Moment,
in dem man es betrachtet. So ähnlich verhält es sich natürlich auch mit Berichten. Sie beschreiben die Situation
im Moment der Datenerhebung und eben nicht in dem
Moment, in dem der Bericht gelesen wird. Deshalb kann
das, was in einem Bericht steht, eben schon ein bisschen
Schnee von gestern sein. Das ist gar nicht weiter verwunderlich.
Viel verwunderlicher ist es mit Blick auf den Berufsbildungsbericht, dass es selbst in dem Rekordwachstumsjahr 2008 nicht gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsverträge auch auf ein Rekordniveau zu heben,
sondern dass die Zahl 1,5 Prozent unter dem Niveau des
Vorjahres lag. Das liegt vor allem daran, dass es zwar gelungen ist, in den alten Bundesländern die Zahl der Ausbildungsverträge um 0,3 Prozent erhöhen, dass aber zur
gleichen Zeit in den neuen Bundesländern die Zahl der
Ausbildungsverträge um dramatische 9 Prozent gesunken ist. Da verwundert mich schon sehr, dass bisher
nicht ein Redner, insbesondere von der Bundesregierung, an dieser Stelle auf diesen bemerkenswerten dramatischen Rückgang eingegangen ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, drei Ursachen für
den Rückgang will ich kurz benennen: Erstens die
demografische Entwicklung. Gerade in den neuen
Bundesländern wohnen immer weniger junge Menschen, und es wird deshalb immer schwieriger, die Ausbildungsplätze zu besetzen. Das zeigt, dass es eben nicht
nur im universitären Bereich, im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses, Probleme gibt, sondern dass
auch und gerade bei den ganz normalen Ausbildungsberufen der Nachwuchs fehlt. Deshalb ist es aus meiner
Sicht dringend erforderlich, dass wir analog zu den Bemühungen um wissenschaftlichen Nachwuchs, analog
zu den Bemühungen um die Steigerung der Bekanntheit
und der Attraktivität der Studienstandorte in den neuen
Ländern eben auch klar machen müssen, dass man in
den neuen Ländern eine ganz ausgezeichnete Berufsausbildung bekommen kann und dass man natürlich nach
dieser Ausbildung mit einer Existenzgründung oder einer Anstellung im Osten eine Zukunft hat und vielleicht
auch ein Zuhause finden kann.
({1})
Es ist doch absurd, dass wir uns abends in Fernsehsendungen anschauen, wie Menschen in die entlegensten
Winkel dieser Welt auswandern, dass es aber unmöglich
erscheint, seinen Wohnsitz von Gießen nach Gera zu
verlegen. Das verstehe ich zumindest nicht.
({2})
Eine zweite wichtige Ursache beschränkt sich nicht
auf die neuen Bundesländer. Eine Studie des DIHK
zeigt, dass für zwei Drittel der ausbildenden Unternehmen die schulischen Defizite der Auszubildenden ein
wesentlich größeres Ausbildungshemmnis darstellen als
zum Beispiel die aktuelle wirtschaftliche Situation; nur
- in Anführungszeichen - ein Drittel nennt diese Situation als größtes Hemmnis. Deswegen ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir mit einem guten Bildungssystem, das im frühkindlichen und vorschulischen
Bereich beginnt, jungen Menschen eine Grundlage geben, die sie in die Lage versetzt, eine berufliche Ausbildung erfolgreich zu bewältigen.
Die dritte Ursache, das sind Sie von der Großen Koalition, das ist Ihre Politik der letzten Jahre, die dazu geführt hat, dass gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen belastet werden. Das sind nämlich diejenigen, die die Hauptlast der Ausbildung tragen, und
nicht, Herr Minister Scholz, die DAX-30-Unternehmen,
die Sie hier erwähnt haben. Sie haben nicht einmal das
Wort „Mittelstand“ verwendet.
({3})
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind bei
Ihrer Politik immer die Dummen. Das Ergebnis ist, dass
sie selbst in guten Jahren nicht mehr in der Lage sind,
die Ausbildungslast zu tragen.
({4})
Ob Unternehmensteuerreform oder Gesundheitsreform, es sind immer die kleinen und mittleren Betriebe,
die die Zeche Ihrer Politik bezahlen. Das gilt gerade im
Osten, wo Ihre Politik verhindert hat, dass die Betriebe
in den guten Jahren die viel zu geringe Eigenkapitalquote - das ist das größte Problem dieser Betriebe - erhöhen konnten, um die Ausbildungslast tragen zu können und in Zeiten der Krise noch etwas zuzusetzen zu
haben. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Großen Koalition, diese Politik zulasten der
kleinen und mittleren Betriebe nicht ändern, dann werden Sie auch in Zukunft ein Problem haben. Die BeUwe Barth
triebe werden nicht ausbilden, und dann werden alle Rezepte nichts mehr helfen. Deshalb wollen wir von der
FDP auch mit unserem Eintreten für ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem Politik zugunsten der
kleinen und mittleren Betriebe sowie zugunsten der Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesen Unternehmen
machen, damit die Menschen auch im Osten unserer Republik eine Zukunft haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie, Frau Hinz, wollen das Rad in der Berufsbildung neu erfinden, obwohl das Profil dieses Rades eigentlich schon längst abgefahren ist. Das zeigt die historische Bedeutung dieses Modells. Seit 25 Jahren wird
die duale Ausbildung zum Beispiel mit der Fachhochschulreife kombiniert. Lernschwächere, leistungsschwächere Jugendliche werden schon seit etlichen Jahren in
vielfältiger Weise durch die Bundesregierung gefördert
- übrigens auch schon zu Zeiten der rot-grünen Koalition -; das wissen Sie ganz genau.
Der Mittelstand, Herr Barth, trägt die Hauptlast der
Ausbildung.
({0})
Das Handwerk trägt die Hauptlast der Ausbildung; das
war auch im Jahr 2008 so.
Jeder Auszubildende, jeder Jugendliche braucht in der
Zukunft eine echte Chance. Minister Scholz wies darauf
hin, dass niemand durch den Rost fallen darf. Das ist
wichtig. Deshalb brauchen wir Ausbildung. Deshalb
brauchen wir Hochschulausbildung. Auch die Technologieführerschaft in der Welt muss erhalten bleiben. Gerade in Zeiten der Krise ist es entscheidend, dass wir das
weiter ausbauen.
Wenn Probleme auftauchen, müssen wir helfen. Konkrete Maßnahmen hat diese Koalition längst ergriffen.
Die Erfolge sind im Berufsbildungsbericht aufgeführt.
Natürlich zeigt der Bericht auch Herausforderungen und
Probleme auf. Wir wollen Hilfen bei der Lösung anbieten - immer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden. Der Jugendliche braucht eine berufliche Basis.
Für Altbewerber und für benachteiligte Jugendliche
zum Beispiel haben wir den Ausbildungsbonus eingeführt. Damit haben fast 13 000 Jugendliche zusätzlich einen Ausbildungsplatz gefunden.
({1})
6 000 Euro stellen wir pro Ausbildungsplatz zur Verfügung. Ist das nichts, Frau Hinz? Ist es nichts, wenn wir
benachteiligte Jugendliche durch betriebliche Einstiegsqualifizierung fördern? 24 000 Jugendliche sind aufgrund dieses Sonderprogramms vermittelt worden - immer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden.
Schlechte Zeugnisse bedeuten häufig auch schlechte
Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir vonseiten der Bundesregierung 200 neue Berater eingesetzt.
Das ist auch entscheidend. Ist es nichts, wenn man Hilfen im Übergang zwischen Schule und Beruf bietet und
Unterstützung leistet? Das ist wichtig.
({2})
Innerhalb der Wahlkreise können wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch selber aktiv werden. Ich
habe zum Beispiel Patensysteme an den verschiedensten Schulen errichtet. In diesem Rahmen arbeiten drei
bis fünf Paten wöchentlich an den Schulen und begleiten
die Jugendlichen in den Beruf. Sie führen wichtige Beratungen sowohl für leistungsstarke als auch für leistungsschwächere Jugendliche sowie für Jugendliche mit Migrationshintergrund durch.
Jugendliche brauchen eine berufliche Basis - aus
menschlichen Gründen. Das ist für mich ein entscheidender Grund.
({3})
Der zweite wichtige Grund ist die bereits angesprochene demografische Entwicklung. Heute suchen
640 000 bis 650 000 Jugendliche einen Ausbildungsplatz. Im Jahre 2020 werden es 500 000 sein. Daran erkennt man schon die Dramatik. Die Jüngeren werden
weniger und die Älteren mehr. Entsprechend brauchen
wir eine langfristige Planung sowohl in den Betrieben
als auch im öffentlichen Dienst. An vielen Stellen fehlt
es daran, und zwar sowohl in den Betrieben als auch im
öffentlichen Dienst. Das ist eine weitere Schwierigkeit.
Auf der einen Seite benötigen wir Facharbeiter, auf
der anderen Seite aber natürlich auch Akademiker. Deshalb ist es entscheidend, dass wir vonseiten der Bundesregierung Begleitmaßnahmen ergriffen haben.
Beispielsweise Ingenieure werden dringend benötigt.
Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat darauf
hingewiesen, dass die Quote der arbeitslosen Ingenieure
im Jahre 2004 bei 1,5 Prozent lag und heute nur noch
0,7 Prozent beträgt. In der Krise fällt die Arbeitslosigkeit. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir diese Ingenieure benötigen. Deshalb ist es wichtig, den Übergang
zwischen Beruf und Universität zu erleichtern. Genau
das will unsere Bundesregierung erreichen.
({4})
Dies kann man nur begrüßen und weiter unterstützen.
Dort müssen wir weitermachen. In der Zukunft muss
klar sein, dass der Fachwirt, der Meister und der Techniker an Deutschlands Universitäten studieren können.
Das muss unser Ziel sein.
({5})
Auch bei der Anerkennung der beruflichen Leistung müssen wir in dieser Art und Weise weitermachen.
Die berufliche Leistung muss in der kommenden Zeit an
der Universität anerkannt werden. Dies ist zwingend erforderlich; denn die Universitäten im europäischen Ausland haben das längst erkannt. Teilweise wird der Abschluss als Techniker oder als medizinisch-technische
Assistentin sogar als Bachelor anerkannt, sodass derjenige bzw. diejenige dort ein weiterführendes Studium
aufnehmen kann. Diese Initiativen müssen wir fortsetzen.
Zusammenfassend kann man Folgendes feststellen:
Unsere Koalition hat eine wirklich erfolgreiche Bildungsarbeit geleistet. Wir müssen damit verstärkt weitermachen.
({6})
Volker Schneider ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Grasedieck, ich bin Ihnen dankbar, dass
wenigstens aus Ihrer Rede deutlich geworden ist, dass
berufliche Bildung mehr ist als nur berufliche Erstausbildung und dass gerade heute auch das lebenslange Lernen
und die betriebliche Weiterbildung dazugehören.
({0})
Wer sich mit dem vorliegenden Berufsbildungsbericht
unter dem Gesichtspunkt der Weiterbildung befasst,
kann allerdings nur enttäuscht sein. Gerade einmal fünf
Seiten widmet das Bildungsministerium reichlich uninspiriert einer belanglosen Aneinanderreihung der laufenden Projekte. Die substanziellste Information ist der
erfreuliche Anstieg der Zahl der Geförderten im Sonderprogramm WeGebAU. Sie ist deshalb erfreulich, weil
die wichtigen Zielgruppen der Älteren und Geringqualifizierten in den Unternehmen gefördert werden sollen.
({1})
Zwischenfazit: Die Würdigung der Weiterbildung
durch das Bundesbildungsministerium - leider auch
durch Ihre Rede, Herr Minister Scholz - steht im krassen
Gegensatz zu den fortlaufenden Beteuerungen von der
besonderen Bedeutung lebenslangen Lernens.
({2})
Wir als Linke stellen fest: Es reicht nicht, von der Bedeutung lebenslangen Lernens zu reden, sondern wir
brauchen eine Politik, die dieser Wertschätzung entspricht.
({3})
Wesentlich länger und inhaltlich gehaltvoller fällt der
Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung,
BIBB, aus. Es ist allerdings auffallend, dass sich das Bildungsministerium in keiner Weise auf die Daten des
BIBB bezieht. Wieso eigentlich nicht? Dass sich das
Bundesinstitut auf unterschiedliche Studien bezieht
- das räume ich ein -, macht es einem leider nicht leicht,
die vorhandenen Daten zu interpretieren. So schwanken
etwa die Angaben zu den weiterbildenden Betrieben
zwischen 43, 69 und 84 Prozent. Man muss schon etwas
genauer nachlesen, um festzustellen, dass 2007 nicht
einmal die Hälfte der Betriebe im engeren Sinne als weiterbildungsaktiv anzusehen war. Ansonsten hätte das
Bildungsministerium sehr wohl nachlesen können, dass,
gerade was die zentralen Herausforderungen der Weiterbildungspolitik anbelangt, die Daten keinen Fortschritt,
sondern leider oft nur das Gegenteil signalisieren.
Dazu nur einige unvollständige Hinweise: Die Zahl
der Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung ist gestiegen. Aber noch immer liegen die Teilnehmerzahlen aufgrund von Veränderungen in der Förderpolitik weit unter den Zahlen der 90er-Jahre; und das
angesichts der drohenden Krise.
Die soziale Selektion im Rahmen der Weiterbildung
hat nicht abgenommen. Im Gegenteil: Die Weiterbildungsquote von Personen aus einfachen Tätigkeiten ist
zurückgegangen, während die der Personen aus qualifizierten Tätigkeiten zugenommen hat. Wir können doch
nicht weiter zusehen, wie sich die soziale Schere in diesem Bereich weiter öffnet.
({4})
Im Länderranking ist Deutschland zurückgefallen,
weil Slowenien und Tschechien an uns vorbeigezogen
sind. Die Besserplatzierung bei den Teilnehmerstunden
erklärt sich nicht durch den Fortschritt in Deutschland,
sondern durch Rückschritte in Großbritannien und Norwegen.
Weniger Unternehmen bieten ihren Beschäftigten betriebliche Weiterbildung an, und weniger Beschäftigte
haben an betrieblicher Weiterbildung teilgenommen.
Gleichzeitig geben die Unternehmen pro Teilnehmer weniger aus. Insgesamt - ich zitiere aus dem Bericht „deuten diese Ereignisse darauf hin, dass betriebliche
Weiterbildung in Deutschland stagniert bzw. rückläufig
ist.“
Kurz: Dieser Berufsbildungsbericht ist ein Dokument
des Scheiterns Ihrer Weiterbildungspolitik.
({5})
- Das ist aber etwas wenig, lieber Kollege Rossmann.
({6})
Sie liefern weder Antworten, wie der im wirtschaftlichen
Interesse liegende Qualifizierungsbedarf angemessen
gedeckt werden soll, noch verfügen Sie über irgendein
Mittel, um zu verhindern, dass sich soziale Benachteiligung auch in der Weiterbildung fortsetzt.
Volker Schneider ({7})
Schaffen Sie endlich einen vernünftigen Rahmen, in
dem sich Weiterbildung für Anbieter und Teilnehmer
kalkulierbar entwickeln kann. Für die Linke fordere ich
zum wiederholten Male die Schaffung eines Erwachsenenbildungsförderungsgesetzes.
({8})
Eine letzte Bemerkung an die marktradikalen Freunde
auf der rechten Seite des Parlaments: Ein solches Gesetz
braucht nicht jedes kleine Detail zu regeln, aber es
schafft notwendige Rahmenbedingungen, die auch der
Markt der Weiterbildung zwingend benötigt; denn auch
dieser Markt ist in seiner unregulierten Form grandios
gescheitert.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die denkbar sind,
werden wir das, was auch im Berufsbildungsbericht
markiert ist, nicht außer Kraft setzen: Der Ausbildungsmarkt folgt dem Arbeitsmarkt. Wenn man zurückblickt, dann stellt man fest: Im Jahre 2005 lag die Zahl
der Arbeitslosen bei 5,2 Millionen. Im Dezember letzten
Jahres haben wir es durch die Arbeit der Großen Koalition erreicht, dass die Zahl der Arbeitslosen erstmals unter 3 Millionen, genauer: auf 2,98 Millionen Arbeitslose,
gesunken ist. Ohne diese drei guten Jahre läge die Zahl
der Arbeitslosen heute angesichts der Weltwirtschaftskrise nicht bei 3,6 Millionen, sondern bei 6 Millionen.
Deshalb ist es gut, dass die Große Koalition den Arbeitsmarkt in diesen drei Jahren so hervorragend bedient hat
und dafür gesorgt hat, dass Beschäftigung wieder möglich geworden ist.
({0})
Ein Unternehmer, der in einer globalwirtschaftlich
schwierigen Zeit über seine Belegschaft und seine Personalstruktur nachdenkt - das ist klar -, denkt erst einmal
an die befristet Beschäftigten. Im Zusammenhang mit
der Sicherung der Arbeitsplätze der Stammbelegschaft
stellt er dann die Frage: Kann ich mich noch einmal für
drei Jahre Ausbildung an einen jungen Menschen binden? Kann ich das verantworten? Deswegen besteht in
der jetzigen Zeit die Gefahr einer Erstarrung des Ausbildungsmarktes.
Es ist wichtig, dass wir eines nicht zulassen, nämlich
die von Ihnen, Kollegin Hirsch, und Ihrer mehrfach umbenannten SED immer wieder zum Ausdruck gebrachte
klammheimliche Freude darüber, dass es den Menschen
dreckig geht.
({1})
Sie sind die Manager des Elends.
({2})
Sie leben davon, dass es Probleme gibt.
({3})
Wir hingegen wollen alles dafür tun, dass es den Menschen besser geht als vorher. Das ist eine Botschaft, die
ganz entscheidend sein wird. Es gibt eine Interessenidentität zwischen den Menschen und den etablierten
Parteien: Wir wollen, dass es den Menschen besser geht,
und wir erfreuen uns nicht daran, Kollegin Hirsch, dass
es Probleme gibt und es den Menschen schlecht geht.
({4})
Die Staatsradikalen, die vor 20 Jahren gescheitert
sind, sind genauso wenig Teil der Lösung wie die
Marktradikalen, die in diesen Monaten gescheitert sind.
Soziale Marktwirtschaft ist ein dritter Weg, der sich immer von den Extremen auf der einen wie auf der anderen
Seite unterschieden hat.
({5})
- Wer schreit, zeigt damit, dass ich recht habe. Er fühlt
sich getroffen.
Für die Ausbildung ist originär die Wirtschaft zuständig und subsidiär der Staat.
({6})
Deshalb ist das duale System der Königsweg der Ausbildung. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren eine
duale Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen junge Menschen in 500 000 Betrieben. Diese Unternehmen geben
jedes Jahr 30 Milliarden Euro für die berufliche Qualifizierung aus. Was wäre, wenn diese 30 Milliarden Euro
von der Privatwirtschaft für die Berufsausbildung nicht
mehr mobilisiert würden? Handwerk und Mittelstand
tragen 85 Prozent der Ausbildungsplätze. Deswegen ist
die Förderung von Handwerksbetrieben und des Mittelstandes auch Ausbildungsförderung in unserem Lande.
({7})
Die Finanzkrise zeigt offenkundig, dass es wichtiger
und nachhaltiger ist, in Menschen zu investieren als in
irgendwelche kurzfristigen Börsenaktivitäten. Die Krise
wird Schleifspuren auf dem Ausbildungsmarkt verursachen. In manchen Arbeitsagenturen, auch in NordrheinWestfalen, beträgt der Rückgang der Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze im ersten Quartal etwa 20 Prozent
im Vergleich zum Vorjahr.
Deshalb müssen die Instrumente, die wir gemeinsam
entwickelt haben, überprüft und als Schutzschirm für die
Ausbildung genutzt werden. Ein Beispiel ist die
Einstiegsqualifizierung. Mehr als 75 Prozent derjenigen, die dieses halbjährige Praktikum im Rahmen einer
solchen EQJ-Maßnahme absolvieren, können weitervermittelt werden. Wir nutzen betriebliche Ausbildungsstrukturen, die integrativ wirken. Auch der Ausbildungsbonus war nie ein Freund der Masse. Auch wenn
wir dadurch nicht 100 000 oder 80 000 Jugendlichen,
sondern nur 13 000 Jugendlichen helfen, ist das gut.
({8})
Die Befürchtung, die von einigen Kammern und Arbeitsagenturen formuliert wurde, es würde ein massenhafter
Missbrauch stattfinden, hat sich nicht bewahrheitet. Es
hat sich gezeigt, dass die Kammern, die Arbeitsagenturen und die Unternehmen mit diesem Instrument nach
den Kriterien, die wir vorgegeben haben, sehr verantwortungsvoll umgehen.
Auch die ausbildungsbegleitenden Hilfen sind ein
wichtiges Instrument. Wir müssen überlegen, ob wir sie
nicht frühzeitiger einsetzen können. Wir müssen überlegen, ob es sinnvoll ist, sie nicht nur als Interventionsinstrument einzusetzen, wenn es in der Ausbildung kriselt.
Vielleicht sollten wir schon zu Beginn der Ausbildung
einen Gutschein für Sprachförderung oder andere
Fördermaßnahmen ausgeben. Wir müssen das Ganze
verbessern und entbürokratisieren.
Maßnahmen zur Förderung der frühzeitigen Berufsorientierung sind wichtige Instrumente. Dadurch konnte
laut Berufsbildungsbericht die Abbrecherquote von
24,8 Prozent auf 19 Prozent verringert werden. Das sind
etwa 40 000 Abbrecher weniger. Das sind 40 000 junge
Menschen mehr, die einen Betrieb gefunden haben, in
dem sie ihre Ausbildung bis zum Ende fortsetzen können.
({9})
Entscheidend wird sein, dass wir in diesen schwierigen Zeiten - Frau Ministerin Schavan hat es eben formuliert - auch für Auszubildende einen Schutzschirm spannen und dass wir dazu die vorhandenen Instrumente
nutzen. Ein solcher Schutzschirm für die Berufsqualifizierung könnte drei Stufen haben. Als erste Stufe
könnte es einen Bonus für Ausbildungsbetriebe geben,
die offenkundig wirtschaftlich kränkeln und die Ausbildung vielleicht nicht zu Ende führen können. Als zweite
Stufe könnte die Kammer beim Ausbildungspakt zusichern, bei Insolvenz eines Ausbildungsbetriebes einen
alternativen Ausbildungsbetrieb zu suchen und zu finden.
({10})
Als dritte Stufe - wenn das alles nicht hilft - sollte die
Möglichkeit bestehen, dass die Qualifizierung bis zur
Kammerprüfung in einer Berufsbildungswerkstatt fortgesetzt werden kann.
Das kostet nicht mehr Geld; wir können das mit den
nicht abgerufenen Mitteln aus dem Bonusprogramm hervorragend finanzieren. Deshalb glaube ich, dass ein solcher Schutzschirm für Auszubildende nicht nur im Falle
der Insolvenz angesichts der jetzigen Schwierigkeiten
notwendig ist, sondern wir mit dieser Debatte signalisieren müssen: Wir garantieren politisch subsidiär, dass
jede Qualifizierung zu Ende geführt werden kann.
Meine lieben Freunde, seien Sie gegen alle Miesmacher dieser Welt und im Sinne des Berufsbildungsberichtes Mitmacher und Mutmacher für eine bessere
Ausbildung.
({11})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Willi Brase für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute Morgen bei Eintritt in die Tagesordnung unsere beiden
Minister Frau Schavan und Herrn Scholz gehört. Ich
habe den Eindruck, dass hier zwei Bildungsminister zu
diesem wichtigen Thema gesprochen haben.
({0})
Das zeigt, dass das Thema Bildung mittlerweile in der
Bundesregierung ressortübergreifend angekommen ist.
Ich finde, das ist heute Morgen ein gutes Signal.
({1})
Wir wissen, dass der Bericht gute Zahlen beinhaltet.
Aber wir wissen genauso, dass sich in der Realität etwas
entwickelt, aufgrund dessen wir mehr Gas geben müssen. Ich bin Uwe Schummer und anderen dankbar, die
darauf hingewiesen haben, dass man fragen muss: Wie
schaffen wir es, dass auch in diesem Ausbildungsjahr
- also bis Ende September bzw. in der Nachvermittlung
bis zum 31. Dezember - genügend Ausbildungsplätze
angeboten werden? Ich will ausdrücklich die Aussage
unseres Ministers Olaf Scholz unterstützen. Wir müssen
heute klipp und klar sagen: Wir erwarten von den Unternehmen, dass sie insgesamt mindestens 600 000 Ausbildungsplätze für die jungen Leute in diesem Jahr zur Verfügung stellen.
({2})
Wir sind der Auffassung, dass es gelingen kann. Es gibt
immer noch Unternehmen, die ausbildungsfähig sind
und nicht ausbilden.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung legte 2007 eine
Erhebung über die Kosten der dualen Ausbildung vor.
Sie hatte mehrere Ergebnisse. Ein Ergebnis war, dass die
Kosten für Unternehmen geringer geworden sind gegenüber denen, die in der Studie von 2000 genannt wurden.
Die Nettokosten betragen durchschnittlich etwas über
3 500, fast 3 600 Euro. Natürlich sind die Kosten in bestimmten Bereichen im industriellen Sektor größer als
zum Beispiel im Handwerk, wo eine Hochqualifizierung
in Teilbereichen nicht notwendig ist. Das heißt, im
Handwerk liegen die Nettokosten oft unter diesem Betrag.
Wenn das der Fall ist, ist es mit Blick auf den Ausbildungsbonus eigentlich kein Problem für kleine und
mittlere Betriebe, zusätzliche Ausbildungsplätze anzubieten; denn der Ausbildungsbonus beträgt 4 000 bis
6 000 Euro. Wir erwarten, dass die Unternehmen, die
bisher nicht ausbilden, endlich dieses Instrument nutzen
und eine vernünftige Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze erreicht wird.
({3})
Ein weiterer Bereich, der angesprochen werden muss
- ein Kollege hat es eben gesagt -, betrifft die Weiterbildung. Ja, es ist richtig: Das Programm WeGebAU ist
schleppend angelaufen. Aber in der Praxis erlebe ich,
dass WeGebAU gerade im Zusammenhang mit Kurzarbeit sehr deutlich und sehr viel stärker auch in anderen
Bereichen, die nicht alle vorgegebenen Kriterien erfüllen, genutzt wird. Ich glaube, wenn Weiterbildung Sinn
macht, dann in Zeiten von Kurzarbeit. Man sollte dieses
Instrument zur besseren Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nutzen.
({4})
Deshalb werden wir zukünftig sagen können: Dieses Instrument, WeGebAU, ist ein voller Erfolg.
({5})
Olaf Scholz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir den jungen Leuten eine Perspektive geben wollen
und geben werden. Die SPD will, dass alle Jugendlichen
einen Schul- bzw. Bildungsabschluss erhalten. Das
Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses haben wir
bereits auf den Weg gebracht. Außerdem wollen wir eine
Berufsausbildungsgarantie für Jugendliche, die älter als
20 Jahre sind. Dieses Thema wird in Zukunft immer bedeutender.
Schon heute verzeichnen die zuständigen Stellen - sprich:
die Kammern - Ausbildungsverträge von jungen Leuten,
die erst mit 23, 24, 25 oder 26 Jahren mit einer Ausbildung angefangen haben. Angesichts der demografischen
Entwicklung kann ich nur sagen: Wir sind gehalten, auch
älteren jungen Erwachsenen, die keinen Berufsabschluss
haben, den Weg zu einem Berufsabschluss zu ebnen.
Das ist zwingend notwendig.
({6})
Lassen Sie mich noch etwas zum Übergangssystem
sagen. Frau Hinz, eines verstehe ich nicht: Damals unter
Rot-Grün haben wir den Versuch unternommen, durch
die Schaffung eines neuen Instruments bestehende Instrumente in ihrer Vielfältigkeit zurückzudrängen. Wenn
wir es schaffen, die Einstiegsqualifizierung, EQ, aus
den Bereichen, in denen damit Missbrauch betrieben
wird, wegzudrücken und die Qualifizierungsbausteine,
die es dort schon gibt, ein Stück weit zu schärfen, dann
kann mithilfe der Einstiegsqualifizierung - ein Jahr in einem Betrieb - den Jugendlichen, die noch nicht stark genug sind, der Weg in eine drei- oder dreieinhalbjährige
Ausbildung, nicht unbedingt in eine zweijährige Ausbildung, geebnet werden.
({7})
Ich glaube, diese Entwicklung ist besser. Es wird sich
zeigen - der Staatssekretär ist, wie ich sehe, hier -, dass
wir dann auch weniger BvB-Maßnahmen nach SGB III
brauchen. Daran lässt sich diese Entwicklung nämlich
konkret messen, vor allen Dingen in der Praxis. Wir sind
dafür, so vorzugehen.
Die Berufsorientierung in der Schule muss wesentlich gestärkt werden; das wissen wir. Ich möchte darauf
hinweisen, dass wir mit den Programmen des BMBF
schon den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wenn wir
diese Maßnahmen ausweiten, werden wir es schaffen,
die Berufsorientierung an den Schulen, auch wenn wir
hier keine direkte Kompetenz haben, zu verbessern.
Das ist deshalb notwendig, weil die Ausbildungswünsche der Jugendlichen und die reale wirtschaftliche Lage
bzw. die vorhandenen Arbeitsplätze in manchen Regionen nach wie vor nicht übereinstimmen. Es muss uns in
Zukunft gelingen, beides miteinander zu verbinden. Die
Jugendlichen müssen wissen, welche Branchen, Industrien und Handwerksbereiche es in ihrer Region gibt,
und wir müssen uns bemühen, dieses Angebot mit ihren
Ausbildungswünschen zu vereinbaren. Wir wollen die
Berufsorientierung an allen Schulen verbessern.
({8})
Ausbildungsbegleitende Hilfen und Berufseinstiegsbegleitung werden, wie ich dem Votum des Hauptausschusses des BIBB und dem Minderheitenvotum der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer entnommen habe,
begrüßt. Wir werden sogar aufgefordert, diese Hilfen
auszuweiten. Wenn wir diese Instrumente zukünftig
noch besser und geschickter anwenden, tun wir für die
jungen Leute etwas sehr Gutes. Dann geben wir ihnen
auch eine gute Perspektive.
({9})
Zum Schluss. Vor dem Hintergrund der schwierigen
wirtschaftlichen Lage werden in dieser Debatte auch
vonseiten der Gewerkschaften einige berechtigte Forderungen erhoben, die ich ausdrücklich befürworten
möchte. Die Gewerkschaften fragen zum Beispiel: Was
passiert mit den jungen Leuten, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben? Wenn wir sagen, dass durch
das Ausbilden von heute der Fachkräftebedarf von morgen gedeckt wird, dann müssen wir auch dafür sorgen,
dass diejenigen, die ihre Ausbildung in diesem oder im
nächsten Jahr abschließen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
Die SPD möchte eine Beschäftigungsbrücke bauen.
Wir wollen die jungen Leute in den Arbeitsmarkt integrieren und denen, die kurz vor der Verrentung stehen,
die Chance geben, im Rahmen einer vernünftigen
Altersteilzeitregelung aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Eine solche Beschäftigungsbrücke werden wir in
den nächsten Jahren brauchen. Daher werden wir sie auf
den Weg bringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/12640, 16/12680 und 16/12665
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es sieht
so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
500 000 Arbeitsplätze - Existenzsichernd und
öffentlich gefördert
- Drucksache 16/12682 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Sicherheit und Zukunft - Initiative für ein so-
zial gerechtes Antikrisenprogramm
- Drucksachen 16/12292, 16/12485 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Werner Dreibus, Kornelia Möller, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gute Arbeit - Gutes Leben
Initiative für eine gerechte Arbeitswelt
- Drucksachen 16/6698, 16/12469 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 75 Minuten dauern. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Werner Dreibus für die Fraktion
Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! 6 Prozent minus drohen
der Wirtschaft, Hunderttausende Arbeitsplätze stehen
auf dem Spiel. Die Menschen brauchen jetzt Schutz vor
den Auswirkungen der Krise. Deshalb fordern wir einen
Schutzschirm für Menschen.
({0})
Wir legen Ihnen dazu in drei Anträgen detaillierte konkrete Vorschläge vor.
Nach wie vor hilft die Große Koalition vor allem maroden Banken. Auch der Wirtschaftsgipfel vom gestrigen Tag ändert daran leider nichts. Allein einer einzigen
Bank, der HRE, schieben Sie mehr Geld zu, als Sie für
die Rettung von Arbeitsplätzen auszugeben bereit sind,
Ihre Konjunkturprogramme inbegriffen. Sie reden davon, dass die Banken zu bedeutend für die Wirtschaft
sind, als dass wir sie pleitegehen lassen können. Das
mag so sein. Aber dann müssen Sie, dann müssen wir
auch von den Arbeitsplätzen von Millionen Menschen
sprechen, die noch bedeutender sind und deren Verlust
wir ebenso wenig hinnehmen können.
({1})
Die Menschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
sind systemrelevant. Dazu hört man von Ihnen viel zu
wenig. Sie bedienen vor allen Dingen die Interessen derjenigen, die uns die Krise eingebrockt haben. Diejenigen, die unter ihr leiden, speisen Sie mit warmen Worten
ab. Beschäftigungsgarantien für die bei Opel Beschäftigten? Fehlanzeige. Hilfen für den Mittelstand, dem die
Banken den Kredithahn zudrehen? Fehlanzeige. Investitionen für neue Arbeitsplätze? Fehlanzeige. Beschäftigungsprogramme für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige.
Und so weiter.
Keinen einzigen Euro wollen Sie ausgeben, um die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zu verlängern. Nach Ihrem Willen landen die meisten Menschen, die heute
arbeitslos werden, spätestens nach einem Jahr bei
Hartz IV.
Auch den Millionen, die schon heute Hartz IV beziehen, bieten Sie keine Perspektive. Sie sind nicht einmal
bereit, das Arbeitslosengeld II zu erhöhen, sodass die
Menschen würdevoll davon leben können.
({2})
Ich nenne nur die Zahl: 2,5 Millionen arme Kinder in
Deutschlands Haushalten. Das ist und bleibt eine
Schande für unser Land.
({3})
Die Koalition redet nur von der Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ignoriert, dass sich dahinter eine tiefgehende humanitäre Krise verbirgt. Angesichts dessen,
wie SPD und Union auf die aktuellen Prognosen reagieren, stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob die Koalition
noch politisch zurechnungsfähig ist.
({4})
Sie sind bisher für 2009 von einem Minus von 2,25 Prozent ausgegangen und haben als Gegenmaßnahme Konjunkturhilfen in Höhe von 20 Milliarden Euro beschlossen. Jetzt wird von 6 Prozent minus und von bis zu
1 Million mehr Arbeitslosen ausgegangen. Was macht
die Kanzlerin? Sie erklärt, die bisherigen Konjunkturprogramme müssten ausreichen. Genauso gut könnte
man behaupten, dass ein Damm, der darauf ausgelegt ist,
vor einer Flutwelle von 5 Metern Höhe zu schützen,
auch vor einer Flutwelle von 15 Metern Höhe schützt.
Doch ein Tsunami ist etwas anderes als das jährliche
Frühjahrshochwasser.
Das alles ist realitätsfern, dreist und unverantwortlich.
({5})
Zu dieser Realitätsferne gehört auch, dass Sie wohlbegründete Warnungen regelmäßig in den Wind schreiben,
selbst wenn sie von Ihnen nahestehenden Leuten kommen. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank hat bereits
im letzten Herbst einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von bis zu 4 Prozent für möglich gehalten. Sie und
Ihre verantwortlichen Minister haben das damals im
Bundestag als Panikmache abgetan. Jetzt wissen wir:
Wir müssen mit einem Rückgang von 6 Prozent rechnen.
Ebenfalls im Herbst 2008 hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit davor gewarnt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu kürzen. Ich habe in der damaligen
Bundestagsdebatte gesagt: Nur Geisterfahrer oder Zyniker senken in der Krise die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. - „Unsinn“, hieß es damals aus Ihren Reihen,
„das Geld reicht allemal, wir haben genug Rücklagen.“
In diesem Herbst wird die Bundesagentur mit leeren
Händen dastehen.
Die neue Steuerschätzung wird möglicherweise einen
Fehlbetrag von 20 Milliarden Euro ausweisen. Bis 2013
werden nach den jetzt vorliegenden Berechnungen in den
öffentlichen Kassen krisenbedingt bis zu 200 Milliarden
Euro fehlen. Dennoch weigern Sie sich weiterhin beharrlich, die Reichen und Superreichen wenigstens in der
Krise stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu
beteiligen: Die Steuern für Spitzenverdiener werden
nicht erhöht, große Vermögen werden auch weiterhin
nicht besteuert.
Wie wollen Sie denn die Kosten der Krise schultern? Wir haben eine schlimme Befürchtung: Sie holen sich
das Geld bei den Beschäftigten, bei den Arbeitslosen
und bei den Rentnern,
({6})
selbstverständlich erst nach der Bundestagswahl.
({7})
Dann heißt es wieder, alle müssten jetzt den Gürtel enger
schnallen. Aber Sie meinen immer nur diejenigen, die
sowieso schon nicht viel haben. Das ist Politik gegen die
Menschen.
({8})
Da kann die SPD noch so schöne Sachen in ihr Programm schreiben. Mit Ihrem Wunschpartner FDP - das
werden wir gleich noch hören -, werden Sie davon
nichts umsetzen können, und Sie wissen das. Trotzdem
täuschen Sie die Wählerinnen und Wähler. Die nächste
Umverteilung von unten nach oben hat Herr Steinbrück
mit seinem Weg zu den Bad Banks schon eingeleitet.
Der Finanzminister redet von einem „Risiko für Steuerzahler, das bleibt“. Auf gut Deutsch heißt dies: Wenn
sich die faulen Wertpapiere auf Dauer als unverkäuflich
erweisen, dann zahlen halt die Steuerzahler die Zeche.
Den Banken kann man das ja nicht zumuten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Krisenpolitik zu ändern. Verteilen Sie die Kosten der Krise gerecht!
Ein erster Schritt ist eine Millionärsabgabe.
({9})
Eine Abgabe von 5 Prozent auf hohe Vermögen für die
Zeit der Krise bringt den öffentlichen Kassen 80 Milliarden Euro jährlich.
Zweitens fordern wir Sie auf, mit diesem Geld einen
Schutzschirm für Menschen zu spannen: Verlängern Sie
jetzt die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I und erhöhen Sie das Arbeitslosengeld II!
({10})
Legen Sie einen Zukunftsfonds auf, der Unternehmen
bei der Umstellung der Produktion auf energie- und rohstoffeffiziente Verfahren und Produkte unterstützt und so
bestehende Arbeitsplätze sichert und neue Arbeitsplätze
schafft! Bauen Sie die sozialen Dienstleistungen in der
Kinderbetreuung, der Altenpflege, der Bildung und anderswo aus und schaffen Sie dazu eine Million neuer Arbeitsplätze! Wann, wenn nicht jetzt?
({11})
Richten Sie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze
für diejenigen ein, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine
Chance mehr haben! Details finden Sie in unserem Antrag. Sichern Sie Beschäftigung, indem Sie anstelle von
Leiharbeit, befristeten Verträgen und Minijobs gute Arbeit, also das unbefristete und tariflich entlohnte Beschäftigungsverhältnis, fördern! Dies hilft dem Einzelnen, aber auch der Nachfrage und damit tatsächlich der
Konjunktur.
({12})
Die Krise hat auch etwas mit der Selbstherrlichkeit
von Managern zu tun, die meinten und immer noch meinen, der Börsenkurs sei das Wichtigste. Das Wichtigste
im Unternehmen sind und bleiben aber die Menschen,
die in den Betrieben arbeiten und die Werte schaffen.
Deshalb ist ein wichtiger Teil unseres Antikrisenprogramms der Ausbau, die Stärkung der Mitbestimmung
und eine Beteiligung der Beschäftigten an den Unternehmen.
({13})
Nur so werden die Menschen in die Lage versetzt, ihre
Interessen am Schutz von Arbeitsplätzen, an Löhnen und
guten Arbeitsbedingungen durchzusetzen.
Die Grundlage unseres Sozialstaats bilden die Arbeitslosen-, die Gesundheits- und die Rentenversicherung. Deren Funktionsfähigkeit wurde durch Ihre Kürzungspolitik in den letzten zehn Jahren erheblich belastet
und eingeschränkt.
({14})
Die Krise führt jetzt zu weiteren Belastungen. Deshalb
- auch dies gehört zu unserem Thema - brauchen wir sofort so etwas wie eine Staatsgarantie für die Sozialkassen. In der Krise und danach müssen Kürzungen bei den
Leistungen für Arbeitslose, Kranke und Rentner verbindlich ausgeschlossen werden.
({15})
Auch das ist Teil eines notwendigen Schutzschirms. Retten Sie nicht die Spekulanten, schützen Sie die Menschen! Das ist das Antikrisenprogramm der Linken, und
es sollte ein Antikrisenprogramm des Deutschen Bundestages insgesamt werden.
Vielen Dank.
({16})
Nachdem der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe einen wesentlichen Teil seiner Bemerkungen den Vertretern eines
Teils der Opposition jetzt gerade schon privat erläutert
hat, verbleiben ihm 14 Minuten für eine Rede an das gesamte Haus. - Lieber Kollege Brauksiepe, Sie haben das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bedanke mich untertänigst für die Maßregelung.
({0})
Ich will deutlich sagen: Herr Kollege Dreibus, es tut
mir schon ein bisschen leid für Sie, dass Sie das alles
heute hier vortragen mussten. Wenn die zweitkleinste
Fraktion des Hauses
({1})
hier in der Kernzeit zu so wichtigen Themen Anträge
stellt, dann hätte man ja vermuten können, dass jemand
aus ihrer vordersten Führungsreihe etwas dazu sagt.
Dass diese das nicht tun wollten, liegt aber wahrscheinlich daran, dass die Anträge, die Sie hier heute stellen,
wirklich jenseits der Peinlichkeitsgrenze sind.
Man muss sich nur einmal die Titel anschauen. Sie
schreiben zum Beispiel: „500 000 Arbeitsplätze - Existenzsichernd und öffentlich gefördert“. Das ist wunderbar. Wo haben Sie damit angefangen? Was ist mit dem
Arbeitsmarkt hier in Berlin? Was haben Sie davon in
Mecklenburg-Vorpommern getan, als Sie dort etwas zu
sagen hatten? Wo waren die Resultate dieser Arbeit?
Daneben schreiben Sie als Teil eines Titels: „Gute Arbeit - Gutes Leben“. Nicht Sie persönlich, aber die Regierung, die Ihre Partei stellte, hat am 17. Juni 1953 die
Arbeitsnorm erhöht.
({2})
1989 haben Sie sich mit einer Ostrente von 330 Ostmark
von der Weltbühne verabschiedet.
({3})
20 Jahre später meinen Sie, einen Antrag, in dessen Titel
„Gute Arbeit - Gutes Leben“ steht, als Beschlussvorlage
vorlegen zu können. Wer soll Ihnen das eigentlich glauben? Das können Sie doch wohl selbst nicht ernsthaft
glauben.
({4})
Sie tun so, als sei es eine Sache des politischen Willens, zu beschließen, dass alle ein gutes Leben führen
wollen. Nein, Herr Kollege, das ist eben der Unterschied. Ihre Auffassung teilen Sie mit manchen Finanzmarktjongleuren, die weltweit agiert haben und auch
glaubten, dass das Geld einfach so auf der Straße liegt.
Das Geld liegt nicht auf der Straße. Renditen von
25 Prozent kann man nicht dauerhaft ehrlich erwirtschaften. Man kann das Geld auch nicht drucken, in der
Hoffnung, dass man etwas dafür kaufen kann. „Gute Arbeit - Gutes Leben“ ist bei uns möglich, aber es muss
hart erarbeitet werden und nicht durch Phrasendrescherei, wie Sie das hier tun. Das ist der Unterschied.
({5})
Die Situation, in der wir uns befinden, ist wirtschaftlich schwierig; jeder weiß das. Es wird ein Jahr der
schlechten Nachrichten sein. Wir wissen, dass auch
heute Prognosen für die Zukunft gestellt werden, die natürlich große Herausforderungen für uns bedeuten. Für
uns als CDU/CSU-Fraktion heißt das, gerade in diesen
schwierigen Zeiten den Kurs zu halten, den die Regierung unter Angela Merkel in den letzten Jahren mit großem Erfolg eingeschlagen hat.
Wir haben eben eine Wirtschaftskrise und keine Systemkrise. Es ist jetzt insbesondere nicht die Zeit, in der
gescheiterte Ideologien von anno dazumal wieder aufkommen. Es ist eine Wirtschaftskrise, die wir durch eine
gute Politik nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wieder überwinden werden. Das werden Sie
in den nächsten Jahren erleben.
({6})
Wenn man sich vor Augen führt, dass wir jetzt seit
über einem halben Jahr mit dieser Krise zu tun haben,
dann merkt man, dass wir es mit einer Situation auf dem
Arbeitsmarkt zu tun haben, die vergleichsweise robust
ist. Es hat sich gelohnt, dass auf dem Arbeitsmarkt Anstrengungen unternommen und wichtige Reformen
durchgeführt worden sind. Nach drei Jahren haben wir
fast 2 Millionen Arbeitslose weniger. Wir haben über
1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen, und wir sind hinsichtlich
der Arbeitslosigkeit jetzt noch immer fast auf dem Niveau des Vorjahres.
An dieser Stelle will ich auch noch einmal deutlich
sagen: Wenn man Millionen zusätzliche Arbeitsplätze
schafft, dann sind darunter immer schlechter und besser
bezahlte Arbeitsplätze; das ist wohl wahr. Ich will aber
auch in diesen Tagen noch einmal sagen: Obwohl es jetzt
insgesamt wieder eine schwierigere Lage auf dem Arbeitsmarkt gibt, geht der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland weiterhin voran. Wir haben heute
weniger Langzeitarbeitslose als früher.
Was uns von denjenigen unterscheidet, die eine Systemkrise herbeireden wollen, ist folgende Erkenntnis:
Wenn jemand beispielsweise nach einer Arbeitslosigkeit
von drei Jahren für 9,60 Euro pro Stunde wieder eine
Beschäftigung findet, dann ist das nach der amtlichen
Statistik ein Niedriglohnjob, weil das weniger als zwei
Drittel des Durchschnittslohns ist; denn zum Glück sind
die Durchschnittslöhne in diesem Land hoch. Wenn jemand eine große Familie hat, dann muss er vielleicht
noch aufstockende Leistungen erhalten. Dass das Wort
dafür „Arbeitslosengeld II“ heißt, ist sicherlich keine
ruhmreiche Erfindung.
({7})
So mag ein Aufstocker oder ein Niedriglohnbezieher
mehr in der Statistik sein, vor allem aber ist das ein
Langzeitarbeitsloser weniger. Der Trend der erfolgreichen Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit setzt
sich fort. Darum geht es uns im Gegensatz zu Ihnen.
({8})
Auch wenn Sie in der Sache keine Erfolge vorzuweisen haben, haben Sie an der Propagandafront durchaus
Erfolge erzielt, das will ich Ihnen zugestehen. Obwohl
wir für den Kreis der ehemaligen Arbeitslosenhilfe- und
Sozialhilfeempfänger heute deutlich mehr Geld ausgeben, als das in der Zeit der getrennten Rechtskreise der
Fall war, haben Sie es geschafft, den Eindruck zu erwecken, als wäre an dieser Stelle das große Elend ausgebrochen. Ich will im Zusammenhang mit den Leistungen
gerade im Hinblick auf die Kinder sagen: Diese Regierung hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die am wenigsten haben, eine Leistungsausweitung bekommen. Wir
wissen, dass das zur Führung eines menschenwürdigen
Lebens notwendig ist.
Wir reden in diesen Tagen über vieles - über die Abwrackprämie, über das Kindergeld, über was auch immer -, was eigentlich anrechnungsfrei sein sollte. Die
Einführung des Arbeitslosengelds II hat dazu geführt,
dass heute die betroffenen Kinder aller Altersstufen
deutlich besser dastehen als in der Zeit der getrennten
Systeme. Der Abstand zwischen dem, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Kinderregelsätze erwirtschaften, als Kindergeld für ihre Kinder bekommen, und dem, was diejenigen, die nicht arbeiten,
von dem bekommen, was andere erwirtschaften, ist in allen Gruppen größer geworden. In diesem Jahr wird es
das Schulstarterpaket für alle Kinder geben, deren Familie vom Arbeitslosengeld-II-Bezug lebt, ferner sind die
Regelsätze angehoben worden. Auch die Renten steigen
in diesem Jahr. Diejenigen, die Kindergeld bekommen,
erhalten 120 Euro mehr. Diejenigen, die für die 6- bis
13-jährigen Kinder einen erhöhten Regelsatz bekommen, bekommen 340 Euro mehr in diesem Jahr.
Wir stehen dazu, weil wir wissen, dass wir diejenigen,
die am unteren Rand der Einkommensskala sind, nicht
vergessen dürfen. Für uns ist im Gegensatz zu Ihnen
aber auch klar: Jeder Euro, den einer bekommt, muss
von einem anderen erwirtschaftet werden, und jeder
Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Das haben
Sie über Jahrzehnte vergessen oder bis heute nicht begriffen. Jeder Euro, der einem Hilfebedürftigen gegeben
wird, muss von jemandem erwirtschaftet werden, der dafür morgens aufsteht, zur Arbeit geht und somit diesen
Sozialstaat finanziert. Das sollten Sie sich merken, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Deshalb verstecken wir uns nicht mit dem, was wir
für die bedürftigen Menschen geleistet haben. Mit der
gleichen Deutlichkeit sagen wir: Es müssen sich auch
diejenigen in der Politik aufgehoben fühlen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen. Auch diejenigen, die hart arbeiten
und sich an die Regeln in diesem Land halten, müssen
sich in der Politik wiederfinden. Diese Menschen spielen
in Ihren Anträgen niemals eine Rolle, sie stehen aber im
Mittelpunkt der Politik, die wir in der Großen Koalition
machen und für die wir als CDU/CSU stehen. Genau dafür stehen wir.
({10})
- Ja, eine neue Regierung tut nach einigen Jahren gut.
Herr Niebel, damit Sie da erfolgreich mitmachen können, müssen Sie sich ein bisschen anstrengen. Dann
müssen Sie auf das zurückkommen, was wir früher einmal gemeinsam gemacht haben.
({11})
Die Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme haben
wir nie gemeinsam betrieben. Solange Sie diese fordern,
können Sie auch nicht wieder regieren, so einfach ist die
Sache.
({12})
Wir werden denjenigen Menschen, die hart arbeiten
und sich an die Regeln halten, nicht mit einer populistischen Reichensteuer und Ähnlichem antworten. Das ist
leider auch das Problem unseres Koalitionspartners. Sie
als Sozialdemokraten werden einen Wettlauf mit der
Linkspartei um Linkspopulismus nie gewinnen. Mit einem Steuerkonzept, durch das Sie der Mittelschicht
- den Leistungsträgern in unserem Land - überhaupt
nichts zu bieten haben, werden Sie bei den Wählerinnen
und Wählern nichts gewinnen. Wir stehen dafür, dass die
Leistungsträger, dass die Bezieher der kleinen und
mittleren Einkommen in diesem Land entlastet werden,
damit sie wissen: Es lohnt sich, zu arbeiten.
({13})
Von ihnen wird Solidarität verlangt, aber sie haben auch
etwas von der Leistung, die sie selbst erbringen. Das ist
auch ein wichtiger Unterschied.
({14})
Wenn wir die Debatte über Mindestlöhne in diesen
Zeiten sehen, dann wird klar, dass wir mit unserer Politik
als CDU/CSU genau auf dem richtigen Weg sind.
Sie können als Linkspartei mehr Geld für alle versprechen. „Mehr Geld für alle“ - das ist Ihr Programm:
({15})
mehr Geld für diejenigen, die arbeiten, und mehr Geld
für die, die nicht arbeiten. Wo es herkommt, bleibt Ihr
Geheimnis. Es muss aber erarbeitet werden.
Man muss sich wundern, wenn von Sozialdemokraten
heute zu hören ist, dass sie sich ärgern, weil die Linkspartei einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro fordert.
({16})
Das hält die SPD für eine Sauerei. Sie fordert nur
7,50 Euro und wird jetzt überboten. So was kommt von
so was. Wenn man einmal anfängt zu fordern, der Staat
solle die Löhne festsetzen, dann kommt man in einen
Überbietungswettbewerb, aus dem man nicht mehr herausfindet.
({17})
Diesen Kampf können Sie nicht gewinnen. Sie hätten
besser gar nicht damit angefangen. Wir hätten besser von
vornherein gemeinsam auf die Tarifvertragsparteien und
die Tarifautonomie gesetzt. Das ist der Weg, den wir eingeschlagen haben.
Was die Konjunkturpakete angeht, die wir in der
Großen Koalition beschlossen haben, sind wir nach meiner festen Überzeugung auf dem richtigen Weg. Es geht
darum, in dieser schwierigen Krise das Signal zu senden,
dass es sich lohnt, wenn die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Betrieben diese schwierige Krise gemeinsam
durchstehen, wenn sie beieinanderbleiben, wenn die Arbeitgeber die Beschäftigten weiterqualifizieren, statt sie
in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, und wenn Kurzarbeit da, wo sie notwendig ist, auch durchgeführt wird,
aber die Menschen nicht auf die Straße gesetzt werden.
Das können wir arbeitsmarktpolitisch tun, um die Menschen auch in dieser schwierigen Zeit zu entlasten. Wir
setzen darauf, dass Weiterbildung betrieben wird und der
vorhandene gesetzliche Rahmen ausgeschöpft wird.
Wir haben in den guten Jahren der Regierung Merkel
Reserven angehäuft. Das gilt für die Rentenkassen und
die Arbeitslosenversicherung. Wir haben auch immer
wieder darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosenversicherung keine Sparkasse ist. Deswegen nutzen wir jetzt
die Reserven, um in dieser schwierigen konjunkturellen
Phase gegenzusteuern. Aber auch hier gilt: Jeder Euro
kann nur einmal ausgegeben werden. Es ist nicht der
richtige Zeitpunkt, um weitere kostenträchtige Programme draufzusetzen. Wir sollten nicht das, was wir
selbst gemacht haben, schlechtreden, sondern es erst einmal wirken lassen. Es ist ein gutes Angebot, um die
Menschen in Arbeit und Beschäftigung zu halten. Darum geht es in dieser Zeit.
({18})
Wir setzen auf einen Kurs, der wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet.
Was die soziale Gerechtigkeit angeht, müssten Sie noch
ein bisschen üben, Herr Kollege Niebel. Wenn Sie aber
kräftig üben, dann können wir das gemeinsam hinkriegen.
({19})
Dies ist nicht die Zeit, um die Rezepte von anno Tobak wieder vorzulegen. Es geht vielmehr darum, mit einer Politik der sozialen Marktwirtschaft und der sozialen
Gerechtigkeit Kurs zu halten.
({20})
Diese Politik werden wir auch in diesen schwierigen
Zeiten weiterverfolgen. Gute Arbeit und gutes Leben
müssen erwirtschaftet werden. Sie sind am besten unter
den Rahmenbedingungen möglich, für die nicht Sie und
alle anderen stehen, sondern die die CDU/CSU bietet.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Man kann und muss den Linken
normalerweise einiges vorwerfen, aber einen Vorwurf
darf man ihnen heute nicht machen, nämlich dass sie die
vorliegenden Anträge allein wegen der bevorstehenden
14 Wahlen eingebracht haben. Diesen Unsinn beantragen die Linken in diesem Hause schon seit mindestens
drei Jahren regelmäßig, bloß nicht so komprimiert wie
heute.
({0})
Heute beschäftigen wir uns mit Anträgen der Linken,
die nicht neu sind, sich aber in der Populismusquote graduell von den bisherigen Anträgen unterscheiden. Allein
im Bereich des Arbeitsmarktes wird eine bemerkenswerte Liste von Forderungen erhoben: die Einführung
der paritätischen Mitbestimmung in allen Unternehmen
ab 500 Beschäftigten, gleichzeitig die Zwangsbeteiligung
der Beschäftigten an Unternehmen, ein mit 100 Milliarden Euro ausgestatteter Zukunftsfonds, 1 Million zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Diensten,
500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze, die Verlängerung des Arbeitslosengelds I, die Erhöhung des
Arbeitslosengelds II, die Einführung des Mindestlohns,
die Arbeitszeitverkürzung, die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, die Ausdehnung der Altersteilzeit und die
Millionärsabgabe. Was noch fehlt, ist der von Oskar
Lafontaine geforderte Spitzensteuersatz von 80 Prozent.
Das, was Sie hier fordern, könnte einen fast vermuten
lassen, dass Sie absolut keine Ahnung haben, was vor
20 Jahren in diesem Land mit der Staatswirtschaft passiert ist. Das, was Sie hier fordern, führt mich zu der
Schlussfolgerung, dass Sie versuchen, uns glauben zu
machen, dass die DDR mit all dem, was dort in wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Hinsicht schiefgegangen ist, eine reine Simulation des Westens gewesen
ist. Das ist der Grund, warum Sie und mancher bei der
SPD versuchen, dieses elendige Unrechtsregime auf
deutschem Boden nachträglich zu legitimieren.
({1})
Sie versuchen, den Menschen klarzumachen, dass alles geht. Ein „Wünsch dir was“-Schlaraffenland! Dabei
sind Sie auch noch unsozial. Sie fordern nur einen Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro.
({2})
Das geht gar nicht; denn wenn der Mindestlohn bei
10,50 Euro läge, dann hätte eine fünfköpfige Durchschnittsfamilie in Deutschland 1 829 Euro netto zur
Verfügung. Auch ohne eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II hat die gleiche Familie aber heute schon Transferleistungen in Höhe von 2 017 Euro zur Verfügung.
Warum fordern Sie dann nicht so viel Mindestlohn, dass
diejenigen, die arbeiten, wenigstens das bekommen, was
diejenigen, die nicht arbeiten, schon heute bekommen?
Ich finde, das ist in höchstem Maße unsozial.
({3})
Finanzieren sollen das die Reichen. Die Reichen sind
nach Ihrem Verständnis die Facharbeiter, die arbeiten gehen und vielleicht mit Überstunden versuchen, sich und
ihrer Familie nebenher noch irgendetwas zu ermöglichen. Diese Bundesregierung greift nämlich - wir haben
Herrn Brauksiepe gehört, aber inhaltlich nicht wirklich
verstanden - der Mitte der Gesellschaft in die Tasche.
Diese Bundesregierung und Sie, die Kommunisten auf
der linken Seite dieses Hauses, vergessen diejenigen, die
den Laden in Deutschland überhaupt am Laufen halten.
Fordern Sie doch einmal ein Wachstumsprogramm
für Deutschland, ohne einen Steuer-Cent in die Hand zu
nehmen! Ein solches Wachstumsprogramm könnten Sie
dadurch gestalten, dass Sie Investitionshemmnisse beseitigen und dafür sorgen, dass Privatleute freiwillig
Geld für Dinge geben, die uns alle keinen Cent kosten.
({4})
Zwei Beispiele. Diese Bundesregierung hat in ihrem
Koalitionsvertrag festgeschrieben, sie wolle ein bundesweites Flughafenkonzept erstellen. Allein im Bereich
des Ausbaus von Flughäfen, und zwar nicht nur der großen, sondern auch der kleinen, gibt es einen Investitionsstau mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro, nur
weil diese Bundesregierung das nicht umsetzt, was sie
im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, und sich nicht
traut, sich zu einigen. Das Gleiche gilt für den konventionellen Kraftwerksbau. Dort gibt es einen Investitionsstau mit einem Volumen von ungefähr 40 Milliarden
Euro, nur weil diese Bundesregierung nicht die politische Kraft und nicht den politischen Mut hat, dafür zu
sorgen, dass Investitionshemmnisse durch ein einheitliches Energiekonzept - das müsste vereinbart werden abgebaut werden.
({5})
Nehmen Sie als weiteres Beispiel die Infrastrukturmaßnahmen im Gesundheitssystem. Hier könnte enorm viel
privates Geld fließen, wenn man nicht mit dem Gesundheitsfonds Kassensozialismus betriebe, der zu dem führt,
was Sie, die Linken, auf Umwegen wieder einführen
wollen, nämlich die „DDR-isierung“ der Bundesrepublik.
({6})
Eines ist völlig klar: Im Jahre 20 nach dem Mauerfall
werden Sie nicht mehr die Chance bekommen, auf Bundesebene politischen Einfluss auszuüben.
({7})
Wenn in über 80 Jahren in mehr als 70 Ländern der Welt
das Ergebnis des Feldversuches Sozialismus immer das
gleiche war, nämlich der Ruf der Menschen nach Freiheit und der Bankrott des Staates, dann liegt das nicht
daran, dass die Idee ein wenig falsch umgesetzt wurde,
sondern daran, dass Ihre Ideen falsch sind. Deswegen
werden Sie auch in diesem Haus keine Mehrheiten bekommen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Linken haben wieder drei Anträge vorgelegt
- hier kann ich dem Kollegen Niebel nur beipflichten -,
die letztendlich die Essenz dessen darstellen, was die
Linken in den letzten drei Jahren uns immer wieder vorgelegt haben. Es handelt sich um Anträge, die man unter
der Überschrift „Für eine gerechtere Arbeitswelt“ zusammenfassen kann. Tatsächlich wird aber nach dem
Motto gehandelt: Schreiben wir noch einmal auf, was
uns in all den Jahren eingefallen ist. - Dabei lassen sich
auch Vorschläge finden, die falsch sind, Vorschläge, die
die Tarifautonomie aushebeln, sowie Vorschläge oder
Behauptungen, die schlicht Unsinn sind. Ich sage das so
deutlich; denn anders kann ich Ihre Vorschläge nicht verstehen. Herr Dreibus, Sie haben gesagt, wir sollten die
Menschen vor den Vorschlägen der Bundesregierung
schützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vor Ihren Anträgen schützen, weil sie weltfremd sind und die Tarifautonomie im Wesentlichen aushebeln.
({0})
Die Linke stellt in einem ihrer Anträge fest, dass es in
den letzten Jahren zu einer gravierenden Erosion bei den
normalen Arbeitsverhältnissen gekommen sei und diese
durch atypische Beschäftigungsverhältnisse zulasten der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ersetzt worden
seien.
({1})
- Ja, da haben Sie recht. Dazu komme ich noch. - Sie
zieht daraus den Schluss, dass es dadurch zu einer Destabilisierung des Sozialversicherungssystems gekommen sei. 1998, vor ungefähr zehn Jahren, waren die gesamten Sozialversicherungssysteme dicht vor dem
Bankrott. Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Erst die
rot-grüne Regierung hat durch die Wiederbelebung des
Arbeitsmarkts und durch die schnellere Vermittlung von
arbeitslosen Menschen auf dem Arbeitsmarkt dafür gesorgt, dass sich auch die Sozialversicherungssysteme
stabilisieren konnten.
({2})
Heute redet außer der Linken keiner mehr vom Bankrott
des Rentenversicherungssystems, heute sind die Rentner
froh, dass ihre Beiträge nicht in Rentenfonds - bei Lehman Brothers oder bei einer anderen Bank -, sondern in
einem sicheren System investiert worden sind. Mit fast
28 Millionen Menschen im Herbst 2008 ist der höchste
Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht worden.
Dies hat sich zurzeit aufgrund der Wirtschaftskrise verkehrt. Ich will Ihnen die Zahlen trotzdem in Erinnerung
rufen, weil man sie Ihnen nicht oft genug sagen kann,
weil Sie nur schwarzmalen und weil Sie Ihre Politik
letztendlich darauf begründen, Menschen in diesem
Staat zu verunsichern. Die Zahl der Erwerbstätigen lag
im Jahresdurchschnitt 2008 deutlich über 40 Millionen
und damit auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Es waren in der Mehrzahl nicht atypische Verhältnisse. Auch ich habe die Presse in den letzten Tagen
verfolgt, in der zu lesen war, dass der Anteil der atypischen Verhältnisse seit 1997 beträchtlich gestiegen ist,
und zwar von 17 auf 25 Prozent. Das ist richtig, und das
ist bedauerlich, aber es sind nicht 4,6 Millionen atypische Arbeitsverhältnisse, wie Sie es aufzählen, sondern
es waren tatsächlich 3,0 Millionen in 2007 und 3,1 Millionen in 2006.
({3})
- Das sind immer noch 3 Millionen zu viel. Da stimme
ich mit Ihnen überein. Aber es sind 1,6 Millionen weniger, als Sie formulieren. - Damit wird deutlich, dass Sie
mit getürkten Zahlen argumentieren
({4})
und dass Ihre Politik eine Politik der Verunsicherung,
wie ich es gerade schon dargestellt habe, ist. Sie wollen
mit dieser Verunsicherung Wählerstimmen gewinnen.
Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen in diesem
Land Ihnen nicht auf den Leim gehen.
({5})
Auch die von Ihnen geforderte Genehmigung von
Lohnsenkungen ist für mich nicht nachvollziehbar. Sie
hebeln mit solchen Forderungen die Tarifautonomie
aus; denn ob es Lohnsenkungen oder Lohnerhöhungen
gibt, darüber entscheiden die Tarifvertragsparteien, nur
sie. Ich warne davor, dass der Staat in Tarifverhandlungen eingreift. Es kann nicht angehen, dass wir das autonome Recht der Tarifvertragsparteien immer wieder in
den Vordergrund stellen und sagen, daran wollten wir
nicht rütteln, aber hier wollen Sie - ({6})
- Bei der Zeitarbeit geht es um Mindestlöhne und nicht
um die Tarifautonomie im Allgemeinen.
({7})
Die von Ihnen geforderten Verbesserungen im Kündigungsschutz sind für mich als ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden nicht nachvollziehbar. Möglicherweise
liegt das daran, dass Sie sich von einigen Gewerkschaftern für die nächste Wahlperiode trennen. Sie hätten auf
deren gute Ratschläge und auf deren Information nicht
verzichten sollen; denn die Gewerkschafter aus den Betrieben hätten Ihnen erzählen können, dass bei Sozialplänen das Alter und die Betriebszugehörigkeit eine entscheidende Rolle spielen. Die hätten Ihnen erzählen
können, dass in vielen Tarifverträgen der Schutz von
über 55-Jährigen gewährleistet ist. Da frage ich mich:
Was wollen Sie damit erreichen? Sie versuchen, die
Menschen zu verunsichern, und das wird in Ihrem Antrag - das habe ich gerade schon gesagt - durch die Verfälschung von Zahlen ganz deutlich.
Sie müssen aus unserer Sicht einen anderen Ansatz,
einen ganzheitlichen Ansatz suchen. Bedingt durch den
demografischen Wandel werden wir in Zukunft die notwendige Wertschöpfung zunehmend mit älteren
Beschäftigten erbringen müssen. Ihr Wissen und ihr
Können sind unverzichtbar. Dem müssen wir in Zukunft
Rechnung tragen. Wir brauchen alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze. Wir wissen, dass lebenslanges Lernen gefordert ist. Auch das ist in der Diskussion zum
vorherigen Tagesordnungspunkt schon dargestellt worWolfgang Grotthaus
den. Wir sind der Auffassung, dass die Betriebe eine demografiefeste Personalpolitik betreiben müssen, dass die
Gesundheitspolitik, insbesondere die Prävention, in den
Betrieben verstärkt werden muss und Formen von intelligenter Arbeitsorganisation erforderlich sind. Das alles
muss so gestaltet werden, dass Jung und Alt gemeinsam
ihre Interessen in diesen Forderungen wiederfinden.
Eines will ich hier nicht außen vor lassen: Wir müssen
uns in den Betrieben auch um die Frauen kümmern.
({8})
Wir müssen die Gleichberechtigung der Frauen bei der
Bezahlung und bei der Besetzung von Funktionen umsetzen, insbesondere in den Aufsichtsräten und den Vorständen. Angesichts der Reaktionen der Kolleginnen
kann ich nur sagen: Frau Kollegin Pothmer,
({9})
Ihnen scheint es nicht angenehm zu sein, wenn ein
Mann, der Erfahrung im Betrieb gesammelt hat, über
dieses Thema spricht.
({10})
Ich habe erlebt, wie Frauen im Betrieb niedergemacht
werden, weil sie in dem Alter waren, Kinder zu bekommen, und wie mit gewerkschaftlicher und betriebsrätlicher Unterstützung dafür gesorgt wurde, dass Frauen
genauso behandelt werden, wie die Männer behandelt
worden sind.
({11})
Lassen Sie uns darüber nicht unterschiedlich diskutieren,
sondern lassen Sie uns - Sie als Frauen und wir als Männer - den Schulterschluss finden, um die gemeinsamen
Interessen durchzusetzen.
({12})
Fazit dessen, was ich gesagt habe, ist: Nicht die Diskussion - auch Sie haben das gesagt - über die Rente mit
67 ist vorrangig. Vorrangig stellt sich vielmehr die
Frage: Wie kann ich eine zusätzliche Humanisierung
von Arbeitsplätzen in der Form erreichen, dass die Menschen nach dem Eintritt in die gesetzliche Altersrente ihren Lebensabend gesund verbringen können? Darum
geht es, nicht um die Diskussion, ob man ein oder zwei
Jahre länger oder kürzer arbeitet.
Ein letzter Punkt. Beim Thema Mindestlohn liegen
wir auf einer Linie. Ich sage Ihnen: Der Branchenmindestlohn ist ein Einstieg. Wir wollen einen flächendeckenden Mindestlohn. Dies ist mit unserem Koalitionspartner nicht möglich. Ich habe dem Kollegen
Brauksiepe mit großem Interesse zugehört. Ich freue
mich auf die Wahlkampfauseinandersetzung.
({13})
Wir haben dazu in unserem Wahlprogramm einiges formuliert, Herr Kollege Brauksiepe.
({14})
Das sollten Sie sich schon einmal zu Herzen nehmen,
um Argumente zu sammeln. Wir warten gespannt auf Ihr
Wahlprogramm, um zu sehen, wie Sie zu denen stehen,
die nicht von ihrer Arbeit leben können. Es wird sehr interessant sein, ob Sie weiterhin eine staatliche Unterstützung auf Kosten der Steuerzahler vorschlagen.
Kollege Grotthaus, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Wir werden auch nicht
dem Verlangen der Linken folgen, die mal einen Mindestlohn von 8,44 Euro, mal einen von 8,71 Euro und
mal einen von 10 Euro nach dem Motto „Wünsch dir
was“ fordern. Wir haben hier unsere klaren Vorstellungen.
({0})
Ich sage Ihnen: So, wie Sie es hier machen, kann man
Politik nicht gestalten. Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Institute haben gerade einen Konjunktureinbruch von
6 Prozent und für das kommende Jahr eine Arbeitslosigkeit von bis zu 5 Millionen Menschen prognostiziert.
Trotzdem stellt sich der Bundesarbeitsminister noch vor
wenigen Monaten hier hin und stellt Vollbeschäftigung
in Aussicht und wiederholt das genau an dem Tag, an
dem diese Prognosen auf den Tisch gelegt werden. Das
hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Das ist Wolkenkuckucksheim.
({0})
Ich sage Ihnen: Ein Bundesarbeitsminister, der sich in
einer solchen Situation als Traumtänzer herausstellt, ist
für unser Land wirklich hochgefährlich.
({1})
Wir sind keine Traumtänzer. Wir sagen ganz klar: Eine
Krise in dieser Dimension kann allein mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten nicht ernsthaft abgefedert werden. Da muss tatsächlich ein anderes Rad gedreht
werden. Wir brauchen ein ganz groß angelegtes ökologisches und soziales Investitionsprogramm, mit dem
neue und zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden. Alle Institute zeigen uns: Es ist möglich, in den
nächsten Jahren 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen,
wenn wir vernünftig in Bildung und Forschung sowie
Ressourceneffizienz investieren,
({2})
wenn wir die erneuerbaren Energien vorantreiben und
wenn wir umweltfreundliche Technologien fördern. All
das ist möglich. Aber Voraussetzung dafür ist, dass die
Weichen richtig gestellt werden, und diese Regierung
stellt die Weichen eben nicht richtig.
({3})
Sie tun so - Herr Brauksiepe hat uns das heute hier in
aller Breite vorgetragen -, als handelte es sich um eine
schlichte konjunkturelle Delle, die man irgendwie untertunneln müsste. Herr Brauksiepe, dementsprechend sehen Ihre Konjunkturprogramme aus. Diese Ansicht ist
aber falsch. Wir haben es mit einer strukturellen, mit einer systemischen Krise zu tun. Es geht um etwas sehr
Grundlegendes: Es geht um die Frage, wie wir arbeiten
und wie wir wirtschaften. Es geht um die Frage, wie wir
Ungleichheiten austarieren und wie wir Gerechtigkeiten
herstellen. Weniger als 5 Euro die Stunde für 2 Millionen Menschen in diesem Land - verdammt noch mal,
was hat das mit Gerechtigkeit, was hat das mit Austarieren zu tun?
({4})
Ihre Konjunkturprogramme - sie umfassen 80 Milliarden Euro! - sind kurzatmig und sind mit keinem ernsthaften Gestaltungsanspruch verbunden. In erster Linie
sind sie eines: teuer. Durch sie wird die Neuverschuldung in atemberaubende Höhe getrieben.
Die Rechnung zahlen die nachfolgenden Generationen. Nicht umsonst steht im Grundgesetz, dass die Aufnahme von Schulden an die öffentlichen Investitionen
gebunden werden muss, mit denen ein Mehrwert für die
Zeit geschaffen wird, in der die Schulden abgetragen
werden müssen. Können Sie mir einmal erklären, welcher Mehrwert für die nachfolgenden Generationen zum
Beispiel durch die Abwrackprämie geschaffen wird?
Mit dieser Abwrackprämie lösen Sie nicht ein einziges
Problem. Sie verschieben dieses Problem maximal für
ein Jahr; aber dann kommt es in einer größeren Dimension wieder auf uns alle zu.
({5})
Es ist doch klar wie Kloßbrühe:
({6})
Die Leute, die sich jetzt ein Auto gekauft haben, werden
als Kunden in den Autohäusern bis auf Weiteres ausfallen. Klar ist auch, dass diejenigen, die ihr Erspartes für
ein neues Auto ausgeben, keine Waschmaschine, keine
Möbel und weniger neue Kleidung kaufen.
({7})
Mit anderen Worten: Mit der Subventionierung der Automobilindustrie bringen Sie andere Branchen in
Schwierigkeiten und treiben da die Arbeitslosigkeit in
die Höhe.
({8})
Wenn schon Schulden in dieser Dimension gemacht
werden, um die Abwärtsspirale zu stoppen - das stellen
wir grundsätzlich gar nicht infrage -, dann müssten wir
jetzt aus der Not eine Tugend machen und die Weichen
für die Zukunft stellen. Kredite zur Erhaltung des Status
quo sind wirklich herausgeworfenes Geld. Das ist unverantwortlich mit Blick auf die nachfolgenden Generationen.
({9})
Aus der Not eine Tugend machen müssen wir auch in
der Arbeitsmarktpolitik. Wir haben das Konzept des
Kurzarbeitergeldes immer unterstützt. Das ist in dieser
Situation richtig. Wir werden das auch weiter unterstützen; das sage ich hier ganz klar. Das Kurzarbeitergeld
hat aber eine begrenzte Wirkung. Es leistet keinen Beitrag, die strukturellen Defizite, die wir seit Jahren auf
dem Arbeitsmarkt haben, zu beheben. Einen solchen
Beitrag zu leisten, bedeutet in allererster Linie, Qualifizierungsdefizite zu beheben. Sonst wird der Fachkräftemangel, über den heute Morgen schon so viel geredet
worden ist, die Wachstumsbremse bei einer hoffentlich
wieder ansteigenden Konjunktur. Das bedeutet vor allem, dass wir allen Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung geben müssen.
({10})
Wir haben immer noch fast 300 000 Altbewerber. Die
Industrie- und Handelskammern gehen von einem Rückgang der Anzahl der Ausbildungsplätze in diesem Jahr
von bis zu 10 Prozent aus. Diese Zahl ist heute Morgen
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Das
heißt doch nichts anderes, als dass diese strukturelle
Krise wiederum dazu führen wird, dass weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Ich sage hier ganz
deutlich: Das duale System ist gut; das duale System
leistet eine qualitativ hochwertige Ausbildung.
Das Problem ist aber, dass es das nicht für alle tut,
und das im Übrigen schon seit Jahren nicht. Unser Ausbildungssystem ist von konjunkturellen Schwankungen
abhängig. Es ist aber falsch, eine solche Frage wie die
Ausbildung, die wichtig für das Individuum, aber auch
wichtig für die gesamte Gesellschaft ist, von strukturellen Schwankungen abhängig zu machen.
({11})
Die Jugendlichen, die in der jetzigen Krise nicht ausgebildet werden, werden wir brauchen, wenn die Krise vorbei ist. Diese Fachkräfte werden wir dann aber nicht haben.
Wir wollen erstens dafür sorgen, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung bekommen. Deswegen haben wir
das Konzept „DualPlus“ entwickelt. Wir wollen das duale
System nicht ersetzen, sondern wir wollen das duale System unabhängig von Schwankungen machen. Wir brauchen etwas neben dem dualen System, und deshalb bitte
ich Sie, unserem Vorschlag zuzustimmen. Wir brauchen
hier wirklich eine ganz grundlegende Änderung.
({12})
Zweitens müssen wir in dieser Situation die Chance
ergreifen, die heute Morgen schon beklagte exorbitant
niedrige Akademikerquote in Deutschland anzuheben.
Es ist doch klar, dass wir allen Abiturienten, die ein Studium beginnen wollen, einen Studienplatz zur Verfügung stellen. Aber wir müssen auch denjenigen, die jetzt
in der Krise bereit sind, ihren Arbeitsplatz zeitlich befristet zu verlassen, um ein Studium zu beginnen, die
Chance dazu geben, sodass die Betriebe diesen Arbeitsplatz einem Arbeitslosen zur Verfügung stellen können.
Das ist doch die Chance, jetzt die Akademikerquote in
Deutschland anzuheben. Die Schweden haben das in der
Krise mit großem Erfolg getan.
Drittens müssen wir die Geringqualifizierten endlich
für mehr Weiterbildung gewinnen.
Viertens - da haben die Linken nicht ganz unrecht brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, der wirklich
funktioniert.
Ich sage es jetzt noch einmal an die Adresse der Regierungskoalition: Ihre Murksprogramme wie „Kommunal-Kombi“ und „JobPerspektive“ funktionieren einfach
nicht.
({13})
- Nein. Sie haben 100 000 pro Programm avisiert. Die
Zahlen sind wirklich jämmerlich.
({14})
Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre Bockbeinigkeit auf, und stimmen Sie unserem Vorschlag zu,
mit dem wir 400 000 Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt sind, eine Perspektive geben könnten.
Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen:
Wir werden trotz Kurzarbeitergeld auf eine Massenarbeitslosigkeit zusteuern, und auch dafür brauchen wir
Konzepte. Wir brauchen ein Angebot für diejenigen, die
in die Arbeitslosigkeit kommen werden. Auch dafür haben wir Ihnen ein Modell vorgeschlagen.
Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich kann Ihnen dieses Modell jetzt nicht mehr in
Gänze vorstellen.
({0})
- Das ist wirklich traurig.
({1})
Es geht bei unserem Vorschlag um eine Transfergesellschaft einer ganz neuen Qualität. Ich verspreche Ihnen,
dass wir dazu noch einmal eine Debatte führen werden.
({2})
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zugegeben, Herr Dreibus: Die Titel
Ihrer Anträge, sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, klingen irgendwie immer gut: „500 000 Arbeitsplätze“, „Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenprogramm“ - zwar nicht mehr ganz frisch, aber
immerhin frisch aufgewärmt -,
({0})
„Gute Arbeit - Gutes Leben“. - Kurz: Der Inhalt hält
nicht, was die Titel versprechen.
Nähmen Sie es in Ihrer Partei mit dem guten Leben
ernst, dann würden Sie nicht, wie in Sachsen kürzlich
passiert, den Antrag einer Hartz-IV-Empfängerin in den
Reihen Ihrer Partei auf kostenfreie Beteiligung an einem
Stadtparteitag in Dresden ablehnen. So geht es nicht:
Hier Anträge stellen, aber in den eigenen Reihen ganz
anders handeln.
({1})
Es nützt nichts, Wasser zu predigen und selber Wein zu
trinken bzw. mit den eigenen Mitgliedern anders umzugehen, als Sie es mit der gesamten deutschen Bevölkerung vorhaben. Fangen Sie in Ihrer Partei an! Fangen Sie
da an, wo Sie Verantwortung tragen, dann kann man Ihnen vielleicht das eine oder andere in Zukunft glauben.
Ich kann gut nachvollziehen, sehr geehrte Kollegen
von der Linken, dass Sie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein eigenes
Antikrisenprogramm vorlegen wollen; Sie versprechen
sich davon ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Wie es
ausschaut, leuchtet Ihr Rot im Schatten der Krise längst
nicht so kräftig, wie Sie sich das zu Beginn der Krise
vielleicht vorgestellt haben.
({2})
- Schwarz leuchtet auch nicht so stark, aber man erkennt
es zumindest immer und an jeder Stelle.
({3})
Schlagzeilen wie „Linkspartei kann von Krise nicht
profitieren“ und „Linke auf dem Tiefststand in der Wählergunst“ - das bezieht sich auf die Forsa-Umfrage vom
1. April - sprechen für sich. Die Leute sind nicht so
dumm, Ihnen in diesen Zeiten hinterherzulaufen. Ihre
Partei dümpelt bei etwa 10 Prozent, dem tiefsten Stand
seit März 2007.
({4})
Ihre beiden Vortänzer Gregor Gysi und Oskar Lafontaine
bekommen laut jüngstem ZDF-Politbarometer bei der
Wertung deutscher Spitzenpolitiker Kopfnoten im Minusbereich.
({5})
Ihre neuen bzw. aus der Mottenkiste geholten Entwürfe sind reine Mogelpackungen und werden das Blatt
auch nicht wenden. Wer hat schon Lust auf Überlebenstraining im sozialistischen Ideenpark und ein sozial
ungerechtes Antikrisenprogramm? 75 Prozent der Deutschen finden es laut ZDF-Politbarometer nicht gut, wenn
Sie, liebe Kollegen von der Linken, mehr Einfluss auf
die Politik im Bund bekommen würden. Das sehe ich
- und mit mir die große Mehrheit in diesem Hause - genauso.
Wenn wahr wird, was Sie wollen, sind Berufstätige
und Arbeitslose von guter Arbeit in einer gerechten Welt
so weit entfernt, wie Sie, liebe Kollegen von der Linken,
es jetzt schon von der Regierungsfähigkeit sind. Sie zeigen uns mit Ihren Vorlagen, wie man eine Krise verschärft, anstatt sie zu bekämpfen, und zum Beispiel
wirkungsvoll verhindert, dass sich ausländische Unternehmen in Deutschland ansiedeln möchten.
In Ihrem Antrag „Sicherheit und Zukunft“ geben Sie
vor, Belegschaften stärken zu wollen, tatsächlich aber
wollen Sie das freie Unternehmertum an die kurze
Leine legen. Sie wollen zwingend die Zustimmung des
Aufsichtsrats aus Anteilseignern und Beschäftigten zu
wesentlichen Entscheidungen der Unternehmensführung
wie Unternehmensübernahmen, Aktienkauf oder Schließungen. Bei Staatshilfen wollen Sie den Belegschaften
Eigentumsrechte an ihren Unternehmen zugestehen.
Genauso ist es bei Ihrem sogenannten Zukunftsfonds.
Unternehmen werden erst dann mit Krediten unterstützt,
wenn sie Bedingungen zur Beschäftigungssicherung akzeptieren.
({6})
Beteiligungen sollen in Form von Belegschaftsbeteiligungen mit Einfluss auf die Geschäftspolitik erfolgen.
Damit wäre es für Unternehmer nur schwer möglich,
sich in Krisenzeiten zu behaupten. Die größeren Unternehmen im Inland werden sich unter solchen Bedingungen genau überlegen, ob sie es riskieren sollen, in Krisenzeiten ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit
zu verlieren. Sie werden darüber nachdenken, ob es sich
überhaupt noch lohnt, bei uns zu investieren, oder ob sie
vielleicht doch gleich ins benachbarte Ausland wechseln
sollten - ganz zu schweigen vom Engagement ausländischer Investoren bei uns.
Das alles erinnert sehr an die Überführung privater
Unternehmen in Volkseigentum, wie es in der DDR
praktiziert wurde. 20 Jahre nach der Maueröffnung sollten wir derartige Vorstellungen oder Wirtschaftsprinzipien ein Stück weit überwunden haben.
({7})
- Ich gebe Ihnen Zeit, ausreichend zu applaudieren,
meine Kolleginnen und Kollegen.
({8})
- Das kommt schon noch von den Kollegen.
({9})
Das Schlimmste ist - Kollege Ernst, gerade Ihnen
müsste das wehtun -: Das schwächt die Tarifparteien. In
deren Kraft und damit auch in die Kraft der Gewerkschaften scheint die Linkspartei offensichtlich wenig
Vertrauen zu haben. Die Tarifautonomie würde auch beschädigt, wenn Sie Ihre Vorstellungen zum staatlich festgesetzten Mindestlohn durchsetzen sollten.
({10})
Überhaupt, der Mindestlohn: Wie oft - einige Vorredner, darunter Kollege Niebel, haben das bereits erwähnt - haben wir hier im Deutschen Bundestag schon
darüber debattiert? Dennoch betone ich noch einmal:
Eine gesetzliche Lohnuntergrenze in der von Ihnen geforderten Höhe hat das Potenzial, weite Teile unseres
Arbeitsmarktes von unten stillzulegen und die Tarifautonomie auszuhebeln. Der Staat kann und darf aber nicht
Ersatz für die Tarifvertragsparteien sein.
Wohin die Reise geht, wenn die Festsetzung des Mindestlohns in Ihre Hände fallen sollte, kann man an den
parlamentarischen Initiativen der Linken gut ablesen.
Noch 2006 wollten Sie in Ihrem Antrag „Mindestlohnregelung einführen“ einen gesetzlichen Mindestlohn von
7,50 Euro pro Stunde. Im Antrag „Gute Arbeit - Gutes
Leben“ von 2007 waren es dann schon 8,44 Euro. In Ihrem Antikrisenprogramm sprechen Sie, liebe Kollegen
von der Linkspartei, von einem Mindestlohn von
8,71 Euro,
({11})
„wie in Frankreich“ - danke, Herr Dreibus; Sie kennen
meinen Text -, wo übrigens auch deshalb viele Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichtet wurden. Das ist
ein Zickzackkurs, den sogar der Kollege Grotthaus ein
Stück weit nicht mitzugehen bereit ist, und das will was
heißen.
Ihr Antikrisenprogramm ist überhaupt eine teure
Angelegenheit. Da sollen ein Zukunftsfonds von
100 Milliarden Euro geschaffen und soziale DienstleisPaul Lehrieder
tungen wie Kinderbetreuung und Altenpflege deutlich
ausgeweitet werden. Es sollen 1 Million zusätzliche tariflich entlohnte unbefristete Beschäftigungsverhältnisse sowie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze
bei einem Bruttogehalt von 1 400 Euro und einer Bestandsgarantie von drei bis fünf Jahren geschaffen werden.
({12})
Außerdem wollen Sie den Bezug von Arbeitslosengeld I
verlängern sowie das Arbeitslosengeld II auf 435 Euro
und den Kinderregelsatz auf 276 Euro anheben.
Womit wollen Sie das bitte schön bezahlen? Mit einer
Millionärsabgabe von 5 Prozent auf Vermögen, die
1 Million Euro übersteigen? Damit wären die aufgelisteten Vorhaben nicht einmal annähernd zu finanzieren.
Tatsächlich haben sich die Kollegen von der Linken über
eine echte Gegenfinanzierung ihrer Vorschläge überhaupt keine Gedanken gemacht und ihre Vorschläge
noch nicht einmal ansatzweise durchgerechnet.
({13})
Es ist keine Rede davon, dass gerade jetzt Haushaltsdisziplin notwendig ist. Warum auch! Wir haben es hier mit
reinen Schaufensteranträgen zu tun.
Wenn Sie nur einen Teil des von Ihnen hier wieder
vorgetragenen Staatsradikalismus und dessen verwirklicht hätten, was in den letzten Jahren noch zusätzlich
vorgelegt worden ist, dann wäre Deutschland heute
längst bankrott. So aber hat die Große Koalition in den
letzten Jahren die Weichen so gestellt, dass wir die gegenwärtige Krise einigermaßen gut überwinden können.
Natürlich ist nicht alles perfekt oder sofort so angelaufen, wie wir es uns wünschen würden. Die beschlossenen Maßnahmen müssen aber erst einmal Wirkung entfalten, bevor man neue Maßnahmen beschließt. Gute
Antikrisenpolitik ist Hilfe zur Selbsthilfe und nur im äußersten Notfall staatliche Intervention.
Liebe Kollegen von der Linken, Sie sehen das andersherum. Bei Ihnen richtet der Staat alles. Er nimmt den
Reichen und gibt den Armen. Wir leben aber nicht mit
Robin Hood im Sherwood Forest, sondern im Deutschland des Jahres 2009. Dort wollen Sie anscheinend aber
gar nicht regieren. Ihr Präsidentschaftskandidat Sodann
glaubt fest daran, dass das Experiment, das wir mit der
DDR erlebt haben, irgendwann noch einmal von vorne
losgeht. Man muss sich das einmal vorstellen.
Wir haben Ihre Anträge gelesen und sagen Ihnen
schon jetzt: Das wird nach hinten losgehen. Ein einziges
Experiment war da schon zu viel. Trial-and-Error-Sozialismus kann keine Lösung sein - und wird zum Glück
keine Lösung sein.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die drei Figuren Urmel aus dem
Eis, Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, gehören alle in die Augsburger Puppenkiste. Diese drei Anträge der Linken gehören geschreddert in eine marxistisch-leninistische Mottenkiste.
({0})
Sie nehmen die Finanz- und Wirtschaftskrise zum
Anlass, um mit populistischem Gefasel Stimmung zu
machen. Ein Satz sei zitiert. Sie schreiben:
Die Regierung verschiebt Milliarden Euro an Steuergeldern an marode Banken … Für den großen
Teil der Menschen tut sie nichts.
Das haut dem Fass den Boden aus. Das Ganze war ein
geordnetes parlamentarisches Verfahren. Trotzdem behaupten Sie, hier werde von der Regierung Geld verschoben. Das ist wirklich blanker Populismus,
({1})
was mich wiederum auch nicht wundert; denn im Parteiprogramm der Linken sind nach wie vor wesentliche
Elemente des Kommunistischen Manifestes enthalten,
das zu Stacheldraht, zur Mauer, zu Unrechtsprozessen
und letztendlich zum Staatsbankrott geführt hat, liebe
Freunde. So etwas nehmen Sie als Vorbild.
({2})
Sie wissen ganz genau, dass das Bankenrettungspaket notwendig war und nichts mit Arm und Reich zu tun
hat. Wir als FDP, als Patrioten für Deutschland haben
dem zugestimmt, damit die Spareinlagen sicher sind und
sicher bleiben.
({3})
Das Bankenrettungspaket hilft allen, auch Ihnen.
Sie erheben im Weiteren die Forderung nach einem
Sammelsurium von Maßnahmen, die bereits mehrfach
aufgezählt wurden: paritätische Mitbestimmung, Verschärfung des Kündigungsschutzes usw. Das geht für
mich in Richtung volkseigener Betriebe. Diese hatten
wir schon einmal. 1972 hat die Vorgängerpartei SED in
einer Nacht-und-Nebel-Aktion 11 400 Betriebe praktisch entschädigungslos enteignet. Danach ging es mit
der Wirtschaft komplett bergab. Aber genau das fordern
Sie letztendlich in Ihren Anträgen.
({4})
Das funktioniert nicht. Das weiß man, wenn man diesen
Feldversuch erlebt hat.
({5})
Ich möchte einen Satz aus Ihrem Antrag aufgreifen.
Sie schreiben:
Kleinen und mittelständischen Unternehmen wird
jede Unterstützung vorenthalten.
Das stimmt nicht ganz, aber teilweise schon;
({6})
denn die Konzerne werden vom Wirtschaftsminister unterstützt, wenn sie Probleme haben, aber beim kleinen
Bäckermeister um die Ecke kommt der Gerichtsvollzieher.
({7})
Das, was von dieser Großen Koalition als Krisenmanagement oder Ausrichtung insgesamt geleistet wird, ist
nicht in Ordnung.
({8})
Ich gehe auf einige Punkte ein, die wir umsetzen werden, wenn wir in 147 Tagen gewählt und hier regieren
werden: Wir brauchen ein einfaches, gerechtes und niedriges Steuersystem mit Steuersätzen von 10, 25 und
35 Prozent,
({9})
mit Freibeträgen, die bei Familien auch für die Kinder
gelten, und die Abschaffung der Steuerklasse V zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.
Des Weiteren brauchen wir eine richtige Unternehmensteuerreform; die Unternehmensteuerreform im
vorigen Jahr wurde nur halbherzig durchgeführt. Wir
brauchen eine Rücknahme der Zinsschranke. Die Zinsschranke ist Gift in dieser Wirtschaftskrise; sie muss
wieder abgeschafft werden.
({10})
Pachten, Zinsen, Leasing- und Lizenzgebühren als
Grundlage der Gewerbesteuer heranzuziehen, ist abenteuerlich, falsch und kontraproduktiv.
({11})
Wir dürfen auch nicht die Beschäftigten der Gastronomie und der Hotellerie vergessen, die sich an Feiertagen hinstellen und die Gäste bedienen, die zu Weihnachten Gänsebraten machen und dann noch dafür bestraft
werden, indem sie 19 Prozent Mehrwertsteuer abführen
müssen. Wir brauchen einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz für Gastronomie und Hotellerie.
({12})
Der Widerspruch ist ja haarsträubend: Auf Hundefutter
wird 7 Prozent Mehrwertsteuer erhoben, aber in Gaststätten muss 19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlt werden.
Das kann nicht sein. Gehen Sie diese Problematik an,
sonst machen wir es.
({13})
Die Gewerbesteuer muss abgeschafft und durch ein
System der Kommunalfinanzierung ersetzt werden, das
den Kommunen Sicherheit bringt und sie von Einnahmeschwankungen unabhängig macht.
({14})
Ein weiterer Punkt: Die Tarifautonomie muss geschützt werden. Sie ist ein staatliches Gut. Lohndiktate
gehören aufgelöst. Mit Mindestlöhnen erreichen Sie
nichts; sie sind verkehrt.
({15})
Wir müssen die Mittelschicht und den Mittelstand
stärken; denn sie ziehen den Karren in diesem Land.
Dann wird es mit diesem Land auch wieder aufwärts gehen. Wir haben die Chance. Ihre Anträge sind absolut
untauglich.
In diesem Sinne ein freiheitliches Glückauf aus dem
Erzgebirge.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dreibus, haben Sie heute Abend schon
was vor?
({0})
Das ist kein unmoralisches Angebot, sondern eher ein
Vorschlag zur Weiterbildung.
Der Ullstein-Verlag bietet heute Abend auf einer Lesung einem Politiker eine Plattform, der Ihre Anträge an
visionärer Kraft noch überbietet. Er ist CDU-Abgeordneter im Bundestag und Hoffnungsträger seiner Partei.
Sein Name ist Dr. Udo Brömme. Von ihm stammt der
wundervolle Slogan, der fast schon eine religiöse Wahrheit beinhaltet: Zukunft ist gut für alle. Falls Sie Dr. Udo
Brömme nicht kennen: Vor einigen Jahren, als die
Harald-Schmidt-Show noch Deutschlands wichtigste
Fernsehsatire war, trieb er dort regelmäßig sein Unwesen
und verblüffte im Straßenwahlkampf manch echten
CDU-Politiker.
({1})
Er hatte wie Sie viele Ideen. Doch kurz nach der Bundestagswahl verschwand er sang- und klanglos von der
Bildfläche, wie …, aber lassen wir das.
({2})
Natürlich fällt es nicht leicht, den Antrag der Linken
abzulehnen.
({3})
Mehr Sonnenschein für alle - kann man dagegen sein?
Wir Sozialdemokraten sind nicht für schlechte Arbeitsbedingungen. Niemand ist für schlechte Arbeitsbedingungen. Das ist so absurd, dass ich es noch nicht einmal
Herrn Kolb zutrauen würde.
Auch wir Sozialdemokraten wollen eine Stärkung der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, aus der
Ansprüche auf Renten, für Phasen der Arbeitslosigkeit
usw. erwachsen. Wir haben dafür etwas getan. Allein
zwischen 2006 und 2007 sind zusätzlich 550 000 sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden.
({4})
Auch wir wollen einen allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohn, der Arbeitnehmer vor Ausbeutung schützt
und den Staat nicht zwingt, Menschen durch ergänzende
Sozialleistungen zu entwürdigen, weil deren Arbeitseinkünfte nicht zum Leben ausreichen.
({5})
Deshalb haben wir während der gesamten Legislaturperiode für diese Thematik gekämpft. Wir haben jetzt ein
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und ein Mindestarbeitsbedingungsgesetz, das mindestens 1,2 Millionen Menschen zusätzlich schützen wird. Das Schöne ist: Das Gesetz ist heute verkündet worden und tritt morgen in
Kraft.
({6})
Auch wir wollen die Arbeitsbedingungen für die
Zeitarbeit verbessern. Auch wir vertreten den Grundsatz von Equal Pay. In der Koalition haben wir ausgehandelt, dass eine verbindliche Lohnuntergrenze kommen soll.
({7})
Unser Arbeitsminister hat immerhin sechs Vorschläge
unterbreitet.
({8})
Ich finde es sehr schade, dass sich die Union an diesbezügliche Absprachen nicht hält. Ich erinnere mich an
manch unschöne Debatte über die Leiharbeit, in der einfach und platt gesagt worden ist, die Tarifbindung in der
Leiharbeitsbranche sei doch sehr groß. Dabei wissen wir
alle, dass die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeitsbranche teilweise katastrophal sind: Es gibt Arbeitnehmer in Forchheim mit einem Stundenlohn von 3 Euro.
Haustarifverträge, nach denen um 4,50 Euro pro Stunde
gezahlt werden, wurden zwar gekündigt, aber sie wirken
nach, weil auf sie Bezug genommen werden darf. Deswegen brauchen wir eine Lohnuntergrenze.
Auch wir wollen einen besseren Schutz für Praktikanten. Es kann nicht sein, dass Menschen in sinnlose
Warteschleifen geschickt und finanziell ausgebeutet
werden.
({9})
Auch wir halten eine Streichung der sachgrundlosen
Befristung für sinnvoll. Wir haben das sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben. Auch davon hat die Union
leider Abstand genommen. Es ist durchaus überlegenswert, einen befristet Beschäftigten zu übernehmen, sobald eine entsprechende unbefristete Stelle vorhanden
ist. Wir haben Regelungen, die etwas Ähnliches schaffen
- allerdings etwas weniger -, in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen.
Einige Punkte der Anträge der Linken sind schön. Sie
denken ähnlich wie wir. In diesen Anträgen ist aber auch
jede Menge Phrasendrescherei und Talkshowsozialismus
enthalten. Das Ganze hat nicht einmal die notwendige
Qualität, um in die gute Sagen- und Märchenwelt, die es
in Deutschland gibt, aufgenommen zu werden. Selbst
dafür ist das Ganze zu platt, zu dumm und an manchen
Stellen zu dreist gemacht.
({10})
Ich will ein einziges Beispiel nennen.
({11})
Ist es wirklich sinnvoll, jegliche betriebsbedingte Kündigung auch in Kleinbetrieben auszuschließen? Das
würde bedeuten, dass sich ein Betrieb dieser Arbeitnehmer erst im Falle einer Betriebsschließung entledigen
kann. Ich sage: Das ist Unsinn. Arbeitnehmerschutz ist
gut und wichtig. Arbeitsplätze zu haben, ist aber auch essenziell.
({12})
Dieser Tage verstehe ich vor allen Dingen eines nicht:
Sie setzen sich stark mit Arbeitsbedingungen auseinander - das ist wichtig; das sehen wir nicht anders -, aber
einen entscheidenden Punkt berücksichtigen Sie überhaupt nicht. Wir müssen in dieser Phase um jeden einzelnen Arbeitsplatz in Deutschland kämpfen.
({13})
Dabei geht es um ergänzende Maßnahmen. Wir wissen
aus den Erfahrungen, die wir in den fünf neuen Bundesländern gesammelt haben, dass wahrscheinlich jeder industrielle Arbeitsplatz, der in Deutschland einmal abge23530
baut worden ist, nicht wieder entstehen wird. Deshalb
finde ich das, was unser Arbeitsminister gemacht hat,
mutig, weil es sehr viel Geld kosten wird, aber auch vom
Ansatz her klug: die Ausdehnung des Bezugs von Kurzarbeitergeld.
Kurzarbeit war immer ein sehr teures Instrumentarium. Wir haben die Kurzarbeit für Arbeitgeber viel billiger gemacht. Aber es ist nicht nur ein Instrumentarium,
das es Arbeitgebern ermöglicht, diese Krise zu überbrücken. Es ist vor allen Dingen ein Instrumentarium für
Arbeitnehmer im Sinne momentaner Sicherheit, aber
auch im Sinne des dauerhaften Erhalts von Arbeitsplätzen in der Industrie.
({14})
Ich will auch etwas zur Abwrackprämie sagen. Ich
komme aus einer Region, die von der Automobilindustrie geprägt ist. Allein in der Region Hof - das hat mir
der Landrat gesagt - gibt es 200 Betriebe der Automobilindustrie. Im Gebiet Kronach und Coburg befinden sich
große Automobilzulieferer, allein drei Betriebe von
Valeo und ein riesiger Betrieb von Brose. Die Industrie
in Bamberg besteht fast nur aus Automobilzulieferung:
Brose, Michelin, Bosch, Schaeffler und FTE. Wie gesagt: Die Abwrackprämie hat eine Menge Entlastung in
meiner Region geschaffen.
({15})
Deshalb, denke ich, haben wir hier mehr als sinnvoll
agiert. Dass ein gewisses Kaufvolumen abgeschöpft ist,
ist klar.
({16})
Aber dieses Kaufvolumen der Zukunft vorzuziehen, hat
seine Gründe. Wenn die Krise vorbei ist, gibt es auch für
andere Marktpotenziale wieder Chancen. Deshalb ist
dies jetzt die einzige Chance für den Bereich der Automobilzulieferer.
({17})
„Arbeit ist schwer, ist oft genug ein freudloses und
mühseliges Stochern, aber Nichtarbeiten ist die Hölle.“
Was Thomas Mann vor 100 Jahren sagte, gilt noch
heute.
Arbeit ist die Grundlage unseres Wohlstandes.
So steht es im SPD-Regierungsprogramm, das wir letzten Samstag in Berlin vorgestellt haben.
Kollegin Kramme, achten Sie bitte auf die Zeit!
Ich bin innerhalb einer Minute fertig. - Zu einem
menschenwürdigen Leben gehört gute Arbeit. Daran
glauben wir. Dafür werden wir uns einsetzen, und zwar
zusammen mit den Gewerkschaften, den Betriebsräten,
den Menschen vor Ort
({0})
und vor allen Dingen mit pragmatischer Politik, die
Menschen tatsächlich hilft.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Debatte lautet: Sicherung von Arbeitsplätzen. Ich finde, dass das gerade in diesen Wochen und Monaten ein ernstes Thema
ist. Herr Niebel, Sie hätten angesichts der Krise ruhig ein
bisschen mehr Demut zeigen können, zumal Marktradikale im Wesentlichen das Zustandekommen der Krise
befördert haben.
({0})
Ich habe von Ihnen hier zwar eine antikommunistische
Rede gehört, aber kein Wort dazu - auch Sie wollen
Banken retten und den Mittelstand stärken -, wie Sie
Ihre Konzepte und Programme, die vor allen Dingen
Staatsverarmung zur Folge hätten, finanzieren wollen.
Kollege Stöckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ich gehe jetzt auf die Vorredner ein, weil es sonst
langweilig wäre. Dadurch habe ich schon wenig Zeit,
meine Argumente vorzutragen.
({0})
Ich komme auch noch auf die anderen Redner zu sprechen. Sie alle könnten dann Zwischenfragen stellen; das
geht nicht.
Herr Brauksiepe, Ihre Rede war im Wesentlichen eine
Begründung unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik.
Aber zu den Passagen, in denen Sie uns angegriffen haben, muss ich sagen: Da fehlt Ihnen ein Konzept. Ich
hoffe, dass sich CDU und CSU auf ein Wahlprogramm
und auch auf ein Programm zur Bewältigung der Krise
einigen können. Vom Fehlen eines Konzeptes können
Sie mit solchen Reden nicht ablenken.
Frau Pothmer, an dem, was Sie zur Abwrackprämie
bzw. Umweltprämie gesagt haben, mag im Rahmen längerfristiger Überlegungen etwas dran sein, aber ich bitte
Sie, diese Rede auch bei Opel in Bochum und in Rüsselsheim oder bei VW zu halten,
({1})
in den Geschäften und in den Werkstätten, wo im Moment Arbeitsplätze - darum geht es heute - gesichert
werden, und zwar durch ein Konzept, das wir Sozialdemokraten vorgelegt haben.
({2})
Herr Haustein, eines muss ich - auch wenn es Sie
wundern wird - zur Ehrenrettung des Kommunistischen
Manifestes sagen. Darin beschreibt Marx die Globalisierung und die Gestaltung der Globalisierung aus seiner
Sicht. Wenn die Linkspartei die Globalisierung akzeptieren und Vorschläge zur Gestaltung der Globalisierung
machen würde, wären wir in dieser Debatte schon wesentlich weiter.
({3})
Das Schlimme ist, dass hier der Schein erweckt wird, die
Linke würde im Sinne von Marx argumentieren. In
Wirklichkeit ist es so, dass Karl Marx in Highgate in
London in seinem Grab rotiert angesichts dieser kleinkarierten, national ausgerichteten Wirtschafts- und
Sozialpolitik der Linken.
({4})
Es ist bereits zu Recht festgestellt worden, dass die
Anträge, über die wir heute diskutieren, nach demselben
Strickmuster formuliert sind wie eigentlich alle Anträge
der Linken: „Die Lage ist katastrophal; die Regierung tut
nichts.“ Alle alten und neuen Anträge, die auf Gewerkschaftskongressen und von Verbänden jemals beschlossen worden sind, werden einfach untereinandergeschrieben. Nachhaltige Wirkungen auf die soziale und
ökonomische Entwicklung und auf die öffentlichen
Haushalte oder Finanzierungsvorschläge - Fehlanzeige!
Das ist doch nicht das Problem der Linken. - Diese
Form von populistischer Parteitaktik nenne ich verantwortungslos und zynisch gegenüber den Millionen Menschen, die heute aus nachvollziehbaren Gründen Ängste
um ihre Zukunft und ihre Arbeitsplätze sowie um die
Zukunft ihrer Familien haben.
({5})
Sie verbreiten den Irrglauben, die Regierung schenke
den Banken und Großkonzernen in der Krise mir nichts,
dir nichts Hunderte von Milliarden Euro, da könne man
doch gleich überall voll hinlangen. Die Details und die
Realisierbarkeit interessieren Sie dabei nicht. Obwohl
sich unsere Wirtschaft in der bisher schwersten weltweiten Krise seit 80 Jahren befindet, malen Sie die Situation
noch schwärzer und behaupten, der Staat könne mal
eben - sozusagen von heute auf morgen - 1,5 Millionen
Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst bzw. im Bereich der
öffentlich geförderten Beschäftigung schaffen. Nein,
meine Damen und Herren, mit einer seriösen Analyse
der Krise und mit seriöser antizyklischer Politik hat das
nichts zu tun. Ich finde, Frank-Walter Steinmeier hatte
recht, als er am Wochenende begründet hat, warum die
SPD nicht mit den Linken zusammenarbeiten kann.
({6})
Er sagte: Unser Land braucht in der schwierigen Zeit,
die vor uns liegt, Verantwortung, Stabilität und Erfahrung. Das alles lassen Sie vermissen.
({7})
Ich sage Ihnen: Diejenigen, die von manch unangenehmer Botschaft und Reform unter sozialdemokratischer Regierungsmitverantwortung enttäuscht waren,
auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, haben
Sie und Ihr demagogisches Spiel zunehmend durchschaut. Das Tohuwabohu bei Ihnen ist auch der Hauptgrund dafür, dass sich Ihr Landesverband in NRW gerade wieder in die alten Splittergruppen, aus denen er
entstanden ist, zerlegt
({8})
und warum Ihr Wahlkampfmanager das Handtuch geworfen hat.
Meine Damen und Herren, zwischen Ihrem Täuschen
und dem Ausbeuten der Krise und der Ängste der Menschen und unserem Ernstnehmen von Ängsten und dem
Annehmen der Herausforderungen liegen Welten. All
das bringt uns im Gegensatz zu allen anderslautenden
Behauptungen nicht etwa näher zusammen, sondern immer weiter auseinander. Ich sage Ihnen auch, warum. So
schön die Anträge, die Sie uns kurz vor dem 1. Mai dieses Jahres vorlegen, auch klingen
({9})
und so richtig wir manche Zielsetzung, die darin zu lesen
ist, finden - allerdings nicht die von Ihnen vorgeschlagenen Instrumente; diese halten wir für weltfremd -, so
können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie
überhaupt kein zusammenhängendes und zumindest in
Ihrer eigenen Partei mehrheitsfähiges Programm zustande bringen.
({10})
Das hat auch einen Grund. Dann könnte die interessierte
Öffentlichkeit Ihre Politikalternative und Ihre Regierungsfähigkeit nämlich kritisch überprüfen.
({11})
Das erfordert mehr als eine Sonthofen-Strategie und
Fundamentalopposition.
Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, die
Krise und ihre möglichen Auswirkungen auf die Beschäftigung und die sozialen Lebenslagen schönzureden.
Es ist aber kontraproduktiv - das ist mein Kommentar zu
den aktuellen Meldungen des heutigen Tages -, wenn
von verschiedenen Seiten, auch aus verhandlungstaktischen Gründen, soziale Ängste geschürt werden, indem
apokalyptische Abgründe und das Entstehen sozialer
Unruhen an die Wand gemalt werden oder gar damit gedroht wird.
({12})
Das ist der Situation und den Potenzialen unseres Landes
nicht angemessen. Das werden alle demokratischen
Kräfte, Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam zu
verhindern wissen.
Wir Sozialdemokraten haben die Prioritäten in unserer Politik seit 1998 richtig gesetzt. Dies hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr merklich
gesunken ist. Im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten,
haben wir die staatlichen Ebenen und die sozialen Systeme handlungsfähiger gemacht und die Wachstumskräfte vor allen Dingen im Bereich der Zukunftstechnologien gestärkt. Wir haben darüber hinaus dafür gesorgt,
dass Mitbestimmung und Tarifautonomie gesichert und
weiterentwickelt werden. Darauf können sich die Gewerkschaften auch in Zukunft verlassen. Hätten wir das
nicht getan, wäre es heute viel schwieriger, mit der Krise
umzugehen und Arbeitsplätze zu sichern.
({13})
Wir Sozialdemokraten haben ein Programm vorgelegt. Darüber wird jetzt öffentlich debattiert. Jetzt müssen Sie alle nachlegen. Ich sage Ihnen: Gute Arbeit gibt
es nicht ohne Mindestlöhne, ohne Regulierung der Zeitarbeit und ohne dass wir dafür sorgen, dass Frauen und
Männer für gleiche Arbeit gleiche Löhne bekommen.
({14})
Zu diesem Zweck haben wir verschiedene Instrumente
vorgeschlagen, die vor allen Dingen für unsere Kinder
und Jugendlichen die Zukunft des Landes garantieren
sollen. Wir wollen durch ordentliche Qualifizierung dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft im weltweiten Wettbewerb bestehen. Nur so können wir Arbeitsplätze sichern und die Wachstumsstärke Deutschlands erhalten.
Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Hier wird Populismus betrieben. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die kritischen und mündigen
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wissen genau,
wen sie wählen müssen, wenn sie in diesem Hause in der
nächsten Wahlperiode eine sozial, ökologisch und ökonomisch fortschrittliche Regierung vorfinden wollen.
Herzlichen Dank.
({15})
Der Kollege Dirk Niebel hat das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Wir wollen die Leidensfähigkeit der deutschen
Sozialdemokratie schon ein wenig austesten, liebe Frau
Pothmer.
Frau Präsidentin! Ich habe mich zu Wort gemeldet,
weil Kollege Stöckel mit Blick auf die FDP behauptet
hat, die Marktradikalen - damit meint er offenkundig
uns - seien schuld an der Krise. Der guten Ordnung halber ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass der Finanzmarkt der am meisten regulierte Bereich des deutschen
Wirtschaftssystems überhaupt ist. Es gibt sogar eine
Staatsaufsicht. Übrigens war es Bundeskanzler Gerhard
Schröders rot-grüne Bundesregierung, die diese Aufsicht, wie es heute der Fall ist, zweigeteilt hat. Da ist
zum einen die BaFin mit ungefähr 6 000 Mitarbeitern
und zum anderen die Deutsche Bundesbank. Diese Einrichtungen paralysieren einander.
({0})
Sie waren mit Ihren Prüfgruppen nicht in der Lage, Milliardenlöcher zu finden, die private Bankprüfgruppen innerhalb weniger Tage gefunden haben.
Ich möchte auch daran erinnern, dass in Zeiten der
schwarz-gelben Bundesregierung Hedgefonds in Deutschland verboten waren. Ich anerkenne: Wahrscheinlich hätten auch wir die Hedgefonds zugelassen - weil sich die Finanzmärkte weltweit verändert haben -, aber nicht, wie
unter Gerhard Schröder geschehen, ohne jedwede Transparenzrichtlinie.
({1})
Ich erlaube mir zu guter Letzt, darauf hinzuweisen,
dass die Freien Demokraten in diesem Haus die einzige
Oppositionspartei sind, die den Finanzmarktrettungsschirm mitgetragen hat - auch wenn wir im Detail einiges anders gemacht hätten -, weil wir die Notwendigkeit
dessen für die Sparerinnen und Sparer und für das Wirtschaftssystem insgesamt erkannt haben.
({2})
Das Wort hat der Kollege Stöckel.
Werter Kollege Niebel, ich kenne die Grenzen unserer
Politik, ich kenne auch die Grenzen dessen, was von unseren Vorschlägen, Regeln für die Finanzmärkte einzuführen, national, europäisch und erst recht international
durchsetzbar ist.
Ich habe vorhin nicht behauptet, dass Sie die Ursache
der Finanzkrise seien. Ich habe gesagt, dass marktradiRolf Stöckel
kale Ideologie und Marktradikale die Ursachen dieser
Krise wesentlich befördert haben. Das ist ein kleiner
sachlicher, aber sehr treffender Unterschied.
({0})
Sie können mit Ihrer Kurzintervention nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Sie in der Öffentlichkeit bisher
weder zu den Ursachen dieser Krise etwas gesagt haben
noch sich in Selbstkritik dieser Ihrer markradikalen
Ideologie geübt haben. Andere haben das auch noch
nicht getan; selbst die Verantwortlichen haben es bisher
nicht getan. Wir hätten von Ihnen gerne etwas zu einem
Konzept gegen diese Krise gehört. Damit meine ich
mehr als Ihren Vorschlag, die Steuern zu senken. So wären die Konjunkturprogramme, die Rettung der Banken
und die Unterstützung und Förderung des Mittelstandes
nicht finanzierbar.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12682 an den in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sicherheit und Zu-
kunft - Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenpro-
gramm“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12485, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12292 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gute Arbeit - Gutes
Leben, Initiative für eine gerechte Arbeitswelt“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12469, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/6698 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 l sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf:
38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung des grenzüberschreitenden
Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur
sozialen Sicherheit durch Erwerbstätigkeit
und von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit
sowie bei illegaler grenzüberschreitender
Leiharbeit
- Drucksache 16/12588 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und den Vereinigten
Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 16/12589 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. September 2004 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermarkung und Instandhaltung der gemeinsamen Grenze auf den
Festlandabschnitten sowie den Grenzgewässern und die Einsetzung einer Ständigen
Deutsch-Polnischen Grenzkommission
- Drucksache 16/12590 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Genfer Fassung vom 2. Juli 1999 ({2}) des
Haager Abkommens vom 6. November 1925
über die internationale Eintragung gewerbli-
cher Muster und Modelle
- Drucksache 16/12591 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor
dem Verschwindenlassen
- Drucksache 16/12592 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Petra Pau
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 16/12593 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({5})
- Drucksache 16/12594 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Absicherung von Zivilpersonal in
internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention
- Drucksache 16/12595 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes
- Drucksache 16/12597 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Undine Kurth ({9}), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die gewerbliche Haltung von Mast- und
Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern
- Drucksache 16/12307 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Stefan Müller ({11}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nanotechnologie - gezielte Forschungsförderung für zukunftsträchtige Innovationen und
Wachstumsfelder
- Drucksache 16/12695 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbraucherinformationsgesetz novellieren
- Drucksache 16/12691 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, CarlLudwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform
- Drucksache 16/12525 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Geschmacksmustergesetzes
- Drucksache 16/12586 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christel Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke
Ferner und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes
- Drucksache 16/12664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsidentin Petra Pau
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Erhöhung des Schonvermögens im Alter für
Bezieher von Arbeitslosengeld II
- Drucksache 16/5457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie
und Gastronomie in Deutschland einführen
- Drucksache 16/12287 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss so schnell wie möglich durchgeführt werden
- Drucksache 16/12669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz von Arbeitnehmerdaten durch transparente und praxisgerechte Regelungen gesetzlich absichern
- Drucksache 16/12670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer ({20}),
Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita SchwarzelührSutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern
- Drucksache 16/12693 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Manipulierte Strompreise - Verbraucherinteressen wahren
- Drucksache 16/12692 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({22})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({23})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vergaberecht konsequent sozial gestalten Gemeinnützige Unternehmen nicht benachteiligen
- Drucksache 16/12694 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({25})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Dies betrifft die Tagesordnungspunkte 38 a bis
38 l sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu zwei Überweisungen, bei denen
die Federführung strittig ist.
Zusatzpunkt 3 i: Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
betreffend Strompreise auf Drucksache 16/12692 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD-Fraktion wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
Vizepräsidentin Petra Pau
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Zusatzpunkt 3 j - das ist die zweite strittige Federführung -: Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
betreffend das Vergaberecht auf Drucksache 16/12694
soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Fraktionen von CDU/CSU und
SPD-Fraktion wünschen hier Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des DirektzahlungenVerpflichtungengesetzes
- Drucksache 16/12117 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({26})
- Drucksache 16/12696 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gustav Herzog
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12696, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12117 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen
- Drucksache 16/12231 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({27})
- Drucksache 16/12517 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12517, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({28}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({29}),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verlängerung der Hauptuntersuchungsintervalle für Oldtimer mit H-Kennzeichen
- Drucksachen 16/9480, 16/11082 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11082, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/9480 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({30}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({31}),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für
Lkw-Transitverkehre
- Drucksachen 16/9095, 16/11083 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11083, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/9095 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({32}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich
({33}), Joachim Günther ({34}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Technische Kriterien für Winterreifenkennzeichnung M+S festlegen
- Drucksachen 16/11213, 16/12348 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12348, den Antrag der FDP auf
Drucksache 16/11213 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({35}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich
({36}), Joachim Günther ({37}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern Zurück zur Verhältnismäßigkeit
- Drucksachen 16/10313, 16/12349 Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12349, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/10313 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDPFraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({38}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Vereinfachung des Deponierechts
- Drucksachen 16/12223, 16/12357 Nr. 2.3,
16/12722 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12722, der Verordnung auf
Drucksache 16/12223 zuzustimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion sowie der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen
und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft
sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/11385 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({39})
- Drucksache 16/12717 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Carl-Christian Dressel
Christoph Strässer
Vizepräsidentin Petra Pau
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12717, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11385 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht
- Drucksache 16/12061 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({40})
- Drucksache 16/12718 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12718, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12061 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({41})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle
und weiterer Abgeordneter der Fraktion der
FDP
sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan
Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und
weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE
LINKE
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck ({42}), Volker Beck ({43})
und weiterer Abgeordneter der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Dieter Wiefelspütz
Volker Schneider ({44})
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag von Abgeordneten
der Fraktionen der FDP, die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/12480 mit dem Titel „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Nach Art. 44 Abs. 1 des
Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag verpflichtet,
einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, wenn die
Einsetzung von einem Viertel seiner Mitglieder verlangt
wird. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion der FDP,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Unionsfraktion und der SPDFraktion angenommen. Damit ist der 2. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode eingesetzt.
({45})
Wir sind noch immer beim Zusatzpunkt 4 c. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/12130 mit dem Titel „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses“ für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zum Anbauverbot des gentechnisch
veränderten Mais MON 810
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines
muss man feststellen: Das Verbot der Maissorte
MON 810 ist der Sieg der Anti-Gentechnik-Bewegung
in Deutschland.
({0})
Es ist der Sieg engagierter Bürgerinnen und Bürger,
Landwirte und Imker, von Umweltverbänden, Verbraucherverbänden und grüner Politik.
Ich will Frau Aigner nicht kritisieren, wenn ich feststelle, dass sie das Verbot nur verkündet hat. Immerhin
hat sie im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der MON 810
als Saatgut in Deutschland erst zugelassen hat, das Verbot beschlossen und verkündet. Durchgesetzt haben es
aber faktisch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die
nämlich keinen Genmais auf dem Teller oder auf dem
Acker haben wollten.
({1})
Die CSU insgesamt muss endlich erkennen, dass das
Hin und Her der letzten Jahre ein Ende haben muss. Man
kann nicht erst für die Gentechnik möglichst überall eintreten, weil das als Fortschritt gilt, dann dazu übergehen,
die Gentechnik überall, aber bitte nicht in Bayern - in
Berlin vielleicht - zulassen zu wollen und letztlich in
Brüssel dafür zu stimmen.
({2})
- Herr Ramsauer hat dazwischengerufen, ich sei ein
Bauernschreck.
({3})
- Das haben Sie damals gut stilisiert. In Wahrheit war
ich ein Schreck für Sie, Herr Ramsauer. Sie müssen
heute das tun, was ich damals schon gesagt habe.
({4})
- Das stimmt: Darüber hat er auch noch graue Haare gekriegt.
Jetzt gibt es in Bayern Veranstaltungen mit 3 000 Verbraucherinnen und Verbrauchern und Bäuerinnen und
Bauern. Siehe da: Es sind keine Veranstaltungen der
CSU, sondern sie werden von Bauern in Bayern organisiert, weil sie keine Gentechnik wollen: weder in Bayern
noch in Deutschland oder in Europa. Damit haben sie
recht, und Sie werden auch noch dahinkommen.
({5})
Ich bin davon überzeugt, dass jetzt für Herrn Seehofer
der richtige Zeitpunkt wäre, sich dafür zu entschuldigen,
dass er uns das Problem mit der Zulassung von
MON 810 im Jahr 2005 überhaupt erst aufgedrückt hat.
({6})
Er müsste sich auch für das Jahr 2007 entschuldigen, als
er in Brüssel für die Zulassung der Genkartoffel Amflora
stimmte. Gott sei Dank gab es Minister aus anderen Mitgliedstaaten, die das verhindert haben.
Auch wenn Herr Seehofer jetzt wie Jung Siegfried daherreitet, wenn es um die Amflora geht, muss er sich
entschuldigen. Er hat in Deutschland einen faktischen
Vermehrungsanbau der gentechnisch veränderten Kartoffel Amflora für die Industrie zugelassen. Jetzt fordert
er unter dem Deckmäntelchen eines Forschungsbegriffes
das Verbot: erst rein in die Kartoffeln, dann raus aus den
Kartoffeln. Das Ergebnis bestätige ich, wir hätten es aber
uns allen und den Bauern ersparen können.
({7})
Wir sagen klar: Wir lehnen die Genkartoffel Amflora
ab. Sie enthält ein Gen, das gegen Antibiotika resistent
ist. Antibiotika werden zum Beispiel für die
Tuberkulosebekämpfung gebraucht. Auch die Weltgesundheitsorganisation weist darauf hin, dass Antibiotika
nicht diffundierend in der Umwelt, sondern nur zur akuten Behandlung eingesetzt werden sollen. Deshalb sagen
wir Nein zu Amflora.
({8})
Wir haben vor wenigen Wochen einen denkwürdigen
und beachtenswerten Auftritt von Herrn Bleser mit doppelten Toeloops und Rittbergern erlebt. Ich möchte an
dieser Stelle eines sagen: Was wir endlich wissen wollen, ist, welches eigentlich die Auffassung der Bundesregierung ist. Ich finde es sehr schön, dass Frau Aigner,
die gleich sprechen wird, noch zwei Staatssekretäre mitgebracht hat. Aber Frau Schavan, die sich vor Tagen
großspurig geäußert hat, sie wolle deren Entscheidung
nicht würdigen, hat sich nicht einmal dazu herabgelassen, zu erscheinen. Ich hoffe, das heißt, sie hat aufgegeben.
({9})
Welches ist eigentlich die Auffassung der Koalition?
Gilt die Auffassung von Frau Aigner zum Genmais und
hoffentlich auch zu Amflora - hier wird sie Herrn
Seehofer vielleicht auch korrigieren -, die Koalitionsvereinbarung, die eine Förderung der Gentechnik vorsieht, oder das Gesetz, in dem davon gar keine Rede ist?
Wir wollen klar wissen, welche Auffassung gilt.
Wir lassen uns auch nicht durch den sogenannten runden Tisch irreführen. Runde Tische hat es schon gegeben, schon vor Jahren auch einen runden Tisch zum
Thema Gentechnik. Sie können aber gerne noch einmal
alle einladen und das Ganze auf Kosten des Steuerzahlers wieder inszenieren. Aber das nutzt gar nichts; denn
Frau Schavan ist für die Anbauentscheidung sowieso
nicht zuständig. Ich will wissen: Stellen Sie hier nur einige in der Saatgutindustrie ruhig, oder wollen Sie tatsächlich eine andere Position einnehmen? Wir wollen
nicht nur wissen, was die CSU meint, wie die weiteren
Schritte aussehen sollen, sondern auch, welche Auffassung die Bundesregierung vertritt.
Kollegin Künast, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Wenn es die
CSU ernst meint, müssen weitere Schritte folgen. Dann
muss es Unterstützung für gentechnikfreie Regionen und
Futtermittel geben. Dann darf es keine neuen Zulassungen gentechnisch veränderter Pflanzen geben. Wir wollen jetzt endlich einen klaren Satz von dieser Bundesregierung hören. Wir wollen in der Landwirtschaft und
bei Lebensmitteln nicht unter dem Kuratel einiger weniger Konzerne stehen, die gentechnisch verändertes Saatgut nach Wildwestmanier verbreiten wollen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Bauern wollen
keine Gentechnik, weder im Futtertrog noch auf dem
Acker und auch nicht auf dem Teller.
({0})
Das Wort hat die Bundesministerin für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stehen grundsätzlich in der Verantwortung für das Gemeinwohl unseres Landes. Deswegen
kommen wir in der Politik nicht umhin, manchmal auch
schwierige Entscheidungen zu treffen. Das ist unsere
und insbesondere meine Aufgabe. Ich habe mir die Entscheidung für das Verbot von MON 810 nicht leicht gemacht. Es ist eine klare Einzelfallentscheidung, die ich
nach Abwägung aller mir vorliegenden, unterschiedlichen Forschungsergebnisse fachlich getroffen habe. Genauso wie unsere Nachbarländer - fünf an der Zahl habe ich die Schutzklausel gezogen in dem Bestreben,
möglichen Schaden abzuwenden und Widersprüchliches zu klären. Wo immer wissenschaftliche Anhaltspunkte gegeben sind, die den Schluss nahelegen, dass
von gentechnisch veränderten Organismen Gefahren für
die Umwelt ausgehen, müssen wir und muss insbesondere ich reagieren. Das war hier der Fall. Mit meiner
Entscheidung ist kein Verdikt gegen neue, moderne
Technologien ausgesprochen, nicht gegen die Lebenswissenschaften im Allgemeinen und auch nicht gegen
die Grüne Gentechnik im Speziellen. Hier genauso wie
bei allen anderen jungen Technologien muss man besonders auf Chancen und Risiken achten und diese gegeneinander abwägen. Wir brauchen gesichertes Wissen.
Dafür brauchen wir Zeit.
Ganz aktuell steht die Entscheidung über die Freisetzung der Stärkekartoffel Amflora an. Hierzu werde ich
in den nächsten Tagen Gespräche führen, um dann eine
Entscheidung zu treffen. Gerade dann, wenn Erkenntnisse noch nicht ausgereift sind und Anwendungen noch
gezielter Erfahrungen bedürfen, gilt bei der Zulassung in
besonderem Maße das Vorsorgeprinzip. Das bedeutet:
Der Schutz von Mensch und Umwelt muss an vorderster
Stelle stehen. Zudem wissen wir heute nicht, was wir
morgen wissen. Deswegen müssen wir derzeitige Warnhinweise mit der gebotenen Sensibilität behandeln.
({0})
Ich bekenne mich klar zum Wissenschaftsstandort
Deutschland. Mehr denn je wird unser künftiger Wohlstand von Wissenschaft, Forschung und technologischer
Entwicklung abhängen. Es macht Sinn, Forschung, die
weltweit betrieben wird, auch mitzugestalten.
({1})
Das gilt auch für die Grüne Gentechnik. Grundlagen-,
Anwendungs- und Sicherheitsforschung müssen mit der
gebotenen Sicherheit Hand in Hand gehen. Wir dürfen
uns aber nicht künstlich dumm halten. Wir müssen - das
ist ebenfalls ein Gebot der Wissenschaft - eventuelle
Alternativen prüfen und beispielsweise in der Züchtungsforschung alle verfügbaren Verfahren der Biotechnologie auf ihre Anwendbarkeit untersuchen und bei
Eignung nutzen.
Grüne Gentechnik ist, wie wir alle wissen, ein Thema,
das äußerst kontrovers und auch äußerst emotional diskutiert wird. Deswegen brauchen wir fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, wir brauchen Orientierungswissen, und wir brauchen die Klärung von ethischen
Positionen. Wir müssen die Ängste und Befürchtungen
von Menschen aufnehmen. Es gilt, Brücken mit dem
Ziel einer öffentlichen, transparenten und sachlichen
Diskussion zu schlagen. Nicht nur darin bin ich mit meiner Kollegin Annette Schavan einig.
({2})
Gemeinsam werden wir uns mit Wissenschaftlern, Verbänden, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen
und Kirchen an einen Tisch setzen, um Pro und Kontra,
Chancen und Risiken der Grünen Gentechnik auszuloten.
({3})
Einen Termin haben wir schon gefunden. Für mich ist
dieser Termin ein wichtiger Baustein im Prozess des
Dialogs, den ich jetzt führen werde.
({4})
Wir können nicht alles tun, aber wir müssen tun, was wir
können. Dieser Satz ist und bleibt richtig.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Ministerin, meine persönliche Sympathie haben Sie, aber in der Sache liegen Sie falsch.
({0})
Sie haben einen Bescheid vorgelegt, der eine politische
Entscheidung darstellt, aber der fachlich nicht begründet
ist.
({1})
Ich bitte Sie ganz herzlich, einmal nachzulesen, was die
ZKBS, Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit, schon vor zwei Jahren zu dem entsprechenden Erlass Ihres Kollegen Seehofer gesagt hat. Sie hat ganz
eindeutig gesagt, dass das schlicht falsch ist. Ich bitte Sie
auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in Deutschland
eine Forschung zur biologischen Sicherheit haben, die
Ergebnisse gebracht hat. Deswegen sind wir in Deutschland auf der ganz sicheren Seite, wenn wir uns dafür einsetzen, dass auch in Deutschland biotechnologische
Züchtung erfolgt, dass die Pflanzen hier genutzt werden
und dass die Forschung weitergetrieben wird.
({2})
Frau Künast, auch wenn wir mit Ihnen einer Meinung
sind, dass es Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung gibt - das ist überhaupt keine Frage -, so sind
wir doch der Meinung, dass das Thema sehr viel mehr
als die Meinungsverschiedenheiten in dieser Bundesregierung umfasst. Wir sind in einer Wirtschaftskrise.
Wir haben einen Abschwung in Höhe von 5 bis 7 Prozent. Es geht darum, Arbeitsplätze zu erhalten, es geht
darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
({3})
In dieser Situation exekutiert die Bundesregierung eine
Verbotspolitik, die dazu führt, dass Arbeitsplätze ins
Ausland abwandern. Das ist meines Erachtens das absolut falsche Zeichen in dieser Situation.
({4})
Zu Recht hat Friedrich Merz gesagt, eine positive Entscheidung der Bundesregierung zur Nutzung der Gentechnik wäre eine Entscheidung, die Deutschland zehn
Mal mehr hilft als jedes weitere Konjunkturprogramm.
Der Mann hat recht.
({5})
Es ist eine Entscheidung gegen Arbeitsplätze. Ich will
noch eines ganz deutlich sagen: Es geht hier auch um
diejenigen Menschen, die nicht auf den Acker gehen, die
nicht demonstrieren, sondern die in aller Verantwortung
für ihre Familien, für sich selbst und für unser Land zur
Arbeit gehen und dafür sorgen, dass wirtschaftlicher
Wohlstand in diesem Land geschaffen wird.
({6})
Es geht auch um junge Menschen. Ich will einmal an
Folgendes erinnern: Es gibt mehr junge Menschen, die
sich im Rahmen ihrer Ausbildung bei Pflanzenzüchtungsunternehmen, bei Chemieunternehmen, in der
Landwirtschaft oder im Rahmen ihres Studiums im engeren oder weiteren Sinne mit der biologischen Züchtung beschäftigen, als junge Menschen, die auf Äckern
demonstrieren.
({7})
Für die jungen Menschen, die sich in diesem Bereich
ausbilden lassen, kämpfen wir als FDP-Bundestagsfraktion.
({8})
Wir wissen, dass die landwirtschaftliche Produktion
zur Sicherstellung der Welternährung mit der Bevölkerungsentwicklung nicht mehr Schritt halten kann. Wir
wissen, dass die Zahl der hungernden Menschen steigt.
Etwa 1 Milliarde Menschen hungern. Im vergangenen
Jahr hat es deswegen einen Gipfel der FAO in Rom gegeben. Wir haben im Agrarausschuss den zuständigen
Kommissar gegen Wüstenbildung eingeladen.
({9})
- Frau Künast, Ihre Zwischenrufe taugen wirklich nicht
viel. - Er hat in diesem Ausschuss ganz deutlich gesagt:
Die Dritte Welt setzt auf eine zweite grüne Revolution.
({10})
Die Dritte Welt weiß, dass die erste grüne Revolution
sehr viel für die Ernährung der Menschen weltweit getan
hat. Deswegen setzt die Dritte Welt auf eine zweite
grüne Revolution. Diese brauchen wir.
({11})
- Bitte hören Sie doch zu, wenn jemand hier seine Meinung äußert.
Ich will noch eines hinzufügen: Es sind durch die Verteufelung der biotechnologischen Züchtung weltweit
Zigtausende von Menschen gestorben
({12})
- ich möchte an Simbabwe und auch an den Goldenen
Reis erinnern -, aber kein einziger Mensch ist durch ihre
Anwendung gestorben. Vor diesem Hintergrund ist es
zynisch, hier in Deutschland gegen eine biotechnologische Züchtung zu wettern, im Parlament zu randalieren
und damit das Schicksal von Menschen mit Füßen zu
treten.
({13})
Volksnahe Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen,
heißt etwas ganz anderes.
Ich will ganz ehrlich sagen: Als Achtundsechzigerin
fällt es mir schwer,
({14})
Franz Josef Strauß zu zitieren. Das gebe ich zu. Aber
wenn er recht hat, hat er recht: Dem Menschen aufs
Maul schauen, aber ihm nicht nach dem Munde reden. Das ist die richtige Politik für dieses Land: ihm nicht
nach dem Munde reden.
({15})
Alle zukunftsweisenden Entscheidungen in Deutschland sind gegen Widerstände durchgekämpft worden.
Deswegen fordern wir die Bundeskanzlerin auf, gegen
alle Widerstände eine positive Haltung der Bundesrepublik Deutschland zur biotechnologischen Züchtung in ihrem Kabinett durchzusetzen. Sie muss von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Happach-Kasan, ich finde es perfide, den Hunger von Menschen zu instrumentalisieren.
Ihre Worte stehen im Gegensatz zur Realität.
({0})
Fahren Sie einmal in die Länder, in denen die Menschen
wirklich gegen den Hunger kämpfen.
({1})
Die Mehrzahl dieser Länder hat ein Einfuhr- und Anwendungsverbot für genetisch veränderte Pflanzen verhängt, weil sie ihre heimischen Pflanzensorten und den
heimischen Lebensmittelanbau schützen wollen.
({2})
Sie zitieren immer gerne aus der Süddeutschen Zeitung. Hätten Sie diese Zeitung vorgestern und gestern
gelesen, dann hätten Sie erfahren, dass bei Reis niemand
auf die Entwicklung gentechnisch veränderter Sorten
wartet, sondern dass auf herkömmliche Art und Weise
die trockenresistenten, die hochwasserresistenten und
auch die salzresistenten Reisarten - von diesen traditionellen Reissorten gibt es Tausende - gezüchtet worden
sind, die jetzt einfach übernommen werden können, weil
es darauf keinen Patentschutz gibt. Das ist die Chance,
den Hunger zu bekämpfen, und nicht durch die Patentierung von Lebensmitteln durch Monopolisten.
({3})
Normalerweise ist der Antrag für eine Aktuelle
Stunde mit dem Titel „Meinungsverschiedenheiten in
der Bundesregierung …“ eines der primitivsten Mittel
einer Opposition. Aber in diesem Falle stimmt es. Ich
will eine kurze Analyse der Positionen in dieser Regierung vornehmen. Man muss immer wieder erwähnen,
dass es eine Dreiparteienkoalition ist.
({4})
Manchmal sieht es so aus, als seien es zwei. Aber es sind
drei.
Wir haben die SPD mit einer klaren Linie.
({5})
Wir haben in der gemeinsamen Regierungszeit mit den
Grünen ein Gentechnikgesetz entwickelt. Die Große
Koalition hat es geschafft, alle Punkte dieses Gentechnikgesetzes zu erhalten,
({6})
auch wenn die Verhandlungen darüber 18 Monate gedauert haben. Wir haben sogar zwei Punkte ergänzt,
nämlich Sicherheitsabstand und die Kennzeichnung
„Ohne Gentechnik“. Wir haben außerdem mehrfach Initiativen ergriffen, um auf europäischer Ebene klarzustellen, dass Nationalstaaten und Regionen über die Anwendung entscheiden, um das Saatgut zu schützen und das
Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene endlich zu
demokratisieren.
Es gibt einen zweiten Koalitionspartner mit einer klaren Linie: Das ist die CDU. Diese Linie ist zwar das genaue Gegenteil von dem, was ich gerade für die SPD genannt habe, aber es ist eine klare Linie.
Es gibt noch einen dritten Koalitionspartner, dessen
Linie ich am Morgen eines Tages oft nicht kenne. Am
Anfang der Verhandlungen mit der CSU gab es dort die
entschiedensten Gentechnikbefürworter.
({7})
Heute lese ich in der Zeitung, dass dort die entschiedensten Gentechnikgegner sind.
({8})
Bis zu der Entscheidung der Ministerin - diese Entscheidung begrüße ich sehr - hat es allerdings keine einzige Tat dieses Koalitionspartners gegeben. Frau MinisUlrich Kelber
terin, ich weiß nicht, ob es Sie erreicht hat: Als Ihr
treuester Unterstützer habe ich am Dienstag dem Koalitionspartner vorgeschlagen, dass wir im Deutschen
Bundestag beschließen: Der Deutsche Bundestag unterstützt die Entscheidung von Frau Bundesministerin Ilse
Aigner, den Anbau von MON 810 zu untersagen. - Wir
dürfen nach dem Willen der Fraktion der CDU/CSU diesen Beschluss im Deutschen Bundestag nicht fassen.
Das tut mir sehr leid.
({9})
Wie bei unserem ersten Vorstoß hat es keine Unterstützung der CDU-Abgeordneten gegeben - Frau
Klöckner und Herr Bleser waren im Raum -; es hat aber
auch keine Unterstützung der CSU-Abgeordneten gegeben. Ich finde es bemerkenswert, dass in der heutigen
Debatte außer der Ministerin - ich finde gut, dass sie
persönlich zu dieser Debatte erschienen ist - kein CSUAbgeordneter redet. So war es auch in der letzten Gentechnikdebatte.
({10})
- Lesen Sie es nach! Da Sie nicht zugehört haben,
wiederhole ich: außer der Ministerin kein Redner aus
den Reihen der CSU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag, der die CSU-Linie vertritt. Bei der letzten Debatte hat man nur den Kollegen Bleser reden lassen, und
seiner feurigen Pro-Gentechnik-Rede, lieber Peter, haben auch alle CSU-Abgeordneten begeistert Beifall gespendet.
({11})
Die Regierung braucht eine klare Linie. Es kann nicht
jedes Mal so sein wie bei einer Abstimmung auf europäischer Ebene, an deren Ende Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel gesagt hat: Niemand hat mich formal
aufgefordert, mich zu enthalten; also habe ich dagegengestimmt, als die EU-Kommission unseren Nachbarn
Österreich und das mit uns befreundete Land Ungarn
zwingen wollte, Gentechnik einzusetzen. Was tun wir,
wenn die Kommission vorschlägt - die Ministerin muss
dann entscheiden -, unser Nachbarland Frankreich zu
zwingen, Gentechnik einzusetzen? Enthält sich die Bundesregierung, und sagt sie: „Das ist uns egal, was unserem Nachbarland passiert“? Oder haben wir eine klare
Haltung?
Wir glauben, dass der Deutsche Bundestag nicht nur
die Entscheidung der Ministerin begrüßen sollte, sondern endlich auch Deutschlands Haltung festlegen sollte.
Diese Haltung sollte sein: Nationalstaaten und Regionen
entscheiden anhand ihrer spezifischen Situation darüber,
ob sie Grüne Gentechnik auf ihren Äckern einsetzen
wollen oder ob sie es nicht tun wollen. Dieser Vorschlag
steht im Regierungsprogramm der SPD. Wir werden ihn
in einer nächsten Koalition erneut vorbringen. Wenn wir
wenigstens 15 bis 20 der CSU-Abgeordneten gewinnen
könnten, dann hätten sicherlich auch die Fraktionsspitzen nichts gegen einen Gruppenantrag. Es müsste sich
allerdings einmal ein einziger CSU-Abgeordneter
trauen, das zu vertreten, was aus München in den Zeitungen vorgegeben wird.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Donnerstagabend der letzten Sitzungswoche diskutierten wir über das Verbot des Anbaus von MON 810.
Viele von Ihnen können sich an diese heiße Debatte erinnern, in der uns, den Gegnerinnen und Gegnern der Gentechnik, alle möglichen unschönen Dinge vorgeworfen
wurden: Uns wurde unterstellt, Panikmache zu betreiben
und Argumente nur einseitig zu sehen. Das war eine sehr
unschöne Debatte.
Leider hat sich kein CSU-Abgeordneter daran beteiligt; darauf wurde hier schon hingewiesen. Umso erfreuter bin ich darüber, dass Frau Aigner das Anbauverbot
ausgesprochen hat. Sicher ist es kein Geheimnis - zumindest wird in Bayern sehr viel darüber gesprochen -,
dass ein Herr aus Ingolstadt daran großen Anteil hatte.
Vielleicht ist er es leid: Er hat ja den Spitznamen
„Genhofer“ und möchte jetzt vielleicht einen anderen
Spitznamen.
Wir finden es gut, dass dieses Verbot jetzt ausgesprochen wurde. Horst Seehofer hat die Zeichen der Zeit verstanden und kennt die Stimmung in der Bevölkerung in
Bayern.
({0})
- Natürlich muss die CSU um ihre Europamandate
schon ein bisschen fürchten. Bei 42 Prozent wird es
knapp.
Ich sage Ihnen auch - aber das wollen Sie ja nicht akzeptieren -: 78 Prozent der Bevölkerung sind gegen den
Anbau von Genmais, und darum halte ich dieses Verbot
schon lange für überfällig.
({1})
Ich fordere an dieser Stelle Zugabe: Nun brauchen wir
auch ein Verbot der Maissorten Bt 11 von Syngenta und
1507 von Pioneer, und natürlich unterstützt die Linke
auch ein Anbauverbot der Genkartoffel Amflora.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, letzten Mittwoch
demonstrierten Biobauern, Bauernverband, Milchbauern
und Umweltverbände in München gegen eine Patentierung von Lebewesen unter dem Motto „Es geht um die
arme Sau“. Neu war, dass sich der bayerische Umweltminister Söder auf der Kundgebung geäußert und das
Genmaisverbot begründet hat. Das sind wir in Bayern
nicht gewohnt; daher war es schon sehr interessant. Er
hat gesagt, er kümmere sich auch um die arme Sau. Das
finde ich sehr löblich.
Fakt ist: In Bayern wurde verstanden, dass die Freisetzung von Genpflanzen Risiken mit sich bringt, die
eben nicht überschaubar sind. Einmal freigesetzt, sind
sie nicht mehr einzufangen, und die Risiken sind, wie
gesagt, unüberschaubar. Das wird nicht nur in unserem
Land so gesehen, sondern das Anbauverbot ist in einigen
anderen europäischen Ländern - ich zähle sie noch einmal auf: Frankreich, Griechenland, Österreich und Ungarn - schon lange ausgesprochen. Deshalb war auch bei
uns das Anbauverbot längst überfällig.
Wenn Sachsens Landwirtschaftsminister den Gentechnikgegnerinnen und -gegnern das Schüren von Hysterie vorwirft, dann hat er eben die Zeichen der Zeit
nicht verstanden. Damit unterstützt er die Forschungsministerin Frau Schavan, die sofort mit der Standortkeule kommt und den Forschungsstandort Deutschland
schon am Boden sieht. So haben sich ja auch andere jetzt
wieder geäußert.
Dazu kann ich nur sagen: Ihre Reaktion ist vollkommen unangemessen. Nicht das Genmaisverbot gefährdet
den Standort, sondern eine Orientierung auf eine globalisierte und energieintensive Landwirtschaft. Wir brauchen eben keine Laborpflanzen, die weltweit angebaut
werden können, sondern wir benötigen regional angepasste Sorten, um die Land- und Forstwirtschaft für die
Zukunft fit zu machen.
({3})
Dazu brauchen wir beispielsweise eine intensive Forschung im Bereich des Ökolandbaus und der Agroforstsysteme. Das ist notwendig, und die Mehrheit der Menschen, auch in Bayern, wünscht sich das.
({4})
Der jetzt von Frau Schavan geplante runde Tisch aus
Wissenschaft und Industrie soll die Entscheidung wieder
zurückholen. Unterstützt wird sie sogar von der Bundeskanzlerin. Hier wird klar, wie hoch diese Entscheidung
aufgehängt ist.
Ich frage Sie: Warum akzeptieren Sie nicht den Willen der Mehrheit der Bevölkerung? Warum sollen Menschen in Zukunft Lebensmittel essen, die sie nicht wollen? Sind Ihnen die Profite der Großkonzerne wichtiger
als Ihre Wählerinnen und Wähler? Diese Fragen müssen
Sie im Wahlkampf beantworten.
({5})
Dann kommt noch das Argument Welthunger; wir haben es auch heute gehört.
({6})
Es ist einfach falsch. Gerade „Misereor“, „Brot für die
Welt“ und die Welternährungsorganisation
({7})
lehnen die Gentechnik als Mittel zur Linderung des
Welthungers ab. Ich halte das für sehr wichtig. Daran
können Sie einfach nicht vorbeigehen. Der Welthunger
muss durch eine Umverteilung in der Welt, durch eine
gerechte Weltwirtschaftsordnung unter Verhinderung
von Kriegen beendet werden
({8})
und nicht durch patentierte Genpflanzen, die sich am anderen Ende des Kontinents niemand leisten kann und die
Menschen millionenfach in Schulden stürzen. Schauen
Sie sich an, wie viele Bauern sich in Indien deswegen
umgebracht haben!
({9})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie schimpfen.
Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die
Zeit.
({0})
Ja. - Ich verstehe, dass ein Gerichtsverfahren mit einem Konzern wie Monsanto als Gegner nicht sehr schön
ist. Aber lassen Sie sich bitte nicht ins Bockshorn jagen.
({0})
Es ist sicher nicht sehr angenehm, wenn der deutsche
Botschafter in den USA vom US-Handelsbeauftragten
vorgeladen wird, um sich dort eine Kritik am Anbauverbot einzuhandeln. Trotzdem: Das Anbauverbot ist richtig
und wichtig.
Und Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Im Bundestag gäbe es eine Mehrheit für Ihren Antrag,
Herr Kelber.
({0})
Das Wort hat der Kollege Axel Fischer für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
Jahrhunderten ist die Menschheit in der Lage, immer
bessere Pferde zu züchten. Obwohl dies so ist, hat sich
im Bereich der Mobilität das Automobil durchgesetzt.
({0})
Heute spielen deutsche Unternehmen auf dem Markt der
Mobilität im Bereich des Automobils noch eine führende
Rolle,
({1})
und das ist auch gut so.
Wir debattieren heute aber nicht über das Thema Mobilität, sondern über das Thema Ernährung. Wir alle kennen die Debatten; sie wurden hier des Öfteren geführt.
Es gibt auf der einen Seite herkömmliches Saatgut, wie
man es meist nennt, das Bauern verwenden. Es wird versucht, einen Gegensatz aufzubauen, indem man sagt: die
schlimme Grüne Gentechnik. Ich sehe diesen Gegensatz
nicht so stark, wie er in dieser Debatte teilweise dargestellt wird.
Eine Tatsache können wir nicht vom Tisch wischen.
Es ist in der Tat so, dass durch gentechnisch veränderte
Pflanzen Produktivitätssteigerungen von um die 30 Prozent möglich sind. Angesichts einer steigenden Weltbevölkerung - es werden bald 9 Milliarden Menschen sein ist dies auf jeden Fall eine Tatsache, die man nicht so
einfach vom Tisch wischen kann.
({2})
Ein weiteres Argument, das man nicht einfach beiseite schieben kann, ist, dass bei gentechnisch veränderten Pflanzen der Pflanzenschutz im Saatgut angelegt
wird. Wir sparen also eine Menge Pflanzenschutzmittel,
die sonst auf die Felder ausgebracht werden müssten;
auch das ist ein Vorteil.
({3})
Wir können die Gentechnik natürlich pauschal verteufeln - das hat die Bundesregierung übrigens nicht getan;
das muss man einmal deutlich sagen -, aber eigentlich
müssen wir sehen, wie die Entwicklung in der Welt weitergeht.
Wenn wir uns die bevölkerungsreichsten Länder wie
China oder Indien anschauen, stellen wir fest, dass dort
massiv auf Gentechnik gesetzt wird. Damit ist völlig
klar: Wenn wir in hundert Jahren im Bereich der Welternährung beim Saatgut eine Rolle spielen wollen, dürfen wir die Forschung in diesem Bereich in Europa und
in Deutschland nicht ausblenden.
({4})
Die Folge wäre, dass junge Forscher massenweise aus
Deutschland in andere Länder abwandern und dort forschen würden. Das kann nicht Sinn unserer Politik sein.
Übrigens: Niemand wird irgendjemanden zwingen,
gentechnisch verändertes Saatgut auszusäen.
({5})
Das ist eine freiwillige Entscheidung der Landwirte.
({6})
Gerade vor diesem Hintergrund ist die Diskussion „Gentechnisch verändertes gegen herkömmliches Saatgut“
völlig fehl am Platze.
Wir haben eine Verantwortung - auch eine weltweite
Verantwortung - gegenüber den Menschen.
({7})
Aus ihr können wir uns nicht davonstehlen. Tatsache ist,
dass jedes Jahr Hunderttausende von Kindern in Südostasien aufgrund Vitamin-A-Mangels ums Leben kommen
oder Behinderungen davontragen.
({8})
Wir hätten die Möglichkeit, durch den Einsatz einer gentechnisch veränderten Reissorte - ich meine den vitaminreichen sogenannten Golden Rice - zu helfen. Da
frage ich: Wer von Ihnen will die Verantwortung übernehmen, zu sagen: „Wir wollen das nicht; die toten und
behinderten Kinder sind uns egal“? Ich jedenfalls
möchte das nicht.
({9})
Eines ist klar: Wir müssen global denken und lokal
handeln. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland auch
weiterhin auf die Gentechnik setzt, zumindest in der Forschung.
Wir müssen natürlich aufpassen, dass keine Missverständnisse entstehen und dass uns aufgrund verschiedener Entscheidungen nicht der Vorwurf des Protektionismus gemacht werden kann.
({10})
Gerade in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage können
und sollten wir uns einen Handelskrieg, der allen Beteiligten nur Nachteile bringt, nicht leisten.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken das Wort.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte
Frau Aigner! Herr Kollege Fischer, bei der Mobilität
nehmen Sie schon Rückgriff auf das 19. Jahrhundert. Ihr
Wissen tut das leider auch. Bei diesem Stand sollten Sie
nicht stehen bleiben.
({0})
Ihnen von der SPD können wir übrigens helfen. Sie
brauchen nur Ihre Positionen in der Abstimmung über
unseren Antrag zum Ausdruck zu bringen.
Endlich ist der Wahnsinn des Genmais-Anbaus in
Deutschland gestoppt. Dieses Produkt bringt nur großen
Konzernen Gewinn und hängt allen anderen Gefahren
und Kosten an den Hals. Frau Happach-Kasan, stellt
man den maximal 500 Beschäftigten in der Agrogenbranche - dies ergab eine Untersuchung der Universität
Oldenburg - die 150 000 Arbeitsplätze in der Biobranche gegenüber, sieht man, wo der Jobmotor brummt. Daher wäre es in der Krise das Allervernünftigste, hier den
Schlüssel umzudrehen und diese technologische Missgeburt Agrogentechnik zu beenden.
({1})
Es werden aber 165 Millionen Euro Steuergelder
jährlich in die Biotechnologieforschung gepumpt, davon
erhebliche Teile in die Agrogentechnik, während nur
rund 7 Millionen Euro für das Bundesprogramm Ökologischer Landbau zur Verfügung stehen.
Frau Schavan hat auch kein Unrechtsbewusstsein.
Vielmehr betreibt man zusätzlich noch Gehirnwäsche in
der Bildung und öffnet Monsanto, BASF und Bayer als
Ersatzlehrern die Schultore für ihre Biotech-Mobile.
Nachtigall, ick hör dir trapsen!
Ich war gestern in Mecklenburg-Vorpommern. Dort
kann man sehen - genauso wie in Sachsen-Anhalt, wo
der ehemalige Ministerpräsident Kronzeuge dafür ist -,
welche Mittel in diesem Zusammenhang verschwendet
werden. Gerade die neuen Bundesländer leiden hier unter erheblichen Ausgaben.
Zu dieser immensen Verschwendung von Steuermitteln für eine völlig überholte Technologie werden Verbrauchern, Landwirten und Verarbeitern mit der Koexistenzlüge noch unglaubliche Kosten und eine immense
Bürokratie aufgebürdet. Man braucht sich nur einmal
den Schadensbericht Gentechnik des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft anzuschauen, aus dem hervorgeht, dass allein pro Molkerei jährlich 20 000 Euro
plus 200 000 Euro Investitionskosten anfallen, um zu erkennen, welcher Irrsinn das ist.
Ministerin Aigner hat die Forderungen, die die Mehrheit der Menschen in Deutschland mit starkem Nachdruck gestellt haben, jetzt erfüllt. Das ist ein großer Erfolg der Demokratie.
({2})
Wir wissen, dass es kaum die eigene Überzeugung war,
sondern die Angst vor einer Abstrafung bei den bevorstehenden Wahlen wie Europawahl und Bundestagswahl. Zu kritisieren ist nicht das Verbot des Anbaus von
Genmais, sondern die Unglaubwürdigkeit der CDU/
CSU.
({3})
Im Deutschen Bundestag können wir täglich die Doppelzüngigkeit der Union erleben: bei den Reden - besser
gesagt: bei den Nicht-Reden; gibt es hier eigentlich irgendein Mittel gegen Arbeitsverweigerung? - und bei
ihrem Abstimmungsverhalten. Auch im Landwirtschaftsausschuss wird das deutlich. Dort erheben die
Abgeordneten der CDU/CSU einerseits die Wissenschaft zum Dogma.
({4})
Andererseits werden renommierteste Wissenschaftlerinnen wie Professor Dr. Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, oder Frau Dr. Tappeser, die gerade
als eine von drei europäischen Expertinnen in ein hochrangiges Expertengremium vom Sekretariat der CBD berufen wurde, heruntergemacht wie Schulmädchen. Wenn
die Aussagen dieser Expertinnen nicht ideologiekonform
im Sinne der Agrogengläubigen der CDU/CSU sind,
wird ihnen explizit die wissenschaftliche Reputation abgesprochen.
Landes- und Bundesminister der Union werden als
Wahltaktiker bezeichnet, wenn sie solchen Haltungen
folgen. So erklärte Peter Bleser im Deutschlandfunk, mit
dem, was Frau Aigner jetzt praktiziere, werde eine Zukunftstechnologie in Deutschland verhindert.
({5})
Man muss auch einmal Folgendes deutlich machen:
Sie von der CDU wollen den Menschen verkaufen, dass
es der Gesundheit förderlich ist, einen gifthaltigen Mais
zu essen.
({6})
Gegen eine solche Meinung hilft schlichtweg gesunder
Menschenverstand - und vielleicht auch das richtige
Kreuz bei den Wahlen.
({7})
Sollte die CDU/CSU es wagen, nach den Wahltagen
im Juni und im September wieder zum Kniefall vor den
Agrokonzernen wie BASF und Monsanto zurückzukehren und weiter Millionen- und Milliardensummen in
diese Technologie zu investieren, dann wird es, gerade
nach dem, was abgelaufen ist, einen Aufstand geben.
({8})
Es wird eine ganz andere Form der Bauernbefreiung geben, nämlich die Befreiung von Genheuschrecken und
ihren parlamentarischen Helfern.
({9})
Es müssen Taten folgen. Deutschland muss eine gentechnikfreie Zone werden. Es darf nicht wie bei der
Echternacher Springprozession verfahren werden: zwei
Schritte vor und einer zurück.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die SPD hat das MON-810-Verbot öffentlich begrüßt; denn wir hatten bereits mehrfach auf
ein Verbot gedrungen und damit auch die Einhaltung des
Koalitionsvertrags eingefordert. Dort heißt es - ich zitiere -:
Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, entsprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Ziel
des deutschen Gentechnikrechts.
Auch Frau Aigner hat zuvor darauf hingewiesen.
Bereits in seiner Verfügung vom 27. April 2007 sah
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit BVL - Zitat - „berechtigten Grund zu der Annahme, dass der Anbau von MON 810 eine Gefahr für
die Umwelt darstellt“.
({0})
Es ordnete zwar das Ruhen der Inverkehrbringensgenehmigung an. Aber im Dezember 2007 wurde MON 810
wieder zugelassen. Wir, die SPD, haben diese Entscheidung kritisiert; denn die Zweifel an der Unbedenklichkeit für Umwelt und Gesundheit sind bis heute nicht ausgeräumt.
Das nun von Ministerin Aigner ausgesprochene Verbot ist die längst überfällige Konsequenz daraus. Ich
danke Frau Aigner für diese Entscheidung. Auch im Namen der SPD-Fraktion - Herr Kelber hat es ebenfalls angesprochen - sichere ich Ihnen unsere Unterstützung zu;
denn der Vorsorgegrundsatz muss für uns alle Priorität
haben.
({1})
Dafür müssen wir einstehen, auch dann, wenn es Gegenwind gibt. Wo bleibt die Unterstützung der CDU/CSUFraktion? Beim Koalitionspartner herrscht Durcheinander, nicht nur beim Thema MON 810, sondern auch
beim Thema Amflora-Kartoffel.
Wir halten einen Stopp des Versuchsanbaus für geboten, da das Austragsrisiko offensichtlich nicht so gering
ist, wie es häufig dargestellt wird. Nicht Pollenflug und
Vermehrung sind hier das Problem, sondern der Durchwuchs. Zwischen 10 000 und 30 000 Kartoffelknollen
- falls Sie das noch nicht wussten - können auf dem
Acker verbleiben, weil sie von der Erntemaschine nicht
erfasst werden. Davon kann ein Teil den Winter überstehen, im nächsten Jahr keimen und unkontrolliert durchwachsen. Das ließ sich 2008 im Süden von Mecklenburg
beobachten. Dort kam es zu einem Amflora-Durchwuchs auf einem ehemaligen Versuchsfeld in der Nähe
von Zepkow, obwohl der Versuch 2007 beendet worden
war. Solange die unkontrollierte Verbreitung nicht ausgeschlossen werden kann, befürworten wir ein Verbot
des Versuchsanbaus. Minister Gabriel hat bereits öffentlich seine Unterstützung zugesagt.
Wo aber steht die CDU/CSU-Fraktion? Es ist nicht
einfach, mit so einem Durcheinander beim Koalitionspartner politisch etwas auf den Weg zu bringen. Die
CSU positioniert sich in Bayern anders als in Berlin:
Während in München das Verbot der Grünen Gentechnik
plötzlich ein Gebot der Ethik ist,
({2})
wird der Einsatz in Berlin unterstützt. Während die CSU
in München Verbindlichkeit für gentechnikfreie Regionen fordert, verweigert sie in Berlin unseren Anträgen
zur Umsetzung dieser Forderungen die Zustimmung. So
kann man nicht arbeiten. So kann man nicht mit Bürgerinnen und Bürgern umgehen.
({3})
Wir brauchen einen klaren Kurs in Sachen Gentechnik. Das Thema ist den Menschen viel zu wichtig, als
dass sich Deutschland bei jeder Entscheidung auf EUEbene enthalten kann, weil sich die CDU/CSU-geführten Ministerien auf keine Linie einigen können. Das ist
heute schon mehrfach angesprochen worden.
Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen die Grüne
Gentechnik ab. Das hat erneut eine von Emnid durchgeführte Umfrage in Bayern gezeigt. Danach fordern
72 Prozent der bayerischen Bevölkerung - ich betone:
der bayerischen Bevölkerung - und sogar 76 Prozent der
CSU-Wähler ein MON-810-Verbot. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, sogar 59 Prozent der FDPWähler in Bayern schließen sich dieser Forderung an.
({4})
Das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben und endlich
den Weg für einen klaren Kurs in Sachen Grüne Gentechnik freimachen.
Ich nenne noch einmal einige wichtige Punkte: Verbraucherinnen und Verbrauchern dürfen keine gentechnisch veränderten Produkte aufgezwungen werden. Wir
brauchen deshalb auf EU-Ebene die Schließung der
Kennzeichnungslücke bei tierischen Produkten. Auf nationaler Ebene müssen wir endlich die bereits vereinbarte Informationskampagne zur Kennzeichnung „Ohne
Gentechnik“ starten, zum Beispiel mit einem einheitli23548
chen Logo. Gentechnikfreie Regionen brauchen Rechtssicherheit und Verbindlichkeit; denn nach derzeitigem
Recht können sie durch die Entscheidung einzelner
Grundstücksbesitzer gefährdet werden, indem einzelne
Parzellen mit gentechnisch veränderten Pflanzen bestellt
werden.
Ich könnte diese Liste fortführen, aber meine Redezeit geht zu Ende. Mit dem MON-810-Verbot ist der Anfang gemacht. Wir begrüßen das sehr. Ich fordere unseren Koalitionspartner auf, die Ministerin auf diesem Weg
und diesen Weg überhaupt zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Johannes Röring für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
sich inhaltlich mit dem Thema der heutigen Aktuellen
Stunde beschäftigt, kommt man schnell zu dem Schluss
- das haben die Redner Künast, Höfken und andere eindeutig bestätigt -, dass es gar nicht um das Thema
MON 810 geht, sondern zum wiederholten Male um das
Grundsatzthema Gentechnik.
({0})
Frau Kollegin Drobinski-Weiß, Sicherheit für Mensch
und Umwelt ist ein Aspekt bei der Zulassung jeglicher
gentechnisch veränderten Sorten.
({1})
Bei der jetzigen Debatte geht es um eventuell neue Erkenntnisse. Insofern diskutieren wir seitens der Union
über dieses Thema.
Diese Thematik war für die Grünen seit ihrer Gründung ein rotes Tuch. Es geht um ein Zukunftsfeld, um
eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, die den
Menschen schon heute in vielen Lebensbereichen hilft
und Probleme löst.
({2})
Die Thematik wird von einer Partei, die sich auf ihre
Fahne geschrieben hat, Verantwortung für die Generationen zu übernehmen, seit Jahren bekämpft. Es wird ideologisch, reißerisch und populistisch argumentiert, anstatt
wissenschaftlich an die Sache heranzugehen.
({3})
Ich bin schon der Meinung, dass die Bevölkerung aufgeklärt und informiert werden muss und nicht getäuscht
und verängstigt werden darf.
({4})
Aus diesem Grunde hat sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Gentechnikrecht stets dafür eingesetzt,
dass bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln Wahrheit und Klarheit herrschen. Eine Kennzeichnung ist
Grundlage für Transparenz und Voraussetzung für die
volle Wahlfreiheit. Herr Kelber, mit der aktuellen Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ ist es meines Erachtens
nicht möglich, das Ziel einer umfassenden, vollständigen
Kennzeichnung zu gewährleisten.
({5})
Die volle Wahlfreiheit der Verbraucher wird dadurch
nicht gewährleistet. Ich plädiere weiterhin dafür, dass
wir eine volle und ehrliche Kennzeichnung vornehmen,
indem wir eine Prozesskennzeichnung vornehmen. Alles, was im Prozess mit Gentechnik zu tun hat, sollten
wir kennzeichnen.
({6})
Auch beim Biokäse ist Gentechnik im Spiel, Frau
Künast. Wir sollten das kennzeichnen.
({7})
Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass man sich
mit dem Thema Gentechnik unkritisch auseinandersetzt.
Natürlich muss man sich stets mit den Risiken dieser Zukunftstechnologie auseinandersetzen.
({8})
Deshalb müssen wir die Forschung unterstützen.
({9})
Ich bin froh, dass das BMELV und das Forschungsministerium in den nächsten fünf Jahren Projekte der
Bioenergie-, Agrar- und Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen unterstützen und hierfür 200 Millionen Euro ausgeben. Der Grünen Gentechnik wird in diesem Rahmen
viel Platz eingeräumt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend diese Debatte mit der über den Bildungsbericht der
Bundesregierung, über den wir heute Morgen gesprochen haben, verknüpfen. Wir haben heute Morgen gehört, dass Bildung und Ausbildung für die zukünftige
Entwicklung des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft
entscheidend sind. Deshalb bereitet es mir Sorgen, dass
durch die Art und Weise dieser Debatte - Herr Kelber,
Frau Künast, Sie haben ein Beispiel dafür gegeben - falsche Signale an junge Menschen gesendet werden, die
zur Folge haben, dass sie sich nicht mit diesen Zukunftsthemen befassen,
({10})
sondern sich davon abwenden. Wir müssen bei jungen
Menschen in der Schule, in der Ausbildung die Neugier
für das weltweite Zukunftsthema Biotechnologie wecken, damit sie erkennen, dass dies ein wichtiges Feld
ist. Wir müssen junge Menschen für die Zukunftsthemen
begeistern;
({11})
denn nur dadurch können wir besonders bei uns in
Deutschland Lösungen für die Herausforderungen von
morgen finden. Dafür steht die Union.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege René Röspel für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eigentlich wollte ich nichts zu dem Thema sagen, weil ich glaube, dass wir uns in den letzten Jahren
genug dazu ausgetauscht haben. Trotzdem muss ich es
sagen: Ich finde es unerträglich, wie einige von Ihnen
hier die Not anderer Menschen und den Welthunger zu
ihren Zwecken instrumentalisieren.
({0})
Nehmen Sie es zur Kenntnis! Der ursprünglich in Indien
angebaute braune geschälte Reis stellte genügend Vitamine zur Verfügung. Er ist vom westlichen geschälten
vitaminarmen weißen Reis verdrängt worden. Jetzt mit
westlicher Technologie zu kommen und zu sagen, dass
man den Menschen auch noch den gentechnisch veränderten weißen Reis geben möchte, um damit deren Probleme zu lösen, ist der völlig falsche Ansatz und dient
der Sache insgesamt nicht.
({1})
Ich möchte wieder zum Thema kommen. Frau Ministerin Aigner hat am 14. April dieses Jahres den Genmais
MON 810 - man könnte ihn auch Seehofer 1 nennen verboten. Am 17. April hat das zuständige Bundesamt
für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit den
Bescheid an Monsanto herausgegeben, in dem die Begründung für dieses Verfahren nachzuvollziehen ist. Sie
erlauben mir, dass ich einige der Begründungen nenne
- sie sind übrigens jeweils wissenschaftlich belegt, und
entsprechende Literaturquellen sind angegeben -: Die
verfügbaren Daten zeigen eine Langzeitbelastung durch
das Toxin auf Nichtzielorganismen, also Nichtschädlinge. Der Polleneintrag sei wesentlich höher als angenommen. Das Bt-Protein im Pollen werde durch UVStrahlung nicht angegriffen. Dies wird in einer Arbeit
von 2007 ausgeführt. In schon länger bekannten Arbeiten von 1998 und 2001 ist von der Verfügbarkeit dieses
Proteins über 200 Tage im Boden die Rede. Beträchtliche Mengen des Toxins, des Giftes aus dem Genmais,
werden im Wasser und Sediment mitgeführt. Dies steht
in Arbeiten von 2007. In weiteren Arbeiten von 2007
steht, dass nicht nur der Maiszünsler, der Schädling, sondern weitere Schmetterlingsarten betroffen sind. Das BtProtein werde durch Pollen mehr als 2 Kilometer in die
Umgebung hineingetragen. Ältere Arbeiten von 1999
zeigen, dass Nichtzielorganismen weiterhin geschädigt
werden. So viel zur wissenschaftlichen Begleitung des
Ganzen. Die neueste Arbeit zeigt, dass auch Maikäfer
eine signifikant erhöhte Sterblichkeit aufweisen.
Diese Arbeiten haben zu dem Schluss geführt - so
steht es in dem Bescheid -, dass aufgrund der neuen und
zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass der Anbau von
MON 810 eine Gefahr für die Umwelt darstellt. Frau
Ministerin, ich glaube, Sie haben Ihre Schlussfolgerung,
dass der Genmais verboten werden muss, auf begründeter Basis gezogen.
({2})
Einige der Arbeiten kenne ich seit längerer Zeit. Andere habe ich in der Kürze der Zeit nicht lesen können.
Man kann sie kritisch betrachten; das ist richtig. Ich erwarte von kritischer Forschung und wissenschaftlicher
Arbeit, dass man Publikationen kritisch betrachtet.
Ich habe vor einigen Jahren einmal die Situation der
zwei Stapel beschrieben: Auf der einen Seite wächst die
Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten, in denen die
Grüne Gentechnik sehr kritisch beurteilt wird. Auf der
anderen Seite wächst der Stapel der Arbeiten, in denen
es heißt: Die Grüne Gentechnik ist unbedenklich, und es
gibt keine Hinweise auf das Gegenteil.
Die Frage ist, wie man sich in einer solchen Situation,
in der es ein Fragezeichen gibt, entscheidet. Ich glaube,
man muss tatsächlich beide Stapel betrachten. Am
16. April dieses Jahres ist eine gemeinsame Erklärung
der Wissenschaftsorganisationen zur Grünen Gentechnik
veröffentlicht worden. Darin wird von Frau Aigner eine
vorurteilsfreie Untersuchung von Sicherheitsfragen und
möglichen Risiken gefordert. Das kann ich ausdrücklich
unterstreichen. Das bedeutet aber, dass man sich tatsächlich mit beiden Stapeln befassen muss.
Wenn man diese Forderung erhebt und dabei mit dem
Finger auf andere zeigt, dann weisen nach Gustav
Heinemann immer drei Finger auf einen selbst zurück.
Ich kann nicht verstehen, dass es in dieser gemeinsamen
Erklärung der Wissenschaftsorganisationen, die übrigens
auch vom Deutschen Akademischen Austauschdienst
und von der Hochschulrektorenkonferenz als Experten für
Grüne Gentechnologie unterzeichnet ist, heißt - Zitat -:
Nie haben entsprechende Untersuchungen fundierte
Ergebnisse erbracht, die eine Abkehr von dieser
Technologie auch nur entfernt nahe legen könnten.
({3})
Das haben die Wissenschaftsorganisationen am
16. April dieses Jahres geschrieben, zwei Tage nachdem
Frau Aigner das Genmaisverbot ausgesprochen hat und
einen Tag bevor in dem Bescheid die Begründung geliefert wurde. Ich muss schon sagen: Wer vorurteilsfreie
Untersuchungen verlangt, der muss sie auch selbst an
den Tag legen.
({4})
Die Wissenschaftsgemeinschaft hat sich damit keinen
Gefallen getan.
Ich sehe dieses Vorgehen auch in anderer Hinsicht mit
Sorge: Was mögen all diejenigen Forscher und Wissenschaftler empfinden, die nicht unterstützt von der entsprechenden Industrie Forschungen betreiben, wenn ihre
eigenen Wissenschaftsorganisationen mit einer solchen
Erklärung gegen ihre Arbeit vorgehen?
({5})
Ich glaube, dass die Entscheidung richtig ist. Was
mich allerdings wundert, ist die Uneinigkeit innerhalb
der Bundesregierung. Der Vorschlag von Frau Ministerin
Schavan - sie ist jetzt leider nicht hier -, einen runden
Tisch einzurichten, ist gut; ein runder Tisch ist immer
gut. Aber dieser Vorschlag kommt ein bisschen spät. Ich
hätte erwartet, dass sich die beiden aus einer Fraktion
stammenden Ministerinnen, die für Verbraucherschutz
und für Forschung zuständig sind, abstimmen und austauschen. Wenn das BMBF diese Entscheidung jetzt kritisiert, hat es auch die Verpflichtung, die wissenschaftlichen Belege nachzureichen.
Ich denke, es gibt einen politischen Grund, warum so
verfahren worden ist: den Zeitpunkt. Der Zeitpunkt ist in
der Tat zu bemängeln. Ich glaube, in Bayern brennt die
Bude. Der CSU schwimmen die Felle davon.
({6})
Jetzt wird mit großem Populismus versucht, darauf zu
reagieren. Ich habe eine ähnliche Situation in NordrheinWestfalen erlebt. Wir Sozialdemokraten haben immer
geglaubt, wir würden in Nordrhein-Westfalen ewig regieren.
({7})
Das, was Sie tun, sind die ersten Anzeichen. Das darf
sich nicht auf die Bundesregierung auswirken. Ich fordere die Kanzlerin ausdrücklich auf, den Konflikt zwischen BMBF und BMELV endlich zu lösen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pflanzenbiotechnologie und mit ihr die Grüne Gentechnik
wurden von allen Bundesregierungen von Anfang an
gefördert. Das klare Bekenntnis hierzu war stets unabhängig davon, von welcher Partei das Bundesforschungsministerium geleitet wurde. Heute ist die Grüne
Gentechnik Teil der Hightech-Strategie, die innerhalb
der Bundesregierung mit allen Ressorts abgestimmt ist.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat im Auftrag
des Parlaments mehrfach ihre Zukunftschancen untersucht. Über die große Bedeutung der Forschung und die
Erhaltung von Zukunftsoptionen in diesem Bereich besteht ganz klar Einigkeit.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
investiert im Zeitraum 2006 bis 2011 rund 100 Millionen
Euro in die Pflanzengenomforschung. Die Grüne Gentechnik hat eine enorme Bedeutung für Gesundheit, Ernährung und Schädlingsbekämpfung. Wissenschaftler
forschen zum Beispiel an Pflanzen, die pharmazeutische
Wirkstoffe herstellen. Man hofft, auch die tödliche Cholera - jedes Jahr sterben 3 Millionen Kinder an dieser
Krankheit - mithilfe eines essbaren Impfstoffes in den
Entwicklungsländern auszurotten.
({0})
Die hierzu durchgeführten Tierversuche sind sehr erfolgreich.
({1})
Meine Damen und Herren, die Entscheidung, ob die
Menschheit die Grüne Biotechnologie braucht, steht den
im Wohlstand lebenden Europäern und damit auch den
Deutschen nicht zu. Die Weltbevölkerung wird in den
kommenden Jahren von 6,8 Milliarden auf 9 Milliarden
Menschen anwachsen. Im Hinblick auf die Sorgen und
Nöte, die große Teile der Weltbevölkerung umtreiben,
wäre es unverantwortlich, Möglichkeiten zur Lösung der
Probleme auszuschlagen.
({2})
Es wäre zutiefst unmoralisch, dies zu tun.
({3})
So ist es notwendig, Kulturpflanzen weiter an den Klimawandel anzupassen. Experten rechnen mit Wetterextremen, mit Fluten, mit Hitze und mit Dürren.
Erst im März warnte die UNESCO vor akuter Wasserknappheit. Bereits heute werden 70 Prozent des Süßwasserverbrauchs in der Landwirtschaft eingesetzt. Gleichzeitig prognostiziert die Welternährungsorganisation,
dass die Erträge von Weizen, Mais, Kartoffeln und Reis,
also der Grundnahrungsmittel, bis zum Jahr 2050 verdoppelt werden müssen, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Dabei wissen wir schon heute, dass
sich Städte auf Kosten verfügbarer Ackerflächen ausdehnen werden. Das heißt, wir müssen in Zukunft auf
weniger Land die Erträge verdoppeln und dabei gleichzeitig Wasser sparen.
({4})
Das wird ohne die Anwendung der Grünen Gentechnik
nicht funktionieren.
({5})
Gleichzeitig müssen wir den Umweltschutz im Auge
behalten. In China konnte, indem man Gentechnik verwendet hat, der Einsatz von Pestiziden um 80 Prozent reduziert werden. Das ist ein Signal, dass es in die richtige
Richtung geht.
({6})
Meine Damen und Herren, die Potenziale der Grünen
Gentechnologie sind enorm. Sie werden uns bei der Lösung der Zukunftsprobleme helfen. Aus diesem Grund
bekennt sich die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ganz klar zur Forschung auf diesem Feld in
Deutschland
({7})
und auch zur Anwendung dieser Technologie in
Deutschland.
({8})
Wir wollen dem, dass ständig ein Dämon an die Wand
gemalt und das Klima in diesem Land auch in diesem
Bereich verdorben wird, ein Ende machen. Was ist das
für eine Stimmung, in der zwischen unkritischen Heilsversprechen und absoluten Verbotsforderungen, wie wir
sie heute gehört haben, kein Platz ist? Wie soll diese Gesellschaft, die, um ihren Wohlstand zu erhalten, auf Innovationen angewiesen ist, existieren, wenn mit Innovationen so umgegangen wird? Meine Damen und Herren,
wir müssen nicht unkritischer, sondern wir müssen
unideologischer werden, gerade auf diesem Feld.
({9})
Wir tun eine ganze Menge: Von 2006 bis 2011 geben
wir 40 Millionen Euro für die Sicherheitsforschung aus.
Es ist richtig und wichtig, dass in diesem Bereich mit
Augenmaß vorgegangen wird. Wir sagen den Bauern
und unseren Wissenschaftlern aber ganz klar: Wir wollen diese Technologie, und wir wollen sie vorantreiben.
Diejenigen, die damit arbeiten, sollen ein gutes Gefühl
dabei haben. Das sage ich denen, die in Golm, in Gatersleben oder in Weihenstephan arbeiten und für uns diese
Technologie vorangebracht haben, mit Ergebnissen, mit
denen wir uns auch im weltweiten Vergleich sehen lassen können.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Wolfgang Wodarg für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben die politischen Argumente ausgetauscht. Ich
bedanke mich, dass die Kollegen aus meiner Fraktion so
systematisch und verantwortungsbewusst mit dieser
Thematik umgehen.
Ich möchte etwas ergänzen, eine Beobachtung, die
mir bei dieser Diskussion ganz deutlich geworden ist.
Wenn wir über Gentechnik reden, setzen wir uns mit der
molekularen Sicht der Welt auseinander. Die Gentechniker schauen sich die Moleküle an, versuchen, im Detail
zu studieren, wie die Dinge funktionieren, und hier etwas zu verändern. Es gibt aber noch eine andere Sicht,
nämlich die auf ganze Ökosysteme. Wenn man diese beiden Sichten nicht nebeneinanderhält, wenn man die ökosystemale Sicht, die natürlich viel aussagekräftiger, viel
wichtiger ist, nicht berücksichtigt, dann handelt man
falsch.
({0})
- Doch. Wir leiden derzeit unter dem Primat der Kurzsichtigkeit in der Agrowissenschaft. Dort herrschen die
Molekularwissenschaftler. Fachidioten bestimmen, was
gemacht werden soll, weil sie sich davon neue Märkte
versprechen.
Es ist natürlich viel komplizierter, zu berücksichtigen,
dass Pflanzen, Tiere und Menschen auf diesem Globus
produktiv miteinander auskommen müssen. Hier muss
man zunächst einmal beobachten, wie sich diese Pflanzen auf die Tiere auswirken, die dort leben, wo man neue
Pflanzen anbaut. Da ist es schon schlimm genug, dass
wir überhaupt Agroindustrien zulassen, die riesige Flächen mit ein und derselben Pflanze bebauen. Dies führt
nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Menschen
- zum Beispiel jene, die auf dieser Fläche vorher ihre
Existenz gehabt haben - zu gewaltigen Veränderungen.
Ich bin Entwicklungspolitiker und sehe, was in den
Ländern der Dritten Welt, den ärmeren Ländern passiert,
in denen gerade diese Konzerne die Politiker bestochen
haben ({1})
das ist ja von einem Gericht bestätigt worden; Monsanto
ist für ein solches Verhalten bestraft worden -, damit
dort flächendeckend gentechnisch veränderte Pflanzen
angebaut werden konnten. Dort gehen Arbeitsplätze und
die Existenzgrundlagen armer Menschen verloren, was
dazu führt, dass die Menschen verhungern. Diese Menschen, die dort von Aktiengesellschaften verdrängt worden sind, wollen Sie wieder ernähren. Das hört sich wie
eine mildtätige Gabe an. Diese Menschen haben aber ein
Recht, ihr Land zu nutzen, und sie haben ein Recht auf
Techniken, die sie handeln können. Wenn wir etwas gegen den Hunger in der Welt tun wollen, dann müssen wir
Kleinbauerninitiativen fördern und dafür sorgen, dass
die Menschen ihre Nahrungsmittel selbst herstellen können.
({2})
Wir müssen ihnen Genossenschaftsformen ermöglichen,
in deren Rahmen sie gemeinsam das tun können, was in
ihrer Region möglich ist. Daher dürfen wir ihnen diese
Technik nicht überstülpen.
({3})
Genau das passiert dort aber.
Wenn ich dann höre, was Frau Happach-Kasan heute
hier gesagt hat - ich nenne sie die Botschafterin der Genheuschrecken -, dann kann ich das nur als fürchterlich
bezeichnen. Sie hat versucht, bei uns ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, indem sie wie die Marketingstrategen von Monsanto geredet hat. Was Sie hier geredet haben, Frau Happach-Kasan, ist unerträglich.
({4})
Sie sagen nicht nur die Unwahrheit, sondern Sie bemühen sich auch nicht um die Details. Was Sie gesagt haben, war kaum auszuhalten. Da Sie auch von Sicherheit
gesprochen haben, erinnere ich daran, dass Sie der Fraktion angehören, die im Zusammenhang mit der Deregulierung des Finanzmarktes immer von Sicherheit geredet
hat.
({5})
Jetzt sagen Sie auch über diesen Bereich, in dem eine
vergleichbare Unverantwortlichkeit herrscht und die
Welt durch einige ins Elend getrieben wird, die mithilfe
ihrer Patente ihre Monopole verteidigen, die Sicherheit
sei doch gegeben.
({6})
Sie wissen genau, dass diese Firmen Wissenschaftler
kaufen und dass wissenschaftliche Befunde ausgesucht
und uns präsentiert werden, bei denen viel Lug und Trug
im Spiele ist. Dies ist mit ethischen Prinzipien weder der
Wirtschaft noch der Forschung noch der Politik zu vertreten.
Von daher haben wir Grund, uns bei Frau Aigner zu
bedanken, dass sie ihre Entscheidung noch rechtzeitig
getroffen hat. Aus vollem Herzen sage ich herzlichen
Dank, dass Sie es gemacht haben.
({7})
Ich hoffe, dass uns dies Zeit verschafft, um auch in der
gesamten CDU/CSU-Fraktion einen Nachdenkprozess
voranzubringen. Allerdings habe ich wenig Hoffnung,
wenn ich die hier vertretenen Kollegen sehe.
({8})
Aber es gibt ja noch andere, die den Kleinbauern und
den Verbrauchern näher sind, welche in ihrer überwiegenden Mehrzahl diese Technologie ablehnen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2008 ({0})
- Drucksache 16/12200 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold
Robbe, das Wort.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Soldaten auf der Zuschauertribüne! 2009 ist ein Jubiläumsjahr, wie wir alle wissen.
In wenigen Wochen feiern wir das 60-jährige Bestehen
unserer Republik. Der Jahresbericht 2008, der heute zum
ersten Mal - dankenswerterweise schon heute - im Plenum beraten wird, ist mein vierter Tätigkeitsbericht. Er
ist zugleich der 50. Jahresbericht eines WehrbeauftragWehrbeauftragter Reinhold Robbe
ten. Das ist, wie ich meine, Grund genug, nicht nur das
letzte Jahr zu betrachten, sondern auch die Frage aufzuwerfen: Wie ist es im Jubiläumsjahr unserer Republik
um die Parlamentsarmee Bundeswehr bestellt?
Oder anders gefragt: Ist die Bundeswehr heute, im
Jahre 2009, eine moderne Armee? Ist sie so aufgestellt,
dass sie die Erwartungen gerade jener jungen Menschen
erfüllt, die heute überlegen, den Soldatenberuf zu wählen? Wird sie den hohen Ansprüchen der Inneren Führung gerecht, und kann sie die Anforderungen an eine
moderne Armee im Einsatz wirklich erfüllen?
Mit dem vorgelegten Bericht versuchte ich, aufzuzeigen, welche Antworten die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr darauf geben und wie diese Antworten aus
meiner Sicht zu bewerten sind.
Auftrag und Struktur der Bundeswehr haben nach
dem Ende des Kalten Krieges einen einzigartigen Wandel erfahren. Die Beteiligung an internationalen Einsätzen zur Krisenbewältigung und Konfliktprävention hat
den ursprünglichen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung ein wenig in den Hintergrund treten lassen.
Landes- und Bündnisverteidigung sind aber nach wie
vor das entscheidende Argument zur Begründung unserer Wehrpflicht.
Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung des
Rechts und der Freiheit des deutschen Volkes. Nach
Art. 5 des Nordatlantikvertrages sind, wie wir alle wissen, alle Bündnispartner im Falle eines Angriffs zum gegenseitigen Beistand verpflichtet. Diese gegenseitige
Beistandspflicht ist aus meiner Sicht weiterhin die zentrale politische Ratio des Bündnisses. Sie bleibt die
Grundlage für Sicherheit und für Stabilität in den
NATO-Mitgliedstaaten. Das sollten wir nicht vergessen,
wenn wir über den Auftrag und die Struktur der Streitkräfte diskutieren.
Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Bundeswehr kontinuierlich und konsequent auf die Beteiligung an internationalen Einsätzen ausgerichtet worden. Durch die
Halbierung ihres Umfangs, ihre Umstrukturierung, die
Schaffung zweier neuer, selbstständiger Organisationsbereiche und die Übertragung der Verantwortung für die
Einsätze auf den Generalinspekteur wird dieser Weg gekennzeichnet.
Meine Damen und Herren, darüber hinaus spiegeln
Beschaffungsvorhaben wie das Satellitenaufklärungssystem SAR-Lupe, der Truppentransporter A400M und
die neue Fahrzeuggeneration des Heeres - ich nenne die
Stichworte Dingo, Boxer und Puma - die Neuausrichtung auf die Einsätze wider. Für die Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz zählen demgegenüber häufig aber
auch ganz andere, handfeste Dinge: das richtige Schuhwerk, klimagerechte Bekleidung, brauchbare Pistolenholster, Splitterschutzbrillen, Spezialhelme für Patrouillenfahrten und vieles andere mehr.
Auch wenn durch die von mir hier festgestellten Mängel die Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit der
Streitkräfte nicht infrage gestellt werden, müssen sie auf
jeden Fall sehr ernst genommen werden. Für den Schutz
und die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten sind sie
von entscheidender Bedeutung.
Bei der Bundeswehr geht es aber nicht nur um die
Einsätze. Die Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten
leistet ihren Dienst im Inland. Es sind vor allem die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, die Anlass zu ernster
Sorge geben.
({2})
Auf den beklagenswerten baulichen Zustand zahlreicher Kasernen, insbesondere in den alten Bundesländern, habe ich bereits vor zwei Jahren hingewiesen. Das
daraufhin aufgelegte Sanierungsprogramm ist ein deutlicher Hinweis und ein deutlicher Schritt in die richtige
Richtung. Gelöst wird das Problem dadurch indes noch
nicht. Die bereitgestellten Haushaltsmittel dienen der
Sanierung von Gebäuden. Sie decken nicht den zusätzlichen Flächenbedarf, der sich im Bereich der Unterbringung abzeichnet.
Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das Stichwort Pendlerwohnungen. Das Bundesministerium der
Verteidigung hat dazu erklärt, dass nicht kasernenpflichtige Soldaten keinen Anspruch auf Unterbringung in der
Kaserne haben. Aus diesem Grund könnten auch keine
Haushaltsmittel zur Schaffung entsprechender Unterkünfte aufgewendet werden.
Das alles mag zwar rechtlich zutreffend sein, löst aber
das Problem nicht. Die Bundeswehr ist heute eine Pendlerarmee. Diejenigen, die zwischen Wohn- und Dienstort
pendeln, brauchen am Dienstort eine Unterkunft. Insbesondere für Mannschaften und Unteroffiziere stellt die
Finanzierung einer solchen ein ernsthaftes Problem dar.
Ich füge aber hinzu: Unlösbar ist dieses Problem nicht.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Immer mehr Soldatinnen und Soldaten fällt es schwer, die Betreuung ihrer Kinder mit dem Dienst in Einklang zu bringen. Der
Bedarf an Betreuung steigt, ohne dass er durch ein entsprechendes Angebot an Betreuungsplätzen aufgefangen
werden könnte. Auch das Angebot an Teilzeit- und Telearbeit bleibt bislang aus verschiedenen Gründen deutlich
hinter der Nachfrage zurück. All das sind Rahmenbedingungen, die den Dienst in der Bundeswehr, wie ich
finde, nicht unbedingt attraktiver machen.
Im letzten Jahr haben - Sie kennen die Zahlen - fast
100 Sanitätsoffiziere - die meisten davon Fachärzte den Dienst in der Bundeswehr vorzeitig quittiert. Für sie
war der Arbeitsplatz Bundeswehr offenbar nicht mehr
attraktiv genug. Die Gründe haben mit den besonderen
Belastungen des Sanitätsdienstes zu tun: hohe Einsatzbelastung, Personalmangel im Inland und dadurch bedingte
Überlastung im Schicht- und Notdienst, fehlende Fortund Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt wesentlich höhere Vergütungen im zivilen Bereich.
All diese Gesichtspunkte betreffen nicht nur den Sanitätsdienst. Sie sind in der einen oder anderen Form auch
auf andere Bereiche der Bundeswehr übertragbar. Es
sind die sogenannten weichen Faktoren, die die Attrakti23554
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
vität der Bundeswehr belasten. Dieser Situation muss
schnell und nachhaltig entgegengetreten werden, wenn
die Bundeswehr im Kampf um die besten Köpfe unseres
Landes im Rennen bleiben will. Schon in meinen vorangegangenen Berichten habe ich auf die Frustration vieler
junger Soldatinnen und Soldaten hingewiesen. Sie beklagen immer wieder, dass die meisten Probleme seit
Jahr und Tag bekannt und vielfach gemeldet worden
seien, ohne dass sich etwas geändert habe. Solche Kritik
ärgert mich schlichtweg; denn sie zielt auf einen Kernbereich der Inneren Führung: auf die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen.
Meine Damen und Herren, ein Prozess wie die Transformation der Streitkräfte verläuft, wie wir alle wissen,
nicht ohne Reibungsverluste. Dies gilt insbesondere vor
dem Hintergrund der politisch unstreitigen Unterfinanzierung der Streitkräfte. Die Verwaltung des Mangels
gehört in vielen Bereichen der Truppe allerdings zum
Alltag. Das soll und darf aber niemanden davon abhalten, erkannte Mängel und Defizite auch wirklich offen
anzusprechen.
Innere Führung setzt auf dieses Gespräch. Vorgesetzte
müssen nicht nur Kritik üben, sie müssen auch Kritik
aushalten können. Einige tun sich - um es deutlich zu sagen - schwer damit. Immer häufiger bitten mich Soldatinnen und Soldaten darum, ihre Namen im Rahmen
einer Überprüfung nicht zu nennen, weil sie Angst vor
Benachteiligung durch ihre Vorgesetzten haben, obwohl
- dies möchte ich hinzufügen - im Gesetz über den
Wehrbeauftragten festgelegt ist, dass es ein absolutes
Benachteiligungsverbot gibt. Niemand darf wegen einer
Eingabe oder einer Kritik in irgendeiner Form benachteiligt werden. Wenn dies geschieht, muss mit den Mitteln
des Disziplinar- und Strafrechts dagegen vorgegangen
werden. Seien Sie sicher, dass ich mich in solchen Fällen
nachhaltig für die Betroffenen einsetzen werde.
({3})
Darüber hinaus geht es mir aber auch darum, deutlich
zu machen, dass militärische Führung, die allein auf das
Prinzip „Befehl und Gehorsam“ setzt, ihrem Auftrag
nicht gerecht wird. Erfolgreiche Führung ist zuallererst
eine Frage des Vertrauens. Wer als Vorgesetzter nicht zuhören und seine Befehle nicht überzeugend begründen
kann, wird das Vertrauen seiner Untergebenen nicht gewinnen. Das gilt auch und gerade im Einsatz. Die offene
und ehrliche Diskussion über Probleme und Mängel der
Transformation ist die Voraussetzung ihres Erfolges. Das
gilt für alle Führungsebenen.
Lassen Sie mich abschließend ein Wort des Dankes
sagen. Danken will ich allen über 7 000 Soldatinnen und
Soldaten, die in diesem Augenblick überall auf der Welt
und zum Teil unter schwierigsten Bedingungen im Einsatz sind und einen, wie ich finde, ausgezeichneten Job
machen.
({4})
Vergessen dürfen wir aber auch nicht die Soldatinnen
und Soldaten in den Heimatstandorten, die dafür sorgen,
dass die zahlreichen Einsätze stattfinden können. Alle
Soldatinnen und Soldaten haben unsere uneingeschränkte Solidarität verdient. Wenn ich „unsere“ sage,
dann meine ich nicht nur das Parlament, sondern alle
Mitbürgerinnen und Mitbürger unseres Landes.
({5})
Danken will ich dem Deutschen Bundestag für die
ausgezeichnete Unterstützung meiner Arbeit, namentlich
dem Präsidenten Professor Dr. Lammert, aber auch dem
gesamten Präsidium und ganz besonders dem Verteidigungsausschuss. Das Zusammenwirken zum Wohle der
Menschen in der Bundeswehr ist aus meiner Sicht wirklich ausgezeichnet. Mein besonderer Dank gilt auch
Verteidigungsminister Dr. Jung sowie dem gesamten
Ministerium und allen Verantwortungsträgern in unseren
Streitkräften für das insgesamt gute Zusammenwirken.
Schließlich sage ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des Wehrbeauftragten meinen herzlichen Dank. Sie unterstützen mich ganz wesentlich bei
meinen vielfältigen Aufgaben.
Herzlichen Dank.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich nun meinerseits im Namen des Bundestages
dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2008
herzlich danken.
({0})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will zunächst an die Worte des Wehrbeauftragten anknüpfen, der unterstrichen hat, dass wir heute
einen Jubiläumsbericht, wenn ich das so ausdrücken
darf, zu diskutieren haben, nämlich den 50. Bericht des
Wehrbeauftragten. Ich möchte mich bei ihm und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Zusammenarbeit bedanken, aber auch bei allen Wehrbeauftragten in
dieser Zeit, die sich mit ihrem Engagement im Interesse
unserer Soldatinnen und Soldaten eingesetzt und durch
ihre konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr beigetragen haben.
Der Wehrbeauftragte hat die grundsätzliche Entwicklung über die Jahre hinweg angesprochen. Ich glaube, es
wird heute oft unterschätzt, was die Umstrukturierung
für die Bundeswehr unmittelbar bedeutet: Sie wurde von
einer reinen Verteidigungsarmee über die Armee der
Einheit, als zwei Armeen, die unterschiedlich ausgebildet und gegeneinander aufgestellt waren, in eine einheitliche Bundeswehr integriert wurden, zur heutigen Armee
im Einsatz für den Frieden. Ich finde, dass die Art und
Weise, wie unsere Soldatinnen und Soldaten - einige
sind anwesend und verfolgen diese Debatte - ihren BeiBundesminister Dr. Franz Josef Jung
trag für unsere Sicherheit sowie für Frieden und Freiheit
in unserem Land leisten, unsere ganze Unterstützung
und Dankbarkeit verdient haben.
({0})
Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht angesprochen, dass die Unterstützung der gesellschaftlichen
Gruppen beispielsweise für die Soldaten im Auslandseinsatz intensiver sein könnte. Das kann ich nur unterstreichen. Die Bundeswehr hat ein hohes Ansehen im
Inland. 89 Prozent der Menschen vertrauen der Bundeswehr. Aber sie könnte eine breitere Unterstützung im
Auslandseinsatz haben.
Bisher waren rund 260 000 Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr an Auslandseinsätzen beteiligt. Aktuell
sind über 7 200 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan, auf dem Balkan, vor der Küste des Libanon, am
Horn von Afrika, zur Pirateriebekämpfung vor der Küste
Somalias sowie in den Missionen in Darfur im Sudan
und in Georgien im Einsatz. Ich finde, die Art und
Weise, wie sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort
engagieren und die Gefahren dort bekämpfen und beseitigen, wo sie entstehen, hat eine breite Unterstützung unserer Gesellschaft verdient. Es ist notwendig, dass wir in
dieser Debatte eine breitere Unterstützung für unsere
Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz anmahnen; denn sie riskieren Leib und Leben im Interesse der
Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
({1})
Es ist wichtig, dass wir die Bundeswehr unter dem
Aspekt „modern und leistungsstark“ weiterentwickeln
und auf die besondere Einsatzsituation Wert legen. Im
Klartext heißt das, dass wir beispielsweise technische
Möglichkeiten nutzen, um die Schutzfaktoren zu verstärken. Vom Grundsatz her sollen nur noch geschützte
Fahrzeuge in Afghanistan fahren. Dort gibt es rund
700 solcher Fahrzeuge, darunter rund 200 Dingos der
Kategorie 2. Wir bekommen nun den Eagle, der eine
weitere Verbesserung der Schutzkomponente darstellt.
In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass
die Transportpanzer Fuchs verbessert werden. Das alles
sind Punkte, die belegen, dass wir technische Weiterentwicklungen nutzen, um den Schutz unserer Soldatinnen
und Soldaten zu verstärken. Ich kann nur unterstreichen:
Dafür brauchen wir die notwendigen finanziellen Grundlagen. Ich bin dankbar, dass wir in dieser Legislaturperiode rund 4 Milliarden Euro mehr bekommen haben.
Diese Mittel brauchen wir, um den Auftrag zu erfüllen
und den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in gefährlichen Auslandseinsätzen zu verbessern.
({2})
Der Wehrbeauftragte hat auch die sozialen Rahmenbedingungen angesprochen. Ich glaube, wir setzen richtige Akzente, indem wir das Kasernensanierungsprogramm West aufgelegt haben, um die Situation zu
verbessern, und indem wir nun den Tarifvertrag und die
Angleichung der Besoldung im Osten an die im Westen
umgesetzt haben.
Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen. Wir gehen das Problem der Pendlerwohnungen mit konkreten
Modellprojekten an. Noch vor meiner Zeit wurde entschieden, dass diejenigen, die über 25 sind, keine entsprechende Unterkunftsmöglichkeit mehr in den Kasernen haben. Wir müssen daher über das Trennungsgeld
die Anmietung von Wohnungen ermöglichen, damit kein
negativer sozialer Aspekt für unsere Soldaten entsteht.
Im Klartext: Wenn wir eine leistungsstarke, moderne
und einsatzfähige Armee wollen, müssen wir sie erstens
adäquat unterbringen und zweitens so ausstatten, dass
sie ihren Auftrag ordnungsgemäß und gut erfüllen kann.
({3})
Ein weiterer Punkt, den ich aufgreifen will, ist der Sanitätsdienst. Ich bin dem Deutschen Bundestag dankbar,
dass er auf meinen Vorschlag das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz beschlossen hat. Ich habe im vorigen Monat
die Möglichkeit gehabt, einen Soldaten, der im Jahre
2007 in Kunduz schwer verwundet wurde, als Berufssoldaten in die Bundeswehr zu übernehmen. Dieser Fall
zeigt, auf welch hervorragende Art und Weise unsere
medizinische Rettungskette und die Versorgung unserer
Soldatinnen und Soldaten funktionieren. Was unsere
Ärzte hier geleistet haben, war exzellent. Dafür bin ich
ihnen sehr dankbar. Aber wir sind gefordert, Abwerbungsversuche zu stoppen. Ärzte haben die Bundeswehr
bereits verlassen. Wir müssen die Attraktivität der Bundeswehr in diesem Bereich steigern. Deshalb habe ich
eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Vorschläge zu unterbreiten und gerade in diesem wichtigen Bereich die Voraussetzungen zu schaffen, dass wir auch in Zukunft eine
optimale medizinische Versorgung für unsere Soldatinnen und Soldaten - sei es im Auslandseinsatz, sei es im
Inland - gewährleisten können.
Mein letzter Punkt - auch der Wehrbeauftragte hat
diesen Punkt angesprochen - ist das Thema „Familie
und Dienst“. Heute ist Girls’ Day. Ich habe heute dazu
schon einige Gespräche geführt. Es gibt mittlerweile
16 000 Frauen in der Bundeswehr. Aber nicht nur deshalb müssen wir uns dem Thema „Familie und Dienst“
intensiver zuwenden. Wir haben es zwar in die Vorschriften zur Inneren Führung aufgenommen. Aber wir
müssen es auch konkret mit Leben erfüllen, sei es im Bereich der Betreuung, sei es bei der Schaffung von ElternKind-Zimmern oder sei es bei der Ermöglichung von
Teilzeitarbeit.
Auch diese Dinge treiben wir voran; denn wir müssen
die Voraussetzungen schaffen, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Zusammengefasst: Die Institution des Wehrbeauftragten wurde - wir haben demnächst eine Konferenz dazu von Ländern - nicht nur von Argentinien, sondern auch
von Bosnien-Herzegowina - übernommen, von denen
man sich das vor Jahren überhaupt nicht vorstellen
konnte. Sie ist eine gute Einrichtung. Der 50. Bericht
zeigt, dass wir gemeinsam unseren Beitrag leisten,
unsere Armee zu einer modernen und leistungsstarken
Armee zu entwickeln. Deshalb nochmals Dank für die
Zusammenarbeit. Meine weitere Bitte ist, dieses Enga23556
gement im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
fortzuführen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Soldatinnen und Soldaten! Auch ich darf mich im
Namen der FDP-Fraktion für Ihren Jubiläumsjahresbericht, Herr Wehrbeauftragter, bedanken. Es wäre schön
gewesen, wenn einige der Mängel, die wir in den letzten
Jahren immer wieder vorgetragen und die wir hier im
Hause sehr intensiv diskutiert haben, nicht mehr aufgetaucht wären, wenn der Jahresbericht etwas kürzer und
inhaltlich etwas positiver geworden wäre. Aber dem ist
leider nicht so. Die Themen werden uns in Zukunft weiter beschäftigen.
Ich darf an dieser Stelle Ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern sehr herzlich dafür danken, dass sie dieses
wichtige Informationswerk immer wieder zusammenstellen, uns zur Verfügung stellen und uns damit einen
Kompass in die Hand geben, der uns anzeigt, was in der
Truppe tatsächlich geschieht. Ganz herzlichen Dank dafür!
({0})
Herr Minister, Sie haben eben mit Recht angesprochen, dass es ein wichtiges Thema ist, in der Öffentlichkeit um Unterstützung für die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu werben. Nur, die Frage an dieser Stelle ist:
Wer ist denn dafür zuständig, der Öffentlichkeit zu erklären und zu erläutern, mit welchem politischen Auftrag
die Bundeswehr im Ausland unterwegs ist? Das ist Aufgabe der Bundesregierung.
({1})
Dies kann nicht die Aufgabe der Soldatinnen und Soldaten sein, sondern es ist unsere gemeinsame politische
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass den Bürgerinnen und
Bürgern deutlich gemacht wird, dass die Soldatinnen
und Soldaten im Ausland ihren Dienst für unseren Frieden und unsere Freiheit verrichten.
({2})
Wie vom Wehrbeauftragten bereits dargelegt, führt
das mangelnde Führungsverhalten der militärischen und
politischen Führung der Bundeswehr zunehmend dazu,
dass sich die Soldatinnen und Soldaten alleingelassen
fühlen. Der aufgezeigte Trend, dass sich gerade die engagiertesten Soldatinnen und Soldaten resigniert zurückziehen, sollte uns in der Tat alarmieren. Der verbreitete
Eindruck, dass Engagement und Mut in der Bundeswehr
nicht karrierefördernd seien, darf sich unter keinen Umständen verfestigen.
({3})
Die Bundeswehr braucht heute mehr denn je aus Einsicht und Überzeugung handelnde Soldatinnen und Soldaten, die zur Sprache bringen, was besser werden muss
und was besser werden kann; denn Verbesserungsbedarf
besteht zweifellos in vielen Bereichen.
({4})
Ich bin daher sehr froh, dass der Deutsche Bundestag gemeinsam mit dem Wehrbeauftragten aufgrund der mangelhaften medizinischen Betreuung von Soldatinnen und
Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen,
der Probleme im Sanitätsdienst sowie der Ausbildungsund Ausrüstungsdefizite die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert hat.
({5})
Parlament und Wehrbeauftragter müssen weiterhin gemeinsam den Druck aufrechterhalten, da allein das Bewusstsein um die Probleme natürlich noch keine Verbesserung mit sich bringt.
Daher ist es auch nicht akzeptabel, dass eine für die
Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen für die Situation im Sanitätsdienst eingesetzte Arbeitsgruppe ihre
Arbeitsergebnisse erst am 30. September vorlegen soll.
Herr Minister, das Problem ist zu akut, als dass Sie es in
dieser Legislaturperiode aussitzen könnten;
({6})
denn die Abstimmung mit den Füßen im Sanitätsdienst
hält unvermindert an. Der Sanitätsdienst hat allein im
letzten Jahr 85 Sanitätsoffiziere verloren, die ihre Ausbildungskosten von beinahe 100 000 Euro zurückerstattet haben. Im Jahr 2007 waren es gerade einmal 8. Diese
Dynamik muss noch vor der Sommerpause in dieser Legislaturperiode gestoppt werden.
({7})
Am Ball bleiben muss das Parlament gegenüber der
Bundesregierung auch beim Thema „posttraumatische
Belastungsstörungen“. Ich bin auf die Umsetzungspläne
der Bundesregierung im Hinblick auf die Errichtung eines Kompetenzzentrums sehr gespannt. Dabei darf es
sich nicht um ein reines Forschungszentrum handeln;
denn das wurde im Deutschen Bundestag so nicht beschlossen.
Dringender Handlungsbedarf besteht auch bei der
besseren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Bisher
ist die Bundeswehr über einzelne Modellprojekte - so
lobenswert dies auch sein mag - noch nicht hinausgekommen. Leider gehen diese Modellprojekte an der einen oder anderen Stelle am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Es fehlt immer noch am nötigen Bewusstsein auch innerhalb der Bundeswehr selbst, dass dies ihre ureigene AufElke Hoff
gabe als Arbeitgeber ist, wenn sie zukunftsfähig bleiben
möchte. Daher müssen die für eine adäquate Kinderbetreuung nötigen Haushaltsmittel auch rechtzeitig eingeplant werden. Ich glaube, dass dem die Mitglieder des
Deutschen Bundestages, wenn dies in einem vernünftigen Rahmen geschieht, Folge leisten werden.
({8})
Ich denke nicht, dass sich irgendjemand in diesem
Hause dagegen sperren wird, dass hiermit für unsere
Bundeswehr eine attraktive Zukunftsperspektive eröffnet wird. Verbesserte Arbeitsbedingungen, wie menschenwürdige Unterkünfte, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, moderne Ausrüstung, eine qualitativ hochwertige
Ausbildung und ein nachvollziehbarer politischer Auftrag, sind hierfür Grundvoraussetzungen. Mehr Mut und
Kreativität in der militärischen und politischen Führung
der Bundeswehr sind gefragt.
Ich bin froh, dass Sie, sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, in diesem Jahr in Ihrem Bericht erneut und deutlicher als bisher den Verlust an Vertrauen in die höhere
militärische und politische Führung zum Thema gemacht haben. Diese Tendenz können viele meiner Kolleginnen und Kollegen und ich bei unseren Truppenbesuchen feststellen. Sie beklagen gegenüber der Presse die
zunehmende Jasagermentalität bei höheren Offizieren.
Diese nehme laut einem von Ihnen zitierten Piloten zu,
je höher der Dienstgrad sei. Ich teile Ihre Auffassung:
Dies sollte ein ständiger Schwerpunkt im Bericht des
Wehrbeauftragten sein.
({9})
Einzelne Passagen des Berichts des Wehrbeauftragten
geben detaillierte Sachverhaltsdarstellungen wieder, die
teilweise wirklich erschreckend und abstoßend sind. Allerdings sollten wir angesichts ihrer breiten Wiedergabe
im Bericht daran denken, dass diese Einzelbeispiele - so
schlimm sie sind und so sehr sie auch eine unverzügliche
Reaktion erfordern - in den meisten Bereichen Gott sei
Dank nicht dem Alltag der Bundeswehr entsprechen.
({10})
Wir brauchen gut ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten mit einem klaren politischen Auftrag. Dafür müssen wir politisch geradestehen. Wir brauchen für die innere Disziplin und Motivation der Truppe die
Verantwortung der militärischen Führung. Dies muss
Hand in Hand gehen, damit die beschriebenen Einzelfälle nicht zur Regel werden. Ich hoffe sehr, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit in Zukunft weitergehen
wird. Ich darf mich noch einmal bei Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeitern sehr herzlich bedanken.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Hedi Wegener für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Meine Herren und
Damen! Wir diskutieren den 50. Bericht des Wehrbeauftragten. Vor 50 Jahren, am 3. April 1959, wurde der erste
Wehrbeauftragte, Helmuth von Grolman, in sein Amt
eingeführt.
Die Schülerinnen und Schüler müssen sich das so
vorstellen: In eurer Stadt würde vom ganzen Rat ein Betreuungslehrer gewählt werden. Zu dem könntet ihr
- völlig anonym - hingehen und euch beschweren, beklagen oder Vorschläge einbringen. Dieser müsste dann
einmal im Jahr einen Bericht vorlegen, und euer Rektor
oder eure Lehrer müssten dazu Stellung nehmen. Anschließend würde dieser Bericht öffentlich diskutiert. So
ungefähr ist das jetzt mit dem Wehrbeauftragten. Er ist
von uns gewählt worden und legt dem Deutschen Bundestag einmal im Jahr einen Bericht vor. Das Verteidigungsministerium muss dazu Stellung nehmen. Dann
wird wieder diskutiert. - Da wäre bei euch sicherlich
ganz schön was los.
So war es zu Anfang in der Bundesrepublik auch. Das
Amt des Wehrbeauftragten wurde eingerichtet, weil das
Grundverständnis des Soldaten als Staatsbürger in Uniform definiert und durch das Prinzip der Inneren Führung umgesetzt wurde. Die Bundeswehr unterliegt eben
der strikten demokratischen Kontrolle. Um die demokratischen Kontrollinstrumente des Parlamentes zu stärken,
wurde ihm im Grundgesetz als Hilfsorgan der Wehrbeauftragte zugeschrieben.
Eine Armee wäre in Deutschland ohne den Wehrbeauftragten überhaupt nicht mehr denkbar, erst recht nicht
eine Bundeswehr, die in Auslandseinsätze geht. Die Berichte des Wehrbeauftragten geben uns Abgeordneten jedes Jahr einen unabhängigen Eindruck vom Zustand der
Bundeswehr, vor allem davon, wie und in welchem
Maße sich veränderte gesellschaftliche und politische
Rahmenbedingungen auf die Bundeswehr auswirken,
wie sie umgesetzt und wie sie verarbeitet werden. Bereits der erste Bericht des Wehrbeauftragten sorgte für
Aufsehen und beim zuständigen Minister Strauß für großes Missfallen, prangerte doch Herr Grolmann ein zu
schnelles Wachstum der Bundeswehr an; es überfordere
die Soldaten einfach.
Für die unabhängige Darstellung der Probleme der
Bundeswehr, die die Berichte des Wehrbeauftragten auszeichnen, danke ich jetzt auch dem zehnten Wehrbeauftragten, Herrn Reinhold Robbe, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vielen Dank!
({0})
- Genau. Das war doch ein Klatschen wert.
Dass wir in der Bundesrepublik mit dieser Institution
den richtigen Weg eingeschlagen haben, zeigt im Übri23558
gen das stetige Interesse anderer Nationen am Wehrbeauftragten und an der demokratischen Kontrolle der
Bundeswehr. Früher fanden das einige Nationen schon
ein bisschen komisch, sozusagen basisdemokratisch.
Das hat sich inzwischen geändert. Herr Minister Jung
hat schon darauf hingewiesen - auch der Wehrbeauftragte schreibt darüber in seinem Bericht -: Mit vielen
Ländern bestehen inzwischen Kontakte; es gibt eine intensive Zusammenarbeit. Herr Robbe, es ist großartig,
dass im Mai dieses Jahres eine von Ihnen initiierte und
ausgerichtete Konferenz hier in Berlin stattfindet. Meine
Hochachtung!
Ich selber führe jährlich als Vorsitzende der
Deutsch-Zentralasiatischen Parlamentariergruppe mit
dem George-C.-Marshall-Center und dem BMVg eine
Konferenz mit Parlamentariern der GUS durch. Aus
meiner Sicht ist das Gespräch mit dem Wehrbeauftragten
für die Teilnehmer dieser Konferenz im Hinblick auf
eine stabile und demokratische Entwicklung in ihren
Ländern von zentraler Bedeutung. Herr Robbe, es war
Ihnen immer möglich, zu diesem Thema zu sprechen.
Auch dafür herzlichen Dank! Das ist für diese Nationen
ganz besonders wichtig.
Der vorliegende Bericht zeigt, wie viele Baustellen es
bei der Bundeswehr gibt. Er zeigt aber auch, dass wir zu
Recht stolz sein können. Eine der grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen, die die Bundeswehr zu verarbeiten hat, ist, dass Frauen in allen Verwendungen zugelassen sind. Im Hinblick auf das Amt des Wehrbeauftragten
wurde dies - Gesetz von 1990 - schon zehn Jahre vor
dem entsprechenden Gerichtsurteil des Europäischen
Gerichtshofes möglich. 1995 wurde Claire Marienfeld
die erste Wehrbeauftragte in Deutschland.
Die Zahl der Frauen in der Bundeswehr zu steigern,
ist nicht nur Ausdruck unseres politischen Willens; diese
Steigerung wird in Zukunft vielmehr nötig sein, damit
die Bundeswehr ihre Aufgaben erfüllen kann. Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt den richtigen Weg dazu
auf. Er macht uns darauf aufmerksam, welche Auswirkungen der demografische Wandel auch auf die Bundeswehr haben wird.
Wir wollen und wir müssen die Attraktivität des
Dienstes steigern - für Männer und für Frauen gleichermaßen. Von den 175 000 Soldatinnen und Soldaten haben 60 000 ein oder mehr Kinder. Man muss nicht lange
überlegen, um darauf zu kommen, dass ein Schwerpunkt
unserer Arbeit die Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Dienst sein muss.
Wir erwarten von unseren Soldatinnen und Soldaten,
mit bester Ausbildung und höchster Motivation in den
Einsatz zu gehen. Um diese Motivation zu stärken, brauchen sie auch unsere Unterstützung. Diese Unterstützung geben wir ihnen gerne. Herr Wehrbeauftragter, wir
danken Ihnen noch einmal. Ich meine im Übrigen, dass
viele stolz sind, als Arbeitgeber die Bundeswehr und damit ein Institut wie das des Wehrbeauftragten zu haben.
Es gibt Arbeitgeber, die noch nicht einmal einen Betriebsrat zulassen, geschweige denn irgendwelche Vertrauensleute.
Mein Fazit lautet also: Wir hören nicht nur Kritik,
weil die Bundeswehr transparent ist, weil es einen Wehrbeauftragten gibt. Es gibt ein Parlament, das die Regierung kontrolliert, und eine Führungsebene, die sich
immer und immer wieder den Fragen stellen muss, die
nicht nur Auskunft, sondern auch Rechenschaft geben
muss.
Ganz, ganz herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Hakki Keskin für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Robbe! Jahr für Jahr müssen Sie feststellen, sehr geehrter Herr Robbe, dass sich an den grundsätzlichen Defiziten bei der Bundeswehr nicht sehr viel geändert hat.
Im zurückliegenden Berichtsjahr sind aber zumindest bei
der Sanierung von Bundeswehrkasernen in der Tat Fortschritte erzielt worden.
Fest steht: Der Wehrbeauftragte setzt sich unermüdlich
für die Rechte der Soldatinnen und Soldaten und für die
Beseitigung von Missständen ein. Die Linke nimmt dies
zum Anlass, dem Wehrbeauftragten für seine bisher geleistete Arbeit zu danken und ihn zu ermutigen, seine kritische Kontrollfunktion weiterhin voll wahrzunehmen.
({0})
Der Wehrbeauftragte weist im Bericht darauf hin,
dass sich manche Soldatinnen und Soldaten aus Angst
vor Benachteiligungen nicht trauen würden, ihn bei Problemen zu kontaktieren. Sehr geehrter Herr Robbe, Sie
haben das auch hier gerade zum Ausdruck gebracht. Ich
denke, dies sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Hier müssen notfalls Disziplinarvorschriften für Vorgesetzte verschärft werden, um das Beschwerderecht der
Soldaten vor direkten oder indirekten Einschränkungen
zu schützen.
Darüber hinaus bleibt auch in zahlreichen anderen
Bereichen noch viel zu tun, wie wir hier gehört haben.
Deutliche Verschlechterungen sind laut Bericht beispielsweise beim Sanitätsdienst festzustellen. Die Abwanderungsquote von Sanitätsoffizieren hat sich binnen
eines Jahres nahezu verzehnfacht. In den bundeswehreigenen Krankenhäusern und bei der truppenärztlichen
Versorgung kann die medizinische Grundversorgung oft
nur noch durch die Mitnutzung ziviler Kapazitäten gesichert werden. Dies hängt ganz offensichtlich mit der höheren Attraktivität des zivilen Gesundheitssystems zusammen.
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Probleme und
viele andere, von denen wir soeben hier auch vom WehrDr. Hakki Keskin
beauftragten gehört haben, resultieren vor allem aus
finanziellen Engpässen, die über mehrere Jahre entstanden sind. Ein Grund liegt darin, dass die Bundesregierung den Schwerpunkt auf die Auslandseinsätze gelegt
hat. Diese Gelder fehlen somit für wichtige Vorhaben im
Inland.
Der Gesamtetat der Bundeswehr ist im Vergleich zum
Vorjahr um rund 1,7 Milliarden Euro gewachsen. Trotzdem sind Sonderprogramme für dringende Kasernensanierungen erforderlich geworden, um den Investitionsrückstand abzubauen.
Ich bin dem Wehrbeauftragten außerordentlich dankbar, dass er dem Problem der Auslandseinsätze in seinem Bericht breite Aufmerksamkeit schenkt. Der
Bericht charakterisiert die Bundeswehr zutreffend als
Armee im Einsatz. Dies ist genau das Problem, meine
Damen und Herren. Insbesondere der AfghanistanEinsatz wird dabei von vielen Bundeswehrsoldatinnen
und -soldaten zunehmend kritisch betrachtet. Dies betrifft in erster Linie nicht etwa organisatorische Schwierigkeiten oder Ausstattungsmängel, sondern den Sinn
des Einsatzes.
Neben den zahlreichen Opfern unter der afghanischen
Zivilbevölkerung sind Tötungen und Verletzungen von
Bundeswehrangehörigen beileibe keine Einzelfälle
mehr. Es ist an der Zeit, gerade an dieser Stelle eines
deutlich auszusprechen: Ja, in Afghanistan sterben leider
auch deutsche Soldaten. Laut einer aktuellen Umfrage
der Magazine Spiegel und Focus lehnt in Deutschland
eine klare Bevölkerungsmehrheit von 61 Prozent diese
Auslandseinsätze ab. Zunehmend mehr Menschen sind
davon überzeugt, dass es in Afghanistan keinen Frieden
ohne eine militärische Lösung geben wird.
({1})
- Entschuldigung: durch eine militärische Lösung. - Die
Linke fordert deshalb den Abzug der Bundeswehr aus
Afghanistan. Wir sollten uns viel intensiver um die inländischen Aufgaben kümmern.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße auf der Tribüne den neuen Vorsitzenden des
Deutschen BundeswehrVerbands, Herrn Oberstleutnant
Ulrich Kirsch. Herr Kirsch, glückliche Hand für Ihre
sehr verantwortungsvolle Arbeit!
({0})
Das Berichtsjahr 2008 war das Jahr, in dem die Bundeswehr in Auslandseinsätzen - sprich: in Afghanistan so viele Opfer, nämlich Tote, körperlich und seelisch
Verwundete, zu beklagen hatte wie nie zuvor, ein Jahr, in
dem deutsche ISAF-Soldaten zunehmend mit einem
Klein- und Terrorkrieg konfrontiert waren, wogegen sie
sich zur Wehr setzten, aber nicht mit Krieg antworteten.
Vor diesem Hintergrund fragen Soldatinnen und Soldaten verstärkt nach dem Sinn des Einsatzes und seinen
Aussichten, nach den materiellen Voraussetzungen des
Einsatzes und ihrer Arbeit sowie nach der Anerkennung
dafür. In fünf Minuten kann ich dazu nur Stichpunkte
nennen.
Beispiel Infrastruktur. Dabei geht es um die Arbeitsund Lebensbedingungen in den Kasernen hierzulande.
Viel zu oft sind in den Kasernen - gerade in Westdeutschland - Unterkunft, Belegung und sanitäre Einrichtungen so, wie man das hierzulande nicht mehr für
möglich gehalten hätte. Weiterhin viel zu langsam laufen
die überfälligen Sanierungs- und Baumaßnahmen.
Diese, wie ich meine, organisierte Langsamkeit spricht
jeder Bemühung um Attraktivitätssteigerung Hohn.
({1})
Beispiel Führung. Im Einsatzgebiet erfahren die Soldatinnen und Soldaten viel zu wenig über die Lage und
Entwicklung im Einsatzgebiet. In Afghanistan sollen sie
den Aufbau absichern, aber erfahren kaum etwas über
die Realität dieser Bemühungen. Es wäre eine Überforderung, wenn dem Zugführer oder Kompanieführer aufgegeben würde: Das müsst ihr auch noch im Rahmen der
politischen Bildung machen. - Dafür sollte man sich
neue Modelle des zivil-militärischen Erfahrungsaustausches überlegen.
({2})
Ein weiterer Aspekt zur Führung. Kompaniechefs,
Disziplinarvorgesetzte sind in der Regel nur verhältnismäßig kurz in ihrer Position. Dies verhindert Kontinuität
und behindert den Aufbau von Vertrauen und Zusammenhalt. Der Wehrbeauftragte berichtet zum wiederholten Male von sinkendem Vertrauen unter Soldatinnen
und Soldaten in die höhere politische und militärische
Führung. Das ist beunruhigend und auch eine Herausforderung für uns als Parlamentarier gegenüber den Streitkräften. Hierzu müssen wir uns einige Fragen stellen.
Hinsichtlich des Führungsverhaltens möchte ich nach
den kritischen Punkten auch ein positives Beispiel ansprechen, nämlich das Verhalten des hohen deutschen
NATO-Generals Egon Ramms, der vor einigen Wochen
zusammen mit dem ISAF-Kommandeur in Kabul eine
Weisung des NATO-Oberbefehlshabers nicht ausgeführt
hat, wonach Drogenhändler und Drogenproduzenten
pauschal als militärische Ziele definiert werden sollten.
Respekt vor einer solchen Haltung! Das ist ein Staatsbürger in Generalsuniform.
({3})
Beispiel gesellschaftliche Anerkennung. Herr Minister, sie kann nicht durch Appelle und kaum durch Symbole erreicht werden. Am ehesten erreicht man sie durch
offenen - auch kontroversen - Dialog zwischen Politik,
Soldaten und Zivilbevölkerung. Außerdem kann sie
durch Inseln bürgerschaftlicher Zusammenarbeit erreicht
werden. Beispielhaft nenne ich die Initiative „Lachen
helfen“ von Soldaten und Polizisten, die das lobenswerte
Ziel verfolgt, Kinder in Krisen- und Kriegsgebieten zu
unterstützen, sowie die Oberst-Schöttler-Versehrten-Stiftung, die Soldaten wie Zivilisten helfen will, die im Auslandseinsatz zu Schaden gekommen sind. Das sind vorbildhafte Anstrengungen.
({4})
Umgekehrt ist es für das Ringen um gesellschaftliche
Anerkennung von Soldaten absolut schädlich, wenn der
Wehrbeauftragte bedauerlicherweise immer wieder von
rechtsextremen Vorfällen unter Soldaten berichten muss.
Uns liegt hier der 50. Bericht des Wehrbeauftragten
vor. Unter der Leitung von Reinhold Robbe ist das Amt
im besten Sinne jung geblieben.
({5})
Auch wenn unter den hier anwesenden zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Amtes viele Ältere
sind und ich ebenfalls älter bin, können wir sagen, dass
wir zusammen in unserem Output recht jung geblieben
sind.
({6})
Ein positives Beispiel ist vorhin schon von Frau Kollegin Wegener angesprochen worden, nämlich die erstmalige internationale Konferenz von für Streitkräfte zuständigen Ombudspersonen in verschiedensten Ländern,
die auf Einladung des Wehrbeauftragten im Mai dieses
Jahres in Berlin stattfinden wird.
Unser aller Dank geht an den Wehrbeauftragten und
seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es wiederholt
sich immer wieder, ist aber wirklich ehrlich gemeint.
({7})
Diesem Dank sollten wir allerdings auch Taten folgen
lassen. 50 Jahre nach Entstehung des Amtes des Wehrbeauftragten sollten wir uns in nächster Zeit angesichts
der enormen Veränderungen bei der Bundeswehr überlegen, welche anderen Möglichkeiten der Wehrbeauftragte
heutzutage braucht, um sein Amt zeitgemäß ausüben zu
können.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun Kollegin Anita Schäfer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, seit 50 Jahren
haben Sie und Ihre Vorgänger dem Bundestag regelmäßig den Jahresbericht des Wehrbeauftragten vorgelegt,
wie es das Parlament Ihnen im Gesetz über den Wehrbeauftragten von 1957 aufgetragen hat. Dieses Amt hat die
Bundeswehr also fast von ihrer Entstehung an begleitet,
und zwar, wie es in Art. 45 b des Grundgesetzes heißt:
Zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des
Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle …
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, mit der dem
Amtsinhaber angemessenen Zurückhaltung haben Sie
sich in Ihrem Bericht einer Bewertung dieses Jubiläums
enthalten. Über die Bedeutung der Institution des Wehrbeauftragten kann es aber keinen Zweifel geben. Sie
wurde geboren aus Gedanken, die uns heute selbstverständlich erscheinen: erstens, dass die Streitkräfte der
Kontrolle des Parlaments unterliegen, und zweitens, dass
ihre Soldaten Staatsbürger in Uniform mit den dazugehörigen Rechten sind, darunter auch dem Recht, sich mit
Sorgen und Problemen direkt an eine unabhängige Instanz zu wenden.
Damals war das aber gar nicht so selbstverständlich,
und zwar nicht nur in Deutschland, wo man nach den Erfahrungen mit Krieg und Diktatur bewusst neue Konzepte aufbaute. 50 Jahre später ist die Institution des
Wehrbeauftragten Vorbild für andere Nationen geworden. Das veranschaulicht die Bedeutung vielleicht besser
als alles andere.
In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben die Berichte des Wehrbeauftragten eine Vielzahl von Themen
behandelt. Einige finden Sie über die Jahre hinweg immer wieder, etwa den Umgang von Vorgesetzten mit Untergebenen. Das ist bei einer Armee in einer Demokratie
unausweichlich; denn militärische Hierarchie steht im
Spannungsverhältnis mit der Selbstbestimmung des Einzelnen. Für die Bundeswehr ist das Konzept der Inneren
Führung die Antwort auf dieses Spannungsverhältnis.
Heutzutage ist auch das eine Selbstverständlichkeit.
Eine Armee besteht aus Menschen. Der Umgang untereinander wird immer vom Faktor Mensch mitbestimmt. So findet sich das Thema Führung und Ausbildung auch im aktuellen Bericht wieder. Das erinnert
daran, dass auch Selbstverständlichkeiten immer wieder
gelebt werden müssen, um bewahrt zu werden.
Andere Themen haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen: die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, die Situation bei der Unterbringung von Pendlern und der Zustand von Kasernen. Es gibt auch einige
Bereiche, die früher keine Rolle spielten. An erster Stelle
ist all das zu nennen, was mit der Wandlung der BundesAnita Schäfer ({0})
wehr zu einer Armee im Einsatz zusammenhängt, etwa
die Ausstattung im Einsatz, insbesondere mit geschützten Fahrzeugen.
Die letzten Jahresberichte zeigen erfreulicherweise,
dass wir in vielen Bereichen erfolgreich Maßnahmen ergriffen haben, um Mängel abzustellen; wenn sie dies
auch immer in Form einer Mahnung tun, noch die letzten
Lücken zu schließen. Wir sind entschlossen, dies zu tun.
Das gilt auch für andere aktuelle Problembereiche, wie
die Situation im Sanitätsdienst. Wir werden zu Beginn
der neuen Legislaturperiode ausführlich über die Maßnahmen sprechen, mit denen das Verteidigungsministerium auf diesen Bericht reagiert.
Lassen Sie mich genauer auf ein Problem eingehen,
das nicht einfach mit einer Entscheidung der Regierung
zu beheben ist und bei dem es nicht mit mehr Ausrüstung, mehr Geld oder einer Änderung der Vorschriften
getan ist. Es geht um den Wunsch der Soldatinnen und
Soldaten nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und
Unterstützung.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben diesen Punkt im
Vorwort Ihres Berichtes angesprochen. Sie haben geschrieben, wie sehr das fehlende Interesse der Bevölkerung viele Soldaten belastet. Das deckt sich mit dem
Eindruck, den ich selber in zahlreichen Gesprächen gewonnen habe. Ich versuche ständig - wie viele Kollegen
auch -, ein Bild jener täglichen Herausforderungen zu
übermitteln, denen unsere Soldaten gegenüberstehen.
Wer dies tut, weiß, wie schwierig es ist, in der Bevölkerung dafür Interesse zu wecken. Leider scheint dieses Interesse immer nur dann kurz aufzuflammen, wenn es zu
schweren Anschlägen auf die Bundeswehr gekommen
ist. Ein stabiles Maß an Unterstützung und Anerkennung
für das, was unsere Soldaten leisten, ist das noch nicht,
jedenfalls nicht in der Stärke, wie es in vielen anderen
Nationen der Fall ist.
Herr Robbe, Sie haben auf den Rückhalt hingewiesen,
den beispielsweise die amerikanischen Streitkräfte in der
Bevölkerung erfahren. Ich finde es interessant, welchen
Schluss Sie daraus ziehen, nämlich dass sich die kulturellen Eliten in unserem Land mehr mit den Aufgaben
und dem Berufsprofil der Bundeswehr befassen sollten.
Darüber mache ich mir schon seit einiger Zeit Gedanken.
In den deutschen Unterhaltungsmedien kommt die
Bundeswehr selten vor und wenn, dann wird sie meist
nicht besonders realistisch dargestellt. Da geht es weniger um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den
schwierigen Aufgaben der Streitkräfte, sondern eher darum, Klischeebilder von Soldaten „in Action“ zu nutzen,
die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Allerdings gibt es auch Ausnahmen. Kürzlich hat der
Fernsehfilm Willkommen zu Hause durchaus realitätsnah
auf die Probleme von Soldaten aufmerksam gemacht,
die im Einsatz traumatisiert worden sind. Im Verteidigungsausschuss hatten wir uns schon vorher längere Zeit
mit dem Thema der posttraumatischen Belastungsstörung befasst. Aber erst durch den Film drang das Thema
schlagartig in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Das zeigt, welche Rolle die Unterhaltungsmedien
bei der Vermittlung eines besseren Verständnisses für die
Leistungen unserer Soldaten spielen können. Dabei darf
man natürlich nicht, wie dieser Film, bei einem kleinen
Ausschnitt stehen bleiben. Dieser Film zeigt zum Glück
nicht den Regelfall, sondern eine Extremsituation.
Herr Minister Jung, ich fände es gut, wenn die Bundeswehr von sich aus weitere Schritte in diese Richtung
machen und in angemessenem Umfang Unterstützung
für Produktionen leisten würde, die ein realistisches Bild
zeichnen. Natürlich dürfen dafür nicht die Mittel verwendet werden, die unseren Soldaten direkt zugutekommen sollen. Selbstverständlich soll uns all das nicht von
der Pflicht entbinden, uns weiterhin mit allen Kräften
darum zu bemühen, dass die Soldaten mehr Interesse
und Akzeptanz erfahren.
Zum Schluss möchte ich - auch im Namen der Unionsfraktion - dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für ihre Arbeit
danken.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Petra Heß für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem vorliegenden 50. Bericht liegen neben den
Auswertungen zahlreicher Truppen- und Standortbesuche mehr als 5 000 Eingaben zugrunde. Das heißt: Unsere Soldaten und Soldatinnen wenden sich sehr selbstbewusst und mit großer Selbstverständlichkeit mit ihren
Anliegen an den Wehrbeauftragten, und das ist gut.
Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen, dass Sie sich
in so großem Maße offen und ansprechbar gezeigt haben, sodass im Laufe der Zeit ein echtes, gegenseitiges
Vertrauensverhältnis wachsen konnte. Der jetzige Bericht gibt einen authentischen Einblick in das Innenleben
der Streitkräfte und hält nicht nur der militärischen Führung, sondern auch der Politik den Spiegel vor.
Die Schwerpunkte des diesjährigen Berichts sind:
Bundeswehr im Einsatz, angespannte Lage im Sanitätsdienst - das gilt teilweise auch für die Luftwaffe - und
ihre Auswirkungen sowie die Attraktivität des Soldatenberufs - einige Stichworte hierzu: Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Auslandseinsätze und das Problem der
fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz.
Ich möchte in meinem Beitrag den Fokus auf den Bereich des Sanitätsdienstes richten. Wie schon in den vergangenen Jahren ist die Lage des Sanitätsdienstes der
Bundeswehr weiterhin schwierig. Besonders der Spagat
zwischen dem Primärauftrag der Einsatzversorgung einerseits und der truppenärztlichen Grundversorgung andererseits bereitet dem Sanitätsdienst der Bundeswehr
zunehmend Probleme. Der Sanitätsdienst wird in seiner
gegenwärtigen Struktur den veränderten Herausforderungen und dem neuen Aufgabenprofil der Einsatzarmee
nicht gerecht.
Das gilt insbesondere im Hinblick auf die personelle
Ausstattung. Die Bewerberzahl der Sanitätsoffiziersanwärter ist erneut um 22 Prozent zurückgegangen. Im Berichtsjahr konnten auch erheblich weniger Quereinsteiger gewonnen werden, weil die Attraktivität des
Sanitätsdienstes der Bundeswehr im Vergleich mit Stellen im zivilen Bereich weiter abgenommen hat.
Mindestens ebenso problematisch wie die reinen Zahlen, die im Bericht nachzulesen sind, ist die schwindende
Motivation unter den Sanitätsoffizieren. Viele gaben im
Berichtsjahr an - das ist besonders bedauerlich -, innerlich bereits gekündigt zu haben. Die Belastung durch
Auslandseinsätze, extensive Arbeitszeiten ohne angemessene finanzielle Vergütung und überbordende Bürokratie spielen in diesem Zusammenhang die Hauptrolle.
Die seitens des Verteidigungsministeriums ergriffenen Sofortmaßnahmen, zum Beispiel die Stellenzulage
für Fachärzte und Rettungssanitäter, wirken im Angesicht der Lage hilflos und dürften kaum ausreichen, um
eine Trendwende zu erreichen. Die Ergebnisse der eigens dafür eingesetzten Arbeitsgruppe müssen sobald
wie möglich ausgelotet - also nicht erst am 30. September; vorher muss ein Zwischenbericht vorgelegt werden und noch vor der Bundestagswahl geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Stillstand aus wahlkampftaktischen Gründen können wir uns nicht leisten.
({0})
Bei zukünftigen Anpassungen der Personalstruktur
muss unbedingt berücksichtigt werden, dass der größere
Teil der Sanitätsoffiziere und -offiziersanwärter weiblich
ist und auch Männer - was positiv ist - zunehmend Betreuungsurlaub in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiet
ist bisher zu wenig geschehen. Das Ministerium muss
endlich die Zeichen der Zeit erkennen und eine entsprechende Anpassung der Personalstruktur durchsetzen.
({1})
Auch die Ausrichtung der Bundeswehrkrankenhäuser auf den Einsatz, das heißt auf die notwendige Aufnahme ziviler Patienten und die damit einhergehende
Verwaltungsreform, haben den Betrieb in den Krankenhäusern noch nicht überall verbessert. Besonders problematisch sind weiterhin die Personalengpässe in den
Bundeswehrkrankenhäusern, vor allem in den einsatzrelevanten Bereichen, zum Beispiel der Intensivmedizin,
der Anästhesie und der Rettungsmedizin. Genau diese
Personalengpässe haben weitreichende Folgen für den
Krankenhausbetrieb. Mittelfristig droht uns hier ein Expertise- und Imageverlust. Deshalb wiederhole ich ganz
eindringlich: Hier können Verbesserungen nur über eine
vernünftige Anpassung der Personalstruktur erreicht
werden. Trotzdem bleibt festzustellen, dass unser Sanitätsdienst im Einsatz hervorragende Arbeit leistet und
wir uns hinter unseren Sanitätsdienst stellen können. Wir
brauchen uns da vor anderen Nationen nicht zu verstecken.
An dieser Stelle möchte ich mich mit einem herzlichen Dankeschön ausdrücklich an die Soldaten wenden,
die Einsatz im Ausland leisten, aber auch an die Soldaten, die den Einsatz im Inland zu schultern haben; denn
deren Leistung wird meist vergessen.
({2})
Gestatten Sie mir noch einige Sätze zur Behandlung
von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Ihre Zahl ist im Berichtszeitraum signifikant gestiegen, und die zunehmende Zahl stark belastender Auslandseinsätze lässt zukünftig einen weiteren Anstieg erwarten. Ich gebe zu, das hat auch damit zu
tun, dass dieses ehemals heikle Thema in der Truppe inzwischen offen angesprochen wird und entstigmatisiert
wurde. Die Zahl der Fälle ist drastisch gestiegen. Allein
im Jahr 2008 gab es 226 Fälle, die auf den ISAF-Einsatz
zurückzuführen sind.
Die Errichtung eines Zentrums für die Erforschung
und Behandlung solcher komplexen Erkrankungen ist
daher ausdrücklich zu begrüßen. Alle Fraktionen hier im
Parlament haben an einem Strang gezogen und darauf
reagiert; das war gut und richtig. Trotzdem erscheint die
Umsetzung angesichts der sich dramatisch zuspitzenden
Lage erneut zu zögerlich. Das Zentrum muss jetzt geschaffen werden. Es muss mit zusätzlichen Mitteln und
zusätzlichem Personal ausgestattet werden, damit es den
Namen Traumazentrum verdient. Es soll ein Zentrum
sein, in dem alle Betroffenen, aktive Soldaten, Reservisten und auch Angehörige, ihren Ansprechpartner finden.
({3})
Wir dürfen nicht vergessen: Eine moderne Armee
braucht physisch und psychisch gesunde Soldatinnen
und Soldaten, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl der Auslandseinsätze.
Lernsysteme zum Umgang mit und zur Bewältigung
von Stress im Einsatz gibt es schon. Sie werden zurzeit
bei Kampfmittelbeseitigern als Pilotprojekt eingesetzt.
Das müssen wir auf das gesamte Verwendungsspektrum
ausdehnen, vor allem auf die, die in den Einsatz gehen.
Wir müssen mit solchen neuen Projekten und Modellen
arbeiten. Also Herr Minister: Jetzt handeln!
Ein letzter Satz: Ich danke Ihnen, Herr Robbe, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Halten Sie an
dieser Umtriebigkeit, die Sie an den Tag legen, fest.
Denn diese Umtriebigkeit ist gut. Sie ist gut für die
Truppe, gut für die militärische Führung und gut für uns
Politiker.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12200 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
- Drucksache 16/12273 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({0}),
Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausweitung der Opferentschädigung bei
Gewalttaten
- Drucksache 16/1067 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/12697 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gregor Amann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild
Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Opferentschädigung bei Terrorakten im Ausland sicherstellen
- Drucksachen 16/585, 16/12697 Berichterstattung:
Abgeordneter Gregor Amann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor
gut einem Monat hat hier die erste Lesung des Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes stattgefunden. Ich glaube, dass alle, die
daran beteiligt waren, wenn sie zurückblicken, sagen:
Wir haben sehr lange darüber beraten und uns angestrengt, so wie wir das auch schon bei den entsprechenden Anträgen getan haben, über die wir vor weit mehr
als einem Jahr hier im Hause beraten haben. Wir wollten
versuchen, möglichst einen Konsens zu finden und ein
gutes parlamentarisches Beratungsverfahren durchzuführen.
Die Debatten, die zu diesem Thema geführt worden
sind, waren immer von dem Gedanken geprägt, am Ende
eine möglichst große Zustimmung zu erreichen. Wenn
uns das heute gelingt, dann ist das auch ein gutes Beispiel für parlamentarische Arbeit auf einem sehr schwierigen Themenfeld.
Sicherlich hat es an der einen oder anderen Stelle unterschiedliche Auffassungen gegeben; vielleicht gibt es
sie auch heute noch. Aber ich glaube, dass das, was jetzt
vorliegt, zustimmungsfähig ist. Man kann deutlich sagen
- ich hoffe, Regierungs- und Oppositionsfraktionen sind
sich darin einig -: Wenn es uns gelingt, diesen Gesetzentwurf heute zu verabschieden, dann wird dies eine
spürbare Verbesserung der Leistungen, die diejenigen erhalten werden, die Opfer von Gewalttaten geworden
sind, zur Folge haben, und das ist gut so.
({0})
Mit dieser Novelle bekräftigen wir: Wer Opfer einer
vorsätzlichen Gewalttat geworden ist, der erfährt in
Deutschland materielle Unterstützung durch die Gesellschaft. Auch wenn Sie die einzelnen Punkte, die verbessert werden, aus den bisherigen Debatten bereits kennen,
will ich sie noch einmal nennen:
Bei den Inlandstaten erweitern wir den Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländische Verwandte dritten
Grades. Dies gilt dann, wenn eine Person ohne deutsche
Staatsangehörigkeit, die sich aber rechtmäßig und nicht
nur vorübergehend in Deutschland aufhält, in Deutschland besucht wird. Über diese Neuregelung wird schon
seit sehr langer Zeit diskutiert, eigentlich schon seit
1993. Schändliche Anlässe waren damals der Grund dafür, nämlich ausländerfeindliche Übergriffe auf Menschen, die in Deutschland lebten oder Verwandte in
Deutschland besuchten.
Solche Übergriffe dürfen wir niemals akzeptieren.
Diejenigen, die zu uns gekommen sind, müssen allerdings wissen: Wenn solche Übergriffe geschehen, dann
haben sie ein Recht auf Entschädigung, und dann versuchen wir, im Nachhinein so gut wie möglich zu helfen.
Die Einbeziehung ausländischer Verwandter dritten Grades wird vom Arbeits- und Sozialministerium ausdrücklich begrüßt, nicht zuletzt deshalb, weil so auch
weiterhin eine rechtliche Abgrenzung zu ausländischen
Touristen und Geschäftsreisenden möglich ist. Diese
Gruppe wird auch in Zukunft weiterhin von der Härtefallregelung erfasst.
Über die Einbeziehung geschädigter ausländischer
Lebenspartner, die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgesehen ist, ist im Plenum, im Ausschuss und bei den Beratungen, die vorher auf interfraktioneller Ebene stattgefunden haben, bereits sehr intensiv diskutiert worden.
Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus - ich glaube, es
ist bekannt, wie unsere und meine Position in dieser
Frage war -, dass wir uns für eine etwas eindeutigere
Nennung der Lebenspartnerschaften im Gesetzestext
eingesetzt haben.
({1})
Ich weiß: Manche Dinge im Leben sind machbar, manche nicht. Das, was uns alle geprägt hat, nämlich der
Versuch, einen Konsens zu finden, hat dazu geführt, dass
wir mit der vorliegenden Lösung, der mittelbaren Verweisung auf das Bundesversorgungsgesetz, leben können und die Menschen, die wir einbeziehen wollten,
auch einbezogen wissen.
Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Entwurfs
des Änderungsgesetzes ist die Ausdehnung des Geltungsbereiches des Opferentschädigungsgesetzes auf
Gewalttaten im Ausland. Rein rechtssystematisch betrachtet wird es auch in Zukunft ein Unterschied sein, ob
jemand in Berlin oder Lissabon, in Bonn oder Kairo Opfer einer Gewalttat wird. Das Opferentschädigungsgesetz wird seinen Schutz künftig auch für diejenigen entfalten, die im Ausland durch einen tätlichen Angriff
gesundheitlichen Schaden erleiden müssen.
Da der deutsche Staat wirksamen Opferschutz auch
weiterhin nur für sein Hoheitsgebiet garantieren kann
- die Juristen sprechen hier vom Aufopferungstatbestand -, sind die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelleistungen bei Auslandstaten geringer als bei Inlandstaten. Klar ist aber: Die staatliche Fürsorge für Opfer
von Gewalttaten, die in Deutschland ihren festen Wohnsitz haben, macht zukünftig nicht mehr an der Staatsgrenze Halt.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der,
wie ich finde, wichtig ist: Im Rahmen der Ausschussberatungen wurde am Entwurf des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes eine Ergänzung vorgenommen, die die Einführung einer Pauschalabrechnung von Leistungen nach dem OEG und dem
Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz vorsieht.
Damit reagieren wir auf Probleme, die es bei der Aufteilung der Leistungsausgaben zwischen Bund und Ländern in der Vergangenheit gegeben hat. So sind Ausgaben für Sachleistungen aus dem Bundeshaushalt
abgerufen worden, obwohl die Länder diese hätten tragen müssen. Hintergrund ist die Bestimmung, nach der
sich der Bund an Geldleistungen nach dem OEG und
dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz lediglich mit einem Anteil von 40 Prozent beteiligen darf.
Eine Neuregelung, die zu mehr Rechtsklarheit und
Transparenz führt, ist dringend erforderlich und wird
auch vom Bundesrechnungshof vehement gefordert. Die
geplante Pauschalabrechnung wird von einer großen
Mehrheit der Länder begrüßt. Ich sage Dank an die Koalitionsfraktionen, dass sie im Rahmen dieser Novellierung des OEG einen entsprechenden Änderungsantrag
eingebracht haben. Nur auf diesem Weg kann das neue
Abrechnungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode
mit einer neuen Rechtsgrundlage versehen werden.
Das OEG lebt davon, dass es zu jeder Zeit auf die Bedürfnisse von Gewaltopfern zugeschnitten ist. Die Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer vorsätzlicher Gewalttaten muss sich an den jeweiligen
gesellschaftlichen Realitäten und Veränderungen messen
lassen. Ich denke, der Entwurf des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes trägt diesem Umstand in besonderem Maße Rechnung. Auch in
Zukunft wird es unser aller Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich das Opferentschädigungsrecht dadurch
auszeichnet, dass Betroffenen zügig und unbürokratisch
Hilfe und Unterstützung zukommt, dass möglichst unmittelbar nach der Gewalttat damit begonnen wird, körperliche, aber auch seelische Schäden medizinisch zu
behandeln. Natürlich muss das Leistungssystem darüber
hinaus transparent sein. Wir werden uns bemühen, dieser
Aufgabe auch in Zukunft gerecht zu werden.
Ich möchte alle Fraktionen im Hause bitten, diesem
guten parlamentarischen Ergebnis heute die Zustimmung zu geben. Es kann ein gutes parlamentarisches
Beispiel sein, und es hilft den Menschen, die betroffen
sind. Natürlich hoffen wir immer, dass keiner betroffen
ist; denn die erste Aufgabe besteht darin, Gewalttaten zu
vermeiden bzw. zu verhindern, damit keiner zu Schaden
kommt. Aber wenn etwas passiert, dann soll auf diesem
Weg geholfen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Jörg van Essen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
haben gesehen, dass ich gerade geklatscht habe. Auch
aus Sicht meiner Fraktion ist all das, was der Staatssekretär gerade vorgetragen hat, zu unterstreichen. Was
hier heute verabschiedet werden soll, ist richtig und unterstützenswert.
In dem einen oder anderen Punkt kann man immer
Kritik anbringen. Ich habe das in der ersten Lesung auch
getan, und zwar was die Lebenspartnerschaften anbelangt. Herr Staatssekretär, Sie haben diesen Punkt auch
noch einmal angesprochen. Auch Lebenspartnerschaften
sind geschützt; das ist die wichtigste Botschaft.
Man erleichtert es den Opfern, wenn sie nachlesen
können, welche Ansprüche sie haben. Ich komme, wie
Sie alle wissen, selbst aus der Justiz. So weiß ich, wie
schwierig es ist, Anspruchsberechtigten die Ansprüche,
die sie nach dem Opferentschädigungsgesetz haben,
klarzumachen.
({0})
Gerade deshalb kommt es darauf an, dass wir klare Texte
haben, aus denen die Ansprüche hervorgehen. Aber wie
dem auch sei: Das, was insgesamt geschieht, ist aus meiner Sicht außerordentlich erfreulich.
Wir haben als FDP-Bundestagsfraktion schon im
Jahre 2002 den ersten Antrag für einen besseren Schutz
der Deutschen, die im Ausland Opfer werden - insbesondere Opfer von Terroranschlägen - eingebracht. Das
ist jetzt sieben Jahre her. Es hat lange gedauert; aber wir
haben jetzt eine vernünftige Lösung gefunden. Da und
dort sind Kompromisse geschlossen worden - das ist
selbstverständlich, einen habe ich gerade angesprochen aber insgesamt ist die Botschaft sehr erfreulich.
Herr Staatssekretär, auch da stimme ich Ihnen zu:
Dieses Gesetzgebungsverfahren ist ein Beispiel dafür,
dass es möglich ist, dass Regierungskoalition und Opposition im Deutschen Bundestag gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen. Deshalb will ich deutlich sagen: Der Antrag, den wir eingebracht haben, ist
gegenstandslos geworden, weil wir dem Gesetzentwurf
so, wie er heute verabschiedet wird, zustimmen.
Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Erstens. Ich
habe schon von denjenigen gesprochen, die im Ausland
Opfer werden. Ich glaube, dass gerade das Attentat in
Bombay vor wenigen Monaten deutlich gemacht hat,
wie dringlich es ist, dass wir diese Novellierung schnell
verabschieden. Ich habe im März die Hoffnung geäußert,
dass dies nicht zu lange dauert. Ich sehe deshalb mit großer Sorge, dass im Hinblick auf das zweite Gesetz zur
Novellierung des Opferrechts eine Anhörung durchgeführt wird, sodass es fragwürdig wird, ob wir, was dieses
Gesetz angeht, noch zu einer Entscheidung kommen. Ich
hoffe, dass es gelingt. Ich weiß, dass viele daran interessiert sind, und deshalb sollten wir uns darum auch bemühen. Ich bin sehr dankbar, Herr Kauder, dass Sie den
Versuch unternommen haben, auf die Anhörung zu verzichten, um Zeit zu gewinnen. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass wir uns sehr gut auf ein erweitertes Berichterstattergespräch hätten beschränken können, und
bedaure sehr, dass Ihrem sehr guten Vorstoß nicht gefolgt worden ist. Trotzdem sollten wir alles unternehmen, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen.
Wir werden dem Antrag der Grünen nicht zustimmen,
auch wenn er in vielen Punkten mit der Vorlage der Regierungskoalition übereinstimmt. In einem Punkt folgen
wir Ihnen nicht: Wir haben immer großen Wert darauf
gelegt, dass man einen Anspruch hat. Bei Ihnen ist es anders ausgestaltet; Sie heben stärker auf die Härtefallregelung ab. Dies ist für uns nicht zustimmungsfähig. Hier
ist der von der Regierungskoalition vorgeschlagene Weg
der richtige; denn wir müssen beim Opferschutz immer
wieder daran denken, dass diejenigen, die Opfer einer
schweren Straftat geworden sind, nicht aufgrund des
Verfahrens und vieler anderer Dinge das Gefühl haben,
erneut ein Opfer zu werden.
Deshalb unterstreiche ich das, was Sie gesagt haben,
Herr Staatssekretär: Wichtig ist, dass das Ganze unbürokratisch und schnell zu Entscheidungen führt. Wir werden aufpassen müssen, wie die Praxis hinterher sein
wird. Ich werde mich jedenfalls entsprechend engagieren. Von daher lautet mein Fazit für die FDP-Bundestagsfraktion: Es ist heute ein guter Tag für den Opferschutz.
Ich teile aber auch eine Einschätzung von Ihnen, Herr
Staatssekretär: Unsere wichtigste und vordringliche Aufgabe ist es, dass niemand zum Opfer wird.
({1})
- Richtig, da widerspreche ich Ihnen nicht. Es ist unsere
wichtigste Aufgabe, zu verhindern, dass jemand zu einem Opfer wird. Aber wenn es dann doch passiert ist
- wir alle wissen, dass es immer wieder passiert, weil
man nicht alles im Griff hat -, dann ist es wichtig, dass
die Menschen zu Recht das Gefühl haben, dass wir sie
nicht allein lassen.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Siegfried Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der 15. März 1976 war ein
guter Tag für die Opfer von Gewalttaten. An diesem Tag
wurde im Deutschen Bundestag das Opferentschädigungsgesetz verabschiedet. Seither haben Opfer von Gewalttaten einen Anspruch gegen den Staat auf eine Opferrente oder eine Unterstützung.
Aber dieses Gesetz wies von Anfang an eine Unwucht auf: Wieso bekommt eine deutsche Frau, die in
Spanien von einem Italiener vergewaltigt wird, keine
Opferentschädigung? Sie bekommt sie deshalb nicht,
weil im Opferentschädigungsrecht das Territorialitätsprinzip gilt. Irgendwo mag dies im Ansatz richtig sein;
denn nur auf deutschem Hoheitsgebiet kann der deutsche
Staat für innere Sicherheit sorgen. Aber eine spanische
Frau, die in Deutschland von einem Italiener vergewaltigt wird, bekommt wegen des in Europa geltenden Diskriminierungsverbots eine Opferrente. Das spanische
Opfer steht in Deutschland besser da als das deutsche
Opfer in Spanien.
Diese Unwucht habe ich am 10. Oktober 1999 bei einer Veranstaltung des Weißen Ringes angesprochen,
weil es nicht in meinen Kopf hineinwollte, dass diese
deutsche Frau schlechter dasteht. Von einem Ministerialbeamten wurde mir entgegengehalten, das Territorialitätsprinzip sei in der Opferentschädigung ein unumstößliches Dogma. Angesichts dessen musste man einen
langen Atem haben.
Das Projekt, das Opferentschädigungsgesetz auf Opfer im Ausland auszuweiten, verfolge ich seit September
2002. Ich dachte mir, es könne kein Kunststück sein, einem Paragrafen einen Satz hinzuzufügen, der heißen
muss: Dieses Gesetz ist auch anwendbar, wenn eine
Deutsche oder ein Deutscher im Ausland Opfer einer
Gewalttat wird. Ich sah mich getäuscht. Im Jahre 2002
Siegfried Kauder ({0})
habe ich begonnen, dieses Projekt zu begleiten; jetzt haben wir 2009. Wieso dauerte das alles so lange? Meine
Damen und Herren, Demokratie ist ein schwieriges und
manchmal schwerfälliges Instrument. Entscheidend ist,
dass man dranbleibt und dass das Ergebnis stimmt.
({1})
Es traten immer mehr Fragen auf, die ich am Anfang so
nicht bedacht hatte.
Eine Frage, die sich gestellt hat, lautete: Wer zahlt die
Mehrkosten? Nach dem Opferentschädigungsgesetz werden die Kosten zwischen dem Bund und den Ländern verteilt. 40 Prozent zahlt der Bund, 60 Prozent zahlen die
Länder. Ich kam dann auf eine pfiffige Idee, nämlich die,
dass der Bund für die Fälle zuständig ist, in denen eine
Straftat auf einem deutschen Schiff begangen wird. Dafür
ist ja kein Land zuständig; das kann man keinem Land zuordnen. So sagte ich: Wenn dieser Deutsche das Schiff
verlässt und auf ausländischem Boden steht, dann gilt das
Gleiche wie auf dem Schiff. Also muss der Bund das bezahlen. Das hat die Länder gefreut, und ich bin dankbar,
dass das in den Fraktionen genauso gesehen wurde. Ein
Problem war beseitigt.
Es gab aber noch immer die Frage, welche Mehrkosten auftauchen. Das sollte der Bund natürlich schon wissen. Mir kam dabei eine Konstellation zugute, die ich
von Anfang an im Auge hatte: Das Territorialitätsprinzip
ist kein unumstößliches Dogma; denn im Jahre 1972 haben die Österreicher es mit dem Verbrechensopfergesetz
schon ganz anders gehandhabt.
({2})
Sie sagten nämlich, dass es nicht darauf ankommt, auf
welchem Territorium die Straftat begangen wurde, sondern darauf, ob das Opfer Österreicher ist oder nicht. Die
Staatszugehörigkeit ist also das Entscheidende.
Deswegen konnte ich mich nach Österreich wenden
und dort nachfragen, welche Kosten auftauchen, wenn
ein Österreicher im Ausland Opfer wird. Das wussten sie
nicht, weil sie keine Statistik darüber geführt haben.
({3})
Also gab es wieder ein Problem, das nicht bewältigt werden konnte.
So gab es immer wieder Steine auf dem Weg, auf dem
wir heute das Ziel erreichen wollen. Das alles dauerte
seine Zeit, nämlich über sechs Jahre. Ich freue mich
aber, dass wir am Ende dieser intensiven und langen Diskussion, die noch andere Begleiterscheinungen mit sich
gebracht hat, zu einem sinnvollen und guten Ergebnis
für die Opfer von Straftaten gekommen sind.
Es ist richtig, dass die erste Aufgabe des Staates darin
besteht, Straftaten zu vermeiden. Wir erleben aber immer wieder, dass das nicht gelingt und im Ausland auch
nicht gelingen kann. Wir dürfen dabei nicht nur an die
Opfer terroristischer Straftaten denken, wir müssen auch
an den Einzelfall eines Opfers denken, das von dieser
Straftat psychisch schwer gekennzeichnet ist.
Was sind schon sechs Jahre bei einem Gesetzgebungsverfahren? Im Jahre 1997 nahm ein Familienvater
zwei Kleinkinder mit nach Mallorca. Weil er nicht
wollte, dass die Kinder zur Mutter zurückkehren, hat er
sie dort umgebracht. Die Mutter erlitt einen sogenannten
Schockschaden, der nach dem Opferentschädigungsgesetz zu einer Opferrente führt. Das Versorgungsamt hat
den Antrag dieser Mutter konsequent abgelehnt; denn
der Primärschaden - die Tötung der Kinder - war im
Ausland entstanden. Dass der Schockschaden im Inland
stattfand, war nach der damaligen Gesetzgebung und
Rechtsprechung nicht entscheidend.
Die Mutter hat vor dem Sozialgericht verloren. Vor
dem Landesozialgericht hat sie gewonnen. Im Jahre
2002 hat das Bundessozialgericht erkannt, dass die Entscheidung des Landesozialgerichts aufzuheben ist. Diese
Mutter bekam keine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz.
Was mich an diesem Fall so erschüttert hat: Die Tat
war im Jahre 1996, und die Entscheidung des Bundessozialgerichts stammt aus dem Jahr 2002. Über sechs Jahre
musste eine von einer Straftat schwer traumatisierte
Mutter um ihr Recht kämpfen, und sie hat am Ende verloren, weil wir eine Gesetzeslage hatten, die wir heute
hoffentlich mit einer breiten Zustimmung in diesem Parlament ändern wollen.
Würde dieser Fall morgen geschehen, müsste diese
Mutter nicht sechs Jahre umsonst kämpfen. Sie würde
ihre Entschädigung bekommen. Ich bin der Meinung,
dass dies ein gutes Signal ist.
Das Opferentschädigungsgesetz muss geändert werden, und das Territorialitätsprinzip muss in diesem Bereich aufgegeben werden. Es kommt darauf an, dass wir
Opfern helfen, und nicht darauf, dass wir Dogmen unumstößlich aufrechterhalten.
Ich danke den vielen, die mitgeholfen haben, dieses
Gesetz auf den Weg zu bringen: Ich danke den Beamten
des Ministeriums, die uns sehr tatkräftig unterstützt haben. Ich danke aber auch für die Kooperationsbereitschaft vieler, die daran mitgearbeitet haben. Dieses Gesetz hat in der Tat viele Väter und Mütter, und ich freue
mich, dass wir den Opfern damit helfen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das geltende Opferentschädigungsgesetz ist sowohl hinsichtlich
des Kreises der anspruchsberechtigten Personen als auch
hinsichtlich der Entschädigungshöhe von sachlich nicht
zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen geprägt. Der
Kollege Kauder hat Beispiele genannt, die in der VerJörn Wunderlich
gangenheit Anlass zum Nachdenken gegeben haben.
Daher war eine Reform, die schon in der letzten Legislaturperiode geplant war, dann aber aufgrund der vorgezogenen Wahl letztlich gescheitert ist, längst überfällig; ich
denke, wir alle hier im Hohen Hause sind darin d’accord.
Grundsätzlich wird auch von meiner Fraktion der Ausweitung des Opferschutzes zugestimmt. Dies gilt insbesondere für die Ausweitung auf im Ausland erlittene Taten.
Schade ist, dass die Lebenspartner vom Gesetzestext
nicht erfasst werden. Herr Thönnes hat dies schon gesagt, und auch in den Berichterstattergesprächen ist dies
angesprochen worden. Manches geht, manches geht
nicht, schade ist es allemal. Ich muss an dieser Stelle
aber auch sagen, dass es nach wie vor Kritikpunkte gibt,
die trotz des nunmehr fast zweieinhalb Jahre laufenden
Gesetzgebungsverfahrens nicht behoben werden konnten oder vielleicht auch nicht behoben werden wollten.
Das Recht der Entschädigung folgt aus dem staatlichen
Gewaltmonopol. Der Staat soll Menschen vor Straftaten
schützen. Anknüpfungspunkt dafür ist das Staatsterritorium und nicht der aufenthaltsrechtliche Status eines
Menschen, sodass es dem Staat obliegt, jeden Menschen,
der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, vor
Straftaten zu schützen.
Dementsprechend verbieten sich auch Differenzierungen zwischen den Opfern von Straftaten, sofern sich die
Straftaten auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik
Deutschland ereignen. Hier wird immer noch die Unterscheidung gemacht, die unter anderem an den aufenthaltsrechtlichen Status anknüpft. Das sollte entfallen. So
hat es der Deutsche Anwaltverein auch in der Anhörung
dargelegt. Nach wie vor schließt dieses Gesetz Menschen, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik
aufhalten, genauso aus wie diejenigen, die sich nur
vorübergehend hier befinden und nicht mit einer deutschen oder einer dauerhaft hier lebenden Person verheiratet oder - das ist immerhin eine Verbesserung - bis
zum dritten Grade verwandt sind. Eine solche Aufhebung der Unterscheidungen würde auch die vom Rat am
29. April 2004 verabschiedete Richtlinie zur Entschädigung der Opfer von Straftaten bestmöglich umsetzen.
Das ist die Richtlinie 2004/80/EG.
Ein weiterer nicht behobener Kritikpunkt: Mehr als
18 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen
Staaten werden Opfer von Straftaten in Ost und West immer noch in unterschiedlicher Höhe entschädigt. Nach
wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbrechen, deren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine Grundrente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente eines
Westdeutschen erhalten. So kann es zum Beispiel innerhalb der Stadt Berlin eine Frage von nur wenigen Metern
sein, ob das Opfer in den Genuss der höheren Westentschädigung kommt, oder ob es sich mit der niedrigeren
Ostentschädigung begnügen muss. Das muss man sich
einmal bildlich vorstellen: Zwei befreundete Familien
machen einen Sommerausflug in den Tiergarten, und es
passiert ein Attentat. Ich hoffe, dass so etwas nie passiert, aber wir sollten uns das einmal vorstellen. Die eine
Familie wohnt in der Fuldastraße in Berlin-Neukölln, im
Westteil, die andere Familie wohnt in der Harzer Straße
in Berlin-Treptow, im Ostteil. Die gleichaltrigen Kinder,
die zusammen spielen und möglicherweise in den gleichen Kindergarten gehen, werden gleich schwer verletzt.
Das eine Kind bekommt weniger Rente als das andere.
Wie wollen Sie das den Eltern und den Kindern erklären? Wie wollen Sie erklären, dass das eine Kind - so
wird es von den Opfern zum Teil empfunden - weniger
wert ist als das andere?
Mit seinem Urteil vom 14. März 2000, abgedruckt in
der Neuen Juristischen Wochenschrift, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Beschädigtengrundrente bezogen auf die Kriegsopfer in West und Ost
gleich sein muss. Es ist mit dem Gleichheitsgrundsatz in
Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren,
dass hier Unterschiede gemacht werden. Das war 1998
und sollte über den 31. Dezember 1998 hinaus nicht
mehr gelten. Wir haben jetzt das Jahr 2009. Ich denke,
nach über zehn Jahren ist es Zeit, den Gleichheitsgrundsatz auch auf die Opfer von Straftaten zu übertragen. Dabei kann man auch nicht auf das wirtschaftliche Gleichgewicht, die Leistungsfähigkeit und die geringeren
Löhne im Osten verweisen. Dann müsste man auch im
Westen Unterschiede machen und zum Beispiel einem
Opfer, das aus München kommt, eine höhere Entschädigung gewähren als einem Opfer aus dem Bayerischen
Wald. Ich kann mir vorstellen, welcher Aufschrei dann
durch die Republik gehen würde.
Schade ist - das habe ich schon bei der ersten Beratung im November 2006 festgestellt, als ich meine Kritikpunkte vorgebracht habe -, dass sich die Hoffnung,
dass sich durch die Berichterstattergespräche oder durch
die Ausschussberatungen etwas bessern könnte, nicht im
gewünschten Maße erfüllt hat.
Die Linke fordert gleiche Entschädigungsleistungen
für alle Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland Opfer von Gewalttaten werden,
unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Aufenthaltsstatus, ihrem Wohnort oder ihrem familienrechtlichen Status. Von daher werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf trotz der darin enthaltenen
Verbesserungen - das muss man zugeben - enthalten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollege Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Staatssekretär Thönnes, bei grundsätzlicher Zustimmung
zu dem Gesetzentwurf - die Grünen werden ihm auch
zustimmen - muss ich, was Ihre Rede angeht, einiges
Wasser in den Wein gießen. Denn Sie haben mit Ihrer
Eingangsbemerkung, vor einem Monat habe die erste
Beratung stattgefunden und heute schon werde die
zweite und dritte Beratung durchgeführt, den Eindruck
erweckt, als sei ein Problem aufgetaucht und schnell erkannt worden; die Bundesregierung hätte gearbeitet und
bereits nach einem Monat hätten wir ein gutes Ergebnis
erzielt. So ist es nicht.
Herr Kollege Kauder hat die unendliche Geschichte
dieses Gesetzentwurfs zur Reform des Opferentschädigungsgesetzes dargestellt. Sie ist auch noch nicht zu
Ende. Ich erinnere an Ihre erste Rede vor einem Monat,
in der Sie einiges dazu gesagt haben, Herr Kollege
Kauder.
Die unendliche Geschichte weist darauf hin, dass wir
es mit einem etwas längeren Vorlauf als einem Monat zu
tun haben. Ich bin seit 2002 Mitglied dieses Hohen Hauses, und seitdem bin ich beteiligt an der Diskussion über
die Reform des Opferentschädigungsrechtes. Ich bin im
Übrigen durch die gleichen Beispiele aufgewühlt, die
der Kollege Kauder genannt hat.
Aber wir haben es jahrelang nicht zu einem Gesetzentwurf gebracht. Das war uns Grünen einfach zu lange.
Deswegen haben wir nach jahrelangem Diskurs am
28. März 2006 - das war vor über drei Jahren - einen
Gesetzentwurf zur Reform des Opferentschädigungsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Dieser Gesetzentwurf ist dann jahrelang im Bermudadreieck der Großen
Koalition und auch des Ministeriums verschwunden. Es
war nicht möglich, zu einer gemeinsamen Lösung zu
kommen, obwohl es eigentlich in den Diskursen, die wir
geführt haben, keine Differenzen gab.
Man muss an dieser Stelle benennen, worin der
Hemmschuh bestand. Er lag weder bei der Regelung des
Auslandsfalles, den Sie, Herr Kollege Kauder, genannt
haben, noch bei der Regelung der Ausweitung des
Schutzes für Ausländerinnen und Ausländer, die sich in
Deutschland befinden. Er ergab sich vielmehr aus folgender Konstellation: Wenn in Deutschland jemand Opfer einer Gewalttat wird und getötet wird, der verheiratet
ist, dann haben der Witwer oder die Witwe einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz. Wenn der
getötete Mensch aber in einer eingetragenen Partnerschaft lebte, dann hat der eingetragene Lebenspartner einen solchen Anspruch nicht. Das ist genauso wenig zu
verstehen wie die von Ihnen angesprochene Fallgestaltung mit der deutschen oder der spanischen Frau.
({0})
Es war drei Jahre nicht möglich - ich meine nicht Sie
persönlich, Herr Kollege Kauder; ich nehme Sie ausdrücklich aus -, die Kolleginnen und Kollegen der
Union davon zu überzeugen, dass dieser Fall gleich zu
behandeln ist.
Wir haben im Endeffekt festzustellen, dass die Koalition den Gesetzentwurf der Grünen inhaltlich von A bis Z
übernommen und abgeschrieben hat. Das ist nicht
schlimm. Ein Copyright machen wir nicht geltend. Wir
können auch mit dem Gesetzentwurf leben, den die Koalition eingebracht hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Kauder?
Sehr gerne.
Herr Kollege Montag, können wir uns vielleicht darauf einigen, dass keiner vom anderen abgeschrieben hat
und dass keiner für sich in Anspruch nehmen darf, er sei
der einzige Urheber dieses Gesetzes? Der Entwurf der
CDU/CSU datiert aus dem Jahr 2002. Sie haben begonnen, die Probleme seit dem Jahr 2006 zu schildern. Von
2002 bis 2006 gab es andere Probleme, die ich bereits erwähnt habe: Wer zahlt die Kosten? Pauschalen oder Härteausgleich? Das waren die Eingangsthemen. Dann kam
das Problem, das Sie erwähnt haben, hinzu. Sagen Sie
also nicht, dass wir abgeschrieben hätten. Das stimmt so
nicht.
({0})
Lieber Kollege Kauder, ich war gerade so konziliant,
zu sagen: Es macht ja nichts. Wir können auch mit dem
Gesetzentwurf leben, den Sie vorgelegt haben. Aber
zwischen 2002 und 2006 gab es eine Bundestagswahl.
Die Vorschläge, die in der letzten Legislaturperiode gemacht worden sind, haben das unrühmliche Schicksal erleiden müssen, das alle solche Vorlagen erleiden, die
nicht zu Ende gebracht werden können.
({0})
- Nur davon habe ich gesprochen. - Tatsache ist: In dieser Legislaturperiode gab es drei Jahre nur unseren Gesetzentwurf. - Was nun kommt, muss mir nicht mehr als
Beantwortung Ihrer Frage angerechnet werden. Danke
schön, Herr Kollege Kauder.
Ich komme nun zum nächsten Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr Staatssekretär. Sie haben gesagt,
es habe eine wunderbare Form der Zusammenarbeit gegeben. Ich muss sagen: Wir wären gerne - genauso wie
die FDP -, nachdem wir eine Vorlage eingebracht hatten,
an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt worden.
Aber nein, die Koalition hat erklärt, eine gemeinsame
Vorgehensweise des Parlaments komme für sie bei dieser Problematik nicht infrage. Sie wollten nur einen Gesetzentwurf der Koalition. Wir, die Oppositionsfraktionen, hätten uns gerne beteiligt und werden diesem
Entwurf auch zustimmen. Aber tun Sie bitte schön nicht
so, als ob es eine wundervolle Form der Zusammenarbeit bis zum Schluss gegeben hätte.
({1})
Diese hat es leider nicht gegeben.
Lieber Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hätten gerne die eingetragenen Lebenspartnerschaften „etwas eindeutiger erwähnt gesehen“. Tatsächlich sind
diese Lebenspartnerschaften überhaupt nicht erwähnt,
weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung, was
für den Juristen, Herr van Essen, sicherlich eine Hilfe
gewesen wäre. Sie haben das Kunststück zustande gebracht, eine kaskadenhafte Verweisungskette zu benennen, bei der man mit der Lupe danach suchen muss, ob
eine Lösung des von mir angesprochenen Problems tatsächlich erfolgt ist. Das bleibt kleinlich und schäbig.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu; denn wir teilen
den Inhalt dessen, was Sie vorgeschlagen haben.
Danke.
({2})
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Anton Schaaf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mich an dem
Streit bzw. der Diskussion darüber, wer die Urheberschaft für diesen Gesetzentwurf hat, nicht beteiligen.
Vielleicht darf ich Folgendes feststellen: Seitdem ein
Nichtjurist dieses Thema ein Stück weit mit begleiten
durfte - ich meine damit mich; ich habe nämlich vor etwas über einem Jahr die Berichterstattung übernommen -,
haben wir nicht mehr ganz so lange gebraucht, um diesen Gesetzentwurf hier in zweiter und dritter Lesung zu
behandeln. Das stelle ich hiermit fest.
({0})
Sie, Herr Montag, haben völlig recht, wenn Sie sagen, es
gebe jetzt eine Verweiskette, in der die eingetragenen
Lebenspartner als Anspruchsberechtigte dargestellt würden. Ich finde - deswegen kann ich aus Überzeugung
heute hier zustimmen -, dass wir eingetragene Lebenspartner abgesichert haben und diese als Opfer entschädigt werden können. Das war das Ansinnen der SPDBundestagsfraktion, und das ist erreicht worden. Die
Tatsache, dass es in Bezug auf den Verweis hin und wieder einmal holpriger wird, hindert uns nicht daran, Richtiges zu tun. Das haben wir mit dem Koalitionspartner
CDU/CSU, vor allem durch den Einsatz von Siegfried
Kauder, hinbekommen. Das will ich hier ausdrücklich
erwähnt haben.
({1})
Der Ursprung der Debatte liegt nicht in der Einbringung eines Gesetzentwurfs, sondern er liegt in schändlichen Taten, die stattgefunden haben. Die Diskussion
über die Ausweitung des Opferentschädigungsgesetzes
hat mit den schändlichen Taten in Solingen, Mölln und
auf Djerba begonnen. Damals haben wir festgestellt,
dass es Regelungslücken gibt, die der Nachbesserung
bedürfen. Wir können uns die Situation noch einmal vor
Augen führen: Auf Djerba sind Deutsche Opfer eines
Terroranschlags geworden. Sie fielen nicht unter die Regelung des Opferentschädigungsgesetzes, weil diese Tat
im Ausland stattgefunden hat. Das war der Ursprung.
Wir haben diese Menschen übrigens nicht im Stich gelassen, sondern wir haben die Härtefallregelung angewendet. Sie hatten aber keinen rechtlichen Schutz.
Es gab auch schändliche Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Gesetz. Mich haben diese Diskussionen sehr betroffen gemacht. Auch von Teilen dieses
Hauses wurde gesagt, dass es dann, wenn es keine
Kriegsbeteiligung Deutschlands im Ausland gäbe, auch
keine Terroranschläge und somit auch keine Opfer gäbe
und wir dann auch kein Opferentschädigungsgesetz
brauchten.
({2})
Solche unglaublichen Ableitungen mussten wir damals
zur Kenntnis nehmen. Ich weise mit Abscheu zurück,
was damals formuliert worden ist.
({3})
Es gab auch die schändlichen Taten in Solingen, wo
Menschen, die hier dauerhaft lebten, Opfer von rechtsradikalen Straftätern geworden sind. Ein Onkel, der zu Besuch war und anschauen musste, wie seine Familie getötet worden ist, fiel nicht unter die Regelungen des
Opferentschädigungsgesetzes. Es geht schlichtweg um
Menschen. Es geht nicht um irgendwelche abstrusen Ableitungen, die mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und eventuellen Terroranschlägen zusammenhängen. Es geht hier darum, Menschen besserzustellen.
({4})
Deswegen bedaure ich sehr, dass die Linke sich dann,
wenn wir Menschen konkret besserstellen - auch wenn
es ihr nicht ausreicht; das mag durchaus sein -, ausdrücklich der Debatte enthält. Ich finde das sehr bedauerlich.
({5})
Wir haben es nicht geschafft, einen interfraktionellen
Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt ist das ein Gesetzentwurf der Koalition. Auch ich bedaure das, Herr Kollege
Montag. Das sage ich sehr deutlich; denn das Ansinnen
wird von breiten Kreisen getragen und ist von vielen in
den letzten Jahren forciert worden. Es wäre durchaus angebracht gewesen, einen interfraktionellen Gesetzentwurf einzubringen. Die Diskussionen, die wir gemeinsam geführt haben, waren von dem Bemühen geprägt
- davon zeugte die gesamte Atmosphäre -, das Beste herauszuholen. Die Formulierungshilfen des Ministeriums
für Arbeit und Soziales im Januar letzten Jahres bildeten
eine Brücke und waren ein großer Schritt, um das Opferentschädigungsgesetz zu verbessern. Ich bin dem Haus,
dem Parlamentarischen Staatssekretär und auch dem Minister ausdrücklich dankbar dafür, dass sie uns so konstruktiv begleitet und die Angelegenheit oftmals forciert
haben.
({6})
Ich will mich bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern der vier Fraktionen, die heute dem Gesetzentwurf zustimmen, ausdrücklich bedanken. Auch das, was
Sie, Herr Montag, uns zu bedenken gegeben haben,
nämlich zu schauen, ob die Verweiskette ausreicht und
ob gesichert ist, dass damit eingetragene Lebenspartner
tatsächlich abgesichert sind, war außerordentlich hilfreich, weil wir noch einmal unsere und auch die Formulierungen des Ministeriums überprüft haben.
Mein besonderer Dank gilt gerade beim Thema eingetragene Lebenspartnerschaften und dem Umgang damit
dem Kollegen Siegfried Kauder, der in seiner Fraktion
für dieses herausragend gute Gesetz für eine breite Zustimmung gesorgt und sichergestellt hat, dass wir es jetzt
überhaupt durchs Parlament bringen können. Viel zu
lange hat man sich an einem einzigen Begriff festgehalten und aufgehalten. Ich finde, das war dem Schicksal
der Menschen, die wir mit diesem Gesetz besserstellen
wollen, nicht angemessen. Ich bin froh, dass diese
Schwierigkeiten beseitigt sind. Ich danke allen Beteiligten noch einmal und bitte Sie um breite Zustimmung.
Danke schön.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Wer Opfer einer Straftat geworden ist,
hat Anspruch darauf, dass ihm geholfen wird, und zwar
möglichst schnell und unbürokratisch. Leider mussten in
den vergangenen Jahren viele Deutsche, die im Ausland
zu Schaden kamen, aber auch Ausländer, die bei uns zu
Opfern wurden, die Erfahrung machen, dass ihnen das
Opferentschädigungsgesetz nur unzureichend helfen
konnte, da es dem sogenannten Territorialitätsprinzip
folgt.
Fraktionsübergreifend haben wir uns in der Vergangenheit bemüht, tragfähige Lösungen zu finden, um diesem Mangel abzuhelfen. Herr Kollege Siegfried Kauder
hat über die lange Vita dieses Gesetzgebungsverfahrens
bereits ausführlich berichtet. Gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner bringen wir nun ein Gesetz auf den
Weg, das die bisherige Lücke im Opferentschädigungsgesetz schließen wird. Wir werden den Opfern tätlicher
Gewalt einen möglichst umfassenden Schutz in Form
staatlicher Entschädigung gewähren. Fälle wie die der
deutschen Opfer beim Bombenanschlag im tunesischen
Djerba oder die der türkischen Opfer beim Brandanschlag in Solingen wären nun vom Gesetz umfasst.
Ich freue mich sehr, dass auch die Fraktionen der
Grünen und der FDP im Großen und Ganzen unseren
Gesetzentwurf mittragen und wir als Parlamentarier in
dieser Sache an einem Strang ziehen; das ist nicht immer
so. Über das Wie haben wir lange diskutiert, aber nie
über das Ob. Es geht darum, Menschen zu helfen und
nicht ein zweites Mal Menschen zu Opfern werden zu
lassen, und zwar diesmal zu Opfern einer Gesetzeslücke.
Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, geht in dieselbe Richtung wie der Entwurf der Koalition, aber er geht uns bei Auslandstaten
nicht weit genug; darauf wurde bereits hingewiesen. Ihr
Entwurf sieht bei Straftaten, die im Ausland gegen Deutsche und ihnen gleichgestellte Personen begangen werden, lediglich einen Härteausgleich vor. Der Koalitionsentwurf dagegen enthält im einzufügenden § 3 a des
Opferentschädigungsgesetzes einen Rechtsanspruch auf
Leistungen. Das dem Opferentschädigungsgesetz zugrunde liegende Territorialitätsprinzip wird damit durchbrochen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Wollen wir schon wieder ein Privatissimum machen,
Herr Kollege? Bitte.
Danke schön. - Herr Kollege Lehrieder, nachdem
diese Sache nun schon zum zweiten Mal vorgetragen
wurde - auch der Kollege van Essen hat das ausgeführt -,
möchte ich Sie herzlich bitten, zur Kenntnis zu nehmen
und in Ihrer Antwort auf meine Frage zu bestätigen, dass
es einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen vom
28. März 2006 mit der Drucksachennummer 16/1067 gibt
und dass es dazu allerdings einen Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt. Dort haben wir
von dem ursprünglichen Härtefonds, auf den wir uns interfraktionell geeinigt hatten, weil das Ministerium signalisierte, dass es einen Anspruch nicht mittragen will,
Abstand genommen und haben auch einen Anspruch in
unseren Gesetzentwurf aufgenommen, nachdem das Ministerium erklärt hat, dass es einen solchen Anspruch finanziell mittragen würde.
Gut, Herr Kollege Montag, ich freue mich immer
über einen Erkenntnisgewinn bei den Grünen, keine
Frage.
({0})
Aufgrund des langen Gesetzgebungsverfahrens kenne
ich nicht die Historie sämtlicher Gesetzentwürfe. Lieber
Kollege Montag, ich nehme das zur Kenntnis.
({1})
- Bitte. - Die FDP schließlich verlangt lediglich eine
Besserstellung von Personen, die im Ausland bei einem
Terrorakt verletzt werden oder sonstwie Opfer von Straftaten geworden sind. Herr Kollege van Essen, Sie haben
bereits ausgeführt, dass Sie Ihren eigenen Antrag für gegenstandslos erachten und für unseren Entwurf stimmen
werden. Dafür bedanke ich mich. Die Richtung stimmt.
Der Antrag von den Liberalen bleibt - das habe ich ausgeführt - knapp hinter unserem Entwurf zurück. Die BePaul Lehrieder
lange der Ausländer, die in Deutschland verletzt werden,
bzw. die der Deutschen, die im Ausland verletzt werden,
sind nach unserem Dafürhalten noch nicht ausreichend
berücksichtigt. Unser Entwurf dagegen wird beiden
Gruppen gerecht.
Darüber hinaus haben wir die Kostenaufteilung zwischen Bund und Ländern nach dem Opferentschädigungsgesetz geregelt. Wir sind darin übereingekommen,
die Kosten pauschaliert abrechnen zu lassen. Herr
Staatssekretär Thönnes hat auf die Problematik in seinem Eingangsstatement bereits hingewiesen. Der Bund
erstattet den Ländern demnach pauschal 22 Prozent der
Gesamtkosten nach dem Opferentschädigungsgesetz.
Das entspricht einer Bundesbeteiligung von 40 Prozent
an den Geldleistungen. Strittig zwischen Bund und Ländern war zuvor die Beteiligung an den Kosten für stationäre Heimpflege, die im Bereich des Opferentschädigungsgesetzes vollständig von den Ländern zu tragen
sind, sowie die sachgerechte Trennung zwischen Geldund Sachleistungen im Einzelfall. Problematisch war in
der Planung bisher, dass das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 104 a Grundgesetz, wonach sich der Bund
nicht an Sachleistungen beteiligen darf, de facto nicht erfüllt wurde. Gleichzeitig war ungewiss, ob der Bund seinen Anspruch auf eine korrekte Abrechnung der Geldleistungen gegenüber den Ländern erfolgreich würde
durchsetzen können.
Für die Zukunft können Meinungsverschiedenheiten
zwischen Bund und Ländern über die rechtliche Qualifizierung von Leistungsausgaben vermieden werden. Die
pauschalierte Abrechnungsweise wird jeweils nach einem Zeitraum von fünf Jahren überprüft. So kann vermieden werden, dass sich die Kostenaufteilung in der
Zukunft zuungunsten des Bundes oder der Länder verschiebt.
Ich denke, es ist allen klar geworden, dass das Opferentschädigungsgesetz dringend reformiert werden muss.
Ich bin mir sicher, dass auch die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen das so sehen. Deshalb
bitte ich um breite Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Noch ein Wort zu den Vorrednern. Sie haben darauf
hingewiesen, dass der Schutz vor Gewalttaten natürlich
auch in Zukunft Priorität haben muss und auch haben
wird. Wenn man bedenkt, dass gerade gestern der
Prozess gegen die Mitglieder der sogenannten
Sauerland-Gruppe eröffnet wurde, dann wird einem vor
Augen geführt, dass die Gefährdung auch in Deutschland durchaus real ist. Wir werden weder unseren Bürgern noch den sich bei uns rechtmäßig aufhaltenden
Ausländern eine Vollkaskoabsicherung gewähren können. Deshalb ist die Fortentwicklung dieses Gesetz vonnöten.
Ich bedanke mich ebenfalls bei allen, die an diesem
Gesetzgebungswerk konstruktiv mitgearbeitet haben.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben ihre jeweiligen Gesetzentwürfe für erledigt erklärt. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12697, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12273 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Jens
Ackermann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative,
Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz
- Drucksache 16/474 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian
Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({0})
- Drucksache 16/680 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi,
Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der
dreistufigen Volksgesetzgebung in das
Grundgesetz
- Drucksache 16/1411 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
- Drucksache 16/12019 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Hartmann ({2})
Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ingo Wellenreuther für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im kommenden Monat feiern wir den
60. Jahrestag unseres Grundgesetzes. Es hat unserem
Land 60 Jahre lang Stabilität, Frieden und Freiheit gegeben. Dieser Umstand sollte eigentlich Anlass für uns alle
sein, ein Loblied auf die parlamentarische Demokratie
zu singen, anstatt heute eine verfassungsrechtliche und
politische Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob unsere repräsentative Demokratie überholt ist.
({0})
- Herr Wieland, ich komme nachher noch zu Ihnen.
Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei
unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine
minderwertige Form der Demokratie,
({1})
ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden muss.
({2})
Herr Wieland, das ist eine Geisteshaltung, die ich nicht
teilen kann.
Es wird suggeriert, die Einführung von Volksentscheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Es wird behauptet, nur durch die direkte Demokratie könne das bürgerschaftliche Engagement gestärkt
werden und könnten die Wähler wieder an die Wahlurnen zurückgeholt werden.
({3})
Dieser Auffassung ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich nicht.
({4})
Deshalb halte ich, meine sehr geehrten Damen und
Herren, keinen Zeitpunkt für geeigneter, die Anträge der
Opposition abzulehnen, als diesen, kurz vor dem
60. Jahrestag des Grundgesetzes. Es sprechen nämlich
weiterhin gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite auf
Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.
Erstens. Auch wenn Herr Kollege Wieland eine andere Einschätzung der Geschichte hat: Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung.
({5})
- Herr Wieland, der Tag des Bieres rechtfertigt nicht jeden dumpfen Zwischenruf. ({6})
Schon in der Weimarer Zeit haben sie das Volk aufgewühlt und gespalten und das Vertrauen ins Parlament zusätzlich erschüttert. Im Nazireich wurden Volksabstimmungen missbraucht, um diktatorische Entscheidungen
im Nachhinein zu legitimieren.
({7})
Zweitens können Volksabstimmungen den immer
schwierigeren und komplexeren Fragestellungen unserer
pluralistischen Welt nicht gerecht werden. Ein Volksentscheid ist ein primitives Verfahren, bei dem eine Frage
mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist. Im Gegensatz
dazu ist unser bestehendes Gesetzgebungsverfahren ein
lernendes Verfahren.
({8})
- Wir sind hier in Berlin und nicht in Bayern, Herr
Montag.
({9})
Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Nach der ersten Lesung schließt sich eine
intensive Behandlung in Ausschüssen an. Sachverständigenanhörungen und Expertengespräche sowie Berichterstattergespräche werden durchgeführt.
({10})
Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen.
Teilweise bewertet sogar ein extra eingerichtetes Gremium, der Normenkontrollrat nämlich, den entstehenden
Zuwachs an Bürokratie. Das ist ein gründliches Verfahren, bei dem Kompromisse ausgehandelt werden zum
Wohle der Allgemeinheit, aber auch zum Wohle von
Minderheiten. Bei Volksentscheiden ist ein solch ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Entscheidungsverfahren nicht möglich.
Drittens. Für besonders groß halte ich die Gefahr,
dass wichtige Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden, sondern danach, welche Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht,
wie schlagwortartig Parolen unters Volk gejubelt werden
oder wer welche Prominenten mit entsprechender Werbewirkung für seine Sache gewinnen kann. Die Folge
wäre ein unsachlicher Abstimmungskampf, der auch
noch die Gefahr der Manipulation in sich birgt.
Viertens ist meines Erachtens nicht einzusehen, warum sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen
und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem
Volk überlassen sollen. In jeder Legislaturperiode gibt es
richtungsweisende Entscheidungen, für die man Politiker bzw. Parteien alle vier Jahre politisch zur Verantwortung ziehen kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wieland?
Gerne, Herr Wieland.
Herr Kollege Wellenreuther, wenn es bei Volksbegehren darum geht, wie Sie sagten, in primitiver Weise
schlagwortartig Positionen zur Abstimmung zu stellen,
können Sie mir erklären, warum im Hinblick auf einen
in Berlin am Sonntag stattfindenden Volksentscheid Ihr
Fraktionsvorsitzender Volker Kauder heute in der Zeitung Der Tagesspiegel über fünf Zeilen hinweg offenbar
schlagwortartig primitiv versucht, die Menschen an die
Wahlurne zu treiben?
({0})
Herr Wieland, zu Berlin komme ich nachher noch.
Verfahren, die in Gang sind und betrieben werden, muss
man so betreiben, dass man sie gewinnt.
({0})
- Lassen Sie mich bitte ausreden, Herr Wieland. Die
Frage war beendet. - Das heißt aber nicht, dass man deswegen das Verfahren als gut empfinden muss.
({1})
Diese Möglichkeit, alle vier Jahre die Politiker und
die Parteien zur Verantwortung zu ziehen, wäre bei der
Gesetzgebung durch Volksentscheide eingeschränkt. Damit würde insgesamt eine Abwertung des Parlaments
einhergehen, und es würde zu einem weiteren Bedeutungsverlust beitragen, der bereits durch die Normenflut
der europäischen Institutionen und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten mehr in Talkshows als
im Parlament auszutragen, eingetreten ist.
Fünftens. Letztlich wäre die föderale Grundstruktur
unseres Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des
Grundgesetzes garantierte grundsätzliche Beteiligung
der Länder an der Gesetzgebung nicht mehr gewährleistet wäre. Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat
sehen die Gesetzentwürfe nämlich nicht vor.
Für unsere Fraktion sind damit die Gründe für eine
Ablehnung im Wesentlichen die gleichen, die ich Ihnen
anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe bereits genannt habe.
Schauen wir uns aber noch einmal die Hauptargumente der Entwurfsverfasser an! Die Entwurfsverfasser
behaupten immer wieder, durch die Möglichkeit von
Plebisziten auf Bundesebene könne man der Politikverdrossenheit und dem Verlust des Vertrauens in die Politiker entgegenwirken. Den Gegnern von Plebisziten wird
vorgeworfen, sie würden das Wahlvolk für dumm halten
und kein Vertrauen in dessen Entscheidungskompetenz
haben. Beides, Herr Wieland, ist nachweislich falsch und
nichts anderes als plumpe Stimmungsmache und purer
Populismus.
({2})
Ich habe im Übrigen noch nie verstanden - vielleicht
hören Sie zu; dann verstehen Sie es -, warum der Vorschlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzgeberische Entscheidungskompetenz zu entziehen und dem
Volk zu übertragen, ausgerechnet zu einem höheren Vertrauen in die Parlamentarier führen soll.
Was die behauptete höhere Wahlbeteiligung anbelangt - jetzt komme ich zu Berlin -, beweisen nicht nur
die in Berlin durchgeführten bzw. bevorstehenden Volksentscheide das Gegenteil. 36 Prozent Wahlbeteiligung
bei der Frage „Tempelhof“ und eine in gleicher Höhe erwartete Wahlbeteiligung bei der Frage „Pro Reli“ sprechen eine deutliche Sprache, nämlich: Direkte Demokratie führt eben nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung.
({3})
Was das Thema Politikverdrossenheit anbelangt, hat
in diesem Zusammenhang der Regierende Bürgermeister
von Berlin seinen eigenen Beitrag geleistet, indem er im
letzten Jahr vor der Abstimmung verkündete, dass der
Berliner Senat unabhängig von der Entscheidung des
Volkes über Tempelhof den City-Airport schließen
werde.
Neue Argumente sind nicht ersichtlich, auch nicht
durch Herrn Wieland. Deshalb hat sich an meinem Fazit
von vor drei Jahren nichts geändert. Ich fasse zusammen: Schon die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene
würde die Wesenszüge unserer Demokratie verändern.
Ich kann deshalb nur raten: Erstens. Unterschätzen wir
nicht die Gefahr des Populismus, die in Plebisziten
steckt! Zweitens. Geringschätzen wir nicht unsere geschichtlichen Erfahrungen damit! Drittens. Überschätzen wir nicht deren Bedeutung im Kampf gegen Politikverdrossenheit!
Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes parlamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen. Unsere Bundestagsfraktion lehnt
daher alle vorliegenden Gesetzentwürfe ab.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen: Sehr geehrte Wahlberechtigte
hier und wo auch immer Sie uns zuschauen! Bei der Beratung heute geht es nämlich um Ihre Interessen.
In den Verfassungen aller 16 Bundesländer finden
sich Elemente direkter Demokratie, und das ist aus unserer Sicht auch gut so.
({0})
Nach unserer Auffassung ist es gerade nicht gut, dass davon im Grundgesetz nichts zu finden ist. Herr Kollege
Wellenreuther, man kann zu allem verschiedene Ansichten haben, aber das als primitives Verfahren zu bezeichnen,
({1})
finde ich sehr mutig. Bei Ihnen in Baden-Württemberg,
glaube ich, gibt es etwas Analoges, nämlich Kumulieren
und Panaschieren. Das wäre dann ein weitaus primitiveres Verfahren.
({2})
Mal ganz ehrlich: Ob man bei einer Sachfrage mit Ja
oder Nein entscheidet oder alle vier Jahre bei der Bundestagswahl ein Kreuz bei einer Partei macht - beides ist
ähnlich einfach, um bei Ihrer Wortwahl zu bleiben. Von
daher finde ich: Wie Sie sich hier dazu geäußert haben,
ist dem Thema nicht angemessen.
({3})
Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion müssen und sollen grundlegende richtungsweisende Entscheidungen eines Staates vom Bürger mitgetragen und
im Zweifel auch beeinflusst werden können, und zwar
darüber hinaus, dass er alle vier Jahre ein Kreuz machen
kann. Derartige Mitbestimmungsrechte würden nach unserer Überzeugung zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung und auch zu einer Verbesserung der Demokratie führen.
Demokratie wurde schon in der Antike als Gleichheit
der Freien verstanden. Vor diesem Hintergrund ist aus
unserer Sicht klar, dass man ohne freie Bürger keine Demokratie mehr braucht. Diesen Spruch könnten Sie sich
vielleicht einmal merken.
({4})
Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die zu Beginn
dieser Legislaturperiode erneut einen Gesetzentwurf
vorgelegt hat mit dem Ziel, plebiszitäre Elemente in das
Grundgesetz einzuführen. Es ist richtig, dass sich auch
andere Fraktionen mit diesem Thema beschäftigt haben,
und dafür sind wir dankbar. Wir haben bis zum Schluss
gehofft, dass der Bundestag vielleicht doch dazu kommt,
in dieser Legislaturperiode endlich wenigstens irgendetwas einzuführen.
({5})
Dazu wird es vermutlich nicht kommen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grosse-Brömer?
Ja, wenn er Spaß daran hat.
Frau Kollegin Piltz, ich habe natürlich gehofft, dass
meine Zwischenfrage auch Ihnen Spaß macht; sonst
hätte ich mich gar nicht gemeldet.
Weil Sie fordern, zu ganz wichtigen Themen auch das
Volk zu befragen, möchte ich Sie fragen: Geben Sie mir
in der Retrospektive recht, dass, wenn man damals die
Bevölkerung gefragt hätte, überaus wichtige Entscheidungen - ich nenne beispielhaft die Wiederbewaffnung
der Bundeswehr oder den NATO-Doppelbeschluss -, die
sich im Nachhinein geschichtlich als besonders bedeutsam erwiesen haben und gravierend positive Auswirkungen für unser Land hatten, von einer Mehrheit von bis zu
70 oder 80 Prozent abgelehnt worden wären, was letztendlich katastrophale Auswirkungen auf die deutsche
Geschichte gehabt hätte?
Herr Grosse-Brömer, ich habe so etwas geahnt; deswegen macht mir Ihre Frage keinen Spaß.
Erstens unterstellen Sie, dass das Volk dümmer ist als
wir.
({0})
Zweitens gehen Sie davon aus, dass wichtige Entscheidungen nur vom Parlament getroffen werden können.
Drittens behaupten Sie, dass Sie genau wissen, welche
Entscheidungen man dem Volk überlassen kann und
welche nicht. Das alles halte ich für falsch.
({1})
Hinterher ist man immer klüger; das ist sicherlich so.
Demokratie ist nicht einfach. Wer Angst davor hat, dem
Volk etwas zu erklären, und sich vor einer Entscheidung
fürchtet, der muss sich gut überlegen, ob er hier richtig
ist.
({2})
Der Kollege möchte noch einmal nachfragen.
Meine Antwort war eigentlich so deutlich, dass er
jetzt keinen Spaß mehr haben kann.
({0})
Wir machen alles davon abhängig, ob man Spaß hat. Herr Kollege, die Kollegin möchte mit ihrer Rede fortfahren.
({0})
Unser Entwurf - das ist auch ein Teil der Antwort auf
Ihre Frage - ist im Übrigen der einzige, in dem die Vorlage von vier Finanzierungsmodellen für finanzwirksame Initiativen gefordert wird. Daneben hatten wir
Quoren vorgeschlagen, die aus unserer Sicht nachvollziehbar, zielführend und in der Praxis durchaus umsetzbar gewesen wären; denn gerade die Bestimmung der
Quoren ist eine der Kernfragen bei der Diskussion um
die Einführung von Elementen direkter Demokratie.
Diese Quoren müssen hoch genug sein, um auszuschließen, dass Minderheiten bestimmen, was wir hier tun. Sie
dürfen aber nicht so hoch sein, dass nicht die Chance besteht, etwas zu entscheiden. Ich halte es für unsere Aufgabe, hier einen Ausgleich zu finden, da ansonsten das
Ziel, dass Politik auf eine breitere Akzeptanz stößt und
bürgerschaftliches Engagement gefördert wird, ins Gegenteil verkehrt würde.
Diese Gefahr sehen wir insbesondere bei dem Entwurf der Linken. Für die Volksinitiative sind nach Ihrem
Entwurf bereits 100 000 Stimmen ausreichend. Diese
Zahl ist aus unserer Sicht viel zu gering. Da mit dem Instrument der Volksinitiative unmittelbar auf unsere Entscheidung Einfluss genommen werden kann, ist es notwendig, eine solche Entscheidung auf eine breite Basis
zu stellen.
({0})
Die in unserem Entwurf vorgesehenen 400 000 Stimmen
werden einer solchen Anforderung sicherlich besser gerecht.
Dasselbe gilt für das Quorum bei Volksbegehren. Natürlich klingt die Zahl von 1 Million Stimmberechtigten
beim ersten Hinhören sehr hoch. Allerdings halte ich es
für klüger, das Quorum für ein Volksbegehren an die
Zahl der Wahlberechtigten zu koppeln; sonst müssten
diese Quoren entsprechend der demografischen Entwicklung immer wieder geändert werden. Wir haben das
in unserem Antrag vorgeschlagen.
Nach unserer Einschätzung birgt Ihr Gesetzentwurf
die Gefahr in sich, Referenden herbeizuführen, die von
der Masse der Bevölkerung nicht gestützt werden. Eine
solche Lobbydemokratie, die wir dann hätten, wollen
wir nicht. Deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.
({1})
Letztlich ist auch die fehlende Beschränkung der
Möglichkeit für Volksinitiativen vor den Wahlen ein
Grund dafür, warum wir den Vorschlag der Linken für
nicht zustimmungsfähig halten. Plebiszitäre Elemente
sind das Instrument, um einzelne Sachfragen vom Volk
mitbestimmen zu lassen. Keinesfalls können wir uns damit aus der Verantwortung stehlen. Wir sind das Parlament und müssen auch entscheiden. Sachfragen zu jedem Wahltermin zur Abstimmung stellen zu dürfen, an
deren Ausgang der Bundestag dann auch noch förmlich
gebunden wäre, drängt nach unserer Ansicht einzig
Populisten ins Rampenlicht.
({2})
- Ein bisschen denken müssen Sie schon, bevor Sie hier
solche Zwischenrufe machen. ({3})
Deshalb können wir Ihnen nicht folgen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der sogenannten Großen Koalition, ich kenne Ihre Voten
aus den Ausschüssen. Wir haben in Berichterstattergesprächen versucht, noch etwas zu bewegen. Das hat leider nicht geklappt. Ich kann nur noch einmal an Sie appellieren, darüber nachzudenken, ob Sie die aus meiner
Sicht historische Chance, die sich zum 60. Geburtstag
des Grundgesetzes eröffnet, den Bürgerinnen und Bürgern Politik näherzubringen - darum geht es doch -, erneut verstreichen lassen wollen. Elemente direkter Demokratie bilden hierbei einen Ansatz von vielen.
Das Grundgesetz lässt es jedenfalls zu, weiterführende direkte Beteiligungsrechte für die Bürgerinnen
und Bürger zu verankern. Dafür brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit in diesem Haus. Wir schaffen in dieser
Legislaturperiode wie auch schon früher eine Art Minderheitenschutz für die CDU/CSU, die mit ihrer Haltung
zu diesem Thema alleine dasteht. Für uns ist es aber ein
wichtiges Thema. Ich hoffe, dass es in der nächsten
Legislaturperiode eine breitere Basis dafür gibt, das
ganze Haus.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Hartmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Piltz, vielleicht werde ich wenig Spaß, Lust und
Freude verbreiten.
({0})
Ich denke, es ist unsere Aufgabe, von den alten Denkweisen Abstand zu nehmen: Auf der einen Seite wird behauptet, die repräsentative Demokratie in purer Form
bringe das Heil; auf der anderen Seite glaubt man, nur
die Ergänzung der Verfassung um sogenannte plebiszitäre Elemente bringe das Heil. Beides ist genauso richtig
wie falsch.
Herr Kollege Wellenreuther, Sie haben in Ihrer Rede
ausgeführt, dass wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag des
Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland begehen werden. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass wir
allen Grund haben, klarzumachen, dass dieses Land alles
in allem deshalb so gut funktioniert und deshalb weltpolitisch und innenpolitisch so viel Positives entscheiden
konnte, weil wir die repräsentative Demokratie nach
Weimar erstmals ernst genommen haben. Das ist wahr
und richtig; es verlangt, dass wir Parlamentarier es nicht
zulassen, dass dieses Parlament, parlamentarische Prozesse und Entscheidungen diffamiert werden.
Sehr geehrte Frau Piltz, genauso wahr ist: Wer will,
dass Demokratie - wie dieses immer noch sehr moderne
Grundgesetz - lebt und lebendig bleibt, der muss wie eh
und je bereit sein, Entwicklungen und Veränderungen
zuzulassen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Dieses Grundgesetz lässt es nicht nur zu, sondern hat es verdient, dass
wir die parlamentarische Demokratie weiterentwickeln,
im Vertrauen auf die Entwicklungen der letzten 60 Jahre.
Das heißt, wir Sozialdemokraten sind für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide. Seien Sie sicher: Die Welt würde nicht untergehen, wenn wir die
Einführung solcher Elemente heute beschlössen.
({1})
Wir wissen aber, dass sie kein Allheilmittel sind.
Sehr geehrter Herr Wieland, gerade Ihre Fraktion, die
jetzt, post festum, immer wieder beklagt, unter welch
schrecklichen Koalitionszwängen man war, ist nun auch
nicht gerade glücklich, auf der Oppositionsbank zu sitzen. Ich gebe gerne zu, dass wir heute deshalb mit unserem Koalitionspartner stimmen werden, weil wir die
Prüfung, die nach der Koalitionsvereinbarung vorgesehen war, nicht in der Weise, Intensität und Gründlichkeit
und nicht mit der nötigen Verhandlungsbereitschaft aufseiten der Union durchführen konnten, wie wir es uns
gewünscht hätten. Das ist nun einmal so in Koalitionen.
Vielleicht erinnern Sie sich dunkel daran, Herr Ströbele
allemal.
({2})
Das heißt aber nicht, dass man das Ziel aufgibt und
daran verzweifelt, wenn andere im Moment vielleicht
noch nicht so einsichtig sind, wie wir es uns wünschen.
Eines sage ich nach ernster Abwägung sehr deutlich in
Richtung der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU: Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema, wenn
wir uns heute dagegen entscheiden, damit noch lange
nicht von der Tagesordnung ist. Ich bin davon überzeugt,
dass auch Sie eines Tages erkennen werden: Es ist gut,
auf diesen Zug aufzuspringen - Herr Beckstein, der
Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts halten plebiszitäre Elemente schon jetzt
für etwas durchaus Gutes und Sinnvolles, dafür muss
man kein Systemgegner sein -; aber in der Lokomotive
werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, leider nicht sitzen.
Ich greife den Gedanken noch einmal auf: Wir wissen
natürlich, dass die Einführung von Volksbegehren,
Volksinitiativen und Volksentscheiden kein Allheilmittel
ist. Wer wäre so vermessen, dies zu behaupten? Wir wissen auch, dass es Risiken, Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Gefährdungen gibt. Lassen Sie uns aber doch
darüber diskutieren, wie wir ein Element, das sich in
16 Bundesländern und allen Kommunen bewährt hat
und nicht zum Untergang des Abendlandes geführt hat,
auch auf Bundesebene einführen können.
({3})
Wir haben dieses Instrument in allen Ländern. Der Föderalismus ist deswegen nicht untergegangen, geschätzter
Herr Wellenreuther. Wir haben es in allen Kommunen.
Die kommunale Selbstverwaltung und die Entscheidung
durch die Räte bestehen trotzdem fort. Dieses Instrument
wird - jetzt wird es paradox - mit Ihrer Zustimmung
auch in Europa eingeführt. Nur auf der nationalen Ebene
haben wir es nicht. Wie bekommen Sie das logisch zusammen? Warum debattieren wir nicht wenigstens über
die Volksinitiative?
Da ich ein intensives Kopfschütteln wahrnehme, will
ich an dieser Stelle Herrn Beckstein zitieren, der unverdächtig ist, weil er kein Sozialdemokrat ist.
({4})
Er hat im Zusammenhang mit plebiszitären Elementen
ausgeführt - vielleicht ist er deswegen nicht mehr Ministerpräsident -:
Michael Hartmann ({5})
Sie hat sich als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie bewährt.
({6})
Sie ist außerordentlich wichtig, weil sich die Mitwirkung der Bürger nicht darauf beschränkt, alle
vier oder fünf Jahre zur Wahl zu gehen. Die Bürger
können punktuell Änderungen politischer Entscheidungen durchsetzen. … Die Volksgesetzgebung belebt die politische Debatte und bringt eine Stabilisierung der politischen Mehrheit.
Das rufe ich Ihnen am Tag des Bieres zu.
({7})
Wenn es darum geht, die Stärkung plebiszitärer Elemente abzulehnen, werden alle apokalyptischen Reiter
in die Schlacht geführt: die Manipulationsfähigkeit des
Volkes, die Komplexität der Themen, das Ausgeliefertsein gegenüber Populisten. Mit dieser Argumentation
können Sie Demokratie generell infrage stellen. Ich
frage leise und selbstkritisch, an unsere eigene Adresse
gerichtet: Durchschauen wir immer alles, worüber wir
zu entscheiden haben, bis ins Detail? Ich will das Wort
Finanzmarktkrise nur in einer Fußnote vermerken. Sind
nicht auch wir Manipulationsversuchen ausgesetzt? Entscheiden wir nach politisch aufgeladenen Diskussionen
wirklich immer nur nach sachlichen Kriterien? Spielen
nicht viele andere Erwägungen dabei auch eine Rolle?
Wer dieses Argument ins Feld führt und mit dem Finger
auf andere zeigt, der muss daran denken, dass drei Finger auf ihn selbst zeigen.
Gerade weil unsere Welt so kompliziert geworden ist
- was zweifelsohne der Fall ist, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union -, halte ich diese Elemente für
sinnvoll. Wir wären dadurch in Prozessen, in denen solche Entscheidungen anstünden, wenn sie in der Verfassung verankert wären und mit einem hohen Quorum
Realität würden, liebe Frau Piltz, in stärkerem Maße gezwungen, zu erklären, warum wir was wie wollen: einen
NATO-Doppelbeschluss, Steuererhöhungen, Steuersenkungen und vieles andere mehr.
({8})
Es bleibt dabei - das ist bei Sozialdemokraten nun
einmal so -: Wir werden weiterhin beharrlich an diesem
Thema arbeiten. Es wird weder bei uns noch bei Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, von der
Tagesordnung zu nehmen sein. Wir halten es da ja mit
zwei Kanzlern.
({9})
Der eine Kanzler hat gesagt: Mehr Demokratie wagen.
Er hatte recht; das war Willy Brandt. Die Kanzlerin hat
gesagt: Mehr Freiheit wagen. - Wir wollen mehr Freiheit
für jene, von denen alle Staatsgewalt ausgeht: für das
Volk.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mich sehr gewundert, als der SPD-Vorsitzende
Franz Müntefering kürzlich eine gesamtdeutsche Verfassung anstelle des Grundgesetzes gefordert hat.
({0})
Seine Begründung war - so wurde er zitiert -, der Osten
leide darunter, dass 1989/90 keine wirkliche Vereinigung
organisiert wurde.
Über die historische Alternative - Vereinigung oder
Beitritt - will ich jetzt gar nicht reden. Komisch finde
ich allerdings, dass der Kollege Müntefering so plötzlich, fast 20 Jahre später, von einem Osterleuchten ereilt
wurde,
({1})
und das ausgerechnet in Wahlkampfzeiten.
Zur Verfassungsfrage. Vielfach vergessen und gern
verschwiegen wird, dass damals der viel gelobte runde
Tisch in der DDR einen Entwurf für eine neue Verfassung der DDR vorgelegt hatte, quasi als Mitgift für eine
Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik.
({2})
In diesem Entwurf standen ganz sonderbare Dinge. Beispiel eins:
Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung …
dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben
werden.
Ich finde, das ist hochaktuell.
({3})
- Sie haben recht damit, dass es nach 1989 hochaktuell
war. Das war eine Lehre aus dem Scheitern der DDR. Es
wäre durchaus ein gemeinsamer Aufbruch beim Thema
Datenschutz gewesen.
Beispiel zwei:
Die Staatsflagge der … Republik trägt die Farben
schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die
Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscharen“.
Auch das wäre einer aktuellen Debatte würdig.
({4})
Der Entwurf wurde allerdings in der Volkskammer
der DDR nicht einmal mehr behandelt. Die Ost-CDU
wollte es nicht, weil die West-CDU es nicht wollte. Weil
auch die West-SPD es nicht wollte, wollte die Ost-SPD
ebenso wenig darüber reden. Auch das gehört zum
Rückblick.
Übrigens gab es nach der Vereinigung ein Kuratorium
für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Wieder ging es um eine moderne Verfassung, die
das neue Deutschland zusammenführen sollte. Wieder
sollte dies durch Volksabstimmungen geschehen. Die
Mehrheit im Kuratorium waren übrigens Juristen sowie
Völker- und Bürgerrechtler aus den alten Bundesländern. Auch diese Initiative scheiterte. Nun können Sie
raten, an wem. - Richtig: erneut an der CDU/CSU und
an der SPD. Auch das sollte ein SPD-Vorsitzender eigentlich wissen.
Aber auch Detailverbesserungen am Grundgesetz waren mit der SPD bisher nicht möglich. Über eine mögliche EU-Verfassung wurde 2004 rund um uns herum vom
Volke abgestimmt. In Deutschland durfte man das nicht.
Nur in einem kleinen gallischen Dorf in der Eifel fand
eine Abstimmung statt. Übrigens hat die Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger dort der EU-Verfassung zugestimmt. Auf Bundesebene indes führte kein Weg zu
mehr Demokratie. Damals regierten die SPD und die
Grünen. Ich weiß noch genau, wie Joseph Fischer hier
stand und sagte, dass er sich sein EU-Werk doch nicht
vom Volk zerreden lasse. Ich weiß auch, dass der damalige Kanzler, Gerhard Schröder, log, als er hier an diesem Pult sagte, Volksabstimmungen seien per Grundgesetz verboten. Beides war absurd.
({5})
Der Kollege Müntefering war seinerzeit übrigens Fraktionsvorsitzender der SPD. Ich kann mich an keine Widerworte von ihm erinnern. Dabei steht im Grundgesetz
in Art. 20:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.
Genau darum geht es heute. Es liegen drei Anträge
vor: von der FDP, von der Fraktion Die Linke und von
der Fraktion Bündnis 90/Grünen. Alle drei begehren
grundsätzlich, dass Volksabstimmungen auf Bundesebene endlich zugelassen werden. Sie unterscheiden sich
hinsichtlich der Modalitäten und der Quoren; Kollegin
Piltz hat es schon dargestellt. Eines steht jedoch fest: Ich
denke, wir hätten uns - bei entsprechendem politischen
Willen - auf den Einstieg in direkte Demokratie einigen
können.
Letztendlich wird die heutige Abstimmung zum Test
für die SPD. Sie werden gleich Zeugnis ablegen, wie Sie
es mit der Forderung Willy Brandts „Mehr Demokratie
wagen“ halten und wie glaubwürdig Ihr Parteivorsitzender Müntefering mit seinen aktuellen Forderungen ist.
({6})
Stimmen Sie heute mit Nein, dann lassen Sie bitte auch
die Ulkdebatten über eine neue gesamtdeutsche Verfassung. Sollten Sie mit Ja stimmen, dann emanzipieren Sie
sich von der Unionsblockade. Sprengen Sie also Ihre
Fesseln!
Eines möchte ich uns noch ernsthaft zu bedenken geben: Wir haben es im Lande mit Parteienverdruss, aber
auch - das ist noch viel schlimmer - mit Demokratieverdruss zu tun. Demokratieverdruss ist ein Einfallstor für
rechtsextreme Kameraden.
({7})
Ich denke, sich selbst mehr einzumischen, ist zwar kein
Allheilmittel gegen Demokratieverdruss, aber ein Einstieg in mehr direkte Demokratie.
Danke.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Sie alle verbringen, ob gerne oder weniger
gerne, einen Großteil Ihrer besten Jahre in der wunderschönen Stadt Berlin. Deswegen wird den meisten von
Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass die öffentliche Debatte, die Gespräche der Menschen und das, was
in den Medien steht, nicht, wie sonst üblich, von vermüllten Parks und Hundekot, ja noch nicht einmal von
der Weltwirtschaftskrise beherrscht wird, sondern von
einem Thema, das viele Jahrzehnte völlig randständig
war: vom Religionsunterricht. In einer Stadt, von der Ihr
Säulenheiliger Konrad Adenauer einst sagte, hier
komme er sich immer vor wie in einer heidnischen Stadt,
({0})
wird auf einmal die Sache mit Gott debattiert.
Dies geschieht zum Teil allerdings in etwas skurriler
Weise. So fragt die Zeit von heute: „Ist Gott ein Wessi?“,
um dann einen langen Artikel über diese Frage zu verfassen. Sicherlich wird das morgen von Bild und B.Z.
noch getoppt, vielleicht mit der Frage: „Bezieht Gott
jetzt auch Hartz IV?“ oder in ähnlicher Weise. Das Entscheidende ist aber - das sollten Sie, Herr Wellenreuther,
einmal zur Kenntnis nehmen -: Ohne direkte Demokratie auf Landesebene gäbe es diese notwendige und richWolfgang Wieland
tige Auseinandersetzung um essenzielle ethische Fragen,
die im Übrigen von einem aktiven CDU-Mitglied initiiert wurde, gar nicht.
({1})
Obwohl Sie selbst diese Auseinandersetzung erst möglich gemacht haben, stellen Sie sich hier hin und verwenden in diesem Zusammenhang Begriffe wie „primitiv“,
„Demagogie“ und „populismusanfällig“. Das, was die
Union hier abliefert, ist eine unglaubliche Heuchelei.
({2})
Wir mussten Sie unentwegt treiben, als es darum
ging, die direkte Demokratie einzuführen, zunächst auf
bezirklicher bzw. kommunaler Ebene und dann auf Landesebene. Immer war folgende Beobachtung zu machen:
Sobald die direkte Demokratie eingeführt war, war die
CDU die erste politische Kraft, die sie eingesetzt hat.
({3})
Beispielsweise haben Sie ein Bürgerbegehren gegen die
Rudi-Dutschke-Straße initiiert. Noch am Abend des
Volksentscheids zum Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof ließen Sie Ihren damaligen Chef Friedbert Pflüger
sagen: Wir haben zwar nicht die Mehrheit erzielt, aber
bei dieser Volksabstimmung dennoch gewonnen.
({4})
Keine Partei hat diese Abstimmungen so funktionalisiert
wie die Union. Aber gerade Sie beschwören hier den
Geist von Weimar. Sie argumentieren nach dem Motto:
Für direkte Demokratie auf Bundesebene ist die Bevölkerung zu blöd. - Das darf doch nicht wahr sein.
({5})
- Doch. Das hat auch die Kollegin Piltz gesagt; das war
ihre Aussage. - Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Ein
Demokrat, der das Demos, das Volk, nicht für fähig hält,
seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, verrät die
Idee der Demokratie. Darüber sollten Sie einmal nachdenken, Herr Kollege Wellenreuther.
({6})
Wie die Kollegin Piltz schon angedeutet hat, haben
wir, die Opposition, sehr viel Geduld gehabt. Wir, zunächst der Kollege Burgbacher, später ich, haben Ihnen
immer wieder angeboten, informelle Runden durchzuführen und dort über alles zu reden. Außerdem haben
wir Ihnen verschiedene Kompensationsangebote gemacht, zum Beispiel die Legislaturperiode zu verlängern. Zu einer ernsthaften Verhandlung ist es aber nie
gekommen, weil Sie nicht wollten, ohne Argumente.
Als der Kollege Hartmann das gerade schilderte,
blickte er mitleidheischend zu uns und sagte: Ihr wisst
ja, wie es ist, in einer Koalition geknebelt zu werden. Das wissen wir in der Tat sehr genau, Herr Kollege
Hartmann. Aber ich sage Ihnen: Diese Koalition ist inzwischen dermaßen zerrüttet, dass das für Sie eigentlich
kein Grund sein dürfte, heute unserem Gesetzentwurf,
der mit dem seinerzeit unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf im Übrigen wortgleich ist, nicht zuzustimmen.
({7})
Geben Sie sich also einen Ruck. Die Kollegin Pau hat
recht: Stimmen Sie heute einmal mit Ja!
({8})
Ich komme zum Schluss. Auch zu Zeiten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise malen wir keine Horrorszenarien an die Wand, und zwar deshalb nicht, weil
wir davon überzeugt sind, dass wir keine Weimarer Verhältnisse haben und sie auch nicht bekommen werden.
Es gibt aber Alarmsignale: So lag die Wahlbeteiligung
bei der Bürgermeisterwahl in Düsseldorf, bei der nur
zwei Personen gegeneinander antraten und somit eine
einfache Entscheidung zu treffen war, bei nur 38 Prozent.
({9})
Wahlbeteiligungen bei Landtagswahlen von unter 50 Prozent sind Menetekel. Wenn dann jemand wie der Spiegel-Journalist Gabor Steingart hingeht und unverantwortlich predigt, man solle gar nicht mehr wählen - und
damit sein Buch verkauft -, kann das im Umkehrschluss
nicht heißen, dass wir aufhören, nachzudenken,
({10})
sondern es muss heißen, dass wir uns bemühen, die Demokratie aktiver, vitaler zu machen. Dazu gehört, Instrumente, die sich auf kommunaler und auf Landesebene
inzwischen hundertfach bewährt haben, auch auf Bundesebene einzuführen.
({11})
Herr Kollege!
Ja, Frau Präsidentin: Das ist mein letzter Satz.
Einen Moment! Ich wollte Sie fragen, ob Sie, wohlwissend, dass Sie ganz knapp vor dem Ende Ihrer Redezeit stehen, noch eine Zwischenfrage zulassen.
Ja, selbstverständlich. Die Zwischenfrage lasse ich
noch zu, und dann komme ich zum Ende.
Herr Mücke, bitte sehr.
Herr Kollege, Sie haben gerade eindrucksvoll darüber
gesprochen, wie wichtig Elemente der direkten Demokratie sind. Wie steht es, was die Akzeptanz von Bürgerentscheiden angeht, mit der Haltung Ihrer eigenen Partei? Sie haben gesagt, dass sich viele Bürgerinnen und
Bürger dafür entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen.
Glauben Sie nicht auch - wie ich -, dass sich der eine
oder andere davon abgeschreckt fühlen könnte, dass sein
Votum bei einem Bürgerentscheid, beispielsweise zum
Bau der Waldschlößchenbrücke in Dresden, nicht ernst
genommen wird, beispielsweise von Ihrer Partei?
Herr Kollege, bei der direkten Demokratie gilt generell: Wenn ich sie nur so lange will, wie ich glaube, dass
sie meinen Zielen dient, wenn ich sie wie beispielsweise
Parteivorsitzender Seehofer - der Vorsitzende der Partei
der Präsidentin - auf Bundesebene befürworte, allerdings nur in europapolitischen Fragen, wenn ich das
Ganze also instrumentalisiere, aber nicht bereit bin, auch
Ergebnisse, die mir nicht gefallen, zu akzeptieren, dann
habe ich ein falsches Verhältnis zur direkten Demokratie. Das ist keine opportunistische, das ist eine prinzipielle Frage. Wenn ich direkte Demokratie will, dann
muss ich die Ergebnisse akzeptieren.
({0})
- Vielen Dank. - Wir werden dahin kommen. In der
nächsten Legislaturperiode liegt das hier wieder auf dem
Tisch.
Vielen Dank.
({1})
Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
ist über drei Jahre her, dass die Oppositionsfraktionen
Gesetzentwürfe zu einer Volksgesetzgebung auf den
Tisch gelegt haben. Es ist schade, dass die Diskussion
darüber nicht zeitnäher verlaufen konnte; das hätte die
Möglichkeit eröffnet, modifizierte Anträge zu diesem
Thema noch in dieser Legislaturperiode zu stellen.
Es gibt in diesem Hause eine breite parlamentarische
Mehrheit für die Einführung einer Volksgesetzgebung.
Die CDU/CSU verweigert sich allerdings, weil sie der
Bevölkerung letztlich nicht traut und ihr auch nichts zutraut. Damit diese Partei nicht weiter blockieren kann,
darf sie künftig kein Drittel der Wählerstimmen mehr erhalten; denn bei Betonköpfen auf einen Sinneswandel zu
hoffen, scheint vergeblich. Dass diese Partei in der Sache total unglaubwürdig ist, sieht man beispielsweise an
der schwächelnden Berliner CDU, die sich ausgerechnet
über Volksentscheide als außerparlamentarische Opposition neu zu erfinden versucht.
Auch die Haltung der SPD ist unakzeptabel. In der
Begründung der Ablehnung der drei vorliegenden Gesetzentwürfe sagen Sie zwar, dass Sie grundsätzlich für
die Einführung von mehr direkter Demokratie sind. Sie
kuschen aber vor Ihrem Koalitionspartner und stimmen
aus Machterhaltungsinteressen gegen Ihre eigene Überzeugung. Rot-Grün hat ja, wie wir gehört haben, einen
Gesetzentwurf eingebracht, der mit dem Gesetzentwurf,
den die Grünen heute einbringen, identisch ist. Weil Ihnen zur Rechtfertigung Ihres Umfallens nichts Besseres
einfällt, warnen Sie vor Populismus und Demagogie.
Das ist einfach nur irreführend.
Es gibt Gründe dafür, dass das repräsentativ-demokratische System in einer ernsthaften Legitimationskrise
steckt. Ausdruck dafür ist die immer weiter sinkende
Wahlbeteiligung. Einer der Gründe ist, dass sich die
Menschen in die politischen Entscheidungsprozesse
nicht einbezogen fühlen. Sie sagen: Die da oben in Berlin machen sowieso, was sie wollen.
Es muss also darum gehen, den Bürgerinnen und Bürgern größere Verantwortung zu übertragen. Elemente der
direkten Demokratie im Grundgesetz können ein erster
Schritt zum Herauskommen aus der Zuschauerdemokratie sein. Sie wären ein Angebot an die Menschen, sich
einzumischen. Einmischen können sie sich heute bereits
in allen 16 Bundesländern. Dies wird bei ganz konkreten
Projekten bereits gemacht. Warum sollen die Menschen
bei Volksabstimmungen auf Bundesebene dümmer als
auf Landesebene sein? Diese Logik der CDU/CSU erschließt sich mir nicht.
({0})
- Das haben Sie gesagt.
({1})
Von den drei Oppositionsparteien hätte ich mir eine
gemeinsame Initiative für mehr direkte Demokratie gewünscht, wie es sich die Berichterstatter der FDP und
der Linken im Innenausschuss auch gewünscht haben.
Ein parteiübergreifender Gesetzentwurf zu diesem
Thema wäre für die nächste Legislaturperiode ein qualitativer Sprung; dann könnte über die Öffentlichkeit mehr
Druck auf die CDU/CSU ausgeübt werden.
Ich selbst hoffe, dass die Berlinerinnen und Berliner
am kommenden Sonntag mit einem klaren und deutlichen Nein zeigen, dass Volksentscheide gegenüber
Populismus und Demagogie durchaus immun machen
können.
Danke schön.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutschen feiern in diesem Jahr 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre Grundgesetz und damit auch 60 Jahre
freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Verfassungsväter und die Verfassungsmütter - zu ihnen gehörte
federführend der große SPD-Mann Carlo Schmid, lieber
Herr Kollege Hartmann - haben sich meines Erachtens
ganz bewusst und mit sehr guten Gründen für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als unsere Staatsform entschieden. Es geht nicht darum, ob direkte Demokratie besser oder schlechter als die parlamentarischrepräsentative Demokratie ist. Mein Hauptvorwurf gegen die drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen
ist, dass allen drei Entwürfen die Behauptung inhärent
ist, dass die Gesetzgebung, die auf direkter Demokratie
basiert, besser oder wahrer sei als die Gesetzgebung, die
auf der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie beruht.
({0})
Dies ist nun einmal eindeutig falsch.
({1})
Das Leitwort des früheren Kanzlers Willy Brandt ist
genannt worden: „mehr Demokratie wagen“.
({2})
Dieses Zitat war so überflüssig wie vielleicht der Kanzler selbst auch,
({3})
weil wir seit 60 Jahren mit unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie sehr gut gefahren sind. Gerade
anlässlich dieses Jahres können wir auf 60 Jahre parlamentarisch-repräsentative Demokratie stolz sein.
Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass direkte Demokratie dazu führe, dass die Bevölkerung größeren
Anteil an politischen Vorgängen nimmt und größeres Interesse an politischen Vorgängen zeigt. An dieser Stelle
ist zu fragen, weshalb die Wahlbeteiligung in allen
16 Bundesländern unabhängig davon sinkt, welche Regierungskonstellation gerade am Ruder ist, obwohl mittlerweile, wie schon erwähnt wurde, in die Verfassungen
aller 16 Länder plebiszitäre Elemente eingefügt wurden.
Das Gegenteil ist also der Fall: Das Interesse, die Anteilnahme der Bevölkerung nimmt nicht zu; sie nimmt meines Erachtens eher ab, wenn man an sie in großem Maße
Verantwortung delegiert, die an sich uns gewählten
Volksvertretern zusteht.
Ich verwahre mich sehr deutlich gegen den Vorwurf,
dass das Volk dümmer sei als die Politiker. Das ist eine
infame Unterstellung. Aber man muss nun einmal zur
Kenntnis nehmen, dass es die Aufgabe von gewählten
Volksvertretern ist - sie verfügen auch über das entsprechende Handwerkszeug -, sich teilweise Tag und Nacht
mit den Materien zu beschäftigen, über die wir hier zu
entscheiden haben. Dann müssen wir auch Manns genug
sein, diese Entscheidungen zu treffen und Lösungen für
die Herausforderungen zu finden, die sich Deutschland
stellen. Meines Erachtens wäre es feige und verantwortungslos, wenn wir hingingen und diese Verantwortung
delegierten und an die Bevölkerung zurückgäben.
Sehr verehrter Herr Kollege Hartmann, Sie haben ein
flammendes Plädoyer für eine verstärkte Einführung von
Volksgesetzgebung in das Grundgesetz gehalten.
({4})
Mich wundert es nur, warum Sie in sieben Jahren rotgrüner Regierungskonstellation diesen Wunsch nicht
umgesetzt haben.
({5})
Die Grünen sind ja offenbar dafür, wobei sie bei manchen Materien eine Ausnahme wollen.
({6})
- Richtig, Herr Kollege. Genau bei diesem Punkt bin ich
auch dagegen. Es wäre fatal, wenn wir die Wiedereinführung der Todesstrafe zum Gegenstand eines Volksentscheids machen würden.
({7})
Die Tatsache, dass Sie diesen Umstand in Ihrem Gesetzentwurf explizit ausgenommen haben, zeigt aber
doch schon eindeutig, worin genau das Gefahrenpotenzial von Volksgesetzgebung und direkter Demokratie
liegt:
({8})
Bei solchen Themenstellungen, die sich mit Sicherheit auch noch in anderer Form ergeben könnten, bestünde genau die Gefahr, dass sachfremde Erwägungen
vorangestellt und vielleicht auch aufgrund von aktuellen
Ereignissen Emotionen geschürt und letztendlich Entscheidungen gefällt werden, die alles andere als sachgerecht und zielführend sind.
Stephan Mayer ({9})
({10})
Diese große Gefahr besteht, und Sie haben sie selbst gesehen. Deswegen haben Sie sie in Ihren Gesetzentwurf
aufgenommen.
({11})
Weil hin und wieder die CSU genannt wurde - ich
freue mich ja über diese populäre Nennung -: Ich ziehe
eine ganz klare Trennlinie zwischen der Einführung von
plebiszitären Elementen auf der kommunalen bzw. auf
der Landesebene und deren Einführung auf der Bundesebene.
({12})
Um dies klarzumachen, damit das nicht unterstellt
wird: Ich bin nicht der Meinung, dass die kommunale
Ebene unwichtiger ist als die Bundesebene. Ganz im Gegenteil: Viele Entscheidungen und Vorgänge auf kommunaler Ebene sind für die Menschen wesentlich erfahrbarer und unmittelbarer als manches, was wir hier auf
Bundesebene entscheiden.
Ich möchte nur zu bedenken geben, dass es sogar ein
sprichwörtliches Gesetz gibt, das nach dem Vorsitzenden
einer Bundestagsfraktion benannt wurde, wonach kein
Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es in den Bundestag hineingekommen ist.
({13})
Dieses Gesetz galt auch schon vor dem genannten SPDFraktionsvorsitzenden.
({14})
Durch dieses Gesetz wird ganz eindeutig gezeigt, dass
die Materien auf Bundesebene, ob wir wollen oder nicht,
teilweise unheimlich komplex sind und dass es aus unterschiedlichen Gründen durchaus auch während eines
laufenden Gesetzgebungsverfahrens Notwendigkeiten
gibt, Änderungsanträge zu stellen und Änderungen an
Gesetzentwürfen vorzunehmen. Diese Möglichkeit haben Sie nicht, wenn Sie diesen Gesetzentwurf der Bevölkerung zur Entscheidung vorlegen und sie nur eine Entscheidung zwischen Ja und Nein treffen kann.
Viele Fragestellungen auf der kommunalen Ebene
sind nicht unwichtiger als auf der Bundesebene, hinsichtlich der Entscheidungsfindung und der Meinungsbildung in vielerlei Hinsicht aber doch einfacher als
viele Vorgänge, über die wir hier auf Bundesebene zu
entscheiden haben.
({15})
Weil auch die Positionierung der CSU zu Volksabstimmungen auf Europaebene genannt wurde, möchte
ich auch ein ganz klares Wort dazu sprechen: Auch hier
kann ich eine sehr stringente Trennlinie zwischen meiner
ablehnenden Haltung bezüglich plebiszitärer Elemente
auf Bundesebene und dem berechtigten Ansinnen, verstärkt plebiszitäre Elemente auf europäischer Ebene einzuführen, ziehen.
({16})
Wenn es darum geht, unwiderruflich und irreversibel
Gesetzgebungskompetenzen, die in den Händen der Nationalstaaten liegen, also nationale Hoheitsrechte, an
eine supranationale Ebene abzugeben, zum Beispiel an
die Ebene der Europäischen Union, dann ist es meines
Erachtens durchaus opportun und sogar zwingend notwendig,
({17})
dass neben den vorhandenen Gesetzgebungsorganen, neben dem Bundestag und dem Bundesrat, auch die Bevölkerung hinzugezogen wird.
({18})
Ich kann ein Erbschaftsteuergesetz und jedes andere
Bundesgesetz sofort wieder ändern, wenn ich eine Mehrheit dafür habe. Wenn aber einmal Kompetenzen von der
Ebene der Nationalstaaten an die Ebene der Europäischen Union abgegeben wurden, dann ist dies unwiderruflich und nicht rückholbar.
({19})
Ich finde, hier sollte es guter Brauch sein, dass man die
Bevölkerung entsprechend konsultiert.
({20})
Ich spüre keinen großen Druck aus der Bevölkerung
hinsichtlich einer verstärkten Einführung einer Volksgesetzgebung.
({21})
Die Bürgerinnen und Bürger wollen vielmehr, dass wir
ihre Sorgen und Anliegen ernst nehmen. Dafür sind wir
gewählt und müssen wir unseren Kopf hinhalten - auch
mit der Gefahr, nicht mehr wiedergewählt zu werden,
wenn die Entscheidungen nicht nachvollzogen werden.
Ich glaube aber, wir sollten uns hier nicht klammheimlich aus der Verantwortung stehlen. Deswegen sind die
drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen meines
Erachtens aus guten Gründen abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({22})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik
Reichel für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hätte mir zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes an dieser Stelle und zu diesem Thema eine ganz
andere Debatte gewünscht. Das haben wir heute schon
mehrfach besprochen. Ich gehöre diesem Hause seit
2005 an. Ich habe nicht persönlich miterleben können, in
welcher Konstellation wer wann etwas abgelehnt oder
nicht abgelehnt hat. Ich kann diese Diskussion aber verstehen. Ich denke, dass wir an verschiedenen Stellen die
Möglichkeit haben, darüber zu reden, warum meine
Fraktion auch hier mit einem Bedauern ablehnen wird.
Es gibt eine Koalition, und es gibt eine Koalitionsvereinbarung. Ich muss auf die rechte Seite schauen. Jeder, der
in diesem Hause sitzt, weiß, in welcher Konstellation er
schon einmal etwas gesagt hat und es dann wenig später
ablehnen musste.
({0})
- Bei Ihnen wird das vielleicht auch einmal der Fall sein,
wenn Sie in eine Koalition müssen und wenn Sie das
umsetzen müssen, von dem Sie vieles sagen. Ich hoffe,
dass Sie dann auch einige Dinge bedauern werden, die
Sie heute gesagt haben, weil es anders hätte gesagt werden können.
Liebe Kollegin Pau, Sie haben vorhin Art. 20 des
Grundgesetzes angesprochen, der es uns ermöglicht, neben den Wahlen auch die Volksabstimmung einzubeziehen. Ich denke, wir sollten uns diese Möglichkeit nicht
nehmen lassen. Ich greife noch einige Themen auf, über
die wir gesprochen haben. Die Politikverdrossenheit
wird hier genannt. Ich gebe zu, dass plebiszitäre Elemente und die direkte Demokratie nicht das Allheilmittel
sind, um die Politikverdrossenheit oder gar eine
schlechte Wahlbeteiligung zu beheben. Ich muss aber
auch sagen: Eine gänzliche Verteufelung unseres parlamentarischen repräsentativen Systems ist es auch nicht.
Es hat sich bewährt. Wenn wir in die Länder schauen, in
denen es solche Elemente gibt und wo sie manchmal
mehr, manchmal weniger oder auch gar nicht genutzt
werden, dann sehen wir, dass die Landtage auch nicht
außer Kraft gesetzt wurden. Ich glaube, diese Befürchtung werden wir nicht unbedingt erfüllen, wenn wir
mehr darüber sprechen. Das ermöglicht uns aber vielleicht, in offenere und breitere Debatten über bestimmte
große Themen einzutreten. Das ermöglicht uns, nicht nur
hier im Raum zu sprechen, sondern mit den Bürgerinnen
und Bürgern wesentlich offener zu sprechen. Wir müssen uns bemühen, offener zu diskutieren und besser zu
erklären, warum wir das eine tun und das andere lassen.
Das ist hier im Raum manchmal etwas einfacher.
Wenn man im Zusammenhang mit Bundestagsreden
in den Computer das Wort „Populismus“ eingeben
würde, fände sich dieses Wort sicher gerade in den Zwischenrufen häufig wieder. Ich glaube, wir müssen sehr
vorsichtig sein. Das, was draußen gilt, gilt auch hier im
Raum und umgekehrt. Ich denke, das gibt uns eine
Chance, offener mit den Menschen ins Gespräch zu
kommen.
Einer der schlimmsten Sätze, den wir alle hören und
der für mich immer sehr erschreckend ist, und zwar egal,
um welche Wahl es geht, ist: Es ändert sich ja doch
nichts. Das ist ein Problem. Dem kann man sicherlich
nicht unbedingt nur mit Volksentscheiden, Volksinitiativen und Volksbegehren begegnen, aber es ist ein Schritt
in diese Richtung, den Menschen, die sonst alle vier oder
fünf Jahre ihr Kreuzchen machen, die Möglichkeit zu
geben, einmal ein bisschen aufzuschreien und zu sagen:
Leute, wir sehen das anders, wir wollen das anders. In
diesen Zwiespalt müssen wir eintreten und diskutieren.
Ich glaube, wir sind hier nicht allzu weit auseinander.
Kollege Wieland, Sie haben es aufgegriffen: Wenn
man die drei Anträge und das, was sowohl meine Fraktion als auch die CDU/CSU schon vor Jahren aufgegriffen hat, sieht, dann wird deutlich, dass es Möglichkeiten
gibt, darüber zu sprechen. In diesem Zusammenhang
fällt mir ein Satz von Georg Christoph Lichtenberg ein,
der sagte:
Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders
wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser
werden soll.
Wir haben die Chance, darüber, wie es geht, zu sprechen. Auch vor drei Jahren ist in den Reden viel Kontra
gegeben worden. Ich habe damals meine erste Rede an
diesem Pult halten dürfen.
({1})
Damals war ich etwas aufgeregter als heute, damals
hatte ich wesentlich mehr Papier hier vorn, aber ich habe
mir angeschaut, was die Punkte sind, die dagegensprechen. Heute ist schon von Missbrauch gesprochen worden. Die Erfahrungen in den Ländern und Kommunen
zeigen, dass damit nicht unbedingt großer Missbrauch
betrieben wurde. Als Historiker will ich auch nicht so
sehr in die NS-Zeit und in die Weimarer Zeit zurückgehen, weil es hier noch einige andere Punkte gibt, über
die wir reden könnten. Ich denke, dass unsere Gesellschaft heute wesentlich besser und weiterentwickelt ist.
Sie ist vor allem wesentlich demokratischer geworden,
und zwar auch im Umgang mit solchem Missbrauch.
Neben allem anderen ist hier auch Manipulation genannt
worden. Ich denke, wir alle sind aufgerufen, dies auch
bei möglichen Volksinitiativen, Volksbegehren und
Volksentscheiden zu tun.
Ich glaube, jeder, der in Berlin aktiv ist - ich fahre
meist nur an den Wesselmännern vorbei und schaue mir
die Plakate an -, kann bestätigen, dass es dort ein Für
und Wider gibt. Das wurde auch heute schon festgestellt.
Ein weiteres Thema, das hier immer wieder angesprochen wird, sind die komplexeren Fragestellungen. Bundespolitische Themen sind schwerlich mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Ich glaube, darum
geht es auch nicht. Man sollte den Inhalt des entsprechenden Volksbegehrens, der -initiative oder des Volksentscheides abwarten, um darüber zu sprechen. Häufig
ist davon die Rede, dass wir irgendwelche Regelungen
außer Kraft setzen, die die Mitwirkung der Länder bei
der Gesetzgebung nach Art. 79 des Grundgesetzes betreffen. Auch das ist nicht möglich.
Es lässt sich alles regeln. Man kann in das Gesetz hineinschreiben, worüber nicht abgestimmt werden darf,
zum Beispiel über Finanzbeziehungen - so wird bei Länderentscheiden auch verfahren -, die Todesstrafe oder
andere Themen, die Kollege Mayer angesprochen hat.
Man kann in das Gesetz hineinschreiben, was nicht in einen Volksentscheid münden darf.
Das alles haben wir leider nicht diskutiert. Ich wäre
froh, wenn es uns gelungen wäre, uns zusammenzusetzen und zu sagen, was unsere äußersten und innersten
Grenzen sind. Das haben wir leider nicht geschafft. Man
kann auch über solche Detailfragen reden. Dazu sind wir
nicht gekommen. Ich glaube aber, dass wir damit ein
Stück weitergekommen wären.
Eine Abwertung des Parlaments durch die direkte Demokratie kann ich persönlich nicht erkennen. Direkte
Demokratie soll und wird den Deutschen Bundestag, ein
europäisches Parlament oder ein Landesparlament nicht
ersetzen. Man sieht das auch in den Bundesländern, und
es ist auch an der Anzahl der Volksentscheide erkennbar.
Was in den Ländern richtig und gut ist, muss auf Bundesebene nicht schlecht und falsch sein. Denn es sind
dieselben Bürgerinnen und Bürger, die abstimmen, ob
bei Entscheiden auf Bundesebene oder in den Ländern.
Unterschiede ergeben sich nur aus administrativen Grenzen.
Ich bin auch dankbar, lieber Stephan Mayer, was den
Unterschied zu Abstimmungen in Europa angeht, die
nicht reversibel sind. Man muss aufpassen, dass man
nicht einfach nur dann, wenn einem ein Instrument lieb
ist, sagt, dass man es braucht.
({2})
Diese Differenzierung müssen wir klarmachen. Sie ist
vielleicht nicht richtig deutlich geworden. Mit diesen
Schlagworten müssen wir uns noch einmal befassen.
In den 70er-Jahren gab es eine Enquete-Kommission
für mehr Bürgerbeteiligung, die leider nicht in weitere
Volksentscheide gemündet ist. Ich könnte mir vorstellen,
dass wir das in der nächsten Legislaturperiode hinbekommen, dass sich alle hier vertretenen Fraktionen darüber verständigen, ob in einer Enquete-Kommission
oder wie auch immer. Ich glaube, wir sind auf einem guten gemeinsamen Weg.
Zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes sollten wir
diesem ein besonderes Geschenk machen, nämlich die
Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz.
Ich bedanke mich.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur Einführung von
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019,
den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/474 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Änderung des Grundgesetzes ({0}). Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/680
abzulehnen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, der Fraktion Die Linke und dem Abgeordneten
Winkelmeier. Auch hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Schließlich kommen wir zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/1411 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke und des Herrn Abgeordneten Winkelmeier abgelehnt. Auch hier entfällt die weitere Beratung.
Damit kommen wir zu den Zusatzpunkten 6 und 7:
ZP 6 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen
- Drucksachen 16/11131, 16/11641 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 16/12465 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({2})
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12466 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Andreas Weigel
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill,
Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen
- Drucksachen 16/5679, 16/12699 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Dr. Axel Troost
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen, und wir können so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Marko Mühlstein für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen stehen wir
am Ende eines langen Diskussionsprozesses, eines Diskussionsprozesses, der nicht nur in den Fraktionen und
zwischen den Fraktionen des Parlaments stattgefunden
hat, sondern der auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbar
war. Medien haben sich mit dem Thema Biokraftstoffe
befasst, genauso wie Sachverständigenräte. Unser Ziel
nach diesem Diskussionsprozess war, im Biokraftstoffgesetz Palm- und Sojaöl auszuschließen. Wie Sie wissen, ist uns das durch die Vorgabe der Europäischen
Union nicht mehr möglich. Umso wichtiger ist es, am
heutigen Tag die Ermächtigung für die Bundesregierung
zu einer wirksamen Nachhaltigkeitsverordnung auf den
Weg zu bringen, einer Nachhaltigkeitsverordnung, die
bei Anbau und Verarbeitung der Rohstoffe für Biokraftstoffe regelt, dass sowohl ökologische als auch soziale
Kriterien eingehalten werden. Durch das engagierte Auftreten der Bundesregierung ist es möglich gewesen,
diese Nachhaltigkeitskriterien auf europäischer Ebene zu
regeln. Bei der nachhaltigen Biomasseproduktion ist
Deutschland - das kann man mit Stolz sagen - Vorreiter.
In diesem Zusammenhang möchte ich alle Beteiligten
auffordern, an der zügigen und wirkungsvollen Umsetzung der Nachhaltigkeitsverordnung mitzuarbeiten und
mitzuwirken; denn bei der nachhaltigen Bioenergieproduktion leisten wir echte Pionierarbeit. Doch wo Licht
ist, ist auch Schatten. Ich möchte nicht verschweigen,
dass sich viele Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, aber auch anderer Fraktionen darum bemüht haben,
an einigen Stellen dieses Gesetzes andere Lösungen herbeizuführen. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz
besonders dem Kollegen Jung und Frau Dr. Flachsbarth
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken. Ich
denke, dass wir weiterarbeiten müssen.
Viele in meiner Fraktion haben für eine Entlastung
der reinen Biokraftstoffe gekämpft. Wir haben vorgeschlagen, im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs und des Schienenpersonennahverkehrs den Biodiesel gänzlich von der Biokraftstoffsteuer zu befreien,
wie das bereits heute in der Landwirtschaft gängige Praxis ist. Von dieser Maßnahme hätten nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen, die Landwirte und die Biodieselproduzenten profitiert. Vielmehr wäre das auch ein
sinnvoller Beitrag für den Aufbau regionaler und nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
({0})
Doch während die Union in ihren Presseerklärungen
vom 21. März 2007, 16. Januar 2008 und 2. April 2008
Steuerfreiheit für alle reinen Biokraftstoffe gefordert
hatte, war die Union nicht bereit, dieses Teilsegment umzusetzen und damit die deutsche Biokraftstoffbranche zu
entlasten. Wie das zusammenpasst, haben wohl nur die
Verantwortlichen in der Union selbst verstanden.
Es ist aus meiner Sicht schwer vermittelbar, dass wir
keine Einigung bei der Einführung des Kraftstoffes E 10
als zusätzliches Angebot erzielen konnten. Insbesondere
ist es mir schleierhaft, warum der ADAC in den vergangenen Monaten mit populistischen Aussagen eine Art
E-10-Panik unter den Autofahrern erzeugte. Schließlich
war es nicht unser Ziel, Superbenzin durch E 10 zu ersetzen; vielmehr ging es darum, dem Verbraucher einen zusätzlichen Kraftstoff anzubieten, der dieselbe Qualität
hat wie die Premiummarken der großen Mineralölkonzerne, dabei aber deutlich billiger angeboten werden
könnte. Ich persönlich gehe einmal nicht davon aus, dass
sich die Kooperation des Automobilklubs mit einem Mineralölkonzern auf die politische Arbeit dieses Automobilklubs auswirkt.
Mit dem Gesetzentwurf werden wir heute einen Entschließungsantrag beschließen. In diesem Entschließungsantrag werden zwei Dinge deutlich: Erstens. Wir
wollen die schnellstmögliche Einführung der Nachhaltigkeitszertifizierung für Biokraftstoffe. Zweitens. Das
Ziel der Regierungsfraktionen ist es, die Einführung hydrierter Kraftstoffe unter Parlamentsvorbehalt zu stellen.
Schließlich kann es aus meiner Sicht nicht unser Ziel
sein, mit dem sogenannten Co-Hydrotreating möglicher23586
weise unbegrenzte Wettbewerbsverzerrungen zulasten
des Mittelstandes zuzulassen.
Ich hatte vorhin gesagt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wenn wir in diesem Hohen Hause über den aktiven
Klimaschutz diskutieren, dann reden wir natürlich auch
- ich glaube, da sind wir uns alle einig - über effiziente
und verbrauchsarme Fahrzeuge, und dann reden wir über
alternative Antriebe wie Hybrid- oder Elektromotoren.
Doch auf dem Weg weg vom Öl - auch darüber sind wir
uns einig - sind Biokraftstoffe unersetzbar. Wir werden
auch in den nächsten Jahren noch auf Biokraftstoffe angewiesen sein, gerade im Bereich des Schwerlastverkehrs. Deswegen möchte ich ganz deutlich sagen, dass
ich es zutiefst bedauere, dass sich die Koalition nicht auf
die vorgeschlagenen, von mir eben dargestellten und viel
diskutierten Maßnahmen einigen konnte.
({1})
Ich persönlich werde mich auch weiterhin für eine Zukunft biogener Kraftstoffe einsetzen und werde in diesem
Zusammenhang auch immer die Pioniere der Biokraftstoffindustrie und des Biokraftstoffmarktes, nämlich die
kleinen und mittelständischen Produzenten und Händler,
im Auge haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Biokraftstoffe sind weder Himmel noch Hölle. Das ist so die
Bandbreite, in der sich die Diskussion in den letzten
zwei Jahren bewegt hat. Es kommt wesentlich darauf an,
aus welchen Quellen die Rohstoffe für diese Biokraftstoffe stammen, und es kommt darauf an, wie effizient
die eingesetzte Biomasse genutzt wird. Beides liegt im
Argen. Die Nachhaltigkeitskriterien für Biomasse stehen
zwar jetzt auf dem Papier, nämlich in der EU-Richtlinie,
aber noch kann sie kein einziges Unternehmen nachweisen; denn die entsprechende Verordnung über diesen
Nachweis von Nachhaltigkeit hat die EU immer noch
nicht auf die Reihe bekommen. EU bedeutet in diesem
Zusammenhang nicht nur Kommission, sondern auch
Ministerrat, in dem die Bundesregierung vertreten ist.
Auch die Effizienz der Verwendung eingesetzter Biomasse ist fraglich. Völlig willkürlich werden Förderinstrumente eingesetzt: Beimischungsquote bei den Biokraftstoffen, Preisgarantien bei der Verstromung und
Anlagensubventionen für Anlagen erneuerbarer Wärme.
Kein Instrument ist auf das andere abgestimmt. Das Zusammenwirken ist zufällig und nicht daran ausgerichtet,
mit den eingesetzten Mitteln so viel CO2 wie möglich
einzusparen.
({0})
Die FDP bleibt bei der Haltung, dass dieser Gesetzentwurf das Scheitern dieser Politik dokumentiert.
Gabriel und die Autos - das ist eine lange Geschichte.
Ich sage nur: Partikelfilterskandal, verkorkste Grenzwertdiskussion und nicht zuletzt, was den Bereich der
Biokraftstoffe angeht, erst das Scheitern von E 10, dann
wieder die Befürwortung von E 10 nach dem Motto: rein
in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Eine klare Linie der Bundesregierung und dieses Umweltministers
mit Blick auf umweltfreundliche Mobilität kann ich leider nicht erkennen.
({1})
Es freut mich jedoch, dass die Bundesregierung die
von der FDP-Bundestagsfraktion von Anfang an geäußerte Kritik aufgreift, dass die Quotenerhöhung angesichts
fehlender Nachhaltigkeitszertifizierung in der Praxis
falsch ist. Diese Quotenerhöhung, wie sie ursprünglich
vorgesehen war, würde nur zu einem weiteren Zugriff
auf die globalen Ressourcen führen, der ohne funktionierende Zertifizierung nachhaltigen Anbaus eine Gefahr
für die Regenwälder und damit für den globalen Klimaschutz darstellt. Aber auch der Weg der Verlangsamung
des Quotenanstiegs, wie er jetzt vorgesehen ist, kann das
Problem einer fehlenden Nachhaltigkeitsverordnung lediglich abmildern, aber nicht beseitigen.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb die Bundesregierung nachdrücklich auf, von einer Quotenerhöhung ganz abzusehen, solange die Nachhaltigkeitssysteme nicht in der Praxis international funktionieren.
Selbst eine Nachhaltigkeitsverordnung ist noch nicht
ausreichend, um Nachhaltigkeit tatsächlich zu sichern.
Sie muss auch in der Praxis, und zwar international,
funktionieren.
({2})
Nur auf einem effizienten Weg wird die Abhängigkeit
vom Import fossiler Energieträger gemindert. Vor diesem Hintergrund müssen die bestehenden Beimischungsquoten auf dem heutigen Stand eingefroren werden.
Es stellt sich die Frage: Was ist die richtige Alternative? Die Regierung hat im Bereich der reinen Biokraftstoffe so einiges verzapft, weil sich der Bundesfinanzminister die Kassen füllen wollte und die Steuerbefreiung
für die Kraftstoffe vor der Frist aufgehoben hat. Man
kann klar konstatieren: Diese Bundesregierung trägt die
Verantwortung dafür, dass ein Teil der heimischen Biokraftstoffproduzenten in die Pleite getrieben wurde und
der andere Teil kurz davorsteht. Das ist Ihre Verantwortung aufgrund Ihrer Steuerpolitik im Bereich der Biokraftstoffe.
({3})
Es ist putzig, dass die SPD behauptet, die CDU/CSU
wäre schuld gewesen, dass die Steuerbefreiung für den
öffentlichen Nahverkehr nicht wiederhergestellt werden
konnte. Ich frage mich: Wenn Sie der Auffassung sind,
dass die Steuereinführung durch Herrn Steinbrück falsch
war, warum wollten Sie von der SPD sie dann nur für eiMichael Kauch
nen bestimmten Teil, nämlich für die kommunalen Unternehmen, aufheben?
({4})
Es ist ökologisch falsch und es ist Klientelpolitik, was
Sie mit diesem Vorschlag betreiben.
({5})
Deshalb ist es gut, dass man dem Klientelismus nicht
den Weg bereitet hat.
({6})
Aber auch die Fachpolitiker der Union behaupten
gerne, dass man etwas tun müsse, weil die Biokraftstoffhersteller pleitegehen. Die Quote führe dazu, dass nur
noch große Händler als Zulieferer der Mineralölindustrie
berücksichtigt werden und die großen Händler die Importbiomasse nehmen. Das Ganze ende dann mit der
Zerstörung der Regenwälder. Ihre Analyse ist zwar richtig, aber was ist denn die Folgerung? Tatsache ist, dass
Sie in der Koalition nichts, aber auch gar nichts durchgesetzt haben, um den Markt für reinen Biokraftstoff wieder zum Laufen zu bringen.
({7})
Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise erfordert
eine ausgewogene und nachhaltige Klimapolitik, dass
wir unsere heimische Produktion, auch die für Biokraftstoffe, stärken. Es ist bemerkenswert, dass CDU/CSU
und SPD nicht einmal die Forderung des Bundesrates
aufgegriffen haben, wenigstens für das Jahr 2009 auf die
Steuererhöhung zu verzichten. Es wurde nicht einmal
gefordert, die Steuer zurückzunehmen. Es wurde lediglich gefordert, die Erhöhung nicht durchzusetzen. Selbst
das haben die Bundestagsfraktionen von Union und SPD
abgelehnt. Wir als Liberale werden nach der Bundestagswahl diese gescheiterte Politik ändern.
({8})
Nun hat der Kollege Andreas Jung das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kauch, ich bin der Meinung, gerade angesichts einer solch komplexen Materie sollten wir uns
nicht gegenseitig vorwerfen, etwas zu „verzapfen“; vielmehr sollten wir in einer sachlichen Diskussion überlegen, wie viele Biokraftstoffe „gezapft“ werden sollen
und woher diese Biokraftstoffe kommen sollen.
({0})
Da die Thematik komplex ist und da sich durchaus
kritische Fragen stellen, möchte ich zunächst feststellen,
dass eines richtig bleibt: Biokraftstoffe können einen
wichtigen Beitrag leisten: zu mehr Klimaschutz - durch
eine Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen im
Bereich des Verkehrs, Stichwort „Kraftstoffe“ -, zu
mehr Unabhängigkeit von Erdölexporten und damit zur
Energiesicherheit sowie zur Wertschöpfung im ländlichen Raum, soweit die Biokraftstoffe hier in Deutschland, also national, erzeugt werden.
So richtig es ist, dass die Biokraftstoffe einen wichtigen Beitrag leisten können, so wahr ist eben auch, dass
sie dies nicht zwingend tun. Das ist dann der Fall, wenn
Biokraftstoffe nicht nachhaltiger Produktion entstammen. Leider gibt es aus etlichen Ländern Nachrichten,
dass Biokraftstoffe aus nicht nachhaltiger Produktion
stammen und nach Deutschland exportiert werden.
({1})
Solche Berichte gibt es aus Südamerika und aus Asien.
Eine Delegation des Deutschen Bundestages hat sich im
Rahmen der Teilnahme an der Klimakonferenz auf Bali
vor Ort eine Plantage angesehen, auf der Regenwald gerodet und stattdessen eine Bioplantage errichtet wurde.
Bei allen unterschiedlichen Positionen in einzelnen Fragen eint uns die Auffassung, dass das nicht sein darf. Es
darf nicht sein, dass für die Natur wichtige Flächen, also
Flächen mit einem hohen Kohlenstoffgehalt - etwa Regenwälder oder Moore -, geopfert werden, um Biopflanzen anzubauen, diese dann unter grünem Label nach
Deutschland zu importieren und hier als „ökologisch
wertvoll“ zu verkaufen. Ich wiederhole: Das darf nicht
sein.
({2})
Es ist richtig und es ist wichtig, dass wir überlegen,
wie wir dafür sorgen können, dass solche nicht nachhaltigen Produkte nicht in deutschen Tanks landen.
({3})
Im letzten Jahr wollten wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf den Weg bringen, die genau das vorgesehen
hat. Wir wollten folgende nationale Regelung: Nach
Deutschland dürfen nur nachhaltige Produkte eingeführt
werden. Die Europäische Union hat das gestoppt. Sie
war der Auffassung, dass ein Nationalstaat das nicht darf
und dass Europa für die Regelung zuständig ist. Es mag
etwas dafürsprechen, dass eine einheitliche europäische
und damit stärkere Regelung besser ist als unterschiedliche nationale Regelungen.
Aber Europa hat eben noch nicht gehandelt. Deshalb
war im Entwurf des Gesetzes, das uns heute zur Beratung vorliegt, ebenfalls eine Regelung vorgesehen, die
besagt hat: Der Import von Palmöl und Sojaöl darf nicht
auf die deutsche Quote angerechnet werden, solange bestimmte Nachhaltigkeitskriterien nicht in Kraft gesetzt
sind. Auch da hat Europa interveniert. Es hat die Einführung dieser Nachhaltigkeitskriterien mit denselben
Andreas Jung ({4})
Argumenten und dem Hinweis auf GATT-Regelungen
verhindert und hat wiederum gesagt: Wir werden es selber regeln. Das Problem ist: Europa wollte im ersten
Quartal dieses Jahres die eigenen Nachhaltigkeitskriterien verabschieden; aber man hat es noch nicht getan.
Wie Kollege Mühlstein zuvor gesagt hat, schaffen wir
mit diesem Gesetz - mit der Ermächtigung zur Umsetzung der irgendwann auf europäischer Ebene verabschiedeten Nachhaltigkeitskriterien - die Voraussetzungen dafür, dass wir diese Kriterien so schnell wie
möglich in deutsches Recht umsetzen können. Ich betone: Wir können das erst, wenn Europa - endlich - gehandelt hat. Deshalb sollten wir gemeinsam den eindringlichen Appell an alle in der EU Verantwortlichen
senden: Wir brauchen jetzt europäische Nachhaltigkeitskriterien. Wir fordern auch die Bundesregierung auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit diese Kriterien
dort so schnell wie möglich verabschiedet werden.
({5})
Der Beifall aus, glaube ich, allen Fraktionen zeigt,
({6})
dass es ein gemeinsames Anliegen ist. Trotzdem sind wir
heute in einer schwierigen Situation: Wir müssen über
die Höhe der deutschen Quote entscheiden, ohne Gewissheit über die europäischen Nachhaltigkeitskriterien
zu haben. Das ist für sich genommen schon schwierig.
Ein weiteres Problem kommt hinzu. Wir haben Unklarheit über eine weitere Entscheidungsgrundlage,
nämlich über die Frage, ob eine höhere Quote, die der
Bundestag eigentlich vorgesehen hatte, durch eine nachhaltige deutsche Produktion erfüllt werden könnte. Es
gibt Stimmen, die sagen: Ja, das ist möglich; es ist auch
kurzfristig, schon in diesem Jahr, möglich. Es gibt aber
ebenso gewichtige Stimmen, die sagen: Nein, aus Gründen der Kapazität und der Preise ist es nicht möglich,
und eine Erhöhung der Quote würde zu mehr Biokraftstoffen aus nicht nachhaltiger Produktion führen. - Wir
haben also eine Rechnung mit mehreren Unbekannten,
und wie oft bei Rechnungen mit mehreren Unbekannten
kann man deshalb mit guten Argumenten auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Die Koalition hat sich in dieser Gemengelage dafür
entschieden, die Erhöhung für dieses Jahr um 1 Prozentpunkt zurückzunehmen und die Quote auf 5,25 Prozent festzulegen. Das wurde und das wird sicherlich
auch nachher noch kritisiert. Aber wir müssen auch die
Gegenfrage stellen: Was würde denn passieren, wenn
wir sagen würden, wir haben zwar noch keine Gewissheit, noch keine Klarheit, noch keine Rechtssicherheit,
was Nachhaltigkeitskriterien angeht, erhöhen aber trotzdem die Quote und nehmen die damit einhergehenden
Risiken in Kauf? Auch das wäre sicherlich eine schwierige Diskussion.
Ich glaube, wir können heute eines mit Gewissheit sagen: Die Diskussion um die Biokraftstoffstrategie der
Bundesregierung wird und muss sicherlich auf Wiedervorlage gelegt werden, nämlich dann, wenn wir Gewissheit über die Nachhaltigkeitskriterien der EU haben,
hoffentlich zu einem baldigen Zeitpunkt. Dann wird sicherlich nicht nur die Frage der Quote, sondern auch die
Frage der steuerlichen Behandlung der Biokraftstoffe
wieder auf den Prüfstand kommen. Heute gehen wir einen Schritt, indem wir die Steuererhöhung um 3 Cent
pro Liter zurücknehmen.
({7})
Wir werden genau diese Frage, die Sie gerade ansprechen, mit Beiträgen aus allen Fraktionen weiter diskutieren. Ich rate uns, dass wir diese Diskussion sachlich und
ohne Schwarz-Weiß-Malerei führen.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Kurt Hill für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf zunächst eine Besuchergruppe aus NordrheinWestfalen begrüßen.
({0})
Die Biospritstrategie der Regierung ist gescheitert.
Das ist eben deutlich gesagt worden, und da stimme ich
Ihnen natürlich zu, Herr Kauch. Sie wollten mit der Beimischung von Biosprit in Höhe von bis zu 10 Prozent
den Energiebauern in Deutschland unter die Arme greifen, Herr Jung. Erreicht haben Sie das Gegenteil. Die
Mineralölmultis kaufen auf dem internationalen Markt,
was billig zu haben ist. Ich sage Ihnen: Das schadet der
Umwelt. Das führt zu Raubbau und zur Vertreibung von
Menschen in den Herkunftsländern.
({1})
Wie wollen Sie kontrollieren, dass dabei keine Tropenwälder zerstört werden? Sie kriegen ja noch nicht
einmal die Preistreiberei der Spritkonzerne an den Tankstellen in den Griff. Die Ölmühlen zum Beispiel in
Mecklenburg-Vorpommern, in Rheinland-Pfalz, im Saarland oder an anderer Stelle müssen Konkurs anmelden.
Die Branche liegt am Boden, und daran wird auch die
Änderung am Gesetz nichts ändern. Ihre Biokraftstoffstrategie ist wirklich gescheitert, meine Damen und
Herren.
({2})
Die Zwangsquote ist ein Irrweg zulasten des Naturhaushaltes und des Klimaschutzes. Ziehen Sie das Gesetz
samt Änderungsvorlage zurück! Fördern Sie die heimische Biomasseerzeugung und -nutzung! Das ist nachhaltig und kontrollierbar. Damit wird der Naturhaushalt
nicht überfordert, und damit wird für zukunftssichere Beschäftigung und Wertschöpfung gesorgt.
Das Ziel muss es sein, eine Wende in der Verkehrspolitik zu organisieren. Herr Mühlstein ist darauf eingegangen. Geben Sie ein deutliches Signal an die Kraftfahrzeughersteller, dass die Zukunft nicht in großen
Geländewagen liegt!
Ein gutes Beispiel in der Verkehrspolitik ist die Ostdeutsche Eisenbahn in Berlin-Brandenburg, die ihre
Loks und Busse mit reinem Biokraftstoff betreibt. Helfen Sie den Bundesländern, einen nutzerfreundlichen öffentlichen Nahverkehr zu erhalten und auch auszubauen!
({3})
Machen Sie endlich beim Tempolimit auf den Autobahnen mit! Damit erreichen Sie für den Klimaschutz
mehr als mit dieser Beimischungsquote.
({4})
Hören Sie auf Ihre eigenen Fachleute, Herr Schmitt,
den Wissenschaftlichen Beirat „Globale Umweltveränderungen“! Ihre eigenen Berater sagen in Sachen Klimaschutz als Schlussfolgerung zum Biokraftstoffquotengesetz - ich zitiere -:
Durch die Quotenvorgaben für Biokraftstoffe werden zum Teil sogar Bioenergiepfade gefördert, die
zur Verschärfung des Klimawandels beitragen.
Weiter sagen sie:
Bioenergie darf nicht zu einer Gefährdung der Ernährungssicherheit führen oder die Zerstörung von
Regenwäldern oder anderen naturnahen Ökosystemen auslösen.
Nochmals weiter:
Der Anbau einjähriger Energiepflanzen zur Produktion von Flüssigkraftstoffen für den Verkehr ist zu
wenig an den Zielen des Klimaschutzes ausgerichtet.
Schlussendlich plädieren sie daher für einen raschen
Ausstieg aus der Förderung von Biokraftstoffen im Verkehrsbereich.
Die Linke hat sich als einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag von Anfang an gegen die Zwangsquote und
für die gezielte, aber begrenzte Förderung von reinen
Biokraftstoffen in dezentralen Strukturen ausgesprochen; denn nur regionale, in sich geschlossene Kreisläufe zur Herstellung und Verwendung von Biosprit sind
nachhaltig.
Grundsätzlich ist auch ein Umschwenken in der Bioenergieförderung erforderlich. Die Linke setzt sich deshalb für eine Stärkung der umweltverträglichen Biogasproduktion ein. Hierbei sind je Hektar für die Biomasse
genutzter Fläche der Energieertrag und somit auch der
Klimaschutzbeitrag dreimal höher als bei Agrosprit.
Biogas kann für die gekoppelte Erzeugung von Strom
und Wärme genutzt, in Fahrzeugen eingesetzt und ins
Erdgasnetz eingespeist werden.
Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Biokraftstoffquotengesetz und die hier vorliegende Änderung der
Quotenregelung müssen als untauglich und klimaschädlich abgelehnt werden.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieses Gesetz, das die Große Koalition heute verabschieden lässt, ist schlicht und ergreifend ein schlechtes
Gesetz,
({0})
und zwar schlecht für die Umwelt, schlecht für die Arbeitsplätze und schlecht für die Entwicklung unserer
ländlichen Regionen.
Besonders schlimm finde ich, dass Sie sehenden Auges eine ganze Branche ruinieren. Wir hatten in der rotgrünen Regierungszeit die Entscheidung getroffen, die
reinen Pflanzenöle steuerfrei zu stellen, weil wir unsere
Regionen, unsere bäuerliche Landwirtschaft weiterentwickeln wollten, weil wir sie unabhängiger vom Öl machen wollten, weil wir auch strukturell im ökologischen
Sinne weiterkommen wollten. Sie haben die Steuerbefreiung, die bis 2009 gegeben war, nicht durchgehalten.
Das Vertrauen derjenigen, die sich darauf verlassen haben, wurde gebrochen. Das hat die Große Koalition zu
verantworten.
({1})
Weder im Wahlprogramm der SPD noch im Wahlprogramm der Union tauchte das auf. Wenn man weiß, dass
im Bereich der Ölmühlen Investitionen von mehr als
6 Millionen Euro getätigt worden sind, dass dort
50 000 Arbeitsplätze entstanden sind, dass die technologische Entwicklung in diesem Bereich sowie bei den
Umrüstbetrieben rasant war und man in diesen neuen
Märkten an Rentabilität gewonnen hat, dann ist es fatal,
der Branche dies wieder zu nehmen. Es ist unverantwortlich angesichts der Rahmenbedingungen, die die
Politik unter ökologischen Gesichtspunkten auf dem gesamten Kraftstoffmarkt und bei den regenerativen Energien schaffen muss. Das ist unser Job. Wir haben diesen
Job ernst genommen, um etwas Positives zu tun. Die
Große Koalition macht dies wieder zunichte.
({2})
Ich halte es auch für problematisch, dass Herr
Mühlstein und die anderen Kollegen der SPD dann erklären, die Verantwortung trage die Union, weil sie sich
nicht bewegt habe, und umgekehrt vonseiten der Union
geäußert wird, die Sozialdemokraten hätten sich nicht
bewegt.
({3})
Meine Damen und Herren, man kann doch wohl erwarten, dass die Große Koalition sich zu einem positiven
Ergebnis durchringt, die Verantwortung nicht hin und
her geschoben wird und Sie alle am Ende nicht die Hand
für ein schlechtes Gesetz heben. Das muss man deutlich
sagen.
({4})
Von knapp 1 900 Tankstellen für Biodiesel sind heute
nur noch 150 übrig geblieben. Auch daran erkennt man
die Entwicklung.
Bei den Steuererhöhungen für Biodiesel haben wir
ebenfalls eine völlig falsche Entwicklung. Der Kollege
von der CDU/CSU hat hier erklärt: Statt die Steuer von
15 Cent auf 21 Cent zu erhöhen, wie wir ursprünglich
vorhatten, nehmen wir künftig nur 18 Cent. - Das ist immer noch eine 20-prozentige Steigerung der Steuerlast.
Sie tun ja so, als hätten Sie die Steuerlast gesenkt. Sie
haben sie aber noch einmal um 20 Prozent erhöht. Da
liegt das Problem. Das sollten Sie der Bevölkerung auch
klipp und klar sagen.
({5})
Die Bundesregierung hat in ihrem Zwischenbericht
im November 2008 zugegeben, dass der Biodiesel um
10 Cent pro Liter unterkompensiert, das heißt zu hoch
besteuert wird. Ihre eigene Bundesregierung hat also
darauf hingewiesen, dass es so nicht gehen kann.
Herr Kollege Kauch von der FDP hat bereits daran erinnert, dass der Bundesrat eine Stellungnahme mit der
Aufforderung eingebracht hat, auf diese Erhöhung zu
verzichten - übrigens nicht nur für 2009, sondern auch
für 2010. Auch dem sind Sie nicht nachgekommen. Alle
Agrarminister von Bund und Ländern haben gewarnt
und deutlich gemacht, dass man diese Steuererhöhung
aussetzen muss. Auch auf diese Kollegen und Kolleginnen aus Ihren eigenen Reihen hören Sie nicht.
Es ist schon ein Stück weit unfassbar, dass die Regierungskoalition sich gegen berechtigte Kritik aus den eigenen Reihen taub stellt. Selbst die berechtigte Kritik
aus den eigenen Reihen wird nicht gehört. Ich sehe heute
einige Kollegen nicht, die in den Fachausschüssen
- auch im Finanzausschuss - vor diesem Vorgehen gewarnt haben. Wahrscheinlich wollen sie sich nicht gerne
an dieser Abstimmung beteiligen. Das ist selbstverständlich ihr Recht; es spricht aber doch Bände.
Viele Betriebe sind in einer prekären wirtschaftlichen
Lage. Das wissen Sie auch. Es werden immer wieder
schöne Reden über Klimaschutzziele gehalten. Jetzt haben Sie von Entschließungsanträgen gesprochen. Entschließungsanträge sind aber keine Gesetze. Es geht darum, hier im Zusammenhang mit der Quotenregelung
und mit der Besteuerung ein Gesetz zu verabschieden.
Ich kann nur an Sie appellieren: Geben Sie Ihrem
Herzen und Ihrem Verstand einen Ruck! Stimmen Sie
diesem Gesetz nicht zu, sondern lehnen Sie es ab! Jetzt
haben Sie noch die Chance dazu.
Danke schön.
({6})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Michael Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man diese Diskussion seit geraumer Zeit verfolgt, fällt
einem schon auf, dass es am Anfang eine unglaubliche
Euphorie und danach einen unglaublichen Pessimismus
gab. Jetzt zerfällt das Ganze in Einzelpositionen.
Herr Hill, lassen Sie mich anhand eines Beispiels Ihre
Widersprüchlichkeit aufgreifen. Was Ihre Meinung zu
den reinen Kraftstoffen angeht, bin ich durchaus bei Ihnen. Es ist dann aber schwierig, die wissenschaftlichen
Institute dafür in Anspruch zu nehmen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“ - WBGU - vertritt beispielsweise
die Position, dass Biomasse im Verkehr überhaupt nicht
verwendet werden sollte. Es ist also schon sehr viel
komplizierter. Ich finde es deshalb wichtig - das will ich
gleich sagen -, diese Diskussion nicht fälschlicherweise
zu verengen und nicht beispielsweise mit der Frage
„Tank oder Teller?“ zu polarisieren, weil uns das überhaupt nicht weiterhilft.
Wir haben zwei zentrale Probleme. Bei beiden großen
Menschheitsherausforderungen - Energieversorgung
und Ernährungssicherheit - müssen wir versuchen, Kriterien zu finden - das ist der richtige Weg -, wie wir zu
einer sinnvollen, tragfähigen und dauerhaften Entwicklung kommen können. Alles andere würde sozusagen in
einem Glaubenskrieg enden. Wir brauchen klare Kriterien, die - ich weiß, dass dies das größte Problem ist verbindlich werden müssen.
Wenn man weiß, dass die Biomasse zum großen Teil
in Entwicklungsländern genutzt wird, dann erkennt man
schnell, dass unsere Einflussmöglichkeiten in vielen Bereichen relativ gering sind. Umso wichtiger ist, dass das,
was wir machen, ökologisch sauber und damit sozusagen nicht angreifbar ist. Gleichzeitig müssen wir eine
Entwicklung fördern, die einen Missbrauch im internationalen Bereich ausschließt.
Ich finde es unehrlich, wenn man die Frage der Ernährungssicherheit in der Diskussion auf den Aspekt der
Biokraftstoffe reduziert. Ich will überhaupt nicht verhehlen, dass es überaus problematische Entwicklungen gegeben hat. Eines der übelsten Beispiele dafür habe ich in
einer Anlegerzeitung entdeckt, in der es dezidiert hieß:
Das ist die Knappheit der Zukunft, hier kann man die
höchsten Spekulationsgewinne erzielen. - Das hat es geParl. Staatssekretär Michael Müller
geben. Es gab auch spekulative Einflüsse auf die Preisentwicklung in diesem Sektor.
Umgekehrt finde ich es völlig falsch, wenn man die
Ernährungsproblematik auf die Frage der Nutzung von
Biokraftstoffen reduziert;
({0})
das ist nicht korrekt. Wer die Diskussion so führt, der
muss beispielsweise auch ehrlich über die europäische
Agrarpolitik, über die gesamte Subventionspolitik und
die Zerstörung bestimmter Märkte diskutieren, die zweifellos einen ungleich höheren Einfluss auf die Preisbildung und damit auf die Ernährungssicherheit haben als
die Nutzung der Biokraftstoffe. Wir sollten allerdings
auch nicht so tun, als sei das kein Problem.
({1})
Insofern sollten wir eine etwas klarere Debatte führen,
und zwar vor dem Hintergrund vier großer Herausforderungen:
Erstens. Im letzten Jahr haben wir wieder erlebt, dass
die CO2-Emissionen deutlich stärker gestiegen sind, als
in allen Prognosen vorausgesagt wurde. Es gab einen
Zuwachs um 3,8 Prozent; das ist oberhalb jeder Prognose des Weltklimarats. Das zeigt, wie problematisch
die Entwicklung ist. Wir müssen zu anderen Formen der
Energieversorgung kommen. Hierbei hat die Bioenergie
zweifellos einen wichtigen Stellenwert. Umgekehrt müssen wir auch alles tun, um den Naturschutz zu gewährleisten. Im Bereich Klimaschutz stehen wir also vor zwei
großen Aufgaben.
({2})
Zweitens. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur wird die Energienachfrage bis 2030 um 50 bis
60 Prozent steigen. Man sieht, dass angesichts knapper
Ressourcen ein hoher Druck entstehen wird. Auch hier
können wir keine einfachen Antworten finden. Wir werden Bioenergie nutzen, aber auch die Energieeffizienz
steigern. Ich warne hier davor, das eine gegen das andere
auszuspielen.
Drittens. Dieselbe Zuspitzung ergibt sich im Bereich
Ernährung. Nach Berichten der FAO müssen wir davon
ausgehen, dass wir die Ernährungsproduktion bis zum
Jahr 2030 um 50 Prozent steigern müssen. Auch hier
wird ein unglaublich hoher Druck herrschen, den wir nur
senken können, wenn wir klare Kriterien haben.
Viertens. Es kommt zu einem unglaublichen Zuwachs
der Weltbevölkerung und zu einer weiteren Industrialisierung, und das vor dem Hintergrund, dass 2,5 Milliarden Menschen bisher keinen Zugang zu einer sicheren
Energieversorgung haben.
Angesichts dieser großen Herausforderungen warne
ich in dieser Debatte vor Schwarz-Weiß-Malerei; denn
sie hilft uns überhaupt nicht weiter, sondern führt zu einer falschen Polarisierung. Ich finde es richtig, jetzt Kriterien zu entwickeln. Die Europäische Union nimmt
hierbei eine zentrale Rolle in der Weltgemeinschaft ein.
Bei der Entwicklung der Kriterien stehen drei Fragen
im Vordergrund: Erstens: Wie sichern wir die Ernährung? Zweitens: Wie sichern wir den Naturschutz? Drittens: Wie schützen wir das Klima?
Die Nachhaltigkeitskriterien müssen vor diesem Hintergrund weiterentwickelt werden. Es ist völlig richtig
- Herr Kauch hat es schon gesagt -: Eine entsprechende
Verordnung muss sowohl die Nutzung als auch die Effizienz regeln.
({3})
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, eine Verordnung zu verabschieden, die mit Blick auf CO2-Emissionen negativ ist; sie muss eindeutig positiv sein. Eine
solche Verordnung müsste als Teil unserer Energieaußenpolitik verstanden werden.
Ich warne davor, in diesem Bereich keine ehrgeizigen
Ziele zu haben. Wenn die EU dort wackelige Kriterien
festgeschrieben hätte, hätte sich daraus auf dem Weltmarkt eine höchstproblematische Entwicklung ergeben
können.
Die Untersuchungen haben ergeben - das ist die Ausgangssituation -, dass etwa 10 Prozent des Weltenergiebedarfs mit Bioenergie gedeckt werden können. Die entscheidende Aufgabe ist, in der Europäischen Union
Kriterien zu entwickeln und durchzusetzen, die weltweit
vorbildhaft sind.
Meine Forderung ist schlicht und einfach: Führen wir
die Debatte in der nächsten Zeit so, dass wir unter ökologischen Gesichtspunkten eine Ernährungs- und Energiepolitik vorantreiben, die nach allen Seiten den Kriterien
gerecht wird.
({4})
Lassen Sie uns versuchen, in vielen Bereichen Entwicklungsfortschritte zu machen. Dazu gehört für mich auch,
dass wir noch einmal versuchen, die Steuerfreiheit für
Reinkraftstoffe im Bereich begrenzter Märkte einzuführen. Das halte ich nach wie vor für richtig.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2007 erschien ein Spiegel Special zum Thema neue Energien.
Auf dem optimistischen Titelblatt war in einem Getreidefeld eine grüne Zapfsäule zu sehen. Deren Aufschrift
lautete: AGRAL.
Die Biokraftstoffhersteller haben in den letzten Jahren
Höhen und Tiefen durchschritten. Zu Beginn hieß es:
„Hosianna!“ und danach: „Kreuzigt ihn!“ Aus „Freedom
Fuel“ wurde Teufelszeug, das auf Kosten der Regenwälder angebaut wird und die Anbaufläche für Lebensmittel
verringert. Der Euphorie der Anfangsjahre - ich glaube,
die Bemerkung, die Landwirte seien die Ölscheichs der
Zukunft, stammt von Frau Künast - folgten Ablehnung
und Desillusionierung.
Die Wahrheit liegt aber wie immer in der Mitte. Ja, es
ist richtig: Biomasse wird in manchen Schwellenländern
unter zum Teil haarsträubenden Bedingungen erzeugt.
Das betrifft auch die Arbeitsbedingungen auf den Feldern und Plantagen. Misereor hat uns das drastisch dargestellt. Biokraftstoffe haben aber, wenn sie richtig erzeugt und angewandt werden, ein enormes Potenzial,
über das auch wir in Deutschland in nicht unbedeutendem Umfang verfügen. Langsam versiegen die westlichen Ölreserven, und wir werden immer abhängiger von
weniger stabilen Regionen in der Welt, in denen es auch
längerfristig noch Erdöl geben wird. Unsere heimischen
Biokraftstoffe machen uns zwar nicht zu Ölscheichs,
aber doch deutlich unabhängiger von diesen Regionen.
Biokraftstoffe ermöglichen Diversifizierung bei den
Versorgungsregionen und den Energieträgern. Sie tragen
daher in besonderem Maße zur Versorgungs- und Energiesicherheit Deutschlands und Europas bei. Auch ermöglichen sie es, dass wirtschaftliche Wertschöpfung,
die bisher im Ausland stattfand, zumindest teilweise
nach Deutschland verlagert wird. Damit wird der ländliche Raum gestärkt und gestützt.
Beziehen wir die Biomasse für die Biokraftstoffe dagegen aus Schwellen- und Entwicklungsländern, dann
stellt sich sofort die Frage der Nachhaltigkeit. Deshalb
ist die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs
auch von so großer Dringlichkeit. Das Biokraftstoffquotengesetz wird die notwendige Ermächtigungsgrundlage
für den Erlass der dringend benötigten Nachhaltigkeitsverordnung beinhalten, die in der zweiten Jahreshälfte in
Kraft treten könnte.
Dass Biomasse nur dann zur Herstellung von Kraftstoffen Verwendung findet, wenn die Nachhaltigkeit ihrer Erzeugung und Verarbeitung gesichert ist, ist aus
Sicht der CDU/CSU-Fraktion unerlässlich. Deshalb haben wir im Gespräch mit Herrn Bundesminister Gabriel,
aber auch in den Gesprächen mit den Staatssekretären
deutlich Wert darauf gelegt und den von Ihnen vorgelegten Fahrplan für eine Nachhaltigkeitsverordnung zur
Grundbedingung für unsere Zustimmung zum Gesetz
gemacht.
Unsere nationale Diskussion über das Thema Nachhaltigkeit hat übrigens auch bei den vielgescholtenen
Palmölproduzenten, zum Beispiel in Malaysia, Eindruck
hinterlassen. Ich hoffe, dass es dort und natürlich auch
weltweit gelingt, in Zukunft nachhaltig zu produzieren
sowie die hierfür notwendigen Zertifizierungssysteme so
aufzubauen, dass ein objektiver Nachweis erbracht werden kann. Das Konzept hierzu, welches die malaysische
Regierung vor wenigen Wochen in Berlin präsentierte,
scheint mir ein Schritt in die richtige Richtung zu sein.
All denjenigen, die Biokraftstoffe in die Ecke stellen,
muss gesagt werden, dass Biokraftstoffe eine preisstabilisierende Wirkung haben können. Im letzten Jahr, am
3. Juli 2008, erreichte der Ölpreis sein bisheriges Allzeithoch mit 145,29 US-Dollar. Laut Presseveröffentlichungen hätte der Preis um bis zu 15 Prozent höher, bei
167 US-Dollar, liegen können, wenn uns nicht die Biokraftstoffe als preisdämpfender Faktor zur Verfügung
gestanden hätten. Berücksichtigt man zusätzlich die Tatsachen, dass mehr als 50 Prozent aller Privathaushalte in
Deutschland mit Erdgas heizen und dass der Erdgaspreis
- wenn auch zeitlich verzögert - an den Ölpreis gekoppelt ist, dann steht fest: Der kalte Winter 2008/2009 wäre
für die Mehrzahl der deutschen Haushalte ohne Biokraftstoffe noch teurer geworden, als er ohnehin schon war.
Die Konkurrenz mit dem immer unberechenbareren
Ölpreis ist zugleich ein Fluch für die Hersteller von Biokraftstoffen. Fällt der Preis für Öl oder steigt der Preis
für Getreide, Raps oder andere Grundstoffe, dann sind
Biokraftstoffe, wenn sie nicht beigemischt werden müssen, nicht mehr wettbewerbsfähig. Dies kann je nach
Marktlage dazu führen, dass es sich von Woche zu Woche ändert.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ermöglicht das, was in der verbleibenden Zeit
dieser Legislaturperiode noch erreichbar ist. Bei aller berechtigten Kritik an den schwerwiegenden handwerklichen Fehlern, die im ersten Anlauf im letzten Jahr im
BMU gemacht wurden, scheint der zweite Anlauf trägfähig zu sein,
({0})
insbesondere deshalb, weil die Quote, die im Entwurf
des BMU ursprünglich auf 4,8 Prozent abgesenkt war,
durch den Koalitionsausschuss auf Initiative der Union
auf 5,25 Prozent angehoben wurde. Ebenfalls auf unsere
Initiative wurde ein Anstieg der Besteuerung für 2009
von 6 auf 3 Cent pro Liter begrenzt.
Schließlich werden wir in den kommenden Wochen
das sogenannte Hydrotreating, insbesondere von Palmund Sojaprodukten, unter Parlamentsvorbehalt stellen.
Dies schützt den Mittelstand vor Wettbewerbsnachteilen,
da dieser das Hydrotreating nicht einsetzen kann. Zudem
wird beim Hydrotreating erheblich mehr Energie verbraucht als bei der Herstellung des fossilen Diesels.
Mehr können wir in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode bei gleichzeitig notwendiger Notifizierung in Brüssel nicht erreichen. Der vorliegende Gesetzentwurf legt die Grundlage für nachhaltige Erzeugung,
insbesondere dafür, dass keine Biomasse mehr nach
Deutschland gelangt, für deren Herstellung Wälder gerodet wurden. Ebenso schafft er bei der Quote endlich wieder Klarheit für die verunsicherten Branchen. Weiterhin
wird die mittelständische Mineralölwirtschaft durch den
Parlamentsvorbehalt für Hydrotreating geschützt werden.
Lassen Sie uns deshalb jetzt diesen wichtigen Schritt
gemeinsam gehen, und stimmen Sie bitte dem vorliegenden Gesetzentwurf zu! In der kommenden Wahlperiode
werden wir das Thema erneut behandeln; denn in Einzelfragen besteht noch großer Diskussionsbedarf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen. Zu diesem
Gesetzentwurf liegen uns etliche Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12465, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11131 und
16/11641 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit der Mehrheit der Stimmen der SPD
und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Opposition
angenommen.
({0})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({1})
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der
Mehrheit der Stimmen der SPD und der CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Opposition und etlichen Enthaltun-
gen aus den Reihen der Fraktion der SPD angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12465 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Bio-
kraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien um-
gehend einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12699, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5679
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen des Bündnis-
1) Anlagen 2 bis 4
ses 90/Die Grünen und der FDP und bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({3}), Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage
durch Europaparlamentarier entscheiden
lassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments gänzlich in Brüssel und Tagungen des
Europäischen Rates in Straßburg abhalten
- Drucksachen 16/9427, 16/8051, 16/9697 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth ({4})
Dr. Diether Dehm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Roth, SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Telefonieren in Europa wird günstiger. Die Handytarife sinken deutlich ab Juli dieses Jahres. Offen gestanden würde ich über dieses erfreuliche Thema, das unmittelbar mit dem konkreten Handeln der Europäischen
Union verknüpft ist, lieber reden. Da der Bericht über
die Ergebnisse der Ausschussberatungen allerdings jetzt
vorgelegt wurde, möchte ich mich stellvertretend für
meine Fraktion einer Frage widmen, mit der wir uns und
mit der sich Europäerinnen und Europäer schon seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten auseinandersetzen: der Frage
des Sitzes des Europäischen Parlamentes.
Sie alle wissen: Es gibt Themen, die sich reinen Kostenargumenten, reinen Finanzargumenten oder einer rein
ökonomischen Sichtweise entziehen. Wer wüsste das
besser als wir? Erinnern wir uns an das Jahr 1991, als der
Deutsche Bundestag in Bonn heftig und intensiv über
den Sitz von Bundestag und Bundesregierung beraten
und dann eine knappe Entscheidung getroffen hat. Damals wurde ein Kompromiss gefunden, der heute nicht
wenigen, zu denen auch ich mich zähle, nicht unbedingt
Michael Roth ({0})
schmeckt. Denn ein Teil der Bundesregierung mit vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befindet sich immer
noch in Bonn und nicht am Sitz des Deutschen Bundestages.
Ich beschreibe das deshalb in dieser Ausführlichkeit,
weil wir alle uns in dieser Frage - ganz gleich, wie wir
uns persönlich positionieren - eine gewisse Zurückhaltung auferlegen sollten;
({1})
denn bei diesem Thema geht es auch um Emotionen und
um nationale und europäische Symbole. Wer will den
Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich verdenken,
dass sie sich selbstverständlich mit sehr viel Herzblut
und aus tiefster Überzeugung für die europäische Stadt
Straßburg als Sitz des Europäischen Parlamentes einsetzen?
({2})
Wer will ihnen das verübeln?
Dennoch sage ich ganz persönlich - darüber haben
wir auch im Ausschuss diskutiert, und dem stimmen sicherlich viele Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig
in Straßburg oder Brüssel weilen, zu -, dass viele gute
Gründe für einen Sitz des Europäischen Parlamentes
sprechen, und zwar in Brüssel.
In Brüssel sitzen die Europäische Kommission und
der Ministerrat, und dort arbeiten und wirken viele andere Akteure, die mit der Europapolitik verbunden sind.
Aber so einfach ist es nicht, vor allem deshalb, weil es
hier nicht um das Interesse eines Mitgliedstaates allein
geht. Im Vertrag von Maastricht ist ausdrücklich geregelt, dass der Rat über die Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments einstimmig zu befinden hat. Das haben
wir zu respektieren. Deswegen sind nationale Alleingänge in dem Sinne, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, in Brüssel, im Europäischen Rat oder im Ministerrat, einmal richtig auf den Putz zu hauen, nur
begrenzt erfolgversprechend. Das wissen auch alle. Das
hat auch schon der eine oder andere Kollege im Europaausschuss gesagt.
Die Debatte kommt, selbst wenn sie aus vielerlei
Gründen durchaus nachvollziehbar sein mag, zur Unzeit.
Wir alle wissen, dass wir momentan ein großes Projekt
zu stemmen haben, mit dem sich viele von uns seit Jahren beschäftigen. Es geht um die Frage: Wie geht es in
der Europäischen Union institutionell und programmatisch weiter? Der Vertrag von Lissabon ist immer noch
nicht von allen ratifiziert. Es gibt, wie wir wissen, immer
noch große Probleme in Tschechien, und in Irland steht
uns ein zweites Referendum bevor. In Deutschland steht
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch
aus. Ob es hilfreich ist, gerade in dieser schwierigen
Phase europäischen Handelns die Frage des Sitzes des
Europäischen Parlaments aufzubringen und damit das
Tableau endgültig zu überfrachten, daran haben ich und
viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur meiner Fraktion erhebliche Zweifel.
({3})
Das muss bei allem Respekt gegenüber den Kolleginnen
und Kollegen von FDP und Grünen, die diese Anträge
erarbeitet haben, deutlich gesagt werden.
Lassen Sie mich ein Letztes hinzufügen, das deutlich
macht, wie weit Anspruch und Wirklichkeit manchmal
auseinanderliegen. Erinnern Sie sich noch an unseren
Antrag zu dem sogenannten Agentur-Unwesen in der
Europäischen Union
({4})
und daran, dass auch in Deutschland gleich die Finger
hochgingen, als eine neue Agentur - wie beispielsweise
das Europäische Technologieinstitut -, eine neue EU-Institution aus der Taufe gehoben wurde? Sind wir heute
nicht alle stolz darauf, dass Frankfurt am Main Sitz der
Europäischen Zentralbank, einer ganz bedeutenden europäischen Institution, ist? Ist es nicht selbstverständlich,
dass zu einem föderalen Aufbau der Europäischen Union
gehört, dass Institutionen, Organisationen, Behörden
nicht in einer einzigen Stadt gebündelt sind? Im Übrigen
ist das auch in Deutschland nicht so. Es macht doch gerade die Vielfalt und die Stärke Europas aus, wenn sich
alle Bürgerinnen und Bürger dem vereinigten Europa
durch die Ansiedlung einer Institution oder eines Organs
verbunden fühlen können.
Deshalb bitte ich in der sich anschließenden Debatte
um ein gewisses Maß an Zurückhaltung und an Toleranz
denjenigen gegenüber, die Gründe dafür finden, warum
Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments durchaus eine Daseinsberechtigung hat.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Daniel Volk,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Michael Roth hat in seiner Rede eine Parallele
zum Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach
Berlin gezogen.
({0})
Diese Parallele ist falsch.
({1})
Denn im Gegensatz zum Europäischen Parlament durfte
der Bundestag selbst entscheiden. Wir als FDP wollen,
dass auch das Europäische Parlament selbst entscheiden
darf, wo es seinen Sitz haben will.
({2})
Gerade einmal zwölfmal im Jahr tagt das Plenum des
Europäischen Parlaments für jeweils vier Tage an seinem offiziellen Sitz in Straßburg. Brüssel, wo nicht nur
Ausschüsse, Fraktionen und andere parlamentarische
Gremien tagen, sondern auch die Kommission und der
Rat ihren Sitz haben, ist jedoch der wichtigste Arbeitsort. Deshalb tritt das Parlament regelmäßig in Brüssel
zusammen. Zu guter Letzt befindet sich fernab von der
eigentlichen parlamentarischen Arbeit in Luxemburg das
Generalsekretariat des Europäischen Parlaments. Damit
ist das Europäische Parlament weltweit das einzige Parlament, das nicht nur einen, sondern gleich drei offizielle
Standorte in drei verschiedenen Ländern hat.
Was hat das zur Konsequenz? Zurzeit werden in drei
Städten insgesamt 22 Gebäude unterhalten, darunter
zwei voll ausgestattete Plenargebäude. Hinzu kommen
für jeden der 785 Abgeordneten und deren Mitarbeiter je
ein Büro in Brüssel und in Straßburg. Auch das Parlamentssekretariat muss in beiden Städten zusätzliche Gebäude unterhalten. Dies macht unter dem Strich mehr als
4 800 Büros in Brüssel, 2 650 Büros in Straßburg und
2 000 Büros in Luxemburg. Außerdem sind 785 Abgeordnete und mehr als 3 000 Mitarbeiter zwölfmal im
Jahr Teil eines riesigen Wanderzirkus,
({3})
bei dem nicht nur sie zwischen Brüssel und Straßburg
pendeln, sondern auch das jeweils benötigte Aktenmaterial mit Lastwagen von einem Standort zum anderen
transportiert wird.
({4})
Das ist nicht nur ein unglaublicher Verlust an Arbeitszeit. Hier werden auch Unmengen an Kapazitäten und
damit Steuergelder verschwendet;
({5})
denn die Straßburger Gebäude werden nur an insgesamt
knapp 50 Tagen im Jahr genutzt und stehen im Übrigen
leer, übrigens bei vollen Unterhaltungskosten.
Die angesprochenen Gesamtkosten belaufen sich an
den drei verschiedenen Standorten auf rund 250 Millionen Euro im Jahr. Nun wurden wir in den letzten Monaten wegen der Finanzkrise mit schwindelerregend hohen
Zahlen konfrontiert, gegen die 250 Millionen Euro möglicherweise lächerlich wirken. Aber ich setze es Ihnen
einmal in Relation: 250 Millionen Euro sind mehr als
15 Prozent des Gesamtbudgets des Europäischen Parlaments. Mit 250 Millionen Euro könnten Sie weitere
100 000 Autokäufer mit Ihrer famosen Abwrackprämie
beglücken. Oder tun Sie doch einmal etwas für die Zukunft: Sie könnten jedem Neugeborenen zum Start ins
Leben 370 Euro schenken. Sie könnten das Geld aber
auch einfach - das mag für Sie, liebe Kollegen von den
Steuererhöhungsparteien, jetzt wie ein Fremdwort klingen - nur sparen und damit Steuern senken.
({6})
Der eigentliche Skandal ist allerdings, dass das Europäische Parlament, Vertreter des Souveräns, nämlich der
europäischen Bürger - in jeder Demokratie das höchste
Organ -, als einziges Parlament in Europa nicht selbst
über seinen Sitz bestimmen darf, sondern ein fremdbestimmter Wanderzirkus ist.
({7})
Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir Liberale daher
dem Europäischen Parlament nicht vorschreiben, wo es
seinen ausschließlichen Sitz zu beziehen hat. Wir wollen
dem Europäischen Parlament endlich das ureigene Recht
geben, darüber selbst zu entscheiden.
({8})
Sachlich ist diese Aufspaltung des parlamentarischen
Betriebs auf drei Standorte und die damit verbundene offensichtliche Verschwendung öffentlicher Mittel nicht
mehr zu rechtfertigen. Den Bürgerinnen und Bürgern in
unserem Land ist dieses Verhalten schon lange nicht
mehr zu vermitteln. Deshalb ist diese Frage bei allen Argumenten, die heute hier im Raum stehen, eine schwere
Hypothek für das Ansehen der Europäischen Union und
ihrer Institutionen. Sie sollten das öffentliche Interesse
an dieser Frage nicht unterschätzen. Nicht umsonst hat
die von der liberalen Europaabgeordneten und heutigen
schwedischen Europaministerin Cecilia Malmström ins
Leben gerufene One-Seat-Initiative in weniger als sechs
Monaten weit mehr als 1 Million Unterstützer gefunden.
Als Fazit bleibt festzuhalten: eine massive Verschwendung von Steuergeldern, ein immenser bürokratischer Aufwand und der Wunsch der Europaabgeordneten, nur noch an einem Ort zu tagen.
({9})
Geben wir den Abgeordneten doch endlich die Freiheit,
diesen Irrsinn beenden zu können, und suchen wir nicht
immer weiter nach Ausreden, warum das gerade nicht
gehe! Die berechtigte Kritik an der unhaltbaren Aufspaltung sollte endlich ernst genommen werden, und es
sollte die Voraussetzung für eine sinnvolle Regelung geschaffen werden. Dies wird aber nur gelingen, wenn das
Recht, über die Sitzfrage zu entscheiden, auf eine breite
parlamentarische Grundlage gestellt wird.
({10})
Dies ist keine Angelegenheit von Regierungen, die
mit einem Veto nationale Sonderinteressen durchsetzen
können, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Ganzes. Außerdem geht es um die
Frage, ob wir dem Europäischen Parlament endlich die
Hochachtung einräumen, die wir auch jedem anderen
Parlament geben. Das Europäische Parlament soll, wie
jedes andere Parlament auch, nur noch an einem Ort tagen, und es sollte diesen Sitz nicht vorgeschrieben bekommen, sondern alleine darüber entscheiden dürfen.
Vielen Dank.
({11})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Thomas Dörflinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir einen neutralen, klugen Kopf mit der Analyse von Arbeitsbedingungen verschiedener Parlamente innerhalb der
Europäischen Union beauftragen würden, dann käme er
vermutlich zu auch für uns überraschenden Erkenntnissen. Ich meine das insbesondere hinsichtlich der infrastrukturellen Voraussetzungen, unter denen diese Parlamente arbeiten. Insofern steht sowohl in dem Antrag der
FDP als auch in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus etwas Sinnvolles.
({0})
Unter den vielen Parlamenten hat das Europäische
Parlament aufgrund seiner drei Sitzungsorte - sagen wir
es vorsichtig - erschwerte Arbeitsbedingungen gegenüber vergleichbaren nationalen Parlamenten.
Ich nehme mir die Ratschläge unseres Koalitionspartners ja nicht immer zu Herzen, aber den Ratschlag, eine
zurückhaltende Debatte zu führen, Herr Kollege Roth,
will ich einmal ausdrücklich aufgreifen. Wir sind zwar
zweifelsohne die Vertreterinnen und Vertreter des höchsten deutschen Parlaments, aber mit meinem Urteil darüber, Herr Kollege Dr. Volk, ob uns damit auch das
Recht zuwächst, quasi im Stile eines Zensors über die
Bedingungen von Kolleginnen und Kollegen zu richten,
die in anderen Parlamenten arbeiten, wäre ich zurückhaltend.
({1})
Weil wir eine Debatte im Grundsatz führen, will ich
auch noch einmal einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen, damit klar wird, aus welchem Grund wir
und die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament heute mit diesen drei Sitzungsorten arbeiten müssen bzw. dürfen. Das geht zurück auf die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im
Jahre 1952, bei der Straßburg als Tagungsort festgelegt
wurde. Später, im Fusionsvertrag der Gemeinschaft von
1965, wurde Straßburg als Parlamentssitz bestätigt.
Brüssel wurde als Standort von Rat und Kommission
und Luxemburg als Standort des Europäischen Gerichtshofs und der Parlamentsverwaltung benannt. Das fiel
also nicht vom Himmel.
Wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, als
würden wir daran über eine einfache parlamentarische
Initiative, auf die sich dann eine breite Mehrheit in diesem Hause stützen könnte, und durch die Aufforderung
der Bundesregierung kurzfristig etwas ändern können;
denn neben der Historie ist in diesem Falle auch ein
Blick auf die Rechtslage hilfreich.
In diesem Fall geht es um Art. 289 EG-Vertrag. Dort
sind diese drei Standorte unmittelbar festgelegt, ob uns
das gefällt oder nicht. Ich persönlich kann durchaus mit
Kritik an dem Status quo leben, da ich ihn wirklich nicht
für optimal halte. Wir müssen aber zunächst einmal mit
der Rechtslage leben, und dazu gehört - darauf hat der
Kollege Roth schon hingewiesen -, dass die Entscheidung unter das europäische Primärrecht fällt und dass insofern Einstimmigkeit unter den 27 Mitgliedstaaten im
Rat erforderlich ist.
Angesichts der Tatsache, dass diese Einstimmigkeit
benötigt wird, glaube ich nicht, dass es der Gesamtbeantwortung dieser Frage dienlich ist, wenn ein einzelnes nationales Parlament - auch dann nicht, wenn es das deutsche ist, und zwar aufgrund des besonders guten
Verhältnisses zu Frankreich - einen nationalen Vorstoß
unternimmt.
({2})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir uns in
diesem Hohen Hause vermutlich weitgehend oder vielleicht sogar vollständig darüber einig sind, dass das Europäische Parlament in Zukunft auf jeden Fall nur einen
Parlamentsstandort und nicht mehrere haben sollte. Wir
mögen uns darüber unterhalten, welcher der bisher drei
Standorte es in der Zukunft sein sollte; dann sind wir mit
der Einigkeit wahrscheinlich schon wieder am Ende. Damit sind wir im Deutschen Bundestag nicht alleine; auch
bei den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen
Parlaments gibt es in dieser Frage ein breites Meinungsspektrum, um das einmal vorsichtig zu formulieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es mir
nachsehen, dass ich als Südbadener mit besonderer geografischer und auch emotionaler Nähe zu Frankreich und
aufgrund der Tatsache, dass wir unseren direkt gewählten europäischen Abgeordneten 1979 ins benachbarte
Straßburg entsenden konnten, eine besondere Sympathie
für Straßburg habe, und zwar auch deshalb, weil Straßburg zur Genese des Europäischen Parlaments gehört
und ein Stück weit für eine gute Parlamentsgeschichte
auf der europäischen Ebene steht. Die Position der französischen Regierung und bestimmt auch der Kolleginnen und Kollegen aus der Assemblée nationale hierzu
kann ich durchaus nachvollziehen.
({3})
Ich gebe zu, man kann aus Gründen der Synergie und
der Effizienz durchaus auch zugunsten von Brüssel argumentieren. Ich sage aber noch einmal: Da wir im Rat
Einstimmigkeit brauchen und wenn es unser gemeinsamer Wille ist, dass wir schlussendlich zu einer Lösung
kommen, die tatsächlich nur einen Standort präferiert,
sollten wir unser Augenmerk darauf richten, dass wir
auch mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments - vorzugsweise jeder mit seiner Fraktion - intensive Gespräche darüber führen, wie die Situation in Zukunft aussehen soll. Wir führen diese
Gespräche nicht auf dem politischen Marktplatz, sondern vorzugsweise hinter verschlossenen Türen und
weitgehend intern, weil dies - ich habe darauf hingewieThomas Dörflinger
sen - insbesondere aus Sicht der französischen Regierung ein hochsensibles Thema ist, und zwar nicht nur für
die Kolleginnen und Kollegen aus dem Elsass, sondern
für Gesamtfrankreich. Wenn die Bundeskanzlerin tatsächlich in einiger Zeit mit dem französischen Staatspräsidenten ein Gespräch unter vier Augen darüber führen
sollte, was man zukünftig an den Parlamentsstandorten
auf europäischer Ebene zu ändern gedenke, und sich der
Deutsche Bundestag am Schluss der heutigen Debatte
darauf einlassen würde, eine Entschließung zu verabschieden, die die Entscheidung der französischen Regierung sozusagen vorwegnimmt, dann sind diese Gespräche zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel
zumindest in diesem Punkt bestimmt nicht sonderlich erfolgversprechend.
({4})
Ich möchte einen Punkt hinzufügen - denn ich sagte
vorhin, wir seien nicht die Zensoren für andere europäische Parlamente; lassen Sie mich dies in der notwendigen Deutlichkeit auch vor dem Hintergrund der einen
oder anderen Äußerung aus dem Europäischen Parlament in den letzten Tagen sagen -: Ich erwarte, dass die
Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments
in ihren Reihen eine engagierte Debatte erstens darüber
führen, wie die Struktur der Parlamentsstandorte künftig
aussehen soll, und zweitens darüber, wo es zukünftig
rein geografisch langgehen soll.
({5})
Dies wäre dann die Grundlage für zukünftige Verhandlungen; denn wir brauchen an dieser Stelle einen Beschluss des Europäischen Rates.
Ich will auf Michael Roth zurückkommen, der im Zusammenhang mit der Forderung, Straßburg zur Disposition zu stellen, auf den Standort der Europäischen Zentralbank hingewiesen hat. Ich erinnere mich deswegen
sehr gut an die damalige Debatte, weil ein Argument der
Bundesrepublik Deutschland insbesondere war, dass mit
dem Standort Frankfurt, wo die Deutsche Bundesbank
bis zu diesem Zeitpunkt für die Stabilität der D-Mark
eingetreten ist, sozusagen eine Analogie dafür hergestellt
werden könnte, dass sich die Europäische Zentralbank
anschließend in gleicher Weise für die Stabilität des
Euro einsetzt, und zwar auch emotional und atmosphärisch.
({6})
Insofern habe ich für all diejenigen großes Verständnis,
die sagen, Straßburg stehe für einen guten Teil der Geschichte des Europäischen Parlaments und dürfe nicht
einfach mir nichts, dir nichts zur Disposition gestellt
werden.
Ich wurde eben im Kollegenkreis darauf hingewiesen
- auch mir ist dies aufgefallen -, dass über die Frage des
Sitzes des Europäischen Parlaments eine Debatte im Parlament immer dann geführt wird, wenn die Europawahl
unmittelbar bevorsteht.
({7})
Ich unterstelle niemandem irgendetwas. Aber angesichts
dessen, dass wir am 23. April diese Debatte führen und
die Wahlen zum Europäischen Parlament am 7. Juni des
gleichen Jahres stattfinden, liegt der Verdacht nahe, dass
das eine mit dem anderen in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen könnte; ich formuliere hier bewusst sehr
vorsichtig.
({8})
Ich wünschte mir, dass wir angesichts der Tatsache,
dass wir als Deutscher Bundestag an dem von uns für die
Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments
als unbefriedigend angesehenen Zustand nichts ändern
können, zumindest im Benehmen mit ihnen daran arbeiten, im Rahmen dessen, was uns möglich ist, für Verbesserungen zu sorgen. In der jüngsten Vergangenheit gab
es durchaus Initiativen, die wir hätten nutzen können.
Ich erinnere beispielsweise an eine Initiative aus der
Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen
Parlament - sie ist gerade ein paar Tage alt -, in der vorgeschlagen wird, die sogenannten Minisitzungen in
Brüssel auf ein Mindestmaß zu beschränken und so den
Aufwand für Logistik und Transport - ich meine, den
Personal- und Gepäcktransport von A nach B - nach
Möglichkeit einzuschränken und am Standort Straßburg
zu konzentrieren. Dann könnten wir
Herr Kollege Dörflinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alexander Ulrich?
- lassen Sie mich diesen Satz noch zu Ende bringen,
Frau Präsidentin; dann gerne - den Vorschlag der EVP
zum Gegenstand einer Debatte machen, um im Rahmen
dessen, was möglich ist, in Straßburg, Brüssel und Luxemburg für Verbesserungen zu sorgen.
Jetzt gerne, Herr Kollege Ulrich.
Vielen Dank. - Kollege Dörflinger, es ist sehr lobenswert, dass Sie sich Gedanken machen, ob gewisse Anträge und Formulierungen dem Europawahlkampf geschuldet sind. Sie wissen aber so gut wie ich, dass
gerade die CSU immer Volksentscheide abgelehnt hat.
Ich habe keinen neuen. Günther Oettinger ist noch im
Amt.
- der neue Ministerpräsident der CSU - mittlerweile
sagt, man solle auch bei wichtigen europapolitischen
Entscheidungen Volksentscheide durchführen?
({0})
Glauben Sie nicht auch, dass Ihr Partner in der CDU/
CSU-Fraktion den Europawahltermin zu sehr im Blick
hat?
Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was Ihre Frage mit
dem Inhalt der Debatte zu tun hat, die wir gerade führen.
Der Vorschlag von Horst Seehofer, über den man unterschiedlicher Auffassung sein kann - das will ich durchaus zugeben -,
({0})
bezog sich darauf, dass wir beispielsweise den Reformvertrag von Lissabon auch in der Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen eines Plebiszits bestätigen bzw.
ratifizieren. Diese Auffassung teile ich persönlich nicht.
({1})
Ich halte das Ratifizierungsverfahren des Deutschen
Bundestags für zielführend.
Gegenstand der Debatte, die wir heute führen, ist die
Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments. Wir sind
uns über die Fraktionsgrenzen hinweg weitgehend einig,
dass dies eine Entscheidung ist, die das Europäische Parlament selbst fällen sollte. Da aber die Rechtslage nach
Art. 289 des EG-Vertrages dem gegenwärtig entgegensteht, tragen Anträge wie die vorliegenden relativ wenig
- außer zu einer zugegebenermaßen spannenden Debatte - zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der
Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament
bei. Dazu hat leider auch Ihre Zwischenfrage keinen wesentlichen, erhellenden Beitrag geleistet, Kollege Ulrich.
Ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns keine Schaufensteranträge einbringen. Lassen Sie uns im Benehmen
mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen
Parlaments darüber nachdenken, was uns im Rahmen
dessen, was uns vorgegeben ist - wir können die Rechtslage auch durch noch so gute Anträge unabhängig davon, wann der Vertrag von Lissabon in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wird, nicht innerhalb der
nächsten 14 Tage oder drei Wochen ändern -, möglich
ist. Lassen Sie uns im Benehmen mit den Kolleginnen
und Kollegen in Straßburg, Brüssel und Luxemburg darüber nachdenken, welche Verbesserungen wir unter den
gegebenen Umständen erreichen können. Wir sollten
aber nicht den Eindruck erwecken, als wenn wir mit
Schaufensterdebatten und Schaufensteranträgen im
Deutschen Bundestag irgendetwas an dieser Situation
ändern könnten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen
Dr. Diether Dehm.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir teilen die Meinung, dass das Europäische Parlament nicht
mehr drei offizielle Standorte haben soll. Die Reduktion
auf einen einzigen Standort würde sicherlich Synergieeffekte und andere Vorteile mit sich bringen. Der Inhalt
ginge also in Ordnung.
Dennoch bleibt das, was FDP und Grüne vorgelegt
haben, ein Schaufensterantrag, solange Sie mit der CDU/
CSU und der SPD immer noch verzweifelt für den gescheiterten Lissabon-Vertrag kämpfen, der Ihrem Antrag
nämlich eklatant widerspricht. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Im Protokoll Nr. 6 zu den europäischen Verträgen wurde ausdrücklich geregelt, dass die
Tagungsorte Straßburg und Brüssel bestehen bleiben.
Nahezu unverändert wurde das in den Vertrag von Lissabon übernommen. Es bleiben also beide Arbeitssitze des
Europäischen Parlaments bestehen. Grüne und FDP haben dem noch vor wenigen Wochen zugestimmt. Ihre
vorliegenden Anträge, in denen Sie so tun, als wollten
Sie einen Ort einsparen, sind wohl eher in Verbindung
mit dem Europawahltermin zu sehen - hier kann ich dem
Vorredner nur zustimmen - und sind deswegen nichts
anderes als pure Augenwischerei. Einem solchen Populismus kann eine seriöse Kraft wie die Linke selbstverständlich nicht zustimmen.
({0})
Deswegen sagen wir Nein zu beiden Anträgen.
({1})
- Michael Roth ist übrigens genauso eine seriöse Kraft
wie die Linke, die sich immer gegen Populismus wehrt.
Jetzt, in einer solchen Krise, deren Ausmaß Sie vor
der Wahl herunterspielen, aber deren Dimension alle bisherigen Vorstellungen übertreffen dürfte, kommen Sie
mit einem solchen - verzeihen Sie - Pipifaxantrag. Reden wir also nicht über Schaufenster, sondern über das
Ladeninnere der EU. Eine Krisenlösung in der EU hat
nichts von solchen populistischen Anträgen nach dem
Motto „Politik und besonders Demokratie könnten zu
viel Geld kosten“. Nötig ist jetzt ein Konjunkturprogramm, das seinen Namen verdient, wie es Nobelpreisträger Paul Krugman von der EU gefordert hat. Die
Linke will eine europäische Wirtschaftsregierung, damit
die Superreichen und Finanzjongleure endlich besteuert
werden.
({2})
Statt der kaufkraftfeindlichen EU-Aufwärtsspirale der
Mehrwertsteuer bei Konsum und Realwirtschaft brauchen wir eine europaweite Mehrwertsteuer auf Börsenumsätze; das ist gefordert.
({3})
Was wir brauchen, ist eine Europäische Zentralbank, die
die Geldpolitik in den Dienst von Löhnen, Arbeitsplätzen und Wachstum stellt, statt einseitig auf Geldstabilität
fixiert zu sein.
({4})
Wenn Herr Steinbrück zum jetzigen Zeitpunkt eine
Inflationsdebatte lostritt
({5})
- ich schaue sehr genau auf das Datum, Herr Eisel - und
sich wegen der Inflationsgefahr den Anstrengungen
Barack Obamas und denen wichtiger EU-Staaten verweigert, dann ist das so, als ob er die Wasserspritze beim
Löschen eines brennenden Hauses drosseln möchte und
vor der Gefahr einer Überschwemmung warnte. Sie sprechen nicht über die wirklichen Rechte des EU-Parlaments
in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen - diese
Rechte werden auch im Lissabon-Vertrag nicht angemessen gestärkt -, sondern Sie legen hier zwei Schaufensteranträge vor, um den Wählerinnen und Wählern etwas Distanz und Korrektur an der jetzigen EU
vorzugaukeln. Die Bundesregierung muss ihre europafeindliche Bremserfunktion bei der Krisenbewältigung
aufgeben, wofür Paul Krugman Frau Merkel „Miss
Nein“ nennt und Herrn Steinbrück Holzköpfigkeit vorwirft.
({6})
Solange diese EU die Superreichen, das große Finanzkapital und seine Grundfreiheiten über die Mitbestimmungsrechte bei VW, die Tariflohnbindung im Baugewerbe, die von den Gewerkschaften erkämpften
Sozialstandards und die Kleinunternehmen, die jetzt in
ein grausames Insolvenzdomino geraten, setzt, werden
Sie mit solchen Placeboanträgen nichts bewirken. Solange Sie am gescheiterten Lissabon-Vertrag festhalten
und die beiden teuren Standorte Straßburg und Brüssel
festschreiben, bleibt auch das Finanzkasino in Europa
geöffnet und bleiben die Herzen und Köpfe der Menschen gegenüber der EU verschlossen. Wir wollen ein
soziales und friedliches Europa, das die Menschen in einer Volksabstimmung einmal wissend bejahen werden.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Alexander, habt ihr intern solche Probleme, dass ich
das machen muss?
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zur Klarstellung - auch für die Besucherinnen und Besucher dieses Hauses -: Unser Antrag, über den wir
heute abschließend debattieren, ist am 13. Februar letzten Jahres eingebracht worden und hat nun wahrlich
nichts mit dem Termin der Europawahl zu tun. Das gilt
auch für den Antrag der FDP-Fraktion vom 4. Juni letzten Jahres. In diesen Anträgen wird ein ganz konkretes
Problem der europäischen Politik zum Anlass genommen, um zu einer Lösung zu kommen. Ich gebe Ihnen
recht, Diether Dehm: Dieses Problem ist gegen die EU
populistisch benutzbar. Die Linke hat hier den populistischen Sermon abgelassen, den sie unsinnigerweise immer zum Lissabon-Vertrag vorträgt. Uns ging es aber um
den Wanderzirkus, den das Europäische Parlament veranstaltet. Dieser ist, populistisch gesehen, extrem benutzbar; denn es geht um Geld, um die Umwelt und darum, dass Ressourcen vergeudet werden, was Sie
nachrechnen können. All dies geschieht aus keinem
nachvollziehbaren Grund. Es wird ohne Ende Manpower
vergeudet.
Ich bitte einmal alle Kolleginnen und Kollegen, sich
vorzustellen, dieser Deutsche Bundestag würde jede
zweite Sitzungswoche in Bonn abhalten. Stellen Sie sich
vor, wir würden diesen Wanderzirkus nachmachen. Das
würde enorme Personalressourcen erfordern. In Deutschland würde eine heftige Debatte ausgelöst, wenn der
Bundestag mit seinen Tausenden von Mitarbeitern hinund herziehen würde und Wagenkolonnen mit Akten auf
deutschen Straßen unterwegs wären.
Es gäbe auch historische Gründe dafür, dass der Bundestag zum Beispiel in Berlin, in Weimar, in Bonn, in
Frankfurt - wo auch immer - Dependancen hätte.
({1})
Es gibt ebenso viele gute Gründe, warum das Europäische Parlament in Straßburg tagt. Es gäbe für mich auch
gute Gründe dafür, dass das Europäische Parlament nach
der Wiedervereinigung Europas von nun an in Prag tagt.
Es gibt viele Städte, die eine europäische Geschichte haben und die sich deshalb als Standorte für das Europäische Parlament qualifizieren.
Darum geht es in dieser Debatte aber nicht. Es geht
darum, dass die Art und Weise, wie wir die europäische
Politik organisiert haben, extrem bürgerfeindlich und
parlamentsfeindlich ist.
({2})
Sie macht dieses Parlament sehr angreifbar; denn Sie
können keinem Menschen hier auf der Tribüne erklären,
warum die Abgeordneten des Europäischen Parlaments
ständig hin- und herfahren. Dieses Hin und Her verursacht Kosten, nimmt Arbeitszeit in Anspruch, ist der
Grund für einen jährlichen CO2-Ausstoß von 20 000
Tonnen, erzielt aber überhaupt keinen Effekt. Das macht
die Europäische Union sehr angreifbar. Dies sollten wir
verhindern.
Es gibt keinen Grund, das so zu machen. Von mir aus
können wir die Initiative aus Straßburg - „One City“
heißt sie jetzt - unterstützen, in der gefordert wird, dass
das Parlament ab sofort in Straßburg tagt. Aus Schweden
kommt eine Initiative, in der man sich dafür einsetzt,
dass alles von nun an in Brüssel stattfindet. Beide Initiativen haben ihre Berechtigung.
Es müssen aber Konsequenzen gezogen werden. Die
Bürgerinnen und Bürger haben es satt, dass dies nicht
geschieht. Zu sagen, dass, wenn man sich nicht einigt,
alle Geld bekommen und alle Standorte erhalten bleiben,
ist der falsche Ansatz. Wir müssen uns entscheiden. Wir
als Deutscher Bundestag müssen uns klar und eindeutig
dazu äußern.
Ich finde es völlig richtig, dass die FDP sagt: Auch
das Europäische Parlament muss dazu eine Position finden und darüber abstimmen. - Wir wissen aber ganz genau, dass die Abstimmungen im Europäischen Parlament den derzeit gültigen Vertrag letztendlich nicht
ändern.
Die Position der nationalen Parlamente ist daher
wichtig. Wir führen zwar viele Debatten über Subsidiarität, also darüber, wer wofür zuständig ist. An dieser
Stelle müssen aber auch die nationalen Parlamente und
ihre Regierungen, die darüber entscheiden, welche Position sie einnehmen, Stellung beziehen. Auch wir als nationales Parlament müssen entscheiden, welchen Auftrag
wir unserer Regierung in diesen Verhandlungen geben.
Deshalb ist beides notwendig.
({3})
Diese Debatte ideologisch zu führen, in den Ruf von
Populismus zu stellen und sie dazu zu nutzen, alles, was
man einmal zum Thema Europa sagen wollte, loszuwerden, halte ich für falsch. Wir müssen uns angewöhnen,
die Probleme europäischer Politik Punkt für Punkt und
sachgerecht zu diskutieren. Wir müssen also auch in diesem Punkt entscheiden. Dafür sprechen wir uns in unserem Antrag aus. Demokratie kostet Geld. Aber Demokratie ist auch dafür verantwortlich, dass mit Steuergeldern
verantwortlich umgegangen wird und dass Steuergelder
nicht verschleudert werden. An dieser Stelle aber werden
Steuergelder durch wahnsinnig hohe Kosten verschwendet. Das ist mit grüner Politik nicht vereinbar. Deshalb
haben wir diesen Antrag gestellt, und ich hoffe, dass in
20 Jahren rückblickend gesagt wird: Die Grünen haben
mit ihrem Antrag wieder einmal recht gehabt.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Deutsche Bundestag hat mit vielen guten Dingen
das Europäische Parlament und die europäische Einigung geprägt. Seit 1952 gab es zum Beispiel die Forderung, dass dieses Parlament direkt gewählt wird; dafür
haben unsere Vorgängerinnen und Vorgänger 25 Jahre
gekämpft.
Es gibt leider auch deutsche Dummheiten, und eine
dieser Dummheiten haben wir bedauerlicherweise von
überzeugten Europäern wie dem Kollegen Volk von der
FDP und dem Kollegen Steenblock von den Grünen gehört. In Bezug auf das Europäische Parlament das Wort
„Wanderzirkus“ zu wählen, ist die Art von Populismus,
der Wasser auf die Mühlen all derjenigen gießt, die Vorbehalte gegenüber der europäischen Politik haben, und
der im Vorfeld der Europawahl antieuropäisch wirkt.
Das ist die Wirkung des Wortes „Wanderzirkus“.
({0})
Die gleiche deutsche Dummheit ist es, dass seit Jahrzehnten behauptet wird, wir seien der Zahlmeister in Europa. Viele Menschen in Deutschland glauben zwar, das
zu wissen; aber letztlich haben sie keine Ahnung von der
realen Situation.
Wir führen heute keine Debatte darüber, dass das Europäische Parlament, das zwölfmal im Jahr in Straßburg
tagt und ansonsten in Brüssel arbeitet, enorm viel, was
Verbraucherschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte
usw. anbelangt, auf den Weg gebracht hat; viele Menschen und leider auch viele Bundestagsabgeordnete wissen nichts davon. Diese Debatte führen wir mit Blick auf
den 7. Juni, damit die Wichtigkeit eines starken Parlaments deutlich wird und viele Bürgerinnen und Bürger
wählen gehen. Das sollte heute das Thema sein und nicht
das, das zufällig am 23. April ansteht.
({1})
Dies ärgert mich, und ich sage auch noch, warum.
Lassen Sie uns über Respekt sprechen. Seit 30 Jahren
haben wir ein direkt gewähltes Europäisches Parlament.
In den letzten 30 Jahren wurde bei keiner einzigen Vertragsänderung darauf hingewiesen, dass es zur Stärkung
der Demokratie und zur Schaffung von mehr Bürgernähe
in Europa notwendig ist, dass das Europäische Parlament nur einen Sitz hat. Einen solchen Beschluss gibt es
nicht. Warum gibt es ihn nicht? Weil es eine große Meinungsvielfalt usw. gibt. Wir als nationales Parlament
maßen uns jetzt an, bestimmte Dinge vorzugeben, die
zeigen, wie wir es gerne hätten. Wir unterstützen nicht
bestimmte Forderungen des EP nach mehr Rechten oder
nach mehr Bürgerbeteiligung; vielmehr wollen wir dem
Europäischen Parlament etwas vorschreiben. In einer europäischen Demokratie, so wie wir sie verstehen, ist das
respektlos. Diese Respektlosigkeit, die ihren Ausdruck
Axel Schäfer ({2})
in dem Wort „Wanderzirkus“ findet, machen meine
Fraktion und ich nicht mit.
({3})
Reden wir über Legitimität. Es gibt einige Abgeordnete in diesem Hause - Heidi Wieczorek-Zeul, Claudia
Roth, Friedrich Merz, Gerd Müller und auch ich -, die
früher Mitglied des Europäischen Parlaments waren. Wir
reden ab und zu darüber, wie die Arbeitsweise verbessert
werden könnte. Das halte ich für legitim. Ich finde es
aber nicht gut, dass so etwas coram publico gemacht
wird, weil das besserwisserisch klingt, im Sinne von:
Wir sagen euch, wie es zu machen ist.
Wenn niemand auf der Tribüne säße und wir in einer
internen Ausschusssitzung wären, würde ich mich dafür
aussprechen, dass im Europäischen Parlament darüber
diskutiert wird, ob es statt 42 Sitzungswochen mit zwei,
drei oder vier Arbeitstagen - egal wo - nur 24 oder
22 Sitzungswochen - so wie bei uns oder in anderen Parlamenten; man könnte darüber intern mit den Kollegen
diskutieren - geben sollte, weil dies zahlreiche Arbeitstage und 30 000 Reisen im Jahr einsparen würde. Das
würde zu weit mehr Einsparungen führen als das, was
Sie bezüglich des Standorts Straßburg genannt haben.
({4})
- Ich mache das nicht, weil hier nicht der richtige Ort ist.
({5})
Wenn das Europäische Parlament zu der Entscheidung kommt, es sei notwendig, eine Vertragsänderung
herbeizuführen, und wir dann über die Position des Europäischen Parlaments im Deutschen Bundestag diskutieren, dann hielte ich persönlich das für richtig. Ich halte
es aber für völlig falsch, dem Europäischen Parlament
den besten Weg für seine Arbeit vorzuschlagen. Damit
würde man den Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln,
Bürgernähe bestünde darin, dass man zwölfmal im Jahr
anstatt nach Straßburg nach Brüssel fährt. Das ist der
Unterschied.
Viele Fakten, die Sie aufgezählt haben, stimmen
nicht. Man müsste vieles überprüfen. Die Mitarbeiter des
Europäischen Parlamentes haben beispielsweise kein separates Büro in Straßburg und Ähnliches mehr. Die Diskussion ist ein Stück weit aufgeblasen. Eine solche Diskussion direkt vor der Europawahl ist kontraproduktiv.
Wir wollen vor der Europawahl aber produktiv und konstruktiv in allen unseren europäischen Fraktionen wirken. Wir wollen nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen
gießen, die das Europäische Parlament in der Öffentlichkeit beschämen und nicht darüber reden, in welchem
Maße bereits Demokratie auf der europäischen Ebene erreicht worden ist. Darüber müssen wir reden. Das ist die
Aufgabe des Deutschen Bundestages.
({6})
Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Ich gestatte es.
Herr Kollege Schäfer, ich habe jetzt gehört, welche
Debatten Sie führen und was Sie alles sagen würden,
wenn die Öffentlichkeit nicht zugegen wäre, wenn wir
unter uns, also in einer geschlossenen Ausschusssitzung,
tagen würden.
({0})
Auch ich war ein bisschen irritiert durch das Wort
„Wanderzirkus“, weil ich ein frei gewähltes Parlament
nie in die Nähe eines Zirkus oder einer Manege rücken
würde. Ich kann einen Teil, aber wirklich nur einen Teil
Ihrer Erregung verstehen. Könnte es sein, dass diese Erregung wesentlich geringer wäre, wenn kein Publikum
anwesend wäre?
Lieber Kollege Dehm, wir gehören lange genug demselben Ausschuss an. Sie wissen, dass ich mich auch im
Ausschuss über manche Sachen aufrege und dass ich
mich besonders bei Dingen engagiere, die mir sehr nahe
gehen. Wer selbst einmal Mitglied des Europäischen
Parlaments gewesen ist, den nehmen manche Debatten
im nationalen Parlament ein bisschen mehr mit als denjenigen, der Straßburg und Brüssel nicht aus der Innensicht kennt. Da bitte ich um Verständnis.
({0})
- Das mit den verschlossenen Türen, lieber Rainder
Steenblock, war natürlich nur in Anführungszeichen gemeint. Ich wollte damit deutlich machen, dass ich diese
Forderung nicht öffentlich erheben würde, sondern im
Dialog mit unseren Kolleginnen und Kollegen, weil ich
sie als frei gewählte Abgeordnete mit einem unabhängigen Mandat genauso respektiere, wie ich jeden anderen
in diesem Haus respektiere, dem ich auch keine Vorschriften mache, was die Arbeitsorganisation anbelangt.
Darum geht es: um Respekt.
Wir bekommen die Zustimmung der Bürgerinnen und
Bürger zum Europäischen Parlament nur dann, wenn wir
deutlich machen, was dort erreicht worden ist und was
wir gemeinsam erreichen und verbessern wollen. Zustimmung bekommen wir nicht durch Worte wie „Wanderzirkus“, die für Europa kontraproduktiv sind. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können
Axel Schäfer ({1})
deshalb - gerade nach dieser Diskussion - die Anträge
mit gutem Gewissen zurückweisen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 16/9697. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9427 mit dem
Titel „Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch
Europaparlamentarier entscheiden lassen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP und bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8051 mit
dem Titel „Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäischen Rates in Straßburg abhalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Vereinbarte Debatte
Jährliche Strategieplanung der EU-Kommission für 2010
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Gloser.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte befasst sich mit der jährlichen
Strategieplanung der EU-Kommission, mit der für das
Jahr 2010. Die Kommission hat sicherlich vor keiner
leichten Aufgabe gestanden: Auf der einen Seite muss
sie die Regel einhalten, eine Planung vorzulegen; auf der
anderen Seite weiß sie, dass sie im nächsten Jahr nicht
mitbestimmen wird, weil nach den Wahlen zum Europäischen Parlament eine neue Europäische Kommission
benannt wird. Die Europäische Kommission, die jetzt im
Amt ist, wollte der neuen Kommission natürlich nicht
vorgreifen. Hinzu kommt, dass die Unsicherheiten über
das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon die Aufgabe nicht erleichtert haben. Die Bundesregierung und
die seriösen Fraktionen in diesem Haus - ich greife einen Begriff des Kollegen Dr. Dehm auf - gehen davon
aus, dass der Lissabon-Vertrag zum Ende dieses Jahres
in Kraft gesetzt wird.
({0})
Wenn man sich die Strategieplanung anschaut, erkennt man, dass sie Kontinuität aufweist, was notwendig
ist angesichts der vielen Probleme, die wir in der Vergangenheit angesprochen haben und für die wir eine Lösung finden müssen. Der erste Schwerpunkt ist die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die im
Zentrum dieser Strategieplanung steht. Die Europäische
Union hat auf dem G-20-Gipfel eindrucksvoll gezeigt,
dass sie ihrer internationalen Verantwortung gerecht
werden kann. Nicht zuletzt auf europäischen Druck werden jetzt auch die internationalen Finanzmärkte stärker
reguliert werden. Wir erinnern uns: Während der deutschen EU-Präsidentschaft wollten viele noch nichts davon wissen. Nachdem die Krise eingetreten ist, ist die
Erkenntnis gewachsen.
Eine der wichtigsten Aufgaben ist es jetzt, die EU-interne Finanzmarktaufsicht weiterzuentwikkeln. Dazu
wird die Kommission in Kürze, gestützt auf die Ideen
der Expertengruppe unter Leitung von Herrn de
Larosière, Vorschläge vorlegen. Der Europäische Rat
will im Juni bereits erste Beschlüsse fassen.
Die Bundesregierung wird im Vorfeld ihre Vorstellungen zu den geplanten Maßnahmen abstimmen und auf
der Brüsseler Ebene einbringen. Dabei müssen wir deren
Auswirkungen auf die Architektur der Finanzmarktaufsicht im Auge behalten und sicherstellen, dass die Europäische Union in Zukunft auch in dieser Frage eine Vorreiterrolle spielt.
Die von der Kommission vorgeschlagenen EU-finanzierten Konjunkturmaßnahmen vor allem im Energiebereich haben uns zunächst nicht überzeugt - das wissen
Sie -, vor allem, weil sie nur kurz- und mittelfristig in
den Jahren 2009 und 2010 einen konjunkturbelebenden
Impuls gesetzt hätten. Wir haben beim Frühjahrsrat aber
einen vernünftigen Kompromiss gefunden, dass nur die
Projekte mit Gemeinschaftsmitteln gefördert werden, die
in den Jahren 2009 und 2010 tatsächlich begonnen und
umgesetzt werden können.
Die dramatischen Auswirkungen der Wirtschafts- und
Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt machen sich, wie wir
alle auch aus heutigen Nachrichten wissen, immer stärker bemerkbar. Es ist richtig, dass sich die Europäische
Kommission auch dieses Themas annehmen, sich also
der Frage der sozialen Abfederung widmen wird und
nicht nur Banken, Wirtschaft und Autoindustrie im Fokus hat. Deshalb ist wichtig, dass am 7. Mai ein Beschäftigungsgipfel auf europäischer Ebene stattfindet. Es ist
gut, dass die Tarifpartner in diesen Prozess mit einbezogen werden, weil in erster Linie sie Lösungen - möglichst in Form kluger, intelligenter Modelle - für die Unternehmen und Betriebe finden müssen. Angesichts der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft kann unser deutsches Model gut bestehen. „Kurzarbeit statt entlassen“ und „Qualifizieren statt entlassen“
sind Prinzipien, die sich in der Krise tagtäglich bewähren.
Die Bundesregierung begrüßt natürlich auch, dass die
Kommission im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie - so hoffe ich zumindest - noch weitere Strukturreformen anstoßen wird.
({1})
Wir sehen allerdings ein Defizit, das an keiner Stelle
erwähnt wird. Sosehr es notwendig ist, auf europäischer
Ebene und auf nationaler Ebene jetzt Mittel in die Hand
zu nehmen, um bestimmte Probleme zu lösen, so sehr
fehlt uns doch ein Bekenntnis, dass nach der Krise wieder ein konsequenter Kurs der Haushaltskonsolidierung
eingeschlagen wird.
Der zweite Schwerpunkt, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, ist der Klimawandel. Auch hier hat die
Europäische Union in den letzten Monaten vieles zustande gebracht. Ich glaube, das noch einmal unterstreichen zu müssen, weil gelegentlich gefragt wird: Brauchen wir gerade in dieser wirtschaftlichen Krise eine
ökologische Umgestaltung? Es ist wichtig, und es ist
auch eine Chance, gerade in dieser Zeit die ökologische
Umgestaltung unserer Industriegesellschaft vorzunehmen. In diesem Bereich und auch im Bereich der Forschung bieten sich Chancen in Bezug auf den Erhalt und
die Schaffung von Arbeitsplätzen.
({2})
Wir werden allerdings auch darauf achten müssen,
dass wir im Vorfeld der Kopenhagener Klimakonferenz,
der Nachfolgekonferenz zu Kioto, entsprechende ausgewogene Positionen innerhalb der Europäischen Union
finden. Wir wissen alle, wie schwer es unter französischer Präsidentschaft war, eine einheitliche Position zu
diesem Thema zu erarbeiten.
Die Bereiche Innen und Justiz kann ich nur streifen.
Die Europäische Kommission hat diese Bereiche zu
Recht als weitere Schwerpunkte genannt. Das Stockholmer Programm wird sicherlich eine wichtige Rolle spielen, auch im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik.
Allerdings müssen wir auch eine Balance finden zwischen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung.
Zum Schluss, Frau Präsidentin, lassen Sie mich kurz
noch Folgendes sagen: Wieder einmal nicht enthalten ist
eine Aussage zur Sprachenpolitik. Wir haben gemeinsam immer wieder versucht, in Brüssel deutlich zu machen, dass dies überfällig ist.
({3})
Ich hoffe, dass wir gemeinsam in Brüssel endlich eine
Änderung herbeiführen können. Jedenfalls kann die
neue Kommission, so sie im Amt ist, davon ausgehen,
dass wir sie, wenn gute Vorschläge kommen, bei der
Umsetzung unterstützen werden.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild
Dyckmans, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Staatsminister hat es schon gesagt: Die
Strategieplanung für 2010 war für die Kommission sicherlich nicht so einfach. Die Umsetzung wird natürlich
davon abhängen, ob sie schon auf der Basis des Lissabon-Vertrages agieren kann, wie der Übergang zur neuen
Kommission gestaltet wird und wie diese überhaupt aussieht.
({0})
Aber über diese wichtigen Fragen dürfen wir nicht die
fachpolitischen Themen vergessen, die in der Strategieplanung angesprochen werden. Die FDP-Fraktion will
deshalb diese Debatte dazu nutzen, deutlich zu machen,
dass auch wir Fachpolitiker uns in die europäische Debatte einschalten müssen und einschalten wollen.
Als Rechtspolitikerin möchte ich justizpolitische Themen und das Stockholmer Programm, das auch der Herr
Staatsminister schon kurz erwähnt hat, ansprechen. Dieses Programm wird die europäische Innen- und Rechtspolitik für die Jahre 2010 bis 2014 ganz entscheidend
prägen. Das Jahr 2010, auf das sich die Strategieplanung
bezieht, ist das erste Jahr der Durchführung dieses Programms.
Um den Stellenwert der Fünfjahresprogramme richtig
einzuschätzen, erinnere ich nur an das Programm von
Tampere aus dem Jahr 1999, mit dem der Grundsatz der
gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen vorgegeben wurde. Erst im Vertrag von Lissabon
wird dieser Grundsatz ausdrücklich ins Recht überführt.
Wir können die Bedeutung der Fünfjahresprogramme
gar nicht hoch genug einschätzen.
Ich halte es deshalb für unverzichtbar, dass wir Abgeordnete uns auch während der Sommerpause, selbst
wenn wir alle dann wahrscheinlich im Wahlkampf sind,
mit den Entwürfen dieses Programms befassen und uns
in die europäische Diskussion einschalten. Wir dürfen
damit nicht warten, bis der Europäische Rat das Programm während der schwedischen Ratspräsidentschaft
in der zweiten Jahreshälfte endgültig beschlossen haben
wird. Dann ist es nämlich zu spät.
({1})
Aus der Strategieplanung 2010 lässt sich schon ersehen, dass es inhaltlich weiter um die gegenseitige Anerkennung insbesondere gerichtlicher Entscheidungen sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen gehen wird.
Selbstverständlich gehört es zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dass wir gerichtliche
Entscheidungen der Mitgliedstaaten anerkennen. Aber
es gibt hier auch Grenzen zu beachten.
Ich halte es zum Beispiel nach wie vor für unbedingt
erforderlich, dass wir als Deutsche die Anerkennung und
damit die Vollstreckung eines Urteils ablehnen können,
wenn etwa dem Beklagten kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Dazu, es zu gewähren, haben sich zwar
alle 27 EU-Mitgliedstaaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet. Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der
die Einhaltung dieser Verpflichtung überwachen soll, ist
leider nicht arbeitslos. Unter den fünf der 47 Konventionsstaaten, die am häufigsten wegen Verstößen gegen
die Menschenrechtskonvention verurteilt wurden, waren sowohl 2007 als auch 2008 zwei Mitgliedstaaten der
EU.
Wenn wir uns in einer solchen Situation einfach auf
das gegenseitige Vertrauen, also auf das Vertrauen in die
Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates berufen,
dann treten die Rechte der einzelnen Bürger in den Hintergrund. So, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
können wir kein Europa der Bürger aufbauen. Die
Grundrechte haben gerade die Funktion, für jeden Einzelnen sicherzustellen, dass auch bei Anerkennung ausländischer Entscheidungen sein Recht im Einzelfall gesichert bleibt.
Deswegen ist es einerseits unsere Aufgabe, die europäische Rechtsetzung dahin gehend zu beeinflussen,
dass keine Widersprüche zu den Regelungen unserer
Verfassung auftreten können. Andererseits brauchen wir
bei der Anerkennung ausländischer zivilgerichtlicher
Entscheidungen den Ordre-public-Vorbehalt, um im Einzelfall notfalls eine Ausnahme von der gegenseitigen
Anerkennung zu machen, wenn sonst die Grundrechte
verletzt werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union, der wir als Bundestag von Anfang an mit großer
Mehrheit zugestimmt haben, achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten. Die europäische Einigung, hinter
der wir alle stehen, beruht auf den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Danach regeln wir auf europäischer Ebene, was grenzüberschreitend geregelt werden muss. Wir nationalen
Parlamentarier bestimmen hingegen in nationaler Vielfalt über Fragen wie zum Beispiel die strafrechtliche Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Sterbehilfe.
Diese nationale Vielfalt muss auch bei der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen gewahrt bleiben. Dazu brauchen wir den Grundsatz der
beiderseitigen Strafbarkeit. Wenn ein bestimmtes Verhalten bei uns nicht strafbar ist, können wir nicht eine
ausländische Strafe wegen genau dieses Verhaltens vollstrecken.
Ich kann mir zwar vorstellen, dass wir zu einer Liste
von Delikten gelangen, die in allen EU-Mitgliedstaaten
strafbar sind, sodass wir insoweit auf die Prüfung der
beiderseitigen Strafbarkeit verzichten könnten. Die jetzt
vorliegende Liste der 32 Delikte leidet aber unter einem
ganz entscheidenden Mangel: Sie genügt nicht dem
strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Kommt es nicht zu
einer Präzisierung dieser Delikte, muss sich Deutschland
die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch in Zukunft vorbehalten.
Ein anderes für die europäische Rechtspolitik unverzichtbares Vorhaben ist die Einigung über Mindestrechte
der Beschuldigten. Wenn wir die Bürger überzeugen
wollen, dass die Europäische Union eine Union der Bürger und für die Bürger ist, können wir nicht weiter
Rechtsinstrumente zur Zusammenarbeit der Justizbehörden verabschieden, ohne parallel ein Rechtsinstrument
zu beschließen, das den von dieser Zusammenarbeit betroffenen Bürgerinnen und Bürgern, den Beschuldigten,
ihre elementaren Rechte sichert.
({3})
Wir haben als nationale Parlamentarier wiederholt
Mitwirkungsrechte bei der europäischen Gesetzgebung
eingefordert. Lassen Sie uns diese Rechte, die durch den
Lissabonner Vertrag sogar noch erweitert werden, in Zukunft bitte noch engagierter auch tatsächlich wahrnehmen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Lamp, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir die von der EU-Kommission
vorgelegte Strategieplanung für 2010. Der Staatsminister
hat die fünf Punkte bereits in etwa umrissen. Wir werten
das Dokument grundsätzlich positiv. Besonders begrüßen wir ganz ausdrücklich, dass dieses Dokument zügig,
frühzeitig und in deutscher Sprache vorgelegen hat.
Leider ist dies nicht die übliche Praxis. Damit komme
ich zu einem Kritikpunkt, den der Staatsminister auch
schon genannt hat. Immer und immer wieder fordern wir
im Ausschuss ein, dass uns die Parlamentsvorlagen aus
Brüssel in deutscher Sprache und in den anderen nationalen Sprachen vorgelegt werden. Es fehlt eine Übersetzungsstrategie. Für das Funktionieren der Europäischen
Union ist es aber unverzichtbar, dass den Vertretern des
Volkes die zu beratenden EU-Dokumente vollständig,
fristgerecht und in ihrer Muttersprache zur Verfügung
gestellt werden.
({0})
Lassen Sie mich einen weiteren für mich wichtigen
Kritikpunkt aufführen. Der Staatsminister hat deutlich
gemacht, dass man sich der Überwindung der derzeitigen Finanzkrise widmet. Das ist okay. Es fehlen aber
Wegweisungen zur Haushaltskonsolidierung nach der
Krise. Wie wir alle wissen, wird sie Probleme hinterlassen, die dann zu bewältigen sind. Hier hat uns die Kommission im Moment alleingelassen.
Des Weiteren vermisse ich in der Strategieplanung
den Schwerpunkt - besonders weil ich aus SchleswigHolstein komme -, die grenzüberschreitende Kooperation im Ostseeraum zu forcieren. Das einzige Binnenmeer der EU wird sicher eines der zentralen Themen der
kommenden schwedischen EU-Ratspräsidentschaft werden. Die Kommission hätte gut daran getan, auch hier
vorab wegweisende Zeichen zu setzen.
Wir haben aber nicht nur Schatten, sondern auch
Licht. Ich begrüße ausdrücklich die Position der Kommission zur Klima- und Energiepolitik. In der Amtszeit
dieser Kommission wurden im Klimaschutz Meilensteine gesetzt, deren Bedeutung für den weltweiten Klimaschutz man erst mit gewissem zeitlichen Abstand in
vollem Umfang erkennen wird. Die Europäische Union
ist mit ihren Zielsetzungen, bis 2020 die Energieeffizienz
um 20 Prozent zu steigern, den Anteil der regenerativen
Energien an der Energieversorgung auf 20 Prozent ansteigen zu lassen und den CO2-Ausstoß um 20 Prozent
zu mindern, Vorreiter auf internationaler Ebene; das
muss sie auch in Zukunft bleiben. Ich hoffe auf eine
Fortsetzung dieser Politik im Rahmen der Klimaschutzkonferenz Ende des Jahres in Kopenhagen. Ich hoffe auf
ein internationales Klimaschutzabkommen, das diesen
Namen wirklich verdient.
Auch wenn der Punkt nebensächlich erscheinen mag,
begrüße ich es sehr, dass die Kommission beabsichtigt,
bis 2013 keine zusätzlichen Stellen zu schaffen und ihren Personalbedarf mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln zu bestreiten. Die EU setzt noch immer
mehr als die Hälfte ihres Personals für die Verwaltung
ihrer eigenen Verwaltung ein. Den Personalstand bis
2013 nicht ausweiten zu wollen, ist eine klare Aussage.
Ansonsten sind die Planungsvorgaben häufig relativ offen gehalten, und zwar aus verständlichen Gründen.
Beide Vorredner haben es schon angemerkt: Eine
neue Kommission wird in dem einen oder anderen Punkt
neue Akzente setzen. Möglicherweise wird eine Nachjustierung der hier vorliegenden EU-Strategieplanung
wegen des Verlaufs der internationalen Finanzkrise und
der Verabschiedung oder - so hoffe ich - Nichtverabschiedung des Vertrages von Lissabon ohnehin notwendig sein.
Ich werde nicht mehr für den Bundestag kandidieren.
Vermutlich habe ich hier die letzte Gelegenheit, einige
grundsätzliche europapolitische Zielvorstellungen zu beleuchten und über das europapolitisch spannende Jahr
2010 hinauszublicken. Dabei möchte ich mich auf drei
für mich wesentliche Punkte beschränken:
Erstens. Die Europäische Union wird sich in absehbarer Zeit auf eine wirklich Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einigen müssen; ansonsten wird sie sich
mit einer Zuschauerrolle am Rande der Weltpolitik begnügen müssen. Auf der UN-Konferenz zum Thema
Rassismus in dieser Woche gab es leider wieder keine
einheitliche europäische Haltung. Dieses Beispiel für die
Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten wurde weltweit sehr aufmerksam registriert.
Zweitens. Die EU sollte neben der gewachsenen Zusammenarbeit mit dem Partner USA auch eine Zusammenarbeit mit Russland und China anstreben. Natürlich
ist der Weg zu einer vertrauensvollen Partnerschaft möglicherweise lang und mühsam, da noch etliche aktuelle
Probleme zu überwinden sind. Eine wirklich partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Europäischen
Union, den USA, Russland und China wäre in Hinblick
auf die internationalen Friedensbemühungen ein gewaltiger Fortschritt. Über die Friedensbemühungen hinaus
gibt es für die EU weitere sehr wichtige, nachvollziehbare Gründe dafür, die Zusammenarbeit mit Russland
und China zu optimieren.
Nur unter Einbeziehung der Energiepotenziale Russlands ist die Wirtschaft der EU zukunftsfähig. Um das
notwendige Vertrauen aufzubauen, ist Russland immer
einzubeziehen, wenn seine vitalen Interessen berührt
werden, sei es beim Ausbau von Verteidigungssystemen
oder bei Fragen der EU-Osterweiterung. Im vergangenen
Jahrzehnt wurden die Empfindlichkeiten Russlands meiner Meinung nach im Westen nicht immer angemessen
berücksichtigt.
Nun zu China: Etwa 330 Millionen EU-Bürger zahlen
heute mit dem Euro. Viermal so viele Chinesen,
1,3 Milliarden, zahlen mit dem Yuan, dessen Kaufkraft
explosionsartig steigt. 350 000 Dollarmillionäre gibt es
in China bereits heute. In jedem Jahr kommen 50 000
weitere hinzu. Die Europäische Union wird schon in absehbarer Zukunft einem schnell wachsenden Wirtschaftskoloss China gegenüberstehen. Die sich abzeichnende Entwicklung ist bei allen Zukunftsplanungen zu
berücksichtigen.
Meine ersten zwei Wünsche bezogen sich auf die
Ausweitung der außenpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union. Meine dritte Empfehlung läuft auf
eine Kompetenzeingrenzung hinaus, und zwar im Bereich der Regionalpolitik. Nicht selten wurde in Brüssel
überzogen geregelt, was vor Ort realitätsnäher und sachgerechter hätte gelöst werden können. Die Brüsseler Regelungssucht, die bis zu Etiketten auf Marmeladengläsern reicht, die aus bäuerlicher Produktion stammen,
glättet die liebenswerte, in Jahrhunderten gewachsene
Vielfalt unseres Europas und gefährdet die breite Zustimmung zu Europa.
Ich bin seit 40 Jahren selbstständiger Landwirt. Ich
musste relativ früh den Hof meiner Eltern übernehmen.
In diesen 40 Jahren habe ich relativ häufig, insbesondere
in den ersten Jahrzehnten, mit Berufskollegen gegen die
EU protestiert, und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Die meisten meiner Berufskollegen haben in diesen
Jahrzehnten ihre Existenzgrundlagen verloren. Doch zu
keinem Zeitpunkt habe ich die EU in ihrer Funktion und
ihrem Wirken grundsätzlich infrage gestellt, nicht nur,
weil wir eine starke europäische Staatengemeinschaft
brauchen, um die wirtschaftlichen Zukunftschancen ausschöpfen und Krisen gemeinschaftlich besser überwinden zu können, sondern vor allem, weil die Europäische
Union die erfolgreichste Friedensinitiative aller Zeiten
ist.
({1})
Meine lieben Freunde, deshalb erwarte ich von allen
verantwortungsbewussten und zukunftsorientierten Mitbürgern, dass sie sich am 7. Juni zur Europäischen
Union bekennen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch
machen.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Prioritäten der Europäischen Kommission für 2010
sind: wirtschaftlicher Aufschwung, nachhaltige Entwicklung, bürgernahe Politik und Europa als Partner in der
Welt. So schön die Überschriften klingen - wenn man
sich intensiver mit dem Papier beschäftigt und die Stellungnahme der Bundesregierung hinzuzieht, muss man
doch feststellen, dass eine gescheiterte Politik, die uns in
die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit Ende des
Zweiten Weltkrieges geführt hat, durch diese Strategieplanung gerechtfertigt, legitimiert werden soll. Es ist dramatisch, dass ich hier, obwohl viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer Angst um ihren Arbeitsplatz haben
und nicht wissen, ob sie mit Kurzarbeitergeld über die
Runden kommen, sagen muss: Herr Staatsminister
Gloser, Europa und Deutschland sind nicht Opfer der
Wirtschaftskrise; sie sind Mitverursacher der Wirtschaftskrise.
({0})
Wer das nicht einsieht, wird die Krise nicht bekämpfen
können. Es reicht nicht aus, über den großen Teich auf
Amerika zu zeigen. Europa und Deutschland haben die
Massenarbeitslosigkeit und die soziale Verelendung, die
wir derzeit in Europa und Deutschland vorfinden, mitverursacht.
Paul Krugman, der Nobelpreisträger, ist schon oft zitiert worden. Er hat Finanzminister Steinbrück holzköpfig genannt. Ich möchte Jean-Paul Fitoussi, Mitglied der
Stiglitz-Kommission der UN, zitieren, der über die Regulierung der Finanzmärkte sagte:
Und dieses Problem ist dadurch entstanden, dass es
über zweieinhalb Jahrzehnte eine Umverteilung der
Einkommen von unten nach oben gab. Damit haben
jene plötzlich viel mehr Geld gehabt, die … ohnehin nur einen relativ kleinen Teil ihres Geldes ausgeben und einen hohen Teil sparen. Mit diesen Ersparnissen haben sie Vermögenswerte gekauft.
Diese Umverteilung nach oben war ein weltweit
sehr tiefgreifendes Phänomen. Hier liegt die Wurzel
der heutigen Krise, nicht in der Finanzwelt.
Mit anderen Worten - das hat die Bundesregierung
durch Sie heute noch einmal bekräftigt -: Die Fortsetzung der Lissabon-Strategie verschärft die Wirtschaftskrise, weil sie die Lohnentwicklung und damit Wachstum bremst. Die Superreichen werden ihr Geld weiterhin
ins Kasino tragen.
({1})
Die Kommission und die Bundesregierung empfehlen
die Fortsetzung dieser gescheiterten Strategie. Sie sollten den Menschen deutlich sagen, was das bedeutet. Die
Fortsetzung dieser Strategie bedeutet: Lohndumping,
Steuersenkungen für Reiche, Agenda 2010 und Hartz IV.
Das war die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie
in Deutschland.
({2})
Sie wollen diese Strategie fortsetzen und dem Rest Europas Lohndumping und Sozialabbau empfehlen. Das ist
die Botschaft der CDU/CSU, der SPD und der Bundesregierung. Sie sollten den EU-Bürgern aber auch sagen,
dass Deutschland im letzten Jahr Schlusslicht beim
Wachstum war.
({3})
Sie sollten sagen, dass Länder mit einer niedrigeren
Schuldenquote, zum Beispiel Spanien, aufgrund von
Deutschlands Lohndumping vor dem Staatsbankrott stehen. Die Rechnung werden auch die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland zahlen. Daher brauchen wir Euroanleihen, um die Zinskosten für unsere europäischen Nachbarn zu senken und teure Staatsbankrotte abzuwenden.
Das europäische Konjunkturprogramm und die nationalen Maßnahmen bleiben gemessen an der Wirtschaftsleistung des Bruttoinlandsprodukts mit circa 0,9 Prozent
weit hinter den Maßnahmen vergleichbarer Regionen
wie den USA, Japan oder China zurück. Das ist zu wenig. Es werden auch falsche Schwerpunkte gesetzt. Steuergeschenke für Besserverdienende haben keine wirtschaftlichen Effekte. Öffentliche Investitionen sind der
bessere Weg.
Leider waren die Staats- und Regierungschefs der
EU, insbesondere auch Bundeskanzlerin Merkel, in dieser Hinsicht ein Bremsklotz auf dem G-20-Gipfel. Die
Ankündigung der Kommission, alle Finanzprodukte der
Aufsicht zu unterwerfen, ist vollkommen unglaubwürdig. Sie haben auf dem G-20-Gipfel verabredet, Hedgefonds erst ab gewissen Schwellenwerten der Aufsicht zu
unterwerfen; Hedgefonds gehören aber verboten. Ohne
Sanktionen gegen Steueroasen ist die Aufsicht völlig unwirksam.
({4})
Meine Fraktion unterstützt daher die Proteste der europäischen Gewerkschaften vom 14. bis 16. Mai in
Brüssel, Berlin, Prag und Madrid. Die Verursacher der
Krise müssen zahlen. Anders ausgedrückt: Die Menschen müssen endlich wieder von der EU-Kommission
und den Regierungen in den Mittelpunkt gestellt werden.
Das, was gestern hinsichtlich der Einrichtung von Bad
Banks in Deutschland verabredet worden ist, zeigt, dass
der Bundesregierung die Ackermänner in diesem Land
wichtiger sind als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die sozial Benachteiligten.
({5})
Nehmen Sie das ernst, was zurzeit in Frankreich passiert und wovor DGB-Chef Sommer gewarnt hat. Diese
Politik - Sie wollen sie ja fortsetzen - wird dazu führen,
dass es auch in Deutschland soziale Unruhen geben
wird.
({6})
Die Verantwortung haben nicht die Finanzmärkte, sondern diese Bundesregierung und die Koalition, die sie
trägt.
({7})
Die Strategieplanung der Kommission und die Stellungnahmen der Bundesregierung offenbaren: Die EU
und die Bundesrepublik Deutschland werden noch immer von den Finanzmärkten regiert. Die Verkäuferin, die
aufgrund des Vorwurfs, sie habe 1,30 Euro veruntreut,
entlassen worden ist, wird nicht zur Kanzlerin eingeladen, aber Herr Ackermann wurde gestern eingeladen. Er
weiß, dass diese Bundesregierung ihm weiterhin helfen
wird.
({8})
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir zunächst eine Bemerkung zum Verfahren und zu dieser Debatte. Ich gehöre mit anderen Obleuten zu denen, die sich dafür eingesetzt haben, dass wir
diese Strategiedebatte über die Planung der Europäischen Union jährlich durchführen. Ich finde das richtig.
Es zeigt, dass europäische Themen im Deutschen Bundestag eine große Relevanz haben. Diese Debatte zeigt
auch - das hat im Grunde der Beitrag von Frau
Dyckmans deutlich gemacht -, dass wir eigentlich hier
keine Generaldebatte führen müssen. Vielmehr wäre es
besser, wir würden diese Debatte - ähnlich wie eine
Haushaltsdebatte - anhand der Politikfelder der Strategieplanung splitten und einzeln darüber debattieren. Das
würde das von den Europapolitikern häufig beklagte
Problem, dass die Fachpolitiker zu wenig in die europäische Politik integriert sind, lösen. Solche Strategiedebatten würden es erfordern, dass wir uns ein bisschen mehr
Zeit nehmen, um die Themen ausführlich zu behandeln;
Frau Dyckmans hat dies heute am Beispiel der Justizpolitik so gemacht. Mit den anderen Politikfeldern, zum
Beispiel der Umweltpolitik, der Außenpolitik und der
Wirtschaftspolitik, müsste man das auch so machen.
Wenn wir als Deutscher Bundestag auf die Strategieplanung der EU-Kommission und darauf, wie die Bundesregierung dazu Stellung nimmt, tatsächlich Einfluss
nehmen wollen, dann sollten wir diese Debatten so führen, dass wir am Ende als Deutscher Bundestag zu den
einzelnen Kapiteln eine Stellungnahme abgeben und die
Bundesregierung verpflichten, die Strategieplanung einschließlich des Kommentars des Bundestages und nicht
nur ihre eigene Position zu vertreten.
({0})
Ich stimme dem Kollegen Lamp zu, dass diese Debatte eine Konsequenz haben muss: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger aufrufen, zur Europawahl zu gehen.
Diese Wahl ist von zentraler Bedeutung. Die Europäische Union ist alternativlos, und wir müssen sie stärken.
Wir Grüne haben uns immer dafür ausgesprochen. Der
Lissabon-Vertrag ist ein Instrument, um die Europäische
Union zu stärken. Aber die Europäische Union mit ihrem Parlament und ihrem Rat ist natürlich eine politische
Veranstaltung. Uns geht es darum, ihre Politik so zu ändern, dass die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger eine größere Rolle spielen. Das, was Kollege Ulrich
dazu sagte, kann ich in Teilen unterstützen, allerdings
nicht in allen Teilen.
Wir brauchen eine Europäische Union, die die Sozialpolitik nicht nur als Stichwort behandelt, sondern sich
dafür einsetzt, europaweite Mindeststandards zu definieren. Wir brauchen auch auf europäischer Ebene eine Einigung über die Einführung von Mindestlöhnen. Auch
uns in Deutschland hat dieses Thema in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Wir wollen die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ auf europäischer Ebene
nicht nur institutionalisieren, sondern auch durchsetzen.
In den einzelnen Nationalstaaten werden diese Themen
durchaus behandelt. Daraus müssen allerdings europäische Standards werden. Im anstehenden Wahlkampf ist
es wichtig, dass wir für die Rechte der Menschen in sozialen Fragen kämpfen und deutlich machen, wer die
Bremser sind. Die Diskussion über Europa ist eine politische Debatte. Dabei geht es allerdings auch um die
Umweltpolitik auf europäischer Ebene.
Wenn man sich die Strategieplanung für Umwelt- und
Klimaschutz, also für eines der größten Probleme sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch global,
ansieht - ich will jetzt nicht über all das sprechen, was in
den letzten Jahren geschehen ist und worüber wir sicherlich sehr unterschiedliche Auffassungen haben -, stellt
man fest: Im Grunde gibt es für diesen Politikbereich nur
noch zwei kleine Ansätze. Zum einen geht es darum, den
Aktionsplan Energieeffizienz durchzusetzen - das ist
zwar richtig; es handelt sich dabei aber nur um einen
sehr geringen Teil -, zum anderen geht es darum, noch
einmal neu zu überlegen, ob die transeuropäischen Energienetze vernünftig organisiert sind, und diese eventuell
zu reformieren. Diese beiden Ansätze sind zu wenig, um
der Bedeutung der Umwelt- und Klimapolitik in der Europäischen Union und auf globaler Ebene gerecht zu
werden. Wir brauchen in Europa ehrgeizigere Ziele, die
wir in den Planungen durchsetzen müssen. Hierbei erwarte ich von der Bundesregierung Unterstützung.
({1})
In ihrer Stellungnahme zur Strategieplanung hat die
Bundesregierung sogar diese winzigen Ansätze noch unter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Herr Gloser,
Sie möchte ich dafür nicht verantwortlich machen. Unter
der Ägide von Frau Merkel hat die Bundesregierung im
letzten Jahr allerdings sehr häufig als Bremserin fungiert, gerade im Bereich der Klimapolitik und im Hinblick auf die Autoindustrie.
Sie haben im Jahre 2008 eine Klimapolitik betrieben,
durch die die großen CO2-Schleudern geschont wurden.
Sie haben sich dagegen gewehrt, diese Politik zu ändern.
Im Rahmen der Finanzkrise haben Sie nun feststellen
müssen, welche Folgen diese Politik hat. Ich erwarte,
dass Sie daraus Konsequenzen ziehen und auf europäischer Ebene eine ehrgeizigere Umwelt- und Klimapolitik formulieren, nicht im Sinne der großen Automultis,
sondern im Interesse der Menschen, die unter dieser
Krise, die auch eine Umweltkrise ist, zu leiden haben.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen
weiteren wichtigen Punkt, den ich zum Schluss ansprechen möchte - Kollege Lamp und andere haben darauf
bereits hingewiesen -: Wir brauchen eine stärkere gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union. Was
die Zusammenarbeit mit unseren östlichen Partnern betrifft, gibt es sehr viele Probleme, die zu Recht angegangen werden. Unsere Beziehungen zu unseren südlichen
Partnern im Mittelmeerraum befinden sich in einer Blockade. Diese Probleme müssen überwunden werden.
Herr Staatsminister Gloser, die Bundesregierung ist
aufgefordert, in ihrer Planung darauf hinzuwirken, dass
die EU in Zukunft im Hinblick auf ihre Beziehungen zu
den östlichen Partnerländern und zu den Partnern im
Mittelmeerraum sowie bezüglich der Nahostkrise eine
größere Rolle spielt. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich auch in ihrer Stellungnahme zur Strategieplanung zu diesem Themen äußert.
Ein allerletztes Wort.
Nein, Herr Kollege.
Es ist wirklich ein letztes Wort, Frau Präsidentin.
Bürgernahe Politik in Europa heißt auch, dass die
Rechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Strukturen
gestärkt werden müssen. Was ist im Bereich Telefonüberwachung überlegt worden! Wie sind da Rechte des
Einzelnen staatlichen Informationsstrukturen geopfert
worden! So etwas werden wir nicht mitmachen. Hier
sind die Rechte des Einzelnen, die Freiheitsrechte und
die Informationsgrundrechte der Menschen, zu schützen.
Vielen Dank.
({0})
Zu ihrer ersten Rede im Hohen Hause gebe ich das
Wort der Kollegin Dr. Eva Högl, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass uns die Strategieplanung hier in jedem
Jahr beschäftigt und dass wir ausführlich über sie diskutieren.
In diesem Jahr haben wir - das ist schon angesprochen worden - eine besondere Situation: Wir alle wissen
nicht, wie es weitergeht, vor welche Herausforderungen
uns die Wirtschafts- und Finanzkrise noch stellen wird.
Wir wissen auch nicht, ob es gelingt - wir hoffen es natürlich -, dass der Vertrag von Lissabon in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird.
2010 wird eine neue Europäische Kommission im
Amt sein. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine
große Chance für uns hier im Bundestag. Wir haben damit die Möglichkeit, der neuen Kommission unsere Forderungen und Vorschläge mit auf den Weg zu geben.
Die Kommission setzt die Priorität zu Recht auf den
wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Aber wie in
den vergangenen Jahren und somit unabhängig von der
Krise - das darf ich ausdrücklich kritisieren - legt die
Kommission den Schwerpunkt wieder hauptsächlich auf
wirtschaftspolitische Themen und blendet den sozialen
Fortschritt und sozialen Zusammenhalt weitgehend aus.
({0})
Doch gerade in der Wirtschaftskrise muss es darum gehen, auch auf der europäischen Ebene die drängenden
Fragen von Beschäftigung und sozialem Schutz zu beantworten. Lassen Sie uns deshalb die Kommission auffordern, bei all ihren Vorschlägen die soziale Dimension
zu berücksichtigen!
({1})
Europa muss gerade in den Bereichen Beschäftigung
und Soziales handlungsfähig sein und deutlich machen,
dass es dafür sorgt, dass Beschäftigung geschaffen und
soziale Sicherheit gewährleistet wird.
Wir alle sind gerade unterwegs und werben dafür, zur
Europawahl zu gehen. Wir wollen die Bürgerinnen und
Bürger von Europa begeistern. Dies wird uns aber nicht
gelingen, wenn sich Europa nicht um soziale Themen
kümmert; denn diese stehen für die Bürgerinnen und
Bürger ganz oben auf der Agenda. Deshalb ist die Strategieplanung der Kommission in diesem Punkt unzureichend. Da helfen keine Kommunikationsstrategie und
kein Bekenntnis zum bürgernahen Europa, da hilft nur
gute Politik.
({2})
Mit Blick auf 2010 darf es meiner Meinung nach kein
„Weiter so!“ geben. Wir müssen unsere Themen - soziaDr. Eva Högl
le Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit - mit Leben erfüllen und zum Maßstab unseres Handelns machen, und zwar auch auf der europäischen Ebene.
Sozialpolitik ist nicht nur dazu da, wirtschaftliche
Fehlentwicklungen zu korrigieren oder im Notfall einzuspringen. Wir brauchen ein Zusammenwirken der Bereiche Wirtschafts-, Finanz-, Beschäftigungs-, Sozial- und
Umweltpolitik.
({3})
Diese Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden.
Wir brauchen daher einen integrierten Ansatz. Genau
das war der Ansatz der Lissabon-Strategie vom Jahr
2000. Diesen Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen,
müssen wir wiederbeleben.
Ich möchte es nicht bei allgemeinen Bekenntnissen
belassen, sondern vier Punkte nennen, die, wie ich
denke, konkrete Bestandteile der Strategie für 2010 sein
sollten: Wir brauchen eine Initiative im Bereich des Arbeitsrechts. Europa muss sich darum kümmern, dass der
Arbeitnehmerdatenschutz und die Mitbestimmung gesichert werden. Wir müssen das Prinzip „Gute Arbeit“
nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der europäischen Ebene zum Leitmotiv machen. Im Sinne des Flexicurity-Ansatzes, über den wir schon viel diskutiert haben, müssen wir einen Ausgleich zwischen
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen finden.
({4})
Wir brauchen eine europäische Initiative gegen Lohndumping. Arbeit muss fair entlohnt werden, und zwar in
ganz Europa, und sie muss es ermöglichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. An dieser Stelle darf ich sagen:
Da kann Deutschland von Europa lernen. Wir sollten,
wie es uns unsere Nachbarstaaten vormachen, endlich
den Schritt wagen, ein Bekenntnis zu gerechten Löhnen
abzulegen und einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
({5})
Ich weise darauf hin - heute ist der Girls’ Day; Kollege Steenblock hat es schon gesagt -, dass es unerträglich ist, dass es trotz des Bekenntnisses zu gleichem
Lohn für gleichwertige Arbeit, das seit 1958 in den Europäischen Verträgen steht, im europäischen Durchschnitt immer noch Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen von 17 Prozent gibt. In Deutschland
sind es sogar 22 Prozent. Darum müssen wir uns kümmern.
({6})
2010 wird auch das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sein. Dies ist
ein ernstes Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu
dem ich mir deutlichere Aussagen der Kommission in
ihrer Strategieplanung gewünscht hätte; denn es ist bisher leider nicht gelungen, die Armut in Europa signifikant zu reduzieren. Auch weiterhin leben in Europa noch
viel zu viele Menschen in Armut oder sind von Armut
bedroht; nach aktuellen Untersuchungen sind es 16 Prozent. Deshalb brauchen wir eine Strategie zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, insbesondere von Kinderarmut. Wir brauchen in Deutschland wie
in Europa nicht nur allgemeine Bekenntnisse, sondern
klare Vorgaben mit klaren Zielen und konkrete Maßnahmen, und wir dürfen uns nicht dahinter zurückziehen,
dass diese Themen keine Aufgabe der europäischen
Ebene seien, sondern müssen anerkennen, dass die Mitgliedstaaten gefordert sind. Hier erwarten die Bürgerinnen und Bürgern etwas von uns, und hier muss Europa
seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.
({7})
Lassen Sie mich noch einen Punkt anschließen: Das
Thema Soziales ist auch im Hinblick auf die externe Dimension, die die Kommission in ihrer Strategieplanung
anspricht, von Bedeutung. Es ist wichtig, wie Europa
sich beim Thema Soziales und Beschäftigung in der
Welt aufstellt. Hier geht es weniger um Wettbewerb und
Konkurrenz als vielmehr um Partnerschaft und Kooperation. Nach meiner Auffassung muss Europa dafür Sorge
tragen, dass Prinzipien wie fairer Welthandel und die
Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards auch im
Rest der Welt zum Maßstab werden. Hier muss Europa
Vorbild sein.
Ich komme zu folgendem Ergebnis - gestatten Sie
mir, dass ich so kritisch bin -: Bezogen auf Beschäftigung sowie auf soziale Sicherheit und sozialen Fortschritt gibt die Kommission in ihrer Strategieplanung
nur unzureichende Antworten auf die drängenden Fragen, die uns gerade in der Wirtschaftskrise sehr bewegen. Deshalb sollten wir im Bundestag die Gelegenheit
wahrnehmen und uns intensiv mit dem Arbeitsprogramm der Kommission, das noch folgen wird, auseinandersetzen. Den Vorschlag des Kollegen Steenblock
finde ich sehr gut, einmal zu überlegen, ob wir dabei
nicht der Gliederung folgen, um uns substanziell mit den
einzelnen Themen befassen zu können. Ich persönlich
halte dies für sehr lohnenswert.
Wenn wir diese Debatte engagiert führen und der
Kommission etwas mit auf den Weg geben, dann haben
wir uns damit zugleich für die kommende Debatte über
die Lissabon-Strategie gerüstet, die 2010 auslaufen wird.
Wir müssen uns überlegen, welche Strategie wir für die
nächsten zehn Jahre für Europa entwickeln. Ich erhoffe
mir, dass wir darüber in ausreichendem Maße diskutieren.
Herzlichen Dank.
({8})
Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu
Ihrer ersten Rede in unserem Parlament und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. Ich hoffe, dass Sie hier
noch viele Reden werden halten können.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Europäische Kommission benennt in ihrer
Strategieplanung für 2010 durchaus die richtigen
Schwerpunkte und Maßnahmen, die angegangen werden
können, um die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen. Mindestens genauso interessant ist aber auch, was
nicht in dieser Strategieplanung steht. Es ist schon angesprochen worden, dass sich dort zur Haushaltskonsolidierung kein Wort findet. Weil es stattdessen neue Ausgabenvorschläge für den Globalisierungsfonds und den
Sozialfonds gibt, muss hier ganz deutlich gesagt werden:
Die Zeit ist vorbei, in der wir über neue Konjunkturprogramme reden konnten. Wir müssen jetzt darangehen,
die öffentlichen Haushalte zu sanieren und zur Konsolidierung zurückzukehren.
({0})
Zum Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung gehört
auch, dass die Bürger wissen, dass wir mit den öffentlichen Finanzen vernünftig umgehen.
({1})
Deshalb muss im Rahmen dieser Strategieplanung ein
ganz klares Signal zur Haushaltskonsolidierung, zu einer
soliden Finanzpolitik und zu einer stabilen Geldpolitik
gesetzt werden. Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten
sollte die Kommission baldmöglichst die Signale setzen,
damit wir nach der akuten Phase der Krise dazu kommen
werden, dass die Maastricht-Kriterien wieder eingehalten werden und die Verschuldung der nationalen Haushalte begrenzt wird.
({2})
Ich wiederhole mich, wenn ich hier sage, dass auch
durch den Bürokratieabbau ein substanzieller Beitrag dafür geleistet werden kann, wieder mehr Wachstum zu generieren. Die Vorschläge der Hochrangigen Gruppe unter Leitung von Edmund Stoiber müssen jetzt von der
Kommission umgesetzt werden. Ich rate, dass auch die
neue Kommission von uns in die Verpflichtung genommen wird, sich um die Umsetzung dieser Vorschläge zu
kümmern und sich verbindliche Ziele beim Bürokratieabbau zu setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommission
widmet dem Thema bürgernahe Politik in der Strategieplanung ein eigenes Kapitel, sie schlägt in der Asylpolitik aber gleichzeitig Maßnahmen vor, die nach meiner
tiefen Überzeugung von einem Großteil unserer Bürgerinnen und Bürger nicht mitgetragen werden.
({3})
Die Kommission hat die Stirn, uns vorzuschlagen, die
Sozialleistungen für Asylbewerber an das nationale Niveau der Sozialhilfe anzugleichen, und schlägt gleichzeitig vor, die Wartezeit der Asylbewerber für den Zugang
zum Arbeitsmarkt von einem Jahr auf sechs Monate zu
verkürzen.
({4})
Damit schafft sie in einer Situation, in der absehbar ist,
dass die Arbeitslosigkeit in ganz Europa steigen wird,
zusätzliche Anreize zur Migration. Dadurch erreicht sie
auch keine Lastenverteilung in Europa, weil völlig klar
ist, dass die Asylbewerber dann dorthin gehen werden,
wo die höchsten Sozialleistungen geboten werden, was
insbesondere bei uns der Fall ist. Schließlich kündigt
man den nationalen Konsens in der Asylpolitik auf, den
wir 1993 in Deutschland gefunden haben.
({5})
Mit dem Asylkompromiss von 1993 haben wir, ohne
dass es eine Große Koalition gegeben hat, einen gemeinsamen Weg zwischen der Union und der SPD gefunden,
um die Anzahl der meist unberechtigten Asylbewerber
- es waren über 400 000 - zu senken. Wir haben das geschafft, ohne dass einem wirklich politisch Verfolgten
Asyl verweigert worden ist.
({6})
Damit haben wir überhaupt erst den Spielraum dafür geschaffen, denjenigen, die wirklich verfolgt werden, tatsächlich helfen zu können. Deswegen tun wir bis heute
mehr, als wir tun müssen, beispielsweise dadurch, dass
wir erst vor kurzem Flüchtlinge aus dem Irak in
Deutschland aufgenommen haben.
Wer das alles infrage stellen will, der wird zu den Diskussionen zurückkommen, die wir in den 90er-Jahren
geführt haben und durch den Asylkompromiss gottlob
beilegen konnten, nämlich zu den Diskussionen darüber,
ob man sich das Individualgrundrecht auf Asyl, das eine
deutsche Besonderheit ist und meiner Meinung nach aufrechterhalten werden muss, noch weiter leisten kann,
und auch zu den Diskussionen darüber, in welchem Umfang wir Flüchtlinge über unsere Verpflichtungen hinaus
aufnehmen können, wie wir das tun.
Die Kommission sichert nun fadenscheinig mündlich
zu, dass wir in Deutschland das Asylbewerberleistungsgesetz nicht ändern müssen. Das ist ein Stück Verdummung, der man scharf entgegentreten muss. Lieber Herr
Gloser, ich erwarte auch von Ihnen, dass die Bundesregierung gegen diese Vorschläge der Kommission entschiedenen Widerstand leistet und verhindert, dass sie in
der vorliegenden Form in Kraft treten können.
({7})
- Da ich hier Widerstand aus der SPD-Fraktion höre,
sage ich ganz klar, dass die Wählerinnen und Wähler
auch wissen müssen: Wer am 7. Juni 2009 zur Europawahl geht, der muss wissen, dass wir uns über die Richtung der europäischen Politik in der Sache auch streiten
müssen.
({8})
Wer nicht will, dass der Asylkompromiss, der von uns
unter schwierigen Voraussetzungen gefunden worden ist
und mit dem wir seit 16 Jahren gut leben, durch die Hintertür und die Europäische Kommission ausgehebelt
wird, der muss am 7. Juni 2009 bei der Europawahl
CDU bzw. CSU wählen, weil wir das mit unseren Abgeordneten im Europäischen Parlament verhindern werden.
({9})
- Beruhigen Sie sich. Sie können Zwischenfragen stellen,
({10})
wenn Sie mir widersprechen wollen.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben vorhin etwas beiläufig gesagt, diese Bundesregierung sei in der Umweltpolitik ein Bremser in Europa.
({11})
Ich glaube, auch der Letzte in Deutschland hat gemerkt,
dass es diese Bundesregierung gewesen ist, die schon im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 dafür gesorgt hat, dass wir in der Umweltpolitik und im
Klimaschutz in der gesamten Europäischen Union und
weltweit ein neues Kapitel aufgeschlagen haben.
({12})
Es ist auch die persönliche Autorität der Bundeskanzlerin gewesen, die dazu geführt hat, dass wir im Klimaschutz weltweit eine Vorreiterrolle eingenommen haben.
Ich glaube, dass wir dies mit offensiver Kraft gut vertreten können. Wir alle haben daran mitgewirkt. Ich glaube,
es ist ganz wichtig, dass wir diese Rolle, die wir europaweit und weltweit in der Umweltpolitik einnehmen, weiter gut ausfüllen.
Frau Präsidentin, wenn es gestattet ist, lassen Sie
mich noch einen Punkt zur Sprache sagen.
Herr Kollege, Sie haben bereits überzogen.
Wenn es gestattet ist, Frau Präsidentin?
Zwei Sätze.
Ich freue mich, dass wir uns fraktionsübergreifend darin einig sind, dass wir die deutsche Sprache in der Europäischen Union fördern müssen und dass die Bundesregierung dies ausdrücklich in ihre Kommentierung zur
Strategieplanung der Kommission aufgenommen hat.
Wenn irgendwelche abseitigen Vorschläge lauten, wir
sollten in Europa nur noch Englisch reden, dann freue
ich mich, dass wir uns in diesem Hause in allen Fraktionen darin einig sind, dass die Vertretung deutscher Interessen in der Europäischen Union anders ausschaut.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen
- Drucksachen 16/7903, 16/10578 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Johannes Röring, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
volkswirtschaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik
waren bereits Thema der Kleinen Anfrage der Fraktion
Die Linke vom 8. November 2007. Ich denke, die Fragen wurden durch die Bundesregierung bereits hinreichend beantwortet. Dennoch hat die Linke es für notwendig erachtet, hierzu noch einmal einen Antrag zu
formulieren, den wir im Mai letzten Jahres bereits debattiert haben und heute erneut debattieren werden, nachdem wir dieses Thema heute Morgen schon einmal auf
der Tagesordnung hatten.
Meine Damen und Herren, die Biotechnologie hält
wahrscheinlich mehr Antworten auf die dringenden Fragen der Menschheit, nämlich auf Fragen der Gesundheit,
der Energie und der Nahrung, bereit als jede andere Spitzentechnologie. Die Wertschöpfung verschiebt sich derzeit in vielen Ländern hin zu forschungsintensiven Industrien und zu wissenschaftlichen Dienstleistungen.
Diese Bereiche tragen erheblich mehr zu Wachstum und
Produktion sowie zu Außenhandel und Beschäftigung
bei als andere Bereiche der Wirtschaft. Gerade in der
heutigen Zeit können wir es uns nicht erlauben, Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen zu verhindern.
Die Gegner der Grünen Gentechnologie führen stets
an, diese Technologie sei zu wenig erforscht. Sie sprechen sogar von einer Risikotechnologie. Nun wollen die
Kollegen von der Fraktion Die Linke mit ihrem Antrag
aber offensichtlich die Kosten der Erforschung, zum
Beispiel der Sicherheitsforschung, anprangern. Irgendwie passt das nicht zusammen. Aus meiner Sicht sollten
Sie positiv zur Kenntnis nehmen, dass in Forschung und
Analyse investiert wird. An dieser Stelle wiederhole ich
mein Lob von heute Morgen, dass ich mich sehr darüber
freue, dass das Bundeslandwirtschaftsministerium und
das Bundesforschungsministerium in den nächsten fünf
Jahren Projekte in der Bioenergie-, der Agrar- und der
Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit
Partnern aus der Wirtschaft mit bis zu 200 Millionen
Euro fördern werden.
({0})
Dabei wird die Grüne Gentechnik eine wichtige Rolle
spielen, denn das in Forschung und Lehre investierte
Geld wird aus volkswirtschaftlicher Sicht einen Nutzen
bringen und kein negativer Kostenfaktor sein. Dass die
Linke von solchen wichtigen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen für die zukünftige Entwicklung des
Standortes Deutschland keine Ahnung hat, dokumentiert
sie im Plenum regelmäßig, sodass mich dieser Antrag
nicht verwundert.
({1})
Im Übrigen, Frau Tackmann, haben Ihre politischen Vorbilder mit solchen Überzeugungen ganze Volkswirtschaften ruiniert.
({2})
Sollen die volkswirtschaftlichen Kosten einer Technologie ermittelt werden, ohne sich mit den Chancen
und dem Nutzen zu beschäftigen, hat dies keinen Sinn.
Die Entscheidung für die Grüne Gentechnik ist doch
längst gefallen. Sie wurde auch deshalb positiv getroffen, da diese Technologie nach breiter wissenschaftlicher Einschätzung enorme Potenziale besitzt und damit
ein großer volkswirtschaftlicher Nutzen von ihr zu erwarten ist.
Auch liegt es in der Natur der Sache, dass forschende
Institutionen - ob staatlich oder privat - Innovationen
immer nur mit entsprechenden Vorleistungen auf den
Weg bringen können. Wir stehen weltweit vor großen
Herausforderungen. Bedingt durch die wachsende Weltbevölkerung steigt der Bedarf an Lebensmitteln, Rohstoffen und Energie in den nächsten Jahrzehnten stark
an; ja, er wird sich sogar verdoppeln.
Ich kann nur immer wieder betonen - auch wenn das
einige von Ihnen nicht wahrhaben wollen -, dass die verfügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche Produkte
weltweit pro Erdenbewohner drastisch abnehmen wird.
Sie wird sich laut wissenschaftlichen Prognosen bis zum
Jahr 2050 auf dann 2 000 Quadratmeter pro Erdenbewohner halbieren. Ich glaube, diese Dramatik ist vielen
von Ihnen nicht bekannt. Ich fasse es noch einmal zusammen.
({3})
- Die doppelte Menge auf halber Fläche heißt für mich
Faktor 4, Frau Tackmann. Ich weiß nicht, wie Sie das
sonst schaffen wollen.
({4})
Gleichzeitig müssen wir den großen ökologischen
Herausforderungen wie der CO2-Minderung oder dem
Ersatz fossiler Brennstoffe gerecht werden. Hierbei steht
die Pflanze als zentraler Organismus im Mittelpunkt.
Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit unserer
Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Landwirtschaft entscheidend zu steigern, zum Beispiel für
Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer
Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen klimatischen Stress - zum Beispiel die Eignung für wasserarme Standorte - oder Widerstandsfähigkeit gegen
Schädlinge und Krankheiten und damit der Möglichkeit
zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten.
Hierbei wird - das betone ich - die konventionelle
Züchtung sehr stark gefordert sein und die Hauptarbeit
übernehmen müssen. Aber zur Erreichung der oben genannten Ziele kann die Grüne Gentechnik einen großen
Beitrag leisten. Wir sollten uns daher diese Option nicht
nehmen lassen.
({5})
Breite Wissenschaftskreise in Deutschland und Europa sprechen aus diesem Grund von der Biotechnologie
als einer der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts.
Die Kosten von innovativen Technologien können zu
einem frühen Zeitpunkt keinesfalls für eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse herangezogen werden.
Vielmehr gilt es, durch intensive begleitende Forschung die
Nutzungsmöglichkeiten umfassend auszuloten. Es ist
selbstverständlich, dass auch die sicherheitsrelevanten
Fragen mit gleicher Intensität untersucht werden müssen. Der gesamte volkswirtschaftliche Nutzen hängt
letztlich von einer durchgehenden, verantwortungsvollen Nutzen-Risiko-Abwägung ab.
Dennoch müssen wir auch die Frage beantworten, wie
hoch die Kosten sein können, die durch die Verhinderung einer solchen Technologie entstehen. Auch diese
Frage muss gestellt werden. Wir haben schließlich in
Deutschland bereits negative Erfahrungen gemacht. Ich
denke zum Beispiel an die Rote Biotechnologie. Hier
wurden in den 70er- und 80er-Jahren fatale Fehlentscheidungen getroffen. Deutschland war einst die Apotheke der Welt. Aber wir haben auch hier längst den Anschluss verloren.
Eine Studie der EU-Kommission kam kürzlich zu
dem Ergebnis, dass im Jahr 2005 lediglich sechs von
140 neu zugelassenen Medikamenten in deutschen Firmen entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis
kam eine Analyse im Rahmen der Hightech-Strategie
der Bundesregierung.
1986 stoppte der damalige hessische Umweltminister
Joschka Fischer den Bau von zwei bereits genehmigten
Anlagen für die Produktion von nebenwirkungsarmem,
biotechnologisch erzeugtem Humaninsulin.
({6})
1998, 14 Jahre nach der ursprünglichen Genehmigung
und zahlreichen Prozessen vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof, konnte das Unternehmen schließlich
die Produktion aufnehmen. Der Schaden lag im dreistelligen Millionenbereich.
Was noch schlimmer ist: Heute muss der Staat den auf
dem Gebiet der Roten Biotechnologie tätigen Unternehmen mit Milliardenbeträgen Unterstützung gewähren,
damit diese den Anschluss nicht für immer verlieren.
Der volkswirtschaftliche Schaden an dieser Stelle ist unermesslich.
({7})
Dies darf uns - davon bin ich überzeugt - bei der Grünen Gentechnik nicht passieren. Deshalb setzt sich die
Union nachdrücklich für die Intensivierung der Forschung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und der
Standortanpassung von Pflanzen ein. Dies gilt sowohl
für die herkömmlichen Züchtungsverfahren als auch für
die moderne, zukunftsorientierte Pflanzenbiotechnologie. Deswegen lehnen wir den Antrag der Linken ab.
Ich bedanke mich für das Zuhören.
({8})
Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat jetzt
das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Röring, ich befürchte, dass der volkswirtschaftliche Schaden, den das Wirken der vorangegangenen rot-grünen Regierung sowie der jetzigen
schwarz-roten Regierung Deutschland an dieser Stelle
zugefügt hat, schon jetzt sehr hoch ist und dass er, so wie
sich die CSU aufgestellt hat, noch höher werden wird.
({0})
Ich fordere die CDU auf, an ihrem Kurs festzuhalten und
deutlich zu machen, dass wir diese Züchtungsmethode
weltweit und auch in Deutschland brauchen.
({1})
Es ist völlig legitim, nach den Kosten einer Züchtungsmethode zu fragen. Ich finde das in Ordnung. Aber,
Frau Kollegin Tackmann, üblicherweise stellt man den
Kosten den Nutzen entgegen.
({2})
- Sie könnten vielleicht bei Ihren Zurufen ab und zu ein
bisschen disziplinierter sein. Aber das ist wohl nicht Ihre
Sache.
Man sollte einen Blick über Deutschlands Grenzen
hinaus werfen und über den Tellerrand schauen. Wir
müssen feststellen, dass diese Züchtungsmethode auf
kontinuierlich zunehmenden Flächen angewandt wird,
inzwischen auf über 125 Millionen Hektar. Das ist dreimal so viel wie die Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Das ist für zwölf Jahre ein ganz bedeutender Erfolg. Seit 1996 ist auch die Zahl der Länder, in denen
gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden,
kontinuierlich auf über 20 gestiegen. Weltweit ist die
Zahl der Kulturpflanzen, die mit gentechnischen Methoden bearbeitet werden, auf über zehn gestiegen. Genauso
ist die Zahl der Ziele gestiegen, die mit dieser Züchtungsmethode verfolgt werden. War es ehemals die Herbizidtoleranz, ist es heute die Schädlingsresistenz. Insbesondere die Bt-Sorten stehen im Vordergrund.
({3})
Mit der Amflora haben wir ein verbessertes Produkt für
die industrielle Verwertung. Ich glaube, dass die Erfolgsbilanz dieser Züchtungsmethode sehr eindeutig ist. Sie
löst nicht alle Probleme - das ist mir bewusst, Herr
Kelber -, wohl aber sehr viele. Angesichts der Perspektive, dass wir demnächst 9 Milliarden Menschen auf der
Erde zu ernähren haben, ist es ein Erfolg, wenn wir eine
Züchtungsmethode haben, die die Probleme der Menschen auf dieser Erde teilweise lösen kann.
({4})
Es ist ziemlich durchsichtig, wenn die Grünen, die
SPD, die Linke
({5})
und - Frau Kollegin Höfken, Sie haben völlig recht - leider auch die CSU
({6})
- das stimmt doch überhaupt nicht - immer höhere bürokratische Hürden für diese erfolgreiche Züchtungsmethode aufbauen, die dem Potenzial möglicher Schäden in
keiner Weise gerecht werden. Ich finde, wir sollten in
diesem Haus endlich den Bericht des International Food
Policy Research Institute zur Kenntnis nehmen, der aufzeigt, dass mit dem Anbau von Bt-Baumwolle in Indien
die Zahl der Selbstmorde indischer Bauern deutlich gesunken ist. Ich finde es sehr zynisch, solche Erfolge
kleinzureden, anstatt zu sagen: Eventuell müssen wir unsere Position überdenken. - Wir sollten einmal sehen,
wie viele Flächen zusätzlich insbesondere mit Bt-Baumwolle bestellt werden, da sich diese Methode bewährt
hat.
Zu Recht weist der Kollege Röring darauf hin, wie
wir die Biotechnologie aus Deutschland vertrieben ha23614
ben, insbesondere dadurch, dass biotechnologische Insulinerzeugung verhindert wurde. Dadurch sind Milliardenschäden entstanden. Wer sich heutzutage darüber
beklagt, dass mehr Menschen arbeitslos sind, der muss
auch daran denken, dass er damals eine Technologie aus
Deutschland vertrieben hat, die inzwischen anerkannt ist
und sich bereits hundertfach bewährt hat.
Wenn ich mir heutige Pressemeldungen ansehe, finde
ich es schon bemerkenswert, dass Bundeskanzlerin
Merkel eine Wissenschaftsausstellung eröffnet und dazu
sagt, dass die Grüne Biotechnologie und die neu industriell erzeugten Lebensmittel Auswege versprechen. Sie
macht zwar deutlich, dass wir die Welternährung mit
dieser Technologie verbessern können, ergreift aber
gleichzeitig nicht das Wort, wenn ihre Landwirtschaftsministerin ein absolut unsägliches Verbot des Anbaus
von MON 810 ausspricht. Das ist meines Erachtens unterirdisch. Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern die
Kanzlerin auf, endlich Flagge zu zeigen.
({7})
Ich freue mich sehr, dass der bayerische Wissenschaftsminister seine Stimme erhoben und ganz deutlich
gesagt hat: Ein verantwortungsbewusster Umgang mit
der Grünen Gentechnik setzt weitere intensive Forschung voraus. - Sehr wohl, Herr Wissenschaftsminister
Wolfgang Heubisch, Sie haben in diesem Bereich absolut recht!
Ich freue mich auch, dass es in der SPD noch vernünftige Stimmen gibt. Die rheinland-pfälzische Umweltministerin Margit Conrad von der SPD hat sich immerhin
für den Versuchsanbau der Amflora eingesetzt. Ich finde,
dass es richtig ist, dies zu tun.
({8})
Denn wir wissen, welche Erfolge wir mit dem Anbau
dieser Kartoffel erzielen können. Sie zu ächten, wie es
von einigen gewollt wird, ist absolut falsch.
({9})
Ich freue mich, dass mein Kollege Dieter Kleinmann
aus Baden-Württemberg Folgendes deutlich gemacht
hat: Wir sind ein Land, in dem inzwischen über
2 Millionen Hektar Mais stehen. Die Bekämpfung von
Schädlingen beim Mais mit Bt-Pflanzen ist eine sehr
sinnvolle, eine sehr umweltschonende und eine naturverträgliche Methode. Ich wünsche mir, dass diese vermehrt
angebaut werden.
Zum Schluss möchte ich
Ganz zum Schluss, Frau Happach-Kasan.
- Franz Josef Strauß zitieren, an dem Sie sich so erfreuen:
Dem Menschen aufs Maul schauen, aber nicht nach
dem Mund reden.
Das ist das Gebot der Stunde. Ich fordere Sie auf, danach zu handeln.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Die Kollegin Drobinski-Weiß hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auf ein Neues: Über
den vorliegenden Antrag der Linken zu den volkswirtschaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik haben wir
bereits debattiert, und wir, die SPD-Fraktion, haben auch
unsere Gründe dargelegt, warum wir ihn ablehnen.
Zwar halten wir es auch für richtig und wichtig, dass
nach über 20 Jahren Debatte über das Für und Wider der
Grünen Gentechnik endlich systematisch Daten gesammelt werden, die eine sozioökonomische Analyse ermöglichen. Unserer Meinung nach muss aber auf EUEbene angesetzt werden.
Auch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim
Deutschen Bundestag hat im Rahmen der Untersuchung
des Projekts „Auswirkungen des Einsatzes transgenen
Saatguts auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
politischen Strukturen in Entwicklungsländern“ zum
wiederholten Male festgestellt, dass eine sozioökonomische Bewertung der Grünen Gentechnik bisher fehlt und
dringend nottut. Dabei wurde aber auch sehr deutlich gemacht, wie schwer es ist, die für eine Gegenüberstellung
des gesellschaftlichen Nutzens und der Kosten nötigen
Daten zu ermitteln. Nach unserer Auffassung muss dies
auf EU-Ebene angegangen werden. Das EU-Zulassungsverfahren für GVO-Pflanzen muss um sozioökonomische Aspekte erweitert werden.
({0})
Es reicht nicht aus, die wissenschaftliche Kompetenz
der zuständigen Behörden zu stärken und die Transparenz zu erhöhen. Vielmehr müssen die wirtschaftlichen
und die sozialen Auswirkungen der Einführung eines
neuen GVOs, die ökologischen Effekte des GVO-Anbaus im Gesamtsystem und die Akzeptanz sowie die
Kontrollmöglichkeiten in die Entscheidung mit einbezogen werden.
({1})
Vor einer Zulassung sollten Aspekte wie die mögliche
Gefährdung traditioneller Anbauformen, die Auswirkung auf Naturschutzgebiete und Kulturlandschaften sowie die Folgen für einzelne Landwirte, den Wettbewerb
und ganze Regionen geprüft und in einer Folgenabschätzung bewertet werden.
({2})
Eine Bewertung auch unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Kosten könnte dafür sorgen, dass die Mittel
angesichts knapper Kassen effektiv eingesetzt werden.
Nach der derzeitigen EU-Zulassungsregelung muss
der Verdacht auf mögliche Umwelt- oder Gesundheitsrisiken durch naturwissenschaftliche Studien untermauert
werden, damit sie in die Bewertung einfließen können.
Aber für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Nutzen eines GVO-Konstruktes muss es keinerlei Nachweis bzw. keine Untersuchung geben. Das müssen wir
ändern, wenn wir die Diskussion auf eine sachliche Basis stellen wollen, und das wollen wir.
Die CSU in Bayern hat nun ganz plötzlich ihre ethischen Bedenken gegen den Einsatz der Grünen Gentechnik entdeckt, allerdings nur in Bayern. Während dort
sogar von einem Eingriff der Unternehmen in die Schöpfung die Rede ist, sieht die CSU in Berlin die Grüne
Gentechnik als große Chance, die vorangebracht werden
muss. Wie wir gerade gehört haben, trifft das nicht nur
für die CSU zu.
Jegliche Kritik wird als Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Deutschland abgeschmettert. Wir wollen
einen klaren Kurs in der Gentechnik. Wir wollen im
Rahmen des EU-Zulassungsverfahrens eine Bewertung
des Nutzens und der Risiken von GVO auf breiter Basis,
auf einer Basis, die auch ökologische, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen stärker berücksichtigt. Das ist
derzeit nicht der Fall. Deshalb muss die Bundesregierung sich dafür starkmachen, dass nach dem MON-810Verbot auch die Zulassung der GVO-Maissorten Bt 11
und 1507 verhindert wird.
Die Entscheidung hierüber steht in Kürze an. Wir sagen Ministerin Aigner unsere Unterstützung zu. Die
Grüne Gentechnik darf den Bürgerinnen und Bürgern
nicht aufgezwungen werden.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lassen wir den Grundsatzstreit über die
Agro-Gentechnik beiseite. Der Antrag der Linken verlangt doch eigentlich etwas Selbstverständliches: die Ermittlung und Offenlegung der volkswirtschaftlichen
Kosten der Agro-Gentechnik. Ich verstehe nicht, dass
man dem nicht zustimmen kann. Selbst diejenigen, die
davon ausgehen, dass der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen keine Mehrkosten für die Volkswirtschaft verursacht, müssten doch eigentlich zustimmen,
damit ihre Auffassung bestätigt wird. Das Gleiche gilt
für die Gegenseite, die gegebenenfalls auch bestätigt
werden würde.
({0})
Die Relevanz dieses Themas ist eindeutig. Das zeigt
der vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft vorgelegte Schadensbericht Gentechnik. Zusätzliche Kosten
entstünden zum Beispiel bei der Trennung von Ernte-,
Transport- und Verarbeitungstechnik, die ohne AgroGentechnik gar nicht nötig wäre. Die Produktionskosten
steigen zum Beispiel durch Entnahme und Analyse von
Proben zur Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit und
der Kennzeichnung.
Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen
der Verfügbarkeit von gentechnisch unverändertem Saatgut und dem Preisniveau. Die Beispiele Soja und Mais
machen das deutlich: In einigen großen Anbauländern ist
fast kaum noch gentechnisch unverändertes Saatgut verfügbar. Die Erträge stiegen dort in den vergangenen
30 Jahren um den Faktor 1,7. Die Saatgutpreise stiegen
dagegen um stattliche 500 Prozent. Im Gegensatz dazu
stellt sich die Lage bei Reis oder Weizen dar, für die es
derzeit keine gentechnisch veränderten Sorten auf dem
Markt gibt: Die Saatgutpreise und die Ertragssteigerungen halten sich auf dem gleichen Niveau.
Noch eine eindrucksvolle Zahl aus dem Bericht: Auf
bis zu 1,285 Milliarden US-Dollar wird der Schaden geschätzt, der im Jahr 2006 durch die illegale Verbreitung
der gentechnisch veränderten Reissorte LL 601 über die
ganze Welt entstanden ist. Das war ein Super-GAU. Nun
misstrauen manche einem solchen Bericht allein schon
deswegen, weil er von einem Ökoverband stammt. Nur:
Diejenigen müssten doch erst recht unserem Antrag zustimmen, damit das behördlich festgestellt wird.
({1})
Aus Sicht der Linken ist es durchaus plausibel, dass
Agro-Gentechnik die gentechnikfreie Landwirtschaft
und Imkerei verteuert.
Das ist auch völlig unnötig; denn sie wird nicht gebraucht und von kaum jemandem gewollt - außer von
ein paar Agrar- und Saatgutkonzernen, die sich mit dem
Patentrecht die Kassen etwas schneller füllen. Es lässt
sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass mit der AgroGentechnik einige wenige sehr viel Geld auf Kosten sehr
vieler verdienen.
Mit unserem Antrag fordern wir einfach Klarheit,
auch für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist
doch die ureigene Aufgabe des Parlaments. Es ist doch
wichtig, zum Beispiel zu hinterfragen: Wie viele Proben
müssen Imkerinnen und Imker untersuchen lassen, um
sicher zu sein, dass ihr Honig frei von Genpollen ist?
Wie lange dauert die Reinigung von Erntemaschinen,
um zu sichern, dass dort kein Genmais mehr enthalten
ist? Welche logistischen Schwierigkeiten entstehen bei
der Lebensmittelproduktion, wenn transgenes von konventionellem Soja getrennt werden muss? Solche Fragen
sind absolut legitim und gehören zu einer Diskussion
über diese Risikotechnologie.
Die Ermittlung der zusätzlichen Kosten ist außerdem
die Voraussetzung dafür, dass die Verursacher sie auch
tragen. Damit meine ich vor allen Dingen die Saatgut23616
konzerne; denn vor allem sie profitieren vom Anbau und
sollten für die volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten aufkommen.
({2})
In zweiter Linie meine ich allerdings auch die Landwirtschaftsbetriebe, die genetisch veränderte Pflanzen
anbauen. Da unser Antrag die Kosten für die gesamte
Volkswirtschaft erst einmal nur ermitteln und offenlegen
will, kann man ihm eigentlich nur zustimmen, es sei
denn, man will diese Wahrheit einfach nicht wissen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Ulrike Höfken
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man kann nur sagen: In der CDU/CSU
herrscht fortgeschrittener Spaltungsirrsinn; anders kann
man das nicht bezeichnen.
({0})
Wer hat eigentlich heute Morgen geredet? Stichwort
Humaninsulin - gebetsmühlenartig wird davon gesprochen -: Die entsprechenden Gesetze sind in Hessen, und
zwar zu Recht, gestoppt worden; denn man braucht zunächst Regeln für die Produktion von Gentechnik in geschlossenen Systemen.
({1})
Sie haben diese Gesetze auch in Ihrer Regierungszeit unterstützt. Ich möchte einmal sehen, wie die Bundesländer, in denen Sie regieren, auf die Barrikaden gehen,
wenn Sie gegen gesetzliche Regelungen eintreten. So ein
Schwachsinn!
({2})
Es ist nun einmal so, dass wir nicht deswegen Milliardenschäden haben, weil wir Gesetze verabschiedet haben, sondern weil es durch die Agro-Gentechnik zu Kontaminationen, zu Verunreinigungen, die Frau Tackmann
erwähnt hat, gekommen ist: bei Reis, bei Zucchini, bei
Honig. Ich verweise auf die Kontrollen, auf die Untersuchungen, auf die Bürokratie und die Milliardensubventionen. Zur Hightech-Strategie von Ministerin Schavan
- darüber habe ich schon heute Morgen gelästert; ich
kann es mir nicht verkneifen - gehört auch die Entwicklung von Weihnachtssternen, und zwar unter dem Etikett
„Sicherheitsforschung“. Gefördert wird das Unternehmen Klemm + Sohn mit 270 000 Euro. Das gehört wahrscheinlich nur deswegen zu Deutschlands Hightech-Strategie, weil ein Mitglied dieser Firma im Vorstand des
Verbandes der Pflanzenzüchter sitzt.
Wir fordern dazu auf - darin unterstützen wir die Linke -,
diese Kosten offenzulegen. Wir wollen allerdings - das
unterscheidet uns von der Linken - nicht auf die Bewertungen durch die Bundesregierung selbst vertrauen; denn
wir sind einigermaßen misstrauisch, wenn Behördenvertreter gemeinsam mit Mitarbeitern der Gentechnikindustrie wissenschaftliche Artikel veröffentlichen, in denen
sie ankündigen, die Risikoprüfung - entgegen den geltenden Gesetzen - „schnell und kostengünstig“ zu vereinfachen. Es sind zumindest einige Fragezeichen erlaubt, ob
eine Bewertung vonseiten dieser Behörden selbst richtig
wäre.
({3})
- Ich schließe mich der in dem Bericht zur Technikfolgenabschätzung gestellten Forderung an: Wir wollen
eine unabhängige Evaluation. Wir warten darauf, dass
sich die Bundesregierung dieser Forderung endlich anschließt.
Frau Kollegin Höfken, Ihre Kollegin Cornelia Behm
möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
({0})
Bitte. - Ich bin gespannt. Sie nicht?
Ich bin jetzt über eine Aussage gestolpert, Frau
Höfken. Sie haben die Behördenvertreter erwähnt, die
mit der Industrie zusammen agieren. Das irritiert mich.
Vielleicht können Sie Ihre Aussage noch etwas stärker
untersetzen. Ich habe auch einmal in einer Behörde gearbeitet. Auch Frau Aigner verlässt sich bei ihren Entscheidungen auf Behörden. Da muss doch Transparenz
sein. So etwas kann doch nicht passieren. Können Sie
das vielleicht klarstellen?
Es ist natürlich von Wichtigkeit, inwieweit die Bewertungen, die jetzt zu den Entscheidungen geführt haben, tragfähig sind, und natürlich ist auch wichtig, inwieweit die Bundesregierung zu ihrer Haltung steht.
Ich habe heute Morgen angesprochen, dass ich gestern in Mecklenburg-Vorpommern war.
({0})
Man muss sich einmal genau vor Augen führen, was dort
passiert. Dort gibt es zwei Personen, nämlich Kerstin
Schmidt und die Professorin Inge Broer, die - da werden
die Verflechtungen eben deutlich - in einer Vielzahl von
sich ergänzenden Funktionen auftreten. Einerseits tritt
Frau Professor Broer, Professorin an einer Universität,
als Anmelderin von gentechnischen Freisetzungen auf.
Gleichzeitig gehört sie dem Gentechnikgremium des
Bundesinstituts für Risikobewertung an, das an der Genehmigung solcher Versuche beteiligt ist. Zugleich ist
Frau Professor Broer finanziell beteiligt an Firmen wie
Biovativ, ebenso aber auch an zahlreichen Patentanmeldungen, wiederum in Verbindung mit der Bayer AG oder
auch der Hoechst AG.
({1})
Man sieht dann eben auch die engen Verbindungen zu
dem AgroBioTechnikum in Groß Lüsewitz, das wiederum finanziert wird - da sind wir genau wieder bei
dem Punkt der Subventionen; hier geht es nur um die
verhältnismäßig kleine Summe von 9 Millionen Euro durch EU, Bund und eben auch das Land MecklenburgVorpommern. Es gibt weitere Verbindungen zu einer
Vielzahl von Forschungs- und Förderungsaktivitäten,
zum Beispiel zu einem Schüler-Gentechniklabor, das
von dem Verein FINAB initiiert wurde. Solche Verflechtungen haben wir aber nicht allein an diesem Standort.
Wir haben ja noch andere, zum Beispiel Gatersleben.
({2})
Interessant wäre, den Ministerpräsidenten von SachsenAnhalt, Herrn Böhmer, einmal einzuladen, der gesagt
hat, mit den 65 Millionen, die vom Land Sachsen-Anhalt
in die Agro-Gentechnik geflossen sind, seien verdammt
wenig Arbeitsplätze entstanden.
({3})
Selbst Herr Böhmer, der Ministerpräsident, sagt, er
möchte nicht in der Zeitung lesen, welche Gelder die leitenden Angestellten dieses Bereiches bekommen haben.
So viel zur Beantwortung der Frage. Ich glaube, das
ist ein Bereich, der noch intensiv vertieft werden kann.
({4})
Zu der Diskussion von heute Morgen, die Sicherstellung der Welternährung erfordere eine Steigerung der
Produktivität in der Landwirtschaft, möchte ich noch erwähnen: Die heute Morgen beschriebenen Chancen sind
Märchen, die schon 2004 von der FAO, aber jetzt auch
noch einmal in einer aktuellen Studie widerlegt worden
sind. Die Studie aus den USA - 20-jährige Forschung,
Auswertung eines 13-jährigen kommerziellen Anbaus in
den USA - kommt zu dem Ergebnis, dass in den USA
angebauter Genmais und gentechnisch veränderte Sojasorten keinesfalls höhere Erträge liefern als konventionelle Sorten. Man könnte - dazu reicht meine Redezeit
nicht - noch eine Vielzahl solcher Märchen ansprechen.
Letztendlich kommen wir immer zum gleichen Schluss.
Es ist wichtig, die durch die Agro-Gentechnik verursachten Kosten auch denen anzulasten, die diese anwenden wollen - das ist verursachergerecht -, und nicht dem
Ökolandbau, der mit seinen 150 000 Arbeitsplätzen viel
mehr Arbeitsplätze als die Agro-Gentechnik mit ihren
500 bietet, der durch die Agro-Gentechnik aber in Gefahr gerät. Wir brauchen also eine Veränderung bei der
Kostenbelastung durch die Agro-Gentechnik.
Ich warte auf eine vernünftige Evaluation dieses Bereiches, damit wir dann vielleicht endlich einmal gemeinsam zu anderen Bewertungen kommen.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat der Kollege Ulrich Kelber das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Höfken, bei aller inhaltlichen
Gemeinsamkeit beim Thema Gentechnik: Sich eine
„spontane“ Frage stellen zu lassen und dann die Antwort
vom Zettel abzulesen, das ist aus meiner Sicht ein Missbrauch des Parlaments. Das tut man nicht. Das schadet
auch dem gemeinsamen Anliegen.
({0})
Heute Mittag gab es die Aktuelle Stunde. Es ist gut,
dass wir über dieses Thema sprechen. Stichwort jetzt:
volkswirtschaftliche Kosten. Wenn man diese betrachtet,
darf man nicht nur über die eigene Volkswirtschaft sprechen. Ich tue das deswegen gern, weil ich vor der Osterpause die Chance hatte, einige Tage in Sambia bei einer
Kleinbauernfamilie zu leben und zu arbeiten und danach
zu einer Konferenz über agrarische Entwicklung, Welthandel und Gentechnik zu fahren. Da hat man was erlebt.
Als die Bundesrepublik Deutschland die Entscheidung getroffen hat, den Mais MON 810 nicht anbauen
zu lassen, haben wir erlebt, dass deswegen der deutsche
Botschafter einbestellt wurde. Können Sie sich das auch
bei einer anderen Entscheidung von ähnlicher monetärer
Größenordnung vorstellen? Sicherlich nicht. Das hat mit
dem Ziel zu tun: der Monopolisierung von Lebensmitteln, der Monopolisierung von Saatgut, der Monopolisierung von Landwirtschaft.
Etwas Ähnliches ist in Sambia passiert. Dort hat die
katholische Kirche so lange Druck auf die Regierung
ausgeübt, bis diese ein Einfuhr- und Anbauverbot für
gentechnisch veränderte Organismen ausgesprochen hat.
Daraufhin hat der damalige Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika persönlich im Vatikan angerufen und gebeten, die katholischen Priester in Sambia zu
stoppen. Das zeigt die strategische Bedeutung, die diesem Thema beigemessen wird. Es geht darum, einen
ganzen Bereich für ein Land, für eine bestimmte Firma
zu monopolisieren. Das wird volkswirtschaftliche Kosten ungeahnter Größenordnung für den wichtigsten Bereich, nämlich die Ernährung von Menschen, nach sich
ziehen; das ist nicht zu akzeptieren.
({1})
Ich habe nun eine Bitte an das Landwirtschaftsministerium, die Ministerin oder an die Staatssekretäre. Ich
habe hier leider nur eine kleine eigene Auswahl von
Schreiben. Die Kenntnisnahme biete ich Ihnen, Frau
Happach-Kasan, aber auch den Kollegen der CDU und
der CSU an. Herr Seehofer kann sie Ihnen ebenfalls zur
Verfügung stellen.
Als wir das Gentechnikgesetz novelliert haben, ist öffentlich nur von Herrn Hipp gesprochen worden, der
nämlich gesagt hat: Wenn der Anbau von solchen Pflanzen in diesem Land zunimmt, muss ich dieses Land verlassen, um meinen Kunden ein bestimmtes Produkt anbieten zu können. - Wer ein bisschen eingeweiht ist,
weiß - Peter Bleser, du kannst das bestätigen, denke ich,
weil du an Sitzungen teilgenommen hast, in denen das
erwähnt wurde -, dass dies nicht die einzige Firma war,
die sich bei uns gemeldet hat. Auch viele andere namhafte Lebensmittelproduzenten in Deutschland, große
Firmen, haben sich gemeldet.
({2})
Sie haben allerdings gesagt: Wir gehen nicht wie Herr
Hipp in die Öffentlichkeit, weil wir den Namen unserer
Firma nicht in einem Atemzug mit der Grünen Gentechnik genannt haben wollen, weil sich die Menschen nachher vielleicht falsch erinnern. - Es war das Who’s who
der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Sie haben gesagt:
Uns geht es um die Rohstoffversorgung für unsere Lebensmittel. Wir sind bereit, dieses Land zu verlassen,
wenn wir hier nicht in der Lage sind, gentechnikfreie
Rohstoffe zu beziehen.
Ich glaube, dass Sie sich unter Zusage der Einhaltung
der Vertraulichkeit diese Schreiben im Ministerium ansehen können. Sie werden erstaunt sein, zu erfahren, was
das für die Volkswirtschaft hier bedeutet.
Noch einmal zur Hightech-Strategie und zur Menge
des Geldes, das in den nächsten Jahren in den Lebensmittelbereich, in die Agrarforschung investiert wird. Ich
bin der Meinung, dass wir als Bundesrepublik Deutschland deutlich zu wenig Geld in die Agrarforschung investieren.
({3})
Wenn investiert wird, sollte das in einer Technologieoffenheit geschehen. Es geht nicht an, dass wir dann festlegen: 95 Prozent des Geldes gehen in die Lösung des Problems durch Grüne Gentechnik und eben nicht in
integrierten Anbau, nicht in Smart Breeding und nicht in
konventionelle Züchtung.
Das hat einen einfachen Grund. Es gibt typische Kulturpflanzen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland
von den Alpen bis zum Meer anpflanzen. Wir pflanzen
aber nicht eine Sorte an. In den Mittelgebirgen BadenWürttembergs, liebe Elvira Drobinski-Weiß, werden andere Sorten angebaut als in der Jülicher Börde, meiner
Heimat, im Rheinland, mit den wesentlich besseren Böden. Wenn es aber zu gentechnisch veränderten patentierten Pflanzen kommt, wird in der Regel nur eine Sorte
angeboten, die über viele Jahre nicht mehr verändert
werden kann, die zum Teil schon uralt ist, wenn sie auf
den Markt kommt. Demgegenüber können konventionell
gezüchtete Pflanzensorten, in die ebenfalls Trockenresistenz, Salzresistenz oder Hochwasserresistenz hineingezüchtet werden können, sofort an die verschiedenen Nischen und die unterschiedlichen Kulturräume unserer
Heimat angepasst werden. Das ist der Unterschied.
Noch einmal zum aktuellen Verbot der Maissorte der
Firma Monsanto. Der Landwirt, der diese Maissorte
kennt, wundert sich nicht darüber, dass sie auf den
Äckern geringere Erträge liefert als moderner konventionell gezüchteter Mais.
({4})
Dafür gibt es nämlich einen einfachen Grund. Die Maissorte ist eigentlich 15 Jahre alt; damals hat ihr die Firma
Monsanto eine Eigenschaft, nämlich die Produktion eines Pestizids, aufgestülpt. In den letzten 15 Jahren hat
sich aber der Ertrag der Maissorten um etwa 2 bis 3 Prozent pro Jahr erhöht. Deswegen haben die konventionellen, der Gemeinschaft gehörenden Maissorten, die heute
auf dem Markt angebaut werden, ein höheres Ertragspotenzial als alle Maissorten, die aus den Gentechniklaboren stammen.
Es geht darum, eine Dinosauriertechnologie, die die
Monopolisierung unserer Lebensgrundlagen zum Ziel
hat, nicht zum Zug kommen zu lassen. Das sollte weiterhin Politik in Deutschland sein.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10578, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7903 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes ({0})
- Drucksache 16/12429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist eine
dreiviertelstündige Debatte vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich unserer
Kollegin Maria Böhmer herzlich zum Geburtstag gratulieren. Ich finde es sehr erfreulich, dass sie ihn heute
Abend hier mit uns verbringt. Das muss ausdrücklich gewürdigt werden.
({2})
Als Erster in dieser Debatte hat der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Hermann Kues für die Bundesregierung das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Kinderschutzgesetz setzen wir Maßstäbe
für den Kinderschutz in Deutschland. Wir sind alle stets
aufs Neue von Fällen extremer Kindeswohlgefährdung
erschüttert, die uns immer wieder in dramatischer Weise
vor Augen geführt haben, dass wir unsere Anstrengungen für Kinder in Not weiter verstärken müssen. Die
Analyse solcher Fälle zeigt uns Schutzlücken auf, die es
zu vermeiden gilt; denn diese Lücken haben Kindern das
Leben gekostet.
Gefährdete Kinder drohen vor allem dann durchs
Netz zu fallen, wenn verschiedene Systeme oder Organisationen zusammenarbeiten und ihren Schutz sicherstellen müssen. Das nehmen wir auch auf Ebene der politisch Verantwortlichen sehr ernst. Der Schutz von
Kindern und Jugendlichen ist eine Aufgabe, die Bund
und Länder in gemeinsamer Verantwortung wahrnehmen. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der
Länder haben deshalb auf ihrer Konferenz am 12. Juni
2008 gemeinsam ein Programm zur Verbesserung des
Kinderschutzes in Deutschland erarbeitet. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes liefern wir einen zentralen Baustein, um die Beschlüsse der Kanzlerin und der Länderchefs in die Praxis
zu überführen.
Das Kinderschutzgesetz soll als Bundesrecht die gemeinsamen Beschlüsse umsetzen, wonach erstens gesetzliche Regelungen dafür Sorge tragen müssen, dass
der Datenschutz den Kinderschutz nicht behindert,
({0})
und zweitens jedes gefährdete Kind persönlich durch
eine Fachkraft in Augenschein genommen werden muss.
({1})
Einen zentralen Schwerpunkt des Gesetzentwurfes
bildet deshalb die ausdrückliche Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger zur Weitergabe von Anhaltspunkten
für eine Kindeswohlgefährdung. Insbesondere für Ärzte
und Beratungsfachkräfte entsteht dadurch Sicherheit,
wie sie damit umgehen, wenn sie bei einem Kind Hinweise auf Misshandlung oder Vernachlässigung feststellen. Sicherheit im Umgang mit relevanten Wahrnehmungen ist für einen relevanten Kinderschutz unerlässlich.
({2})
Im Gesetzentwurf ist daher vorgesehen, Gefährdungshinweise für eine Beratung der Eltern zu nutzen und ihnen Unterstützung anzubieten. Ärzte wie auch andere
Berufsgeheimnisträger können dabei externe Fachberatung in Anspruch nehmen. Erst wenn solche Bemühungen bei den Eltern erfolglos bleiben, ohne dass die Befürchtung einer Gefährdung ausgeräumt ist, dürfen die
erforderlichen Daten an das Jugendamt weitergegeben
werden. Gleiches gilt im Übrigen, wenn die Einbeziehung der Eltern dem Schutz des Kindes widerspricht.
Werden Informationen auf dieser Grundlage weitergegeben, müssen Berufsgeheimnisträger künftig nicht
mehr befürchten, wegen Bruchs der Schweigepflicht
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
({3})
Insofern sorgt dieses Gesetz für Klarheit. Wir weisen damit den Weg, wie Kinderschutz gelingen kann, ohne die
Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patienten zu
zerstören. Stattdessen nutzen wir diese Vertrauensbeziehung für den gezielten Schutz von Kindern.
({4})
Der Gesetzentwurf regelt auch die Weitergabe von
Gefährdungshinweisen durch Angehörige solcher Berufsgruppen, die Kinder und Jugendliche ausbilden, erziehen und betreuen. Kinder und Jugendliche sind nämlich darauf angewiesen, dass die Personen
Verantwortung übernehmen, die sie jeden Tag sehen und
erleben, die Veränderungen im Verhalten wahrnehmen
und ihre Entwicklung aufmerksam verfolgen. Diese Personen haben als Erste und manchmal als Einzige außerhalb der Familie die Möglichkeit, gewichtige Anhaltspunkte für Gefährdungen von Kindern wahrzunehmen.
Für sie besteht bislang große Unsicherheit, wie sie mit
solchen Hinweisen umgehen sollen und dürfen. Deswegen geben wir mit diesem Gesetzentwurf Antworten.
Auch diese Personen werden dazu aufgerufen, mit den
Eltern eines gefährdeten Kindes in Kontakt zu treten.
Zur Klärung der Kindeswohlgefährdung können sie externe Fachberatung in Anspruch nehmen. Wird über
diese Zugänge der Schutz eines Kindes nicht sichergestellt, so dürfen die erforderlichen Hinweise dem Jugendamt übermittelt werden.
Mit diesen gesetzlichen Regelungen zur Zusammenarbeit im Kinderschutz werden wir künftig die Sensibilität der betroffenen Berufsgruppen für Hinweise auf eine
Kindeswohlgefährdung schärfen und ihre Bereitschaft
zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt stärken.
({5})
Auch das führt zu Rechtssicherheit. Die notwendige
Rechtssicherheit kann nur über eine bundeseinheitliche
Rechtslage geschaffen werden. Ob und wie ein Kind am
besten geschützt wird, kann und darf nicht davon abhängen, ob es an der Nordsee oder in den Alpen aufwächst.
Das muss in Deutschland einheitlich geregelt werden.
Einigkeit zwischen Bund und Ländern besteht auch über
die Notwendigkeit, die Pflichten des Jugendamtes bei
der Wahrnehmung des Schutzauftrages konkreter zu fassen.
Wir setzen das um, was zwischen Bundeskanzlerin
und Länderchefs politisch abgesprochen wurde. Tragische Fälle offenbaren immer wieder Lücken und Defizite bei der Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohles. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder, bei
denen eine Gefährdung in kürzester Zeit zu einer Frage
von Leben und Tod werden kann. Nehmen die Fachkräfte des Jugendamts das Kind nicht selbst in Augenschein, lassen sie sich vertrösten und vertrauen den unzuverlässigen Eindrücken Dritter, kann es ganz schnell
zur Katastrophe kommen. Das ist leider keine Theorie,
sondern eine schreckliche Erfahrung, etwas, was wir immer wieder erleben. Deswegen muss der Hausbesuch als
Regelfall gesetzlich festgeschrieben werden. Das
Schutzbedürfnis gerade der Kleinsten gebietet es in den
allermeisten Fällen, dass Fachkräfte das gefährdete Kind
und dessen persönliches Umfeld in Augenschein nehmen.
Der Gesetzentwurf berücksichtigt selbstverständlich
auch die Ausnahmefälle, in denen ein Hausbesuch den
wirksamen Schutz des Kindes infrage stellen würde. Insofern laufen die kritischen Kommentare ins Leere. Ein
Hausbesuch muss nicht unter allen Umständen durchgeführt werden; gerade wenn die Gefahr besteht, dass dadurch die Dinge eskalieren - das kann zum Beispiel bei
sexuellem Missbrauch der Fall sein -, kann auf den
Hausbesuch verzichtet werden.
({6})
Es wird jedoch festgelegt, dass sich die Fachkräfte in der
Regel einen unmittelbaren Eindruck von Kind und Eltern verschaffen müssen. Wir müssen hier Mut zu einem
aktiven und offensiven Kinderschutz haben. Hierfür ist
auch der persönliche Kontakt mit betroffenen Familien
notwendig.
Das Gleiche gilt im Prinzip für das Phänomen des Jugendamt-Hoppings durch Umzüge. Ziehen Eltern um,
dürfen Informationen über die Gefährdung ihres Kindes
nicht auf der Strecke bleiben. Das gilt unabhängig davon, ob der Verlust der Informationen von den Eltern beabsichtigt wird oder nur unerwünschte Folge eines Umzugs ist. Deshalb regeln wir verbindlich, dass beim
Wohnortwechsel einer Familie die erforderlichen Daten
dem neuen Jugendamt übermittelt werden müssen. Dies
wird künftig in einem gemeinsamen Gespräch der Fachkräfte unter Beteiligung der Eltern und ihres Kindes erfolgen. Häufig stellt sich erst im Gespräch heraus, welche Schwierigkeiten in einem Fall vorhanden sind und
welche Konsequenzen gezogen werden müssen. Solche
Informationen entziehen sich oft einer schriftlichen Dokumentation. Wenn diese Informationen verloren gehen,
beeinträchtigt das den Kinderschutz. Mit der ausdrücklichen Regelung zur Fallübergabe werden wir unser gemeinsames Anliegen einer nachhaltigen Qualifizierung
der Fallübergabe in Kinderschutzfällen erreichen.
Als verbesserungswürdig sehen wir schließlich auch
den präventiven Schutz von Kindern und Jugendlichen
in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe an. Auch
in solchen Institutionen kommt es vor, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrem unmittelbaren Kontakt zu Kindern und Jugendlichen fehlverhalten. Häufig
wird aufgrund falsch verstandener Kollegialität von kritischen Fragen und offener Diskussion abgesehen. Wird
dieses Thema jedoch tabuisiert, sind betroffene Kinder
und Jugendliche zusätzlich gefährdet.
Um diesen präventiven Schutz zu stärken, wird mit
der Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ein mit
Blick auf den Kinder- und Jugendschutz erweitertes
Führungszeugnis für kinder- und jugendnah Beschäftigte
eingeführt. Künftig kann auch von strafrechtlichen Verurteilungen mit besonderem Bezug zur Gefährdung junger Menschen Kenntnis genommen werden, die bislang
nicht in Führungszeugnissen enthalten waren. Das Kinder- und Jugendhilferecht verweist auf die Möglichkeiten des Bundeszentralregisters, dass das erweiterte Führungszeugnis vorgelegt werden muss, wenn es um eine
Beschäftigung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
geht. Ich finde, auch das gehört zur Prävention.
({7})
Bund und Länder sind sich einig: Wir wollen neue
Maßstäbe für einen wirksamen Kinderschutz in Deutschland setzen. Mit dem Kinderschutzgesetz haben wir uns
auf den Weg gemacht. Das Kinderschutzgesetz stellt einen wichtigen Schritt zur Verbesserung des Kinderschutzes dar. Wir fordern Verantwortlichkeit nicht nur ein,
sondern wir geben auch Wege vor, wie diese Verantwortung wahrgenommen werden kann. Wir präzisieren Vorschriften und den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag.
Ich möchte Sie deshalb ganz herzlich bitten, diese Fortschritte zu unterstützen und aktiv für das Gesetz einzutreten.
Herzlichen Dank.
({8})
Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es ist wichtig und richtig, dass wir uns
heute mit diesem Thema befassen.
Gleich einmal ein Lob vorweg - so viel dazu, dass die
Opposition konstruktiv ist -: Die Idee, dieses Gesetz
Kinderschutzgesetz zu nennen, finde ich sehr gut. In unserem politischen Alltag erleben wir allzu oft, dass Gesetze auf den Markt kommen, deren Titel kein Mensch
versteht, bei denen niemand weiß, was eigentlich dahintersteckt. Es ist gut und richtig, dass bei diesem wichtigen
Thema, das alle Bevölkerungsschichten angeht - alle
Kinder und Jugendlichen ebenso wie alle Erwachsenen
in diesem Land -, ein solcher Titel gewählt wurde.
Nichtsdestotrotz habe ich in Ihrer Rede, Herr Kues, das
Herzblut vermisst. Ich glaube, dass wir bei diesem
Thema noch tiefgründiger sein müssen. Wir müssen zum
Ausdruck bringen, dass es uns an die Nieren geht, wenn
wir von diesen Fällen hören oder darüber lesen.
({0})
Es ist ein sehr ernstes Thema, mit dem wir uns intensiv
befassen müssen. Aus diesem Grund hat sich die Opposition mit dem vorliegenden Entwurf eingehend befasst.
Wir haben ebenso wie andere Fraktionen in der Ausschusssitzung angeregt, dass wir uns mit diesem Thema
noch intensiver beschäftigen und eine Expertenanhörung
durchführen. Ich glaube, das ist nötig, weil noch viele
Fragen offen sind.
Ich möchte einige Punkte ansprechen, die aus unserer
Sicht zu hinterfragen sind:
Ich beginne mit der Prävention. Uns gehen die Vorschläge zur Prävention noch nicht weit genug. Es ist
wichtig, dass das Gesetz nicht erst wirkt, wenn es schon
lichterloh brennt, wenn es quasi schon zu spät ist; die
derzeitigen Vorschläge scheinen aber darauf hinauszulaufen. Wir sind der Meinung, dass die Prävention die
Maxime allen Handelns sein muss. Familienhebammen
beispielsweise dürfen nicht nur punktuell eingesetzt werden, sondern müssen die Chance bekommen, flächendeckend zu arbeiten. Betreuung vor der Geburt ist extrem
wichtig, um früh vertrauensvolle Beziehungen zwischen
Mutter, Vater, Familie und den entsprechenden Stellen
aufzubauen.
({1})
Zweitens. Mit dem Gesetz sollen - Sie haben darauf
hingewiesen - Meldesysteme etabliert werden, sei es
durch die Jugendämter oder die Ärzte. Wir sind der Meinung, dass die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt nicht das Ende sein darf, sondern der Beginn
des Prozesses sein muss. Die weitere Zusammenarbeit
der Ebenen wird in diesem Gesetzentwurf aber nicht thematisiert.
Drittens. Viele Kernbereiche des Entwurfs des Kinderschutzgesetzes betreffen die Jugendämter. Sie wissen,
Herr Kues: Die finanzielle und personelle Ausstattung
der Jugendämter obliegt den Ländern. Auch da haben
wir noch ein Defizit; ich werde später ausführlich darauf
eingehen. Ich will Ihnen Beispiele nennen: Vor Kevins
Tod wurde ein Drittel des Personalbestandes in der Abteilung „Junge Menschen und Familie“ gekürzt. In
Schwerin, wo die fünfjährige Lea-Sophie qualvoll verhungerte, hatte man innerhalb von zehn Jahren ein Viertel der Sozialarbeiter abgeschafft. In Berlin hat sich seit
Anfang der 90er-Jahre die Zahl der Familien, die vom
Jugendamt betreut werden, versechsfacht. Die Folge:
Zum Beispiel im Berliner Bezirk Wedding betreut jeder
Mitarbeiter des Jugendamtes rund 80 Fälle.
({2})
Damit bleiben für jeden Klienten genau 24 Minuten in
der Woche, abzüglich der Aktenbearbeitung zwölf Minuten.
({3})
Gleiches gilt für den neu geregelten Informationsaustausch beim Zuständigkeitswechsel von Jugendämtern;
auch das haben Sie angesprochen, Herr Kues. Allein die
Informationen auszutauschen, wird keinem Kind helfen.
Entscheidend ist auch hier, dass die Betreuung weiter gewährleistet wird. Dreh- und Angelpunkt ist die bessere
personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämter.
Sie obliegt den Ländern, aber wir können den Ländern
doch nicht etwas übertragen, ohne zu sagen, wie es finanziert und ausgestattet werden soll.
({4})
Gleichzeitig wäre es wünschenswert, im Rahmen der
Jugendministerkonferenz - auch das ist Ländersache einheitliche Qualitätsstandards für die Kinder- und Jugendhilfe festzulegen. Sie haben davon gesprochen, dass
es keinen Unterschied machen darf, ob ein Kind - ich
kann mich nicht mehr genau an Ihre Beispiele erinnern an der Ostsee oder in Bayern aufwächst. Das ist so, aber
um das zu erreichen, muss man Standards einführen und
muss die Qualität in regelmäßigen Abständen evaluiert
werden. Mithilfe von Fehlermanagement sollte man herausfinden, welche Prozesse nicht optimal ablaufen,
strukturelle Mängel identifizieren und Optimierungsmöglichkeiten finden. Außerdem wäre es wichtig - das
ist ein mittelfristiger Aspekt -, die Forschung zu den Indikatoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine
Kindeswohlgefährdung verweisen, zu intensivieren.
Mein vierter und letzter Punkt: Das vertrauensvolle
Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Ärzten ist meines Erachtens elementar wichtig. Es sollte vermieden
werden, dass Betroffene aufgrund der fehlenden ärztlichen Schweigepflicht gar keine Hilfe suchen.
({5})
Diese Punkte zeigen, dass wir noch sehr viel Arbeit
vor uns haben. Deswegen freue ich mich über die geplante Expertenanhörung am 25. Mai dieses Jahres. Nur
so können wir einzelne Fragen sachlich erörtern, wie
zum Beispiel - das ist mein letztes Beispiel - die Hausbesuche, über die kontrovers diskutiert wird. Die einen
sagen, dass deren verstärkter Einsatz ein richtiger Schritt
ist. Die anderen befürchten, dass das Jugendamt dadurch
zur Kontrollinstanz degradiert wird. Ich bin auf das Ergebnis der Anhörung gespannt.
Auch wenn wir unterschiedlichen Parteien angehören,
auch wenn unterschiedliche Ansichten geäußert werden,
ist es wichtig, dass von hier das Signal ausgeht, uns auf
das folgende Ziel zu verständigen: Wir wollen die Kinder in Deutschland besser als bisher vor Missbrauch und
Verwahrlosung schützen. Lassen Sie uns deshalb das
Kinderschutzgesetz nach der Expertenanhörung gemeinsam zu einem guten Gesetz werden lassen, nicht nur zu
einem, das nicht mehr hinterlässt als ein gutes Gefühl.
Vielen Dank.
({6})
Die nächste Rednerin ist Caren Marks für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wer Eltern und Kindern einen Zugang zur Hilfe
schaffen will, muss sich ihnen zuwenden und sie
einbeziehen. Wir versuchen, das Verhalten der Familie nicht von den Verhältnissen, unter denen sie
lebt, abzuspalten, sondern die Familie mit ihren
spezifischen Bedürfnissen wahrzunehmen und gemeinsam Lösungswege zu erarbeiten.
Das ist auf der Internetseite der Kinderschutz-Zentren zu
lesen.
Gemeinsame Lösungswege zu erarbeiten, ist beim
Kinderschutz ganz besonders wichtig. Wir wollen, dass
die Hilfen auch tatsächlich bei den Eltern und ihren Kindern ankommen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bietet ein ganzes Bündel an solchen Lösungswegen. Es
reicht von frühen präventiven Hilfen über ambulante Beratung und Therapie bis hin zu langfristigen Maßnahmen. Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Prävention.
Eltern sollen besser befähigt werden, ihren Kindern gute
Eltern zu sein. Kinder und Jugendliche müssen - hier
sind wir uns alle einig - vor Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung geschützt werden, und zwar
effektiv und umfassend.
({0})
Das sind hohe Maßstäbe. Nun, Herr Staatssekretär, müssen wir uns fragen, ob der vorliegende Gesetzentwurf
diese Maßstäbe wirklich erfüllt.
({1})
Die Mehrzahl der Kinderschutzexpertinnen und -experten kritisiert diesen Gesetzentwurf. In Anbetracht
dessen dürfen wir nicht abtauchen und weghören. Die
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe sagt:
Die vorgeschlagenen Neuregelungen bleiben in ihren Formulierungen jedoch vielfach unpräzise und
werden den fachlichen Herausforderungen im Kinderschutz nicht gerecht.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge sagt:
Der vorliegende Gesetzentwurf geht an den tatsächlichen Erfordernissen eines effektiven Kinderschutzes vorbei.
Auch das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht sowie der Deutsche Kinderschutzbund warnen
vor problematischen Folgen. Diese geballte Kritik der
Fachleute nimmt die SPD-Fraktion sehr ernst. Deshalb
werden wir diesen Gesetzentwurf im parlamentarischen
Verfahren auf Herz und Nieren prüfen.
Kinderschutzexpertinnen und -experten sind sich einig: Eine Gefährdung des Kindeswohls kann nur im
Rahmen komplexer fachlicher und rechtlicher Beobachtungs- und Bewertungsprozesse festgestellt werden.
Hausbesuche sind dabei in vielen Fällen durchaus sinnvoll und notwendig. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz
ermöglicht Hausbesuche da, wo sie Sinn machen, aber
schon heute.
({2})
Ob Hausbesuche sinnvoll oder schädlich sind, ist eine
von vielen Fragen, die verantwortliche Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in jedem Einzelfall sorgfältig prüfen und klären müssen. Die nun vorgesehene
Regelung zu verpflichtenden Hausbesuchen ist zu starr
und wird dem Einzelfall deswegen gerade nicht gerecht.
Gut gemeint ist leider nicht immer gut gemacht. So
warnt der Deutsche Kinderschutzbund zu Recht: Solche
einzelnen Maßnahmen „im Detail vorschreiben zu wollen, kann eher weniger als mehr Kinderschutz bedeuten“.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in der Kinder- und Jugendhilfe brauchen wir eine Balance zwischen Hilfe und Kontrolle. Wichtig sind dabei die frühen
Hilfen. Dazu gehören vielfältige Angebote, angefangen
bei Angeboten an Schwangere und an junge Eltern wie
Willkommensbesuche und Elternberatung. Wichtig sind
auch gute Netzwerke vor Ort. Frühe Hilfen müssen im
Gemeinwesen verankert sein. Ärzte, Hebammen, Kindergärten, Schulen, Jugendämter und Gesundheitsämter
müssen eng zusammenarbeiten. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes sagt zu Recht:
Jede frühe Hilfe ist wirksamer und kostengünstiger
als jede späte Hilfe.
Ich frage mich, warum solche präventiven Ansätze im
vorliegenden Gesetzentwurf fehlen.
({3})
Wir müssen die Bereitschaft der Familien fördern,
Hilfen anzunehmen. Das ist das Fundament eines effektiven Kinderschutzes. Das Kinder- und Jugendhilferecht
gibt den Jugendämtern differenzierte Instrumente zur
Unterstützung von Familien an die Hand. Klar ist: Wenn
Hilfeangebote nicht ausreichen, um gravierende Schäden von einem Kind bzw. Jugendlichen abzuwenden,
muss in das Elternrecht eingegriffen werden. Jugendämter müssen dabei sorgfältig zwischen Kindeswohl und
Elternrecht abwägen. Darin liegt eine sehr große Verantwortung.
Tausende von Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern leisten täglich Enormes; das möchte ich an dieser Stelle betonen.
({4})
Trotzdem hat es in der Vergangenheit - das wissen wir
alle - dramatische Fälle von Kindeswohlgefährdung geCaren Marks
geben. Hier sage ich ganz deutlich: Vor Ort muss ausreichendes und gut geschultes Personal zur Verfügung stehen. Auch müssen Verfahrensabläufe in den Behörden
klar geregelt sein - das wurde schon gesagt -, und fachliche Standards müssen eingehalten werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen, dass jedes einzelne Kind einen guten Start ins Leben
bekommt und gesund aufwächst. Dazu gehört zweifelsohne ein funktionierender Kinderschutz. Was brauchen
wir zusätzlich? Wir brauchen gute und ausreichende Bildungs- und Betreuungsangebote, eine gut ausgestattete
Kinder- und Jugendhilfe und ein gutes Beratungs- und
Hilfenetzwerk vor Ort, und wir brauchen Kinderrechte
im Grundgesetz.
({5})
Es wäre konsequent, endlich Kinderrechte in der Verfassung zu verankern.
({6})
Damit würden wir die Bedingungen, unter denen unsere
Kinder aufwachsen, weiter verbessern. Ich wünsche mir,
dass wir alle in diesem Hause uns darin einig sind.
Bund, Länder und Kommunen haben den Kinderschutz in den letzten Jahren deutlich verbessert. Ich
nenne die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2005, die zahlreichen Kinderschutzgesetze in den
Ländern und die guten Netzwerke vor Ort. Nun liegt erneut ein Gesetzentwurf vor. Verbessern wir den Kinderschutz damit wirklich? Die Fachwelt sagt: Nein. Lassen
Sie uns deshalb den Entwurf im Interesse unserer Kinder
zu einem Gesetz machen, das den Namen Bundeskinderschutzgesetz wirklich verdient!
Ich wünsche mir gute parlamentarische Beratungen
und bedanke mich ganz herzlich.
({7})
Diana Golze hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht ist dem Thema Kinderschutz in den letzten Jahren ein höherer Stellenwert
zugekommen. Niemand kann und darf sich der Verantwortung der Gesellschaft für den Schutz des Wohles unserer Kinder entziehen. Der Kinderschutz muss Vorrang
haben.
Das ist natürlich auch Anliegen und Ziel der Linken.
Wir haben dies mit verschiedenen Initiativen deutlich
gemacht. Ich nenne zum Beispiel unsere vorbehaltlose
Unterstützung des Aktionsbündnisses für die Aufnahme
von Kinderrechten ins Grundgesetz.
({0})
Kinderrechte - Frau Marks hat das angesprochen - sind
die Grundlage für eine Stärkung des Kindeswohls. Ich
sage gerne und - vor allem an die Adresse der Unionsfraktion gerichtet - immer wieder: Wer den Kinderschutz ernst nimmt, muss die Kinderrechte ernst nehmen. Deshalb müssen sie ins Grundgesetz.
({1})
- Ach, Herr Singhammer, Sie verstehen es einfach nicht.
Das Ministerium hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem, wie es der Bundesverband für Erziehungshilfe treffend benennt, Selbstverständlichkeiten formuliert sind. In diesem Gesetzentwurf sind aber auch
Regelungen vorgesehen, die an der Realität vorbeigehen;
ich komme darauf noch zu sprechen.
In den Stellungnahmen finde ich - von der Stellungnahme der Diakonie über die des Deutschen Kinderschutzbundes und die der AWO bis hin zur Stellungnahme
der Kinderschutz-Zentren - zum Teil vernichtende Absagen an dieses Vorhaben. Dies beginnt bereits bei der
Vorfeldarbeit. Ich kann mich gut an die großtönenden
Worte erinnern, mit denen die Bundesfamilienministerin
hier die Ergebnisse des sogenannten Kindergipfels gefeiert hat. Die Diakonie zeigt in ihrer Stellungnahme auf,
wie wichtig der Ministerin die Suche nach effektiven
Wegen zum Kinderschutz wirklich ist: Die berufene Expertengruppe hat ihre Arbeit bereits nach einer Sitzung
wieder eingestellt. Wie können sachlich fundierte und
ausdiskutierte Vorlagen zustande kommen, wenn man so
an die Sache herangeht?
({2})
Die Kinderschutz-Zentren haben - ich zitiere - die geplanten Veränderungen in § 8 a des SGB VIII mit Sorge
zur Kenntnis genommen. Der Deutsche Verein warnt vor
weiteren gesetzlichen Verfahrensvorgaben. Die Diakonie
sagt Ihnen, dass Sie Ihr selbstgestecktes Ziel nicht erreichen. Die AWO tut Selbiges.
Nach Kinderzuschlag und Kinderförderungsgesetz ist
dies ein weiterer Gesetzentwurf, der von der Fachwelt in
hohem Maße kritisiert wird. Bei einer Schülerin würde
diese Beurteilung wahrscheinlich zu einem Elternbesuch
führen, weil die Versetzung gefährdet wäre.
({3})
Die Fachverbände versuchen mit ihren Stellungnahmen,
uns dabei zu helfen, einen besseren Gesetzentwurf daraus zu machen. Ich hoffe auf die Anhörung und darauf,
dass Sie die Kritik und die Vorschläge annehmen.
Genügend Gesprächs- und Klärungsbedarf gibt es
auch von unserer Seite, zum Beispiel bei der Rolle der
Jugendämter. Wer die Situation in den Kommunen nur
ein bisschen kennt, weiß, dass sie schon jetzt am äußersten Level ihrer Möglichkeiten arbeiten. Sie unterlagen
personell und finanziell einem Kürzungsdruck in Größenordnungen, sodass sie die Einsparungen kaum noch
überbrücken können. Das Ergebnis ist traurig: Den Anlaufstellen fehlen die Mittel und das Personal, um qualifizierte Angebote machen zu können. Wenn Sie ein System aufbauen wollen, das einen effektiven Schutz von
Kindern gewährleistet, dann müssen Sie da anfangen,
wo Sie in den letzten Jahren den Rotstift angesetzt haben. Doch statt endlich diese Richtung der Politik zu
korrigieren, brummen Sie den Jugendämtern nun neue
Aufgaben auf, ohne zu sagen, wie sie es bewerkstelligen
sollen.
In diesem Zusammenhang nenne ich nur den ganz aktuellen Fall von Lara aus Hamburg. Die Mitarbeiter des
Allgemeinen Sozialen Dienstes schreiben in einem offenen Brief:
Wir haben die Nase voll davon, als Sündenböcke
für eine Politik herzuhalten, die es jahrelang versäumt hat, den ASD qualitativ und quantitativ ausreichend auszustatten.
Sie arbeiten mit 90 Fällen pro Mitarbeiter in der Verwaltung. Dies kann und darf so nicht weitergehen.
({4})
Doch neben der Frage, wie die in dem Gesetzentwurf
enthaltenen verpflichtenden Hausbesuche personell gestemmt werden sollen, bleibt unsere Skepsis, ob diese
Hausbesuche überhaupt dazu führen, den Kinderschutz
zu erhöhen. Aus meiner Sicht wird damit vielmehr Vertrauen zerstört, und es birgt die Gefahr, dass Hilfeprozesse abgebrochen werden, sodass es kontraproduktiv
im Hinblick auf die Kinder wirkt, die wir eigentlich unterstützen wollen. Wir dürfen die sozialstaatlich ausgerichtete Jugendhilfe nicht durch ein kontrollierendes
System ersetzen. Genau dies sieht aber dieser Gesetzentwurf vor.
({5})
Damit wird das Sozialgesetzbuch VIII untergraben,
das eigentlich einen vorsorgenden, unterstützenden und
helfenden Charakter hat. Es soll durch Kontrolle und
Vertrauensbrüche ersetzt werden, und die Jugendhilfe
wird durch weitere Aufgaben auch noch überfordert und
weiterhin kaputt gemacht. Damit muss endlich Schluss
sein. Dazu braucht es auch ein Verständnis dafür, dass
ein besserer Kinderschutz zum Nulltarif nicht zu haben
ist. Hier setzt einen das Vorblatt des Gesetzes schon sehr
in Erstaunen; denn dort steht, das Gesetz werde keine
Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben.
({6})
- Dazu ist sicherlich kein weiterer Kommentar notwendig.
Ich freue mich auf die bevorstehenden Diskussionen
und hoffe, dass wir aus dem Entwurf noch ein Kinderschutzgesetz machen können.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt ist Ekin Deligöz für Bündnis 90/Die Grünen an
der Reihe.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Das Ministerium hat sich bemüht; das kann ich ihm attestieren. Das Wort „Kind“ kommt in dem Gesetzentwurf fast 40-mal vor. Es werden auch die richtigen Fragen gestellt: Wie kommen wir zu einer Politik des
Hinschauens und Helfens? Wie binden wir alle ein, damit wir Kindern helfen können? Das sind wichtige Fragen; aber Antworten auf diese Fragen, Herr Staatssekretär, geben Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht.
({0})
Ich habe darüber hinaus sogar das Gefühl, dass Sie in
Zugzwang sind, etwas liefern zu müssen, weil Sie nicht
zuletzt auf einem großen Gipfel vieles versprochen haben, aber nicht richtig wissen, wie Sie agieren sollen.
Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass Sie aus dem Blick verloren haben, worum es geht. Es geht nicht darum, mehr
Presse zu bekommen, sondern darum, Kinder zu schützen, also den Kinderschutz voranzubringen. Das tun Sie
mit diesem Gesetz nicht.
({1})
Was brauchen Kinder? Kinder brauchen einen Kinderschutz, der im Notfall klar, zielgenau und schnell reagiert, aber vor allem - das ist das Entscheidende - präventiv breit angelegt ist, damit es erst gar nicht zu solchen Notfällen kommt, damit wir Kinder schützen können und nicht nur reagieren müssen. Damit uns dies
gelingt, brauchen wir präventive, frühe Hilfen. Als Beispiel nenne ich die Familienhebammen. Wir brauchen
flächendeckende Angebote überall in Deutschland. Wir
müssen aber auch die Ausstattung der Jugendhilfe verbessern. Schließlich brauchen wir Vertrauen der Mütter
und der Jugendlichen, die sich ebenfalls an das Jugendamt wenden, in niedrigschwellige Angebote und auch in
das Jugendamt selbst.
Was machen Sie mit diesem Gesetzentwurf? - Sie
kreieren ein Schema F, egal, was bereits in der Familie
passiert ist und ob er sinnvoll ist oder nicht: Ein Hausbesuch wird vorgeschrieben.
({2})
Der Kinderschutzbund hat viele Beispiele dafür genannt,
dass das eben nicht immer das Beste ist.
Sie wecken Misstrauen bei den Hilfesuchenden. Sie
sagen, dass Sie die Schweigepflicht lockern, und hinterfragen nicht, was damit noch alles passieren kann, sodass sich manche Menschen erst nicht mehr hilfesuEkin Deligöz
chend an die Ärzte wenden. Sie verdreifachen die Arbeit
der Jugendämter. Ja, das könnte man rechtfertigen, wenn
die Kinder unter dem Strich tatsächlich geschützt werden würden. Was passiert denn nach dem ersten Hausbesuch? Wer ist dann da, um das nach der ersten Inaugenscheinnahme fortzusetzen? Wer wird sich dann um diese
Familie kümmern? Welche Antworten geben wir nach
dem ersten Besuch? Darauf geben Sie keine einzige Antwort.
({3})
Das Schlimmste ist, dass Sie nicht einmal bereit sind,
einen Cent dafür auszugeben. Sie sagen, das würde
nichts kosten. Doch, natürlich wird das etwas kosten:
Gutes, qualifiziertes Personal kostet Geld.
Eine wirklich konstruktive Antwort wäre gewesen,
wenn Sie beim Gipfel einen runden Tisch gestaltet hätten, um zu prüfen, wie wir die vorhandenen Ressourcen
effektiv und besser einsetzen können und wie wir durch
die Zusammenarbeit in Netzwerken Strukturen für den
Kinderschutz in Deutschland schaffen können, wo sich
die Kommunen, Träger, Bund und Länder zusammensetzen, um dort, wo es Schwächen gibt, nach einem Ausweg zu suchen, zum Beispiel wenn es darum geht, mehr
Personal zu finanzieren, wenn es um eine bessere Qualifizierung, Supervision oder um Kooperationen geht,
({4})
wenn es um Prävention geht und wenn es um die Menschen geht, die den Kinderschutz tatsächlich voranbringen. Genau das tun Sie aber nicht. Sie schaffen keine
neuen Unterstützungsangebote, sondern Sie schaffen
neue Zugangshürden.
Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen
21 von 26 Verbänden attestiert haben, dass Ihr Gesetzentwurf nichts bringen bzw. nutzen wird und dass dadurch kein Kind geschützt wird. Das ist die Kurzfassung
der 21 Stellungnahmen, die uns bereits vorliegen. Das
wird von Tag zu Tag mehr.
Die Fälle Kevin und Lea-Sophie sind schlimm. Das
gilt auch für den aktuellen Fall, mit dem wir es heute zu
tun haben, bei dem die Eltern ein zehn Monate altes, ein
vierjähriges und ein sechsjähriges Kind einfach so in einer Pizzeria haben stehen lassen. Das ist grausam und
schlimm.
({5})
Man will das nicht mehr hören. Wir müssen reagieren
und agieren. Wir müssen helfen und unterstützende
Strukturen anpassen. Sie bevormunden, kontrollieren
und haken ab. Abhaken können wir genau dieses Thema
nicht.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt spricht Michaela Noll für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst ein paar Worte an unsere Kollegin
Marks: Ich erinnere daran, dass es die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs ist. Eine Anhörung liegt vor uns, und
Sie können sicher sein, dass die Union nur etwas auf den
Weg schickt, was Hand und Fuß hat. Das sehe ich genauso wie Kollegin Gruß.
Auch wenn es Stellungnahmen und ein paar kritische
Stimmen gibt: Es gibt auch andere Stimmen, die viele
Punkte begrüßen. Lassen Sie uns also bitte offen in die
Anhörung gehen. Ich glaube, es ist im Interesse aller
Kollegen hier, für den Kinderschutz etwas Sinnvolles zu
tun und Kinder zu schützen; denn das ist unsere Aufgabe.
({0})
Es wurde eben von der Kollegin Gruß gesagt, dass ein
wenig Herzblut fehlt.
({1})
Überlassen Sie das mit dem Herzblut mir. Ich habe mir
heute im Vorfeld zu dieser Debatte noch einmal die Fälle
angeschaut. Wenn ich über Jessica und Lea-Sophie spreche - ich habe die Akten darüber gelesen und in den Zeitungen die Bilder gesehen -, dann muss ich sagen: Es ist
unvorstellbar, was die Eltern mit diesen Kindern bis zu
ihrem Tod angerichtet haben.
({2})
Das sind leider keine Einzelfälle. Der Kinderschutzbund schätzt, dass in Deutschland jährlich 100 000 Kinder vernachlässigt werden. Deshalb sage ich: Hier
besteht dringender Handlungsbedarf. Ob es die abgemagerte, entkräftete siebenjährige Jessica war, ob es die
Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank des Vaters war, ob es Lea-Sophie war, die verhungert und verdurstet ist, oder ob es jetzt die kleine, acht Monate alte
Siri ist: Für alle kam die Hilfe zu spät.
Durch eine Betroffenheitsbekundung alleine wird den
Kindern nicht geholfen. Deswegen bin ich froh, dass wir
jetzt etwas auf den Weg gebracht haben, mit dem den
Kindern tatsächlich geholfen wird.
({3})
Wir haben bereits 2007 einen Antrag formuliert: „Gesundes Aufwachsen ermöglichen - Kinder besser schützen - Risikofamilien helfen“. Die Ministerin hat sich für
die frühen Hilfen eingesetzt. Es ist nicht so, dass nichts
geschehen wäre. Trotzdem haben wir auf dem Kindergipfel gesagt: Im Kinderschutz sind Lücken da, die müssen wir identifizieren. Wir brauchen Maßnahmen zur
Stärkung des Kinderschutzes. Das ist veranlasst worden.
Keiner von uns stellt sich hier hin und prangert an, dass
die oder die die Schuldigen sind. Uns geht es darum,
Fehler anzusprechen, sie offenzulegen und zu versuchen,
sie auszuschließen; denn das ist wirklicher Kinderschutz.
({4})
Professor Fegert vom Universitätsklinikum Ulm hat
dargelegt, wo das Problem liegt. Er sagte, manche Jugendämter verlassen sich allein auf die Akten. Ich
glaube, es ist etwas anderes, wenn Sie einen persönlichen Eindruck von den Kindern haben und wenn Sie die
Vorgeschichte der Eltern kennen. Wir Fachpolitiker wissen: Wenn Erwachsene in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben, dann ist das Risiko relativ hoch, dass sie die
Gewalt, die sie erfahren haben, an die Kinder weitergeben. Wir wissen genauso, dass diese Risikofamilien tendenziell relativ häufig ihren Wohnort wechseln. Deshalb
ist es wichtig, dass das Jugendamt, das diese Familien
bisher betreut hat, seine Informationen an das nächste
Jugendamt weitergibt.
Eben wurde etwas kritisch gesagt, Hausbesuche wären Pflicht. Nein, sie sollen zur Regel werden. Ich
glaube, Schreibtischdiagnosen helfen den Kindern tatsächlich nicht. Kinder müssen sichtbar werden.
({5})
Das gilt vor allem für Säuglinge. Schauen Sie sich
doch die Statistik an. Ein Drittel der Kinder ist jünger als
ein Jahr. Wenn ich dann sehe, dass die häufigste Todesursache ein Schütteltrauma ist und dass 17 Prozent der
betroffenen Kinder schon nach der Geburt getötet werden,
({6})
dann kann es nicht sein, dass man dann, wenn das Jugendamt kommt, sagt, die Kleine schläft oder ist gerade
bei der Oma untergebracht. Wir müssen darauf bestehen,
dass das Jugendamt wirklich sieht, in welchem Zustand
das Kind ist und in welchem Umfeld es lebt, um auch einen Eindruck davon zu erhalten, wie die Interaktion zwischen Eltern und Kindern stattfindet.
({7})
Dass ich damit nicht allein stehe, bestätigt das Kriminologische Institut in Niedersachsen, das festgestellt hat,
dass bei 200 Kindstötungen eindeutige Hinweise darauf
vorhanden sind, dass das Jugendamt die Kinder nicht angeschaut hat. Das gilt auch für Lea-Sophie, die eben
schon thematisiert worden ist. Die Eltern sind zwar zu
dem Termin im Jugendamt hingegangen, aber nicht mit
Lea-Sophie, sondern mit dem neugeborenen Bruder. Das
Jugendamt hat Lea-Sophie nie gesehen. Ich glaube:
Wenn es einen Hausbesuch gegeben hätte, wenn LeaSophie sichtbar geworden wäre, dann hätte man das
Kind vielleicht retten können;
({8})
denn ein fünfjähriges Kind verhungert nicht in 24 Stunden. Das ist ein langsamer Prozess. Deswegen glaube
ich, dass der Ansatz sein muss, dass wir uns die Kinder
in der Regel anschauen. Es gibt Ausnahmesituationen,
die ebenfalls geregelt sind. Wenn zum Beispiel eine Gefährdung durch sexuelle Gewalt im Haushalt stattfindet,
dann muss es andere Lösungen geben. Die Regel muss
aber sein, dass wir uns die Kinder anschauen.
({9})
Ich hatte eben das „Jugendamt-Hopping“ angesprochen. Das heißt, Risikofamilien neigen dazu, unterzutauchen und den Wohnort zu wechseln. Deswegen halte ich
es für wichtig, dass derjenige, der diese Familie betreut
hat, das persönliche Gespräch mit dem zuständigen Jugendamt sucht; denn nicht alles, was Sie im persönlichen
Gespräch austauschen könnten, landet in den Akten. Ich
möchte einfach, dass die Kinder mehr Gesicht bekommen, als es nach Aktenlage möglich ist. Deshalb halte
ich es für wichtig, dass wir das entsprechend auf den
Weg bringen.
Liebe Kollegen, nicht nur den gefährdeten Kindern
läuft die Zeit davon. Wir alle wissen, die Legislaturperiode nähert sich dem Ende. Ich bitte deswegen noch einmal alle inständig: Nutzen wir die Anhörung, um ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Helfen Sie alle mit,
denn ich finde, jedes Kind in Deutschland verdient es,
geliebt, geschützt, beschützt und unterstützt zu werden.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt spricht Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, dessen Inhalt wie kaum ein anderes
Thema in der Öffentlichkeit Furore macht. Es geht um
den Schutz unserer Kinder. In den Medien werden fast
täglich gravierende Fälle von Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung oder gar von Kindstötung gezeigt.
Diese Nachrichten - Sie wissen selber, wie es Ihnen
dabei geht - machen uns unheimlich betroffen, ja
manchmal wütend über unsere Ohnmacht, dass wir nicht
helfen konnten oder nicht geholfen haben. Wir haben
den starken Wunsch, ja sogar den Druck, etwas zu verändern und zu handeln.
Leider finden sich bei diesen schrecklichen Nachrichten über Kinder stets selbsternannte Fachleute, die genau
wissen, wer Schuld daran hat. Ich will nur zwei Beispiele von heute und gestern nennen. Heute war in der
Presse von einem Verbandsvertreter zu lesen, der ohne
Marlene Rupprecht ({0})
Kenntnis der Hintergründe sofort die Schuldigen identifizieren kann, und zwar in seinem Fall fast immer die
Mitarbeiter des Jugendamtes.
Gestern wurde im Hamburger Abendblatt und anderen Zeitungen über die mögliche Beteiligung des Allgemeinen Sozialen Dienstes am Tod des Kindes Lara berichtet. Auch diese Meldung macht deutlich, wie
schwierig es für die Mitarbeiter der zuständigen Behörde
ist, sich angesichts schlechter beruflicher Bedingungen
und einer völlig unzureichenden Personalausstattung immer am Kindeswohl zu orientieren. Für die finanzielle
Ausstattung der Jugendämter sind aber nicht die Mitarbeiter zuständig und verantwortlich, sondern die, die politisch entscheiden.
({1})
Ich bin seit 1996 im Bundestag und mache vor Ort Jugendhilfe und habe mit Kindern gearbeitet. Was die
letzte Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes betrifft, kam ich mir in den letzten zehn Jahren vor wie ein
Berserker, der sich vor das Kinder- und Jugendhilfegesetz stellt, um die Zerstörer dieses Gesetzes abzuwehren.
({2})
Die letzten Initiativen kamen aus den Bundesländern.
Eine davon hieß KEG: Kommunalentlastungsgesetz. Inhalt dieses Gesetzes war, Leistungen der Jugendhilfe nur
noch nach Kassenlage zu gewähren.
({3})
Das ist Fakt. Unter diesen Bedingungen arbeiten die
Mitarbeiter in den Jugendämtern. Man outsourct und
holt Honorarkräfte. Die Menschen, die dort arbeiten,
sind ständig in Grenzsituationen. Sie müssen nach fachlichen Standards entscheiden. Dazu gehört nicht nur der
Hausbesuch. Zu den fachlichen Standards gehört mindestens das Vieraugenprinzip. Im Gesetz sind übrigens
auch Hilfeplanverfahren und Hilfeplankonferenzen vorgesehen. Es ist fachlicher Standard, Absprachen zu treffen. Auch die Dokumentation und die Überprüfung der
Absprachen ist fachlicher Standard. Wann soll das jemand machen, wenn er fast 100 Fälle zu betreuen hat?
Über dieses Problem müssen wir reden.
Ich denke, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten oft oberhalb der Belastungsgrenze und der eine oder
andere ist ausgebrannt. Er kann nicht mehr. Meiner Ansicht nach brauchen sie keine skandalisierenden Äußerungen in den Medien und auch keinen Aktionismus.
Wer auf Bundesebene, in den Ländern oder in den Kommunen politisch entscheidet, muss sich fragen - an dieser Stelle muss man das Ganze vom Bauch in den Kopf
verlagern -: Wie sehen unsere gesetzlichen Grundlagen
aus, und was ist für einen wirksamen Kinderschutz notwendig? Diese Fragen sind zu beantworten.
Herr Singhammer, Sie haben vorhin gefragt, wo die
Familie bleibt, als wir die Forderung nach Aufnahme
von Kinderrechten ins Grundgesetz beklatscht haben.
Der Schutz der Familie ist in Art. 6 des Grundgesetzes
garantiert. Darin ist auch das Wächteramt des Staates geregelt. Kinder gelten aber darin als Objekte der elterlichen Erziehung; sie sind nicht dezidiert als Subjekte erkennbar. Wir möchten, dass als Appell an die
Gesellschaft und an die Entscheidungsträger gesetzlich
festgeschrieben wird, Kinder nicht als Objekte anzusehen. Das halte ich für richtig.
({4})
Das Grundgesetz ist unsere erste rechtliche Grundlage.
Die zweite Grundlage ist das BGB. Dort haben wir
verankert: Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Kinder
haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sie sind
Subjekte. Das wurde das erste Mal so niedergeschrieben.
Die dritte Grundlage ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz. 2005 haben wir durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, das KICK, in Art. 1 den
§ 8 a, den Kinderschutzparagrafen, in das SGB VIII eingeführt. Wir haben zudem § 42, die Inobhutnahme, neu
geregelt und in § 72 a die persönliche Eignung eingeführt. Wir wussten um den Präzisierungsbedarf. Genau
den haben wir erfüllt.
({5})
Wir haben im letzten Jahr die familiengerichtlichen
Maßnahmen so geregelt, dass die Gerichte, bevor ein
Kind aus seiner Familie herausgenommen wird - das
stellt einen enormen Eingriff in das Leben eines Kindes
dar; wir wissen aber auch, dass manche Eltern nicht mitarbeiten wollen -, angerufen werden können. Ein Richter kann Eltern verordnen, Hilfe und Beratung anzunehmen. Dies hat er auch zu kontrollieren. Das sehen die
familiengerichtlichen Maßnahmen vor. Es gibt des Weiteren - das ist internationales Recht, das wir ratifiziert,
gezeichnet und anerkannt haben - Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, in dem steht, dass alles vom Kindeswohl dominiert wird. Art. 19 sieht den Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung vor.
Wie sieht also ein wirksamer Kinderschutz aus? Da
ich aus Bayern komme - man muss auch sagen, wenn etwas klappt -, möchte ich auf die Publikation Kinderschutz braucht starke Netze hinweisen; das kann man im
Internet nachlesen. Es gibt ähnliche Beispiele aus Rheinland-Pfalz, Thüringen und Schleswig-Holstein. Auch
dort hat man sich auf den Weg gemacht. Das heißt, die
Bundesländer beginnen, das, was wir 2005 auf den Weg
gebracht haben, umzusetzen. Deutlich wird hier der familienbezogene Ansatz. Auf jeder Seite der Internetpräsentation kommt positiv besetzter Kinderschutz zum
Ausdruck. Es gibt Hilfe, aber natürlich auch Kontrolle.
Kein Mensch kann das ohne Kontrolle schaffen. - Frau
Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss.
Wer soll im Kindernetz mitarbeiten? Auch das ist klar
geregelt. Das Jugendamt ist die entscheidende Behörde.
Ich bin froh, dass es endlich von einer Eingreifbehörde
mit polizeirechtlicher Gewalt zu einer beratenden Institution wurde. Alles andere - auch die Zusammenarbeit ist in § 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes geregelt,
das seit 18 Jahren in Westdeutschland und seit 19 Jahren
in Ostdeutschland in Kraft ist. Ich finde es schön, dass
wir endlich alles umsetzen.
Frau Kollegin!
Ich wünsche mir, dass die Ergebnisse der Auswertungen der Fachhochschule Coburg und des bayerischen
Landgerichtstages betreffend die Wirkungen und die
Mängel im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes auf
bayerischer Ebene berücksichtigt werden.
Frau Kollegin!
Wir haben festgestellt, dass die Mängel nicht im Gesetz, sondern im Vollzug bestehen. Ich wünsche mir,
dass wir dies bei den Beratungen und der Anhörung berücksichtigen. Ich hoffe, dass wir alle in diesem Sinne
zusammenarbeiten werden.
({0})
Entschuldigung, das kommt, wenn man als Letzte redet,
Frau Präsidentin. - Ich hoffe, dass wir dies schaffen.
Frau Kollegin, wollen Sie noch die Dinge mitnehmen,
die Sie auf dem Pult haben liegen lassen?
Für jeden Interessierten ist das eine empfehlenswerte
Lektüre: das Grundgesetz und die UN-Kinderrrechtskonvention.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell ist Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 16/12429 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es
offenbar keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
sowie Zusatzpunkt 8 auf:
13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck ({0}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abrüstung in Privatwohnungen - Maßnahmen gegen Waffenmissbrauch
- Drucksache 16/12477 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer,
Bodo Ramelow und der Fraktion DIE LINKE
Keine Schusswaffen in Privathaushalten - Änderung des Waffenrechts
- Drucksache 16/12395 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff ({3}), Dr. Max Stadler,
Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
- Drucksache 16/12663 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Silke Stokar von Neuforn für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Fraktion hat sich entschieden, einen inhaltlich umfassenden Antrag zur Verschärfung des Waffenrechts in den
Bundestag einzubringen.
Ich weiß sehr wohl, dass wir auch aufgrund der Beratungen der AG der Innenministerkonferenz wenig
Chancen haben, dass der Bundestag in dieser Legislaturperiode tatsächlich noch handeln wird. Ich möchte
aber deutlich machen, dass wir uns mit ein paar Placebos
- Amnestie für illegale Waffen oder irgendwelchen biometrischen Schlössern - nicht zufriedengeben werden.
Ich habe den Eindruck, dass die Botschaft aus der Zivilgesellschaft nach dem schrecklichen Amoklauf von
Winnenden bei Ihnen überhaupt nicht angekommen ist.
Wir befinden uns heute in einer anderen Situation. Es
sind nicht mehr die Waffenlobbyisten, die diese Debatte
beherrschen, sondern es sind die Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer vor Ort - nicht nur in
Baden-Württemberg, sondern überall -, die sich melden
und deutlich sagen: Wir sind nicht mehr bereit, mit dem
Risiko von großkalibrigen Waffen zu leben, die einige
Menschen noch immer als Sportwaffen bezeichnen und
in ihren Privatwohnungen aufbewahren.
Das ist der Kern der Debatte. Die Mehrheit der Gesellschaft will nicht mehr, dass jeder Mensch durch die
Mitgliedschaft in einem oder mehreren Sportschützenvereinen die Möglichkeit hat, sich zu Hause ein Waffenarsenal mit unbeschränkter tödlicher Munition anzulegen. Meine Damen und Herren, dies ist nicht kontrollierbar. Sie werden nicht in der Lage sein, 1,6 Millionen private Waffenbesitzer zu Hause zu kontrollieren.
({0})
Unsere Antwort auf diese Situation ist: Wir brauchen
ein radikales Umdenken beim Thema Waffengesetz. Wir
wollen in einer Gesellschaft leben, in der der Grundsatz
gilt: keine Waffen im öffentlichen Raum, keine Waffen
in privaten Wohnungen.
({1})
Wir haben heute Girls’ Day. Das Problem der Bewaffnung der Bevölkerung mit gefährlichen Schusswaffen ist
ein Männerproblem in unserer Gesellschaft.
({2})
Ich habe in den letzten Tagen und Wochen Gespräche
mit einigen Sportschützinnen geführt. Ich fand diese Gespräche sehr interessant; denn auch ich bin der Auffassung, dass Schießsportvereine weiterhin eine Existenzberechtigung in unserer Gesellschaft haben. Ich habe bei
diesen Gesprächen vor Ort nicht mit den Funktionären
der Schießsportverbände gesprochen; denn mit denen
kann man in dieser Frage nicht reden.
Wenn man vor Ort ist, stellt sich die Situation anders
dar. Eine Sportschützin hat zu mir gesagt: Überhaupt
kein Problem, ich brauche keine scharfe Waffe. Für mich
ist Sportschießen Präzisionssport. Für mich heißt das:
Konzentration und Präzision. Das geht auch mit einer
Laserwaffe. - Das ist kein Unsinn.
({3})
In der olympischen Disziplin des Fünfkampfs hat man
aus Sicherheitsgründen längst die Entscheidung getroffen, die scharfen Waffen nicht mehr als Sportwaffen zuzulassen. Wir brauchen an dieser Stelle eine völlig andere Diskussion.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. In
meiner Fraktion bin ich auch für den Datenschutz zuständig. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die
buchstäbliche Hemmung der Innenminister, die doch
sonst scharf darauf sind, jeden Bürger und jede Bürgerin
in Hunderten von Dateien zu erfassen. Es gibt nicht ein
einziges vernünftiges Argument dafür, warum es in
Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in
Europa nach wie vor nicht möglich ist, dass Waffenbesitzer erfasst werden, dass wir erfassen, welche Waffen in
privaten Wohnungen legal vorhanden sind und dass wir
die Berechtigung des Waffenbesitzes überprüfen. Das
sind Kontrolldefizite in unserer Gesellschaft, die nicht
länger hinzunehmen sind.
({4})
Abschließend stelle ich fest: Mir reicht die Handlungsunfähigkeit der Innenpolitiker. Wir werden alle Initiativen, die sich derzeit bilden, ob das Onlinepetitionen,
Unterschriftensammlungen oder sogar die Vorbereitung
von Volksentscheiden sind, fördern und unterstützen,
weil das Ziel eine Entwaffnung in der Bevölkerung sein
muss. Wir wollen, dass das Gewaltmonopol des Staates
wieder zum Tragen kommt. Wir wollen eine öffentliche
Sicherheit, die dadurch gewährleistet wird, dass wir die
Überbewaffnung in Privatwohnungen abbauen.
Über nichts anderes werden wir mit Ihnen diskutieren. Wir werden uns nicht länger auf diese Scheindebatten einlassen. Wenn das Parlament nicht in der Lage ist,
zu handeln, dann werden wir diese Frage durch öffentliche Unterschriftensammlung klären.
Danke schön.
({5})
Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unmittelbar nach dem unfassbaren Amoklauf von Winnenden haben wir im Deutschen Bundestag im Rahmen
einer Aktuellen Stunde eine, wie ich finde, sehr gute Debatte geführt, die von Nachdenklichkeit und nicht von
reflexartigen Scheinlösungen geprägt war. Wir waren
uns alle einig, dass es bei der Reaktion auf diesen Amoklauf um eine neue Kultur des Hinsehens, des Kümmerns
und der Zuwendung, des Bemerkens von Hass und Verzweiflung gehen muss und nicht nur um eine Verschärfung des Waffenrechts.
({0})
An diesem Befund hat sich bis zum heutigen Tage nichts
geändert.
({1})
Natürlich hat die fahrlässige Aufbewahrung einer
Waffe den Amoklauf in Winnenden begünstigt. Aber die
eigentliche Frage bleibt doch: Was macht in unserer Gesellschaft aus relativ unauffälligen 16-jährigen Jugendlichen Amokläufer, die sich mit unglaublicher Kaltblütigkeit Mitschüler vorknöpfen und erschießen?
({2})
Was ist da passiert, wenn in Eislingen ein Jugendlicher,
den alle als unauffällig schildern und der einen guten
Eindruck gemacht hat, zunächst mit einer unglaublichen
Grausamkeit seine beiden Schwestern und Stunden später seine Eltern erschießt? Sachverständige sagen uns in
diesen Tagen, dass solche Taten in aller Regel in einer
Vorbereitungszeit von drei bis sechs Monaten reifen und
dass der Täter dann aber auch entschlossen ist, zu handeln. Sinnvolle Verbesserungen des Waffenrechts können solche Taten vielleicht erschweren, aber wer, Frau
Kollegin Stokar, will ernsthaft behaupten, dass wir sie
durch gesetzgeberische Maßnahmen allein verhindern
könnten.
({3})
Insofern ist das, was Sie heute gesagt haben, dem Problem, um das es hier geht, unangemessen. Sie haben die
Tiefe des Problems überhaupt nicht erfasst.
({4})
Ich will gar nicht auf die Flut illegaler Waffen verweisen, die ohnehin dazu führt, dass es hundertprozentig
wirksame Lösungen gar nicht geben kann. Ich will aber
darauf verweisen, dass bei der grausamen Tat in Eislingen die Waffen aus dem Stahlschrank des örtlichen
Schützenvereins entwendet wurden. So weit zu denjenigen, die sich für eine zentrale Lagerung von Waffen eingesetzt haben. Die Tat wurde mit Kleinkaliberwaffen
verübt. Es ist also nur eine scheinbare Sicherheit, wenn
man Großkaliberschießen generell verbieten würde.
({5})
Trotzdem ist es richtig, eine substanzielle Verbesserung des Waffenrechts zu untersuchen, wie das jetzt in
einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschieht, die nach
meinem Kenntnisstand auch noch keine Ergebnisse vorgelegt hat, weshalb mir manche Pressemeldung heute
übereilt erscheint.
({6})
Nicht zuletzt sind wir den Angehörigen der Opfer von
Winnenden eine Überprüfung des Waffenrechts schuldig,
({7})
die sich in zwei bemerkenswerten Briefen an uns gewandt haben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass die
Politik alles in ihrer Kraft Stehende für eine wirkliche
Verbesserung des Waffenrechts tut und ihnen eine angemessene Antwort gibt.
({8})
Unsere Überlegungen, die wir dabei anstellen, müssen allerdings tatangemessen sein. Ich unterstütze die
vom baden-württembergischen Innenminister Heribert
Rech und anderen vorgeschlagene Amnestie für illegale
Waffenbesitzer. Dabei ist der Einwand, eine vergleichbare Aktion nach dem Amoklauf von Erfurt habe keinen
großen Erfolg gehabt, für mich nicht überzeugend. Jede
einzelne illegale Waffe, die aus dem Verkehr gezogen
wird, bedeutet ein kleines Stückchen mehr Sicherheit,
und dagegen kann niemand ernsthaft etwas einwenden.
({9})
Ich würde es unterstützen, wenn sich die zuständigen
Ordnungsbehörden etwa bei älteren Menschen bereit erklärten, die entsprechenden Waffen abzuholen. Ich halte
aber eine Abwrackprämie für illegale Waffen, wie Sie,
Frau Kollegin Stokar, sie gefordert haben, nun wirklich
nicht für die richtige Maßnahme. Wir dürfen rechtswidriges Verhalten zum einen nicht auch noch prämieren,
und zum anderen finde ich die Wortwahl völlig indiskutabel. Angesichts der Tragödien von Winnenden und
Eislingen brauchen wir den Umständen der Tat angemessene Antworten. Die Schaffung einer solchen Abwrackprämie ist schon von der Wortwahl her eine völlig
unangemessene Reaktion auf das eigentliche Problem,
mit dem wir es zu tun haben.
({10})
Die Koalition wird im Lichte der Ergebnisse der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, verehrte Frau Kollegin
Stokar, schon in der nächsten Sitzungswoche darüber beraten, in welchen Bereichen es gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt und ob dieser noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden kann. Dabei sind die
Vorschläge, die die Angehörigen der Opfer von Winnenden gemacht haben, in alle Überlegungen einzubeziehen.
Die Angehörigen haben die Frage der Altersbegrenzung beim großkalibrigen Schießen problematisiert. Ich
will offen bekennen: Die Schützenvereine in meinem
Wahlkreis machen eine sehr verantwortungsvolle Nachwuchsarbeit wie viele andere Schützenvereine in ganz
Deutschland. Da darf niemand unter Generalverdacht
gestellt werden. Ich finde es im Übrigen auch besser,
wenn Jugendliche mit Laser- oder Luftdruckwaffen im
Schützenverein schießen, als wenn sie mit Softair- oder
Paintball-Waffen in den Wald ziehen und dort ohne jede
Hemmung und vor allen Dingen ohne jede fachliche
Aufsicht schießen.
Ich will aber auch betonen: Ich kann nicht erkennen,
dass für diese wichtige Nachwuchsarbeit in den Schützenvereinen das Schießen mit Großkaliber zwingend erforderlich ist. Deshalb bin ich dafür, dass wir die Altersgrenze auf 18 Jahre heraufsetzen. Ich bin sehr dankbar,
dass der Deutsche Schützenbund diese Überlegungen
mitträgt. Es ist nicht so, dass die Verantwortlichen an der
Spitze des Deutschen Schützenbundes und auch des
Deutschen Jagdschutz-Verbandes für diese Gespräche
nicht offen wären und uns in unserem Bemühen, sinnvolle Verbesserungen des Waffenrechts durchzusetzen,
nicht unterstützen würden. Sie tun es sehr wohl, und Sie
haben das, was hier vonseiten der Verbände Positives geleistet wird, nicht richtig gewürdigt.
({11})
Ich finde ebenso richtig, dass wir alle neuen technischen Möglichkeiten im Bereich der Biometrie nutzen,
um Waffen und Waffenschränke gegen den Zugriff Unbefugter besser zu sichern. Bei einem Gespräch mit den
Verbänden der Schützen und Jäger, das wir von der
CDU/CSU in dieser Woche geführt haben, wurde eben
auch berichtet, dass diejenigen Firmen, die Waffenschränke bauen und vertreiben, mit der Auftragsbearbeitung nach Winnenden kaum noch nachkommen und teilweise Lieferzeiten von einem halben Jahr haben. Diese
Waffenschränke sind aber seit 2003 verbindlich zur Aufbewahrung vorgeschrieben. Insofern müssen wir uns der
Frage der besseren Kontrolle der bereits bestehenden
Aufbewahrungsvorschriften zuwenden.
({12})
Wir sollten auch die Mitwirkungspflichten der Waffenbesitzer ausweiten, etwa wenn es um den präzisen
Nachweis der sicheren Aufbewahrung geht. Da kann das
Übersenden der Rechnung für einen Waffenschrank sicherlich nicht ausreichen.
Ich will noch einmal betonen: Ich bin sehr dankbar,
dass sowohl der Deutsche Jagdschutz-Verband als auch
der Deutsche Schützenbund den Ansatz unterstützen,
dass wir hier bei der Überwachung der Mitwirkungspflichten im Rahmen des nach Art. 13 Grundgesetz
Möglichen auch zu verdachtsunabhängigen Kontrollen
kommen. Ich halte das für eine ganz wesentliche Verbesserung des Gesetzesvollzugs. Ich bin dankbar dafür, dass
uns die Verbände unterstützen. Das wird uns auch vor
Ort, also bei den Jägerschaften und den Schützenvereinen, helfen. Wir können dann sagen: Wir haben von euren Repräsentanten auf Bundesebene, die unsere Ansprechpartner in dieser Frage sind, Unterstützung. Das
begrüße ich ausdrücklich. Das hilft uns.
Ebenso müssen wir über eine effektivere Prüfung des
waffenrechtlichen Bedürfnisses nachdenken, damit
wirklich nur der Waffen hat, der tatsächlich aktiv im
Schützenverein in der jeweiligen Disziplin schießt. Frau
Kollegin Stokar, Sie wissen ganz genau, dass die Frage
des zentralen Waffenregisters in einer entsprechenden
EU-Richtlinie behandelt wird. Diese Richtlinie hätten
wir bis 2014 umzusetzen. Das wird man jetzt natürlich
zeitlich beschleunigen. Es ist zweifellos ein Sicherheitsgewinn, wenn insbesondere unsere Sicherheitskräfte
wissen, dass sie in einen Haushalt kommen, in dem Waffen vorhanden sind.
Frau Kollegin Stokar, ich will angesichts dessen, was
Sie hier gesagt haben, und vor allen Dingen angesichts
der Art und Weise, wie Sie es gesagt haben, Ihnen mit
auf den Weg geben: Das Thema Waffenrecht eignet sich
in diesen Wochen und Monaten gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse überhaupt nicht für kleinliche Geländegewinne im politischen Wettbewerb.
({13})
Die Anträge von Linkspartei und Grünen haben sich
schon durch die Tatumstände im Mordfall von Eislingen
als unzureichend erwiesen. Hessens Innenminister
Volker Bouffier hat heute zu Recht vor Aktionismus gewarnt. Wir brauchen wirksame Verbesserungen des Waffenrechts, die wir gemeinsam mit den Ländern und den
Verbänden von Schützen und Jägern erarbeiten wollen.
Darauf können sich die Angehörigen der Opfer, darauf
können sich alle Bürger dieses Landes verlassen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({14})
Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
schockierende Verbrechen von Winnenden und Wendlingen hat uns alle betroffen gemacht. Wir fragen uns, wie
wir uns in Zukunft vor ähnlichen Untaten schützen können. Inzwischen ist es zu weiteren Straftaten mit Waffen
in Landshut und Eislingen gekommen. Diese Fälle werfen ein bezeichnendes Licht auf die nach Winnenden reflexartig erhobenen politischen Forderungen. Einige
hiervon haben die Linken und die Grünen vorgelegt.
Zunächst einmal ist jedoch festzuhalten: Ein Generalverdacht gegen alle Sportschützen, Waffensammler, Jäger oder Berufswaffenträger ist nicht gerechtfertigt
({0})
und kann eine Diskussion um die wirklichen Ursachen
kriminellen oder gewaltsamen Handelns nicht ersetzen.
({1})
Nicht zuerst die Waffe ist das Problem, sondern der
Mensch, der sie einsetzt.
({2})
Insofern muss die gesellschaftspolitische Frage der Gewalt- und Kriminalprävention vor der Frage der waffenrechtlichen Verschärfung gestellt werden.
({3})
Wir haben auf Bundesebene mit dem Deutschen Forum
für Kriminalprävention eine wichtige Einrichtung, die es
zu stärken gilt.
Gleichwohl hält die FDP stringente Regeln im deutschen Waffenrecht für wichtig. Derzeit erschweren Bürokratie und die Kompliziertheit des Waffenrechts den
gesetzlichen Vollzug. Einfache, wirkungsvolle und anwendbare Gesetze nützen der Sicherheit mehr als immer
neue Vorgaben.
({4})
Nach Auskunft der Bundesregierung stammen lediglich 2 bis 3 Prozent aller bei Schusswaffenkriminalität
Hartfrid Wolff ({5})
eingesetzten Waffen aus legalem Besitz. Da sieht man
die Grenzen eines Waffenrechts. Ziel der FDP ist es deshalb, den illegalen Waffenbesitz einzuschränken. Deshalb fordert die FDP heute mit dem von ihr vorgelegten
Gesetzentwurf, den illegalen Schusswaffenbesitz einzudämmen, indem eine Abgabe illegaler Waffen bis zum
Stichtag straffrei gestellt werden soll.
({6})
- Das allein reicht selbstverständlich nicht. Schauen Sie
sich den Gesetzentwurf an, Frau Kollegin.
Die Forderung nach einem zentralen Waffenregister
ist Rechtslage der EU. Ob ein Vorziehen vor den Termin
zur Umsetzung der EU-Regelung praktikabel ist, wird
sicherlich zu prüfen sein. Allerdings sollten wir ehrlich
zugeben: Das Waffenregister hätte keine der erschreckenden Straftaten in den vergangenen Wochen verhindert.
({7})
Allein die Registrierung wirkt nicht wirklich präventiv.
Von verschiedener Seite wurde ein Totalverbot privater Schusswaffen gefordert. Das Beispiel aus Großbritannien, wo 1997 nach dem Amoklauf eines 43-Jährigen
in Dunblane alle Handfeuerwaffen in Privatbesitz verboten wurden, zeigt, dass damit die Schusswaffenkriminalität nicht nachhaltig eingedämmt werden konnte. Wer
ein generelles Verbot von Waffen in Privatbesitz fordert,
sollte klar sagen: Dann kann es keinen Schützenverein,
keine Sammler historischer Waffen und keine Jäger
mehr geben.
({8})
Ob diese Zerstörung des Vereinslebens einen Sicherheitsgewinn bedeutet, darf wohl bezweifelt werden. Jäger und Schützen zu kriminalisieren, Frau Kollegin, hält
die FDP vor diesem Hintergrund nicht für sinnvoll.
({9})
Grüne und Linke fordern, die Schusswaffenverwahrung in Privathaushalten zu unterbinden. Das ist eine
Wiedergängerdebatte, die wir schon aus den letzten Jahren kennen.
({10})
Selbst mit vielleicht verfügbarer besserer Sicherheitstechnik wären solche zentralen Waffendepots in Randlagen ein verlockendes Ziel für Kriminelle. Das zeigt gerade die Tat von Eislingen, wo vor der Tat in ein solches
Schützenheim eingebrochen wurde. Der entscheidende
waffenrechtliche Ansatz zur Erhöhung der öffentlichen
Sicherheit ist aus Sicht der FDP vor allem die Beseitigung der Vollzugsdefizite.
Wir brauchen regelmäßige Kontrollen der Aufbewahrung von Waffen. So wie zum Beispiel der Privathaushalt durch Schornsteinfeger oder wie Gewerberäume
durch den Wirtschaftskontrolldienst überprüft werden,
sollte die sichere Aufbewahrung der Waffen durch die
Ordnungsbehörden überprüft werden. Dazu bedarf es einer personell und materiell besseren Ausstattung dieser
Behörden.
Regelmäßige Kontrollen auf breiter Basis, die bei
Verstößen den konsequenten Entzug der Waffenbesitzkarte zur Folge haben, dürften sich wegen der Abschreckung recht rasch als wirksames Instrument gegen den
fahrlässigen Umgang mit den Aufbewahrungsvorschriften herausstellen.
({11})
Ich sage aber auch: Das Sanktionssystem muss gegebenenfalls angepasst werden.
Meine Damen und Herren, als Abgeordneter aus dem
Wahlkreis von Winnenden hat es mich besonders betroffen gemacht, dass Kolleginnen und Kollegen schon wenige Stunden nach der Tat mit politischen Rezepten bei
der Hand waren; einige haben das schon angesprochen.
Ich meine, es wäre richtiger gewesen, wenn wir, die
hauptamtlichen Politiker dieser Republik, einmal innegehalten hätten.
Wir sind nicht allmächtig. Wir können keine absolute
Sicherheit garantieren. Wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, wir könnten es. Das gilt umso mehr, als
bis heute nicht einmal die Waffenrechtsänderungen nach
der Bluttat von Erfurt evaluiert sind, geschweige denn
die vom vorigen Jahr. Wir können nur Gesetze machen.
Aber kein Gesetz kann schützen, wenn es nicht beachtet
und vollzogen wird.
Der Respekt vor den Opfern sollte es eigentlich verbieten, die immer wieder gleichen vermeintlichen Heilsrezepte aufzuwärmen, erst recht unmittelbar nach einer
solch schrecklichen Bluttat.
({12})
Gabriele Fograscher ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir wollen, dass sich etwas ändert in dieser Gesellschaft, und wir wollen mithelfen, damit es kein
zweites Winnenden mehr geben kann.
Dieses Zitat aus dem offenen Brief der Eltern der Opfer des Amoklaufs von Winnenden an die Politik nehGabriele Fograscher
men wir ernst. Amokläufe in Zukunft zu verhindern,
können wir nicht versprechen, aber wir müssen alles dafür tun, sie zu erschweren.
Die Ursachen, die einen jungen Mann dazu bringen,
eine solch sinnlose Tat zu begehen, werden nie wirklich
aufgeklärt werden können. Persönlichkeitsstörungen,
Frustrationen, Männlichkeitswahn, Aggression, Hass,
Probleme im sozialen Umfeld, das Herabsetzen der
Hemmschwelle für Gewalt durch sogenannte Killerspiele - dies alles können Ursachen sein, aber möglich
wurde die grausame Tat durch das grob fahrlässige Herumliegenlassen einer Schusswaffe und der dazugehörigen Munition.
Wir müssen uns der Frage stellen: Wie wachsen junge
Männer in unserem Land auf? Warum spielen sie Killerspiele? Warum schauen sie Gewaltvideos? Was muss als
Auslöser dazukommen, damit aus der virtuellen Gewalt
grausame Realität wird?
Verantwortung der Medien bei der Berichterstattung
über Amokläufe, aber auch Eindämmung von Gewalt im
Fernsehen und auf Internetplattformen einzufordern, ist
schwieriger, als die Forderung nach gesetzlichen Regelungen im Waffenrecht zu erheben; umso mehr gilt das
für die Erfüllung solcher Forderungen. Deshalb kann die
derzeitige Diskussion über Änderungen im Waffenrecht
nur ein Baustein sein, wenn es darum geht, solche Taten
in Zukunft zu erschweren. Die Änderungen liegen in der
Zuständigkeit des Bundes, des Bundestages; der Vollzug
des Waffenrechts und die Kontrolle der gesetzlichen
Vorschriften aber obliegen den Ländern. Deshalb ist es
zu begrüßen, dass sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe
gebildet hat, die sich mit den vielfältigen Vorschlägen
zur Änderung des Waffenrechts befasst.
Ich will Ihnen die Überlegungen der SPD-Bundestagsfraktion zu möglichen Änderungen darstellen. Ich
betone, dass wir keine Placebos oder Scheinlösungen anbieten wollen.
Wir sollten die augenblickliche Sensibilität der Bevölkerung nutzen, um möglichst viele illegale Waffen
aus dem Verkehr zu ziehen. Deshalb wollen wir eine befristete Amnestieregelung und unterstützen entsprechende Initiativen.
({0})
Eine weitere Maßnahme, die wir noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen könnten, ist die Schaffung eines zentralen Waffenregisters. In diesem Zusammenhang sollten wir überlegen, wie es bei
Vorhandensein solcher Waffenregister gelingen könnte,
Warnzeichen, Signale oder auffälliges Verhalten, zum
Beispiel geäußerte Gewaltfantasien, und die Information, dass sich im Umfeld der Person Waffen befinden,
zu nutzen, um schon vor einer Tat einschreiten zu können.
Ein Gesetz braucht Kontrolle. Das heißt, dass die ordnungsgemäße Aufbewahrung der Waffen und der ordnungsgemäße Transport stärker kontrolliert werden müssen. Zum einen könnte es Informationen und Kontrollen
durch die Schützenvereine selbst geben. Zum anderen
könnte man die Zuverlässigkeitsprüfung zum Waffenerwerb mit einer Einwilligung zu Kontrollen verbinden.
Damit wäre den zuständigen Behörden die Möglichkeit
gegeben, stichprobenartig die gesetzeskonforme Aufbewahrung der Waffen zu überprüfen. Diesem Vorschlag
würde auch der Deutsche Schützenbund zustimmen.
Im derzeit geltenden Waffengesetz wird der Nachweis
des Bedürfnisses für den Waffenerwerb nach drei Jahren
neu geprüft. Danach ist keine weitere Prüfung des Bedürfnisses vorgesehen. Wir können uns vorstellen, in regelmäßigen Zeitabständen eine erneute Prüfung vorzunehmen.
Den Vorschlag der zentralen Lagerung von Waffen
und Munition oder beidem im Schützenhaus halte ich
derzeit für nicht praktikabel. Die Verfügbarkeit in Privathaushalten wäre dann zwar nicht mehr gegeben. Es würden aber neue Sicherheitsprobleme für solche zentralen
Waffen- oder Munitionsdepots auftreten. In diesen Depots würden jeweils mehrere Hundert Waffen und mehrere Zehntausend Schuss Munition lagern. Erst kürzlich
- es ist schon angesprochen worden - wurden aus einem
Schützenhaus Waffen entwendet. Dadurch wurden Familientragödien mit mehreren Toten ausgelöst.
Das Verbot von großkalibrigen Waffen, vor allem
Kurzwaffen, im Schießsport halten wir für eine Maßnahme zur Eindämmung der Anzahl besonders gefährlicher Waffen. Es ist kein Zufall, dass die olympischen
Disziplinen bis auf die Flinte zum Skeet- oder TrapSchießen ausschließlich aus sportlichem Schießen mit
Druckluft- und Kleinkaliberwaffen gebildet werden. Es
gibt auch kein gesellschaftlich anerkanntes Bedürfnis,
mit großkalibrigen Waffen, wie sie etwa von Polizeibehörden oder Streitkräften genutzt werden, Sport zu betreiben.
Die Entwicklung technischer Sicherungssysteme für
Waffen hat in den letzten Jahren Fortschritte gemacht.
Waffen können sowohl im Lauf als auch im Abzug und
auch im Patronenlager elektronisch, mechanisch und biometrisch gegen unbefugten Zugriff gesichert werden.
Die Kosten hierfür halten sich inzwischen in einem überschaubaren Rahmen. Eine so erreichte Schussunfähigkeit der Waffe bietet das größte Maß an Sicherheit vor
unberechtigtem Zugriff.
Wir fordern auch ein Verbot von gefechtsähnlichen
Schießsportübungen.
({1})
Bereits nach geltendem Recht ist kampfmäßiges Schießen im Sport verboten. Es haben sich aber einzelne
Schießsportdisziplinen entwickelt, die zwar nicht unmittelbar als kampfmäßiges Schießen eingestuft werden
können, die aber dessen Charakter sehr nahe kommen.
Bei diesem IPSC- oder Western-Schießen wird auf bewegliche Ziele, die Menschen darstellen oder symbolisieren, geschossen. Es ist nicht ersichtlich, wie das
Schießen aus der Bewegung, ein Stellungswechsel unter
Ausnutzung von Deckungsmöglichkeiten sowie die Einbeziehung von Schieß- und Nicht-Schießelementen in
die Übung als sportliches Schießen angesehen werden
können. Dabei handelt es sich um die Nachahmung
dienstlichen Schießens von militärischen und polizeilichen Spezialeinheiten.
Außerhalb des Waffenrechts stehend, aber mit der
Thematik verwandt ist das sogenannte Paintball- oder
Gotcha-Schießen. Hierbei wird mit Farbkugeln auf andere Menschen geschossen. Dieses „Spiel“ verletzt in
meinen Augen die Menschenwürde.
({2})
Deshalb wird in der schon erwähnten Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit Recht über Möglichkeiten für ein Verbot
nachgedacht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
einmal betonen, dass vor den Amokläufen in Emsdetten,
Erfurt und Winnenden grob fahrlässig gegen geltendes
Waffenrecht verstoßen wurde. Alle gesetzlichen Regelungen können nur dann wirksam sein, wenn sie eingehalten und kontrolliert werden.
Neben den von mir genannten Überlegungen zu Änderungen im Waffenrecht brauchen wir eine breit angelegte und intensive Diskussion über gesellschaftliche Ursachen und Fehlentwicklungen.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Ulla
Jelpke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Amoklauf von Winnenden hat deutlich gemacht, dass es
dringenden politischen Handlungsbedarf gibt. Die Fraktion Die Linke will erreichen, dass Schusswaffen aus
Privathaushalten entfernt werden. Herr Grindel, niemand
behauptet hier - auch wir nicht -, dass man durch Gesetzesänderungen oder -verschärfungen solche tragischen
Ereignisse in Zukunft verhindern könnte; aber wir können auch nicht den Mord an 15 Menschen durch einen
Amokläufer einfach hinnehmen, ohne uns über Konsequenzen Gedanken zu machen.
({0})
- Das habe ich Ihnen auch nicht vorgeworfen. Bleiben
Sie einmal sachlich!
Wir haben in den letzten Wochen zahlreiche Briefe
zum Beispiel von Schützen, Jägern und Waffensammlern erhalten. Sie alle enthielten die Befürchtung, dass
jetzt vor allem die Schützen pauschal bestraft und vorverurteilt werden sollen. Ich möchte hier für die Linke
klar sagen, dass es uns nicht darum geht, ein generelles
Misstrauen gegenüber Sportschützen, Waffensammlern
und Jägern zu schüren. Wir wollen schlicht und einfach
Folgendes erreichen: Der spontane Zugriff auf Schusswaffen soll erschwert werden. Wir schlagen vor, Schusswaffen grundsätzlich nur noch in Schützenvereinen oder
an anderen geeigneten Stellen aufzubewahren, wo sie
selbstverständlich bewacht werden müssen.
({1})
Für all jene, die ihre Waffen legal nutzen, beispielsweise für Sportschützen, stellt das wirklich nur eine
kleine Hürde dar. Wozu sollten sie denn ihre Waffen unbedingt zu Hause lagern? Im Garten dürfen sie sowieso
nicht schießen. Für all jene aber, die spontan und widerrechtlich zu Waffen greifen wollen, um damit Verbrechen zu begehen, würde unser Vorschlag eine große
Hürde darstellen. Auch die Gefahr, dass Einbrecher in
den Besitz von Schusswaffen kommen - das ist hier
schon erwähnt worden -, würde unseres Erachtens deutlich verringert. Natürlich kann man es nicht gänzlich
verhindern, dass am Aufbewahrungsort eingebrochen
wird; aber es ist, wie gesagt, wichtig, eine Hürde aufzubauen.
Wie Sie wissen, hat der Amokläufer von Winnenden
wie andere vor ihm davon profitieren können, dass sein
Vater eine Schusswaffe ungesichert zu Hause aufbewahrte, zusammen mit der Munition. Es ist schon gesagt
worden: Das hätte nicht sein dürfen; die Gesetze sind
nicht eingehalten worden. Die Linke sagt hier ganz klar:
Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass so etwas
nicht mehr sein darf.
Unser Antrag greift weit weniger in die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger ein, als es viele andere Vorschläge tun. Wir wollen Waffenbesitzern nicht zumuten,
dass alle paar Tage eine unangekündigte Inspektion stattfindet. Herr Wolff, ein Schornsteinfeger kommt angemeldet, oftmals nur einmal im Jahr. Wenn man eine Inspektion ankündigen würde - das wissen auch Sie -,
dann wäre der Waffenschrank natürlich abgeschlossen.
({2})
Inspektionen wären keine Lösung; sie würden eine
Misstrauenserklärung gegenüber all denen darstellen,
die verantwortungsvoll mit ihren Waffen umgehen. Wir
wollen, dass die Waffen aus den Wohnungen verschwinden und in einbruchssicheren, bewachten Safes gelagert
werden. Uns ist völlig klar, dass unser Antrag dem Missbrauch illegaler Waffen, von denen hier heute schon die
Rede war - schätzungsweise sind etwa 20 Millionen solcher Waffen im Umlauf -, nicht beikommen kann.
Ich möchte am Ende meiner Rede darauf verweisen,
dass die Angehörigen der Opfer von Winnenden einen
sehr wichtigen offenen Brief an die Politikerinnen und
Politiker, an die Gesellschaft verfasst haben, in dem es
um sehr viel mehr als nur um das Waffenrecht geht. Ich
meine, die eigentliche Debatte muss sich mit den Ursachen und mit der Frage beschäftigen: Wie können wir es
zukünftig verhindern, dass Amokläufe wie die von Erfurt und Winnenden anderswo stattfinden?
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12477, 16/12395 und 16/12663 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann wird die
Überweisung so beschlossen.
Jetzt komme ich zu einer längeren Vorlesung mit Ihrer
Beteiligung, weil die übrigen Reden zu Protokoll gegeben werden.
({0})
- Nicht wissenschaftlich, aber doch spannend.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht
({2}), Renate Gradistanac, Angelika
Graf ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Frauen und Mädchen mit Behinderungen
wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lage der Frauen mit Behinderungen in der
Europäischen Union
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit
Behinderungen in der Europäischen Union
({4})
({5})
- Drucksachen 16/11775, 16/6041 Nr. 1.7,
16/12545 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht ({6})
Ina Lenke
Irmingard Schewe-Gerigk
Es ist vorgeschlagen worden, die Reden zu Protokoll
zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Antje Blumenthal, Marlene Rupprecht, Ina Lenke,
Dr. Ilja Seifert und Irmingard Schewe-Gerigk.1)
1) Anlage 5
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 16/12545. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch
die Bundesregierung den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/11775 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD
und Die Linke ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung
von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 15:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Tourismusbranche in der Ent-
wicklungszusammenarbeit durch Aufgaben-
bündelung im Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie ausschöpfen
- Drucksachen 16/8176, 16/12185 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Reinhold Hemker
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Jürgen Klimke,
Dr. Reinhold Hemker, Ernst Burgbacher, Dr. Ilja Seifert
und Bettina Herlitzius.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Potenziale der Tourismusbranche in
der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbün-
delung im Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-
nologie ausschöpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12185, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8176
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-
nommen. Es gibt keine Enthaltungen.
Zusatzpunkt 9:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Kontopfändungsschutzes
2) Anlage 6
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Drucksache 16/7615 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 16/12714 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Wolfgang Nešković
Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von Michael
Grosse-Brömer, Dirk Manzewski, Mechthild Dyckmans,
Dr. Barbara Höll, Jerzy Montag sowie dem Parlamenta-
rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12714, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher
angenommen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Alexander Ulrich, Monika Knoche, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus
dem Europäischen Entwicklungsfonds
- Drucksachen 16/4490, 16/5984 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Andreas Weigel
Heike Hänsel
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Anette
Hübinger, Bärbel Kofler, Hellmut Königshaus, Heike
Hänsel und Thilo Hoppe.
1) Anlage 7
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke bezieht sich auf den Beschluss des AKP-EG-Ministerrats
aus 2004, mit dem die Einrichtung der Afrikanischen
Friedensfazilität ermöglicht wurde, die den Aufbau einer
afrikanischen Eingreiftruppe und die Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen der Afrikanischen Union
unterstützt. Aufgrund dessen wurde für die Laufzeit von
2004 bis 2007 die Afrikanische Friedensfazilität mit
250 Millionen Euro ausgestattet. Diese Mittel sind im
Rahmen des Cotonou-Abkommens im 9. Europäischen
Entwicklungsfonds bereitgestellt worden. Auch im
10. EEF ist diese Fazilität enthalten und wurde um
50 Millionen Euro aufgestockt. Die Fraktion Die Linke
nimmt diese Beschlusslage zum Anlass, die Finanzierung
der Afrikanischen Friedensfazilität aus EEF-Mitteln als
Zweckentfremdung von Mitteln zu bezeichnen und zudem
deren Auftrag als Militäreinsatz zu bezeichnen. Eine Finanzierung dieser wichtigen Friedensmaßnahme, die
Grundlage für eine weitere Entwicklung ist, soll nach
dem Willen der Linken nicht aus Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds finanziert werden. Die Linke
verschweigt aber, woher die Mittel kommen sollen. Das
ist leider bei ihnen nichts Neues. Alle erdenklichen Versprechen, aber kein Wort dazu, woher das Geld kommen
soll. Das ist in meinen Augen Augenwischerei.
Wie auch die Ausschussberatung klar aufzeigte, verkennt die Fraktion Die Linke zudem den hohen Stellenwert, den die Afrikanische Friedensfazilität ganz im
Sinne unserer Entwicklungspolitik zu leisten imstande ist,
gerade auch bei der Bewältigung von Konflikten, nämlich
als ein flankierendes Instrument zu notwendigen - und
ich betone: zu notwendigen! - militärischen Einsätzen.
Ihre Behauptung, die Mittel seien für Militäreinsätze verwendet worden, ist völlig haltlos. Im Rechtsakt zur Einrichtung der Afrikanischen Friedensfazilität ist eindeutig
geregelt, wofür diese Mittel verwendet werden dürfen. Ich
zitiere: „Der Betrag kann mobilisiert werden, um die
Kosten zu decken, die den afrikanischen Ländern aus dem
Einsatz ihrer Friedenstruppen in einem oder mehreren
afrikanischen Ländern entstehen: Kosten für die Beförderung der Truppen, Aufenthaltskosten für die Soldaten,
Kapazitätsausbau.“ Und es ist explizit erwähnt, dass
diese Mittel - ich zitiere - „in keinem Fall für Militärund Rüstungsausgaben verwendet werden können“. Die
Unterstützung der Afrikanischen Union durch Mittel der
Afrikanischen Friedensfazilität war gerade zu der damaligen Zeit in der Region Darfur im Sudan aufgrund der
bis dato größten humanitären Katastrophe von größter
Wichtigkeit. Die benötigten Mittel stiegen sogar weit über
die veranschlagten Mittel hinaus. Die Bundesregierung
hatte daraufhin im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft
2007 sich für eine zusätzliche Unterstützung der AU-Mission durch bilaterale Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten über den EEF hinaus eingesetzt. Der Antrag der
Fraktion Die Linke als selbsternannte „Friedenspartei“
verkennt, dass in Krisen- und Konfliktregionen Afrikas
Friedensmissionen der Afrikanischen Union entscheidend zur Verkürzung von militärischen Einsätzen beitragen, und das aufgrund ihres friedenssichernden und stabilisierenden Charakters. Eine weitere Forderung des
Antrages nach dem Aufbau eines europäischen zivilen
Friedensdienstes ist leider auch sehr realitätsfern. Denn
nicht alle zivilen Friedensdienste in Europa haben dieses
gemeinsame Ziel. Sie befürchten eine zu starke Vereinnahmung durch die Politik und so den Verlust ihrer Unparteilichkeit. Sie streben im Gegensatz zu ihnen einen losen Netzwerkverbund an. An dieser Stelle möchte ich
auch darauf hinweisen, dass ich den Zivilen Friedensdienst durchaus unterstütze, weil deren Mitarbeiter in
vielen Teilen der Welt unschätzbare Arbeit leisten, oft
auch in nicht ungefährlichen Situationen für ihr eigenes
Leben.
Seit der Einrichtung des Zivilen Friedensdienstes vor
zehn Jahren wurde dieser mit Haushaltsmitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in
Höhe von 130 Millionen Euro unterstützt ({0}), wodurch wir den Einsatz von 387 Friedensfachkräften in 43 Ländern finanzieren konnten. Zivile Friedenskräfte leisten in Krisen- und Konfliktsituationen einen unschätzbaren Beitrag für einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten. Ich muss hier aber auch entschieden
dem Eindruck, den Sie, sehr verehrte Damen und Herren
von den Linken immer wieder verbreiten, entgegentreten,
nämlich der Annahme, dass in Konflikt- und Krisensituationen ausschließlich auf zivile Friedensdienste gesetzt
werden sollte und könnte. Das ist schlicht und einfach
falsch und verkennt völlig die oft lebensbedrohlichen Situationen, denen die Menschen in Konfliktsituationen
ausgesetzt sind. Der Zivile Friedensdienst ist ein wichtiges Instrument, aber eben nur eines unter anderen bei der
Bewältigung von Krisensituationen. Und das sollten auch
Sie zur Kenntnis nehmen. Meine Kollegen von der Fraktion Die Linke, in Ihrem Antrag zeigen Sie einmal mehr,
dass Sie eine fehlgeleitete Politik verfolgen, die den Menschen viele Versprechungen macht, die aber von der Realität weit entfernt ist. Die Fraktion der CDU/CSU lehnt
diesen Antrag ab.
Anlass zur heutigen Debatte gibt ein Antrag der Linken, der in seinen Forderungen weder politisch richtig
noch aktuell ist. „Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds“ lautet die
Überschrift des Antrags vom März 2007. Ein unnötiger
Appell, schon damals, da aus dem Europäischen Entwicklungsfonds ({0}) niemals Militäreinsätze finanziert wurden.
Worum es eigentlich geht, ist die Unterstützung einer
Friedensmission der Afrikanischen Union ({1}), die im
Jahr 2004 zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens in Sudan/Darfur entsandt wurde. Es handelte
sich dabei um die AU-Mission AMIS. Und bei dieser Friedensmission ohne robustes Mandat handelte es sich eben
nicht um einen Militäreinsatz. Äpfel sind Äpfel, und Birnen sind Birnen, das müsste auch die Linke wissen. Im
Antragstext selbst wird dann auch nicht von Militäreinsätzen gesprochen, da ist von einer Mission der Afrikanischen Union die Rede und der Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen. Aber auch Friedensmissionen
wurden und werden nicht aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Dies war auch bei der Friedensmission im Sudan nicht der Fall! Ziel der Mission
war es, durch eine erhöhte Präsenz von Beobachtern die
Einhaltung eines Waffenstillstands zwischen den Konfliktparteien zu überwachen, damit zur Stabilisierung der
Lage beizutragen und humanitäre Hilfeleistungen zu ermöglichen. Die Mittel, die damals aus dem EEF über die
Afrikanische Friedensfazilität für diese Mission bereitgestellt wurden, finanzierten keine militärischen Maßnahmen. Der Beitrag aus dem EEF finanzierte dabei ausdrücklich nur nichtmilitärische Begleitkosten des
Friedenseinsatzes der Afrikanischen Union. Das sind beispielsweise Transport und Logistik sowie medizinische
Versorgung der Einsatzkräfte. Zudem war ein erheblicher
Finanzierungsanteil für den Kapazitätenaufbau auf afrikanischer Seite eingeschlossen.
Lassen Sie mich kurz auf die Arbeit der AU und auf die
eigens eingerichtete Afrikanische Friedensfazilität eingehen. Die Afrikanische Friedensfazilität ist vom Rat der
Europäischen Union auf ausdrücklichen Wunsch der
Afrikaner im Rahmen des EEF eingerichtet worden. Der
Rat hat dies in dem Verständnis getan, dass es sich um
eine vorübergehende Lösung handelt, bis in der EU alternative Finanzierungsmechanismen etabliert werden können. Dies ist mittlerweile erreicht worden. Noch unter
dem 9. EEF hat der Rat, nicht zuletzt auf Betreiben der
deutschen Entwicklungsministerin, die Möglichkeit geschaffen, dass die Mitgliedstaaten auch bilaterale Beiträge zur Afrikanischen Friedensfazilität leisten können,
die dann von der Europäischen Kommission verwaltet
werden. Durch eine vorübergehende Finanzierung der
Afrikanischen Friedensfazilität aus dem EEF reagierte
die EU damals entschlossen und rasch auf den Antrag der
AU. Vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophe
in Darfur und dem geringen Respekt, den die sudanesische Regierung der internationalen Gemeinschaft entgegenbrachte, hatte die AU eine führende Rolle bei der Bewältigung des Darfur-Konflikts übernommen. Es galt, die
Erfolge des Waffenstillstands umgehend und ohne Zögern
zu sichern sowie die AU als maßgebliche Organisation
für die Beilegung von Konflikten auf dem Afrikanischen
Kontinent zu stärken. Ziel war es, die Friedensfazilität als
ein Instrument auszugestalten, das die EU in die Lage
versetzt, Lösungen einer afrikanischen Institution wie der
AU für die Probleme und Krisen des afrikanischen Kontinents zu unterstützen. Hier geht es auch um die Förderung und Anerkennung einer Eigeninitiative der afrikanischen Länder, sich der Lösung ihrer innerstaatlichen und
regionalen Konflikte selber anzunehmen. Es besteht aber
längst eine Finanzierungsoption für die Afrikanische
Friedensfazilität außerhalb des EEF, nämlich durch die
bereits erwähnten bilateralen Beiträge der Mitgliedstaaten. Noch im Jahr 2007 leistete die Bundesregierung daher aus dem Etat des Auswärtigen Amtes 28 Millionen
Euro für die AU-Mission im Sudan. Zudem besteht auf europäischer Ebene das gemeinsame Verständnis, dass bis
2010 die zugesagte Finanzierung der Friedensfazilität
aus dem EEF ausläuft und dies ein letztmaliger Finanzierungsbeitrag aus dem EEF sein wird.
Man sollte auch nicht den Blick dafür verlieren, wozu
der EEF eigentlich Beiträge leistet. Das Volumen des derzeitigen 10. EEF liegt für den Zeitraum von 2008 bis 2013
bei insgesamt 23 Milliarden Euro. Davon werden für die
Zu Protokoll gegebene Reden
Jahre 2008 bis 2010 insgesamt 300 Millionen Euro für
die Afrikanische Friedensfazilität beansprucht. Dass dieser Anteil nicht auf die ODA-Quote anrechenbar ist, versteht sich. Eine Änderung der OECD-Richtlinien, um
Friedenseinsätze als Entwicklungsgelder anrechenbar zu
machen, ist mit der SPD nicht denkbar und war zu keiner
Zeit gewollt. Im Wesentlichen ist der EEF ein Finanzierungstopf der EU-Kommission, der langfristige Entwicklungszusammenarbeit mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifikraums ({2}) unterstützt und eine
Reihe von umfangreichen Programmen, zum Beispiel im
Infrastrukturbereich, insbesondere in der Region Subsahara-Afrika finanziert. Die EU ist einer der wichtigsten
Geber für den afrikanischen Kontinent.
An dieser Stelle möchte ich noch auf eine weitere Forderung des Antrags eingehen. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, eine Initiative zur Einrichtung eines afrikanischen oder europäischen Friedensdienstes zu ergreifen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass auf Betreiben der SPD
1999 der Zivile Friedensdienst, kurz ZFD, gegründet
wurde. Mit diesem sehr erfolgreichen deutschen Modell
eines Friedensdienstes dienen wir auch im europäischen
Raum für andere EU-Mitgliedsländer bereits als Anregung. Ein Erfolgsrezept des ZFD ist dabei, dass er aus
der Mitte der Gesellschaft kommt und von sowohl zivilgesellschaftlichen, kirchlichen wie auch staatlichen Entwicklungsorganisationen getragen wird. Und dies in dezentraler Weise! Diese Struktur sollte auch für einen
europäischen Friedensdienst gelten. Es wäre falsch, eine
zentralistische Institution in Brüssel zu etablieren.
Auch der Aufwuchs des Titels „Ziviler Friedensdienst“
im diesjährigen Haushalt war und ist mir besonders
wichtig. Für dieses Jahr sind dem ZFD weitere
11 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden, und der
Titel ist somit auf 30 Millionen Euro aufgewachsen. Friedensarbeit aus dem Entwicklungshaushalt zu fördern,
war schon immer ein Anliegen der Sozialdemokratie;
denn Friedensarbeit ist ein Wegbereiter für alle weitere
Entwicklung. Wie wichtig die Arbeit des ZFD ist, konnte
ich auf meiner Reise in den Osten der Demokratischen
Republik Kongo im vergangenen Jahr selber sehen. Um
Entwicklung im Kongo möglich zu machen, müssen die
Muster der dort vorherrschenden Gewaltökonomien
durchbrochen werden. Gerade in einer solchen Situation,
in der ständig Feindbilder aufgebaut werden - eine Ethnie gegen die andere, Einheimische gegen Flüchtlinge,
Nord gegen Süd -, bedarf es einer Friedensförderung und
Konfliktbearbeitung. Die Friedensfachkräfte des ZFD
vor Ort gehen auf diese Aufgabe zu. Mithilfe unterschiedlicher Lösungsansätze wird es Menschen wieder ermöglicht, aufeinanderzuzugehen. Auch mit spielerischen
Methoden oder unkonventionellen Mitteln wird ein friedliches Miteinander angeregt und gewaltfreie Konfliktbewältigung gefördert. Um den verloren gegangen Dialog
zwischen verschiedenen Ethnien wieder aufzubauen, können beispielsweise Theatergruppen genauso hilfreich
sein wie Fußballturniere zwischen zerstrittenen Dorfgemeinschaften. Ebenso leisten die Fachkräfte gute Arbeit
im Bereich psychosoziale Betreuung und Traumaarbeit
bei Kriegs- und Gewaltopfern.
Allerdings müssen wir uns auch der Grenzen eines
Friedensdienstes bewusst sein. Seine Aufgabe liegt in der
Prävention von Gewaltausbrüchen oder in der Arbeit in
Postkonfliktsituationen. Im unmittelbaren Moment der
bewaffneten Auseinandersetzung sind Friedensfachkräfte nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. In
Situationen von offener bewaffneter Gewalt, von staatlich
geduldeter oder verschuldeter Willkür privater Gewaltakteure gegen die Bevölkerung und bei Völkermord sind
die Fachkräfte eines Friedensdienstes am Ende ihrer
Möglichkeiten. Solchen Gewalteskalationen allein mit
Entwicklungszusammenarbeit begegnen zu wollen, geht
an den Realitäten vorbei und schafft keine Lösung für das
menschliche Leid vor Ort. Einem Grundsatz bleibt die
SPD dabei aber immer verpflichtet: Die Finanzierung
von militärischen Maßnahmen, auch im Rahmen einer
Friedensmission, darf nicht aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit erfolgen. Dafür sind andere Ressorts in die Pflicht zu nehmen!
Der Antrag der Fraktion Die Linke geht teilweise in
die richtige Richtung. Auch die FDP ist gegen die Finanzierung von Militäreinsätzen aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Das Ziel der für die Entwicklungszusammenarbeit eingesetzten Mittel ist nicht der Einsatz
von militärischer Gewalt, sondern der Aufbau stabiler
Strukturen in den betreffenden Regionen. Dies soll eine
nachhaltige Gestaltung durch die ansässige Bevölkerung
ermöglichen. Und dies trifft nicht nur auf die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit zu, sondern auch - und besonders - auf die europäische.
Die FDP-Fraktion ist nicht nur im Zusammenhang mit
den hier in Rede stehenden Fragen der Auffassung, dass
die europäische Entwicklungszusammenarbeit diejenige
der Mitgliedstaaten nur ergänzen soll. Sie sollte im Übrigen
nur dort koordinierend tätig werden, wo mehrere Länder
gemeinsame Projekte oder Programme durchführen und
dies sinnvoll erscheint. Nach dem allgemein geltenden
Prinzip der Subsidiarität ist Entwicklungspolitik zunächst
Sache der Mitgliedstaaten, nicht der Europäischen Union.
Die Unsinnigkeit der Verlagerung der entwicklungspolitischen Verantwortlichkeiten nach Brüssel zeigt nicht
zuletzt die Ausgestaltung des Europäischen Entwicklungsfonds, EEF, um den es auch in dem hier behandelten Antrag geht. Denn nur dadurch wird es möglich, dass mit
deutschen Steuermitteln entwicklungspolitische Aktivitäten finanziert werden, die wir fraktionsübergreifend im
Deutschen Bundestag ablehnen. Dies gilt gerade für die
Zweckentfremdung von Entwicklungsmitteln für die Finanzierung solcher Militärausgaben. Dies widerspricht
im Übrigen auch dem Grundsatz der Haushaltswahrheit
und der Haushaltsklarheit.
Aber gerade dort liegt ein zentrales Problem des EEF:
Er ist ja gerade nicht in den vom Europäischen Parlament
kontrollierten Haushalt integriert. Er unterliegt überhaupt keiner parlamentarischen Kontrolle, und die Linke
sollte vor allem hier im Grundsätzlichen ansetzen. Die
FDP-Fraktion hat bereits mehrfach gefordert, die deutschen Mittel für den EEF zu sperren, bis eine hinreiZu Protokoll gegebene Reden
chende parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist.
Das hat die Linke bisher stets abgelehnt, und deshalb
muss sie sich jetzt auch nicht über solche Ergebnisse
wundern.
Die grundsätzliche Ausrichtung des EEF kritisiert die
FDP-Fraktion ebenfalls schon seit langem. Für eine Sonderbehandlung der AKP-Staaten gibt es keine entwicklungspolitische Rechtfertigung. Die Ausdehnung der Aktivitäten des EEF auf die Finanzierung militärischer
Maßnahmen ist auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch
zu bewerten und bereits in ihrem Grundsatz abzulehnen.
Entwicklungspolitisch wird durch die Ausdehnung der
Finanzierung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf militärische Maßnahmen deren Zielrichtung in
ihr Gegenteil verkehrt. Entwicklungszusammenarbeit
muss eine ethische Grundlage haben, sie ist schließlich
aus dem Gedanken der Humanität entstanden. Ihre
Grundlage sind die unveräußerlichen Rechte eines jeden
Menschen. Unter dem Deckmantel der Entwicklungszusammenarbeit dürfen wir keine Militäreinsätze finanzieren. Auch steht für uns eine Anrechnung von aus dem
EEF finanzierten Militäraktionen auf die ODA-Quote
nicht zur Diskussion. Militär muss auch weiterhin das
letzte Mittel der Politik bleiben. Eine leichtfertige oder rein
finanzpolitisch motivierte Legitimation durch ein intransparentes Instrument wie den EEF ist strikt abzulehnen.
Damit ist zunächst nichts gegen die Zielsetzung der
Afrikanischen Friedensfazilität gesagt. Anders als die
Linke hält die FDP-Fraktion begleitende Militäreinsätze
zur Sicherung entwicklungspolitischer Maßnahmen für
vertretbar und mitunter deren Mitfinanzierung auch für
unvermeidbar. Doch sind diese nach unserer Auffassung
auch klar im Haushalt auszuweisen und nicht in Fonds
wie dem EEF zu verstecken.
Daher kann die FDP-Fraktion dem Antrag der Linken
nicht zustimmen. Militäreinsätze sind zwar das letzte Mittel
der Politik, aber dennoch in bestimmten Fällen ein legitimes oder gar unvermeidbares Mittel. Beispielsweise ist
ein erfolgreiches entwicklungspolitisches Engagement in
Afghanistan ohne eine militärische Unterstützung überhaupt nicht denkbar - auch wenn das von einigen Seiten
ständig behauptet und gefordert wird. Das internationale
Engagement in Afghanistan hat nicht nur dazu beigetragen,
dass das Land aktuell nicht mehr zentraler Rückzugsort
international agierender Terrorgruppen ist, sondern diese
auch gehindert, die Aufbaubemühungen zu blockieren.
Wir kritisieren wie die Linken die Finanzierung militärischer Maßnahmen aus einem parlamentarisch unkontrollierten und intransparenten Fonds. Einen grundsätzlichen
Ausschluss von Militäreinsätzen im Rahmen der Begleitung
entwicklungspolitischer Zielsetzungen lehnen wir jedoch
ab. Insofern können wir dem Antrag der Fraktion Die
Linke nicht zustimmen.
Als vor genau fünf Jahren die Afrikanische Friedensfazilität ({0}) eingerichtet wurde, haben viele kritisiert,
dass diese Fazilität, die, anders als ihr Name suggeriert,
nicht etwa zivile Konfliktbearbeitung, sondern Militärmissionen der Afrikanischen Union unterstützt, aus
dem 9. Europäischen Entwicklungsfonds ({1}) gespeist
wurde. Zu den energischsten Kritikerinnen an der Europäischen Kommission gehörte damals die deutsche
Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul. „Die Grenze
zwischen militärischen und entwicklungspolitischen Aufgaben und Aktivitäten muss klar sein“, forderte die Ministerin damals zu Recht. Dennoch wurde schließlich die
Finanzierung der Fazilität aus dem EEF mit dem Hinweis
auf fehlende Alternativen als vorläufige Ausnahmelösung
vereinbart. Bis heute hat diese Ausnahmelösung Bestand.
Und leider hat es auch die Ministerin versäumt, während
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Schritte zu unternehmen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Mittlerweile hat schon die Laufzeit des 10. EEF begonnen
und zumindest bis 2010 wird darin weiterhin die Finanzierung der AFF abgewickelt. Frau Wieczorek-Zeul nennt
jetzt die Abwicklung der Afrikanischen Friedensfazilität
im Entwicklungsfonds nicht mehr „Zweckentfremdung“
({2}),
sondern „Mehr Geld für den Frieden“ ({3}).
Die Bundesregierung muss darauf drängen, dass der
Europäische Entwicklungsfonds nicht länger die Finanzierung der Friedensfazilität tragen muss. Erstens werden die Mittel des Entwicklungsfonds dringend für andere
Aufgaben benötigt, zum Beispiel für die Unterstützung ziviler Konfliktprävention und -bearbeitung. Die Linke hat
vorgeschlagen, die Gelder für eine Initiative zur Einrichtung eines Afrikanischen Zivilen Friedensdienstes umzuwidmen. Wir fordern außerdem, dass die Bundesregierung einen Vorstoß für einen Europäischen Zivilen
Friedensdienst unternimmt. Das ist schon lange in der
Diskussion und wäre ein positiver Schritt auf EU-Ebene weg von der zunehmenden Militarisierung, hin zu einer
wirklich zivilen Friedenspolitik. Spätestens im angekündigten Überprüfungsverfahren nach der ersten Hälfte der
Laufzeit des 10. EEF muss die Finanzierung der AFF aus
dem EEF herausgenommen werden. Militärpolitik ist
keine Entwicklungspolitik!
Zweitens geht es bei dieser Frage um Grundsätzliches:
Unter dem Begriff „vernetzte Sicherheitspolitik“ wird
von Mitgliedern der Bundesregierung und Abgeordneten
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, aber auch der
FDP und der Grünen einer engeren Verflechtung von
Entwicklungszusammenarbeit mit der Sicherheitspolitik
das Wort geredet. Wir lehnen das ab! Extremstes Beispiel
für diese unheilvolle Vermischung ist die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit, die in Afghanistan in
den Provincial Reconstruction Teams ({4}) zur Anwendung kommt und zu einer echten Gefahr für die zivilen
Aufbauhelfer und Aufbauhelferinnen geworden ist. Die
Linke fordert die Auflösung der PRTs und den Rückzug
der Bundeswehr aus Afghanistan. Frieden kann nicht militärisch herbeigeführt oder gesichert werden.
Die „vernetzte Sicherheit“ ist ein Holzweg, auf den
sich leider auch die Grünen begeben haben. Deren Außenpolitikerin Müller hat seinerzeit nicht nur allgemein
die Vernetzung militärischer und ziviler Aufgaben, sondern auch ganz konkret die Finanzierung der AfrikaniZu Protokoll gegebene Reden
schen Friedensfazilität aus dem EEF begrüßt. Ich habe
mich deshalb sehr gefreut, dass die Grünen jetzt im Entwicklungsausschuss unserem Antrag zugestimmt und damit ein Umdenken angedeutet haben.
Drittens kritisieren wir auch ganz grundsätzlich die
Militarisierung der Beziehungen zwischen Europäischer
Union und Afrika. Die drückt sich nicht nur in der Afrikanischen Friedensfazilität aus, sondern auch in der Unterstützung für den Aufbau einer afrikanischen schnellen
Eingreiftruppe und natürlich in den militärischen Einsätzen der EU in Afrika, die in Häufigkeit und Umfang zunehmen - und nicht zuletzt auch in der Abschottung und
Aufrüstung der Grenzen zwischen der EU und Afrika, der
jährlich Hunderte Flüchtlinge zum Opfer fallen, die versuchen, über das Mittelmeer oder den Atlantik Europa zu
erreichen.
Die Linke sieht in all dem keinen Beitrag zu einer
friedlichen Entwicklung oder zur Stabilisierung der betroffenen Regionen. Den könnte die EU leisten, wenn sie
ihre Fangflotten aus den afrikanischen Gewässern zurückziehen, auf die Durchsetzung von Freihandel verzichten, endlich die Agrarexportsubventionen abschaffen
und massiv in die ländliche Entwicklung in Afrika investieren würde.
Wir alle haben in den vergangenen Monaten gelernt,
zumindest verbal, mit riesigen Beträgen zu hantieren. Da
können einem die 250 Millionen Euro, die aus dem neunten Europäischen Entwicklungsfonds ({0}) in die Afrikanische Friedensfazilität geflossen sind, klein und unwichtig vorkommen. Das wäre aber ein Trugschluss! 250 Millionen Euro sind in der Entwicklungszusammenarbeit
nach wie vor eine Menge Geld. 250 Millionen sind ein
Drittel dessen, was Deutschland 2009 für die technische
Zusammenarbeit ausgibt. 250 Millionen sind 50 Millionen Euro mehr, als wir dieses Jahr in den Globalen Fonds
zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose einzahlen. 250 Millionen sind mehr als zehn Mal so viel, wie
wir an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zahlen. Es handelt sich hier also nicht um einen
Kleckerbetrag.
Aus vielen zähen Haushaltsverhandlungen weiß ich,
wie schwer es ist, Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zusammenzubekommen. Aus dem Haushalt des
BMZ geht jedes Jahr ein beachtlicher Teil an den EEF.
Zuletzt waren es 820 Millionen Euro. Dieses Geld ist für
die Entwicklungszusammenarbeit der EU bestimmt. Deshalb habe ich mich schon vor Jahren dagegen ausgesprochen, dass Gelder aus dem 9. EEF in die Afrikanische
Friedensfazilität fließen. Wir Grünen haben uns von Anfang an für die Unterstützung des Aufbaus einer afrikanischen Friedenstruppe im Rahmen der Afrikanischen
Union ausgesprochen. Wir wollen, dass Afrika selbst in
der Lage ist, für die regionale Sicherheit zu sorgen. Und
das meint eben ganz eindeutig, einen relevanten finanziellen Beitrag hierfür zur Verfügung zu stellen. Trotzdem
muss es gerade in diesen Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit gerade in Afrika für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele eingesetzt werden. Deshalb ist es
falsch, für dieses sinnvolle Projekt der Friedensfazilität
Geld zu verwenden, das für den Kampf gegen Hunger, Armut, Aids, Analphabetismus und für den Erhalt der Umwelt vorgesehen ist. Es ist falsch, dass Entwicklungsgelder der EU für die Bewältigung immer mehr neuer
Aufgaben und für militärische Einsätze zweckentfremdet
werden. Dies war schon beim 9. EEF falsch. Jetzt erleben
wir beim 10. EEF erneut die Nutzung - und dies sogar in
gesteigertem Maße - von Mitteln aus dem Fonds für die
Fortsetzung der Unterstützung der Afrikanischen Friedensfazilität.
Wir fordern - wie auch bereits in der vergangenen Legislaturperiode - eine eigenständige, verlässliche Finanzierung für die Afrikanische Friedensfazilität aus dem
Gesamthaushalt der EU. Aus diesem Grund haben wir
von der Bundesregierung gefordert, sich im Rahmen der
Finanziellen Vorausschau der EU von 2007 bis 2013 dafür einzusetzen, eine eigenständige Budgetlinie auf den
Weg zu bringen, die nicht zulasten des EEF geht. Das Gegenteil ist aber passiert: Es gibt immer noch keine eigenständige Finanzierung. Der EEF wird weiter geplündert.
Und der Betrag, der aus dem 10. EEF kommt, ist dazu
noch auf 300 Millionen Euro gestiegen! Die Finanzierung von Militäreinsätzen geht damit weiterhin zulasten
der Entwicklungsaufgaben.
Meine Fraktion wird dem Antrag der Linken aus den
eben genannten Gründen zustimmen. Das soll aber nicht
heißen, dass wir die ablehnende Position der Linken und
ihres Vorsitzenden Lafontaine zu friedenserhaltenden
Einsätzen wie etwa UNAMID und UNMIS teilen. Die ablehnende Position der Linken halten wir für fundamental
falsch. Die Vorstellung, dass ohne eine solche Unterstützung die Lage zu verbessern sei, war und ist abenteuerlich. Anders als die Linke, die Friedenseinsätze dogmatisch ablehnt, setzen wir Grünen uns detailliert mit den
einzelnen Einsätzen auseinander. Für uns Grüne gilt das
Primat des Zivilen. Das darf auf keinen Fall ausgehebelt
werden! Militär darf nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn es ein völkerrechtliches Mandat gibt, wenn der
Einsatz zur Eindämmung von Gewalt beiträgt und wenn
er hinsichtlich der Risiken und Fähigkeiten verantwortbar ist. Die Kernaufgabe von internationalen Truppen
muss es dabei sein, Menschen zu schützen und in Krisensituationen zu stabilisieren. Konflikte lassen sich nicht
mit Militär lösen. Das geht nur mit einem umfassenden
politisch-zivilen Ansatz.
Zusammenfassend sagen wir Ja zur finanziellen Förderung der Afrikanischen Friedensfazilität, aber Nein zur
Finanzierung aus dem Etat für Entwicklungszusammenarbeit.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5984, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4490 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP, Gegenstimmen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen
ohne Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008
über Streumunition
- Drucksache 16/12226 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- Drucksache 16/12698 Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({1})
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Eduard
Lintner, Andreas Weigel, Florian Toncar, Inge Höger
und Winfried Nachtwei.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12698, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12226 anzunehmen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf
stimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Gibt es keine. Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit der Zustimmung aller Fraktionen
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/12710. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der
einbringenden Fraktion und der Fraktion Die Linke und
Ablehnung im übrigen Haus abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 8
Abschottungspolitik beenden - Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({3}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und
unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren
- Drucksachen 16/10237, 16/10310, 16/10688 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen und Kolleginnen Thomas Bareiß, Josip Juratovic,
Hartfrid Wolff, Kornelia Möller und Brigitte Pothmer.
Am 1. Mai 2004 sind der Europäischen Union zehn
neue Länder beigetreten. Am 1. Januar 2007 traten mit
Bulgarien und Rumänien zwei weitere neue Staaten der
Union bei. Jedem der 15 „alten“ EU-Staaten wurde die
Möglichkeit eingeräumt, von der Möglichkeit einer Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen
Mitgliedsländer Gebrauch zu machen, außer in Bezug
auf Malta und Zypern. Um der Notwendigkeit einer
schrittweisen Anpassung der nationalen Arbeitsmärkte
nachzukommen, hat man sich dabei auf ein flexibles
2+3+2-Modell geeinigt. Das heißt, jedes EU-Mitglied
kann im eigenen Ermessen entscheiden, wie schnell eine
komplette Öffnung des nationalen Arbeitsmarktes erfolgen soll. Spätestens aber bis 2011 beziehungsweise 2013
im Falle Bulgariens und Rumäniens wird aber eine volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit für den gesamten EU-Raum
bestehen.
Mit dem Antrag der Fraktion der FDP wird nun verlangt, auf eine schrittweise Anpassung des deutschen Arbeitsmarktes zu verzichten und ab dem nächsten Monat
die komplette Freizügigkeit für alle mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder zu gewährleisten. Ich muss offen
sagen, dass ich eine gewisse Sympathie für den Antrag
nicht verhehlen kann. Als liberaler Wirtschaftspolitiker
stehe ich natürlich ausdrücklich hinter der Arbeitnehmerfreizügigkeit als einem der vier Eckpfeiler des EUBinnenmarktes.
Allerdings können wir es uns bei diesem Thema nicht
so einfach machen, wie es in dem Antrag der FDP vorgeschlagen wird. Vielmehr müssen wir uns unserer Verantwortung bewusst sein und sorgfältig die Folgen abschätzen. Dazu gehört die Notwendigkeit, unseren
Arbeitsmarkt so gut wie möglich auf die eintretenden Veränderungen vorzubereiten, die durch die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit der neu beigetretenen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten entstehen werden.
Lassen Sie mich im Folgenden zunächst klarstellen,
dass ich nicht das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit
für die EU-Mitgliedsländer infrage stelle. Das Prinzip
gehört als Eckpfeiler zu den „vier Freiheiten“ des EUBinnenmarktes, zu denen neben der Freizügigkeit von
Personen auch der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital gehört. Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, dass ein
einheitlicher europäischer Binnenmarkt mit all seinen
enormen Vorteilen für die Bürger der EU verwirklicht
werden kann.
Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, wie die
Politik dafür sorgen kann, dass es am Stichtag der Freizügigkeit keine Struktureinbrüche gibt und wie Gefahren
für den deutschen Arbeitsmarkt gebannt werden können.
Aus diesem Grund wurde eine flexible Lösung geschaffen,
um den nationalen Regierungen die Entscheidung zu
überlassen, wie der Übergang zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit unter Einbindung der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten am besten gestaltet werden
kann.
Die deutsche Bundesregierung hat sich dabei nicht
etwa für eine totale Abschottungspolitik in den nächsten
zwei Jahren entschieden, wie es in dem vorliegenden Antrag suggeriert wird. Vielmehr ist es gelungen, einen
Kompromiss zu finden, um die Vorteile der Freizügigkeit
bereits jetzt zu nutzen, ohne dabei vorschnell Risiken für
den deutschen Arbeitsmarkt einzugehen.
Schauen wir einmal auf die drei Optionen, die für
Deutschland infrage kommen: Erstens eine sofortige Aufhebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in vollem Umfang,
zweitens eine Verlängerung der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ebenfalls in vollem Umfang, drittens eine Zusammenführung der beiden Optionen durch
eine sinnvolle gezielte und schrittweise Öffnung des Arbeitsmarktes. Ich bin der festen Überzeugung, dass die
Bundesregierung mit der Wahl von Option drei die richtige Entscheidung getroffen hat.
Um Deutschland im internationalen Wettbewerb um
die besten Köpfe weiter zu stärken, wurde das Aktionsprogramm „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der
Fachkräftebasis in Deutschland“ beschlossen. Dieses
enthält ein Maßnahmenbündel zur Sicherung des Fachkräftebedarfs, da es in Deutschland sowohl kurz- als auch
mittel- und langfristig zusätzlichen Bedarf an Hochqualifizierten geben dürfte, unabhängig von der aktuellen
wirtschaftlichen Situation. Auf den umfangreichen Maßnahmenkatalog will ich an dieser Stelle nicht ausführlicher eingehen. Lassen Sie mich nur zwei Punkte herausgreifen, um die Tragweite des Konzepts zu verdeutlichen.
So soll mit dem Aktionsprogramm zur Sicherung der
Fachkräftebasis in Deutschland der mittel- und langfristig entstehende Bedarf an Hochqualifizierten hierzulande
gedeckt werden. Entsprechende Änderungen dazu wurden vorgenommen. Zum Beispiel wird der Zugang zum
Arbeitsmarkt für Akademiker aus Drittstaaten über den
IT-Bereich hinaus für alle Fachrichtungen unter Verzicht
auf das nach geltendem Recht bisher geforderte öffentliche Interesse an der Beschäftigung mit Vorrangprüfung
geöffnet.
Auch geduldete Hochschulabsolventen, deren Studienabschluss in Deutschland anerkannt ist und die zwei
Jahre lang durchgehend in einem ihrer Qualifikation entsprechenden Beruf gearbeitet haben, können einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Gleiches gilt für geduldete
Fachkräfte, die drei Jahre lang durchgehend in einem Beschäftigungsverhältnis standen, das eine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt.
Die Vorteile der Freizügigkeit für Deutschland werden
durch den Maßnahmenkatalog der Bundesregierung somit bereits jetzt genutzt, indem eine gezielte Öffnung des
Arbeitsmarktes vorgenommen wird. Verhindert werden
dadurch eine Überforderung unseres Arbeitsmarktes und
Struktureinbrüche am Stichtag der Öffnung.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch darauf hinweisen, dass wir mit der Freizügigkeit in der EU ja bereits
sehr weit sind. In vielen Bereichen haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Vorwurf, Deutschland schotte
sich gegenüber dem Ausland ab, ist völlig ungerechtfertigt. Das Problem ist dabei ein ganz anderes: Trotz der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer haben wir oft Schwierigkeiten, passende Arbeitskräfte in Deutschland zu finden.
Dies ist sicherlich ein Problem, mit dem wir uns in
Deutschland auseinandersetzen werden müssen.
Ich will die Zeit nun noch nutzen, um auf den Antrag
der Fraktion der FDP genauer einzugehen. Es wird unter
anderem argumentiert, dass ja andere EU-Mitglieder
eine sofortige Öffnung ihrer Arbeitsmärkte vorgenommen
haben und damit gute Erfahrungen gemacht hätten. So
zum Beispiel Großbritannien. Es lohnt sich aber, hier einmal genauer hinzuschauen.
Die Erfahrungen in Großbritannien waren anfangs in
der Tat positiv. Allerdings kam es dort bald zu einer Änderung der Sichtweise. So wurde, beispielsweise die Ausbeutung der Arbeitnehmer und die schlechte soziale Versorgung der Migranten beklagt. Übrigens trotz des
staatlichen Mindestlohns, den es in Großbritannien bekanntlicherweise gibt. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration überfordert sind.
Wenig überraschend ist es daher auch, dass nicht nur
Großbritannien, sondern alle EU-Mitgliedstaaten außer
Schweden aus ihren Fehlern gelernt haben und die sofortige Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auch für Bulgarien
und Rumänien gewährt haben, die ja zwei Jahre später
der EU beigetreten sind.
Auch in Bezug auf den Wettbewerb um die besten
Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa ist mehr Augenmaß angebracht. In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe,
und die Bundesregierung hat mit ihrem Maßnahmenkatalog darauf die richtige Antwort gegeben. Auch hier lohnt
es sich, die Statistiken aus Großbritannien anzuschauen
und zu prüfen, wer zugewandert ist und in welchen Tätigkeitsbereichen diese Migranten in Großbritannien eingesetzt werden. Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker und
Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Servicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Prozent,
Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind sicherlich keine
Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen, wenn Sie
mir diese Anmerkung gestatten.
Lassen Sie mich zum Abschluss nochmals eines deutlich sagen: Ab dem 1. Mai 2011 gilt für die Länder Polen,
Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Slowakei, TscheZu Protokoll gegebene Reden
chien und Ungarn die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Für
Bulgarien und Rumänien gilt dasselbe ab dem 1. Januar
2014. Dass Deutschland von der Möglichkeit einer
schrittweisen Anpassung seines Arbeitsmarktes an die
veränderten Bedingungen einer EU-27 Gebrauch machen will ist richtig und gut zu begründen. Damit werden
bereits jetzt die Vorteile für unsere Wirtschaft genutzt und
gleichzeitig verhindert, dass es unnötigerweise zu einer
Überforderung unseres Arbeitsmarktes und zu überhasteten Maßnahmen mit unvorhersehbaren Folgen kommt.
Der deutsche Arbeitsmarkt muss so weit wie möglich für
die bevorstehende Arbeitnehmerfreizügigkeit fit gemacht
werden. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden, um
Veränderungen abzufedern und notwendige Reformen
und Strukturanpassungen durchzuführen.
Wir beraten heute abschließend die Anträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. Beide Fraktionen fordern in ihren
Anträgen, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen ost- und
mitteleuropäischen EU-Mitgliedsländern zum Mai 2009
herzustellen. Die Regierungskoalition hat dies in den
Ausschussberatungen aus gutem Grund abgelehnt.
Es ist richtig, dass die Bundesregierung im letzten
Jahr bei der EU-Kommission die Verlängerung der Beschränkung des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt bis
Ende April 2011 beantragt hat. Es ist doch offensichtlich,
dass wir heute eine erhebliche Störung auf dem Arbeitsmarkt haben. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise
macht unserem Arbeitsmarkt schwer zu schaffen. Die
Arbeitslosenzahl erreichte im März dieses Jahres schon
fast die Marke von 3,6 Millionen, und sie steigt auch in
den Monaten, in denen in anderen Jahren die Zahl der Arbeitslosen saisonbedingt gefallen ist. Angesichts der
Weltwirtschaftskrise können wir also froh sein, dass wir
die Übergangsfristen noch haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal die Forderung von Handwerkspräsident HannsEberhard Schleyer aus dem letzten Sommer zurückweisen, polnische und tschechische Auszubildende nach
Deutschland anwerben zu können. In Deutschland gibt es
auch heute über 100 000 Altbewerber, die immer noch
keine Lehrstelle haben. Solange diese Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, stellt sich die
Frage nach Bewerbern aus Polen oder Tschechien politisch nicht. Hier müssen sich alle der gesellschaftlichen
Verantwortung stellen und unserer Jugend eine Chance
geben.
Auch wenn jetzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit bis
2011 eingeschränkt bleibt, so ist der deutsche Arbeitsmarkt deshalb nicht abgeschottet. Mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das seit 1. Januar 2009 gilt, haben
wir den Arbeitsmarkt für Akademiker aus allen EU-Staaten geöffnet. Die Beschäftigung von Akademikerinnen
und Akademikern aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ist
damit seit Jahresbeginn durch den Verzicht auf Vorrangprüfung inländischer Arbeitnehmer erheblich erleichtert.
Gleiches gilt für Hochqualifizierte mit einem Jahreseinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung. Schon seit 2005 können Unionsbürger aus
den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa zu
qualifizierten Beschäftigungen, die üblicherweise eine
mindestens dreijährige Ausbildung voraussetzen, mit
Vorrangprüfung zugelassen werden. Außerdem kommen
jedes Jahr rund 290 000 Neu-Unionsbürgerinnen, vorwiegend aus Polen und Tschechien, als Saisonarbeitskräfte ins Land. Von Abschottung kann also keine Rede
sein.
Auch sehe ich nicht, dass die Arbeitsmarktbeschränkung dem Ziel des kulturellen Austausches und der Völkerverständigung schadet. Dass dies nicht so ist, sieht
man an der Tatsache, dass allein aus dem polnischen
Sprachraum rund 1 Million Menschen unter uns lebt und
arbeitet.
Es ist doch nur folgerichtig, erst diejenigen Fachkräfte
zu uns ins Land zu lassen, die Arbeitsplätze schaffen, also
Akademiker und Hochqualifizierte. Der Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften nützt gerade den Geringqualifizierten. Eine neue hochqualifizierte Fachkraft schafft
zwei bis drei Stellen für weniger qualifizierte Fachkräfte
im Land. So gewinnen wir auch Akzeptanz für Zuwanderung. Wir müssen die Zeit, die wir bis 2011, bis zur vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, dafür
nutzen, um mehr Akzeptanz für die Zuwanderung aufzubauen - und wir brauchen diese Zeit. Wenn ich in meinem
Heilbronner Wahlkreis unterwegs bin, spüre ich deutlich
die Sorgen der Menschen. Für eine völlige EU-weite Öffnung des Arbeitsmarktes ist in der Bevölkerung Überzeugungsarbeit zu leisten, damit Integration auch gelingt.
Diesen Aspekt vermisse ich völlig in den vorliegenden
Anträgen.
Der Antrag der FDP blendet die Gefahren des Lohndumpings völlig aus. Das Wort Mindestlohn kommt im
Antrag der Liberalen überhaupt nicht vor, obwohl wir vor
einer EU-weiten Öffnung des Arbeitsmarktes einen
Schutz vor Lohndumping aufbauen müssen, und dieser
Schutz heißt Mindestlohn. Sonst dreht sich die Lohnspirale nach unten.
Wir haben bereits für rund 3,5 Millionen Menschen in
der Pflegebranche, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, in
der Abfallwirtschaft, bei den Bergbauspezialdiensten,
den industriellen Großwäschereien und in der Weiterbildung einen Mindestlohn durch die Aufnahme ins Entsendegesetz erreichen können. Wenn die Unionsfraktion vertragstreu bleibt, werden wir auch für die Branche der
Leiharbeit sehr bald eine Lohnuntergrenze vereinbaren
können. Nur mit einem Mindestlohn können wir Lohndumping vermeiden und den Druck auf die untersten
Lohngruppen entschärfen. Wir haben jetzt noch eine
Schonfrist bis 2011. Bis dahin gilt es, die entsprechenden
Vorbereitungen für die Öffnung zu treffen.
Die SPD-Fraktion hat sich intensiv mit den Themen
Migration und Arbeitnehmerfreizügigkeit auseinandergesetzt. In einer Querschnittsarbeitsgruppe haben wir zu
diesen Themen intensiv gearbeitet und unsere Position
bezogen. Eine moderne Migrationspolitik muss zwei
Herausforderungen annehmen: Wir müssen Zuwanderungsprozesse in unserem eigenen Interesse steuern und
Zu Protokoll gegebene Reden
gestalten, ohne unsere humanitären Verpflichtungen zu
vernachlässigen. Die Integration von Migrantinnen und
Migranten ist eine wichtige Daueraufgabe von Politik
und Gesellschaft. Um diese Aufgaben zu bewältigen und
die Menschen nicht zu überfordern ist es richtig, schrittweise die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EUBeitrittsländern herbeizuführen, damit Integration auch
gelingen kann.
Die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung aus
CDU/CSU und SPD ist Stückwerk. Die Bundesregierung
bleibt halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen für unsere Gesellschaft und für die deutsche Wirtschaft geht. Die bürokratische Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Problem: Einmal soll die
Vorrangprüfung gelten, ein anderes Mal nicht. Wie sollen
gerade kleine und mittelständische Unternehmen so ihre
Personalplanung betreiben? Sie sind in diesem Punkt von
der deutschen Arbeitsverwaltung abhängig. Freies Unternehmertum geht anders. Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutschland insgesamt und unserem
Mittelstand schaden.
Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen
Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland ist
kontraproduktiv. Die Beantragung der erneuten Verlängerung der Einschränkung bis 2011 bei der EU-Kommission durch die Bundesregierung ist kontraproduktiv. Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für
Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erforderlich.
Großbritannien profitiert davon mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Auch Frankreich will sich das zum Vorbild
nehmen. Dagegen will unsere Regierung eine falsche Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk.
Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europapolitischen Aspekt hinzufügen: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen
Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Verständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kontraproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den neuen
Partnerstaaten der EU nicht länger diskriminieren. Wir
sollten mit Offenheit unseren neuen europäischen Partnern begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ihren
Bürgern misstrauen!
Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können und die entsprechenden Kapazitäten hierfür haben. Dazu müssen wir das Problem
des Fachkräftemangels dringend beheben. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich einig, dass der
stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland über
ein Punktesystem ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei uns ist. Denn der Einsatz jeder weiteren
Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, sondern
auch Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirtschaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische
Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier lediglich ungerechtfertigte Ängste. Die Erfahrungen aus
den anderen EU-Staaten zeigen, dass eine überbordende
Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundesregierung in der
Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsgetreu aufzuklären,
anstatt die Angstmache durch Verlängerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne ein einheitliches
System droht Deutschland den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Aber anstatt die bewusste Gestaltung dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen, wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel
aufgemacht.
Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass
wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht mehr
werden halten können, wenn wir uns nicht für qualifizierte Zuwanderung öffnen. Das bisherige Ausländerrecht zeigt nach wie vor deutlich: Die Bundesregierung
will eigentlich keine Zuwanderung. Das Gegenmodell zur
restriktiven Politik hat die FDP vorgelegt: Wir brauchen
ein Punktesystem, das die Zuwanderung nach klaren Kriterien steuert und auch unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert. Dabei spielen vor
allem die Qualifikation, die berufliche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große
Rolle. Entscheidend ist: Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere Gesellschaft weiterbringen? Für diese brauchen wir eine Willkommenskultur, die
es für Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland
leichter macht, sich für Deutschland zu entscheiden. Die
Bundesregierung will steuern, aber sie steuert mit stotterndem Motor auf Zickzack-Kurs. Deutschland braucht
nicht das angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von CDU/CSU und SPD, sondern eine moderne,
klare, nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem Guss.
Heute stehen zwei Anträge zur Debatte, die sich gegen
eine erneute Verlängerung der Übergangsbestimmungen
für die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der EU
aussprechen.
Die FDP hat in einem Punkt recht: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit muss voll gewährleistet werden. Fehlende
Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet im Grunde, eine vom
EU-Gemeinschaftsrecht garantierte Grundfreiheit zu beschränken. Dies ist aber auch der einzige Punkt, dem man
zustimmen kann. Die in der FDP-Begründung genannten
Zielstellungen lehnen wir als Linke jedoch ab, denn sie
entsprechen voll und ganz der neoliberalen Ausrichtung
von Deregulierung und völliger Marktöffnung. Ihre Position, meine Damen und Herren von der FDP, zielt letztlich
auf eine weitere Schwächung der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Bei Ihnen steht allein die
Kapitalverwertungslogik im Vordergrund. Wer den europäischen Wettbewerb um die besten Köpfe absolut in den
Mittelpunkt stellt - was die Grünen in ihrem Antrag in
ähnlicher Weise tun -, dem ist es völlig gleichgültig, ob
Beschäftigte unterschiedlicher europäischer Länder gegeneinander ausgespielt werden - natürlich im Interesse
der Unternehmensgewinne! Ihnen geht es nicht in erster
Zu Protokoll gegebene Reden
Linie um globale Freizügigkeit aller Menschen mit sozialen Rechten, Ihnen geht es nicht um Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne soziale Verwerfungen!
Auch Ihre Argumentation zum Fachkräftemangel in
der BRD ist nicht haltbar, denn der ist hausgemacht. Es
gibt genug qualifiziertes Personal in Deutschland - und
was noch entscheidender ist: Deutschland und seine Unternehmen sind reich genug, einen Fachkräftemangel
überhaupt nicht zuzulassen!
Problematisch ist jedoch die Beschäftigungssituation.
Viele gut qualifizierte und hochmotivierte Berufsanfänger
haben Schwierigkeiten beim Berufseinstieg. Sie müssen
Tätigkeiten aufnehmen, die ihren Qualifikationen nicht
entsprechen und vielfach im Niedriglohnbereich angesiedelt sind. So haben über 75 Prozent der im Niedriglohnbereich beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine abgeschlossenen Berufsausbildung oder sogar
einen Hochschulabschluss. Wenn Ihnen, meine Damen
und Herren von der FDP, tatsächlich die weitere Qualifizierung und der Aufbau von Fachkräften am Herzen liegen, setzen Sie sich dafür ein, dass in Deutschland künftig
nicht mehr die soziale Herkunft über den Bildungsweg
und über die spätere Erwerbsbiografie entscheidet!
Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, sehen
zumindest den Zusammenhang zwischen der vollständigen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes und bisher
fehlenden Mindestlöhnen. Allerdings bleiben Sie hinter
den Forderungen nach einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn zurück. Auch auf die Höhe eines
Mindestlohns gehen Sie nicht ein.
Die Linke sieht sehr wohl die Notwenigkeit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle in der EU Lebenden sofort
herzustellen, da fehlende Arbeitnehmerfreizügigkeit vielfach zu Diskriminierung führt und auch die Ausweitung
von Schwarzarbeit fördert, wodurch viele Menschen in
absolut unwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse und
rechtlose Illegalität gedrängt werden. So wichtig und
wünschenswert es auch ist, Arbeitnehmerfreizügigkeit
rasch durchzusetzen und die nationale Abschottungspolitik zu beenden: Es kann dies erst dann geschehen, wenn
bestimmte Regelungen auf nationaler Ebene erfüllt sind.
Und diesbezüglich muss die Bundesregierung unter
Druck gesetzt werden. Dazu gehört als wichtigster Punkt
ein gesetzlicher flächendeckender Mindestlohn von mindestens 10 Euro sowie Mindeststandards für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - aus welchem Land sie
auch kommen mögen! Wenn diese unabdingbaren Forderungen keinen Eingang finden, so wird Arbeitnehmerfreizügigkeit immer mit sozialen Verwerfungen verbunden
sein. Lohndumping wird noch viel extremer betrieben, als
es jetzt schon der Fall ist. Völlige Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nur dann möglich, wenn die Koalition ihre Hausaufgaben macht und dem dringenden Erfordernis eines
gesetzlichen Mindestlohns endlich nachkommt. Zwar ist
mit der vor zwei Monaten getroffenen Ausweitung des
Entsendegesetzes ein erster kleiner Schritt in die richtige
Richtung getan worden, doch ist dies nicht mehr als ein
kleiner Tropfen auf dem heißen Stein. Es gibt immer noch
über sechs Millionen Menschen, die im Niedriglohnbereich beschäftigt sind.
Und noch etwas möchte ich an Ihre Adresse sagen:
Wenn Sie, meine Damen und Herren von den anderen beiden Oppositionsparteien, sich so vehement für Arbeitnehmerfreizügigkeit einsetzen, dann setzen Sie sich bitte auch
mit dem gleichen Nachdruck und umfassend dafür ein,
dass auch in Deutschland die notwendigen Rahmenbedingungen für eine Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne soziale Verwerfungen geschaffen werden. Statt eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns mit seiner
sozial stabilisierenden Wirkung haben wir in den vergangenen Jahren eine Bewegung erlebt, die das Land zunehmend in Niedriglohn, Mini- und Midijobs, 1-Euro-Jobs
und prekäre Beschäftigung führte. Über die Zunahme von
Armut und Kinderarmut musste deswegen in diesem
Hause in den letzten Jahren oft gesprochen werden. Wenn
Sie es also ehrlich meinen mit Ihren Anträgen und dabei
die Situation derjenigen im Auge haben, um deren Freizügigkeit es geht, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dann müssen Sie helfen, alle Hindernisse aus
dem Weg zuräumen, die heute einem gesetzlichen Mindestlohn entgegenstehen. Dazu gehören auch die HartzGesetze, die insgesamt das Lohn- und Gehaltsgefüge
deutlich nach unten gedrückt haben. Wenn Sie in diesem
Sinne handeln würden, dann wären Ihre Anträge ehrlich
und wir könnten ihnen ohne Bedenken zustimmen.
„Kein Bürger der neuen Mitgliedstaaten geht ohne
Aussicht auf einen Job in ein anderes EU-Land.“ So
schlicht und zutreffend begegnet die Europäische Kom-
mission denen, die Angst haben, dass ein offener
deutscher Arbeitsmarkt überrannt würde von billigen Ar-
beitskräften aus Osteuropa. Trotzdem hat die Bundesre-
gierung beschlossen, Deutschland über den 1. Mai 2009
hinaus weiter abzuschotten und die volle Freizügigkeit in
Europa weiter zu blockieren. Das ist nicht nur ein
schlechtes europäisches Signal, sondern auch ein
schlechtes arbeitsmarktpolitisches Signal, das Sie und
Ihre Bundesregierung ausgerechnet zum Tag der Arbeit
setzen. Das machen Sie gegen den Willen vieler Bundes-
länder, wie zum Beispiel Berlin, Mecklenburg-Vorpom-
mern oder Brandenburg, und das machen Sie trotz aller
positiven Erfahrungen, die unsere europäischen Nach-
barn mit ihren offenen Grenzen gemacht haben.
Andere haben von diesen Erfahrungen gelernt: Frank-
reich hat schon im letzten Jahr vorzeitig alle Beschrän-
kungen aufgehoben, Belgien und Dänemark kommen am
1. Mai dazu. Und um das auch gleich deutlich zu machen:
Diese Länder sind keine Inseln der Glückseligen in der
Krise, die sind genauso betroffen wie Deutschland, aber
diese Länder haben offensichtlich verstanden, was in die
Köpfe der schwarz-roten Bundesregierung nicht hinein
will: Die Beschränkung der europäischen Arbeitnehmer-
freizügigkeit ist kein Schutz-, sondern ein Ausgrenzungs-
instrument, das dafür sorgt, dass Deutschland sich selbst
aus dem Rennen nimmt. Statt mit offenen Grenzen und
klaren Regeln um die besten Köpfe und Hände zu werben,
bleibt die Bundesregierung sich treu und frickelt mal hier
und frickelt mal da, wenn irgendwo ein Fachkräfteman-
gel öffentlich wird. Das hat sich, wie wir alle wissen, noch
jedes Mal als erfolglose Strategie erwiesen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch wenn der Bauernverband kürzlich vermeldete,
dass sich im Gegensatz zu den Vorjahren 2009 kein
Saisonarbeiter-Engpass in der Spargelernte abzeichnet:
Sie alle wissen, dass dieser Zustand nur vorübergehender
Natur sein wird. Bei einer Erholung des britischen Pfunds
werden viele dieser Arbeitskräfte sofort wieder nach
Großbritannien ziehen, weil sie dort bessere Arbeitsbe-
dingungen als in Deutschland vorfinden.
Zu diesen besseren Bedingungen zählt auch der Min-
destlohn, auf den die meisten Beschäftigten in Deutsch-
land nach wie vor warten. Diese Tatsache ist einer der
großen arbeitsmarktpolitischen Sündenfälle der schwarz-
roten Bundesregierung. Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Union, es ist nicht glaubwürdig, wenn Sie hier
über den vermeintlichen Schutz einheimischer Beschäf-
tigten reden, den sie durch die weitere Abschottung
Deutschlands sicherstellen wollen. Wenn Sie Beschäftigte
- und dabei ist es egal, woher sie kommen - wirklich
schützen wollen, dann müssen sie für faire und verbindli-
che Arbeitsbedingungen für alle sorgen. Das erfordert an
erster Stelle flächendeckende und allgemeingültige Min-
destlöhne. Weinen Sie hier also keine Krokodilstränen. Es
ist Ihr Versäumnis, dass wir hier in den vergangenen Jah-
ren nicht einen Schritt weitergekommen sind. Wir Grünen
verbinden die Herstellung der Freizügigkeit unauflöslich
mit der Frage von Mindestlöhnen, im Gegensatz zur FDP,
die hier zwar ebenfalls für die Freizügigkeit auftritt, Min-
destlöhne aber für des Teufels hält. Mit dieser Laissez-
faire-Politik erweisen Sie der europäischen Freizügigkeit
einen Bärendienst, und das ist auch der Grund dafür, dass
wir Ihren Antrag ablehnen. Für halbe Sachen stehen wir
nicht zur Verfügung. Ich kann an dieser Stelle nur noch
einmal an alle appellieren: Stimmen Sie mit uns Grünen
für die volle Freizügigkeit, stimmen Sie für Mindestlöhne.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/10688. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/10237. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Zustimmung von CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/10310. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Be-
schlussempfehlung bei Ablehnung durch die Fraktion
der FDP und Zustimmung durch die übrigen Fraktionen
des Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Anke Eymer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich,
Gert Weisskirchen ({2}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren
- Drucksachen 16/10846, 16/12479 Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({5}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot der Erbringung militärischer Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unternehmen
- Drucksachen 16/11375, 16/12134 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({6})
Zu Protokoll gegeben habe ihre Reden die Kollegen
Holger Haibach, Wolfgang Wodarg, Jörg van Essen,
Paul Schäfer und Omid Nouripour.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Nichtstaatliche
militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12479, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/10846 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Ent-
haltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP und Gegen-
stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Internationale Ächtung des
Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer
Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unterneh-
men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/12134, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/11375 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Ge-
genstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Be-
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schlussempfehlung bei Ablehnung durch die einbringende Fraktion und Zustimmung der übrigen Fraktionen
des Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({7}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin,
Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gewerkschaften in der Türkei stärken
- Drucksachen 16/11248, 16/12655 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Bareiß
Dr. Daniel Volk
Rainder Steenblock
Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Lale Akgün,
Markus Löning, Hakki Keskin und Claudia Roth vor.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Rolle der Gewerkschaften in der Türkei und die Notwendigkeit ihrer
Stärkung. Die Situation der türkischen Gewerkschaften
ist aber kein isoliertes Problem, sondern spiegelt den Reformbedarf wider, der in der Türkei auch nach über drei
Jahren Beitrittsverhandlungen vorherrscht. Im Oktober
2005 wurden unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Die CDU/
CSU hat sich von Anfang an skeptisch gegenüber einer
Vollmitgliedschaft der Türkei geäußert und mit der privilegierten Partnerschaft ein Gegenkonzept vorgestellt, das
der Bedeutung einer engen Beziehung angemessen ist
und für beide Seiten große Vorteile bietet. Auch nach dem
Beginn der Beitrittsverhandlungen sind die Grundsätze
dieses Konzepts aktuell angesichts des offen gestalteten
Verhandlungsprozesses, der ausdrücklich keine EU-Mitgliedschaft am Ende garantiert.
Unabhängig von der Diskussion, die wir hier führen,
will ich an dieser Stelle aber auch klarstellen, dass die
Türkei ein enorm wichtiger Partner für die Europäische
Union ist. Lassen Sie mich dazu zunächst einige Ausführungen machen, ehe ich anschließend zu den innertürkischen Problemen und einer Bewertung des Antrags der
Linken zu sprechen komme. Zunächst einmal ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstandort, gehört sie doch mit einem Bruttosozialprodukt von
659 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 zu den 20 größten Volkswirtschaften der Welt. Das Außenhandelsvolumen betrug 277 Milliarden Euro. Die Türkei ist mit ihren
76 Millionen Einwohnern ein wichtiger Handelspartner
für Europa und vor allem auch für Deutschland. So war
die Bundesrepublik mit einem Anteil von rund 10 Prozent
an den gesamten türkischen Wareneinfuhren im Jahr
2007 nach Russland zweitgrößter Lieferant der Türkei.
Eine enge wirtschaftliche Kooperation bietet für beide
Seiten große Vorteile. Das sehr junge Durchschnittsalter
von rund 28 Jahren verdeutlicht, dass die Türkei nicht nur
wirtschaftlich über ein enormes dynamisches Potenzial
verfügt. Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre geografische Lage ein wichtiges Bindeglied zwischen den Märkten Europas und den Erdöl und Erdgas exportierenden
Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Region um das Kaspische Meer. Für die Energieversorgung
Europas spielt die Türkei damit eine immer wichtigere
Rolle. Ein Beispiel ist die Nabucco-Gasleitung, die Westeuropa unabhängiger von Russland machen soll. Der
Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine im vergangenen Winter hat die Dringlichkeit dieses Projekts unterstrichen.
Vor allem ist die Türkei aber ein wichtiges NATO-Mitglied, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die zweitgrößte Armee des Bündnisses besitzt. Durch die Nähe
zum arabischen Raum stellt sich die Türkei als ein wichtiger Partner in geostrategischer Hinsicht dar. Die Türkei
grenzt an Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak
und Syrien. Die Türkei hat sich in den letzen Monaten als
wichtiger vermittelnder Brückenstaat zu diesen Ländern
mit den dortigen Krisenherden entwickelt: Die KaukasusInitiative der türkischen Regierung zur Verbesserung der
Beziehungen im Kaukasus, die Gespräche um den BergKarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, eine stärkere westliche Einbindung der Turkstaaten durch die Türkei sowie die türkische Vermittlerrolle
zwischen Israel und Syrien zeugen von einer neuen verantwortungsvollen türkischen Sicherheits- und Außenpolitik. Die Türkei mit ihrer Staatsform und ihrer außenpolitischen Ausrichtung ist als starke Mittelmacht in der
Region somit eine wichtige Brücke zum Nahen Osten und
der islamischen Welt.
Bei meinen Gesprächen mit türkischen Politikern und
Delegationen stelle ich immer wieder fest, wie wichtig es
ist, die enge Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei hervorzuheben und zu festigen. Zu einem ehrlichen
Umgang miteinander gehört aber auch, die Frage einer
EU-Mitgliedschaft mit der gebotenen Sachlichkeit zu diskutieren und auf die Reformnotwendigkeit hinzuweisen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit den Gewerkschaften in
der Türkei, was in dem Antrag der Linken auch zur Sprache kommt. Der Antrag greift aber ein einzelnes Problem
auf, ohne die Lage in der Türkei insgesamt zu beleuchten
und blendet damit bewusst andere Bereiche aus. Aus diesem Grund will ich an dieser Stelle die Situation der Gewerkschaften in der Türkei in einen Gesamtrahmen einbetten, indem ich in aller Kürze auf die nach wie vor
großen Demokratiedefizite aufseiten der Türkei eingehe.
Auf dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen
wurden die Kriterien beschlossen, die potenzielle Beitrittsländer zur Europäischen Union erfüllen müssen. Es
handelt sich dabei neben der Aufnahmefähigkeit der
Union um drei Gruppen von Kriterien, die von den Beitrittskandidaten erfüllt werden müssen, und zwar erstens
wirtschaftliche Voraussetzungen, zweitens das AcquisKriterium und drittens die politischen Beitrittsvoraussetzungen. Die politischen Voraussetzungen, die nach dem
Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993
eigentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
hätten erfüllt sein müssen, sind dabei die entscheidenden.
In der Türkei herrschen nach wie vor enorme Defizite in
zentralen Demokratie-Beitrittskriterien. Dazu gehören
unter anderem der Schutz von Minderheiten, Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Erst vor kurzem wurde uns wieder deutlich vor Augen geführt, wie
weit es um die Pressefreiheit in der Türkei bestellt ist: Die
Dogan-Mediengruppe hatte kritisch über die Regierung
Erdogan berichtet, worauf der Ministerpräsident die Dogan-Zeitungen als „Lügenpresse“ bezeichnete und zum
Boykott aufrief. Zudem wird die Dogan-Gruppe durch
eine drastische Steuerstrafe in ihrer Existenz bedroht.
Der Vorwurf lautet, die Dogan-Gruppe habe im Zuge eines Anteilsverkaufs an den Springer-Verlag Steuern hinterzogen, und sie wurde zu Zahlungen in Höhe von 390
Millionen Euro aufgefordert. Das Ziel ist eindeutig, dass
die „unbequeme“ Mediengruppe vom Markt verschwinden soll. Im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit ist
auch der mehr als eingeschränkte Handlungsspielraum
türkischer Gewerkschaften zu sehen. Bis die Türkei diese
Grundwerte westlicher Demokratien nicht nur auf dem
Papier verabschiedet hat, sondern die Gerichte und die
Menschen diese Prinzipien auch verinnerlicht haben,
wird wohl noch eine lange Zeit vergehen. Nicht nur angesichts des morgigen Jahrestages des Völkermordes an
den Armeniern möchte ich zudem deutlich sagen, dass zu
einer Demokratie auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die sich daraus ergebende Verantwortung
gehören. Der Genozid an den Armeniern in den Jahren
1915 bis 1917 kostete Schätzungen zufolge über 1,5 Millionen Armeniern das Leben. Dieses Kapitel der türkischen Geschichte zu verleugnen, kann nicht hingenommen werden. Problematisch ist darüber hinaus auch der
Zypern-Konflikt zu sehen. Bei aller Verantwortung, die
auch von der griechischen Seite wahrzunehmen ist, muss
deutlich gesagt werden, dass die Türkei in der ZypernFrage gegen Völkerrecht verstößt, indem sie den Norden
besetzt hält und sich einer Einigung Zyperns nach wie vor
entgegenstellt. Das Ankara-Protokoll zur Ausweitung der
Zollunion mit der EU auf Zypern hat die Türkei zwar
Ende Juli 2005 unterzeichnet, sie weigert sich aber bis
heute, ihre See- und Flughäfen für zyprische Schiffe und
Flugzeuge zu öffnen. Mit dem Wahlsieg der türkischen
Nationalisten in Nordzypern am vergangenen Wochenende dürfte eine Einigung des Konflikts mit den Vertretern des griechischen Teils Zyperns in noch weitere Ferne
gerückt sein.
Nahezu unerträglich ist für mich aber, dass in der Türkei das Recht auf freie Religionsausübung nicht gewährleistet ist. Nach wie vor sind Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten in der Türkei äußerst
schwierigen Bedingungen ausgesetzt, da sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde der Türkei bzw. des
Türkentums angesehen werden. Von Religionsfreiheit ist
die Türkei gerade auch unter der reformorientierten
AKP-Partei noch weit entfernt. Bestes Beispiel dafür ist
die heftige Debatte um das jüngst verabschiedetet Stiftungsrecht in der Türkei. Dieses sieht die Rückgabe staatlich enteigneten Besitzes an kirchliche Stiftungen vor.
Türkische Politiker fürchteten in diesem Zusammenhang
den „Ausverkauf nationaler Interessen an die Christen
und Juden“. Zudem verbessert das Gesetz die Stellung
der Christen nur unwesentlich, da der türkische Staat die
Anerkennung eines öffentlich-rechtlichen Status für die
Kirchen nach wie vor verweigert. Erst letzte Woche habe
ich mir bei einer Reise in die Türkei ein Bild von den
Missständen machen können, als ich mit Kollegen meiner
Fraktion dem christlichen Kloster Mor Gabriel einen Besuch abgestattet habe. Das Kloster gehört zu den ältesten
der Christenheit und steht als geistiges Zentrum der weltweit verzweigten syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochia geradezu symbolisch für die schlimme Lage der
Christen in der Türkei. Mor Gabriel muss um das Überleben kämpfen, da gegen das Kloster wegen angeblicher
Aneignung fremden Bodens auch von staatlichen Stellen
Anzeige erstattet wurde. Dadurch droht dem Kloster die
Entziehung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Es
kann nicht angehen, dass ein EU-Beitrittskandidat wie
die Türkei so massiv gegen Religionsfreiheit als zentrales
Demokratieprinzip verstößt. In der Verantwortung steht
daher vor allem auch der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdoğan. Wer wie Erdoğan mehr Rechte für
Muslime in Deutschland fordert, der muss auch dafür
Sorge tragen, dass Christen in der Türkei ihre Religion
frei ausüben können. Angesichts der nach wie vor enormen Demokratiedefizite ist es völlig unverständlich, dass
die EU-Kommission ihre Scheuklappen weiter aufbehält
und unter der tschechischen Ratspräsidentschaft nun
zwei weitere Beitrittskapitel eröffnen will. Hier muss
auch einmal unseren türkischen Freunden deutlich gemacht werden, dass die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und der Reformstillstand in der Türkei nicht
ohne Folgen für den Beitrittsprozess bleiben können.
Ich will nun aber zurückkommen auf den Antrag der
Fraktion der Linken zur Stärkung der Gewerkschaften in
der Türkei. Wie gesagt stehen sicherlich richtige Dinge in
diesem Antrag. So wird zu Recht kritisiert, dass die türkischen Gewerkschaften aufgrund restriktiver gesetzlicher
Regelungen nur über einen sehr eingeschränkten Handlungsspielraum verfügen. Hinzu kommen institutionelle
und rechtliche Hürden, wie kostenverursachende Beglaubigungs- und Registrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedern oder strenge Voraussetzungen für die
Bejahung der Tariffähigkeit. Bislang werden also weder
die Standards in der EU noch die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO in Bezug auf die
uneingeschränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt. Dies betrifft insbesondere das Organisationsrecht,
das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen.
Nicht regierungskonforme Gewerkschaften werden unterdrückt und ihre Funktionäre politisch verfolgt.
Dem Antrag kann aber dennoch aus folgenden Gründen nicht zugestimmt werden: Zunächst einmal weist der
Antrag handwerkliche Fehler auf, die so nicht stehen gelassen werden können. So geht der Antrag stets von EUStandards im Gewerkschaftsrecht aus. Diese gibt es im eigentlichen Sinne aber gar nicht. Die Regelungen der Mitbestimmung von Gewerkschaften sind national geregelt
beziehungsweise in den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO verankert und zudem sehr
unterschiedlich ausgeprägt. Aus diesem Grund kann daher, wenn überhaupt, höchstens von Standards in der EU
gesprochen werden. Vor allem aber greifen die AntragZu Protokoll gegebene Reden
steller ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage in der
Türkei insgesamt zu beleuchten, wie ich es Ihnen geschildert habe. Ohne eine solche Einbettung in einen Gesamtrahmen kann man das Problem aber nicht stehen lassen.
Schließlich ist die Situation mit den Gewerkschaften Teil
eines größeren Problems, nämlich der Mangel an Demokratie im Allgemeinen und die Defizite im Bereich der
Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit im Besonderen.
Diese Defizite zeigen deutlich, dass zum jetzigen Standpunkt die Türkei nach wie vor weit davon entfernt ist, die
Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Dies in
der Konsequenz klar und deutlich zu nennen, scheuen
sich aber die Linken mit ihrem Antrag.
In dieser Woche haben sich Vertreter der Europäischen
Union und der Unterhändler der türkischen Regierung in
Prag getroffen, um über die Zukunft der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu beratschlagen.
Die Europäische Union hat dabei der Türkei vorgeschlagen, im Juni zwei neue Verhandlungskapitel, und zwar
aus dem Bereich des Steuer- und Sozialrechtes, zu öffnen.
Die Vertreter der Europäischen Union haben am 21. April
unmissverständlich deutlich gemacht: Eine Öffnung
neuer Verhandlungskapitel wird es nicht zum Nulltarif geben. Bevor die Kapitel eröffnet werden, muss die Türkei
handfeste Fortschritte im Reformprozess vorweisen. Vor
allem müssen die Gewerkschaften endlich mehr Rechte
erhalten. Die Europäische Kommission hat damit im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 1. Mai der Türkei deutlich
signalisiert: Wenn sie Mitglied in der Europäischen
Union werden will, kann es so mit den Gewerkschaftsrechten in der Türkei nicht weitergehen.
Ich begrüße es daher auch sehr, dass wir heute im
Deutschen Bundestag über die Lage der Gewerkschaften
in der Türkei diskutieren. Grundlage unserer Debatte ist
der Antrag der Fraktion der Linken „Gewerkschaftsrechte in der Türkei stärken“. Schon bei den Beratungen
im Europaausschuss haben wir als SPD-Fraktion deutlich gemacht, dass das Thema der Gewerkschaften für
uns sehr wichtig ist. Es ist daher einfach schlicht falsch,
wenn die Abgeordneten der Linken uns im Europaausschusses vorgehalten haben, wir seien in dieser Frage
„zurückhaltend“. Für die SPD-Fraktion stimmt das
nicht! Im Gegenteil: Wir haben die schrecklichen Ausschreitungen auf dem Istanbuler Taksim-Platz vom letzten Jahr noch sehr gut vor Augen. Eine Delegation der
SPD-Bundestagsfraktion hat sich daher im Rahmen einer
Delegationsreise nach Ankara im Januar dieses Jahres
vor Ort einen Eindruck von der Situation der Gewerkschaften verschafft und mit Gewerkschaftsvertretern die
Lage erörtert. Wir als SPD-Abgeordnete im Europaausschuss haben daher auch einen Koalitionsantrag zu den
Gewerkschaftsrechten formuliert, der in seinen Forderungen sogar noch über Ihren Antrag, meine Damen und
Herren von der Linken, hinausgeht. Die SPD ist also
nicht zurückhaltend, was die Gewerkschaften in der Türkei anbelangt; ich kann es nur noch einmal sagen: im Gegenteil. Das Zustandekommen dieses Antrages ist dabei
nicht an unserer Zurückhaltung, sondern - und auch das
möchte ich einmal offen sagen - er ist an der Zurückhaltung unseres Koalitionspartners von der CDU/CSU gescheitert.
Aus Gründen, die ich bis heute nicht ganz nachvollziehen kann, war die CDU/CSU nicht bereit, einen Koalitionsantrag zu Gewerkschaftsrechten in der Türkei mitzutragen. Es wurde vonseiten der CDU/CSU argumentiert,
dass man sich zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht zu Einzelfragen des Beitrittsprozesses äußern wolle. Wenn dem
aber so ist, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
wieso widmen Sie sich dann in einem Antrag der Situation
um das Kloster Mor Gabriel in der Türkei? Dabei handelt
es sich doch wohl auch um eine Einzelfrage des EU-Beitrittes! Eine solche Argumentationsweise ist für mich
nicht einsichtig.
Daher liegt uns heute nun also nur ein Antrag der Linken zur Abstimmung vor. Und diesem Antrag können wir
als SPD - auch wenn wir mit der Situationsbeschreibung
und einigen der Forderungen der Linken übereinstimmen, nicht zustimmen; denn der Antrag geht uns nicht
weit genug. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich
zunächst die Lage der Gewerkschaften in der Türkei aus
unserer Sicht darstellen. Wir stimmen mit der Linken darin überein, dass in der Türkei bei der Verwirklichung der
Rechte von Gewerkschaften immer noch erhebliche Mängel bestehen.
Die türkische Verfassung garantiert zwar den Arbeitnehmern das Recht, sich frei in einer Gewerkschaft zusammenschließen zu dürfen. Aber die Realität sieht anders aus. Die rechtliche Stellung der Gewerkschaften hat
sich mit dem Militärputsch von 1980 gravierend verschlechtert und ist bis heute nicht ausreichend gesichert.
Reformen wurden dabei lange durch die mächtigen
staatsnahen Gewerkschaften und Arbeitgeber blockiert.
Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und die Gewerkschaftsrechte in der Türkei stehen heute
immer noch nicht im Einklang mit einschlägigen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation
({0}) und dem EU-Recht. Vor allem beim Vereinigungsund Streikrecht und bei dem Recht auf Kollektivverhandlungen gibt es große Probleme. Die Internationale Arbeitsorganisation und der Internationale Gewerkschaftsbund kritisieren, dass Gewerkschaften in der Türkei an
Tarifverhandlungen nur dann teilnehmen können, wenn
mindestens 10 Prozent der Beschäftigen in einer Branche
im Land in einer Gewerkschaft organisiert sind und zugleich mehr als 50 Prozent der Beschäftigten eines Betriebes in dieser Gewerkschaft organisiert sind. Diese sogenannte Ermächtigungsklausel stammt aus dem Jahr
1983 und ist immer noch in Kraft. Diese Regelung erschwert die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte in
extremer Weise. So sind bis zum heutigen Tag nur circa
25 Prozent der Arbeitnehmer nach einem gewerkschaftlichen Tarif beschäftigt. Das kann und darf nicht sein!
Auch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist nach
wie vor mangelhaft ausgeprägt. So wird offiziell von einer
Unabhängigkeit der Gewerkschaften gesprochen, in realitas jedoch nimmt die Regierung durchaus immer noch
Einfluss auf die Gründung, die Struktur und die finanzielle Situation der Gewerkschaften. So brauchen die Gewerkschaften eine Erlaubnis des Arbeitsministeriums,
wenn sie in einem Unternehmen tätig werden wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch für die Abhaltung von Versammlungen oder Demonstrationen wird eine Erlaubnis gebraucht, an Versammlungen nimmt immer ein Regierungsvertreter teil.
Als letztes möchte ich hier noch das Streikrecht erwähnen. Dieses darf in der Türkei nur bei Tarifverhandlungen
ausgeübt werden. Alle Formen von Warn-, General- oder
Unterstützungsstreiks sind seit 1980 grundsätzlich verboten. Dazu kommt noch: Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes besitzen weder Streik- noch Tarifrecht. Sie
dürfen bei Gehaltsverhandlungen nur beraten. Und einige Bereiche, wie zum Beispiel der Bildungs-, der Kranken- und der Pflegebereich haben gar kein Streikrecht.
Diese Situation ist für die türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt nicht zufriedenstellend.
Sie entspricht weder den Standards der EU, noch denen
der Internationalen Arbeitsorganisation. So weit gehen
wir also d’accord mit einer Einschätzung der Lage, wie
sie auch von der Fraktion der Linken in ihrem Antrag vorgenommen wurde. Wir können uns daher auch der Aufforderung der Linken an die Bundesregierung anschließen,
sich sowohl im bilateralen Rahmen als auch auf EUEbene dafür einzusetzen, dass eine Angleichung der Gewerkschaftsrechte in der Türkei an die Normen der EU
und der IAO erfolgt. Auch wir als SPD wollen, dass das
geplante Gesetz über die Gewerkschaftsrechte in der Türkischen Nationalversammlung verabschiedet wird und
fordern die Bundesregierung auf, sich hierfür einzusetzen. Faire Tarifverhandlungen, ein umfassendes Recht
auf Streik und das Verbot von Aussperrungen sind wichtige Bereiche, die es neu zu regeln gilt.
So wichtig diese Forderungen aber sind - sie gehen
uns nicht weit genug. Die Situation der Gewerkschaften
in der Türkei ist schließlich durch eine starke Zersplitterung und durch ein Nebeneinander von vier Dachverbänden, den staatsnahen, den islamisch orientierten, den
Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und den revolutionären Gewerkschaften, geprägt. Dabei sind die
meisten Arbeitnehmer immer noch in den staatsnahen
Gewerkschaften organisiert.
Dies möchten wir betonen, und wir halten es auch für
wichtig, dies ausdrücklich in einem Antrag auszuformulieren. Die Stellung der nicht staatsnahen Gewerkschaften muss gestärkt werden; denn gerade sie sind immer
wieder Repressionen ausgesetzt. So ist im letzten Jahr das
Büro der DISK, des Bundes Revolutionärer Gewerkschaften, angegriffen worden. Deshalb halten wir es zum Beispiel für wichtig, dass Vertreter anderer Gewerkschaften
als des nur staatsnahen Bundes der Türkischen Arbeitergewerkschaften, Türk-İş, an offiziellen und anderen Gesprächskreisen bei der Internationalen Arbeitsorganisation miteinbezogen werden. Neben diesem Punkt kommt
uns im Antrag der Linken auch die europäische Dimension etwas zu kurz. Gewerkschaftsrechte in der Türkei
können nur im Rahmen der Verhandlungen zwischen der
EU und der Türkei verwirklicht werden. Deshalb ist es
auch so wichtig, dass - wie eingangs erwähnt - die EU
weitere Verhandlungskapitel erst dann eröffnet, wenn
endlich das neue Gewerkschaftsrecht verabschiedet wird.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf den anstehenden Tag der Arbeit gilt es, das noch einmal ganz deutlich
auszusprechen. Wir fordern die türkische Regierung auf,
das Verbot der Maifeiern, wie es seit den blutigen Auseinandersetzungen seit 1970 besteht, endlich aufzuheben.
Wir fordern sie auf, das neue Gewerkschaftsrecht zu verabschieden. Dann können auch die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU wieder neuen Schwung
bekommen. Dann kann die EU im Juni die Verhandlungskapitel zur Steuer- und Sozialpolitik eröffnen. Und dann,
meine Damen und Herren, wird auch die Beitrittsperspektive wieder ein Stück realistischer. Zum EU-Beitritt
der Türkei stehen wir Sozialdemokraten im Bundestag
weiterhin!
Den türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, vor allem den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unter ihnen, wünschen wir von hier aus einen
erfolgreichen und friedlichen 1. Mai 2009.
Die FDP wird diesen Antrag ablehnen. In der Türkei
gibt es einiges gesellschaftlich und politisch zu verbessern. Aber Ihr Antrag ist einseitig, unausgewogen und
kurzsichtig. Dieser Antrag ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein Gefälligkeitsantrag für Gewerkschaftsfunktionäre in der Türkei mit zweifelhafter politischer Einstellung. Ihr Kalkül ist doch ganz klar, Sie wollen die
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei politisch aufladen.
Darin unterscheiden Sie sich nicht von der CSU.
Wir Liberale nehmen die Verhandlungen mit unserem
Partner Türkei ernst. Wir lehnen es ab, sie zum Spielball
von Populisten im Wahlkampf zu machen. Wir werden
langfristige deutsche und europäische Interessen nicht in
der Wahlkampfarena auf Berliner Straßen opfern. Denn
es ist ganz klar Ihre Absicht, in den traditionell sozialdemokratischen Gefilden türkischer Verbände in Deutschland zu wildern. Die Folgen sind Ihnen egal. Sie wissen
genau, dass das, was wir hier im Bundestag zum Thema
Türkei machen, eins zu eins in den türkischen Medien Widerhall findet. Und ob es zu innenpolitischen Spannungen
in der Türkei kommt oder zu Belastungen der Beitrittsverhandlungen, ist Ihnen offensichtlich egal. Dieses Spielchen ist kurzsichtig und höchstgradig unseriös, wie Ihre
gesamte Europapolitik.
Der vorliegende Antrag leidet zudem daran, dass er
die Situation der Gewerkschaften einseitig hervorhebt
und daraus einen generalisierenden Blick auf die innenpolitische Situation in der Türkei ableitet. Von einem seriösen Antrag wäre zu erwarten gewesen, dass er die
politischen und wirtschaftlichen Fortschritte seit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen anerkennt. Davon ist
im Antrag absolut nichts zu finden. Stattdessen rekurrieren Sie auf amerikanischen Einfluss beim ersten türkischen Gewerkschaftsgesetz 1947. Verehrte Kollegen, in
welcher Zeit leben Sie denn? Soll ich Ihnen antworten,
dass die Sowjets 1947 damit begonnen haben, die Gewerkschaften zum Werkzeug der vereinigten Arbeiterpartei zu organisieren, was ihnen mit dem gleichgeschalteten
FDGB bis 1989 auch gelungen ist? Diese Art der Argumentation ist doch selbst unter Ihrem - zugegeben sehr
niedrigen - Niveau.
Zu Protokoll gegebene Reden
Noch ein Wort zum Thema Versammlungsfreiheit in
der Türkei. Damit keine Missverständnisse entstehen:
Für die FDP ist die Versammlungsfreiheit ein elementares Grundrecht, an dem es nichts zu rütteln gibt. Uns ist
auch die Situation in der Türkei sehr wohl bekannt. Ihr
Verhalten ist jedoch unfassbar scheinheilig. Denn Sie versuchen mit solchen Anträgen, die laufenden Beitrittsverhandlungen zu stören, die ja gerade die Verpflichtung der
türkischen Seite auf die europäischen Grundrechte - und
damit auch das Recht auf Versammlungsfreiheit - fest
verankern sollen.
Auch der Vertrag von Lissabon, den Sie gemeinsam mit
dem Kollegen Gauweiler und in einem Boot mit der NPD
so leidenschaftlich bekämpfen, erklärt die EU-Grundrechtecharta für rechtsverbindlich und damit auch
Art. 12 der Charta. Da Sie den Text offensichtlich nicht
kennen, lese ich Ihnen den Text vor: „Jede Person hat das
Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen
frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit
anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften
zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“ Ihre Ablehnung des Lissabonner Vertrages ist nichts als dumpfer
Populismus.
Wenn Sie sich hier also als Rächer der Gewerkschaftsfunktionäre aufspielen, ist das scheinheilig, kurzsichtig
und auch gefährlich. Denn wir alle wissen, warum Sie
hier voller Pathos ins Gewerkschaftshorn blasen und im
Vorfeld nicht bereit waren, einen gemeinsamen Antrag zu
formulieren. Denn der 1. Mai steht vor der Tür. Und da
wollen Sie sich gerne etwas revolutionär aufhübschen.
Und da scheinen Ihnen Straßenschlachten wie im letzten
Jahr in Istanbul ganz gut in den Kram zu passen. Dies
sollte nicht der Stil politischer Auseinandersetzung in
diesem Haus sein. Ich fordere Sie deshalb auf: Legen Sie
ihre Scheinheiligkeit ab, denn in Wirklichkeit schaden Sie
mit diesem Antrag den Interessen Deutschlands, aber genauso den Interessen der türkischen Gewerkschaften.
In wenigen Tagen feiern wir wieder den 1. Mai, einen
durch die internationale Arbeiterbewegung erkämpften
Feiertag. Mit Freude und großer Zustimmung habe ich
vernommen, dass das türkische Parlament gestern den
1. Mai zum offiziellen Feiertag erklärt hat. Dieser Schritt
war schon seit Jahren notwendig, und trotzdem freut es
mich, dass in Zukunft auch in der Türkei der „Tag der Arbeit und Solidarität“ offiziell gefeiert werden wird.
Wenn dies auch eine positive Entwicklung ist, dürfen
die Bilder des vergangenen 1. Mai nicht vergessen werden. Das brutale Vorgehen der Polizei am 1. Mai 2008 in
Istanbul war der Beweis für einen willkürlichen und gewalttätigen Umgang mit den Demonstranten und den Vertretern der Gewerkschaften. Menschen erlebten die polizeilichen Eingriffe in Form von Tränengas und
körperlicher Gewalt. Dieses unverhältnismäßige Vorgehen hat gezeigt, dass unabhängige und starke Gewerkschaften von der türkischen Regierung weiterhin als Gefahr wahrgenommen und nicht als Elemente einer
demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden. Dabei
brauchen die türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade jetzt starke Gewerkschaften. Insbesondere in den vergangenen Jahren kam es angesichts der
massiven Privatisierung unter der Regierung Recep
Tayyip Erdoğans immer wieder zu Massenentlassungen
und einem stetigen Wachsen des Niedriglohnsektors.
Als EU-Erweiterungsbeauftragter der Fraktion Die
Linke frage ich mich, warum die Situation der Gewerkschaften im Beitrittsland Türkei in den jährlichen Kommissionsberichten völlig ignoriert wird. Durch eine Vielzahl institutioneller und rechtlicher Hürden werden
Gewerkschaften daran gehindert, die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entsprechend zu
vertreten und sich gegenüber der Arbeitgeberseite zu behaupten. Sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und die bestehenden rechtlichen Hürden für effektive Gewerkschaften nicht wichtig genug für die Europäische
Union? In unserem Antrag fordern wir, dass in künftigen
EU-Kommissionsberichten die Lage der Gewerkschaften
intensiv beobachtet und ausführlich bewertet wird. Insbesondere die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die rechtlichen Hürden für eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft sollten dabei im
Mittelpunkt stehen. Auch sollte auf EU-Ebene eine zeitnahe Angleichung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei
an die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ({0}) und die Standards der EU gefordert werden.
Ich rufe dazu auf, den Umgang der Polizeikräfte unter
der Order der AKP-Regierung am 1. Mai aufmerksam zu
beobachten. Sollten sich die Gewaltaktionen vom vergangenen Jahr wiederholen, wäre dies ein weiteres Armutszeugnis für die AKP-Regierung mit Blick auf ihr Demokratieverständnis.
Die Geschichte der Gewerkschaften in der Türkei ist
eine leidvolle und zugleich kämpferische Geschichte. In
Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerkschaften im
NATO-Land Türkei unter einem fortwährenden Generalverdacht. Dies führte zu unglaublichen Restriktionen und
Einschränkungen von selbstverständlichen und fundamentalen Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Entrechtung und Kriminalisierung von Arbeitnehmern fand ihre traurigen Höhepunkte in der
brutalen Unterdrückung und dem blutigen Vorgehen der
Sicherheitskräfte gegen Aktivistinnen und Aktivisten der
Gewerkschaften und gegen Arbeitnehmervertretungen.
Die Erinnerung an die Erschießung von über 30 Demonstrierenden am 1. Mai des Jahres 1977 auf dem Istanbuler
Taksim-Platz ist in der Türkei immer noch sehr lebendig
und weiterhin Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen. Wir unterstützen die Forderungen der türkischen Gewerkschaften, die Aufklärung der Umstände
dieses grauenhaften Ereignisses einem gemeinsamen Untersuchungsausschuss anzuvertrauen, der endlich zur
Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der türkischen Geschichte beitragen könnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
Auch die Position der türkischen Regierung und der
Istanbuler Stadtbehörden im Streit um die Genehmigung
von 1.-Mai-Kundgebungen auf dem zentralen Taksim-
Platz in Istanbul ist trotz aller Symbolik unverständlich.
Die tragischen Folgen eines solchen Streits haben wir am
1. Mai 2008 zur Kenntnis nehmen müssen: Das gewalt-
same Vorgehen der Polizei gegen Demonstrierende und
Gewerkschaftler mit zahlreichen Leidtragenden hat auch
in Deutschland Entsetzen ausgelöst. Dieses Verhalten
verhöhnt die Grundsätze von Demokratie und Rechts-
staatlichkeit. Denn das Recht auf Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit ist ein Grundrecht, das überall und
insbesondere auch in einem Land, das EU-Beitrittskandi-
dat ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, ge-
währleistet werden muss.
Die türkische Regierung muss umgehend dafür Sorge
tragen, dass die gegenwärtige Rechtlosigkeit der Ge-
werkschaften in der Türkei überwunden und die Restrik-
tionen im Bereich von Grundrechten beseitigt werden. Sie
steht in der Pflicht, die Reformen mit mehr Leidenschaft
im Sinne der Beitrittsverhandlungen voranzutreiben. Das
gilt auch für die Öffnung zweier neuer Verhandlungska-
pitel zur Steuer- und Sozialpolitik, die im Sommer erfol-
gen soll. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regie-
rung auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte
einzuräumen und Reformen fortzusetzen, die das Gewerk-
schaftsrecht in der Türkei an die Konventionen der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU
angleicht. Es ist nicht nur im Interesse der EU, sondern
vor allem im Interesse der Türkei und der türkischen De-
mokratie, dass die Türkei ein modernes Gewerkschafts-
Gesetz verabschiedet. Denn Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und Partizipa-
tionsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türkische
Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationalen und
europäischen Konzerne und die EU müssen in ihren Wir-
kungsbereichen bzw. Betrieben die Einhaltung moderner
Arbeits- und Sozialstandards garantieren.
Es gab und gibt keine Entschuldigung für den Re-
formstau, der in den letzten zwei Jahren so viel politi-
schen Schaden angerichtet hat. Erfreulich ist allerdings,
dass die türkische Regierung in diesen Tagen eine alte
Forderung der Gewerkschaften erfüllt hat: Nachdem be-
reits das nach den blutigen Auseinandersetzungen in
Istanbul 1977 ausgesprochene Verbot der Maifeier zu-
rückgenommen wurde, wird von diesem Jahr an der
1. Mai ein gesetzlicher Feiertag für alle türkischen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein.
Unsere Kritik an der Lage der türkischen Gewerk-
schaften und am Reformstau geht mit Anerkennung und
Ermutigung für das Vorhaben der Regierung und ihres
neuen Chefunterhändlers Bagis einher, nach dem Kabi-
nettsbeschluss über ein nationales Reformprogramm mit
mehr als 130 Gesetzesänderungen nun schnell mit den
parlamentarischen Beratungen zu beginnen. Nur so kön-
nen die beschlossenen Reformen in angemessenem
Tempo umgesetzt werden.
Große Sorgen bereitet uns das aktuelle Vorgehen der
türkischen Justiz gegen die kurdische Partei DTP und
ihre Spitzenpolitiker, gegen die mit großen Mehrheiten
gewählten Bürgermeister kurdischer Städte und gegen
kurdische Aktivistinnen und Aktivisten. Die türkische Re-
gierung steht in der Pflicht, alles zu tun, um der nationa-
listischen Stimmungsmache, die gegenwärtig zu beob-
achten ist, ein Ende zu setzen. Sie muss die Einhaltung
der demokratischen Rechte aller türkischen Staatsbürge-
rinnen und -bürger gewährleisten. Die zügellosen Natio-
nalisten und Demokratiefeinde in der Justiz und anderen
Bereichen, die an einer alten, längst überholten Türkei
festhalten wollen, kann die Regierung Erdoğan mit einer
vorbehaltlosen Abschaffung und Streichung von Zensur-
und Unterdrückungsparagrafen ins Leere laufen lassen.
Die Regierungspartei AKP ist selbst aber reformmüde
und damit Teil der Kräfte, die die Reformdynamik brem-
sen. Die EU sollte der entsprechenden Forderung an die
türkische Regierung mehr Nachdruck verleihen, verbun-
den mit einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive für die
Türkei und einer ehrlichen Verhandlungspolitik.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12655,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/11248 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Die Gegenprobe! - Die Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD und Gegenstimmen
durch Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren
- Drucksachen 16/12227, 16/12301 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/12721 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Sylvia Kotting-Uhl
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen
- Drucksachen 16/11917, 16/12721 -
Vizepräsidentin Katrin Göhring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Sylvia Kotting-Uhl
Hier sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst Meierhofer, Eva
Bulling-Schröter und Sylvia Kotting-Uhl zu Protokoll
gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung.
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 18 a. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12721, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/12227
und 16/12301 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch die Koalition, Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, werden gebeten, aufzustehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher angenommen.
Nun zu Tagesordnungspunkt 18 b. Unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12721
empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11917 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die FDP und Ablehnung durch Bündnis 90/
Die Grünen und die Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Uschi Eid, Marieluise Beck ({3}), Volker
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sanitäre Grundversorgung international verbessern
- Drucksachen 16/11204, 16/11812 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({5})
Gert Weisskirchen ({6})
Marina Schuster
1) Anlage 10
Monika Knoche
Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolleginnen und Kollegen Sibylle Pfeiffer, Brunhilde Irber,
Gabriele Groneberg, Karl Addicks, Hüseyin-Kenan
Aydin und Uschi Eid vor.
Sanitäre Grundversorgung - oft ein Tabuthema: Die
sanitäre Grundversorgung gehört in der Entwicklungszusammenarbeit nicht gerade zu den „sexy“ Themen. Ja,
ich habe manchmal den Eindruck, dass dieses Thema regelrecht tabuisiert wird. Und dieses Tabu muss gebrochen
werden. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, das
Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. Denn hierbei geht
es um einen Komplex, der gerade für die armen Länder
lebenswichtig ist: Sanitäre Grundversorgung umfasst
Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung.
Sanitäre Anlagen - wichtig für Gesundheit: Über
1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem
Trinkwasser. Über 2,5 Milliarden Menschen, darunter
1 Milliarde Kinder, haben keinen Zugang zu ausreichenden sanitären Einrichtungen. Sie müssen offene Latrinen,
Eimer oder unhygienische Gemeinschaftstoiletten benutzen. In den Slums der Großstädte haben sie oft überhaupt
keine Toiletten.
Sanitäre Anlagen sind kein Luxus, sondern eine
Grundvoraussetzung für gesundes Leben. Sanitäre
Grundversorgung ist die beste Prävention gegen viele
Krankheiten. Doch nicht nur das. Sanitäre Anlagen sind
eine Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung. Nicht
von ungefähr hat man den verbesserten Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen zusätzlich in
die Millenniumsziele aufgenommen.
Ein weiteres Millenniumsziel ist: „Kindersterblichkeit
verringern“. Wie wollen wir das ohne geeignete Sanitärversorgung und ohne sauberes Wasser erreichen? Jeden
Tag sterben 5 000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die
auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen sind. Dabei
wären Gegenmaßnahmen einfach. Studien belegen, dass
durch regelmäßiges Händewaschen mit sauberem Wasser
und Seife die Durchfallerkrankungen um fast 50 Prozent
gesenkt werden können.
Wie wollen wir das Millenniumsziel „Müttergesundheit verbessern“ ohne fließendes Wasser und ohne Toiletten erreichen? Hierzu zwei Beispiele: In Äthiopien haben
wir zusammen mit einer Delegation ein Krankenhaus besucht, in dem Frauen mit Scheidenfisteln behandelt werden. Bei dieser Krankheit leiden die Frauen unter anderem an Inkontinenz. Es ist nicht vorstellbar, wie diese
Frauen leiden, weil sie keine Toiletten aufsuchen können.
In Sambia haben wir ein Krankenhaus besucht, in dem
die Toiletten kaputt waren. Frauen mussten kurz vor der
Entbindung ihre Notdurft im Freien verrichten.
Frauen sind besonders anfällig. In unseren Breitengraden können wir uns heute nicht vorstellen, was es
heißt, wenn ein Mensch ohne Schutz und ohne jegliche
Privatheit seine Notdurft verrichten muss. In Entwicklungsländern kann dies für Mädchen und Frauen Gefahr
für Leib und Leben bedeuten. Viele können sich aus
Scham nur in der Dunkelheit erleichtern. Dabei werden
sie oft Opfer von sexuellen Übergriffen.
Noch ein weiteres Millenniumsziel ist in diesem Zusammenhang betroffen: die Schulbildung. Es werden
viele Pläne für die verbesserte Schulbildung von Mädchen in Entwicklungsländern entworfen. Dabei wird aber
oft das Naheliegende vergessen. In vielen Schulen fehlt es
an Toiletten bzw. an für Jungen und Mädchen getrennten
Toiletten. So verlassen in manchen Ländern 10 Prozent
der Mädchen die Schule, wenn sie in das Menstruationsalter kommen.
Fazit: Die oben genannten Verhältnisse sind in meinen
Augen ein Angriff auf die Würde der Frauen und Kinder.
Eine Verbesserung der Grundversorgung mit sanitären
Anlagen bedeutet verstärkten Schutz für Frauen und
Mädchen. Das wiederum bedeutet auch eine Verringerung der Armut.
Deutschland engagiert sich sehr stark in dem Bereich
der sanitären Grundversorgung. Viele Forderungen aus
dem vorliegenden Antrag werden von der Bundesregierung bereits erfüllt. Daher können wir dem Antrag nicht
zustimmen. Nichtsdestotrotz misst die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem Thema eine besondere Bedeutung
bei. Daher haben wir dem interfraktionellen Antrag zugestimmt, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr
der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird.
Pro Jahr gibt das BMZ derzeit 350 Millionen Euro im
Bereich Wasser und Abwasser aus. Meiner Meinung nach
ist es wichtig, dass dabei der Grundsatz gilt, dass jedes
Trinkwasserprojekt auch Abwasser berücksichtigen
muss. Rund 30 Prozent der gesamten bilateralen Fördersumme des Wassersektors werden in den Abwasserbereich investiert. Deutschland ist seit vielen Jahren in der
Welt einer der größten Geber im Abwasser- und Sanitärbereich.
An dieser Stelle möchte ich auf einen entscheidenden
Punkt hinweisen. Die Hauptverantwortung für sanitäre
Grundversorgung tragen die Partnerländer selbst.
Deutschland kann nicht einfach in ein Land gehen und sagen: So, wir machen jetzt sanitäre Grundversorgung. Wir
orientieren uns bei der bilateralen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eng an den Strategien der Partnerländer, was übrigens in der Pariser Erklärung gefordert wird. Und wir müssen feststellen, dass für viele
Partnerländer der Wasser- und Abwassersektor keine besonders hohe Priorität hat.
Am Ende möchte ich folgende Punkte zusammenfassen: Erstens. Eine Verbesserung der sanitären Grundversorgung trägt zur Reduzierung der Armut bei. Zweitens.
Sanitäre Grundversorgung stärkt Frauen und Kinder.
Drittens. Das Thema sanitäre Grundversorgung ist zu
wichtig, als dass es vernachlässigt und tabuisiert werden
darf. Wir alle müssen mitwirken, damit das Tabu durchbrochen wird.
Die Bedeutung der sanitären Grundversorgung wird in
der internationalen Entwicklungspolitik unterschätzt.
Tatsächlich klingt es in den Ohren der meisten Menschen
hierzulande erst einmal sonderbar, vielleicht sogar albern, wenn sie hören, dass Deutschland Klohäuschen in
Afrika oder Asien baut. Bei näherem Hinsehen stellt sich
dann schnell heraus, dass es sich hier nicht um ein albernes Thema handelt. Im Gegenteil: Das Thema Toiletten
und Abwasserentsorgung ist sehr ernst. Täglich sterben
rund 5 000 Kinder an den Folgen fehlender sanitärer
Grundversorgung und leicht vermeidbarer Krankheiten,
die durch verschmutztes Trinkwasser und mangelnde Hygiene entstehen. Obwohl dieser Mangelzustand wohl
mehr Menschenleben fordert als bewaffnete Konflikte,
hört man in den Medien wenig darüber. Es ist hierzulande
fast niemandem bekannt, dass 18 Prozent der Weltbevölkerung - das sind rund 1,2 Milliarden Menschen - über
keinen Zugang zu Toiletten in irgendeiner Form haben.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Trinkwasserbrunnen und Gewässer mit Cholerabakterien verseucht
sind. Allein eine funktionierende Sanitärversorgung
könnte daher die Kindersterblichkeit mehr als halbieren.
Um dieses Problem effektiv anzugehen, braucht es einen offenen Umgang mit dem Thema Toilette und Abwasserentsorgung. Politiker in den ärmsten Ländern der Welt
tun sich schwer, ein „schmutziges Thema“ wie Toiletten
in ihren Wahlkampf aufzunehmen. Politischer wie auch
zivilgesellschaftlicher Wille werden offensichtlich durch
das „Toilettentabu“ gehemmt. Doch auch in unserem
Land tun sich die Menschen schwer, Geld für den Bau von
Toiletten und Abwasserbehandlung zu spenden. Entwicklungspolitisch orientierte Unternehmen oder Berühmtheiten bevorzugen in der Regel den Einsatz ihrer Mittel in
Schul- oder Brunnenbauprojekten.
Um die Scheu vor dem Thema sanitäre Grundversorgung zu überwinden und ein Bewusstsein für richtiges hygienisches Verhalten zu fördern, hat die SPD-Bundestagsfraktion ({0}) bereits einen
Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit diesem Antrag forderte sie die Bundesregierung auf, sich bei
der Generalversammlung der Vereinten Nationen dafür
einzusetzen, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen
Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird.
Es galt hierbei, nicht nur ein unpopuläres Tabu-Thema zu
brechen, sondern auch ein Bewusstsein für richtiges hygienisches Verhalten zu vermitteln.
Trotz sichtbarer Verbesserungen in den Bereichen
Siedlungshygiene und Abwassermanagement bleiben die
Fortschritte in zahlreichen Ländern deutlich hinter den
Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die Anzahl
der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums sogar gestiegen. Setzt sich der Trend
fort, wird das Millenniumsentwicklungsziel der Vereinten
Nationen zur Sanitärversorgung verfehlt werden. Die
Bundesregierung setzt sich deshalb intensiv für eine Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung ein. Sie
orientiert sich dabei an den Millenniumsentwicklungszielen und den Prinzipien des Integrierten Wasserressourcenmanagements.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland gehört weltweit zu den führenden Nationen im Wassermanagement, dessen Erfahrung und
Know-how weltweit gefragt sind. Das spiegelt sich auch
in der Entwicklungszusammenarbeit wider. Wasser und
Abwasser gehören seit über 30 Jahren zu den wichtigsten
Arbeitsfeldern. Gemessen an der bilateralen Fördersumme von rund 350 Millionen Euro pro Jahr ist der Wasser- und Abwasserbereich der zweitgrößte Investitionsbereich der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. In
Afrika ist Deutschland der größte bilaterale Geber. Circa
40 Prozent dieses Betrags werden für Maßnahmen im Bereich Sanitärversorgung und Abwassermanagement eingesetzt. Im Regelfall enthalten Trinkwasserprojekte immer auch eine Abwasserkomponente. Die deutsche
entwicklungspolitische Zusammenarbeit erreicht mit den
derzeit laufenden Projekten in den Bereichen Sanitärversorgung und Abwassermanagement rund 35 Millionen
Menschen.
Wir werden das Problem der unzureichenden sanitären Grundversorgung in weiten Teilen unserer Welt nicht
allein schultern können. Der Schlüssel zum Erfolg ist daher eine effektive internationale Zusammenarbeit. Deutschland setzt sich daher seit einigen Jahren verstärkt in internationalen Organisationen und Initiativen für das
Thema nachhaltige Sanitärversorgung ein. Ich möchte
hier keine ausführliche Aufzählung der deutschen Initiativen zur Förderung der sanitären Grundversorgung auf
internationalem Parkett abliefern. Ein kleiner Überblick
über die deutschen Aktivitäten während des vergangenen
Jahres, des „Internationalen Jahres der sanitären Grundversorgung“, soll hier genügen. So hat die Bundesregierung auf der 16. Sitzung der Kommission für nachhaltige
Entwicklung der Vereinten Nationen in New York, während des Gipfeltreffens der acht großen Industriestaaten
({1}) in Japan im August 2008 sowie mit der Organisation einer Veranstaltung zum Thema „Water and Sanitation“ am Rande des VN High Level Event zu den Millenniumsentwicklungszielen im September 2008 ihre
führende Rolle im Bereich Sanitärversorgung unterstrichen. Ferner setzt sich Deutschland im Rahmen der Wasserinitiative der Europäischen Union sowie im Dialog mit
internationalen Partnern wie dem Afrikanischen Rat der
Wasserminister ({2}) aktiv für das Thema ein.
Ob und wann alle Menschen weltweit in den Genuss
einer sanitären Grundversorgung kommen werden, ist
leider noch nicht abzusehen. Dass wir heute über das
Thema sanitäre Grundversorgung diskutieren, ist aber
ein Zeichen dafür, wie stark das Thema in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Ich bin daher optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren weltweit eine deutliche Ausweitung der Sanitärversorgung und parallel
dazu einen Rückgang der wasserbedingten Erkrankungen erleben werden.
Vor diesem Hintergrund hat sich das Anliegen des vorliegenden Antrages der Grünen erledigt. Ich bitte Sie daher, den Antrag abzulehnen.
Der Antrag und die Große Anfrage von Bündnis 90/
Die Grünen haben einen guten Zweck erfüllt: Sie haben
erneut den Fokus auf das Thema Trinkwasser und sanitäre Grundversorgung gelenkt, sodass wir heute die Möglichkeit haben, darüber zu reden und nicht zuletzt auch
Öffentlichkeit für dieses Thema herzustellen. Das ist
wichtig; denn wie wir alle wissen, gibt es bei diesem
Thema noch immer zu viele Berührungsängste.
Trotzdem lehnen wir den Antrag ab. Nehmen wir zum
Beispiel die Forderung, dass zukünftige Trinkwasserprojekte in der internationalen Zusammenarbeit in Zukunft
immer eine Sanitärkomponente enthalten sollen. Das ist
nicht neu. Das wird dort, wo es mit den Partnerländern
realisiert werden kann, auch so gehandhabt, und es wird
auch in Zukunft so sein. Diesbezüglich möchte ich unsere
parlamentarische Staatssekretärin Karin Kortmann zitieren, die uns versichert hat: „Es gibt im BMZ die
Maßgabe: Keine Trinkwasserversorgung ohne eine entsprechende Abwasserversorgung.“ Auch das siebte Millennium Development Goal der UN ({0}) beinhaltet
diese Verknüpfung. Dabei geht es um die Halbierung der
Anzahl von Menschen, die keinen Zugang zu sauberem
Trinkwasser und zu sanitärer Grundversorgung haben.
Viele Länder sind dank des MDGs „on track“ - also auf
gutem Wege, das Ziel zu erreichen, zum Beispiel in Südostasien die Philippinen, Myanmar, Vietnam. Da konnte
bislang die Versorgung mit sanitären Anlagen um 17 Prozent gesteigert werden. Ähnlich positiv sieht es im Norden
Afrikas aus. Sicher ist richtig: Das Ziel der Halbierung ist
auch in diesen Ländern noch nicht erreicht, aber es sind
Fortschritte erkennbar. In vielen anderen Ländern, vor
allem in Subsahara-Afrika, stellt sich die Situation allerdings noch ganz anders dar.
Und genau aus diesem Grund treiben wir den Dialog
mit unseren Partnerländern voran - übrigens eine weitere Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
der bereits nachgegangen wird. Wir alle wissen wie wichtig die MDGs sind, welche Signalwirkung auch von ihnen
ausgeht. Ich kann daher aus meiner eigenen Erfahrung
sagen, dass das Thema Trinkwasser und Abwasserentsorgung sowie Sanitärversorgung bei Gesprächen mit den
Partnerländern immer auf der Tagesordnung steht. Die
Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen werden also in
den laufenden Prozessen bereits berücksichtigt. Sie müssen nicht neu formuliert werden.
Dennoch: Auch wenn sanitäre Grundversorgung auf
diversen Konferenzen diskutiert und behandelt wird und
sich Ministerinnen und Minister sowie Abgeordnete Gedanken und Pläne zur Verbreitung des Themas machen,
heißt das noch lange nicht, dass damit die Akzeptanz des
Themas in allen Kulturen erfolgt ist. Erst letztens musste
ich beispielsweise in Sambia feststellen, dass die Verwendung von menschlichen Fäkalien als Biomasse aus kulturellen Gründen abgelehnt wird. Dabei wäre diese
Verknüpfung von Ver- und Entsorgung so wichtig, insbesondere in der ländlichen Entwicklung. Hier können
Exkremente beispielsweise für die Betreibung von Biogasanlagen genutzt werden. Ich habe dies in meiner Rede
am 5. Dezember 2008 ausführlich beschrieben: Ohne
ökologisch nachhaltige Kreislaufsysteme wird die Realisierung der verschiedenen MDGs kaum möglich sein.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir - wenn wir mit
unseren Lösungen in den Partnerländern wegen kulturelZu Protokoll gegebene Reden
ler Differenzen nicht weiterkommen - dieses erkennen
und nach anderen Wegen suchen. Nur mit den Menschen
und nicht gegen sie kann eine nachhaltige Entwicklung
auch auf diesem Gebiet stattfinden. Die Versorgung mit
sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen - als
Schlüssel für mehr Entwicklung und weniger Armut - ist
zu wichtig, um daran zu scheitern.
Wir reden heute über ein anrüchiges Thema, ein
Thema, das man gerne vermeidet, wenn nicht gar tabuisiert. Aber das Thema ist zu wichtig, als dass es einem
Tabu zum Opfer fallen könnte: Wir reden über menschliche Exkremente, die in vielen Teilen dieser Welt zum Himmel stinken. Das ist nicht nur unangenehm, das verursacht auch schlimme Folgen, vor allem für die Kinder
dieser Welt: Von unsachgemäß abgelagerten Fäkalien
transportieren Fliegen Amöben und andere Krankheitserreger direkt in die Häuser, auf den Tisch und die Speisen, sogar direkt auf den Mund der Kinder, Sie kennen
doch alle diese Bilder. Der Weg vom Darmausgang des
einen zum Mund des anderen ist kürzer, als man gewöhnlich denkt. Und dann entwickeln sich in den unsachgemäß
abgelagerten Fäkalien Wurmlarven: Die klettern an
Grashalmen hoch, warten dort auf einen, der vorüberkommt, und dringen dann aktiv durch die Haut in den
Körper ein, wo sie eine Wanderung machen und sich dann
wieder im Darm ansiedeln. Dies hatten wir früher auch
hier bei uns, es war eine anerkannte Berufskrankheit der
Bergleute. Unter Tage waren früher auch schlechte Sanitärverhältnisse.
Des Weiteren sickern die Erreger in unsachgemäß abgelagerten Fäkalien mit dem Regenwasser in die Brunnen
und gelangen so ins Trinkwasser. Dann kommt kontaminiertes Wasser aus den Trinkwasserleitungen, Trinkwasser,
das die Leute in gutem Glauben trinken. Dadurch kommt
es in großen Teilen der Welt immer noch zu großen Massenepidemien, Cholera, Typhus etc. Besonders für Kinder, die schon schutzlos den Malariamücken ausgesetzt
sind oder aus anderen Gründen schon an Blutarmut leiden, zum Beispiel durch eine Wurmerkrankung, ist
schmutziges Trinkwasser das Todesurteil. Auch die Malariamücke selber könnte durch ein verbessertes Wassermanagement reduziert werden. Wir haben es alle schon
gesehen. In fast jedem Dorf Afrikas stehen Wassergefäße
herum, oft tagelang. Diese sind eine ideale Brutstätte für
die Moskitomücke, den Überträger des Malariaparasiten.
All das kann mit relativ einfachen Mitteln ganz schnell
abgestellt werden: Dazu braucht es vor allem erst mal
eine Aufklärungskampagne. Überall müssen die Menschen diese Zusammenhänge lernen. Vielen ist gar nicht
bewusst, dass regelmäßiges Händewaschen oder auch
die sachgerechte Entsorgung des Abwassers schon ein
erster wichtiger Schritt zu Vermeidung von Krankheiten
sein kann. Dazu reichen am Anfang auch ganz einfache
Latrinen, die man sogar fliegensicher mit einfachen Mitteln anlegen kann.
Auch der Deutsche Bundestag hat sich mit einem interfraktionellen Antrag im September 2006 für „Das Jahr
2008 als internationales Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgesprochen. Ziel dieses UN-Jahres ist es zum
einen, das „Toiletten-Tabu“ zu durchbrechen. Zum anderen gilt es, sich für nachhaltige Sanitärlösungen stark zu
machen.
Immer noch haben rund 2,6 Milliarden Menschen
laut WHO keinen Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen. Das ist mehr als ein Drittel der
Weltbevölkerung! Die Folgen dieser Unter- bzw.
Nichtversorgung mit sauberem Trinkwasser bzw. mangelnder Abwasserentsorgung sind verheerend! Gesundheit: 1,8 Millionen Menschen sterben jährlich an den
Folgen von Durchfallerkrankungen, über 90 Prozent sind
Kinder unter 5 Jahren. Umwelt: Circa 90 Prozent der
Abwässer weltweit gelangen ungeklärt oder nicht ausreichend gereinigt in die Gewässer. Wirtschaft/Armutsbekämpfung: hoher zeitlicher Aufwand bei der Trinkwasserbeschaffung, hohe Kosten für die Behandlung von
Krankheiten.
Wie Sie sehen, die Auswirkungen sind enorm und betreffen alle Bereiche des Lebens. Insbesondere die gesundheitlichen Folgen sind gravierend. Ich habe es am
Beginn meiner Rede schon gesagt. Doch nicht nur aus humanitärer Motivation, sondern gerade auch zur Verhinderung von Konflikten um Wasservorräte müssen die Versorgung der Menschen mit sauberem Trinkwasser sowie
eine funktionierende Abwasserentsorgung weltweit sichergestellt werden. Einer sich immer weiter verschärfenden Wasserkrise auf dem afrikanischen Kontinent
kann nur durch eine Optimierung der Wassernutzung begegnet werden. Für eine nachhaltige Wasserwirtschaft ist
ein Wasserbedarfsmanagement erforderlich, um das zur
Verfügung stehende Wasser unter sozialen, ökologischen
und ökonomischen Aspekten - mithin unter dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit - optimal zu nutzen. Zu
berücksichtigen sind unter anderem die Aspekte Wasserverfügbarkeit, Wassernutzung, Wasserversorgung, Wasserqualität und Landnutzung. Hier sind alle Akteure gefragt:
Nicht nur die Geberländer müssen ihren Beitrag leisten,
sondern gerade Entwicklungsländer sollten ein vitales
Interesse daran haben, wie die wasserreichen und wirtschaftlich entwickelten Länder ihr Wasser schützen,
Trinkwasser aufbereiten und Abwasser behandeln. Leider ist dies noch nicht in allen Ländern angekommen.
Hier gibt es Nachholbedarf.
Wie Sie sehen, müssen wir mehr tun. Aus diesem
Grund stimmen wir auch dem Antrag der Grünen zu.
Im Dezember letzten Jahres haben wir hier im Plenum
in erster Lesung den Antrag der Grünen „Sanitäre
Grundversorgung international verbessern“ beraten. Ich
habe Ihren Reden aufmerksam zugehört. Heute sage ich
Ihnen, liebe Kollegen von SPD und CDU/CSU: Ich bin
- wieder einmal - verständnislos und wütend über die riesige Kluft zwischen Ihren schönen Worten und Ihren Taten!
Mit welcher Begründung haben Sie diesen Antrag abgelehnt? Mit gar keiner, denn es gibt keinen einzigen
Grund dafür! In Ihren eigenen Reden finde ich nicht ein
Zu Protokoll gegebene Reden
Wort der Ablehnung, nicht ein Wort der Kritik. Woher
kommt dieser Sinneswandel? Oder ist es gar kein Sinneswandel, sondern genau kalkulierte öffentliche Verschleierungstaktik?
Rekapitulieren wir noch einmal:Weltweit steht genügend Wasser zur Verfügung. Ob es jedoch sauber und
trinkbar ist und wie es verteilt wird, hat mit dem sozialen
Gefälle in der Gesellschaft zu tun. Weltweit leben
2,6 Milliarden Menschen ohne menschenwürdige Toiletten. Das ist mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Es
ist ein menschenunwürdiges Leben. Es braucht wenig, um
das Leben menschenwürdig zu machen: Zugang zu sauberem Wasser, zu sanitären Einrichtungen, elementarste
Hygiene. Aber das braucht es. Die meisten Menschen
ohne sanitäre Anlagen leben auf dem Land oder in armen
Stadtregionen. Über die Hälfte der Betroffenen leben in
Süd- und Ostasien. Die Weltbank hat in einer Studie die
Folgen dieser katastrophalen Zustände in einigen südostasiatischen Ländern analysiert, zum Beispiel in Kambodscha. Hier leben 84 Prozent der Menschen in ländlichen
Regionen, davon besitzen nur 15 Prozent eine sanitäre
Grundversorgung. Von den 16 Prozent der in den Städten
lebenden Menschen weisen 56 Prozent eine Grundversorgung auf. Dabei sind über 12 Prozent der Menschen
Kinder unter fünf Jahren. Der Anteil der Menschen, die
unterhalb der Armutsgrenze leben, liegt bei 35 Prozent.
Menschen ohne Zugang zu angemessenen Toiletten
sind einem Kreislauf aus Krankheit und Armut ausgesetzt. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet der Verlust an Einkommen und Ausgaben für die Gesundheit für die ohnehin schon benachteiligten Menschen in Kambodscha
7,2 Prozent des Bruttosozialproduktes. 7,2 Prozent! Die
Fortschritte in zahlreichen Ländern bleiben deutlich hinter den Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die
Anzahl der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen sogar gestiegen. Hier sind
es zwei von drei Menschen, die in solch menschenunwürdigen Situationen leben.
Das Recht auf Wasser ist unteilbar mit dem Recht auf
sanitäre Grundversorgung verbunden. Besonders sind
dabei Kinder und Frauen betroffen. Alle zwanzig Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfachen Erkrankungen wie Durchfall. Mangelnde Privatsphäre und
Scham führen zu Erkrankungen, da die Mädchen erst im
Schutz der Dunkelheit auf Toilette gehen. Leider schützt
sie das nicht vor sexuellen Übergriffen. Viele Mädchen
besuchen mangels eigener Toiletten spätestens ab der Pubertät keine Schulen mehr.
Das alles wissen wir schon länger. Wir brauchen dezentrale, technisch einfache Sanitärkonzepte, die zusammen mit Konzepten in der Landwirtschaft und im Energiebereich entwickelt werden. Einfache übergreifende
Konzepte bedeuten Würde für die Menschen. Der Antrag
der Grünen hat dieses Thema angesprochen und viele unterstützenswerte Forderungen aufgestellt. Wie, meine
Damen und Herren von SPD und CDU, wie können Sie
morgens beim Händewaschen noch in den Spiegel
schauen und sich nicht schämen dafür, dass Sie diesen
Antrag ablehnen? Frau Groneberg sagte in ihrer Rede
vom 5. Dezember 2008: „Insofern ist es schön, dass wir
darüber geredet haben, aber wir sollten nicht nur darüber reden, sondern auch eine Menge tun.“ Belangloser
geht es nicht. Frau Pfeiffer sagte in ihrer Rede: „Auch unsere Durchführungsorganisationen sehen in der sanitären Grundversorgung nicht die erste Priorität.“ Und sie
fragte: „Ich bin mir nicht sicher, wie wir mit dem vorliegenden Antrag weiter verfahren sollen.“ Ich habe Ihnen
damals schon die einzig mögliche Antwort gegeben: „Zustimmen, Frau Pfeiffer!“
Sie hätten etwas tun und diesem Antrag zustimmen
können. Die Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen ist absolut unverständlich. Ich hoffe, dass Sie für
Ihre falschen Reden im September von den Wählerinnen
und Wählern zur Verantwortung gezogen werden.
Das internationale Jahr für sanitäre Grundversorgung
ist vorbei, und es ist Zeit, ein Resümee zu ziehen. Das Jahr
war insofern ein Erfolg, als sich eine Menge bewegt hat.
Das Thema Toiletten und Abwasser wurde endlich enttabuisiert. Experten und Politiker wurden wachgerüttelt
und haben angefangen, zu erkennen, dass sie dieses
Thema nicht länger vernachlässigen dürfen, wenn sie die
Lebensbedingungen der ärmsten Teile der Weltbevölkerung verbessern wollen. Zu lange wurde die Tatsache vernachlässigt, dass wir dauerhaft nicht genügend Trinkwasser zur Verfügung haben werden, wenn wir uns nicht
um Abwasserentsorgungssysteme und Zugang zu anständigen Toiletten kümmern.
Besonders zwei Themen, die auch weiterhin unsere
Aufmerksamkeit benötigen, möchte ich heute hervorheben: die Bedeutung der sanitären Grundversorgung für
die Verbesserung der Situation der Frauen und die Entwicklung alternativer, nachhaltiger Abwasserkonzepte.
Beim diesjährigen Weltwasserforum in Istanbul wurde
endlich auch die Bedeutung von sanitärer Grundversorgung für die Gleichstellung der Frauen diskutiert; denn
es sind besonders die Frauen und Mädchen, die unter
dem Mangel an Toiletten und Hygiene leiden. Für sie
stellt mangelnder Zugang zu sauberem Trinkwasser und
sanitärer Grundversorgung einen Teufelskreis dar: Sie
verlassen vorzeitig schon während der Pubertät die
Schule, da ihnen dort keine abschließbaren und nach Geschlechtern getrennten Toiletten zur Verfügung stehen.
Sie sind ständig der Gefahr von sexuellen Überfällen ausgeliefert, wenn sie nachts buchstäblich in den Busch
gehen müssen, um sich zu erleichtern. Sie verbringen
täglich Stunden mit dem Schleppen von Trinkwasserkanistern von weit entlegenen Trinkwasserquellen. Sie sind
meistens verantwortlich dafür, die Kinder und Angehörigen zu pflegen, wenn diese wegen verunreinigtem Trinkwasser und unhygienischen Toiletten an Durchfall und
anderen Infektionen erkranken.
Die Chancen für Frauen, eine Schulausbildung abzuschließen, selbst erwerbstätig zu sein oder einflussreiche
Funktionen in der Gesellschaft einzunehmen, werden dadurch erheblich eingeschränkt. Ich fordere daher die
Bundesregierung nachdrücklich auf, sich im Rahmen der
Zu Protokoll gegebene Reden
G 8 für ein Programm zur Ausstattung von Schulen mit
abschließbaren und nach Geschlechtern getrennten Toiletten einzusetzen und damit einen Anstoß für die Verbesserung der Lebenssituation und Gleichstellung der
Frauen zu geben.
Im internationalen Jahr für sanitäre Grundversorgung
wurden auch andere als die herkömmlichen Abwasserentsorgungssysteme diskutiert. Dies war allerhöchste Zeit;
denn unsere auf großem Wasserverbrauch basierenden
Systeme zur Entsorgung des Urins und der Fäkalien sind
bei sinkenden Grundwasserspiegeln und abnehmenden
Regenfällen nicht nur in den trockenen Weltregionen,
sondern auch bei uns in Europa langfristig nicht haltbar.
Allein für die Toilettenspülung werden in Deutschland
täglich pro Person circa 45 Liter Trinkwasser verschwendet. Damit verschmutzen wir nicht nur unnötig viel Wasser, sondern vergeuden auch die darin enthaltenen wichtigen Nährstoffe, insbesondere Phosphate. Dadurch
gehen weltweit jährlich wiederverwertbare Stoffe im Wert
von 15 Milliarden Dollar verloren. Spätestens wenn die
weltweiten Phosphatvorkommen endgültig erschöpft
sind, werden wir diese Verschwendung sehr bedauern.
Wir müssen daher zukünftig auf eine Wiederverwendung
und Weiterverwertung der Abwässer setzen und der Entwicklung alternativer Methoden, wie sie unter dem Begriff Ecosan bekannt sind, mehr Aufmerksamkeit schenken. Mit Hilfe dieser Konzepte kann nicht nur immens viel
Wasser eingespart werden, sondern aus den menschlichen Fäkalien können auch circa 40 Kilogramm Dünger
pro Person gewonnen werden.
Um diese Methoden auch bei uns umsetzen zu können,
wäre es aber notwendig, unsere Gesetzesgrundlagen den
zukünftigen Anforderungen anzupassen und die legalen
Voraussetzungen für eine flächendeckende Modernisierung unserer Systeme zu schaffen. Welche Folgen die
Missachtung zukünftiger Bedarfe und Entwicklungen haben kann, sehen wir durch den Zusammenbruch der deutschen Autoindustrie derzeit nur allzu deutlich. Gleichzeitig zeigt sich der Nutzen von Investitionen in die Zukunft
für unsere Wirtschaft im Bereich erneuerbarer Energien.
Wir müssen daher dringend dafür sorgen, dass unsere
Gesetzeslage dem flächendeckenden Einsatz alternativer
und zukunftsfähiger Abwassersysteme nicht im Wege
steht, um unsere Wasser- und Nährstoffressourcen zu
schonen, Innovationen zu begünstigen und diesen Wirtschaftszweig - auch in Deutschland - zu fördern.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11812, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11204 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition
und Ablehnung durch die Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 20:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und
Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen
Verbraucherschutzes
- Drucksache 16/12232 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/12518 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Hans-Michael Goldmann
Nicole Maisch
Hier liegen uns die Reden der Kolleginnen und Kollegen Kurt Segner, Elvira Drobinski-Weiß, HansMichael Goldmann, Karin Binder und Nicole Maisch
vor.
Im Dezember 2006 ist das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz in Kraft getreten. Ziel dieses Gesetzes
ist es, den kollektiven Verbraucherschutz im europäischen
Binnenmarkt zu stärken. Das Gesetz dient der Umsetzung
der EG-Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz. Als deutsche Verbindungsstelle zu den Verbraucherschutzbehörden in den anderen EU-Mitgliedstaaten
wird das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, bestimmt.
Die gesetzlichen Grundlagen, auf denen das BVL international tätig ist und mit seinen Partnerbehörden in
den anderen EU-Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, sind
ergänzungsbedürftig. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung den heute zur Beratung anstehenden Entwurf
eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und
Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes vorgelegt. Mit diesem Gesetzentwurf sollen sowohl
Änderungen am EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz als auch am BVL-Gesetz vorgenommen werden.
Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz soll
dahingehend verändert werden, dass das BVL bestimmte
Auskünfte von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten verlangen darf. Um fragwürdigen Angeboten für Verbraucher besser auf den Grund gehen zu
können, soll das BVL das Recht erhalten, bei diesen
Diensten Name und Anschrift von Personen zu erfragen.
Wie wichtig das ist, wird am Beispiel verbraucherrechtswidriger Angebote im Internet deutlich: Durch die Gesetzesänderung wird das BVL in die Lage versetzt, von dem
Internetprovider Namen und Anschrift des Anbieters zu
verlangen. Dem BVL wird durch die Gesetzesänderung
ermöglicht, entsprechende Anfragen ausländischer Verbraucherschutzbehörden zu beantworten. Bislang konnten
bei derartigen Informationsersuchen ausländischer
Verbraucherschutzbehörden die gewünschten Daten
nicht festgestellt und übermittelt werden.
Die vorgeschlagene Neuregelung ist sinnvoll, weil sie
den Informationsaustausch zwischen den ausländischen
Verbraucherschutzbehörden und dem BVL verbessert.
Für Post-, Telekommunikations- oder Telemediendienste ist
die entstehende Belastung vertretbar: Das BVL erhält vergleichbare Auskunftsansprüche, wie sie den Verbraucherzentralen bereits jetzt nach dem Unterlassungsklagengesetz
zustehen. Wenn ein Post-, Telekommunikations- oder Telemediendienst eine Auskunft erteilen muss, erfolgt eine
Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz. Zudem ist nur mit wenigen Anfragen
im Jahr zu rechnen. Die Unternehmen werden nicht verpflichtet, neue Daten zu erheben; sie müssen nur Daten
zur Verfügung stellen, über die sie ohnehin verfügen. Der
Auskunftsanspruch des BVL bezieht sich also nur auf die
Bestandsdaten. Die sogenannten Verkehrsdaten, die zum
Beispiel Auskunft über einzelne Telefonverbindungen geben, dürfen vom BVL nicht abgefragt werden.
Des Weiteren möchte die Bundesregierung das BVLGesetz geändert sehen. Der Gesetzentwurf schlägt zwei
wichtige Ergänzungen vor: Erstens soll das BVL an der
Erstellung eines Informationsportals mitwirken, das zur
Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland erforderlich ist. Über dieses Portal sollen Informationen über den Verbraucherschutz in anderen Mitgliedstaaten bereitgestellt werden. Aufgrund der Vernetzung
des BVL mit den anderen Verbraucherschutzbehörden in
der EU ist es wichtig, das BVL in die Erstellung des
Informationsportals mit einzubeziehen und dafür die
gesetzliche Grundlage zu schaffen.
Zweitens soll im BVL-Gesetz festgelegt werden, dass
diese Behörde in internationalen Verbraucherschutzorganisationen mitarbeitet. Dabei ist insbesondere an die
Mitarbeit im International Consumer Protection and
Enforcement Network ({0}) zu denken. Das ICPEN ist
ein internationales Netzwerk von Behörden, die mit Verbraucherschutz befasst sind. Durch das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz nimmt das BVL bereits jetzt
wichtige Aufgaben im grenzüberschreitenden Verbraucherschutz wahr und ist zudem Verbindungsstelle zu
anderen Verbraucherschutzbehörden in der EU. Deshalb
ist es zweckmäßig, beim BVL die Zuständigkeit für die
internationale Zusammenarbeit im Verbraucherschutz zu
konzentrieren. Dies wird die Handlungsfähigkeit des BVL
auf internationaler Ebene stärken.
Aus meiner Sicht ist der Gesetzentwurf insgesamt
positiv zu bewerten: Er enthält kleine, aber dennoch
notwendige Schritte, um die Mitwirkung Deutschlands an
der europäischen und internationalen Zusammenarbeit
beim Verbraucherschutz auszubauen. Auch für den
Verbraucherschutz gilt: In dem Maße, wie Grenzen ihre
Bedeutung verlieren, muss die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit der staatlichen Behörden zunehmen. Dem
trägt der Gesetzentwurf Rechnung und setzt damit den Weg
fort, der vor über zwei Jahren mit der Verabschiedung des
EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes begonnen
wurde. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Um den Aufgabenbereich und die Kompetenzen des
Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({0}) zu verändern, stehen heute sowohl Änderungen im BVL-Gesetz als auch im EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz zur Abstimmung.
Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz, in
Deutschland am 21. Dezember 2006 in Kraft getreten, regelt die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden. Grundlage ist die Verordnung ({1})
Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004, deren Ziel es ist, die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden zu verbessern.
Im Falle eines Verdachtes eines innergemeinschaftlichen Verstoßes gegen die Umsetzung oder Durchführung
von Vorschriften ist - je nach Themenbereich - eine zuständige nationale Behörde als Ansprechpartner festgelegt worden. Zusätzlich sind die Aufgaben und Befugnisse
der Behörde sowie die Duldungs- und Mitwirkungspflichten im Gesetz definiert. Irreführende Werbung, Verdachtsmomente im Bereich Lebensmittelsicherheit, bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, bei
Verbraucherkrediten oder bei Vertragsabschlüssen im
Fernabsatz fallen beispielsweise in den Tätigkeitsbereich
des BVL.
In der Praxis offenbarten sich jedoch in den letzten
Jahren Vollzugsprobleme. Den zuständigen Behörden
fehlte bisher die ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage, Informationen über Bestandsdaten von Anbietern
von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten zu erhalten. Mit der heute zur Abstimmung stehenden
Änderung soll eine ausdrückliche Befugnisnorm für die
zuständigen Behörden zur Erlangung von Bestandsdaten
geschaffen werden.
Ich verweise hier ausdrücklich darauf, vom Auskunftsanspruch nicht erfasst sind nach Art. 10 des Grundgesetzes geschützte Verkehrsdaten wie zum Beispiel die Auskunft über einzelne telefonische Verbindungen. Und es
geht um Daten, die beim Auskunftspflichtigen bereits vorhanden sind. Eine Pflicht zur Beschaffung oder Speicherung von Daten ergibt sich aus der Vorschrift nicht.
Neben den Kompetenzen des BVL soll auch dessen
Aufgabenbereich vergrößert werden. Zukünftig wird das
BVL auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes stärker in die Aufgaben des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
eingebunden. Als zusätzlich mögliche Tätigkeitsbereiche
werden zum Beispiel die Erfüllung des Informationsbedarfs der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
Art. 21 der EG-Dienstleistungsrichtlinie oder die Mitarbeit an internationalen Netzwerken und Organisationen
aufgezählt, ohne jedoch eine abschließende Regelung zu
treffen.
Ich unterstütze sowohl die Änderungen im BVL-Gesetz
als auch die im EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz. Die vielfältigen Skandale im Lebensmittelbereich,
Klagen im Bereich Verbraucherschutz und Finanzdienstleistungen haben gezeigt, wie wichtig schlagkräftige Verwaltungen sind, um einerseits schnell über bestehende
Mängel europaweit zu informieren und andererseits die
Verantwortlichen zu ermitteln bzw. haftbar zu machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu einem Europa der Verbraucher gehört auch eine
ständig enger werdende Kooperation derjenigen Behörden, die in Europa für Verbraucherschutz zuständig sind.
Deutschland kann zu Recht stolz darauf sein, dass Verbraucherrechte nicht durch eine bürokratische Behördenstruktur verwaltet werden, sondern dass wir bei der
Durchsetzung der Verbraucherrechte auf eine effiziente
Struktur von Verbraucherorganisationen und privaten
Vereinen für Wettbewerbsschutz zurückgreifen können.
Innerhalb Europas allerdings ist das deutsche Modell
in der Minderheit. Der Verbraucherschutz ist dabei, immer stärker von Europa aus entwickelt zu werden. Ich
weise hier nur auf die geplante Richtlinie zu den Verbraucherrechten hin. Hier strebt die Europäische Kommission
einheitliche europäische Regeln für Verbraucherverträge
an, insbesondere für solche, die im Wege des Fernabsatzes abgeschlossen werden. Damit wird in diesem Bereich
eine Abkehr von dem bisher geltenden Grundsatz der
Mindestharmonisierung eingeleitet, die in der Praxis zu
27 verschiedenen Verbraucherschutzregimen in der EU
führt. Die FDP-Fraktion trägt diesen Fortschritt in Richtung einheitliche europäische Verbraucherrechte dort
mit, wo es um Kernbereiche der Verbraucherrechte in
Verträgen geht, insbesondere bei Widerrufsrechten und
Belehrungspflichten.
Es ist daher nur folgerichtig, die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit in der EU stärker zu institutionalisieren. Nur so können letztlich in einem Binnenmarkt betrügerische Aktivitäten, die nicht an der Landesgrenze
haltmachen, wirksam verfolgt werden. Bereits bei der
Aufsicht der Länder über die Produktsicherheit hat sich
die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden gegenseitigen Information über gefährliche Produkte erwiesen,
die dann in die Schaffung des Warn- und Informationsdienstes RAPEX mündete. Deswegen ist es folgerichtig,
dass wir das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit noch stärker in die Erfüllung europäischer Anforderungen im Zusammenhang mit dem
wirtschaftlichen Verbraucherschutz einbinden.
Den anderen Teil des Gesetzes, in dem es um stärkere
Eingriffsrechte der Behörden geht, bewerte ich erheblich
kritischer, da sich hier der Trend zur Schaffung spezieller
Auskunftsansprüche fortsetzt. Immer mehr Unternehmen
werden verpflichtet, eigentlich vertrauliche Daten zu ihren Kunden an Behörden herauszugeben. Ohne zureichende Entschädigung ist eine solche Regelung zudem
mit unverhältnismäßigen Belastungen für die Unternehmen verbunden. Die FDP-Fraktion stimmt daher mit Enthaltung.
Der vorliegenden Gesetzentwurf, das sogenannte EGVerbraucherschutzdurchsetzungsgesetz ({0}), soll
den Verkehr zwischen Behörden und Einrichtungen anderer Staaten und dem Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit ({1}) erleichtern. Dieser Behördenverkehr müsste sonst wie bisher über das zuständige Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz ({2}) laufen. Nun erhalten
die zuständigen Behörden das Recht, direkte Auskünfte
einzufordern, Bestandsdaten von Anbietern wie der Post,
Telekommunikations- oder Telemediendiensten einzuholen. Das erspart Zeit und mindert den bürokratischen
Aufwand. Auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden
wirtschaftlichen Verbraucherschutzes soll das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
({3}) darüber hinaus auch stärker in die Aufgaben im
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eingebunden werden. Hier ist das BVL im europäischen Handelsverkehr verantwortlich für die Bereiche irreführende und
vergleichende Werbung, Haustürgeschäfte, Verbraucherkreditgeschäfte, Pauschalreisen, missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Teilzeitnutzungsrechte an
Immobilien, Fernabsatzgeschäfte, Verbrauchsgüterkauf,
elektronischer Geschäftsverkehr und unlautere Geschäftspraktiken.
Die Entbürokratisierung und die Aufgabenerweiterung sollen den Verbrauchern und Verbraucherinnen mit
rascheren und aussagefähigen Auskünften zugutekommen. Die Fraktion Die Linke begrüßt grundsätzlich den
Willen der Regierung, Verbraucherrechten zu mehr
Durchsetzungskraft zu verhelfen. Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist dies jedoch nur bedingt der Fall. Die
Durchsetzung des innerstaatlichen Verbraucherschutzes
obliegt weiterhin den finanziell und personell schlecht
ausgestatteten Verbraucherverbänden. Für eine effektive
Durchsetzung von EG-Verbraucherrechten ist nicht nur
eine Kompetenzverlagerung von einer Behörde auf eine
andere notwendig. Wichtig sind auch effektive Mittel zur
Rechtsdurchsetzung. Hier besteht Handlungsbedarf, wie
schon der Europäische Gerichtshof anmerkte; denn
durch rechtliche Lücken und Schlupflöcher im Verbraucherrecht lässt sich auch weiterhin leicht Geld verdienen.
Wichtig wäre daher die Weiterentwicklung von Musterund Gruppenklagen und eine echte Gewinnabschöpfung
von unlauter erlangten Gewinnen, die den Verbraucherverbänden zufließen müsste. Dazu kommt, dass die hier
vorgeschlagene Regelung den Griff nach Daten von Kundinnen und Kunden von Post-, Telekommunikations- oder
Telemediendiensten erlaubt.
Hier sieht Die Linke ein generelles Problem. Die
Rechte von Bürgerinnen und Bürgern in Fragen des Datenschutzes wurden in den letzten Jahren auf europäischer und deutscher Ebene massiv beschnitten und die
Eingriffsrechte der Behörden dagegen ungehindert erweitert.
Dies ist auch im vorliegenden Gesetzentwurf der Fall.
Es wird eine neue Befugnisnorm für eine Behörde geschaffen. Zwar beruft sich die Bundesregierung auf die
bereits vorhandenen Herausgaberechte für Verbraucherund Wirtschaftsverbände nach § 13 des Gesetzes über
Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen ({4}). Diese Rechte
sind jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden,
nämlich daran, dass die Verbände schriftlich zusichern,
dass die Daten erstens zur Durchsetzung eines Anspruchs
benötigt werden und zweitens anderweitig nicht zu beschaffen sind. Diese Konkretisierung bzw. Einschränkung
soll im vorgeschlagenen EG-VerbraucherschutzdurchsetZu Protokoll gegebene Reden
zungsgesetz jedoch nicht vorgenommen werden. Hier
kann die Behörde pauschal die Daten ohne Anknüpfung
an Voraussetzungen verlangen.
In der Begründung zum Gesetzentwurf beruft sich die
Bundesregierung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine gesetzliche Klarstellung, die mit den Regelungen im Unterlassungsklagengesetz vergleichbar ist,
bietet der Gesetzentwurf nicht.
Die Linke kann deshalb dem Gesetz nicht zustimmen
und wird sich aufgrund der unklaren Situation zum Datenschutz enthalten.
Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur Ergänzung
behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des
wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, einen Entwurf,
den uns die Bundesregierung offensichtlich als einen
„großen Wurf“ verkaufen möchte. Wir sind gespannt, ob
die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland
auch etwas davon haben werden.
„Mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz“ hieß die Pressemitteilung der Ministerin vom
21. Januar 2009 anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes im Kabinett. Das hört sich zunächst einmal gut an.
Und wir Grünen begrüßen selbstverständlich jede Verbesserung des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, sofern sie in der Praxis auch ihre Wirkung entfaltet.
Durch das Gesetz wird eine neue Informationspflicht
für die Wirtschaft eingeführt. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat in Zukunft das Recht, bestimmte Auskünfte von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten zu verlangen. So
kann das Bundesamt beispielsweise von unseriösen Internetprovidern Informationen über die Firmen und die Personen anfordern. Durch die Kompetenzerweiterungen
sollen in Zukunft Verbraucherrechtsverstöße besser geahndet werden können.
So weit, so gut. Allerdings hat das Gesetz in seiner bisherigen Form nur mäßige praktische Relevanz gezeigt.
Das zeigt die Antwort auf unsere schriftliche Anfrage vom
26. März 2009. Seit Dezember 2006 hat das Bundesamt
für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit insgesamt nur 71 sogenannte Amtshilfeersuchen erhalten. In
15 Fällen wurden abschließend auch Abmahnungen gegen die Unternehmen ausgesprochen. Das ist vergleichsweise gering, wenn man sich überlegt, wie viele unzählige
Anfragen und Streitfälle die Verbraucherzentralen in
Deutschland jeden Tag bearbeiten müssen.
Inwieweit die jetzigen Ergänzungen im Gesetz tatsächlich zu mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz und einer besseren Durchsetzung der
Verbraucherrechte führen, wird sich in der Praxis zeigen
müssen. Sogar das Ministerium rechnet nur mit wenigen
Anwendungsfällen.
Wir hätten uns von der Bundesregierung gewünscht,
dass sie in Sachen wirtschaftlicher Verbraucherschutz
nicht nur an den kleinen Stellschrauben dreht, sondern
die wirklich brisanten Probleme angeht. Dazu zählt für
uns unter anderem auch, dass die Verbrauchervertretungen mehr Mittel erhalten, dass das Verbraucherinformationsgesetz endlich so reformiert wird, dass es seinen Namen auch verdient, und dass der Verbraucherschutz auf
den Finanzmärkten gestärkt wird, damit sich die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder sicher fühlen können.
Eine richtige Prioritätensetzung beim wirtschaftlichen
Verbraucherschutz würden ihnen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher danken, die durch die derzeitige
Finanz- und Wirtschaftkrise erheblich verunsichert sind.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12518, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12232 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen,
ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, der möge bitte aufstehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Anreizregulierung im Strom- und Gassektor
nachbessern - Benachteiligung von städtischen Versorgern verhindern
- Drucksachen 16/11878, 16/12167 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Joachim
Pfeiffer, Rolf Hempelmann, Gudrun Kopp, Hans-Kurt
Hill und Thea Dückert ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Die Linken spielen mit ihrem Antrag die alte Leier.
Entweder sie fordern direkt Verstaatlichung oder sie fordern, wie mit diesem Antrag, einen Zwischenschritt, der
im Weiteren zur Verstaatlichung führt. Dabei stürzen sie
sich mit Vorliebe auf Bereiche, in denen der Wettbewerb
noch nicht so funktioniert, wie es für den Verbraucher
wünschenswert wäre. Das ist der einfachste Weg. Sie reißen das zarte Bäumchen, welches erste Knospen trägt,
aus der Erde, statt es zu gießen.
Dabei hat die Bundesregierung schon für viel Wettbewerb im Energiemarkt gesorgt. Ich möchte nur daran erinnern, wo wir eigentlich herkommen. Seit 1998 wächst
der EU-Energiemarkt sukzessive zu einem Binnenmarkt
zusammen. Die Vorteile, die den Verbrauchern durch den
EU-weiten Wettbewerb bei anderen Produkten und
Dienstleistungen schon lange zugutekamen, sollten auch
für den Strom- und Gasbereich Nutzen bringen.
Leider ist insbesondere Deutschland unter der damaligen rot-grünen Regierung mit angezogener Handbremse gestartet. Zwar sind bis 2001/2002 die
Strompreise gesunken, aber das war eher ein Marktbereinigungseffekt der großen vier Erzeuger als wirklicher
Wettbewerb. Der verhandelte Netzzugang hemmte jede
Entwicklung, vom Gassektor will ich gar nicht erst reden.
Mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im
Jahr 2005 haben wir einen Paradigmenwechsel im Energiemarkt eingeläutet. Der Union ist es im Vermittlungsverfahren gelungen, durch Regulierung der Netze und ein
vereinfachtes Marktmodell im Gasbereich dem Wettbewerb mit dem Gesetz wichtige Impulse zu geben.
Seit November 2005 ist die Bundesnetzagentur für
Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, kurz Bundesnetzagentur, BNetzA, per Gesetz der
neutrale Schiedsrichter, der die Netzentgelte vorab anhand eines präzisen Kostenkatalogs genehmigt und für
einen fairen Zugang zu den Netzen sorgt.
Das heißt, staatliche Regulierung wurde auf den Bereich eingeschränkt, wo die Mechanismen des Marktes
versagt haben. Dazu gehört der natürliche Monopolbereich der Netze, nicht aber die Erzeugung oder der Vertrieb. Und das Netz bleibt ein Monopol, egal ob in staatlicher oder privater Hand. Dem Wettbewerb und den
Verbrauchern ist durch eine staatliche Übernahme der
Netze nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Nennen Sie mir
doch einen Bereich, in dem es ein Staat geschafft hat,
effizienter zu wirtschaften als private Unternehmen.
Wir brauchen eine Regulierung, die diesem natürlichen Monopol entsprechende Rahmenbedingungen setzt
und einen Als-ob-Wettbewerb darstellt. Hier haben wir
gehandelt und sind den Weg des regulierten Netzzuganges gegangen. Die Ex-ante- und die Anreizregulierung
sind Markenzeichen des Paradigmenwechsels. Damit
wurde klar der Pfad zu mehr Wettbewerb betreten. Das ist
zukunftsweisend und trägt bereits erste Früchte:
Ohne die Absenkung der Netzentgelte in den letzten
zwei Jahren wäre der Strompreis heute deutlich höher.
Für Haushaltskunden wäre er um insgesamt 21,7 Prozent, für die stromintensive Industrie um 15 Prozent gestiegen. Dies entspricht einer Entlastung für Haushaltskunden von über 1,6 Milliarden Euro.
Das Pflänzchen Anreizregulierung haben wir erst dieses Jahr angepflanzt. Natürlich ist es zu früh, die Früchte
zu ernten. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war und ist es,
dass zukünftig Anreize für einen effizienteren Betrieb der
Strom- und Gasversorgungsnetze gesetzt werden. Die
Verordnung zur Anreizregulierung wird aus Sicht der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion über anspruchsvolle Effizienzziele nicht nur den Interessen der Verbraucher gerecht, sondern berücksichtigt auch die berechtigten Anliegen der kleineren und mittleren Stadtwerke.
Entgegen der ursprünglichen Planungen haben wir
zahlreiche Anpassungen zugunsten der Netzbetreiber
vorgenommen. Statt acht Jahren haben die Unternehmen
nun zehn Jahre Zeit, um die Effizienzvorgaben zu erfüllen.
Die Deckelung des Effizienzwertes wurde auf 60 Prozent
erhöht und der allgemeine Produktivitätsfaktor für die
gesamte Branche wurde für die erste Regulierungsperiode auf 1,25 Prozent gesenkt. Zusätzlich enthält die Verordnung eine ganze Reihe von Sicherheitselementen zugunsten der Netzbetreiber, die die Erreichbarkeit und
Übertreffbarkeit der Effizienzvorgaben sicherstellen.
Dazu gehören mehrere Härtefallklauseln und die Berücksichtigung struktureller Besonderheiten der Unternehmen.
In der Diskussion um die Anreizregulierung haben wir
im Bundestag ausgiebig über die Frage diskutiert, wie
kleinere Netzbetreiber vom übermäßigen Bürokratieaufwand und ungerechten Härten entlastet werden können.
Dazu sieht die Verordnung nun ein stark vereinfachtes
Verfahren vor, durch welches sie von zahlreichen Berichts- und Informationspflichten befreit sind. Zusätzlich
wird ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich vor Beginn der
Anreizregulierung keiner erneuten aufwendigen Kostenprüfung zu unterziehen, soweit sie keine Erhöhung ihrer
bisherigen Entgelte beantragen. Die Effizienzvorgabe für
die erste Regulierungsperiode beträgt für die Unternehmen nur die allgemeine Vorgabe von 1,25 Prozent. Erst
ab der zweiten Regulierungsphase müssen sie sich einem
Vergleich stellen, doch auch nur für einen gemittelten
Effizienzwert der übrigen Unternehmen. Gleichzeitig
können die Netzbetreiber jetzt vor jeder Regulierungsperiode wählen, ob sie am vereinfachten Verfahren teilnehmen oder nicht.
Die Grenze für die Teilnahme am vereinfachten Verfahren wurde vom Bundeswirtschaftsministerium auf
30 000 angeschlossene Strom- und 15 000 angeschlossene Gaskunden festgelegt. Damit können praktisch drei
Viertel der Unternehmen am vereinfachten Verfahren teilnehmen.
Eine besondere Bedeutung misst die Verordnung der
Sicherstellung von Investitionen bei. Sie enthält eine
Reihe von Elementen zur Gewährleistung des notwendigen Erhalts und Ausbaus der Netze, wie zum Beispiel
pauschale Investitionszuschläge, Investitionsbudgets
oder die Einführung eines Erweiterungsfaktors zur Anpassung der Erlösobergrenzen bei Netzausbaumaßnahmen. Das Zusammenspiel mit den anderen Maßnahmen
der Bundesregierung zur Intensivierung des Wettbewerbs
zeigt sich insbesondere bei der Kraftwerk-NetzanschlussVerordnung. Diese dient der Verbesserung der kurz- und
mittelfristigen Angebotsstrukturen der Stromversorgung
in Deutschland. Hiervon können gerade Stadtwerke profitieren, sei es als Stromabnehmer oder als Stromerzeuger. Die Anreizregulierungsverordnung sichert in diesen
Fällen die notwendigen Netzausbaumaßnahmen. Gleiches gilt beim Anschluss von Anlagen zur Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung und aus erneuerbaren
Energien. Zur Qualitätssicherung sieht der VerordnungsZu Protokoll gegebene Reden
entwurf ergänzend die zeitnahe Einführung eines Qualitätselements vor, das Zu- oder Abschläge auf die
Erlösobergrenzen bei guter oder minderwertiger Versorgungsqualität ermöglicht.
Damit hat die Bundesregierung viele Bedenken der
Branche aufgenommen und berücksichtigt. Die Effizienzvorgaben sind ohne Zweifel anspruchsvoll. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich die Orientierung an den effizientesten Unternehmen. Die Anreizregulierung simuliert den Wettbewerb in einem natürlichen Monopol. Auch im echten Wettbewerb anderer
Branchen orientieren sich die Unternehmen nicht am
Durchschnitt.
Ohne Zweifel betritt Deutschland mit der Anreizregulierung energiepolitisches Neuland. Die Auswirkungen
des neuen Regulierungssystems können trotz aller Modellrechnungen nicht sicher vorausgesagt werden. Umso
wichtiger ist es deshalb, dass das System frühzeitig und
regelmäßig überprüft wird, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen und bei Bedarf gegensteuern zu können. Deshalb hat die Bundesnetzagentur nach § 112 a
Abs. 3 des Energiewirtschaftsgesetzes zwei Jahre nach
Einführung der Anreizregulierung eine Evaluierung
durchzuführen und einen entsprechenden Erfahrungsbericht der Bundesregierung vorzulegen. Weitere Evaluierungspflichten setzen unmittelbar in der ersten Regulierungsperiode ein.
Insgesamt trägt die Verordnung den Interessen aller
Beteiligten in ausgewogener Weise Rechnung und stellt
gleichzeitig die Weichen für mehr Wettbewerb auf den
Strom- und Gasmärkten. Gerade für kleinere Netzbetreiber haben wir in die Verordnung viele Elemente aufgenommen, um vorhandene Befürchtungen auszuräumen.
Hinzu kommen die neuen Chancen auf einem noch stärker vom Wettbewerb geprägten Markt. Hier eröffnen sich
neue Möglichkeiten, etwa aus Kooperationen zusätzliche
Synergien zu schöpfen oder verstärkt in die Eigenerzeugung einzusteigen.
Entgegen den Befürchtungen der Linken haben Stadtwerke im Wettbewerb gute Chancen. Die liegen unter anderem in Erzeugung und Vertrieb. Investitionen in erneuerbare Energien, Kraft-Wärme-Kopplung und vor allem
innovative, horizontale Kooperationen können die eigene
Marktposition festigen. Keiner kann die Möglichkeiten
von erneuerbaren Energien vor Ort so gut beurteilen wie
Stadtwerke. Durch Kooperationen können Kostenstrukturen optimiert und andere Synergieeffekte genutzt werden.
Eine weitere Chance bietet der Energieservice. Dazu haben wir die Voraussetzungen geschaffen, wie beispielsweise die Einführung von intelligenten Stromzählern. Das
eröffnet einen riesigen Markt an Serviceleistungen. Hier
können Stadtwerke ihren größten Vorteil nutzen: die Nähe
zum Kunden.
Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode
bereits viele Maßnahmen getroffen, um den Wettbewerb
auf dem Energiemarkt zu fördern. Wir haben unter anderem eine neue Gasnetzzugangsverordnung verabschiedet,
das Wettbewerbsrecht novelliert, die Gasmarktgebiete reduziert und das besagte Mess- und Zählerwesen liberalisiert. In den nächsten Wochen werden wir das Energieleitungsausbaugesetz verabschieden, das zur besseren
Integration erneuerbarer Energien in das Stromnetz beitragen wird.
Auch die Anreizregulierung kommt langsam zur Entfaltung. Sie und die anderen Maßnahmen müssen wir
durch richtige Rahmenbedingungen weiter fördern und
dürfen sie nicht zerstören. Das ist der einzig richtige Weg
zu mehr Wettbewerb und Effizienz auf dem Energiemarkt.
Die Stadtwerke haben in diesem Wettbewerb große Chancen.
Der Antrag der Linken ist völlig kontraproduktiv und
überflüssig. Daher lehnt die Union ihn ab.
Es ist zweifelsohne richtig, dass die zum Jahresbeginn
2009 eingeführte Anreizregulierung der Strom- und Gasnetze eine Herausforderung insbesondere für kleine und
mittlere Netzbetreiber darstellt. Die Koalition hat daher
kleinen Netzbetreibern mit weniger als 30 000 angeschlossenen Kunden - davon weniger als 15 000 im Gasbereich - die Möglichkeit eröffnet, bei der Bestimmung
der Erlösobergrenzen ein vereinfachtes Verfahren zu
wählen und so das aufwändige Antrags- und Festlegungsverfahren zu vermeiden.
Bis Mitte März hatten im Strombereich von 243 Verteilnetzbetreibern 136 - und damit deutlich mehr als die
Hälfte - das vereinfachte Verfahren gewählt und so für
die erste Periode der Anreizregulierung einen Effizienzwert von 87,5 Prozent akzeptiert. Im Gasbereich waren es
mit 140 Verteilnetzbetreibern von insgesamt 214 Verfahren sogar fast zwei Drittel, die sich für das vereinfachte
Verfahren entschieden haben. Dies zeigt, dass die Koalition schon bei der Erarbeitung der Anreizregulierungsverordnung ein besonderes Augenmerk auf die kleinen
Netzbetreiber gelegt hat.
Die im Antrag aufgestellten Behauptungen, Lohnkosten und Betriebsrenten würden von der Bundesnetzagentur als Teil der beeinflussbaren Kosten angesehen,
wodurch es im Rahmen der Anreizregulierung zu einer
Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialleistungen kommen
könne, wurde zwischenzeitlich von der Bundesnetzagentur widerlegt. Zusammen mit den ersten Bescheiden zur
Anreizregulierung hat die Bundesnetzagentur Ende März
öffentlich erklärt, dass sie im Rahmen der Anreizregulierung Kosten wie Pensionsansprüche, Berufsausbildung,
Abgaben, Steuern und sogar Ausgaben für den Betriebskindergarten als nicht beeinflussbar anerkennt und
damit dem Auftrag des Gesetz- und Verordnungsgebers
nachkommt.
Die Regulierung unterliegt gelegentlich allerdings
durchaus der Gefahr, den Rahmen des Gesetzes zu verlassen und Vorgaben, die beispielsweise im Rahmen des
dritten EU-Energie-Binnenmarktpakets für Übertragungsnetzbetreiber gefordert werden, bereits heute auf
Verteilnetzbetreiber zu übertragen. Hier ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, die Regulierungsbehörden auf
die geltende Gesetzeslage zu verweisen. Dazu bedarf es
allerdings keiner Änderung der Verordnung. Entsprechende - möglichst gemeinsame - Aktivitäten der MitZu Protokoll gegebene Reden
glieder im Beirat der Bundesnetzagentur sind da
zunächst der sinnvollere Weg und haben in der Vergangenheit auch schon zum Erfolg geführt.
Die von der Bundesnetzagentur vor Einführung der
Anreizregulierung durchgeführten zwei Entgeltgenehmigungsrunden haben im Übrigen gezeigt, dass es sehr
wohl kleine und mittlere Netzbetreiber gibt, die genauso
gut oder sogar besser abschneiden als die großen Netzbetreiber. Vorgabe der Anreizregulierungsverordnung ist,
dass die Effizienzvorgaben erreichbar und übertreffbar
sein müssen - dies gilt auch für kleine und mittlere Netzbetreiber. Im Zusammenhang mit der Anreizregulierung
von „marktbeherrschenden Energiekonzernen“ zu reden,
grenzt an Irreführung. Der Netzbetrieb ist ein natürliches
Monopol - und das ganz unabhängig davon, ob sich das
Netz in der Hand eines kleinen Stadtwerks oder eines großen Energiekonzerns befindet. Das Diskriminierungspotenzial im Netzbereich ist daher grundsätzlich ganz unabhängig von der Größe eines Netzes vorhanden. Genau
aus diesem Grund sind sowohl Übertragungs- als auch
Verteilnetzbetreiber in die Netzentgeltregulierung einbezogen worden.
Vollkommen unverständlich bleibt die Aussage des Antrags, die Anreizregulierung sei für die Regulierung der
Übertragungsnetze ungeeignet und man müsse daher zur
bisherigen Entgeltgenehmigung zurückkehren. Die Bundesnetzagentur hat die Effizienzvorgaben für die vier
deutschen Übertragungsnetzbetreiber anhand eines internationalen Effizienzvergleichs unter Einbeziehung von
Übertragungsnetzbetreibern aus anderen EU-Mitgliedstaaten ermittelt. Dies halte ich für ein faires und aussagekräftiges Vergleichskriterium.
Ebenso unverständlich ist die in diesem Zusammenhang erhobene Forderung, die Strom-Übertragungsnetze
sollten wegen ihres preislichen Missbrauchspotenzials in
die öffentliche Hand überführt werden. Die Fraktion Die
Linke irrt, wenn sie meint, staatliche Netzbetreiber könnten sich einer wirksamen Regulierung entziehen, weil so
kein Missbrauchspotenzial mehr bestünde. Die Netze unterliegen - ganz unabhängig davon, ob sie sich in privatem, staatlichem oder gemischtem Eigentum befinden der Aufsicht durch die Regulierungsbehörden. Den Regulierungsbehörden kommt dabei allerdings eine doppelte
Aufgabe zu. Sie haben einerseits den Auftrag, die Netzentgelte über die Regulierung auf ein angemessenes Niveau
zu bringen, das sich im Wettbewerb ergeben hätte. Dabei
ist selbstverständlich darauf zu achten, dass die Vorgaben
des Gesetzgebers aus dem Energiewirtschaftsgesetz und
der Anreizregulierungsverordnung so exakt wie möglich
umgesetzt werden.
Darüber hinaus ist es allerdings auch die Aufgabe der
Regulierungsbehörden, angemessene Rahmenbedingungen für Investitionen in die notwendige Erneuerung sowie
den Aus- und Umbau der Netze zu schaffen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise, in
der der Staat Milliardensummen zur Stützung von Banken
und Konjunktur in die Hand nimmt, gilt heute stärker
denn je, dass die Regulierungsbehörden dem Komplex Investitionen im Rahmen der Anreizregulierung ein besonderes Gewicht einräumen müssen. Kurz-, mittel- und
langfristig haben wir erheblichen Erneuerungs- und Ausbaubedarf in unseren Strom- und Gasnetzen. Ein entscheidendes Kriterium ist eine angemessene Verzinsung
der Investitionen, die dem Risiko angemessen und international vergleichbar sein muss. Eine der wichtigsten
Aufgaben der Bundesnetzagentur der kommenden Monate sehe ich außerdem darin, im Rahmen der Anreizregulierung eine Qualitätsregulierung einzuführen, die einen Anreiz für Investitionen in den Erhalt und Ausbau der
Netze schafft.
Erst seit Januar 2009 gelten für Netzbetreiber neue Effizienzanforderungen an den Betrieb von Strom- und Gasnetzen. Dazu gehört die Orientierung an den Branchenbesten und die Setzung von Anreizen bei der Vornahme
von Effizienzverbesserungen. Der Antrag der Fraktion
Die Linke fordert nun, die angebliche strukturelle Benachteiligung von Stadtwerken im Rahmen des neuartigen Systems der Anreizregulierung zu beseitigen. Durch
die im Antrag geforderten Eingriffe in wesentliche Stellschrauben der Anreizregulierung würde das System praktisch unterlaufen.
Die Grundlage der Anreizregulierung ist ein Vergleich
der ({0})Effizienz der Netzbetreiber auf dem Wege
des Benchmarkings. Würden sämtliche Lohnkosten und
dazu noch die Kapitalkosten für den Betreiber bzw. Käufer eines Netzes dem Effizienzvergleich entzogen, würden
zentrale Kostenfaktoren bei der Festlegung der Effizienzanforderungen fehlen. Darüber hinaus erstaunt es mich,
dass die Linke mit diesem Antrag die Übertragungsnetzbetreiber vor staatlicher Regulierung beschützen - und
gleichzeitig enteignen will.
Statt in übereilten Aktionismus zu verfallen, sollte jetzt
genau beobachtet werden, welche Wirkung die Anreizregulierung in der Praxis entfaltet. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, dessen Wirkung - insbesondere
auf die Investitionstätigkeit - von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Regulierung insgesamt ist. Das
vorhandene Instrumentarium erlaubt bereits eine mögliche Anpassung bei unvorhergesehenen Änderungen, um
unzumutbare Härten zu vermeiden. Außerdem ist die
Bundesnetzagentur bei der Verzinsung des Eigenkapitals
und in anderen Punkten den Forderungen der Netzbetreiber erheblich entgegengekommen. Die Bonner Behörde
hat mit Beginn der sogenannten Anreizregulierung Anfang 2009 erstmals Erlösobergrenzen für die Netzbetreiber festgelegt. Dabei wurden den meisten Netzbetreibern
höhere Erlöse zugestanden als in der vergangenen Genehmigungsrunde.
Die Bundesnetzagentur hat in den vergangenen Jahren
bei der Regulierung des natürlichen Monopols „Energienetze“ ihre Arbeit sehr gut gemacht. Insbesondere vor
dem Hintergrund gewaltiger Erwartungen und großer Informationsasymmetrien zwischen Regulierer und Netzbetreiber ist das keine leichte Aufgabe, die noch dazu in einem dynamisch sich entwickelnden rechtlichen Umfeld
geleistet werden muss. Das Thema Anreizregulierung ist
ein Jahr lang von der Bundesregierung verschleppt worden, sodass die notwendige Verordnung erst Anfang 2009
Zu Protokoll gegebene Reden
umgesetzt wurde. Obwohl die entsprechenden Vorschläge
der Bundesnetzagentur durch die Bundesregierung dann
auch noch in wesentlichen Punkten abgeschwächt wurden, was wir in diesem Hause bereits ausdrücklich kritisiert haben, muss die Anreizregulierung nun in der Praxis
genau beobachtet werden. Voreilige Versuche, nun die gesamten Regulierungsinstrumente auszuhebeln, so wie es
in dem Antrag der Linken vorgeschlagen wird, lehnen wir
Liberalen strikt ab.
Ein künstlich veranstalteter Wettbewerb zwischen den
Strom- und Gasnetzbetreibern geht zulasten der Stadtwerke. Es zeigt sich auch, dass diese „Anreizregulierung“
ein bürokratisches Monster ist. Dennoch kann die Bundesnetzagentur keinen echten und fairen Wettbewerb erzeugen.
Das Problem: Die Anreizregulierung beschränkt sich auf
betriebswirtschaftliche Effizienz. Und das bedeutet: Investitionen, die über das Notwendige hinausgehen, werden
zusammengestrichen, Löhne werden gedrückt, Kundenservice und Klimaschutz kommen zu kurz.
Das Dilemma für kleine Stadtwerke ist immer das gleiche: Die Kleinen kommen gegen die großen Konzerne
nicht an. Das ist wie auf dem Wochenmarkt. Der Bauer
aus der Region bietet frische, schmackhafte Tomaten aus
der Region. Aber bei den Dumpingpreisen der Discounter
kann er nicht mithalten. Wenn aber der Preis der einzige
Maßstab ist, können die Kleinen einpacken.
Hinzu kommt: Das Verfahren zur Bewertung der einzelnen Netzbetreiber ist überaus komplex und intransparent.
Kleine Stadtwerke haben deshalb oft nicht das Wissen und
das Personal, die Entscheidungen der Bundesnetzagentur nachzuvollziehen. Wenn dann die Behörden massive
Ertragsminderungen vorschreiben, kann so mancher
kommunale Versorger einpacken.
Die Anreizregulierung stellt die kleinen Netzbetreiber
vor kaum lösbare Herausforderungen: Der Handlungsspielraum wird massiv eingegrenzt, Investitionen können
nicht getätigt werden. Löhne und Betriebsrenten müssen
gekürzt werden. Letzteres ist faktisch ein unzulässiger
Eingriff in die Tarifautonomie. Man muss sich schon fragen,
welche Aufgaben die Bundesnetzagentur eigentlich hat!
Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass der Monopolbildung im Strom- und Gassektor weiter Vorschub geleistet
wird.
Die Linke fordert deshalb zumindest eine faire Ausrichtung der Anreizregulierung: Erstens. Das Verfahren
zur Durchführung der Anreizregulierung muss gegenüber
allen Teilnehmern einschließlich der Offenlegung aller
Basisdaten und der Methodik transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Zweitens. Vor allem Lohnkosten,
Betriebsrenten, bisher getätigte Netzkaufkosten sowie Investitionen, die zur Servicequalität und zum Klimaschutz beitragen, dürfen von der Anreizregulierung nicht negativ
beeinflusst werden. Drittens. Die Übertragungsnetze
müssen als ungeeignet aus der Anreizregulierung herausgenommen und bis zu einer Überführung in die öffentliche
Hand wie bisher über eine wirksame Netzentgeltgenehmigung reguliert werden.
Ich will das noch einmal erläutern: Die Bundesnetzagentur simuliert zwar eine genaue Wettbewerbssituation
für jeden einzelnen Netzbetreiber, stellt diesen aber nicht
alle Informationen und Daten uneingeschränkt und in
nachvollziehbarer Form zur Verfügung. Wie sollen die
kleineren Stadtwerke auf dieser Basis die Richtigkeit der
Behördenentscheidung überprüfen?
Die jetzigen Regeln in der Anreizregulierungsverordnung führen zu einer Schlechterstellung der mittleren und
kleinen städtischen Netzbetreiber gegenüber den großen
Unternehmen. Das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung
und befördert die Kartellbildung.
Besonders bei den Übertragungsnetzbetreibern, die ein
marktfernes Oligopol darstellen, ist die Anwendbarkeit der
Anreizregulierung völlig sinnlos. Sie sind mit anderen
europäischen Netzbetreibern nicht vergleichbar, da die
Unterschiede zu groß sind.
Darüber hinaus wird mittlerweile eine bundesweit einheitliche Regelzone für die Übertragungsnetze vorgeschlagen. Eine Anreizregulierung mit nur einem Teilnehmer im
Bereich der Übertragungsnetze wäre dann gänzlich
unwirksam. Die Übertragungsnetzbetreiber sind deshalb
aus der Anreizregulierung herauszunehmen. Das Ziel
muss letztendlich die Überführung der Höchstspannungstrassen in die öffentliche Hand sein.
Die Linke hat einen Showantrag vorgelegt. Die Verordnung zur Anreizregulierung wurde im Juni 2007 vom
Bundeskabinett beschlossen und ist seit Januar 2009 in
Kraft. Sie war im Bundesrat zustimmungspflichtig, aber
nicht im Bundestag. Insofern kann der Antrag der Linken
allenfalls appellativen Charakter haben.
An dem im April 2007 veröffentlichten Entwurf hatte
es tatsächlich starke Kritik aus den Stadtwerken gegeben.
Sie befürchteten, die Anforderungen, die sich aus der Anreizregulierung ergeben, nicht erfüllen zu können. Die
Kommunen hatten Sorge, dass sie Stadtwerke verkaufen
müssten und forderten, die Effizienzanforderungen abzuschwächen.
Bündnis 90/Die Grünen haben diese Sorgen ernst genommen und sich dafür eingesetzt, dass den Bedenken
Rechnung getragen wird, ohne die Effizienzziele aufzugeben. Uns war wichtig, sowohl die Wünsche der Verbraucher nach günstigeren Tarifen und umweltfreundlichem
Strom als auch die Interessen der Kommunen und ihrer
Stadtwerke zu berücksichtigen.
Gegenüber dem Entwurf vom April 2007 ist das Wirtschaftsministerium in der im Juni verabschiedeten Fassung den Kritikern weit entgegengekommen. Es können
jetzt mehr Unternehmen am vereinfachten Verfahren teilnehmen, nach dem dauerhaft nicht beeinflussbare Kostenanteile wie Konzessionsabgaben, Betriebssteuern, genehmigte Investitionsbudgets, Kosten für Betriebs- und
Personalräte etc. nicht einzeln nachgewiesen werden
müssen, sondern pauschal mit 45 Prozent der Gesamtkosten angesetzt werden. Auch die Fristen für die Antragstellung für das vereinfachte Verfahren wurden gelockert.
Alle kleineren Netzbetreiber - das sind besonders die
Zu Protokoll gegebene Reden
Stadtwerke - können an diesem vereinfachten Verfahren
mit weniger Bürokratie teilnehmen. Zudem wurde inzwischen von der Bundesnetzagentur die Verzinsungsobergrenze der Netze auf 9,25 Prozent angehoben. Das führt
zu mehr Einnahmen, auch bei kommunalen Energieunternehmen. Allerdings sollten die Erlöse nicht vorwiegend
aus der Ausnutzung des Netzmonopols kommen. Wenn die
Einnahmen nicht ausreichen, dann weist das darauf hin,
dass beim Verkauf von Energie und Energiedienstleistungen etwas schiefläuft.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich massiv dafür eingesetzt, dass die Bedeutung regenerativer Energien bei
den Effizienzkritierien besonders berücksichtigt wird.
Auch das wurde in die Verordnung aufgenommen und ist
ein Feld, auf dem sich die Stadtwerke besonders profilieren können. Zudem gibt es für kleine Unternehmen die
Möglichkeit, dem Kostendruck wirksam zu begegnen, indem sie sich zum Beispiel regional zusammenschließen,
um die Betriebskosten zu optimieren.
Die Anreizregulierung ist ein wichtiges Instrument für
mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt und wird dazu beitragen, die Kosten zu senken. Sie kann aber zum Beispiel
nicht gewährleisten, dass die Unternehmen schnell dort
investieren, wo Engpässe im Netz herrschen. Darum müssen wir weitergehen auf dem Weg zu mehr Wettbewerb im
Energiemarkt. Wir wollen, dass die Übertragungsnetze
eigentumsrechtlich von der Versorgung bzw. der Erzeugung von Strom und Gas getrennt werden. Dazu wollen
wir die Netze in eine einheitliche Netzgesellschaft überführen, die sich aber nicht, wie von der Linken gewollt,
vollständig in öffentlicher Hand befinden muss. Zusätzlich wollen wir, dass Energieunternehmen mit einer
marktbeherrschenden Stellung bei der Erzeugung von
Strom entflochten werden.
Es ist überfällig, dass die Bundesregierung endlich im
Sinne der Verbraucher aktiv für Wettbewerb auf den
Strom- und Gasmärkten eintritt.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12167, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11878
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben alle Fraktionen des Hauses bis auf die Fraktion Die
Linke, die dagegengestimmt hat.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates 2008/615/JI
vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und
der grenzüberschreitenden Kriminalität
- Drucksache 16/12585 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Wir haben zu Protokoll bekommen die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger,
Wolfgang Gunkel, Max Stadler, Ulla Jelpke und
Wolfgang Wieland.
Sicherheit ist mehr als je zuvor eine Angelegenheit internationaler und europäischer Zusammenarbeit. Die
Terroranschläge und Anschlagsvorbereitungen der letzten Jahre, die OK-Prozesse in Deutschland, Schleuserei
und Menschenhandel, aber auch Großereignisse wie
Fußballwelt- und -europameisterschaften oder jüngst der
NATO-Gipfel zeigen, warum die grenzüberschreitende
Kooperation von Polizei- und Sicherheitsbehörden elementar ist. Kriminalität und Terrorismus sind in einer
globalisierten Welt zunehmend international und machen
keinen Halt an Landesgrenzen und vor nationalen Zuständigkeiten. Binnen Sekunden können Bauanleitungen
für Bomben via E-Mail verschickt oder Geldtransaktionen über das Internet getätigt werden. Wegfallende
Grenzkontrollen führen zu größerer Bewegungsfreiheit
terroristischer und krimineller Gruppierungen.
Wenn die Vernetzung immer mehr zunimmt, wird das
nationalstaatliche Regelungsmonopol ein Stück weit obsolet, dafür aber enge Abstimmung und Zusammenarbeit
auf europäischer Ebene unverzichtbar. Das stellt uns vor
neue Herausforderungen. Ein einzelner Staat kann hier
nicht viel ausrichten. Vielmehr müssen wir gemeinsam
mit unseren europäischen Nachbarn wirksame Lösungen
finden. Hierzu existiert bereits heute eine ganze Reihe von
gemeinsamen Projekten - sei es im Rahmen von Europol,
der Schengen-Informationssysteme oder der gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex. In diese Reihe gehört
auch der 2005 geschlossene und mittlerweile erweiterte
Vertrag von Prüm und der sogenannte Prüm-Beschluss
der EU aus dem Jahr 2008, der neue Standards in der
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden setzt. Kernstück des Informationsverbundes,
der mit dem Ratsbeschluss zu Prüm 2008 für alle EUStaaten verbindlich ist und mit dem vorliegenden Gesetz
in nationales Recht umgesetzt werden soll, ist der gegenseitige Austausch von Informationen zwischen den EUMitgliedstaaten.
Erlauben Sie mir einen Blick in die Vergangenheit: Bereits im Jahr 2003 regten mehrere EU-Staaten - darunter
Deutschland - eine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere beim Informationsaustausch an. Hintergrund waren
die guten Erfahrungen, die man mit bilateralen Polizeiund Justizverträgen in diesem Bereich gemacht hatte. Im
Mai 2005 wurde schließlich in Prüm in der Eifel zwischen
Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg,
den Niederlanden und Österreich ein Vertrag zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterzeichnet. Mit dem Abgleich von DNA-Datenbanken, dem
Austausch von Fingerabdruckdaten und dem grenzüberschreitenden Zugriff auf Kraftfahrzeugregister stehen
den Vertragspartnern wichtige Instrumente der KriminaClemens Binninger
litätsbekämpfung zur Verfügung. Auch die Übermittlung
von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten
und auch im Fall der terroristischen Ausbildung eröffnet
neue Handlungsräume für Polizeibehörden. Nicht zuletzt
ermöglicht der Vertrag auch die operative polizeiliche
Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.
Die Kooperation der Vertragspartner hat sich als effektiv und erfolgreich erwiesen. Beim DNA-Datenaustausch zwischen Deutschland, Österreich, Spanien und
Luxemburg zum Beispiel sind allein auf deutscher Seite
bereits weit über 3 000 Treffer erzielt worden, davon etliche Treffer im Bereich Tötungsdelikte. Mehrere Sexualund Tötungsdelikte konnten bei den Prüm-Partnern in
den letzten Jahren so aufgeklärt werden. Und es sind Erfolge wie die angesprochenen, die zu einer dynamischen
Entwicklung des Prüm-Vertrages geführt haben. Trotz
Skepsis und Kritik von verschiedenen Seiten traten dem
Prüm-Vertrag weitere Staaten bei. Dass wir heute über
diesen Prüm-Beschluss beraten können, geht zurück auf
die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und die Initiative
des Bundesinnenministers. Deutschland hat sich im Jahr
2007 entschieden, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen,
um mit den Vertrags- und Beitrittsstaaten des Prümer
Vertrages, den „Prüm-Partnern“, einen entsprechenden
Beschluss des Rates mit besonderem Nachdruck voranzutreiben. Mit einem beeindruckenden Ergebnis: Innerhalb
weniger Monate kam eine Einigung aller 27 Mitgliedstaaten zustande, und fast alle Inhalte des Prümer Vertrages wurden in das Gemeinschaftsrecht übernommen. Der
Beschluss sieht vor, dass im Sommer 2009 alle EU-Staaten den Prüm-Beschluss in nationales Recht umzusetzen
haben. Bis Ende 2011 soll ein automatisierter Datenaustausch auf der Grundlage des Prüm-Beschlusses realisiert werden. Natürlich sind im Prüm-Beschluss wie auch
schon im Prüm-Vertrag umfangreiche Datenschutzbestimmungen enthalten, die insbesondere für den automatisierten Datenaustausch maßgeschneidert wurden.
Mit dem heute von der Bundesregierung vorgelegten
Gesetzentwurf schaffen wir die Grundlagen für die Umsetzung des Prüm-Beschlusses. Im Wesentlichen geht es
dabei um den Umbau von Organisationsstrukturen, detaillierte Bestimmungen zum Datenaustausch, die Schaffung neuer Stellen für Kooperation und Informationsaustausch sowie technische Voraussetzungen. Der PrümBeschluss bietet ein funktionierendes Gesamtpaket für die
polizeiliche Zusammenarbeit, eine erhebliche Beschleunigung beim grenzüberschreitenden Datenaustausch und
ein Datenschutzsystem für ein ausgewogenes Verhältnis
zwischen Sicherheitsinteressen und Grundrechtsschutz.
Mit seinen rechtlichen und technischen Standards leistet
das Prüm-System einen entscheidenden Beitrag zu einem
modernen und praxistauglichen Informationsverbund in
einem Europa der 27. Deshalb unterstützt die CDU/CSUFraktion den vorliegenden Gesetzentwurf.
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur europaweiten Zusammenarbeit im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität. Der Entwurf formuliert die Umsetzung des Ratsbeschlusses Prüm vom Juni
vergangenen Jahres in nationales Recht. Bei diesem Ratsbeschluss wiederum handelte es sich um die Überführung
des 2005 geschlossenen Prümer Vertrages in EU-Recht.
Insofern ist die politische Auseinandersetzung um den
Inhalt des Abkommens bereits weitgehend erfolgt. Die
Umsetzung in nationales Recht stellt in erster Linie eine
Formsache dar. Überwiegend enthält er redaktionelle
Anpassungen, die sich aus der Überführung des Prümer
Vertrages in einen europäischen Rechtsakt ergeben.
Lassen Sie mich also die Möglichkeit zu einer kritischen Würdigung der Erfolge des Prümer Vertrages beziehungsweise des Ratsbeschluss von Prüm nutzen: Am
27. Mai 2005 schlossen Belgien, Deutschland, Spanien,
Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Österreich
den Prümer Vertrag. Das Abkommen hat die amtliche Bezeichnung „Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden
Kriminalität und der illegalen Migration“.
Das Vertragswerk sollte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit vereinfachen und damit effektiver machen.
Es steht außer Zweifel, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden mit einer engeren Koordination und einem intensiveren Informationsaustausch auf die Bedrohung durch global agierende terroristische Netzwerke
und weltweit organisierte Kriminalität reagieren müssen.
Der Vertrag ermöglichte einen einfacheren Datenaustausch der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden untereinander. So kann auf Datenbanken mit DNA-Daten und
Fingerabdrücken oder elektronische Register mit KfzDaten der Behörden anderer Staaten zugegriffen werden.
Darüber hinaus wurden unterschiedliche andere Formen
der Zusammenarbeit geregelt, unter anderem bei Großereignissen, Katastrophen, zur Verhinderung terroristischer Straftaten oder zur Bekämpfung der illegalen Migration.
Im Februar 2007 beschlossen die Justiz- und Innenminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die
Regelungen des Prümer Vertrags in das EU-Recht zu
überführen. Auf der Tagung des Rates am 12./13. Juni
2007 einigten sie sich auf einen Beschluss zur Überführung der wesentlichen Vertragsregeln des Prümer Vertrags in den Rechtsrahmen der EU. Vor allem die für die
polizeiliche Zusammenarbeit bedeutsamen Inhalte wurden so in den Rechtsrahmen der EU überführt und müssen nun in nationales Recht übersetzt werden.
Das Abkommen hat die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden maßgeblich effektiviert und
schon zahlreiche Erfolge gezeitigt: Nach Angaben des
Bundesinnenministeriums wurden bis Ende September
2008 bereits rund 4 170 Treffer in DNA-Datenbanken anderer Vertragsstaaten erzielt. Noch größer ist der Vorteil
für kleinere Mitgliedstaaten, die nun auf die Datensätze
ihrer „großen Nachbarn“ zugreifen können.
Diese Vernetzung von Daten birgt natürlich Risiken für
den Datenschutz: Hier muss in Zukunft genau hingesehen
und gegebenenfalls nachgebessert werden! 14 Jahre,
nachdem in Großbritannien die erste nationale DNA-Datenbank eingerichtet wurde, sind mittlerweile die genetischen Fingerabdrücke von mehr als 5,5 Millionen Menschen in der EU erfasst. Diese Zahl ist ein großes
Zu Protokoll gegebene Reden
Potenzial in der effektiven Verbrechensbekämpfung, birgt
aber gleichzeitig ein hohes Missbrauchsrisiko! So erfolgt
der Datenabgleich beispielsweise der DNA-Datenbanken
nach dem sogenannten Hit/No Hit-Verfahren: Die abfragende Polizeidienststelle erhält nur die Mitteilung, ob zu
dem gesuchten Profil ein Eintrag in einem anderen Vertragsstaat vorliegt oder nicht. In einem zweiten Schritt
müssen die Dienststellen in Kontakt treten bzw. ein
Rechtshilfegesuch einleiten, um Informationen zur Identität der gesuchten Person zu erhalten. Dabei ist allerdings nicht festgelegt, wie viele Übereinstimmungen es
zwischen zwei DNA-Sätzen geben muss, bevor das System
einen Treffer meldet, was schon der europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx kritisierte. Er forderte
mehrfach klarere Datenschutzauflagen beim Prümer Abkommen, so etwa Auflagen darüber, wie in die Datenbank
aufgenommene irrelevante Datensätze behandelt werden.
Auch das EU-Parlament fordert in seiner Stellungnahme, „ein angemessenes Datenschutzniveau“ zu
gewährleisten und dieses Niveau zwischen den Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Daten, die sensible Persönlichkeitsbereiche wie etwa die sexuelle Ausrichtung,
die Gesundheit oder die politische Einstellung betreffen,
dürften nur dann verarbeitet werden, „wenn dies absolut
notwendig“ sei.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bescheinigte dem Abkommen einen hohen datenschutzrechtlichen Standard. Allerdings muss darauf geachtet
werden, dass dies auch so bleibt und die Datenschutzgrundsätze der Mitgliedsländer endlich harmonisiert
werden.
Mit der Überführung des Prümer Vertrages in den
Rechtsrahmen der Europäischen Union wird eine erhebliche Beschleunigung und Effektivitätssteigerung beim
europaweiten Datenaustausch einhergehen. Von daher ist
es wünschenswert, dass der Gesetzentwurf noch diese
Legislatur umgesetzt wird, wenn das notwendige Augenmerk auf die angesprochenen datenschutzrechtlichen Bedenken gelegt wird.
Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Rates vom
23. Juni 2008 geht auf den sogenannten Prümer Vertrag
zurück. Dieser Vertrag ist durch ein entsprechendes Vertragsgesetz in das deutsche Recht transformiert worden.
Damals hat sich die FDP der Stimme enthalten. Die
Gründe, die seinerzeit dafür maßgeblich gewesen sind,
gelten weiter fort. Deshalb ist die Haltung der FDP zur
heute vorliegenden Änderung des Ausführungsgesetzes
zum Prümer Vertrag und zu weiteren Folgeänderungen
unverändert. Der Ratsbeschluss vom 23. Juni 2008, der
mit dem heutigen Gesetz umgesetzt werden soll, entspricht nämlich im Wesentlichen dem Inhalt des Vertrages
selbst.
Den Vertrag hat die FDP im Grundsatz begrüßt, weil
damit eine verbesserte internationale Zusammenarbeit
im Bereich der polizeilichen Arbeit in der Europäischen
Union zum Zwecke der Gefahrenabwehr, insbesondere
zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität beabsichtigt war.
Allerdings haben mehrere Einzelpunkte nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Wir haben kritisiert, dass
die Anforderungen für die Übermittlung von DNA-Daten
nicht ausreichend definiert worden sind. Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit ist dabei nicht vollständig beachtet worden. Die Rechtsschutzmöglichkeiten der EUBürgerinnen und EU-Bürger sind nicht ausreichend ausgestaltet worden. Nach wie vor gibt es übrigens auch
keine zufriedenstellenden Kontrollrechte des EU-Parlaments bezüglich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit. Ferner hat die FDP damals kritisiert, dass
dem Vertrag von Prüm auch andere, sogar außereuropäische Staaten beitreten können, deren Datenschutzniveau
nicht hinreichend ist.
Es ist klar, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf
im Wesentlichen Rechtstechnik betrifft, gleichwohl kann
man nicht darüber hinweggehen, dass Ausgangspunkt
hierfür eben der Vertrag von Prüm ist, der in seiner konkreten Ausgestaltung trotz grundsätzlich richtiger Zielsetzung von der FDP nicht mitgetragen werden konnte.
Deshalb ist es folgerichtig, dass sich unsere Fraktion
auch bei dem jetzt zur Debatte stehenden Gesetzentwurf
der Stimme enthält.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein Ratsbeschluss der EU in deutsches Recht umgesetzt werden, der
die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Europa
ausdehnen soll. Ursprünglich hatten sieben EU-Staaten
diese Ausdehnung im Alleingang beschlossen, 2006 im
Vertrag von Prüm. Dieser Vertrag wurde durch den Ratsbeschluss 2008 für alle EU-Staaten verbindlich.
Es ist wohl wenig überraschend, dass die Fraktion Die
Linke diesen Gesetzentwurf ablehnt. Im Ratsbeschluss
finden sich sämtliche negativen Entwicklungen der europäischen Innenpolitik wieder. Es wurde die Chance verpasst, dringend notwendige Korrekturen am Prümer Vertragswerk vorzunehmen. Nach dem Motto „erst schießen,
dann fragen“ werden den Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse erteilt. Grundrechtsschutz und Datenschutz spielen höchstens die zweite Geige.
Eine der zentralen Fehlentwicklungen der europäischen Innenpolitik sehen wir im automatisierten Datenaustausch nach dem „Grundsatz der Verfügbarkeit“.
Schickt ein EU-Staat ein DNA-Identifizierungsmuster an
einen anderen, bekommt er automatisch die dazu gespeicherten Daten. Von der Stelle, die die Daten ursprünglich
erhoben hat, wird nicht geprüft, was mit diesen Daten anschließend passiert. Erst recht sind die Betroffenen des
Datenaustauschs von jeder wirksamen Kontrolle ausgeschlossen. Letztlich ist nicht mehr zu überblicken, wo welche Daten innerhalb der EU eigentlich landen. Angesichts moderner technologischer Möglichkeiten ist der
Datenaustausch so einfach wie nie zuvor. Dem entspricht
das derzeitige Datenschutzrecht der EU bei weitem nicht,
und auch in Deutschland diskutieren wir immer noch
recht ergebnislos über die Stärkung des informationellen
Selbstbestimmungsrechts der Bürgerinnen und Bürger.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Datenaustausch bleibt aber nicht bei den DNAIdentifizierungsmustern stehen. Auch auf die Fingerabdruckdateien der verschiedenen Behörden sollen statt
bisher sieben nun alle EU-Staaten untereinander zugreifen können. Das Gleiche gilt für Fahrzeugregisterdaten.
In Deutschland sind das immerhin fast 50 Millionen Datensätze. Zum automatisierten Abgleich kommt noch die
Möglichkeit der spontanen Datenübermittlung hinzu. Bei
den sogenannten Großereignissen von grenzüberschreitender Bedeutung kann das Bundeskriminalamt von sich
aus Daten übermitteln. Es wird also beispielsweise den
französischen Behörden mitgeteilt, welche potenziellen
Störer sich von deutscher Seite aus zu Protesten gegen einen internationalen Gipfel im Nachbarland aufmachen.
Denen wird dann vielleicht die Einreise verweigert, ohne
dass sie so recht wissen, warum. Durch das fehlende Datenschutzregime gibt es keinerlei Möglichkeit für die Betroffenen, die Löschung ihrer Daten in Frankreich durchzusetzen. Das war bereits der Webfehler des Vertrages
von Prüm. Und wie bei allen EU-Entscheidungen im Bereich der „Inneren Sicherheit“ setzt sich dieser Webfehler
nun auch in dem Ratsbeschluss fort.
Ein anderer Aspekt des Vertrages ist nicht minder
bedrohlich: Beamte des einen Staates sollen mit Einwilligung eines anderen Staates Exekutivbefugnisse auf
fremdem Territorium erhalten. Schon bei gemeinsamen
Einsätzen zur Strafverfolgung bringt dies zahlreiche
Schwierigkeiten durch das unterschiedliche Polizeirecht
mit sich. Aber wie wird das erst bei Großereignissen? Von
Beamten selbst begangene Straftaten werden in dem Land
verfolgt, das Einsatzort war - faktisch wird dadurch der
Rechtsschutz ausgehöhlt.
Neuestes Beispiel für die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit war die Repression gegen den
Protest zum NATO-Gipfel in Kehl und Straßbourg. Aus
zahlreichen Berichten und eigener Anschauung wissen
wir, dass dort auch mal Daten auf dem „kleinen Dienstweg“ übermittelt wurden. Wir wissen vom Einsatz deutscher Wasserwerfer auf französischem Boden. Durch den
grenzüberschreitenden Charakter dieser Einsätze wird
aber letztlich vernebelt, wer dafür die politische Verantwortung zu tragen hat. Auch hier gilt wieder: Was schon
im Vertrag von Prüm falsch war, wird durch einen EURatsbeschluss nicht richtiger.
Für uns bleibt es dabei: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entpuppt sich mit diesem EURatsbeschluss ein weiteres Mal als Raum ohne Grundrechte, ohne Datenschutz und ohne demokratische Kontrolle. Gegen diese Politik werden wir auch weiterhin unsere Stimme erheben!
Was fast ewig lange währte, wird nun am Ende doch
nicht besonders gut. Schon bald nachdem im Mai 2005
der Prümer Vertrag unterzeichnet wurde, wollte insbesondere die deutsche Bundesregierung ihn zum Teil des
EU-Rechtsrahmens machen. Das hat nun aber wesentlich
länger gedauert: langes Hin und Her, abwägen, neu ansetzen - fast so, wie man es von der Großen Koalition
hierzulande kennt.
Das Umsetzungsgesetz, das wir heute diskutieren, ist
als solches nicht der großen Debatte wert: Es verändert
die schon bestehenden Regelungen in der Bundesrepublik vor allem redaktionell. Überall, wo „Vertrag von
Prüm“ stand, soll dann auch noch „Ratsbeschluss
Prüm“ stehen. Insofern ändert sich an der deutschen
Rechtslage nichts Bedeutendes.
Aber dennoch sollte man an dieser Stelle noch einmal
über die im Prümer Vertrag und nun auch im Ratsbeschluss Prüm enthaltenen Schwierigkeiten sprechen.
Denn die darin liegenden Defizite und Probleme wirken
sich durch dieses Umsetzungsgesetz ja nun direkt in
Deutschland aus.
Herzstück des Prümer Vertrages und des Ratsbeschlusses ist das Prinzip der Verfügbarkeit. Man könnte
es kurz beschreiben als: alle Daten immer und überall. Im
Ratsbeschluss geht es konkret um DNA-Profile, Fingerabdrücke und Kfz-Halterdaten.
Das Verfügbarkeitsprinzip bedeutet, dass bei der Arbeit mit diesen Daten und der Weitergabe an Behörden
anderer Länder ein Grundprinzip des Datenschutzes auf
den Kopf gestellt wird. Bisher wurde davon ausgegangen,
dass Daten nicht weitergegeben werden dürfen, und dann
wurden begründete Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Verbot ausgehandelt und die Bedingungen dafür definiert. Nun heißt die Regel: Es wird ausgetauscht, und
die Nichtweitergabe ist zu begründen.
Ein besonderes Problem bei der Anwendung des Verfügbarkeitsprinzips sind die unterschiedlichen Standards
der Datenführung. Warum DNA oder ein Fingerabdruck
in einer Datei gespeichert sind, ist in den Mitgliedstaaten
unterschiedlich geregelt. Auch die Qualität der Daten ist
unterschiedlich. Das kann durchaus zu fehlerhaften Treffern im sogenannten Hit-/No-hit-Verfahren führen - mit
den entsprechenden Folgeproblemen.
Auch nicht unbedenklich ist die vorgesehene Weitergabe von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten. Diese kann der datenführende Staat nach eigenem
Ermessen vornehmen. Er kann - und das ist auch richtig
so - Nutzungsbegrenzungen mit übermitteln; das ist wichtig, weil sonst wegen der unterschiedlichen Sicherheitsarchitekturen in den Mitgliedstaaten die Grenzen zwischen Geheimdiensten und Polizei, wie wir sie kennen
und wollen, nicht zu garantieren sind. Aber solche Beschränkungen müssen dann auch durchgängig gemacht
werden, und sie müssen eingehalten werden. Das wird
sehr schwer zu kontrollieren sein.
Das alles wirft dringende Fragen nach dem Datenschutz auf. Denn wenn so weitgehend der gegenseitige
Zugriff gestattet wird, wenn Daten in andere EU-Mitgliedstaaten weitergegeben werden, dann ist der Datenschutz nur schwer zu kontrollieren. Deshalb muss hier
wirklich alles wasserdicht geregelt sein. Die entsprechenden Artikel des Ratsbeschlusses enthalten jeweils datenschutzrechtliche Regelungen. Aber es fehlt nach wie vor
eine wirklich bindende und starke europäische Datenschutzregelung im Bereich der inneren Sicherheit. Es gibt
den Rahmenbeschluss vom November 2008, aber der
lässt auch erhebliche Lücken. Der Ratsbeschluss Prüm
Zu Protokoll gegebene Reden
sieht leider auch keine ausreichende Kontrolle des Austausches und Evaluierung des gesamten Systems durch
unabhängige Beauftragte vor.
Wegen dieser immer noch nicht bereinigten Defizite
werden wir dem Umsetzungsgesetz nicht zustimmen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12585 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da es
keine anderweitigen Vorschläge zu geben scheint, ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Humanitäre Entschädigungslösung für mit
HCV infizierte Hämophilieerkrankte schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth,
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entschädigungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen
- Drucksachen 16/10879, 16/11685, 16/12515 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Kleiminger
Zu Protokoll gegangen sind die Reden von Jens
Spahn, Christian Kleiminger, Konrad Schily, Frank
Spieth und Harald Terpe.
In der heutigen Debatte geht es um die abschließende
Beratung der beiden Anträge zu einer Entschädigungsregelung für die durch Blutprodukte mit HCV infizierten
Bluter. Es ist unbestritten, dass diese Infektionen ein
schweres Schicksal für die Betroffenen darstellen. Sie und
ihre Angehörigen hatten und haben eine große gesundheitliche und psychische Belastung zu tragen. Deshalb
gilt ihnen unser Mitgefühl. Die vorliegenden Anträge enthalten aber keine neuen Ansätze. Mit der Wiederholung
der seit langem bekannten Positionen ist niemandem geholfen.
Die Hämophilen, die aufgrund ihrer Erkrankung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten angewiesen sind, gehören zu der Gruppe, die am stärksten von
den Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus in den 1980erJahren, die durch die Anwendung von Blutprodukten ausgelöst wurden, betroffen ist. Aber auch andere Patienten
sind durch Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden.
Es bleibt festzuhalten, dass es weiterhin keinen Grund
für eine staatliche Entschädigungsregelung gibt, wie sie
nun in den vorliegenden Anträgen gefordert wird. Die
dazu erforderliche Verletzung staatlicher Rechts- oder
Prüfungsaufsichten liegt nicht vor. Eine staatliche Verantwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrechtlich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Entschädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik
Deutschland nicht. Auch die Rechtsprechung kommt zum
selben Ergebnis und hat in den bisherigen Verfahren die
Entschädigungsansprüche gegen den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausalitätsnachweise abgelehnt.
Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich bei dem Infektionsgeschehen um - so hart es ist - unvermeidbare
Ereignisse. Schließlich ließ sich bis weit in die 80er-Jahre
kein Verfahren finden, welches eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren vollständig ausschließen konnte.
Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht eindeutig feststellen. Auch die häufig angeführte sogenannte
ALT-Testung und andere damals bekannte Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine sichere
Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu treffen.
Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss auf
das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese
Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird,
bei deren Herstellung Tausende Einzelspenden gepoolt
werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasmapools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizierten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen
aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test
konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert
werden.
Auch die häufig vorgenommene Bezugnahme in der
Argumentation für eine Entschädigungsregelung auf die
finanzielle Hilfe für die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie auch in den vorliegenden Anträgen
stattfindet, stiftet eher Verwirrung. Der vom Deutschen
Bundestag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIVInfektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode kam bezüglich der Infektionen mit HIV
und HCV durch Blutprodukte zu unterschiedlichen Bewertungen. Er erhob die Forderung nach einer finanziellen Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizierten, welche der Bund auch umgehend erfüllte. Eine
Entschädigungsregelung oder humanitäre Hilfe für die
durch Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen forderte er jedoch nicht.
Insofern stellt sich die Sachlage bei den HIV-Infektionen anders da. Es wurde eindeutig eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine HIV-Infektion trotz
aller Fortschritte in der medizinischen Behandlung im
Gegensatz zur HCV-Infektion noch immer in jedem Fall
ein Todesurteil. Auch dies muss zu einer anderen Bewertung führen. Losgelöst von der Frage der Entschädigungsregelungen muss in jedem Falle sichergestellt sein,
dass die HCV-Infizierten Zugang zu einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben. Dies ist bei uns in
Deutschland auch der Fall.
Immer wieder wird auch auf die Entschädigungsregelungen anderer Länder verwiesen. Solche Vergleiche
müssen differenziert betrachtet werden, weisen doch
andere Länder im Vergleich zur Bundesrepublik eine abweichende staatliche Verantwortung für das Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf. So sind
Anbieter der Blutprodukte innerhalb Deutschlands weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen, welche
nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung ist in
der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich organisiert.
Wenn überhaupt, kann für den Kreis der HCV-infizierten Personen nur eine soziale Entschädigungslösung in
Betracht kommen. Diese setzte jedoch ein Engagement
der beteiligten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, der Blutspendedienste sowie der Länder voraus.
Die Bundesregierung hat sich wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bemüht, ist jedoch bisher auf Ablehnung gestoßen. Die Bundesregierung sollte
diese Bemühungen fortsetzen und mit den genannten
Partnern, darunter natürlich auch den betroffenen
Patientenverbänden, weiter im Gespräch bleiben. Die
vorliegenden Anträge lehnt die Fraktion der CDU/CSU
hingegen ab.
In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der
Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses
für Gesundheit zu einer von der Linken und den Grünen
geforderten Entschädigungslösung für mit HCV infizierte
Hämophilieerkrankte. Die beiden Anträge wurden im
Ausschuss für Gesundheit und in den mitberatenden
Ausschüssen mehrheitlich abgelehnt.
Ich möchte die Sicht meiner Fraktion kurz begründen,
allerdings bereits zu Beginn noch einmal ausdrücklich
unterstreichen, dass das Schicksal der betroffenen Menschen sehr bedauerlich ist. Doch es handelt sich hier um
eine menschlich schwierige und eben andererseits außerordentlich komplexe Materie, die in beiden Anträgen nur
unzureichend gewürdigt wird. Die Anträge weisen insbesondere in ihren Begründungen unakzeptable Verkürzungen
auf. Zudem werden sie der Vielschichtigkeit der mit einer
Entschädigungsregelung verbundenen offenen Fragen
und der Verantwortung gegenüber den Betroffenen nicht
gerecht. So möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen,
dass es nicht gerecht wäre, die von Hepatitis-C betroffene
Patientengruppe undifferenziert mit der HIV-infizierten
Patientengruppe gleichzusetzen.
Als diese Stiftung gegen den anfänglichen Widerstand
auch der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, war Aids
bekanntermaßen noch eine in jedem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Und nur deshalb konnten Bund und Länder, die Pharmaindustrie und die Blutspendedienste von
der Unumgänglichkeit einer solchen Stiftung überzeugt
werden. Zudem gibt es entgegen den Behauptungen der
Fraktion Die Linke und auch der Grünen keinen hinreichenden Beleg dafür, dass im betreffenden Zeitraum in den
70er- und 80er-Jahren nach damaligem Kenntnisstand
eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte verhindert
werden können. Man macht man es sich deshalb zu einfach, die Problematik allein aus heutiger Sicht zu
betrachten - mit den Kenntnissen und den Chancen der
modernen Medizin. Auch wenn sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass Präparate zur Verfügung gestanden
hätten, ändert dies nichts daran, dass zum damaligen
Zeitpunkt große Unsicherheiten bei den Beteiligten bestanden.
Um es aber noch einmal zu betonen: Keiner möchte
das Leid, das den Betroffenen durch eine Infizierung mit
Hepatitis-C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine - meist
chronisch verlaufende - Krankheit, die auch zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch
Leberkarzinomen führen kann. Auch mich persönlich
macht der Leidensweg einiger Erkrankter sehr betroffen.
Deshalb haben wir uns ja auch in der Vergangenheit immer
wieder in den verschiedensten Gremien mit der Materie
befasst. Wir haben im Ausschuss mehrfach darüber gesprochen, wir haben die Betroffenen getroffen und mit ihnen die
Problematik erörtert und wir haben versucht, Lösungen
zu finden.
Um die Leidtragenden mit ihrem Schicksal nicht allein zu
lassen, haben wir in der Vergangenheit auch die Bemühungen der Bundesregierung für eine angemessene humanitäre
Hilfe unterstützt. Aber alle bisherigen Bemühungen, zu einer
gemeinsamen freiwilligen Regelung mit den Ländern, den
pharmazeutischen Unternehmen und den Blutspendediensten zu kommen, scheiterten. Sie scheiterten an der
Pharmaindustrie, am Roten Kreuz und nicht zuletzt an
den Ländern, und das im Übrigen auch in der Zeit, in der
die Grünen die Bundesgesundheitsministerin stellten. Nebenbei gesagt, ist mir auch nach gründlicher Recherche
keine Initiative aus den Jahren bekannt, in denen die PDS
die Verantwortung für das Gesundheitsressort in meinem
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern innehatte. Wir
sollten deshalb den Betroffenen nicht immer wieder mit
derartigen Anträgen Hoffnungen auf eine allein vom
Bund getragene Entschädigungszahlung machen.
Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es
im Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwiegend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und
Patienten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem Blut bzw. Blutprodukten zu HCV-Infektionen
gekommen ist.
Aus Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist
auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unternommen worden, eine humanitäre Lösung zu finden. In
Analogie zu dem HIV-Hilfefonds wurde zusammen mit
pharmazeutischen Unternehmen, Blutspendediensten
und Ländern eine einvernehmliche Lösung im Sinne der
Betroffenen zu finden versucht. Dies ist jedoch nicht gelungen.
Wir halten es weiterhin für relevant, darauf hinzuweisen, dass bis zum heutigen Tag kein Gerichtsurteil die
Schuldhaftigkeit der Handlungen beweisen konnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch der Bund setzte sich immer wieder für eine Entschädigungslösung auf freiwilliger Basis ein, zu der es
leider nicht gekommen ist. Die seinerzeit Verantwortlichen zeigten immer weniger Bereitschaft zu handeln, je
länger die Ereignisse zurückliegen. Im Hinblick darauf,
dass auch nicht zu erwarten ist, dass sich an dieser Haltung etwas ändert, werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt.
Insofern sind die beiden Anträge abzulehnen.
Der HIV-Untersuchungsausschuss des Deutschen
Bundestages hat im Jahre 1994 festgestellt, dass nicht nur
die Arzneimittelhersteller, die Blutspendedienste und die
Behandler, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich dafür war, dass eine Gruppe von
mehreren Tausend Blutern durch Blutprodukte mit HCV
infiziert worden ist. Diese relativ kleine Gruppe, die
durch diesen Medikamentenskandal mit dem Hepatitis-CVirus infiziert wurde, bekommt keinerlei Entschädigung für
ihre Leiden. Die Bundesregierung und die Große Koalition
drücken sich mit mehr oder minder irreführenden Erklärungen um Entschädigungsleistungen.
Als wir im Februar in der ersten Lesung über diese
Fragestellung debattiert haben, wurde uns unterstellt,
dass unser Antrag - wie ein SPD-Redner mutmaßte „dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet“ sei. Einen
größeren Unsinn kann man nicht behaupten. Für Wahlkämpfe gibt es deutlich geeignetere Themen. Ein Kollege
der FDP meinte, dass unser Antrag „falsche Hoffnungen“
wecke. Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken.
Die Linke will, dass den Betroffenen, wie es weltweit auch
geregelt wurde, endlich geholfen wird. Wir wecken keine
falschen Hoffnungen, ganz im Gegenteil. Sie schaffen
durch Ihre ablehnende Haltung große Enttäuschung bei
den Betroffenen.
Die Linke will, dass den Betroffenen endlich Gerechtigkeit widerfährt und eine Entschädigungsregelung beschlossen wird. Wenn behauptet wird, dass die Erkenntnisse aus dem Untersuchungsausschuss uns zu falschen
Schlussfolgerungen führten, sei den Kritikern das Studium der Ergebnisse empfohlen.
Ein Kollege von der CDU sagte in der Debatte, die
Infektionen seien zum damaligen Zeitpunkt unvermeidlich gewesen. Erst sehr viel später habe man den Erreger,
das Hepatitis-C-Virus, mit verbesserten technischen
Möglichkeiten zweifelsfrei identifizieren können. Hier
werden einige wichtige Tatsachen verdreht: Seit den
1970er-Jahren war die Infektionsgefahr bekannt. Ende
der 1970er-Jahre wurden Verfahren erforscht, die eine
Infektion durch Blutprodukte nahezu ausschließen konnten. Diese Verfahren funktionieren unabhängig davon, ob
man das Virus kennt, weil sie gegen alle Viren wirken.
Richtig ist, dass genau deshalb die mit dem alten Verfahren
hergestellten Blutprodukte seit Ende 1983 nicht mehr in
Verkehr hätten gebracht werden dürfen. Grundlage dafür
war § 5 des Arzneimittelgesetzes. Dennoch wurden die
Medikamente zum Teil bis 1987 weiter verabreicht. Ich
bin wie der Untersuchungsausschuss der Auffassung,
dass hier ein Versagen des Bundesgesundheitsamtes vorliegt. Auch der damalige Bundesgesundheitsminister und
heutige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sah
das damals offenbar so: Wie in der Wochenzeitung „Die
Zeit“ vom 28. Januar 1994 nachzulesen ist, war für Herrn
Seehofer dieser Medikamentenskandal sogar der Anlass,
das Bundesgesundheitsamt aufzulösen.
Die Betroffenen müssen in mühsamen Prozessen versuchen, zu ihrem Recht zu kommen. Aktuell wird in den USA
ein internationaler Prozess geführt, an dem auch etwa 60 bis
70 deutsche Opfer beteiligt sind. Es sieht derzeit so aus, dass
sich die Pharmaindustrie außergerichtlich zu Zahlungen bereiterklären könnte - ein möglicher Erfolg, aber immerhin
erst ein Vierteljahrhundert nach den Infektionen. Und was
bedauerlich ist: in Deutschland weiterhin Fehlanzeige!
Ich kann die Haltung der Bundesregierung und der
Koalition nicht nachvollziehen: Selbst wenn man der Auffassung ist, dass im rechtlichen Sinn keine eindeutige
Schuld bei den Beteiligten vorliegt, und in dieser Frage
eine andere Auffassung vertritt als der damalige Untersuchungsausschuss, muss man doch fragen, warum keine
Entschädigungslösung ermöglicht wird. Andere Staaten
waren in der Lage, das zu regeln.
In denselben Blutprodukten steckte oft auch das AidsVirus. Für die Personengruppe, die sich mit HIV infizierte,
wurde 1995 - wie ich finde, vollkommen zu Recht - das
HIV-Hilfegesetz verabschiedet. Die Ansteckung mit Aids
hätte sich durch die veränderten Herstellungsverfahren
genauso vermeiden lassen können wie die Hepatitis-CInfektionen. Was macht also den Unterschied aus?
Der Unterschied bestand ganz offenkundig darin, dass
davon ausgegangen wurde, dass es gegen Aids keine
Behandlungsmöglichkeiten gibt und diese Krankheit tödlich ist. Aids ist auch noch heute tödlich, allerdings hat
sich durch die Behandlung die Lebenserwartung deutlich
vergrößert. Für die Hepatitis-C-Infektionen gilt das im
Grunde genommen auch. Im Vergleich zu Aids gibt es
aber einen deutlichen Unterschied: Hepatis C ist nicht im
Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Mittlerweile
weiß man, dass auch diese Krankheit die Lebenserwartung um 15 bis 18 Jahre verringert und die verbleibende
Lebenszeit zudem durch die Erkrankung in ihrer Qualität
stark beeinträchtigt ist. Deshalb fordert die Linke, ob nun
ein Staatsverschulden vorliegt oder nicht, endlich auch
dieser Betroffenengruppe eine Entschädigungsregelung
zukommen zu lassen.
Vor 25 Jahren haben sich durch verseuchte Blutprodukte viele Menschen mit dem HIV-Virus infiziert. Sie
wurden dafür mit finanzieller Beteiligung des Staates entschädigt, weil im Ergebnis der Erkenntnisse eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses die Mehrheit
des Deutschen Bundestages die politische Verantwortung
für Versäumnisse des Bundesgesundheitsamtes übernommen hatte. Vor 25 Jahren haben sich durch gleichartige
verseuchte Blutprodukte aber auch viele Menschen mit
dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Sie wurden bisher dafür
nicht entschädigt, obwohl der genannte Untersuchungsausschuss bezüglich der mit HCV verseuchten Blutprodukte dieselben Versäumnisse wie im Falle der mit HIV
Zu Protokoll gegebene Reden
verseuchten Produkte festgestellt hatte. Und dennoch
verweigern das Bundesgesundheitsministerium, Union,
SPD und FDP diesen Menschen eine Entschädigung.
Und schlimmer noch: Sie behaupten, die Infektionen
seien ein unvermeidbares Ereignis gewesen. Man muss
das so klar sagen: Das entspricht nicht der Wahrheit. Im
Bericht des Untersuchungsausschusses von 1995, den
auch SPD und Union damals beschlossen haben, steht
wörtlich das Gegenteil:
Das Fehlen jeglicher Reaktionen seitens des Bundesgesundheitsamtes auf die Gefahr der Hepatitisinfektionen muss als Versäumnis und folglich als
Amtspflichtverletzung gewertet werden.
Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bundesgesundheitsamt von der Gefahr, dass eine virale ({0})Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blutprodukte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981
standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfügung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Dennoch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte
Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIIIHochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arzneimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit verlieren müssen. Erst 1990 mussten alle nicht inaktivierten
Produkte aus dem Verkehr gezogen wurden.
Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Risiko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte
es in seiner Untätigkeit - fast wie jetzt die Bundesregierung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen
Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt
hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulassung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu
lassen, noch die Auflage zu erteilen, derartige Produkte
zukünftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den
Markt zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch
völlig unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender
Antikörpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht
hat der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese
Untätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C
als schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet. Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeitraum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid, das diese
Menschen durch ihre Infektion erfahren haben, kann
nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts der
bislang von der Bundesregierung, von Union, SPD und
FDP gezeigten Verweigerungshaltung wäre der Einsatz
für eine solche Entschädigung auch und in erster Linie
ein Zeichen politischer Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet - und ein überfälliger Ausdruck des Bedauerns. Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat
1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesundheitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine
Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen geschaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV
infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt
dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophilieerkrankten mit Hepatitis C führten.
Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen
Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine
Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung
seit Jahren versucht, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu schaffen, den Sachverhalt immer weiter zu vernebeln. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit, wie
die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägungen
vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen
Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf,
dass es hier in erster Linie um einen verzweifelten Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor 25 Jahren
stattgefundenes staatliches Versagen einfach negieren
will. Verlierer sind dabei die Betroffenen. Es ist an der
Zeit, eine gerechte Entschädigungsregelung zu schaffen
und dabei alle damals beteiligten Akteure - den Bund, die
Länder, pharmazeutische Unternehmen und Blutspendedienste - mit einzubeziehen. Ein Vorbild gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfegesetz. Ich fordere
daher die Bundesregierung und die Fraktionen von
Union, SPD und FDP auf, endlich die Tatsachen zu akzeptieren und sich schnellstmöglich für eine humanitäre
Entschädigung der Erkrankten einzusetzen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/12515. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/10879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch
CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegengestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/11685 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU,
SPD und FDP angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und die Fraktion Die Linke
hat dagegengestimmt.
Tagesordnungspunkt 24:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/12596 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Hier liegen die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Peter Rauen, Wolfgang Grotthaus, Heinrich Kolb, Katja
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Kipping, Markus Kurth und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Klaus Brandner vor.
Heute ist ein wirklich guter Tag für die Bauwirtschaft aber auch für die Wirtschaft im Allgemeinen. Mit dem heute
eingebrachten Gesetzentwurf wird die 2002 von Rot-Grün
in der Bauwirtschaft eingeführte Generalunternehmerhaftung endlich von dem Ballast quälender Bürokratie befreit.
Verwaltungsintensive und uneinheitliche Regelungen
werden beseitigt. Dies bringt Erleichterung für viele Baubetriebe und deren Beschäftigte und sollte zugleich Vorbild
für andere Branchen sein, wenn es um Vereinfachung von
Strukturen und Verwaltungswegen geht. Lediglich eine
Unstimmigkeit bezüglich der Gleichbehandlung von kleinen
und größeren Unternehmen müssen wir im Gesetzesverfahren noch etwas präziser regeln. Darauf werde ich aber
später noch genauer eingehen.
Konkret werden wir im Baugewerbe die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig
durch Präqualifizierung im vereinfachten Verfahren einführen, die Generalunternehmerhaftung für die gesamte
Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung
vereinheitlichen und die Mindestgrenze für das Eingreifen
der Haftung auf ein Gesamtbauvolumen von 275 000 Euro
senken. Die von uns vorgelegte Einbeziehung des Präqualifikationsverfahrens in die Generalunternehmerhaftung
wird zu einer deutlichen Vereinfachung und zu einem
massiven Abbau von Verwaltungslasten für die Bauwirtschaft in Deutschland führen; denn seit 2002 muss ein
Generalunternehmer für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch einen von ihm mit der Erbringung von
Bauleistungen beauftragten Nachunternehmer geradestehen. Zahlt dieser Nachunternehmer seine Sozialversicherungsbeiträge nicht, haftet der Hauptunternehmer,
sofern er nicht nachweist, dass er von der Erfüllung der
Zahlungspflicht eines Nachunternehmers ausgehen konnte.
Dieser Nachweis erfolgt derzeit noch durch sogenannte
Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die die Unternehmer
bei den Sozialversicherungsträgern mehrmals im Jahr für
alle Arbeitnehmer beantragen müssen. Dieses Verfahren
verursacht Bürokratiekosten in Höhe von rund 11 Millionen
Euro pro Jahr.
Künftig jedoch entfällt die Generalunternehmerhaftung
nicht nur bei der Vorlage von Unbedenklichkeitsbescheinigungen, sondern auch dann, wenn präqualifizierte Bauunternehmen eingesetzt werden. Das bedeutet, dass ein Betrieb
bereits eine Präqualifikation im Zusammenhang mit der
Vergabe öffentlicher Aufträge nach § 8 der Vergabe- und
Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A zertifiziert hat,
VOB/A. Dabei wird überprüft, ob ein Betrieb für die
öffentliche Vergabe nach der VOB geeignet ist. Der Nachweis der Präqualifikation reicht also zukünftig aus, um für
den Generalunternehmer in der Haftung Rechtssicherheit
zu schaffen und gleichsam seiner sozialen Verantwortung
nachzukommen. Zudem ist die Präqualifikation schnell
und unproblematisch über Internet abrufbar. Letztlich
wird das ursprünglich nur für das Vergaberecht gedachte
Präqualifikationsverfahren mit der Generalunternehmerhaftung verknüpft und führt so zu einer Entlastung
vieler Baubetriebe.
Doch wie war es zuvor? Von der Einführung der Generalunternehmerhaftung im August 2002 bis Ende 2008
gab es insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. In neun Fällen
sind die erlassenen Haftungsbescheide rechtskräftig geworden. Die Summe der daraus resultierenden Gesamtversicherungsbeträge belief sich auf rund 213 000 Euro,
wovon ein Drittel tatsächlich realisiert werden konnte. So
der Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2008.
Die Zahlen sprechen für sich, nämlich zum einen für eine
durchaus funktionierende Selbstkontrolle der Bauwirtschaft, zum anderen vor allem aber für eine spürbare
Präventionswirkung dieser Maßnahme.
Dennoch: Mit diesen knappen Daten allein war der
auftretende Verwaltungsaufwand bei den Unternehmen
der Bauwirtschaft nicht zu rechtfertigen. Das gesteht sogar
der erste Bericht der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung an die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes
über die Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen des
Sozialgesetzbuches ein, Bundestagsdrucksache 15/4599.
Zwar ist mit den genannten Zahlen kaum belegbar, in
welchem Umfang die Haftung der Hauptunternehmer zur
Beitragsehrlichkeit in der gesetzlichen Sozialversicherung
und damit zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung beitrug,
die Erfahrungen zeigen jedoch, dass Hauptunternehmer
positiv beeinflusst wurden, Nachunternehmer einzusetzen,
die in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen
gegenüber den Sozialversicherungsträgern nachgekommen
sind. Es ist zumindest offensichtlich, dass die bestehende
Regelung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung entgegenwirkt.
Insofern ist es keineswegs unser Ziel, die Generalunternehmerhaftung zu unterlaufen, sondern vielmehr durch
Struktur- und Verwaltungsvereinfachung die positive Wirkung weitgreifend zu optimieren; denn diejenigen Stimmen,
die die völlige Abschaffung der Generalunternehmerhaftung fordern, sind nicht zielführend. Schließlich hat jeder
Unternehmer, der zu seinen eigenen Gunsten einen Subunternehmer einstellt, auch eine subsidiäre Verantwortung
für dessen Arbeitnehmer. Es darf dem Generalunternehmer
auch keinesfalls egal sein, ob die nachgeordneten Arbeitnehmer ihr Geld bekommen und sozial abgesichert sind
oder nicht.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass legal arbeitende
Unternehmen es im Lohn- und Preiskampf gegenüber illegal
agierenden Firmen sehr schwer haben. Aber gerade deshalb
sollte es im eigenen Interesse legaler Arbeitgeber liegen,
dass die Haftung des Hauptunternehmers durchgreift.
Erst wenn die Haftungskette Bauherr-GeneralunternehmerNachunternehmer etc. funktioniert, ist eine faire Preisgestaltung im Bieterverfahren möglich. Weitere Rechtsklarheit bietet zudem die Generalunternehmerhaftung
gemäß Arbeitnehmer-Entsendegesetz, nach dem ein Bauunternehmer auch für tarifliche Lohnzahlungen des Subunternehmers gerade stehen muss, AentG § 1 a. Ein Arbeitnehmer des Subunternehmers hat somit seinen
tariflichen Mindestlohnanspruch beim Generalunternehmer. Kurzum: Wenn die Haftung des Generalunternehmers wegfiele, dann könnte es diesem egal sein, wen
er als Subunternehmer beauftragt. Er würde auch nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
darauf achten, ob das einer ist, der Schwarzarbeit organisiert.
Dass wir hier nicht von Nebenschauplätzen der Bauwirtschaft reden, zeigen uns die vorhandenen Daten: Das
Baugewerbe hatte 2007 mit circa 1,87 Millionen abhängig Beschäftigten ein Bauvolumen von insgesamt circa
166 Milliarden Euro. Es setzt sich zusammen aus dem
Bauhauptgewerbe mit 74 765 Unternehmen und circa
714 000 Beschäftigten und dem Ausbaugewerbe mit circa
255 000 Betrieben und circa 1,15 Millionen Beschäftigten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes über
die Anzahl von Bauvorhaben, die von Generalunternehmern durchgeführt werden, bewerben sich jährlich rund
76 000 Baubetriebe im Schnitt viermal im Jahr um einen
Auftrag.
Jährlich werden - auch für andere Zwecke - etwa
2,15 Millionen Unbedenklichkeitserklärungen erstellt.
Und hierin liegt eine gewisse Schwierigkeit. Wohlgemerkt: Nicht die schwarzen Schafe werden veröffentlicht,
sondern jeder Bauunternehmer muss sich dem Zertifizierungsverfahren unterziehen oder vierteljährlich Unbedenklichkeitserklärungen einholen, um zu den weißen
Schafen gerechnet zu werden. Die Präqualifikation kostet
bei der erstmaligen Registrierung Gebühren von rund
450 Euro und für die jährliche Aufrechterhaltung Gebühren
von anschließend circa 350 bis 400 Euro. Sie bietet den
Vorteil, dass sich die Unternehmen unter Hinweis auf die
zertifizierte Zulassungsbescheinigung unbegrenzt bewerben
können. Wer dieses Verfahren als Bauunternehmer zum
Beispiel für öffentliche Aufträge benutzt, hat somit keine
weiteren Kosten. Bei Vorlage einer Unbedenklichkeitsbestätigung anstelle einer Präqualifizierung entstehen zwar
keine Kosten; diese muss jedoch für jede einzelne Bewerbung erneut angefordert werden, was einen weitaus größeren Verwaltungsaufwand bedeutet.
Für Betriebe, die sich gewohnheitsgemäß um öffentliche
Aufträge bemühen, ist diese Situation von großem Vorteil.
Im Nachteil sind allerdings vor allem kleine Betriebe aus
den Ausbauhandwerken, die sich selten um öffentliche
Aufträge bemühen, da sie zumeist privat beauftragt sind. Sie
müssen - im Nachteil zu den automatisch präqualifizierten
Betrieben - immer wieder neue Unbedenklichkeitsbescheinigungen heranschaffen, wenn sie als Subunternehmer tätig
werden wollen. Im Maler- und Lackiererhandwerk haben
sich beispielsweise von den circa 40 000 bestehenden
Betrieben aufgrund der hohen Kosten, die anfallen, erst
100 präqualifizieren lassen.
Hier besteht nach meiner Auffassung noch Bedarf,
eine sinnvolle Regelung im Rahmen des kommenden
Gesetzgebungsverfahrens zu erarbeiten und im Gesetz zu
implementieren.
Mit der Einbringung dieses Gesetzentwurfes beabsichtigt die Bundesregierung die Einführung einer Präqualifikation im Rahmen der Generalunternehmerhaftung.
Dieses Vorhaben wird von meiner Fraktion sehr begrüßt,
da dadurch nicht nur ein eindeutiger und rechtssicherer
Nachweis für die einfache und damit unbürokratische
Überprüfung der Nachunternehmer und etwaig beauftragter Verleiher ermöglicht wird. Die Handhabung des
Präqualifikationsverfahrens hat den Vorteil, dass es in einer allgemein zugänglichen Internetliste aufgeführt wird
und so die Unternehmen bundesweit ihre Eignung nachweisen können.
Ergänzend zu der Einführung der Präqualifikation
sollen auch die unterschiedlichen Haftungsgrenzen in der
Unfallversicherung und in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung vereinheitlicht werden. Auch diese Regelung ist begrüßenswert. Besonders hervorzuheben ist,
dass diese Regelung auf die Zustimmung der Spitzenverbände der Bauwirtschaft und der IGBau stoßen. Übergangsregelung zur Beitragshaftung und Regelung zur
Gleitzone sind in diesem Gesetz ebenfalls sichergestellt.
Da es sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz handelt, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass auch die
weiteren von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesänderungen bzw. redaktionellen Änderungen auf unsere Zustimmung stoßen.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Freiwilligendienstes „weltwärts“. Mit diesen Maßnahmen wird das besondere
Engagement der jungen Menschen, das sich in der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, anerkannt und sie erfahren damit den Schutz der Solidargemeinschaft. Insgesamt handelt es sich um einen Gesetzentwurf, den wir
positiv begleiten werden, in den wir aber auch als Koalition noch einige aus unserer Sicht geringfügige Änderungen von bestehenden Gesetzen einbringen werden.
Lassen Sie mich zunächst feststellen: Es ist schon bemerkenswert, was der Bundeswirtschaftsminister als
„wesentlichen Schritt zum Bürokratieabbau“ ankündigt.
Da soll die Generalunternehmerhaftung durch die Herabsetzung der Mindestgrenzen auf unzählige kleine und
mittelständische deutsche Baubetriebe ausgedehnt werden; und die Bundesregierung verkauft es als Wohltat für
die Betriebe. Die FDP hat die Generalunternehmerhaftung schon bei ihrer Einführung - im Jahr 2002 im Rahmen des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von
illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit - abgelehnt;
denn schon damals war absehbar, dass der bürokratische
und finanzielle Aufwand der Regelung in keinem Verhältnis zum Nutzen - der Bekämpfung von Schwarzarbeit und
illegaler Beschäftigung - steht. Auch mit dem aktuellen
Gesetzesvorschlag wird keine Abhilfe geschaffen: Denn
unter den Schlagworten „Vereinheitlichung“ und „Vereinfachung“ der Generalunternehmerhaftung verbirgt
sich eine Ausweitung und Verschärfung der Haftung. Besonders augenscheinlich wird dies durch die vorgeschlagene Senkung der Haftungsgrenze für die Generalunternehmerhaftung von derzeit 500 000 Euro auf 275 000
Euro pro Gesamtbauvolumen. Damit werden nunmehr
auch diejenigen Baubetriebe von der Regelung erfasst,
deren Aufträge sich im Rahmen eines Gesamtbauvolumens unterhalb von 500 000 Euro bewegen. Bisher entstehen den Betrieben des Baugewerbes und den Einzugsstellen insgesamt Kosten von circa 70 Millionen Euro im
Zu Protokoll gegebene Reden
Jahr. Die Einzugsstellen selber teilen mit, dass der Verwaltungsaufwand bei der Prüfung, ob eine Generalunternehmerhaftung in Betracht kommt, erheblich, teilweise
sogar „immens“ sei. Gleichzeitig gab es bis Ende 2008
insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. Dabei belief sich die
Summe der aufgrund der Generalunternehmerhaftung
angeforderten Sozialversicherungsbeiträge auf rund
213 000 Euro, wovon ein Drittel tatsächlich realisiert
werden konnte. Das Missverhältnis zwischen Aufwand
und Nutzen der Haftungsregelung könnte größer nicht
sein! Die FDP wird den aktuellen Entwurf der Bundesregierung allein schon aus diesen Gründen ablehnen. Dabei sieht die FDP sehr wohl, dass der Gesetzentwurf auch
einige tatsächliche Verbesserungen gegenüber der geltenden Rechtslage - beispielsweise bei den Entlastungsmöglichkeiten der Betriebe - beinhaltet. Dies sind jedoch
lediglich Korrekturen an einem von vornherein falschen
Regulierungsansatz.
Die FDP bleibt deshalb dabei: Die Generalunternehmerhaftung ist eine Gängelung der Betriebe ohne erkennbaren Nutzen weder für die Sozialkassen noch für die
Betriebe und die Arbeitnehmer. Sie belastet die Unternehmen in Millionenhöhe und zeigt einmal mehr, dass der
Staat allzu oft dort in die Wirtschaft eingreift, wo er sich
besser zurückhielte, während er an anderen Stellen wegschaut oder durch mangelnden Sachverstand erheblichen
Schaden anrichtet. Für die FDP sage ich: Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung sind nicht hinnehmbar und
müssen bekämpft werden. Ich sage für die FDP-Fraktion
aber genauso klar: Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen ändern nichts daran, dass die Generalunternehmerhaftung insgesamt ineffektiv, zu bürokratisch, zu teuer und sogar dazu angetan ist, reguläre
Arbeitsplätze zu vernichten. Es ist nicht zielführend, die
Unternehmer unter einen Generalverdacht zu stellen und
den ehrlichen Unternehmen zusätzliche bürokratische
Belastungen aufzuerlegen, um die schwarzen Schafe zu
bekämpfen. Dadurch werden die seriösen Firmen mit zusätzlichen Kosten belastet. Die Bundesregierung sollte
aufhören, Vorschläge zu erarbeiten, um die Generalunternehmerhaftung zu retten. Sie sollte sie abschaffen. Anstatt an den Symptomen herumzukurieren, muss man das
Übel an der Wurzel bekämpfen. Wir brauchen effektive
und unbürokratische Maßnahmen, um illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit und Lohndumping zu verhindern.
Das wirksamste Mittel ist die Senkung der Lohnnebenkosten und Zurückhaltung bei der Mehrwertsteuer. Das
hilft letztlich Unternehmen und Arbeitnehmern am besten. Hierfür hat die große Koalition in mehr als drei Jahren schwarz-roter Regierungsverantwortung in der
Summe nichts bewirkt. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen brauchen die Betriebe andere politische
Signale als diese. Die FDP Bundestagsfraktion lehnt den
Gesetzentwurf ab.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
sieht - neben verschiedenen anderen Regelungen - vor
allem eine einheitliche und vereinfachte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft sowie endlich auch
die Einbeziehung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ in die gesetzliche Unfallversicherung vor.
Vor allem die Ausweitung des Unfallversicherungsschutzes auf die mittlerweile mehr als 10 000 jungen
Menschen, die nun seit mehr als einem Jahr freiwillige
Hilfe im Ausland leisten, begrüße ich sehr. Bislang konnten
sich die Teilnehmenden dieses vom Bundesministerium
für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit ins
Leben gerufenen Programms lediglich privatrechtlich
versichern. Mit dem aktuellen Entwurf werden sie unter
den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung mit Zuständigkeit der Unfallkasse des Bundes gestellt.
Prinzipiell befürwortet meine Fraktion auch den zweiten zentralen Punkt, die Neugestaltung der Generalunternehmerhaftung, den Drucksache 16/12596 regeln möchte.
Die Generalunternehmerhaftung ist 2002 eingeführt worden, um Schwarzarbeit zu vermeiden. Mit dieser Art von
Haftung sind Generalunternehmer in der Pflicht, wenn die
Nachunternehmen ihren sozialversicherungsrechtlichen
Zahlungspflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen.
Das vorliegende Gesetz will das Verfahren nun verändern,
laut Bundesregierung vereinfachen. Erreicht werden soll
das dadurch, dass die Generalunternehmerhaftung für
die gesamte Sozialversicherung einschließlich der
Unfallversicherung vereinheitlicht wird. Die vorgesehene
Absenkung der Haftungsgrenze von 500 000 Euro auf
275 000 Euro erweitert die Reichweite der Generalunternehmerhaftung und kann auch eine präventive Wirkung
entfalten. Hauptunternehmer werden von vornherein
dazu veranlasst, nur Nachunternehmer einzubinden, die
in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen
nachgekommen sind. Eine haftungsrechtliche Entlastung
wird in Zukunft nur noch über den Weg der Präqualifikation möglich sein, das heißt, Subunternehmer können sich
einer Zertifizierung unterziehen. Die Liste mit den präqualifizierten Bauunternehmen kann dann im Internet
eingesehen werden. Diese Präqualifikation der Subunternehmer entlastet den Generalunternehmer. Diese Vorhaben
sind durchaus positiv zu bewerten. Kritisieren muss ich
aber an dieser Stelle, dass die Regelungen im Gesetzentwurf
in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt sind.
Meine Fraktion hat schon im Antrag „Verstöße gegen
den Mindestlohn im Baugewerbe wirksam bekämpfen“
mit der Drucksachennummer 16/9594 einen Ausbau der
Generalunternehmerhaftung gefordert und auf ihre
strikte Anwendung gedrängt. Wir wollen, dass die Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge, die
in § 28 Abs. 3 des Vierten Sozialgesetzbuches geregelt wird,
mit der Generalunternehmerhaftung für die Zahlung der
Mindestentgelte nach § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz
harmonisiert wird. Dazu gehört eine komplette Abschaffung der Bagatellgrenze. Ebenso darf die Möglichkeit der
Exkulpation, also einer Befreiung von der - subsidiären Haftungspflicht, in Anlehnung an § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz nicht mehr möglich sein. Zwar wird uns die
Bauwirtschaft wieder mit Klagen über den - nach ihrer
Meinung - unzumutbaren Verwaltungsaufwand für die
Betriebe, der mit dem Exkulpationsverfahren mittels
Unbedenklichkeitsbescheinigung verbunden ist, in den
Ohren liegen. Allerdings wird dieser Aufwand spätestens
Zu Protokoll gegebene Reden
2011 durch die Einrichtung von Weiterleitungsstellen erheblich geringer werden. Das eröffnet den Betrieben die
Möglichkeit, nur noch mit einer Stelle zu kommunizieren.
Bislang müssen sie sich noch regelmäßig mit mehreren
Krankenkassen verständigen. In diesem Zusammenhang
wäre auch noch zu klären, inwieweit die Zuständigkeit für
die Geltendmachung der Generalunternehmung von den
Krankenkassen auf die Deutsche Rentenversicherung
übertragen werden sollte. Die IG Bau als zuständige
Interessenvertretung fordert das seit längerem. Die Krankenkassen stehen untereinander im Wettbewerb, sodass
die Annahme nicht von der Hand zu weisen ist, dass die
Rentenversicherung in diesem Fall die zuverlässigere
Kontrollinstanz wäre.
Unser Vorschlag einer Ausweitung der Generalunternehmerhaftung auf alle beteiligten Subunternehmer stellt
ebenfalls eine sinnvolle Ergänzung des vorliegenden
Gesetzentwurfs dar. Dadurch bleibt die Haftung nicht
mehr auf die nächste Ebene der Subunternehmerkette
beschränkt. Heute stehen noch viele Möglichkeiten einer
Haftungsvermeidung offen. Gerade die Einschaltung von
„Zwischenhändlern“, die nicht der Baubranche angehören
und im Ernstfall nicht auffindbar oder ohne zu verwertendes Vermögen sind, stellt heute einen beliebten Weg dar,
sich billig aus der Affäre zu ziehen. Diese Schlupflöcher
werden nun geschlossen oder zumindest deutlich verbaut.
Besonders die Bundesregierung - als Einreicherin des
vorliegenden Gesetzentwurfes - ist aber noch die Antwort
auf die Frage schuldig, wer das Haftungsrisiko in den
Fällen trägt, in denen eine Präqualifikation der Subunternehmen erfolgt ist, die Sozialversicherungsbeiträge von
den Subunternehmen aber dennoch nicht abgeführt werden. Ich hoffe, die Diskussion bringt uns auch darüber
Klarheit.
Illegale Beschäftigung schädigt die Wirtschaft in erheblichem Maße. Noch unter der rot-grünen Bundesregierung haben wir im Jahr 2002 gesetzlich festgeschrieben, dass Unternehmen im Baubereich für die
Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten in Subunternehmen haftbar gemacht werden. Diese sogenannte
Generalunternehmerhaftung kommt nur dann zur Geltung, wenn der Generalunternehmer seiner Sorgfaltspflicht unzureichend nachgekommen ist. Dies ist bislang
dann der Fall, wenn das Unternehmen im Vorfeld nicht
überprüft hat, ob ein Subunternehmen bei den Lohnkosten die Sozialversicherungsbeiträge zutreffend kalkuliert
hat. Zu seinem Schutz kann der Generalunternehmer ferner die regelmäßige Vorlage der Beitragsnachweise
durch Sub- und Leihunternehmer vereinbaren oder sich
deren vorschriftsmäßiges Verhalten schriftlich zusichern
lassen.
In der Praxis haben sich diese Regelungen als recht
kompliziert gezeigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf
der Bundesregierung möchte die Möglichkeiten für den
Generalunternehmer, sich von der Haftung zu entlasten,
vereinfachen. So soll die haftungsrechtliche Entlastung
vorrangig nur noch im Wege der sogenannten Präqualifikation geschehen. Somit können Unternehmen in einer
allgemein zugänglichen Internetliste sehen, welche Bauunternehmen ihre Eignung bundesweit nachgewiesen haben. Wir begrüßen diesen Ansatz der Bundesregierung.
Ob das Instrument der Präqualifikation das einzig sinnvolle bleibt - mit Ausnahme der Unbedenklichkeitsbescheinigung für den Übergang -, werden wir in den Ausschussberatungen evaluieren. Der Gesetzentwurf sieht
zudem eine sozialversicherungsübergreifende Vereinheitlichung der Regeln vor. So wird die Generalunternehmerhaftung auf die gesetzliche Unfallversicherung ausgedehnt. Auch dies halten wir für geboten. Bündnis 90/Die
Grünen begrüßen ferner die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung auf 250 000 Euro
je Gesamtbauvolumen. Die Absenkung von derzeit
500 000 Euro hat zur Folge, dass künftig mehr Unternehmen für ihre Subunternehmer haftbar gemacht werden.
Der Gesetzentwurf sieht neben den haftungsrechtlichen
Fragen vor, den Unfallversicherungsschutz auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen
Freiwilligendienstes „weltwärts“ auszuweiten. Diese
Änderung ist im Sinne der Betroffenen zu begrüßen; denn
schon zu rot-grünen Zeiten haben wir den Versicherungsschutz in der Unfallversicherung auf freiwillig Engagierte im Inland ausgeweitet. Dass nun auch Menschen,
die während ihres freiwilligen Einsatzes im Ausland besonderen Gefahren ausgesetzt sind, den Schutz erhalten,
ist eine konsequente Fortentwicklung dieses Ansatzes.
Wenn zu später Stunde ein mehr technisch anmutender
Gesetzentwurf wie das Dritte Gesetz zur Änderung des
Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
aufgerufen wird, ist es schwierig, einen solchen Entwurf
noch spannend darzustellen. Dabei haben gerade sogenannte Omnibusgesetze angemessene Aufmerksamkeit
verdient.
Während die beiden Vorgängergesetze mit erheblichen
Bürokratiekostenentlastungen aufwarten konnten, beläuft
sich die messbare Bürokratiekostenentlastung von Informationspflichten durch dieses Gesetz auf „nur“ rund 1 Million
Euro für das Verwaltungsverfahren der Künstlersozialkasse. Wichtiger als große Zahlen ist daher die Senkung
der gefühlten Bürokratiebelastung, hier speziell bei den
Informationspflichten zur Generalunternehmerhaftung in
der Bauwirtschaft.
Die im Jahr 2002 eingeführte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft für Beitragsausfälle in der
Sozialversicherung soll die Bekämpfung von Schwarzarbeit
und illegaler Beschäftigung erleichtern. Ziel der Regelung war es, den Generalunternehmer zu veranlassen,
seine Nachunternehmer dazu anzuhalten, ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nachzukommen. Die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten für den
Generalunternehmer, sich von dieser Haftung zu entlasten,
sollen vereinfacht werden. Außerdem sollen für Haftungsgrenze und Entlastung künftig einheitliche Regelungen
für alle Sozialversicherungszweige gelten.
Hierzu ergreifen wir folgende Maßnahmen: erstens die
Vereinheitlichung der Generalunternehmerhaftung im
Zu Protokoll gegebene Reden
Parl. Staatssekretär Klaus Brandner:
Vierten und Siebten Buch Sozialgesetzbuch, das heißt für
die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung; zweitens die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig nur noch im
Wege der Präqualifikation, das heißt durch ein Zertifizierungsverfahren; drittens die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung von bisher 500 000
Euro auf künftig 275 000 Euro je Gesamtbauvolumen.
Mit der Präqualifikation nutzen wir einen eindeutigen
und rechtssicheren Nachweis, der künftig auch für die
Generalunternehmerhaftung eine einfache und damit unbürokratische Überprüfung der Nachunternehmer und
beauftragten Verleiher ermöglicht. Bei der Präqualifikation
handelt es sich um eine vorwettbewerbliche Eignungsprüfung, bei der potenzielle Auftragnehmer nach speziellen
Vorgaben unabhängig von einer konkreten Ausschreibung
ihre Fachkunde und Leistungsfähigkeit vorab nachweisen.
Die Durchführung der Präqualifikation von Bauunternehmen erfolgt nach der Leitlinie des Bundesministeriums für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für die Durchführung
eines Präqualifikationsverfahrens. Für die Unternehmen
bietet das Präqualifikationsverfahren den Vorteil, dass sie
in einer allgemein zugänglichen Internetliste des Vereins
für die Präqualifikation von Bauunternehmen e.V. aufgeführt sind und so ihre Eignung bundesweit nachgewiesen
ist.
Die Generalunternehmerhaftung kommt künftig einheitlich ab einem geschätzten Gesamtwert aller für ein
Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen von
275 000 Euro zur Anwendung. Damit wird der bisher in
der allgemeinen Sozialversicherung geltende Betrag von
500 000 Euro deutlich abgesenkt. Gleichzeitig wird die
Regelung auch auf die gesetzliche Unfallversicherung
erstreckt, für die in der Vergangenheit keine Mindestgrenze galt. Da die reinen Baukosten für ein konventionelles Einfamilienhaus laut Bautätigkeitsstatistik in
2007 bundesdurchschnittlich bei 178 000 Euro lagen, ist
gewährleistet, dass private Eigenheimbauer weiterhin
vor dem Risiko der Haftung geschützt bleiben.
Die Bundesregierung hat in ihrem zweiten Bericht zur
Generalunternehmerhaftung beschlossen, zeitnah die
Notwendigkeit, Wirksamkeit und Reichweite der Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge im
Baugewerbe unter Beteiligung des Normenkontrollrates
aus ihrer Sicht abschließend zu bewerten. Dies soll im
Jahr 2012 in einem Bericht an die gesetzgebenden Körperschaften erfolgen. Bis dahin kann davon ausgegangen
werden, dass aussagekräftige Erkenntnisse mit der Neuregelung aus der betrieblichen Praxis vorliegen.
Eine weitere wichtige Änderung durch diesen Gesetzentwurf betrifft die schon oben erwähnte Einführung einer
gesonderten Meldung der Künstlersozialkasse an die
Krankenkassen. Ab dem 1. Januar 2009 erhalten die
Krankenkassen von der Künstlersozialkasse aufgrund der
Beitragsabführung an den Gesundheitsfonds keine Beitragsnachweise mehr und damit auch keine Informationen
über die Höhe des voraussichtlichen Arbeitseinkommens
und zu einer eventuell bestehenden Rentenversicherungspflicht für die über die Künstlersozialkasse versicherten
Personen. Für die Krankenkassen und die Künstlersozialkasse führt dies zu einem erheblichen Mehraufwand. Für
rund ein Viertel des Versichertenbestandes müssten ohne
die Neuregelung zum Beispiel im Falle von Entgeltersatzleistungen Einzelmitteilungen erfolgen. Bisher konnten
die erforderlichen Daten den monatlichen Beitragsnachweisen entnommen werden, nunmehr wäre mit einer Vielzahl von Einzelaufklärungen bei der Künstlersozialkasse
zu rechnen. Durch einen automatisierten monatlichen
Melde- und Beitragsnachweis an die zuständige Krankenkasse durch die Künstlersozialkasse kann dieser zusätzliche Bürokratieaufwand vermieden werden. Hierfür wurde
eine Einsparung von Verwaltungskosten bei der Künstlersozialkasse von rund 1 Million Euro berechnet. Durch die
erhebliche Vereinfachung des Verfahrens ist auch eine zügigere Leistungsgewährung für die Versicherten möglich.
Das dritte zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes ist
es, einen gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für den
Freiwilligendienst „weltwärts“ zu schaffen. Durch die
Erweiterung der einschlägigen Vorschrift erhalten nunmehr auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“
umfassenden gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Das
besondere Engagement der jungen Menschen, das sich in
der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, erfährt damit
Anerkennung sowie den Schutz der Solidargemeinschaft.
Die Einbeziehung in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist insbesondere erforderlich im Hinblick
auf die mit der Tätigkeit im Ausland einhergehenden
gesteigerten Gefährdungsrisiken, die besondere Anforderungen an die Prävention stellen. Da es sich zudem um
einen Dienst handelt, der festen Rahmenbedingungen
unterliegt und mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, ist
die Erweiterung zugunsten der jungen Menschen, die im
Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ Aufgaben im Ausland übernehmen, gerechtfertigt.
Zuständig wird die Unfallkasse des Bundes. Die alleinige Zuständigkeit eines Unfallversicherungsträgers ist
erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Versicherungsschutzes, insbesondere auch der Prävention, zu
erreichen. Die gesetzliche Zuweisung ist darüber hinaus
auch sachgerecht, da die Unfallkasse des Bundes durch
ihre langjährige Erfahrung im Hinblick auf den Versicherungsschutz von Entwicklungshelfern sowie von Mitarbeitern der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH besondere Kenntnisse im Bereich der
weltweiten Gesundheitsgefahren und der erforderlichen
Prävention hat. Zudem wird dieser Dienst mit öffentlichen
Mitteln gefördert.
Bei den weiteren Änderungen im Gesetzentwurf - das
liegt im Charakter eines „Omnibusgesetzes“ - handelt es
sich um kleinere Anpassungen in einer Vielzahl von
gesetzlichen Vorschriften, die jede für sich keine zentrale
politische Bedeutung haben, aber trotzdem für die tägliche Verfahrenspraxis unserer Sozialversicherungsträger
und der Sozialgerichte von Bedeutung sind. Diese Vorschläge gehen auf Anregungen aus der Praxis zurück und
werden mit diesem Gesetz zeitnah umgesetzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12596 an die Ausschüsse, die
in der Tagesordnung aufgeführt sind, vorgeschlagen. Dazu gibt es offenbar keine anderen Vorschläge. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen
- Drucksachen 16/11663, 16/12514 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Eichhorn
Rolf Koschorrek, Mechthild Rawert, Konrad Schily,
Frank Spieth und Elisabeth Scharfenberg haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Die Einschränkungen der Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen, die im Rahmen des GKVModernisierungsgesetzes zum 1. Januar 2004 eingeführt
wurden, erfolgten primär aus finanziellen Gründen. Zu
diesem Zeitpunkt wurden aus finanziellen Gründen auch
andere Kostenbeteiligungen erhöht bzw. eingeführt.
Die Einschränkungen hinsichtlich der Höchst- und
Mindestaltersgrenzen für die künstliche Befruchtung sowie die Begrenzung von vier auf drei Versuche wurden
keineswegs willkürlich und auch nicht unter rein finanziellen Aspekten gewählt. Vielmehr wurden die Beschränkungen aufgrund einschlägiger Forschungsergebnisse
festgelegt. Maßgeblich waren dabei die medizinische
Notwendigkeit und die Erfolgsaussicht der Behandlungen. Wie mein Kollege Hubert Hüppe bereits anlässlich
der ersten Beratung des vorliegenden Antrags im Februar dieses Jahres ausführte, hat der Bundesausschuss
der Ärzte und Krankenkassen den Altersbegrenzungen
wie auch der Beschränkung auf drei Versuche ausdrücklich zugestimmt. Die derzeitige Regelung für die eingeschränkte Kostenübernahme durch die GKV-Kassen
wurde darüber hinaus vom Bundessozialgericht bestätigt.
Während die Diagnostik der ungewollten Kinderlosigkeit sowie die Behandlungen, Medikamente und Eingriffe
für eine Herstellung der Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit ebenso wie die psychotherapeutische Behandlung
in diesem Kontext fraglos von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen werden, ist die Unterstützung
und finanzielle Förderung für die Erfüllung des Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung auch eine familienpolitische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie
ist nicht ausschließlich eine gesundheitspolitische Maßnahme, die von der gesetzlichen Krankenversicherung zu
zahlen ist. Dies dürfte vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Geburtenrückgangs und der weitreichenden gesellschaftlichen und sozialen Folgen dieser demografischen Entwicklung, die eine Reihe von weitreichenden
Veränderungen mit sich bringt und unser Sozialsystem
vor große Herausforderungen stellt, ganz klar sein. Insofern ist die Kostenübernahme für Maßnahmen der reproduktiven Medizin eindeutig eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die durch Steuermittel und nicht durch die GKV
zu tragen ist. Eine weitere Erhöhung der GKV-Beiträge
für eine bessere und vollständige Finanzierung der Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, so wie sie die Fraktion der Linken in dem hier vorliegenden Antrag fordert,
wäre für die Beitragszahler weder einsehbar noch zumutbar.
In der CDU/CSU besteht Konsens darüber, dass es unser Wunsch und Ziel ist, einer noch größeren Zahl von
Paaren zur Erfüllung ihres Kinderwunschs mithilfe der
künstlichen Befruchtung zu verhelfen. Dabei stehen wir
auch einer vollen Finanzierung reproduktiver Maßnahmen im Grundsatz absolut positiv gegenüber. Da die Finanzierung jedoch bei realistischer und ehrlicher Betrachtung von den öffentlichen Haushalten nicht im
vollen Umfang für alle Betroffenen zu leisten sein wird, ist
es zum Beispiel denkbar, einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss einzuführen, der nach finanzieller Bedürftigkeit gestaffelt wird. So könnten wir es künftig verhindern,
dass Paare wegen der nicht unerheblichen Kostenbeteiligung von 50 Prozent an den ersten drei Versuchen auf
eine reproduktionsmedizinische Behandlung verzichten
oder die Versuche hierzu vorzeitig abbrechen.
Dafür tritt auch unsere CDU-Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ein. Um Paaren mit Kinderwunsch auch in schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen den Zugang zu den Methoden der modernen
Reproduktionsmedizin zu ermöglichen, begrüßt sie ganz
ausdrücklich die von der CDU-geführten Landesregierung in Sachsen beschlossene Regelung zur Kostenübernahme für die Kinderwunschbehandlung. Die Ministerin
prüft, inwieweit ergänzend zu einem Länderanteil zur Finanzierung einer Kinderwunschbehandlung gegebenenfalls auch Mittel aus dem Haushalt des Bundesfamilienministeriums bereitgestellt werden können. Sachsen hat
als erstes Bundesland eine zusätzliche Förderung der
künstlichen Befruchtung aus den Mitteln seines Landeshaushaltes beschlossen und damit eine Vorreiterrolle
übernommen. Das Land zahlt seit März dieses Jahres für
die zweite und dritte Behandlung zur künstlichen Befruchtung jeweils bis zu 900 Euro und für die vierte bis zu
1 800 Euro. Die ebenfalls CDU-geführten Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Hessen wollen daraufhin eine ergänzende finanzielle Unterstützung für die
Kinderwunschbehandlung aus den Haushalten ihrer jeweiligen Länder prüfen. Aber im rot-roten Berliner Senat,
der Landesregierung, wo die Linken an der Regierungsverantwortung beteiligt sind, wird eine finanzielle Unterstützung für die ungewollt kinderlosen Paare nicht einmal
in Erwägung gezogen, sondern mit Hinweis auf die angespannte Haushaltslage abgeschmettert.
Wir können uns glücklich schätzen, in einer Zeit zu leben, in der der medizinische Fortschritt uns eine Viel23680
zahl von neuen und stetig wachsenden Möglichkeiten
zur Diagnose und Therapie von Krankheiten erlaubt.
Dies bedeutet für viele Menschen eine verbesserte Lebensqualität und dass sie ein höheres Lebensalter erreichen. Auch auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin
verfügen wir heute über neue, modernste Methoden und
können bereits Erfolge erzielen, die noch vor einigen Jahren utopisch erschienen. Zugleich möchte ich gerade im
Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung davor
warnen, bei den ungewollt kinderlosen Paaren zu hohe
Erwartungen zu wecken und den Eindruck zu vermitteln,
eine Erfüllung des Kinderwunschs sei heute in jedem
Falle machbar, wenn man nur genügend Versuche zur
künstlichen Befruchtung auf sich nehme. Vielmehr muss
ins Bewusstsein gerufen und in die Beratung einbezogen
werden, wie der jeweils besonderen und individuellen Situation der betroffenen Paare angemessen Rechnung zu
tragen ist. Hier müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, um die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen der Paare zu verbessern. Wir dürfen keine unrealistischen Hoffnungen wecken, sondern wir müssen die
Paare mit Kinderwunsch realistisch über die Erfolgsaussichten, die medizinischen Risiken und die körperlichen
und psychischen Belastungen der Kinderwunschbehandlung aufklären.
Was bedeutet aktive Familienpolitik heute? Wenn es
nach dem vorliegenden Antrag „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ der Fraktion Die Linke
geht, Rückschritt. Die Behebung ungewollter Kinderlosigkeit durch künstliche Befruchtung ist jedoch sehr viel
mehr als Gesundheitspolitik, sie ist eine Herausforderung
für eine aktive Familienpolitik. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, den alten Rechtszustand von vor 2004
im Hinblick auf die Finanzierung der künstlichen Befruchtung ({0}) wiederherzustellen. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 27. Januar zum wiederholten Mal bestätigt
hat, dass die assistierte Reproduktion keine Krankheit ist,
deren Kosten voll von der Solidargemeinschaft der Versicherten zu tragen ist, beweist: Der Antrag der Linksfraktion geht fehl. Mir ist sehr wohl bewusst: Die Belastung
ungewollter Kinderlosigkeit ist für viele Menschen sehr
groß ist. Vor allem für wirtschaftlich schlechter gestellte
Paare ist es oft schwer, die erforderlichen Eigenleistungen für die Zyklen der assistierten Reproduktion aufzubringen. Der Rückgang der durch Maßnahmen der künstlichen Befruchtung erzielten Geburten von circa 19 000
auf gut 10 000 ist ein Indiz dafür. Deshalb ist hier eine
aktivere Familienpolitik der zuständigen Bundesfamilienministerin nötig!
Ich habe Frau von der Leyen deshalb im Rahmen der
ersten Lesung dieses Antrags aufgefordert, sich bei diesem Thema eindeutig zu positionieren und eine aktive
Familienpolitik zu betreiben. In der Folge wurden die
Initiativen einzelner Bundesländer zur Förderung der
künstlichen Befruchtung von der Ministerin zwar begrüßt, und es wurde angekündigt, für eine bundesweit
einheitliche Regelung eine mögliche Finanzierung durch
ihr Haus prüfen zu lassen. Bisher jedoch ist es leider nur
bei einer Prüfung ohne politische Konsequenzen seitens
des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen
und Jugend geblieben. Wenn Frau von der Leyen weiter
meint, sie hätte die Diskussion um die künftige Finanzierung der künstlichen Befruchtung belebt, dann ist mir das
eindeutig zu wenig. Wer A sagt, muss dann auch irgendwann B sagen.
Konkrete Pläne der Bundesfamilienministerin sind
aber leider auch aus den aktuellen Äußerungen des
Staatssekretärs Kues vom 17. April 2009 nicht zu erkennen. Eine Gesamtlösung durch das Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist aber notwendig, um einen föderalen Flickenteppich, wie er sich
jetzt leider andeutet, zu vermeiden. Deshalb gilt: Ein einheitliches familienpolitisches Konzept des zuständigen
Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zur künstlichen Befruchtung muss noch vor der Bundestagswahl im September auf den Tisch! Ein solches Konzept wäre auch eine logische Konsequenz der aktuellen
Rechtsprechung der Bundesverfassungsrichter und -richterinnen. Diese haben mit ihrem Beschluss erneut begründet, dass die seit dem 1. Januar 2004 geltende
Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ({1}) auf
einen Zuschuss von 50 Prozent verfassungsgemäß ist und
bleibt. Nach Ansicht der Karlsruher Richter beseitigt die
künstliche Befruchtung aus dem Reagenzglas keinen regelwidrigen körperlichen Zustand, sondern umgeht ihn
mithilfe medizinischer Technik, ohne auf dessen Heilung
zu zielen. Damit wird auch der von den CDU-geführten
Ländern Saarland, Sachsen und Thüringen in den Bundesrat eingebrachte und von der Länderkammer am
3. April 2009 erneut beschlossene Antrag zu diesem
Thema relativiert. Darin fordert der CDU-dominierte
Bundesrat die volle Kostenübernahme der künstlichen
Befruchtung durch die Krankenkassen. Die zusätzlichen
Kosten für die Krankenkassen werden auf 100 bis
150 Millionen Euro geschätzt. Im Hinblick auf die schon
erwähnte demografische Entwicklung seien alle Maßnahmen zu unterstützten und zu fördern, die „ansonsten
nicht realisierbare“ Kinderwünsche ermöglichen helfen
könnten, heißt es in diesem Antrag.
Die Karlsruher Richter und Richterinnen sehen die
derzeitige Regelung auch in Einklang mit Art. 3 des
Grundgesetzes, da das GKV-Modernisierungsgesetz von
2004 alle Versicherten rechtlich gleich behandle. Zwar
könne es leider vorkommen, dass finanziell schwache
Personen die Kosten für die künstliche Befruchtung ({2}) nicht oder nicht im gewünschten Umfang finanzieren können. In Bezug auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung bestehe jedoch keine
staatliche Verpflichtung des Gesetzgebers, die Entstehung einer Familie aus dem Finanzierungstopf der Beitragsgelder der gesetzlichen Krankenversicherung zu
fördern. Es handle sich um eine in seinem Ermessen stehende Leistung, die nicht medizinisch für eine Therapie
notwendig sei, sondern die Wünsche einer/eines Versicherten für ihre/seine individuelle Lebensgestaltung betreffe. Soweit die Rechtsprechung, die für viele ungewollt
Kinderlose - das ist mir aus vielen Gesprächen bewusst Zu Protokoll gegebene Reden
schwer zu ertragen ist. Nicht zu ertragen sind aber auch
Äußerungen aus den Reihen der CDU ({3}), wonach unsere Gesellschaft die Finanzierung von
Abtreibungen durch die Krankenkassen zulasse, der Kinderwunsch jedoch finanziell bestraft werde. Das macht
deutlich, welch Geistes Kind einige ältere Herren aus den
Reihen der Christdemokraten sind. Man könnte fast den
Eindruck gewinnen, die Solidargemeinschaft hätte sich
aus der Finanzierung von medizinischer Hilfe bei Kinderlosigkeit komplett zurückgezogen. Deshalb hier noch mal
zu Erinnerung: Alle Mitglieder der GKV haben - unter
anderem aufgrund des § 27 SGB V - bei ungewollter Kinderlosigkeit weiterhin einen Leistungsanspruch auf
Krankenbehandlung! Die Kosten für die Diagnostik der
ungewollten Kinderlosigkeit werden grundsätzlich übernommen und durch Beitragsgelder und Steuerzuschüsse
finanziert. Dies gilt auch für medizinische Maßnahmen
zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit
beispielsweise durch chirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamenten oder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung. Die beschriebenen Maßnahmen
haben Vorrang vor der künstlichen Befruchtung durch
zum Beispiel intrauterine Insemination ({4}), durch die
In-vitro-Fertilisation ({5}) und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion ({6}). Wenn diese Maßnahmen
nicht greifen, übernimmt die zuständige Krankenkasse
für Ehepaare 50 Prozent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zu drei Versuche. Grundlage ist der von
ihr im Vorfeld zu bewilligende Behandlungsplan. Die
übrigen 50 Prozent sind als Eigenanteil zu erbringen.
Doch zurück zum Antrag der Linksfraktion. Bei der
Lektüre der Begründung des Antrags der Fraktion Die
Linke fühlte ich mich auch an ein Zitat von Adalbert
Stifter erinnert, das da lautet:
Das Leben scheint unendlich lang, solang man
noch jung ist. Man meint noch viel Zeit vor sich zu
haben und erst einen kurzen Weg gegangen zu sein.
Vieles schiebt man deshalb auf die lange Bank, in
dem Glauben, es jederzeit nachholen zu können.
Aber wenn man es vornehmen will, ist es zu spät,
und man merkt, dass man alt ist.
Lassen Sie mich kurz erläutern, was ich damit meine:
Die Linke spricht sich in ihrem Antrag „Kürzungen bei
künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ unter anderem
dafür aus, die Altersgrenzen bei der sogenannten assistierten Reproduktion wieder anzuheben. Die volle Kostenübernahme für Versuche der künstlichen Befruchtung
soll bei Männern über das 50. Lebensjahr und bei Frauen
über das 40. Lebensjahr hinaus greifen. Die derzeit gültigen Altersgrenzen ({7}) wurden im Rahmen des
GKV-Modernisierungsgesetzes im Jahr 2004 im Bereich
der künstlichen Befruchtung als letzte Förderungsmöglichkeit der gesetzlichen Krankenversicherungen festgelegt. Hebt man diese Altersgrenzen jedoch wieder an, wie
es Die Linke mit ihrem Antrag beabsichtigt, kann ich nur
einmal mehr Adalbert Stifter in Erinnerung rufen: Dann
nämlich kann es für so manche Frau und manchen Mann
erst recht zu spät sein, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Der Antrag der Fraktion Die Linke bedeutet deshalb
ein vollkommen falsches gesellschafts- und familienpolitisches Signal an die Frauen und Männer in unserem
Land.
Was heißt das für die Kinder und die Eltern in der Zukunft? Unsere Gesellschaft wird, diese Tatsache ist unstrittig und höchst positiv zu bewerten, immer älter. Dafür
sorgt auch der medizinische Fortschritt. Heißt das aber
zwangsläufig auch, dass Eltern immer älter werden müssen und - bitte verzeihen Sie die Polemik - ihre Kinder
künftig bevorzugt nach dem eigenen Renteneintritt einschulen? Wer die Altersgrenze, bis zu der Paare mit staatlicher Unterstützung Eltern werden können, immer weiter
nach hinten verschiebt, gibt dem Primat der ökonomischen Verwirklichung einen zu weiten Raum. Viele Bürgerinnen und Bürger denken doch heute schon: Kinder und
Familiengründung müssen warten, bis ich im Beruf erfolgreich und fest verankert bin. - Darum schieben sie die
Entscheidung für Kinder und für eine Familiengründung
oft so weit auf, bis ihnen die Biologie die Entscheidung
auf oft schmerzliche Weise abnimmt.
Ich hatte diesen entscheidenden Punkt, der meiner
Meinung nach in der gesamten Debatte noch zu kurz
kommt, bereits in meiner Rede vom Februar angesprochen ({8}) und wiederhole ihn heute gern: Wir müssen
Frauen, aber eben auch Männer in ihrem Wunsch unterstützen, möglichst frühzeitig Familie und Karriere miteinander verbinden zu können. Wir müssen zusammen mit
den Kolleginnen und Kollegen auf Länderebene noch
bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Frauen und
Männer nicht vor dem Dilemma „Karriere oder Kind“
stehen. Hier ist aber nicht nur der Gesetzgeber im Bund
und in den Ländern gefragt. Auch Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber müssen, zum Beispiel mit der Ausgestaltung
flexiblerer Arbeitszeitmodelle, ihren Teil dazu beitragen.
Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher werden. Gerade weil wir alle viel mehr Kinder in unserem
Land wollen, ist für eine erfolgreiche und lebenswerte Zukunft unseres Gemeinwesens eine verbesserte Familienpolitik vorrangig. Ich begrüße in diesem Zusammenhang
noch einmal die Initiative des Bundeslandes Sachsen, wo
die künstliche Befruchtung bei Frauen als familienpolitische Leistung unter bestimmten Voraussetzungen ab dem
zweiten Versuch finanziell gefördert wird. Andere Länder
prüfen in ihren Budgets die Spielräume für ähnliche Maßnahmen. Es muss jedoch eine bundeseinheitliche Lösung
der Familienpolitik geben, damit nicht der Wohnort darüber bestimmt, ob Frauen und Männer eine künstliche
Befruchtung finanziert bekommen oder nicht.
Bei der ganzen, oft emotional geführten Debatte sollten wir auch folgende Punkte nicht aus den Augen verlieren. Viele Faktoren spielen für eine erfolgreiche künstliche Befruchtung eine Rolle: Neben dem Alter entscheidet
auch die gesundheitliche Verfassung über Erfolg und
Misserfolg. Vor allem die psychische und physische Belastung der Frauen und Männer ist während einer Behandlung enorm hoch. Nicht selten sind es auch seelische
Gründe, die einer Schwangerschaft im Wege stehen. Hier
helfen in vorbildlicher Weise - auch in Berlin - SelbsthilZu Protokoll gegebene Reden
fegruppen weiter, die bei der psychologischen Betreuung
und Beratung von Betroffenen helfen. Ebenso wenig
sollte verschwiegen werden, dass es mit der Verbreitung
der sogenannten assistierten Reproduktion zu vermehrten
Mehrlingsschwangerschaften kommt. Insgesamt 40 Prozent der Kinder, die in Deutschland nach assistierter Reproduktion geboren werden, sind Mehrlinge. Das Problem dabei: Das Gesundheitsrisiko für Mutter ({9}) und Kinder ({10}) steigt bei Mehrlingsgeburten deutlich. Bei
allen medizinischen Möglichkeiten der Moderne: Die
Hauptursache für ungewollte Kinderlosigkeit ist und
bleibt die Verschiebung der Familienplanung in spätere
Lebensphasen. Hier muss auch die Politik dringend Antworten finden. Die SPD war und ist der Motor des familienpolitischen Paradigmenwechsels der vergangenen
zehn Jahre - nicht die Fraktion Die Linke und auch nicht
Ministerin von der Leyen. Wir waren die Partei, die in den
vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen hat,
dass Frauen und Männer Beruf und Familie besser unter
einen Hut bekommen. Doch noch ist hier nicht das Ende
der Fahnenstange erreicht: Nach wie vor sind es die
Frauen, die für die Familie und den Haushalt hauptverantwortlich sind. Nach wie vor sind sie es, die den Großteil der Elternzeit nehmen und dafür aus dem Beruf
aussteigen. Wir brauchen ein neues Verständnis von Familien ein Familienverständnis von zwei gleichberechtigten Partnern, für die Kinder nicht zum Karrierehemmnis
werden und im schlimmsten Fall den Ausstieg aus dem
Erwerbsleben bedeuten. Hierfür brauchen wir auch eine
Neugestaltung unseres Steuerrechts, gleiche Karrierechancen für Frauen durch ein Gleichstellungsgesetz für die
Privatwirtschaft, mehr Väter in der Familie, den Ausbau
staatlicher Infrastruktur und vieles mehr. Auch das ist aktive Familienpolitik!
Mein Fazit: Die Linke glaubt, der Komplexität der Materie durch den einseitigen Fokus auf die Finanzierung
gerecht zu werden. Hier irrt sie. Die Linke will die finanziellen Hilfen bei künstlichen Befruchtungen aus Beitragsgeldern erhöhen. Zur Ausweitung der jetzigen Leistungen bei künstlicher Befruchtung auf alle, hetero- und
homosexuellen, Lebensformen und damit die familienpolitische Gleichstellung von Regenbogen- und anderen Familien findet sich in der Begründung des Antrags aber
nur die vage Formulierung, dass „die derzeitige Begrenzung auf verheiratete Paare einer erweiterten Regelung
bedarf“. Klar ist, dass im Sinne ungewollt kinderloser
Paare die Diskussion fortgeführt werden muss. Wer aber
den Betroffenen wirklich helfen und nicht nur ein Thema
besetzen will, muss ein stringentes gesundheits- und vor
allem familienpolitisches Maßnahmebündel schnüren
und es entsprechend formulieren. Das aber erfüllt der Antrag der Fraktion Die Linke zu „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ weiterhin nicht. Die
SPD-Fraktion lehnt den Antrag deshalb ab.
Wie wir alle wissen, ist die Kinderlosigkeit ein sehr
emotional diskutiertes Thema in Deutschland. Künstliche
Befruchtungen scheinen die glückbringende Lösung für
den biografischen „Störfall“ der Kinderlosigkeit zu sein.
Das ist ein Trugschluss! Ich bin als Arzt davon überzeugt,
dass die medizinisch-psychologischen Risiken und die
Komplexität der Problematik einer sensiblen Betrachtung bedürfen. Nur eine Rücknahme der im GKV-Modernisierungsgesetz vorgenommenen Einschränkungen der
Kostenübernahme für Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung - wie es der Antrag der Linken vorsieht - greift
hier zu kurz. Zudem ist ein originär familien- und sozialpolitisches Problem wie die Kinderlosigkeit nicht allein
auf technischem Wege zu lösen. Vielmehr sollte diese sensible Thematik über eine Ausweitung von Informationsund Aufklärungsangeboten auch über gesundheitliche
Risiken und Folgeschäden ergänzt werden.
Wir vertreten die Position, dass die Finanzierung der
künstlichen Befruchtung nicht in den Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenkassen gehört, sondern, wenn
bevölkerungspolitisch erwünscht, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die aus Steuermitteln finanziert
werden muss.
Den vorliegenden Antrag lehnen wir aus den dargelegten Gründen ab.
Eine künstliche Befruchtung darf nicht vom Geldbeutel
der betroffenen Paare abhängen. Seit 2004 müssen die
Betroffenen jedoch die Hälfte der Kosten selbst tragen.
Diese finanzielle Hürde, die CDU/CSU, SPD und Grüne
geschaffen haben, wollen wir wieder abschaffen.
Die Betroffenen müssen zahlen, können es aber oft
nicht. Durch die Gesetzesänderung 2004 sind die Geburten
nach künstlicher Befruchtung um etwa die Hälfte eingebrochen und verharren seitdem auf diesem Niveau. Im
Klartext bedeutet das: Dahinter stecken Tausende Betroffene, die gerne ein Kind bekämen, aber das Geld für die
künstliche Befruchtung nicht auftreiben können. Knapp
50 000 Behandlungen pro Jahr werden seitdem weniger
durchgeführt. Pro Versuch müssen die Betroffenen etwa
1 750 Euro draufzahlen. Da der vierte Versuch seit 2004
gar nicht mehr übernommen wird, sind dies nach vier
Versuchen etwa 8 750 Euro Eigenbeteiligung. Das können
viele Paare mit Kinderwunsch nicht aufbringen.
Seit wir dies fordern und aus den Bundesländern ähnliche Vorschläge kommen, gibt es wieder eine breite öffentliche Debatte zum Thema. Noch vor eineinhalb Jahren, als
wir die künstliche Befruchtung auch für nichtverheiratete
Paare gefordert haben, hat dieses Thema kaum jemanden
interessiert. Ich finde es gut, dass dies jetzt anders ist. Offenkundig wird in allen Fraktionen die Begrenzung der künstlichen Befruchtung auf drei Versuche und die 50-prozentige
Kostenbeteiligung der Betroffenen als problematisch angesehen.
Selbst die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf.
Leider mit vollkommen unterschiedlichen Lösungsansätzen.
Die Bundesgesundheitsministerin sagt, die Finanzierung
der künstlichen Befruchtung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und daher aus Steuermitteln zu bezahlen
und nicht durch Krankenversicherungsbeiträge. Sie will,
dass das Bundesfamilienministerium dies regelt. Ja, diesem
Zu Protokoll gegebene Reden
Lösungspfad kann man folgen. Dann muss aber endlich
gehandelt werden. Die Familienministerin fordert mehr
Unterstützung für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch.
Ja, dann frage ich: Warum machen Sie das nicht endlich?
Sie sind die Regierung. Sie haben im Bundestag fast drei
Viertel der Sitze. Sie haben die Mehrheit im Bundesrat.
Die Bundesländer haben ja im Bundesrat gefordert, wieder
zum alten Gesetzeszustand des Jahres 2003, also vor der
Kürzung, zurückzukehren. Die einzigen, die hier bremsen,
sind die Bundesregierung und die große Koalition aus
Union und SPD.
Ich habe den Eindruck, es wird getarnt, getäuscht, getrickst, und das auf dem Rücken der Betroffenen. Das ist
nicht christdemokratisch und auch nicht sozialdemokratisch. Das ist absurd und zynisch.
Die Bundesfamilienministerin hat angekündigt, in die
nächsten Haushaltsgespräche die Frage der Finanzierung
der künstlichen Befruchtung einzubringen. Weshalb so
zögerlich? Bei anderen Projekten der Bundesregierung
wird ganz schnell und ohne formale Haushaltsberatung
deutlich mehr Geld eingestellt. Ich will an dieser Stelle gar
nicht über die 500 Milliarden Euro für den Bankenrettungsschirm reden. Einen Vergleich möchte ich allerdings
ziehen, und zwar zu Ihrer Handlungsfähigkeit im Rahmen
des Konjunkturpaketes II und der darin verabredeten
Abwrackprämie. Den Umtausch von alten Autos in neue
fördert die Bundesregierung mittlerwelle insgesamt mit
einem Finanzvolumen von 5 Milliarden Euro. Die Kürzungen bei der künstlichen Befruchtung zurückzunehmen,
würde etwa 100 Millionen Euro pro Jahr kosten. Wir
könnten also mit dem gleichen Mittelansatz wie bei der
Abwrackprämie 50 Jahre lang die Vollfinanzierung der
künstlichen Befruchtung sicherstellen. Fürwahr ein
humanitäres und soziales Zukunftsprojekt für unsere Gesellschaft.
Es geht also wie so oft um die Gretchenfrage: „Was
sind uns Kinder, was Familien wert?“ Wir schlagen vor,
dass die Krankenkassen zukünftig wieder vier Versuche
voll übernehmen, dafür aber als Ausgleich einen entsprechend erhöhten Steuerzuschuss erhalten sollen. Faktisch
soll also zukünftig die Hälfte der Gesamtkosten von der
gesetzlichen Krankenversicherung, die andere Hälfte aus
Steuern bezahlt werden. Die Koalitionsfraktionen lehnen
dies bislang ab.
Genau bei dieser Gretchenfrage zeigen sich die tatsächlichen Prioritäten der Bundesregierung und der Koalition.
Es geht nicht darum, dass kein Geld da ist, sondern dass
man es nicht für die künstliche. Befruchtung bereitstellen
will.
Ich befürchte, dass die Mehrheit in diesem Hause unseren Antrag ablehnen wird. Und dies nur deshalb, weil er
von der Linken kommt. Auf die Inhalte kommt es der Koalition sehr wahrscheinlich nicht an. Wenn Sie aber schon
unseren Antrag ablehnen, dann hören Sie wenigstens auf
den Bundesrat, der in seiner Sitzung am 3. April 2009 erneut gefordert hat, die Kürzungen zurückzunehmen. Der
Bundesrat fordert die komplette Übernahme der Kosten,
aber ausschließlich durch die Krankenkassen. Dies entspricht nicht ganz unseren Vorstellungen, wäre aber für
die Betroffenen eine große Hilfe.
Eine solche Änderung ließe sich in dem derzeit laufenden
Verfahren zum Arzneimittelgesetz ganz einfach unterbringen. Das ist die letzte Chance vor der Bundestagswahl, den
Betroffenen zu helfen.
Wir Grüne wissen, dass das Thema der künstlichen Befruchtung die Menschen, die ungewollt kinderlos sind
und sich sehnlich ein Kind wünschen, sehr stark belasten
kann. Sie sind bereit, alles erdenklich Mögliche dafür zu
tun, und erwarten dafür die uneingeschränkte gesellschaftliche Solidarität durch die Krankenversicherung.
Sie stoßen jedoch auf rechtliche Beschränkungen, wie die
Beteiligung an einer eingeschränkten Anzahl von Versuchen, vergleichsweise hohe Zuzahlungen oder Altersgrenzen bei der künstlichen Befruchtung. Dies empfinden
die Betroffenen als zusätzliche Belastung und als rein
technokratische Hemmnisse.
Der Antrag der Linken wie auch der entsprechende
Antrag des Bundesrates geben vor, diese Empfindungen
aufzugreifen und eine Lösung dafür anzubieten. Auch wir
Grüne können die Belastung der Betroffenen sehr gut
nachvollziehen und wollen sie keineswegs wegreden.
Dennoch lehnen wir den Antrag der Linken ab. Wenngleich das Thema natürlich sehr emotional ist, halten wir
es für wichtig, das Für und Wider in dieser Debatte genau
und sachlich abzuwägen. Und dabei liegt uns das Wohl
der betroffenen Frauen und Männer sehr wohl am Herzen. Wir in der Politik müssen aber bei unseren Entscheidungen das Problem abstrahieren und dabei auch die Interessen anderer in den Blick nehmen, zum Beispiel die
der Beitragszahlerinnen und -zahler, für die der Vorschlag der Linken eine Mehrbelastung bedeuten würde.
Gleichzeitig bestehen hier auch wirtschaftliche Interessen von Pharmaunternehmen und Praxen .
Bereits in der ersten Lesung des Antrags im Februar
haben wir deutlich gemacht, dass die Linke nicht weiß,
was sie will. Erst im Jahr 2008 forderte sie in einem Antrag zum selben Thema, dass der von den Krankenkassen
zu übernehmende hälftige Anteil der Kosten der künstlichen Befruchtung nicht nur Ehepaaren, sondern auch
nichtehelichen Partnern zugute kommen müsse. In ihrem
aktuellen Antrag fordert die Linke, dass die Krankenkassen wieder die vollen Kosten der künstlichen Befruchtung
übernehmen - aber nur für Ehepaare. Diesen merkwürdigen, konservativen Sinneswandel zu erklären, unterlässt die Linke, weil sie es vermutlich gar nicht kann.
Alleinstehende Frauen oder Lesben sollen von dem
aktuellen Vorschlag der Linken nicht profitieren. Doch
auch sie können selbstverständlich stark unter einem unerfüllten Kinderwunsch leiden. Wo bleibt das Verständnis
der Linksfraktion für diese Frauen? Spielt bei ihnen das
Selbstbestimmungsrecht, mit dem die Linke argumentiert,
keine Rolle?
Alle Änderungen zur künstlichen Befruchtung, die mit
der Gesundheitsreform 2003 vorgenommen wurden, sollen nach Ansicht der Linken pauschal zurückgenommen
werden. Auch die Altersgrenzen für Frauen wie Männer
sollen wieder abgeschafft werden. Diese Altersgrenzen
Zu Protokoll gegebene Reden
sind 2003, entgegen der Meinung der Linken, nicht etwa
willkürlich, sondern nach reiflicher Überlegung ins Gesetz aufgenommen worden. Die Altersgrenzen sollen
junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr davor schützen, womöglich überstürzt eine unnötige Maßnahme der künstlichen Befruchtung vornehmen zu lassen. Genauso sollen
Frauen nach dem 40. Lebensjahr vor solchen Maßnahmen bewahrt werden, denn mit steigendem Alter steigt
auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung erfolglos bleibt. Denn es handelt sich keineswegs um Bagatellbehandlungen. Und viele Behandlungen führen nicht zum
gewünschten Ergebnis - einem Kind. Auch dies sollte klar
ausgesprochen werden. Eben darum warnen wir Grüne
vor einer zu unkritischen Haltung gegenüber Methoden
der künstlichen Befruchtung, wie der ICSI oder der IVF.
Und eben darum stehen wir zu den geltenden gesetzlichen
Bestimmungen, die Bestandteil eines damaligen Kompromisspaketes zwischen SPD, CDU/CSU und Grünen waren.
Die Altersgrenzen wie auch der zu zahlende Eigenanteil sind im Übrigen in verschiedenen Urteilen des BSG
für rechtmäßig erklärt worden. Das bestätigt, dass der
Gesetzgeber damals wohlüberlegt und nicht etwa willkürlich gehandelt hat. Für uns ist die Debatte deshalb jedoch nicht erledigt. Das haben wir bereits in der ersten
Lesung zu diesem Antrag deutlich gemacht. Wir sind sehr
wohl im Interesse der Betroffenen dafür, weiter zu diskutieren und neue Erkenntnisse zu erzielen. Dabei jedoch
ausschließlich über die finanziellen Rahmenbedingungen
der künstlichen Befruchtung zu streiten, ist viel zu kurz
gesprungen und wird auch den Betroffenen nicht gerecht.
Es geht um mehr als um die Finanzierung der Behandlung, nämlich auch darum, wie riskant und wie wirksam
die Behandlungen wirklich sind.
Nicht zuletzt darum haben wir Grüne und auch die
SPD - nicht etwa die Linke - vorgeschlagen, dass wir einen Bericht über den Stand, die Vorteile, Risiken und die
Perspektiven der Fortpflanzungsmedizin brauchen. Diesem Vorschlag ist der Forschungsausschuss des Bundestages gefolgt. Das Büro für Technikfolgenabschätzung,
TAB, wird eine entsprechende Studie erstellen. Darin sollen Methoden der Fortpflanzungsmedizin, aber auch
nichttechnische Maßnahmen, zum Beispiel die psychosoziale Beratung, in ihrer Wirksamkeit auch im internationalen Vergleich beleuchtet werden. Nicht zuletzt soll
daraus abgeleitet werden, ob die rechtlichen und auch
nichtrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland
ausreichend oder womöglich verbesserungswürdig sind.
Die Ergebnisse dieser Studie sollen etwa Mitte nächsten Jahres vorliegen. Dies ist ein absehbarer Zeitraum.
Wir plädieren nochmals dafür, diesen Bericht und seine
Empfehlungen abzuwarten, um dann auf dieser Grundlage die Debatte fortzuführen. In der Zwischenzeit sollte
man auf widersprüchliche und wenig durchdachte Vorstöße wie den der Linken doch bitte verzichten.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12514, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11663
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Zustimmung des Hauses im Übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 26:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Bürgerportalen und zur Änderung
weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/12598 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Clemens Binninger, Michael Bürsch, Gisela Piltz, Jan
Korte und Silke Stokar von Neuforn haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.
Unser Kommunikations- und Informationsverhalten
verändert sich. Dem tragen wir mit dem sogenannten
Bürgerportalgesetz Rechnung. Hinter dem Bürgerportalgesetz steht das Projekt De-Mail - ein sicherer und zuverlässiger Weg, Informationen per E-Mail zu verschicken.
Ergänzt wird De-Mail mit einer sicheren Dokumentenablage namens De-Safe und dem elektronischen Identitätsnachweis De-Ident.
Das Internet ist aus dem täglichen Leben der meisten
Deutschen nicht mehr wegzudenken. Rund 70 Prozent aller Privathaushalte in Deutschland haben einen Internetzugang. Das ist fast ein Fünftel mehr als noch 2003. Alle
Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten und auch die
meisten kleineren Unternehmen verfügen über einen Internetzugang. Das bietet neue Möglichkeiten und neue
Herausforderungen, vor denen auch die öffentliche Verwaltung steht. Bereits 2007 nutzten rund die Hälfte der
Unternehmen mit Internetzugang e-Government-Angebote. Beim e-Government sind 14 500 Kommunen, die
16 Länder und der Bund aktiv.
Wir erfahren es täglich: Mit der Nutzung moderner
Kommunikations- und Informationstechnologie ist im
Privaten wie im Geschäftlichen vieles einfacher, schneller und kostengünstiger geworden. Einkaufen, Bankgeschäfte erledigen, Reisen buchen - all das ist heute für die
meisten von uns nicht mehr ohne Internet und E-Mail
denkbar. Aber: Die Entwicklung der Informations- und
Kommunikationssysteme hat nicht nur positive Seiten.
Unsere IT-Infrastrukturen sind zunehmend auch Ziel von
Angriffen, von denen jeder Nutzer betroffen ist. Bereits
4 Millionen Deutsche sind Opfer von Internetkriminalität
geworden. Beispiele könnte man viele nennen: Laut Umfragen aus dem Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung sind von rund 100 empfangenen E-Mails
durchschnittlich gerade einmal 1,5 Mails gewünscht.
Personenbezogene Daten, Passworte und Zugangsinformationen werden gestohlen, missbraucht und zu Geld gemacht. Ich denke, gerade diese Gefahren spiegeln sich im
Bewusstsein der Öffentlichkeit und in der Wahrnehmung
des einzelnen Nutzers nicht ausreichend wider. Diese Gefährdungen bedrohen in steigendem Maße private Kommunikation und wirtschaftliche Aktivitäten.
Deshalb müssen private Nutzer, Wirtschaft und Verwaltung ein großes Interesse an sicherer Kommunikation
haben. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für mehr Sicherheit in der elektronischen Kommunikation sind dabei
sichere Verfahren, die ohne hohen technischen und finanziellen Aufwand genutzt werden können. Das spielt gerade für die private Nutzung und für viele kleine und mittlere Unternehmen eine große Rolle. Solche Verfahren gibt
es heute praktisch nicht. Eine Folge: Mangels Alternativen werden viel zu oft persönliche, sensible oder interne
Informationen über E-Mails verschickt - und das, obwohl
fast jede normale E-Mail mit der nötigen kriminellen
Energie und begrenztem Aufwand auf dem Weg durchs
Internet wie eine Postkarte mitgelesen werden kann.
Möchte man derartige Sicherheitslücken vermeiden, wird
oft ausgedruckt und über den Postweg versendet.
Die Bundesregierung setzt daher im Rahmen der
Hightech-Strategie die Rahmenbedingungen für eine effiziente und sichere vernetze Kommunikation. Das Gesetz
zur Regelung von Bürgerportalen, über das wir heute
sprechen, ist hier ein ganz wesentlicher Baustein. Kern
des Bürgerportalgesetzes ist De-Mail. Unter dem Stichwort De-Mail kann sicher, zuverlässig und vertraulich
über das Internet kommuniziert werden. Den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft wird in Deutschland
damit die Möglichkeit gegeben, eine authentische elektronische Adresse anzulegen, die mit der normalen Anschrift vergleichbar ist. Hinter allen De-Mail-Adressen
stehen jeweils sicher identifizierte Kommunikationspartner. Ergänzt wird De-Mail durch eine sichere Dokumentenablage, den De-Safe, und einen benutzerfreundlichen,
elektronischen Identitätsnachweis, De-Ident.
Für die Kommunikation mit den unter De-Mail zusammengefassten Diensten werden besondere Sicherheitsstandards gelten, die der Bund vorgibt. Diese Voraussetzungen müssen Anbieter von De-Mail erfüllen, um
zugelassen zu werden. Die Kommunikation wird geschützt vor unerwünschtem Mitlesen, vor Datendiebstahl,
vor Internetbetrug und Spam. Damit können sensible und
vertrauliche Inhalte sowie rechtlich relevante Dokumente
künftig genauso effizient, schnell und kostengünstig versandt werden wie mit einer herkömmlichen E-Mail. Der
große Vorteil: De-Mail und die damit verbundenen Angebote sind sicher, die Daten sind geschützt!
Das Bürgerportalgesetz schafft den dafür notwendigen Rechtsrahmen. De-Mail wurde zusammen mit der
Wirtschaft entwickelt. Versicherungen, Banken, Sparkassen, Handwerk, Steuerberater, Anwälte und natürlich
auch Unternehmen aus der IT-Wirtschaft haben ein großes Interesse an diesem Projekt. Zusammen mit Datenschützern und Datenschutzverbänden wurden die Sicherheitsstandards entwickelt. Das Gesetz regelt, welche
Kriterien ein Unternehmen, das die Infrastruktur für DeMail anbieten will, erfüllen muss. Dazu gehören insbesondere die Einheitlichkeit, Sicherheit und der Datenschutz der angebotenen Postfach-, Versand- und Speicherdienste. Es regelt zudem zum Beispiel die Aufsicht,
Deckungsvorsorge und die Modalitäten zur Eröffnung
und Sperrung von De-Mail-Konten. Wichtig ist mir dabei: Die Anbieter von De-Mail-Diensten werden kontrolliert und vom Staat zertifiziert, um höchste Sicherheitsstandards zu garantieren.
Mit dem elektronischen Personalausweis, den wir im
letzten Jahr beschlossen haben, und auch mit De-Mail
bieten wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei ganz wesentliche Elemente, die zu mehr Sicherheit beitragen und
das Vertrauen in e-Government und elektronische Kommunikation erhöhen.
De-Mail bietet aber nicht nur mehr Sicherheit und Datenschutz, sondern hat auch einen ganz wesentlichen
wirtschaftlichen Aspekt. Unternehmen in Deutschland
werden in Zukunft durch Umstellung auf sichere elektronische Kommunikation und beschleunigte Geschäftsprozesse mehrere Hundert Millionen Euro pro Jahr einsparen
können. Darüber hinaus wird mit dem Bürgerportalgesetz ein neuer Markt für sichere elektronische Kommunikation geschaffen, der in Deutschland einen Wachstumsimpuls für innovative ITK-Technologien geben wird.
Auch die öffentliche Verwaltung wird mit De-Mail über
eine einfachere und schnellere rechtsverbindliche Kommunikation mit Bürgern und Unternehmen 100 bis
150 Millionen Euro jährlich einsparen können.
Deutschland ist das erste Land weltweit, das mit einem
Konzept wie De-Mail an den Start geht. Wir bauen damit
unsere Vorreiterrolle, die wir bereits mit dem e-Personalausweis unter Beweis gestellt haben, weiter aus. Wir tragen mit dem Bürgerportalgesetz zu mehr Sicherheit und
Datenschutz in der elektronischen Kommunikation bei.
Und wir leisten unseren Beitrag, dass Deutschland zu einem international führenden IT-Standort mit großer Bürgernähe, hoher Verwaltungseffizienz und geringen Bürokratiekosten wird.
Die Bundesregierung hat sich dem Ziel verschrieben,
Verwaltungsabläufe bürgernah zu gestalten. Dazu gehört
im Rahmen des sogenannten e-Government-Programms
2.0 und der High-Tech-Strategie der Bundesregierung
auch die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger, aber auch
Unternehmen auf sicherem Wege die elektronische Kommunikation mit Behörden erledigen können. Im Zeitalter
des Internets und der mittlerweile sehr gebräuchlichen
Kommunikation via E-Mail erlangt diese Frage zunehmend Bedeutung. Wenn sich neue Medien wie E-Mail und
Internet etablieren, dann ist es Aufgabe des Gesetzgebers,
verlässliche Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Datensicherheit und Datenschutz, für die Nutzung dieser Medien zu schaffen. Und genau hier gibt es
aktuellen Regelungsbedarf.
Bislang ist die Kommunikation über E-Mail und Internet dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar schnell und
einfach abgewickelt, aber auch leicht manipuliert werden
kann. E-Mails können von unbefugten Dritten abgefangen, mitgelesen und verändert werden. Die Vertraulichkeit der Kommunikation und die Identität der Kommunikationspartner sind mit ihnen nicht ohne Weiteres
gewährleistet bzw. nicht sicher nachvollziehbar. RechtsZu Protokoll gegebene Reden
verbindliche Kommunikation zwischen Bürgerinnen und
Bürgern bzw. Wirtschaftsunternehmen einerseits und
staatlichen Stellen andererseits erfordert aber die Garantie unverfälschter Übermittlung sowie eindeutiger Identifizierung der Kommunikationspartner und die Möglichkeit einer rechtssicheren Zustellung elektronischer
Dokumente.
Diesen Erfordernissen will der vorliegende Gesetzentwurf gerecht werden: Er sieht gesetzliche Rahmenbedingungen und technische Grundlagen für die Schaffung sogenannter Bürgerportale im Internet vor. Diese Portale
sollen wie eine Art E-Mail-Intranet funktionieren. Dazu
müssen Privatpersonen oder Unternehmen ein elektronisches Postfach eröffnen, über das sie später mit staatlichen Stellen kommunizieren können und das so mit technischen Sicherheitsvorkehrungen versehen sein soll, dass
unbefugte Zugriffe durch Dritte ausgeschlossen werden
können. Zudem ist eine einmalige Akkreditierung bzw.
Identifizierung durch den Nutzer erforderlich, wie sie
heute beispielsweise bei der Eröffnung eines Bankkontos
erfolgt. Danach lässt sich ein solcherart gesichertes
Postfach wechselseitig für alle Angelegenheiten mit
rechtlich verbindlichem Charakter nutzen, also etwa für
Widersprüche gegen Steuerbescheide, Kaufverträge,
Mahnungen usw.
Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass Bürgerportale von privaten Anbietern betrieben werden, die
durch das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik ({0}) akkreditiert, zertifiziert und kontrolliert werden sollen. Damit soll ausgeschlossen werden,
dass unseriöse Anbieter sich im Feld der Bürgerportale
bewegen können.
Alles in allem halten wir die Einrichtung von Bürgerportalen für einen guten Weg, der technischen Entwicklung und dem zunehmenden Bedürfnis nach zeit- und kostensparender Kommunikation mit Behörden gerecht zu
werden. Wer von Bürgernähe und guten Bedingungen für
Unternehmen redet, darf sich den Zeichen der Zeit nicht
verschließen: Verbesserte Kommunikationskanäle und
ein verbesserter Datenschutz müssen Bestandteile modernen Regierens sein. Deshalb unterstützt die SPDFraktion das Vorhaben der Bundesregierung, das im Übrigen durch ein vom Bundesministerium des Inneren
sorgfältig vorbereitetes Pilotprojekt in Friedrichshafen
ab Mitte dieses Jahres getestet werden soll.
Allerdings gibt es noch eine Reihe von Punkten bzw. offenen Fragen, die geklärt werden müssen, bevor das Gesetz zur Regelung von Bürgerportalen verabschiedet werden kann. Dazu abschließend einige Anmerkungen: Bei
der Akkreditierung und Zertifizierung privater Betreiber
von Bürgerportalen muss sichergestellt werden, dass sie
datenschutzrechtliche Standards auf jeden Fall einhalten.
Die Nutzer müssen sicher sein können, dass ihre Daten
nur für Zwecke des Bürgerportals und zum Beispiel nicht
für Werbezwecke genutzt werden. Es darf nicht möglich
sein, dass Nachrichten bei den Portalbetreibern durch
unbefugte Dritte gelesen oder manipuliert werden können. Die Einführung von Bürgerportalen darf nicht zur
Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern führen,
die keinen Zugang zu elektronischer Kommunikation haben. Die herkömmlichen Zustellungswege müssen auch
künftig gleichberechtigt erhalten bleiben. Auch die Verquickung privater Dienstleistungen mit hoheitlichen Aufgaben muss genau abgewogen werden. Wenn private Betreiber von Bürgerportalen amtliche Schriftstücke
rechtsverbindlich zustellen dürfen, muss sichergestellt
werden, dass privates Interesse und Handeln im hoheitlichen Auftrag eindeutig voneinander getrennt bleiben.
Wegen dieser und anderer Punkte liegt es nahe, nach
der Überweisung des Gesetzentwurfs in die zuständigen
Ausschüsse eine öffentliche Anhörung zu veranstalten,
um dann nach sorgfältiger Abwägung aller offenen Fragen zu einem guten Gesetz zu gelangen. Den Bemühungen der Bundesregierung um ein bürgerfreundliches
Deutschland mit modernen Kommunikationsstrukturen
würde dies zugute kommen.
Initiativen zur Förderung des E-Government sind
richtig und wichtig. Es ist gut, dass die Bundesregierung
das Potenzial des E-Government für die Modernisierung
der Verwaltung und für Bürokratieabbau nutzen will. Im
Mittelpunkt muss beim E-Government die Sicherheit und
Vertraulichkeit der Kommunikation mit Behörden stehen.
E-Government braucht vor allem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wie auch der Wirtschaft. Daher ist
es auch gut, dass die Bundesregierung die Schaffung sicherer Kommunikation mit Behörden zum zentralen Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs erhebt.
Allerdings leidet der Gesetzentwurf an gravierenden
Mängeln. Schon ganz grundsätzlich ist nicht nachvollziehbar, warum neben bestehenden auf dem Markt entwickelten Technologien zur sicheren Kommunikation mit
De-Mail ein neues Mammutprojekt aus der Taufe gehoben werden muss. Mit der Größe eines solchen Projekts
steigert sich proportional auch die Wahrscheinlichkeit
des Scheiterns. Damit wäre aber E-Government überhaupt nicht geholfen. Das Prinzip, dass derartige Mammutprojekte weniger bringen, als es einfach und praktisch zu gestalten, hat sich bei der Maut gezeigt - diese
Gefahr besteht bei De-Mail ebenso. Der Staat ist nicht
der bessere Anbieter von neuen Technologien. In anderen
Staaten, die Deutschland hinsichtlich E-Government weit
voraus sind, werden gängige sichere Kommunikationstechnologien genutzt, die sich am Markt bewährt haben und auch am Markt beständig fortentwickelt werden.
Würden die Behörden den Bürgerinnen und Bürgern anbieten, mit ihnen unter Nutzung von solchen am Markt
vorhandenen Technologien zu kommunizieren, die bestimmte Mindeststandards erfüllen, würde sich ein Markt
eröffnen, der die Weiterentwicklung dieser Technologien
beflügeln würde.
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion „Planungen zur Einführung von DeMail“ ({0}) konnte die Bundesregierung über die Initialkosten der Einführung von
De-Mail bei den Behörden noch keine Auskunft geben.
Auch zu den Kosten, die auf die Bürgerinnen und Bürger
bei der Nutzung zukommen, gibt es nur vage Vermutungen. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Kosten eiZu Protokoll gegebene Reden
nes marktorientierten Modells niedriger liegen würden.
Hierfür spricht schon die allgemeine Lebenserfahrung.
Es besteht daher die Gefahr, dass De-Mail sich als
Bremse bei der Entwicklung von E-Government erweist
und zu einer Abkopplung der Sicherheit in der Behördenkommunikation im Bereich der elektronischen Kommunikation vom allgemeinen Markt führt.
Und die Bundesregierung wäre nicht die Bundesregierung, insbesondere der Bundesinnenminister nicht der
Bundesinnenminister, wie wir ihn kennen, wenn nicht
auch noch ein paar Gefahren für die Bürgerrechte enthalten wären. Nach § 16 des Gesetzentwurfs besteht unter
sehr weiten Voraussetzungen ein Auskunftsanspruch für
Dritte, also private wie auch öffentliche Stellen, gegen
den Dienstebetreiber hinsichtlich personenbezogener
Daten des Nutzers. Das öffnet nicht nur dem Adresshandel mit den De-Mail-Adressen Tür und Tor, sondern hat
mit Datenschutz überhaupt nichts zu tun. Da kann dann
jede Behörde in Deutschland und auch sonst jeder private
Dritte kommen und vom Provider verlangen, Auskunft
über persönliche Daten zu erteilen, wohlgemerkt beim
Provider, nicht bei einer Behörde. Der Provider soll dann
prüfen, ob glaubhaft dargelegt ist, dass das Ersuchen der
Verfolgung eines Rechtsanspruchs dient und nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich ist. Das ist eine Aufgabe,
die ein privates Telekommunikationsunternehmen, also
ein Provider, nicht leisten kann - und in einem Rechtsstaat, mit Verlaub, auch nicht leisten sollte. Was ist, wenn
die Daten unrichtigerweise an eine Werbefirma weitergegeben wurden? Dann bleibt dem Kunden wohl nur die erneut kostenpflichtige Einrichtung einer neuen Adresse oder die Alternative, einen Spam-Filter einzurichten.
Mit De-Mail schafft sich der Staat im Übrigen ein
neues Anwendungsfeld für den E-Personalausweis. Da
dieser Voraussetzung zur Nutzung von De-Mail sein wird,
wird die Freiwilligkeit der Funktionen, die nur in Verbindung mit der Speicherung biometrischer Daten vorhanden ist, zur Farce. E-Government nur gegen persönliche
Daten - das untergräbt das Vertrauen in diese Anwendungen und ist im Hinblick auf die informationelle Selbstbestimmung sehr fragwürdig. Würde ein privater Anbieter so handeln, läge ein klarer Verstoß gegen das
„Kopplungsverbot“ vor, das verbietet, den Zugang zu
Diensten im Internet nur gegen Preisgabe persönlicher
Daten zu gewähren, die nicht für die Diensteerbringung
zwingend erforderlich sind.
Die akkreditierten Diensteanbieter haben nach § 21
Abs. 1 des Entwurfs auch eine umfassende Mitwirkungspflicht gegenüber dem BSI. So ist der Behörde das Betreten der Geschäftsräume während der üblichen
Betriebszeiten zu gestatten, auf Verlangen die in Betracht
kommenden Bücher, Aufzeichnungen, Belege, Schriftstücke und sonstigen Unterlagen in geeigneter Weise zur
Einsicht vorzulegen, auch soweit sie elektronisch geführt
werden, Auskunft zu erteilen und die erforderliche Unterstützung zu gewähren.
Damit geht die Bundesregierung weiter auf dem Weg,
das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik,
BSI, schleichend zu einer Sicherheitsbehörde mit erheblichen Eingriffsbefugnissen umzubauen. Zugleich soll das
BSI auch als zentraler Dienstleister im Bereich der ITTechnik von Bund und Ländern eine immer kritischere
Rolle einnehmen. Das BSI soll die Technik für die öffentlichen Stellen bereitstellen, die IT-Sicherheit kontrollieren und zudem auch noch mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet die Teilnehmer an den IT-Systemen überwachen.
Mit dem parallel eingebrachten Gesetzentwurf für ein
neues BSI-Gesetz soll diese Behörde unter anderem die
Befugnis erhalten, jede elektronische Kommunikation
zwischen Behörden und Bürgern ebenso wie Unternehmen aufzuzeichnen und auszuwerten. Im Zusammenspiel
mit den Befugnissen aus dem Bürgerportalgesetz verfolgt
die Bundesregierung also weiterhin ihre Pläne, das BSI
zu einer Art NSA umzugestalten, zu einer NSA allerdings,
die zugleich noch auf dem Markt auftritt und dort Wirtschaftsunternehmen im IT-Bereich Konkurrenz macht.
Das ist eine sehr unglückliche Verquickung.
Zunächst positiv erscheint die Eröffnung zusätzlicher
Möglichkeiten für die Zustellung von Dokumenten im
Rechtsverkehr. Allerdings liegt auch hier der Teufel im
Detail. Die Zustellung kann zukünftig durch die „Niederlegung“ in einem virtuellen Postfach erfolgen. Bislang
musste der Absender aktiv die Zustellung bewirken und
sie in den Kenntnisnahmebereich des Empfängers bringen. Durch das Bürgerportal wird diese Sphäre zulasten
des Empfängers verschoben. Dieser ist nun gezwungen,
sich regelmäßig in seinem Bürgerportalkonto anzumelden, um nicht in die Gefahr einer Unanfechtbarkeit wegen Fristversäumnis, so zum Beispiel bei Mahnbescheid
oder Gerichtsurteil, zu geraten. Denn es handelt sich ja
nicht um einen Briefkasten, an dem man regelmäßig vorbeikommt und bei dem man im Urlaub den Nachbarn mit
der Leerung beauftragen kann. Da die Weitergabe des
Passworts unzulässig wäre, ist dies nämlich ausgeschlossen. Die vorgeschlagene Niederlegung ist dann auch
keine Erleichterung, sondern eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger. Mindestens müsste sichergestellt
sein, dass eine elektronische Mitteilung, etwa per Mail
oder SMS, erfolgt, wenn eine Niederlegung erfolgt ist.
E-Government ist für die Zukunft zu bedeutsam, als
dass man seine Weiterentwicklung durch Fehlsteuerungen gefährden darf. Die FDP-Bundestagsfraktion wird
daher im Weiteren parlamentarischen Verfahren auf eine
kritische Würdigung der Vorschläge dringen und eine
Sachverständigenanhörung beantragen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute
Gegenstand der Beratungen ist, sieht rechtliche Rahmenbedingungen für eine sichere und vertrauenswürdige
Kommunikation zwischen den Bürgerinnen und Bürgern
auf der einen und der Wirtschaft und der Verwaltung auf
der anderen Seite im Internet vor. In der Öffentlichkeit
wird dieser Gesetzentwurf vor allem mit den Begriffen
De-Mail und De-Safe diskutiert und transportiert.
E-Mails, so weit so richtig im Gesetzentwurf der Bundesregierung, sind zu einem Massenkommunikationsmittel geworden. E-Mails sind preiswert, schnell, einfach
und ortsunabhängig, heißt es in dem Entwurf weiter. Dieser Aussage ist vonseiten der Linken nicht in allen Details
Zu Protokoll gegebene Reden
Jan Korte ({0})
zuzustimmen. Denn die Nutzung von E-Mails setzt meist
die Bereitstellung geeigneter technischer Gerätschaften
und Infrastrukturen voraus, über die wir hier im Plenum
bereits mehrfach gesprochen haben. Denn nicht alle Regionen der Republik können entsprechende Infrastrukturen zur barrierefreien und schnellen Nutzung von E-MailDiensten bereitstellen. Zudem ist es vielen Bürgerinnen
und Bürgern, vor allem aber sozial Benachteiligten, nicht
möglich, die technischen Gerätschaften, die für die Kommunikation im Internet notwendig sind, zu erwerben oder
bereitzustellen.
An diesen Punkt greift auch die Entschließung der
Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und
der Länder vom 16. April des Jahres ein. Hierin wird kritisiert, dass durch den Gesetzentwurf eine Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die über kein Bürgerkonto verfügen, nicht ausgeschlossen wird. Zu Recht
mahnt die Bundesregierung die Kostenersparnis durch
eine sichere Kommunikationsplattform im Internet für
viele Bereiche des öffentlichen und privatwirtschaftlichen
Lebens an. Dieses richtige Argument darf aber nicht den
Blick darauf verstellen, dass sowohl aus finanziellen als
auch aus sozialen und gesundheitlichen Gründen nicht
alle Bürgerinnen und Bürger des Landes die ins Gespräch gebrachten Bürgerplattformen nutzen werden
oder können. Diesen darf jedoch daraus kein Nachteil
oder gar ein Zwang zur technischen Nachrüstung oder
persönlichen Nachschulung entstehen. Dazu allerdings
findet sich im Gesetzentwurf kein Wort.
Überhaupt hat die Konferenz der Datenschützer mehrere Kritikpunkte formuliert, die dringend beachtet werden müssen und ohne die der vorgelegte Gesetzentwurf
das Parlament nicht passieren darf. Zwar stellt der Entwurf darauf ab, dass Voraussetzung für eine Akkreditierung von Dienstanbietern von sogenannten Bürgerportalen der Nachweis der technischen und administrativen
Sicherheit gegenüber dem Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik, BSI, ist, jedoch wird nicht geregelt, dass auch die tatsächliche Einhaltung der datenschutzrechtlichen Standards kontinuierlich vorgenommen wird. Gerade die Datenschutzverstöße bei der Bahn,
der Telekom, Airbus, Müller, Lidl und Daimler haben uns
allen vor Augen geführt, dass ein Datenschutzrecht gut
und schön ist, es aber systematisch umgangen wird. Regelmäßige Kontrollen sind also nötiger als jemals zuvor.
In Zeiten der zunehmenden Technisierung der Kommunikation steigt auch die sogenannte Internetkriminalität besorgniserregend an. Vor allem im elektronischen
Geschäftsverkehr kommt es vielfach zu Missbrauch und
Betrugsversuchen. Dem einen Riegel vorzuschieben und
die Nutznießer derartiger Kriminalität zur Rechenschaft
zu ziehen, war auch immer Anliegen der konsequenten
Bürgerrechts- und Datenschutzpolitik der Linken. Um jedoch der Internetkriminalität das Leben zumindest etwas
schwerer zu machen, reicht es eben nicht aus, wie vorgeschlagen, lediglich die Vertraulichkeit, die Integrität und
die Authentizität von Nachrichteninhalten durch einen
verschlüsselten Transport zu gewährleisten. Nein, vielmehr muss auch ausgeschlossen werden, dass Nachrichten bei den Portalbetreibern oder Dienstanbietern von
Dritten eingesehen, manipuliert oder gar gelöscht werden können. Hier besteht ein großes Defizit im Gesetzentwurf, das dringend behoben werden muss. Auch die vorgesehene Möglichkeit der Anmeldung bei Bürgerportalen
durch Passwörter öffnet Angriffen durch Schadsoftware
Tür und Tor. Dadurch wird das gesamte Projekt des sicheren Bürgerportals diskreditiert.
Für die weitere Debatte möchte ich deshalb auf die
zahlreichen Stellungnahmen der Datenschützer in diesem
Lande verweisen und hoffe, dass die Regierung nach den
Beratungen in den Ausschüssen in der Lage ist, eine deutlich korrigierte Fassung ihrer im Grundsatz zu begrüßenden Initiative auf den Tisch zu legen. Andernfalls kann
Die Linke diesem Gesetzentwurf nicht nur nicht zustimmen, sondern muss erneut darauf verweisen, dass die
Bundesregierung dem Datenschutz in diesem Lande lediglich mit Desinteresse und Unfähigkeit begegnet.
Diese Bundesregierung in ihren letzten Zügen hat es
wieder einmal fertig gebracht, ein gutes Vorhaben so zu
vermurksen, dass man nur hoffen kann, dass dieses Gesetz das Ende der Legislaturperiode nicht mehr erreicht.
Wie üblich werden auch hier wichtige Fragen der technischen Ausgestaltung der Bürgerportale unter Rechtsverordnungsvorbehalt gestellt. Das ist die gleiche Methode
wie beim Audit-Gesetz. So geht es aber nicht. Gesetze
sind dazu da, normenklar die wirklich wesentlichen Fragen zu klären. Gesetzliche Bestimmungen sind keine
Leerstellen, die von der Exekutive nach Gutdünken am
Parlament vorbei geregelt werden können.
Ein Bürgerportal ist eine sinnvolle Einrichtung. Die
Bürgerinnen und Bürger brauchen ein sicheres System,
um mit Behörden, aber auch mit anderen Privaten zu
kommunizieren. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen
Container, in denen sie sensible Daten sicher ablegen
können, und der Staat muss die Sicherheit des Internets
genauso gewährleisten wie die Sicherheit auf öffentlichen
Straßen. Wir leben im Informationszeitalter. Da unterstützen gesetzlich festgelegte Standards eine sichere Kommunikation mit öffentlichen Behörden.
Gut gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht.
Was die Datensicherheit angeht, ist der Gesetzentwurf
mangelhaft. Hier muss erheblich nachgebessert werden,
und ich bin überzeugt, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte hier gerne behilflich ist. Sie müssen seine Anregungen allerdings auch aufnehmen und umsetzen. Allerdings
fehlt mir beim Thema Datenschutz mittlerweile der
Glaube, dass Sie wirklich ernsthaft bemüht sind, den Datenschutz zu stärken. Defizite haben wir hier nicht nur in
der Privatwirtschaft, sondern, wie wir hier wieder deutlich sehen, auch bei jedem Gesetz dieser Großen Koalition.
Mir fehlt in dem Gesetzentwurf eine wirksame Garantie dafür, dass die datenschutzrechtlichen Standards auch
tatsächlich eingehalten werden. Ich habe im Gesetzentwurf vergeblich nach diesen Mindestanforderungen gesucht. Ich teile hier die Forderung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten, dass die Akkreditierung der
Anbieter erst dann erfolgen darf, wenn auch eine unabZu Protokoll gegebene Reden
hängige Prüfstelle bescheinigt, dass die Anforderungen
erfüllt sind. Die Bundesregierung will ganz offensichtlich
verhindern, dass Externe dem BSI auf die Finger
schauen. Wir beobachten den Ausbau des BSI mit immer
größerer Sorge. Hier entsteht eine Behörde, die immer
mehr Zugriff auf Daten erhält und die sich gleichzeitig
immer stärker einer Kontrolle entzieht. Ohne Transparenz kann hier kein Vertrauen entstehen.
Die Datensicherheit ist beim Bürgerportal in keiner
Weise gewährleistet. Ein Gesetz, das keine Ende-zuEnde-Verschlüsselung festschreibt, ist nicht zustimmungsfähig. Hier muss es im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger Verbesserungen geben. Es muss klar verboten
sein, dass die Nachrichten durch Dritte gelesen oder manipuliert werden können. Was hier an Verschlüsselung
angeboten wird, reicht nicht aus. Wenn Verschlüsselung
tatsächlich die Zukunft der Datensicherheit ist, dann haben Sie noch nicht verstanden, was die Grundsätze einer
sicheren Verschlüsselung sind.
Es stellt sich überhaupt die Frage, ob auch das vom
Bund angebotene System einer Bürger-E-Mail-Adresse,
„De-Mail“ ebenso wie der „De-Safe“ als Zwischenlager
für Unterlagen bereits hinlänglich technisch ausgereift
ist. Bei allem Verständnis dafür, die Menschen an die moderne elektronische Kommunikation mit der Verwaltung
heranzuführen: Hier brauchen wir solide technisch ausgereifte Konzepte und keine Optionen auf erhoffte künftige Entwicklungen.
Wie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, schützt das neue Gesetz die Nutzerinnen und
Nutzer während des Anmeldevorgangs vor einer Schadsoftware? Mit dem höchst unsicheren Zugang durch ein
Passwort können Sie uns doch nicht zufriedenstellen. Das
knackt doch ein Informatikstudent in den Anfangssemestern.
Wir treffen Vorsorge für die moderne elektronische
Kommunikation. Das ist richtig. Wir dürfen aber auch die
Menschen nicht am Wegesrand stehen lassen, die hier
nicht mehr mitkommen. Ich denke nicht nur an ältere
Menschen, sondern auch an Menschen, die aus vielerlei
Gründen mit der modernen Technik nicht mehr zurechtkommen. Auch die haben einen Anspruch, mit Behörden
zu kommunizieren, ohne einen Nachteil zu haben. Leider
fehlt hier jede Sicherheit, dass sie ohne den Zugriff auf ein
Bürgerportal nicht diskriminiert und benachteiligt werden.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Nutzerinnen
und Nutzer aufgeklärt und über die Rechtsfolgen dieser
Nutzung hinreichend informiert werden. Auch hier reicht
der Gesetzentwurf nicht aus. Die Betroffenen müssen wissen, was die Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten für den Rechtsverkehr bedeutet.
Die Vielzahl der offenen Fragen und Kritikpunkte verbietet einen parlamentarischen Schnelldurchlauf. Wir
brauchen, auch wenn die Zeit in den Ausschüssen langsam knapp wird, eine parlamentarische Anhörung, in der
auch die vielfältigen Bedenken aus den Bundesländern
zur Sprache kommen müssen. Es macht überhaupt keinen
Sinn, so ein wichtiges Vorhaben ohne ausführliche Beratung durch das Parlament zu jagen. So fehlerhaft, wie das
Gesetz derzeit ist, können wir ihm nicht zustimmen. Wir
wollen Bürgerportale mit staatlichen Standards, aber
bitte mit Datensicherheit und mit Datenschutz, sonst wird
das Ganze ein Flop.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12598 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unabhängige Beauftragte zur Untersuchung
von Polizeigewalt
- Drucksache 16/12683 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Helmut
Brandt, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Ulla Jelpke und
Wolfgang Wieland.
Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion
Die Linke, in dem diese die Einrichtung eines unabhängigen Beauftragten zur Untersuchung von Polizeigewalt
fordert.
Bevor ich inhaltlich im Einzelnen auf den Antrag eingehe, lassen Sie mich zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen zu dem hier zu beratenden Antrag der Linksfraktion äußern. Insbesondere die Begründung des
vorliegenden Antrags soll offensichtlich den Eindruck erwecken, als seien alle deutschen Polizisten gewalttätige
Rassisten, die sich an keine rechtsstaatlichen Regeln hielten. Ich möchte daher zunächst einmal klarstellen, dass
davon hier in Deutschland keine Rede sein kann. Ganz im
Gegenteil, unsere Polizei verhält sich in aller Regel absolut korrekt gegenüber jedermann, ganz gleich, ob er
Deutscher oder Ausländer ist. Wir von der CDU/CSUBundestagsfraktion lassen deshalb nicht zu, dass Sie
deutsche Polizisten unter einen Generalverdacht stellen
und derartig verunglimpfen.
Dennoch ist richtig, dass es in der Vergangenheit auch
zu Vorfällen gekommen ist, wo einzelne - ich betone
nachdrücklich: einzelne - Polizeibeamte sich nicht richtig beziehungsweise sogar rechtswidrig verhalten haben.
Wir alle wissen, dass Polizeibeamte tagtäglich unter
enormem Druck stehen und sich Beleidigungen, Anfeindungen und gewalttätiges Verhalten gefallen lassen müssen, Tendenz steigend. Die Innenminister haben dieses
Problem erkannt und werden sich im Rahmen einer der
nächsten IMK-Sitzungen mit diesem Problem befassen.
Dass angesichts solcher Anfeindungen und gewalttätigen
Verhaltens auch ein Polizist die Beherrschung verlieren
kann, ist definitiv nicht gerechtfertigt, aber doch in einigen Fällen menschlich nachvollziehbar.
Nicht dass Sie mich missverstehen: Ein rechtswidriges
oder strafbares Verhalten einzelner Polizeibeamter verurteilen auch wir aufs Schärfste. Wie ich jedoch schon
sagte, handelt es sich dabei um Einzelfälle. Meine Erfahrung ist außerdem, dass die Polizeibeamten, die sich in
unserem Land nicht an Gesetze halten, von Staatsanwälten und Gerichten dafür zur Verantwortung gezogen werden. Mit der Dienstaufsichtsbeschwerde steht außerdem
jedermann eine innerbehördliche Kontrollmöglichkeit
zur Verfügung. Ich habe vollstes Vertrauen in die Justiz
bei der Aufklärung und Ahndung polizeilichen Fehlverhaltens. Auch bezweifle ich, dass ein unabhängiger Beauftragter in der Lage wäre, den vermeintlichen polizeilichen Korpsgeist, der Ihrer Beschreibung nach die
Aufklärung eventueller Straftaten von Polizisten unmöglich machen soll, zu verhindern. Denn wollten wir einmal
davon ausgehen, dass es solch ein „Mauern“ und einen
von Ihnen beschriebenen Korpsgeist seitens der Polizei
gäbe, ist mir nicht ersichtlich, inwiefern Ihr Beauftragter
diese Mauer des Schweigens eher durchbrechen könnte
als ein von Amts wegen unabhängiger Staatsanwalt.
Selbst unter diesem Gesichtspunkt bedeutete die Einrichtung des Beauftragten also keinen Fortschritt.
Nun zum Inhalt Ihres Antrages: Es erstaunt, dass Sie
Ihre Forderung nach einem unabhängigen Beobachter
auf einen Bericht von Amnesty International aus dem
Jahre 2004 stützen. Wir alle schätzen die Arbeit von Amnesty International und wissen um das Engagement dieser Organisation. Dass Amnesty International offenbar
seitdem keinen neuen Bericht vorgelegt hat, lässt für mich
nur einen Schluss zu: nämlich den, dass das von Ihnen
beschriebene Problem der mutmaßlichen Polizeigewalt
in unserem Lande bislang jedenfalls marginal ist. Wie ich
bereits sagte: Einzelfälle gibt es immer.
Auf Bundesebene ist mir übrigens bislang kein Fall bekannt, in dem es zu rechtswidrigem oder strafbarem Handeln eines Polizisten gegenüber Einzelnen gekommen
wäre. Die Vorwürfe, die Amnesty International erhebt,
richteten sich bislang ausschließlich gegen Beamte der
Länderpolizeien. Das System der Gewaltenteilung, das
unserem Grundgesetz zugrunde liegt, erlaubt es uns gar
nicht, den Ländern die Einrichtung eines unabhängigen
Beauftragten vorzuschreiben. Ich bin deshalb ebenfalls
etwas erstaunt über Ihre Forderung, im Rahmen der Innenministerkonferenz eine entsprechende Initiative zur
Einrichtung eines unabhängigen Beobachters zu starten.
Sie fordern in Ihrem Antrag, dem Beauftragten Eingriffsbefugnisse zuzugestehen. Das bedeutet, Sie wollen
dem Beauftragten Befugnisse bei den Ermittlungen zuteilen, die denen des Staatsanwalts in so gut wie nichts nachstehen. Wir sehen da die Gefahr der Einrichtung einer
Paralleljustiz, die dem Gang der staatsanwaltlichen Ermittlungen abträglich wäre, da es zu einer Konkurrenz in
den Kompetenzen kommen würde, welche die Autorität
des Staatsanwaltes untergraben würde. Und das kann
wohl kaum in unserem Interesse sein.
Schließlich legen Sie besonderen Nachdruck darauf,
dass der Beauftragte unbedingt unabhängig von den Polizeibehörden sein sollte. Davon einmal abgesehen, dass
ich der Überzeugung bin, dass kaum ein Polizist bei der
Ahndung von Straftaten seiner Kollegen, wie Sie sagen,
„mauert“, möchte ich darauf hinweisen, dass auch die
Beauftragten, wie Sie sie sich vorstellen, nicht vollkommen unabhängig sind. Vielmehr schlagen Sie in Punkt 3 d
vor, dass auch der Sachverstand von NGOs wie Amnesty
International oder Komitee für Grundrechte und Demokratie auf ehrenamtlicher Basis eingeholt werden soll. Sie
können doch nicht einerseits diesen Beauftragten weitreichende quasi-staatsanwaltliche Befugnisse bei den Ermittlungen geben und andererseits NGOs zu Rate ziehen.
Wo bleibt dann die Unabhängigkeit, wenn die Beauftragten von der Meinung von NGOs abhängen? Der Staatsanwalt ist seinerseits durch die strikte Gewaltenteilung in
Deutschland gänzlich unabhängig, sei es von der Polizei
oder von NGOs. Somit wäre die Einrichtung solcher Beauftragter nicht nur kein Gewinn, nein, sie bedeutete gar
einen Rückschritt gerade in Bezug auf die Unabhängigkeit in der Strafverfolgung.
Ich glaube, es ist klar geworden, dass wir einen in Ihrem Antrag geforderten unabhängigen Beauftragten zur
Untersuchung von Polizeigewalt nicht benötigen. Wir leben in einem funktionierenden Rechtsstaat, in dem unabhängig von der Person begangene rechtswidrige und
strafbare Handlungen konsequent verfolgt und geahndet
werden. Wir verfügen hierzu über genügend unabhängige
Kontrollmöglichkeiten. Die Medien beobachten im Übrigen sehr genau Veranstaltungen und das polizeiliche Vorgehen im Allgemeinen. Wir lehnen Ihren Antrag folglich
ab.
Heute beraten wir einen Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke: Unabhängige Beauftragte zur
Untersuchung von Polizeigewalt. Der Antrag nimmt die
Kritik unterschiedlicher internationaler Institutionen wie
dem UN-Menschenrechtsausschuss, des Europaratskomitees gegen Rassismus und Intoleranz, dem UN-Ausschuss und der Europaratskommission zur Verhinderung
von Folter und erniedrigender Behandlung oder Strafe
sowie von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty
International an der Praxis der deutschen Strafverfolgungsbehörden auf. Diese Kritik wird zum Ausgangspunkt für die Einrichtung polizeiunabhängiger
Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur Untersuchung insbesondere der Polizeigewalt in Deutschland genommen. Die in dem Antrag aufgezählten Todesfälle, die in polizeilicher Obhut erfolgten, bedaure ich
sehr. Wenn Menschen in staatlicher Obhut ums Leben
kommen, müssen die Umstände, unter denen dies geschah, aufgeklärt werden. Es darf keine Entschuldigung
dafür geben, solche Ermittlungen zu behindern. Die
Ziele, die in dem Antrag benannt werden, sind zweifelsohne unterstützenswert: Potenzielles polizeiliches Fehlverhalten soll möglichst schon im Vorfeld verhindert werden; polizeilich begangene Straftaten sollen aufgedeckt
werden. Auch strukturelle Probleme innerhalb der Polizeiorganisation aufzudecken, die Überforderung von PoZu Protokoll gegebene Reden
lizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu benennen und in
Zukunft zu verhindern mit dem Ziel, Lösungsvorschläge
für die Optimierung polizeilicher Handlungs- und Organisationsstrukturen zu benennen, teile ich voll und ganz.
Dass neutrale Beobachter polizeiliche Großeinsätze wie
beispielsweise Demonstrationen begleiten und durch ihren offensichtlichen Beobachterstatus präventiv und deeskalierend wirken, halte ich für sinnvoll. Diese Praxis
existiert bereits und hat sich in der Vergangenheit auch
als erfolgreich herausgestellt. Nichtregierungsorganisationen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie
oder der Arbeitskreis Kritischer JuristInnen führten diese
Demobeobachtungen seit Jahren durch, sodass in meinen
Augen kein Anlass besteht, diese erfolgreiche und per se
vom Staat unabhängige Arbeit durch eine staatliche Instanz zu ersetzen. Das Gleiche gilt für die Feststellung,
dass immer wieder Beschwerden eingehen, die überprüft
werden sollten. Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder das Komitee für Grundrechte
und Demokratie erfüllen diese Aufgabe hinreichend. Daher sehe ich keine Notwendigkeit, einen weiteren administrativen Wasserkopf zu errichten, wie ihn dieser
Antrag mit eigenen Diensträumen und einem Mitarbeiterstab aus hauptamtlichen und ehrenamtlichen Personen fordert.
In der vorliegenden Form fordert der Antrag geradezu
die Schaffung von Parallelstrukturen zur Staatsanwaltschaft, auch wenn er gerade dies bestreitet. Doch was ist
eine Behörde, der Eingriffsbefugnisse zustehen sollen wie
ein „uneingeschränktes und sofortiges Akteneinsichtsrecht, ein Betretungsrecht für dienstliche Räume sowie
ein Befragungsrecht“ anderes als eine Parallelinstitution
zur Staatsanwaltschaft? Mit der Unterstellung, die
Staatsanwaltschaft ermittle nicht unabhängig, kann genauso gut die Überprüfung aller anderen Ermittlungen
der Staatsanwaltschaft gefordert werden. Falls berechtigte Zweifel an der Objektivität der Staatsanwaltschaft
bestehen, steht es Anwälten offen, dagegen vorzugehen.
Ein Generalverdacht, der in einer Behörde institutionalisiert werden soll, trifft aber einen Kernbestand rechtsstaatlicher Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit der
Justiz darf keiner Politjustiz geopfert werden! Dass deutsche Staatsanwaltschaften natürlich in keiner Weise
unfehlbar sind und genau kontrolliert werden müssen, daran besteht kein Zweifel. Außerdem müssen die Staatsanwaltschaften ihre Ermittlungsergebnisse einem Gericht vorlegen, das dann entsprechend entscheidet.
Der im Antrag formulierte Unmut über das Aussageverhalten der Polizei ist nachvollziehbar. Mehr als fraglich ist jedoch, ob eine „unabhängige Untersuchungsstelle“ mit der Aufgabe, polizeiliche Verfehlungen
aufzudecken, daran etwas ändern würde. Deswegen und
wegen der anderen formulierten Bedenken ist der Antrag
abzulehnen.
Der Antrag, den die Fraktion Die Linke hier heute vorgelegt hat, spricht in jeder Zeile, in jedem Satz von einem
tiefen Unverständnis für den Rechtsstaat und die freie
Gesellschaft, in der mündige Bürgerinnen und Bürger im
Vertrauen auf den Rechtsstaat Zivilcourage beweisen.
Die Polizei in Deutschland steht wie keine andere Behörde an vorderster Front für die Wahrung des Rechtsstaats und des Rechts. Die Polizistinnen und Polizisten
riskieren oft genug ihre Gesundheit, wenn sie engagiert
Tag und Nacht und auch am Wochenende für Recht und
Gesetz, für öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen.
Die Polizei in Deutschland hat es nicht verdient, von Mitgliedern des Deutschen Bundestags, von einer ganzen
Fraktion, hingestellt zu werden, als wäre sie die Vollstreckerin eines Willkür- und Unrechtsstaats.
Die Fraktion Die Linke wirft den Polizistinnen und
Polizisten vor, dass sie Korpsgeist beweisen. Korpsgeist,
was heißt das denn? Korpsgeist bei der Polizei ist ein anderes Wort für Teamgeist, für das Vertrauen aufeinander
und das Sich-Verlassen-Können in Gefahrensituationen.
Einer für alle und alle für einen. Daraus einen Vorwurf zu
konstruieren, ist unzulässig. In allen anderen Bereichen
wird Teamgeist eingefordert. Aber bei der Polizei soll es
vorwerfbar sein, gerade bei der Polizei, bei der das gegenseitige Vertrauen notwendige Voraussetzung einer
reibungslosen Arbeit ist.
Wenn hier so getan wird, als wäre es ein spezielles Problem der Polizei, dass Kollegen sich nicht gegenseitig anzeigen, ist das eine Verdrehung der Tatsachen. Wenn eine
Kassiererin die andere beim Stehlen beobachtet und das
nicht zur Anzeige bringt, dann wirft keiner pauschal den
Kassiererinnen Deutschlands Strafvereitelung vor. Wenn
aber ein Polizist seinen Kollegen beim Rechtsbruch erwischt, gilt auch in diesem Falle für ihn der Amtsermittlungsgrundsatz, und er muss Anzeige erstatten - denn ansonsten macht er sich wegen Strafvereitelung im Amt
schuldig. Ein bei jedem anderen Berufsstand als menschlich angesehenes Verhalten, Kollegen nicht „verpfeifen“
zu wollen, ist bei Polizistinnen und Polizisten also strafbewehrt.
Hinzu kommt, dass es ja gerade dem Berufsethos eines
Polizisten entspricht, sich für Recht und Gesetz einzusetzen. Gerade hier ist doch die Sensibilität für Rechtstreue
besonders hoch. Oft genug kommt es vor, ja, ich würde sogar sagen, in der Regel ist es so, dass Polizistinnen und
Polizisten anzeigen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin
zu weit gegangen ist oder sich eines Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht hat.
Die Fraktion Die Linke stellt es in ihrem Antrag so dar,
als seien bei der Polizei insbesondere Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit zu Hause. Das ist eine nachgerade
infame Unterstellung. Die Polizei ist sehr sensibel, wenn
es um Fremdenfeindlichkeit in den eigenen Reihen geht.
Rassismus oder rechtsextremen Tendenzen wird innerhalb der Polizei engagiert entgegengetreten.
Natürlich gibt es auch unter den 271 000 Polizistinnen
und Polizisten in Deutschland nicht nur Engel. Die Fraktion Die Linke benennt zwei Fälle konkret und verweist
daneben auf ungeklärte sowie „zahlreiche“ weitere, nicht
näher bestimmte Fälle. Auch der genannte Bericht von
Amnesty International bleibt diesbezüglich im Vagen.
Dort heißt es, dass kein verlässliches Zahlenmaterial vorliege.
Zu Protokoll gegebene Reden
Natürlich muss in unserem Rechtsstaat jede Straftat,
die durch Polizistinnen und Polizisten begangen wird, zumal im Amt, geahndet werden. Hierzu stellt unsere
Rechtsordnung zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung.
Die Polizei steht unter Fach- und Dienstaufsicht der
übergeordneten Behörden und schließlich der jeweiligen
Innenministerien. Die deutsche Staatsanwaltschaft ist die
unabhängigste Behörde der Welt. Das ist nicht nur ein
fast schon geflügeltes Wort, sondern die Beschreibung
der rechtsstaatlichen Realität. Die Staatsanwaltschaften
sind mitnichten auf einem Auge blind, sondern im Gegenteil sehr sensibel, wenn es um Vergehen oder Verbrechen
geht, die möglicherweise durch Staatsdiener selbst begangen wurden. Die Justiz prüft unabhängig und ohne
Ansehen der Person alle Fälle, in denen möglicherweise
Recht gebrochen wurde.
Es ist schon erstaunlich, vor allem aber sehr erschreckend, dass die Fraktion Die Linke hier mit einem derartigen Misstrauen auf unseren Rechtsstaat blickt und
Staatsanwaltschaften, Justiz und Polizei gleichermaßen
nicht zutraut, das zu tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich
Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen. Im Gegenteil
tut die Linke so, als trügen diese quasi im kollusiven Zusammenwirken dazu bei, das Recht zu brechen und
Rechtsbruch zu vertuschen.
Schließlich darf man nicht übersehen, dass gerade die
Polizei - völlig zu Recht angesichts der ihr übertragenen
Eingriffsbefugnisse in grundrechtlich geschützte Positionen - unter Beobachtung von Öffentlichkeit und Medien
steht. Diese gesellschaftliche Kontrolle ist notwendig und
zugleich die Gewähr dafür, dass Missstände nicht unter
der Decke gehalten werden können. Im Gegensatz zur
Fraktion Die Linke hat die FDP-Bundestagsfraktion großes Zutrauen in die freie und verantwortungsvolle Bürgergesellschaft, in der Zivilcourage und Achtung der
Bürgerrechte sowie die Kontrolle staatlicher Gewalt
durch das Volk gelebt werden.
Neben den genannten Kontrollmöglichkeiten wird die
Polizei auch noch intern kontrolliert. In einigen Bundesländern gibt es Innenrevisionen, in einigen Ländern wie
in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen ein landesweit agierendes eigenes Kommissariat für Beamtendelikte. Bei Verdacht wird so unabhängig und objektiv ermittelt. In Nordrhein-Westfalen ist es beispielsweise auch
üblich, dass die Staatsanwaltschaft sich einer der umliegenden Polizeibehörden bedient, wenn es um Ermittlungen gegen Polizistinnen und Polizisten geht, um so zu vermeiden, dass in der eigenen Behörde ermittelt werden
muss.
Auch das Disziplinarrecht steht zur Verfügung, sodass
auch in Fällen, in denen Fehlverhalten unterhalb der
Strafbarkeitsschwelle vorliegt oder auch ein strafbares
Verhalten nicht beweisbar war, aber dennoch gewichtige
Anhaltspunkte für Fehlverhalten vorliegen, ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung steht. Die Polizei setzt
so innerhalb der eigenen Reihen regelmäßig ein klares
Zeichen, dass gerade von Polizistinnen und Polizisten
einwandfreies Verhalten gefordert ist.
Die Fraktion Die Linke blendet übrigens die Kehrseite
der Medaille völlig aus. Das Land Sachsen hat gerade im
Bundesrat eine Initiative eingebracht, um der Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten zu begegnen. Unabhängig von der kritisch zu beleuchtenden Frage, ob, wie von
Sachsen vorgeschlagen, das Strafrecht der richtige Rahmen zur Lösung des Problems ist, ist die Initiative ein hilfreicher Beitrag zu einer notwendigen Debatte. Die Bundesregierung hat gerade im vergangenen Monat auf
meine schriftlichen Fragen zu Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten des Bundes dargelegt, dass Bundespolizei und Bundeskriminalamt sowie der Zoll der Thematik Gewalt gegen Polizeibeamte seit Jahren besondere
Aufmerksamkeit widmen - und angesichts von circa
1 000 Übergriffen pro Jahr allein gegen Bundespolizeibeamte auch widmen müssen. Gerade im Rahmen von
Demonstrationen ist es in den letzten Jahren immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen auf die Polizei gekommen, insbesondere aus dem linksextremistischen Lager.
Eine derart einseitige Befassung mit dem Thema wie
hier von der Fraktion Die Linke vorgelegt, ist aus Sicht
der FDP-Fraktion jedenfalls nicht nachvollziehbar.
Dass es auch in Deutschland Rassismus gibt, muss
endlich klar erkannt und benannt werden. Ein Problem
kann erst bearbeitet werden, wenn es benannt wird. Genau davor drückt sich die Bundesregierung immer noch,
und das trotz steigender Zahlen rassistischer Übergriffe.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Minister, ein Ministerpräsident oder die Bundeskanzlerin in den letzten
Jahren gesagt hätte: Ja, wir haben ein Problem mit Rassismus! Nach wie vor reduziert die Bundesregierung Rassismus auf ein Problem von Rechtsextremisten. Solange
rassistische Vorfälle als Einzelfälle und Ausnahme von
der Regel begriffen werden, wird sich aber an der Wurzel
des Problems nichts ändern.
Der UN-Menschenrechtsrat empfahl dem deutschen
Gesetzgeber, endlich eine klare und umfassende Definition von Rassismus und rassistischer Diskriminierung gesetzlich zu verankern. Zudem müsse die Bundesregierung
Maßnahmen zur Verbesserung und Fortschreibung des
Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus ergreifen. Gerade der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus zeigt,
wie schlampig die Bundesregierung mit dem Thema Rassismus umgeht. Diskriminierende und ausgrenzende
Gesetze und Vorschriften stehen gar nicht erst zur Diskussion, obwohl Migrantinnen und Migranten durch Einschränkungen ihrer Rechte gegenüber Deutschen als
„nicht gleichwertig“ stigmatisiert werden. In Togo war es
der Bevölkerung während der deutschen Kolonialzeit
verboten, ihr Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige
Sondergenehmigung zu verlassen. Die heutige Residenzpflicht für Flüchtlinge bedeutet im Kern nichts anderes.
Daneben weist auch das Asylbewerberleistungsgesetz
rassistische Schikanen auf. Die Leistungen liegen rund
35 Prozent unter dem Sozialhilfesatz und werden oft nur
in Form von Sachleistungen gewährt. Dass Abschiebungshäftlinge für Kosten der Haft und der Abschiebung
auch noch zahlen müssen, ist der zynische Höhepunkt einer rassistischen Abschiebepraxis in Deutschland.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und so wie die Bundesregierung die in der Abschlusserklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban
2001 geforderte Beseitigung aller „diskriminierenden
Politiken und Praktiken gegenüber Migranten“ ignoriert,
will sie auch nicht der Aufforderung nachkommen, Akte
des Rassismus insbesondere von Strafverfolgungsbeamtinnen und -beamten zu erfassen. Doch der UN-Menschenrechtsrat empfahl dem deutschen Gesetzgeber eben
auch, gegen rassistische Polizeiübergriffe Maßnahmen
zu ergreifen. Insbesondere im Bereich Justiz und Polizei
ist die Bundesregierung wiederholt von internationalen
Gremien in deutlicher Form kritisiert worden, zuletzt im
August 2008 vom UN-Ausschuss zur Beseitigung der rassistischen Diskriminierung CERD. Die Europäische
Kommission gegen Rassismus und Intoleranz - ECRI wies in ihrem dritten Bericht zu Deutschland gleichfalls
auf Erscheinungen des Rassismus in Staat und Gesellschaft hin, ebenso die Menschenrechtsbeauftragte des
Europarats.
Immer wieder gehen auch Beschwerden bei Flüchtlingsräten und Opferberatungsstellen von Menschen ein,
die geltend machen, dass sie ohne ersichtlichen Grund
und offenbar anknüpfend allein an die Hautfarbe durch
die Polizei kontrolliert, diskriminiert und gedemütigt
werden. Rassistische Kontrollen, Pauschalverdächtigungen, Entrechtung sowie politische und juristische Verfolgung sind für viele Flüchtlinge, Migrantinnen und
Migranten alltägliche Erfahrungen. Für die Betroffenen
bedeutet der Übergriff häufig das Gefühl völliger Ohnmacht gegenüber Polizei und Staat. Dies wird durch die
geringe Chance einer strafrechtlichen Ahndung des
Übergriffs noch verstärkt. Aufgrund einer ungerechtfertigten Gegenanzeige und einer systematischen Nichtverfolgung und Nichtsanktionierung von Übergriffen hat
meistens nicht der Täter, sondern das Opfer mit einer Verurteilung zu rechnen. Immer das gleiche Schicksal einer
Strafanzeige gegen die Täter: Gegenanzeigen, interne
Untersuchungen, die diese Bezeichnung nicht verdienen,
Staatsanwälte, die kaum ermitteln und schon gar nicht
anklagen.
Ein solches Opfer ist Erdal R., dessen Wohnung von einem Berliner Spezialeinsatzkommando gestürmt wurde.
Er wurde eines bewaffneten Überfalls verdächtigt - irrtümlich, wie sich bald herausstellte. Sein Zustand nach
erfolgter Festnahme legt hingegen den Gedanken nahe,
er selbst sei Opfer eines bewaffneten Überfalls geworden.
Fotos zeigen ihn mit blutigem, zugeschwollenem Gesicht
und einem ausgeschlagenen Schneidezahn. Die darauffolgende Arbeit der Staatsanwaltschaft lässt sich eher als
Vertuschungsmanöver denn als ernsthafte Ermittlungstätigkeit beschreiben. Hätte nicht die Mutter des Zeugen
geistesgegenwärtig Fotos ihres Sohnes nach erfolgter
„Festnahme“ gemacht, dann wäre wohl kaum jemand
vor Gericht gestellt worden. Doch auch so war noch ein
langjähriges Klageerzwingungsverfahren erforderlich,
das letztlich Anfang 2008 mit Freispruch endete. Allerdings hielt es der Richter der ersten großen Strafkammer
des Landgerichts Berlin-Moabit für „unfassbar“, wie die
Berliner Staatsanwaltschaft und ihr unterstellte Polizeibeamte von der Dienststelle für Interne Ermittlungen die
Aufklärung schwerer Vorwürfe gegen drei Polizisten betrieben - oder besser gesagt: nicht betrieben - haben. Lückenhafte Untersuchungen, offensichtliche Widersprüche
in den Vernehmungsprotokollen, viel zu späte Ermittlungen - alles in allem, sagt der Richter laut „Die Zeit“ vom
1. Mai 2008, hätten die Behörden „die Wahrheitsfindung
massiv erschwert“.
Man muss sich nicht lange umschauen, um ähnliche
Fälle zu finden. In Hagen starb 2007 ein junger Mann mit
türkischem Migrationshintergrund auf einer Polizeiwache. Vermutet wurde ein „lagebedingter Erstickungstod“.
Er war bäuchlings liegend an Händen und Füßen zusammengebunden worden, eine Fesselungstechnik, die in den
USA seit 20 Jahren verboten ist. Es bedurfte aber erst politischen Drucks aus Deutschland und der Türkei, damit
die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachging. Und vor
dem Landgericht Dessau wurde der Tod von Oury Jalloh
verhandelt, der unter mehr als zweifelhaften Umständen
im Polizeigewahrsam verbrannt war. Der Fall des in
Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Oury Jalloh hat
einmal mehr gezeigt, dass die Aufklärung unzulässiger
und/oder unverhältnismäßiger staatlicher Gewaltanwendung mit den vorhandenen Mitteln nur schwer zu erreichen ist. Wie in zahlreichen anderen Fällen von unzulässiger Polizeigewalt oder unzulässigem Handeln der
Polizei kam es auch in diesem bundesweit beachteten Fall
zu keiner wirklichen Aufklärung des Geschehens, bei dem
immerhin ein Mensch im Polizeigewahrsam verbrannte.
Im konkreten Fall wurden vom Vorsitzenden Richter vor
allem die ({0})Aussagen der beteiligten Polizeibeamten dafür verantwortlich gemacht, dass es zu keiner befriedigenden Rekonstruktion des Tathergangs kommen
konnte. Der spektakuläre Fall aus Sachsen-Anhalt reiht
sich ein in weitere Fälle unverhältnismäßiger Polizeigewalt. In Bremen unterstellte die Polizei Laya Alama
Condé, er sei ein Drogendealer und hätte Kügelchen verschluckt - mit tödlicher Folge. Im Zuge eines sogenannten Brechmitteleinsatzes starb Laya Alama Condé 2005.
Auch N’deye Mareame Sarr, Halim Dener, Michael Paul
Nwabuisi genannt John Achidi, Laye Konde, Zdravko
Nikolov Dimitrov, Aamir Ageeb, Arumugasamy
Subramaniam, Dominique Koumadio starben in staatlicher bzw. polizeilicher Obhut. In nicht allen Fällen wurde
eindeutig aufgeklärt, wie es zum Tod dieser Menschen
kommen konnte.
All das zeigt, dass die Bereitschaft der Polizei in der
Bundesrepublik, Fehlhandlungen und strukturelle Probleme von außen betrachten zu lassen, derzeit gering bis
gar nicht vorhanden ist. Zahlreiche Expertinnen und Experten fordern deshalb die Einrichtung polizeiunabhängiger Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur
Untersuchung insbesondere auch rassistischer Polizeigewalt in Deutschland. Die Empfehlung zur Einrichtung
eines polizeiunabhängigen Kontrollmechanismus ist wiederholt auch von internationaler Ebene - von den Vereinten Nationen und dem Europarat - an Deutschland ergangen. Zuletzt hat der Europaratskommissar Thomas
Hammarberg in seinem im Juli 2007 veröffentlichten Besuchsbericht zu Deutschland deutlich gemacht, dass die
Polizei in einer demokratischen Gesellschaft bereit sein
muss, ihre Maßnahmen überwachen zu lassen, und für
diese zur Verantwortung gezogen zu werden. Der EuroZu Protokoll gegebene Reden
paratskommissar ruft die deutschen Behörden auf, zu diesem Zweck unabhängige Beobachtungs- und Beschwerdegremien einzurichten.
Damit würde das Bemühen deutlich, begangene Fehler und absehbare Fehlentwicklungen zu erkennen und zu
beseitigen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, im Rahmen der Innenministerkonferenz
eine Initiative mit dem Ziel zu starten, in allen Bundesländern und im Bund polizeiunabhängige Beschwerde- und
Untersuchungsmechanismen durch die Einrichtung unabhängiger Beauftragter zur Untersuchung von Polizeigewalt einzurichten, die sich mit der Anwendung ungesetzlicher und unverhältnismäßiger sowie insbesondere
rassistischer Polizeigewalt beschäftigen soll. Diese müssen unabhängig sein, das heißt frei von Einflussnahmen
und Weisungen durch Polizei, Staatsanwaltschaft,
Ministerien oder politisch Verantwortliche. Die Beauftragten - wie unter anderem von Amnesty International
vorgeschlagen - sollen die Polizei auf Defizite und Fehlhandlungen aufmerksam machen und zu Lösungen für deren Beseitigung beitragen. Diese Aufgabe kann mit der
Aufarbeitung von Einzelfällen polizeilichen Fehlverhaltens erfüllt werden, bei denen sie eigeninitiativ, aufgrund
von Beschwerden Betroffener und Zeugen, Medienberichten oder aufgrund von Hinweisen aus der Polizeiorganisation tätig werden können.
Wenn sich die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft besonders an ihrem Umgang mit Migrantinnen und
Migranten bemessen lässt, steht es derzeit schlecht um
die Bundesrepublik. Mit der Einrichtung unabhängiger
Polizeibeauftragter, könnte sie einen Schritt tun, um rassistischer Gewalt vonseiten der Polizei konsequent entgegenzutreten.
Es stimmt. Es gibt immer wieder Fälle von Polizeigewalt. Leider. Wir haben heute zwar im Großen und Ganzen eine gut funktionierende und dem Rechtsstaat verpflichtete Polizei in den Ländern und im Bund. Dennoch
kommen Übergriffe vor, und es gibt zu harte und exzessive
Einsätze. Davon sind in der Tat überproportional Migrantinnen und Migranten betroffen. Auch das ist zutreffend, und es zu leugnen, ist nicht nur dumm, sondern sogar gefährlich. Betrachten Sie es einmal aus der Sicht der
Polizistinnen und Polizisten. Sie versehen einen harten
Dienst, müssen nicht selten den Kopf für andere hinhalten, begegnen zunehmend einem aggressiven Gegenüber
und werden zuweilen auch noch schlecht geführt. So
kommt es allzu häufig vor, dass sie auf Kritik reflexartig
mit Abschottung und Korpsgeist reagieren. Dazu kommt:
Polizistinnen und Polizisten, die Verfehlungen offenlegen
wollen, droht entweder die Strafbarkeit bei eigenem Fehlverhalten oder bei Nichtanzeige der Taten von Kollegen
die strafbare Strafvereitelung im Amt. Und den Betroffenen stehen mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei
keine Ansprechpartner zur Seite, die außerhalb des Apparates angesiedelt sind und jenseits des Strafverfolgungszwanges agieren können.
Das ist ein Übel, dem nur mit Transparenz und Kontrolle beizukommen ist. Ein unabhängiger Beauftragter
für Fälle von Polizeigewalt, ein Ombudsmann, eine Polizeibeschwerdestelle oder wie immer man eine solche
Kontrollinstanz nennen will, ist nicht dafür da, die Polizei
vorzuführen. Sie arbeitet nicht gegen die Beamtinnen und
Beamten. Polizeikontrolle geht nach meinem Verständnis
nur mit der Polizei, nicht gegen sie. Umgekehrt gilt:
Polizei im demokratischen Rechtsstaat darf die Kontrolle
nicht fürchten, sondern muss sie fördern. Und Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser. Da hat die Linke ausnahmsweise einmal recht. Das hilft auch der Polizei, weil es ihr
Ansehen in der Bevölkerung hebt. Umso unverständlicher
ist es, dass sich Innenpolitiker in Bund und Ländern immer noch gegen eine Kontrolle wie der Teufel gegen das
Weihwasser wehren und alle Arbeit dem Disziplinarrecht
und erst dann, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden
lässt, mehr schlecht als Recht dem Strafrecht überlassen
und damit die Polizisten letztlich sich alleine überlassen.
Wir hatten unter Rot-Grün eine Kommission in Hamburg als historisch erste Kontrollinstanz in Deutschland.
Sie litt noch unter zu geringer Mittelausstattung und trug
die erschwerende Last einer ausschließlich ehrenamtlichen Arbeit der Kontrolleure. Dennoch hat die Kommission gearbeitet und hatte auch Erfolge. Der nachfolgende
Justizsenator mit Namen Roland Barnabas Schill zertrat
diese zarte Pflanze. Die Hamburger Grünen haben dieser
Idee wieder Leben eingehaucht und im Koalitionsvertrag
mit der CDU eine „Zentralstelle für Transparenz und
Bürgerrechte“ vereinbart. Die wird auch kommen; denn
die Mittel sind schon in den Haushaltsplan eingestellt. In
Sachsen-Anhalt startete SPD-Innenminister Hövelmann
im letzten Jahr zumindest eine Spar-Beschwerdestelle.
Auch da ist Kritik angebracht, aber es ist schon ein
Schritt in die richtige Richtung. In den übrigen 14 Bundesländern gibt es gar nichts, und auch der Bund hält es
beim Thema Polizeigewalt immer noch nach der Methode
der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Das ist falsch verstandene Solidarität. Damit helfen Sie
den Beamten vor Ort nicht. Anderswo in Europa funktioniert es besser. Die Kritik aus dem UN-Bericht ist daher
gerechtfertigt. In Sachsen-Anhalt hatten wir im letzten
Jahr eine sehr informative Veranstaltung mit zwei Ombudsmännern der nordirischen Polizei. Die mussten in
Nordirland die Folgen eines Bürgerkrieges bekämpfen
und das Vertrauen in eine Polizei wiederherstellen, der
sehr viel schwerwiegendere Dinge als der deutschen
Polizei vorgeworfen wurden. Das ist ihnen gelungen.
Aber nicht, indem sie eine Mauer des Schweigens aufgebaut haben, sondern indem sie sich über ein Melde- und
Kontrollsystem systematisch das Vertrauen der Bevölkerung wieder erworben haben. Die 1,7 Millionen Nordiren
können sich jederzeit an einen der 150 Mitarbeiter dieser
Stelle wenden. Vertrauen kann man aber nur bilden, wenn
Missstände - und die gibt es in jeder Institution - offen
angesprochen und bei Bestätigung des Verdachts beseitigt werden. Wir brauchen eine echte Bürgerpolizei und
nicht eine durch falsche Laissez-faire-Politik in ihrer
Cop-Culture alleingelassene Polizeitruppe. Ich habe immer gesagt, es darf keine rechtsfreien Räume geben, erst
recht nicht bei der Polizei!
Zu Protokoll gegebene Reden
Hier wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/12683 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gewerbesteuerumlage - An den Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null
absenken
- Drucksachen 16/11373, 16/12700 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Dr. Axel Troost
Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Frank Schäffler,
Katrin Kunert und Britta Haßelmann haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.
Die Behauptung der Linken, durch eine Abschaffung
der Gewerbesteuerumlage an den Bund die Konjunktur
zu stärken, geht an den Fakten vorbei. Zu ungenau und zu
ungleichmäßig würde eine Absenkung der Gewerbesteuerumlage wirken, um im Großen die Wirtschaft vor Ort zu
stärken.
Erstens: Wirkung der Konjunkturpakete I und II. Wir
haben bereits effektiv durch die Konjunkturprogramme
gehandelt und gezielt Maßnahmen ergriffen, um die Wirtschaft in den Kommunen zu beleben. Einige Schlagworte
möchte ich nennen: Aufstockung des Gebäudesanierungsprogramms: 3 Milliarden Euro mehr fließen in den
nächsten zwei Jahren in das Programm sowie in andere
Maßnahmen, wie zum Beispiel den altersgerechten Umbau von Wohnungen; Verbesserung der Infrastruktur in
finanzschwachen Kommunen: Diese bekommen über
Programme der KfW 3 Milliarden Euro; Finanzmittel zur
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“: In
einem Sonderprogramm werden 200 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt; Und nicht zuletzt das im
Februar 2009 beschlossene kommunale Investitionsprogramm: Für Investitionen von Bund und Ländern - zum
Beispiel in Kitas, Schulen und Hochschulen sowie in Verkehrswege, Krankenhäuser und ländliche Infrastruktur stellt der Bund 10 Milliarden Euro in den Jahren 2009
und 2010 zur Verfügung, mehr als 7 Milliarden Euro davon gehen an die Kommunen. Immer mehr konkrete Bauund Sanierungsvorhaben werden beispielsweise von den
Ratsversammlungen der Städte beschlossen. Die Planungen in den Stadtverwaltungen sind oft schon fortgeschritten. Die Kommunen wollen die Mittel aus dem Konjunkturpaket zügig einsetzen und so aktiv Arbeitsplätze vor
Ort sichern. Ausschreibungen sollen im April und Mai
anlaufen. Schon in wenigen Wochen können Handwerker
und mittelständische Unternehmen mit den ersten Aufträgen rechnen. Zudem erlauben wir durch eine Änderung
des Art. 104 b GG, in Krisen Finanzhilfen des Bundes
auch dort zu gewähren, wo der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat.
Besonders das Investitionspaket bietet die Chance,
den Menschen mit kommunalen Investitionen Hoffnung
zu geben. Wenn Einrichtungen der Kinderbetreuung in
Ordnung gebracht, Schulen und Krankenhäuser energetisch saniert werden und in kommunale Infrastruktur investiert wird, dann sichert dies Arbeitsplätze im heimischen Handwerk, ist gut für die Umwelt und das Klima,
verbessert die Wirtschaftlichkeit kommunaler Einrichtungen und stärkt nachhaltig den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Daneben wirken auch die Milliarden aus
dem Bankenrettungsfonds und die Milliarden aus Bundund Länderinvestitionen in Kommunen; denn auch die
beauftragten Unternehmen haben ihren Sitz in einer
Kommune und zahlen dort Gewerbesteuer. Sicherlich ist
das Investitionsprogramm kein Rettungsprogramm für
Länderfinanzen oder für klamme kommunale Haushalte.
Im Vordergrund steht ganz klar die nachhaltige Stärkung
des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Und auch eine
Entlastung der Arbeitgeber von Lohnkosten hat Auswirkungen auf die Steuereinnahmen der Kommunen. Aus
Sicht der Kommunen ist dabei die Gewerbesteuer nicht
unproblematisch. Vor allem ihre Abhängigkeit vom Auf
und Ab der Konjunktur und die damit gegebenen starken
Schwankungen der Einnahmen sorgen bei den Kämmerern für Verdruss. Besonders brenzlig für sie wird es
dann, wenn in schlechten Zeiten größere Unternehmen
als Steuerzahler ausfallen.
Zweitens: Der Bund ist von der Krise massiv betroffen.
Vor der Krise hatten die Kommunen in Deutschland ein
gutes Ergebnis erzielt. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes haben sie insgesamt 174,9 Milliarden
Euro und damit 3,3 Prozent mehr an Einnahmen erzielt
als im Vergleichsjahr 2007. Die Situation des Bundes war
bei weitem nicht so erfreulich! Nach aktuellen Schätzungen werden die neuen Schulden in 2009 und 2010
100 Milliarden Euro erreichen. Natürlich ist mir auch bewusst, dass sich solch ein Ergebnis aufgrund der Wirtschaftkrise, die sich auch auf die Finanzen von Städten
und Gemeinden durchschlägt, in diesem Jahr nicht realisieren lässt. Im Januar 2009 gaben die kommunalen Spitzenverbände einen voraussichtlichen Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen um durchschnittlich 9,1 Prozent
an. Aber die Auswirkungen auf den Bund sind weit dramatischer: Arbeitslosenversicherung, Steuereinbrüche,
Steuerreform, Zinsen für Konjunkturprogramme, Milliarden-Konjunkturprogramme. Trotzdem tun wir gerade
auch mit dem vor kurzem verabschiedeten Investitionsprogramm für Länder und Kommunen alles, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Finanzen zu sichern.
Wo dann aber noch die 8 Milliarden Euro Gewerbesteuer-Umlageausfälle beim Bund herkommen sollen,
lassen die Linken wie üblich offen.
Drittens: Wer viel Gewerbesteuer kriegt, gewinnt am
meisten. Würden wir, wie es die Linke beantragt, die Gewerbesteuerumlage abschaffen, würden Kommunen, die
eine geringe Wirtschaftskraft haben, nicht von der Abschaffung der Umlage profitieren. Diejenigen, die noch
anständige Gewerbesteuereinnahmen haben, zahlen eine
relativ hohe Gewerbesteuerumlage. Würden wir Ihrem
Antrag folgen, dann würden wir genau denen einen hohen
Anteil zurückgeben. Diejenigen, die aufgrund sinkender
Gewerbesteuereinnahmen Schwierigkeiten haben, würden keinen Vorteil davon haben, wenn wir die in Ihrem
Antrag aufgestellten Forderungen umsetzten. Uns dagegen war es im Investitionsprogramm wichtig, dass auch
die finanzschwachen Kommunen mitmachen können. Oft
ist die Arbeitsmarktsituation in den finanzschwachen
Kommunen besonders schwierig. Entscheidend ist, dass
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam der Wirtschaft
einen kräftigen Impuls geben. In vielen Ländern wird der
kommunale Mitleistungsanteil bei finanzschwachen
Kommunen zusätzlich übernommen. In Thüringen beispielsweise können Gemeinden, die aufgrund ihrer
Finanzschwäche nicht in der Lage sind, den Mitleistungsanteil in Höhe von 25 Prozent zu erbringen, Landesmittel
aus dem Landesausgleichsstock erhalten.
Viertens: Wie ist es eigentlich zur Umlage gekommen?
Wer die Gewerbesteuerumlage im aktuellen System unter
Beibehaltung der bestehenden Gewerbesteuer abschaffen will, verkennt die finanzpolitische Bedeutung dieser
Umlage: Die Gewerbesteuerumlage geht zurück auf die
am 1. Januar 1970 eingeführte Gemeindefinanzreform.
Kernstück hierbei war ein Steueraustausch zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden: Die Gemeinden wurden
an dem Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt, Bund
und Länder erhielten einen Anteil am Gewerbesteueraufkommen, Gewerbesteuerumlage. Dies war ein Wunsch
der Kommunen, da die Gewerbesteuer weit mehr Konjunkturschwankungen unterliegt als die Einkommensteuer. Des Weiteren hat die Gewerbesteuerumlage zuletzt bei der Unternehmensteuerreform als eine wichtige
Stellschraube zum Austarieren der Finanzbeziehungen
zwischen Bund, Ländern und Kommunen gedient. Damit
die Kommunen an der Finanzierung der Unternehmensteuerreform bei voller Jahreswirkung nicht beteiligt
werden, sieht das Unternehmensteuerreformgesetz eine
dauerhafte Absenkung der Gewerbesteuerumlage vor.
Aus all den genannten Gründen lehnen wir den Antrag
der Linken ab.
In dem hier vorgelegten Antrag gibt es nur einen einzigen Punkt, dem zuzustimmen ist, und das ist die korrekte
Wiedergabe des Einführungsdatums der Gewerbesteuerumlage am 1. Januar 1970. Bereits in meiner letzten Rede
zu diesem Antrag habe ich darauf hingewiesen, dass der
von der Linken vorgeschlagene Weg der Abschaffung der
Gewerbesteuerumlage ins Nirgendwo führt. Bedauerlicherweise haben Sie es immer noch nicht verstanden,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken.
Das Argument, die Abschaffung würde die finanzielle
Situation der Kommunen insbesondere in der aktuellen
Finanzkrise verbessern, klingt vordergründig gut - entspricht aber nicht der Realität. Die Absenkung bzw. Abschaffung würde keinen Einfluss auf die aktuelle Situation
haben. Sie würde zu spät, zu ungenau und vor allem zu
ungleichmäßig wirken und damit weder den Kommunen
helfen noch die Wirtschaft stärken oder gar die Konjunktur stützen. Die Große Koalition hat bereits vielfältige
Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunalfinanzen
vorgenommen. An dieser Stelle sei exemplarisch auf die
Unternehmensteuerreform hingewiesen, in deren Rahmen sichergestellt wurde, dass Mindereinnahmen ausschließlich zulasten von Bund und Ländern gehen - im
Gegenzug aber die Gewerbesteuer konjunkturunabhängiger gestaltet wurde. Zudem hat die Bundesregierung
mit dem Konjunkturpaket II den Kommunen zusätzliche
Mittel zur Verfügung gestellt, um so der Krise entgegenzuwirken und den Kommunen einen finanziellen Spielraum zu ermöglichen.
Auch an meinem Argument, dass die Abschaffung der
Umlage ungerecht sei, da Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft verhältnismäßig wenig profitieren würden,
hat sich nichts geändert - und es konnte bis jetzt auch
nicht von Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der
Linksfraktion, entkräftet werden. Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft verfügen über weniger Gewerbesteuereinnahmen und damit über weniger Umlagenanteile. Gemeinden wie beispielsweise München haben
dagegen deutlich höhere Gewerbesteuereinnahmen und
folglich auch mehr Umlagenanteile. Als logische Schlussfolgerung ergibt sich daraus, dass Sie denen, die sowieso
schon mehr haben, auch mehr geben - was daran sozial
gerecht sein soll, müssen Sie mir mal bitte erklären.
Und davon mal ganz abgesehen haben die Kommunen
selbst überhaupt kein Interesse daran, die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, denn damit würden der Abschaffung der Gewerbesteuer insgesamt Tür und Tor geöffnet.
Die Kommunen haben ein höchst eigennütziges Interesse
an der Beteiligung von Bund und Ländern an der Gewerbesteuerumlage. Solange nämlich alle drei im selben
Boot sitzen, kann auch niemand ernsthaft Interesse daran
haben, das Boot zu versenken.
Der Antrag ist nach wie vor weder zielführend noch
besonders hilfreich und daher rundherum abzulehnen.
Sie von der Linksfraktion können sich ja gern auf den Weg
ins Nirgendwo machen - aber erwarten Sie bitte nicht,
dass wir Sie auf Ihrer Reise begleiten.
Das Bruttoinlandsprodukt in unserem Land wird in
diesem Jahr nach der heutigen Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute um 6 Prozent schrumpfen. Im gerade
begonnenen Quartal von April bis Juni wird sogar ein
Rückgang von 8,2 Prozent erwartet, und auch für das
nächste Jahr wird ein Minus prognostiziert. In dieser
Situation ist es richtig, zu fragen, wie die Steuerpolitik auf
diese Krise reagieren muss. Es ist bedauerlich, dass der
Linken dazu nur Umverteilung einfällt. Durch Ihren Vorschlag werden die Unternehmen um keinen Cent entlastet, sondern es werden nur Steuereinnahmen hin- und hergeschoben.
Tatsächlich hat aber die Koalition die Krise durch Änderungen im Rahmen der Unternehmensteuerreform verschärft, die Gewerbesteuer wurde ja gerade ausgeweitet.
Die Bundesregierung hat nun ein halbherziges Zurückrudern mit minimalen Änderungen angekündigt. Wir fordern, die krisenverschärfenden Belastungen durch die
Unternehmensteuerreform kurzfristig zurückzunehmen.
Hinsichtlich der Gewerbesteuer werden unter anderem
Zu Protokoll gegebene Reden
Zinsen sowie die Finanzierungsanteile aus Mieten, Pachten und Leasingraten besteuert. Die gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen müssen also Steuern auf ihre Kosten
entrichten. Die Fremdfinanzierung der Betriebe wird
künstlich verteuert, weil ein Viertel der gezahlten Zinsen
der Gewerbesteuer unterliegt, unabhängig davon, ob Gewinne erzielt werden oder nicht. Teilweise ist die Steuer
damit sogar aus der Substanz der Unternehmen zu zahlen. Viele Einzelhändler klagen darüber, dass sie trotz zurückgehender Umsätze 75 Prozent der gezahlten Mieten
versteuern müssen. Ein Festhalten an dieser Regelung ist
angesichts der wirtschaftlichen Lage unverantwortlich.
Die Hinzurechnungsbesteuerung verschlechtert die Lage
vieler Unternehmen zusätzlich. Unsere kurzfristig umzusetzenden Vorschläge haben wir im Entwurf eines Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform vorgelegt, Bundestagsdrucksache 16/12525.
Darüber hinaus halten wir daran fest, dass es eine umfassende Gemeindefinanzreform geben muss. Dabei soll
die Gewerbesteuer durch ein Konzept der Kommunalfinanzierung ersetzt werden, das für die Gemeinden ein
ausreichendes Finanzierungsniveau gewährleistet und
ihnen stetige Einnahmen sichert. Die Finanzen der Kommunen sollen auf eine solide Grundlage gestellt werden,
indem die konjunkturanfällige Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und ein eigenes
Hebesatzrecht der Kommunen auf die Einkommen- und
Körperschaftsteuer ersetzt wird.
Ich habe mir die Argumente angesehen, die in der ersten Lesung am 18. Dezember 2008 im Bundestag gegen
den Antrag der Linken „Gewerbesteuerumlage - An den
Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null absenken“ vorgebracht wurden. Den Vogel schießt dabei
zweifellos die Fraktion der SPD ab: „Die Gewerbesteuerumlage ist unerlässlich, damit das Interesse des Bundes
und der Länder an der Existenz der Gewerbesteuer Bestand hat.“ Nach dieser Logik müssten Bund und Länder
wohl auch an der Hundesteuer der Kommunen beteiligt
werden, wenigstens an der für Kampfhunde. Und wie
wäre es mit einer staatlichen Beteiligung an der Grundsteuer? Wer - wie die SPD in ihren Sonntagsreden - die
Gewerbesteuer als Band zwischen Wirtschaft und Kommune verteidigt, das wir dringend brauchen, damit es vor
Ort ein Ansiedlungsinteresse und aktive Wirtschaftsförderung gibt, müsste eigentlich zustimmen, dass jede Beschneidung der Gewerbesteuer durch eine Abführung an
Bund und Länder in Höhe von fast 20 Prozent dieses
Band beschädigt. Eine Rechtfertigung der Gewerbesteuer als Klammer zwischen Kommune und örtlichem
Gewerbe erlaubt eine Gewerbesteuerumlage überhaupt
nicht.
Völlig merkwürdig ist auch der Vorwurf der SPD, „mit
der Forderung nach Abschaffung der Gewerbesteuerumlage ({0}) auch die Gewerbesteuer selbst zur Disposition gestellt“. Das Leben spricht eine andere Sprache. Alle Bundesregierungen mit SPD-Beteiligung haben
in den letzten 20 Jahren die Gewerbesteuer systematisch
abgebaut. 1997 entfiel die Gewerbekapitalsteuer. 2001
senkte Rot-Grün den Steuersatz, zudem wurden Gewinne
aus dem Verkauf von Anteilen an andere Unternehmen
steuerfrei gestellt. Im Ergebnis kam es zu tiefen Einbrüchen bei den Gewerbesteuereinnahmen. Erst 2006 war
wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht. Doch durch
die Unternehmensteuerreform der Großen Koalition kam
es bereits 2008 wieder zu Einnahmeausfällen in Höhe von
rund 2 Milliarden Euro gegenüber 2007.
Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist zu befürchten, dass es zu weiteren Gewerbesteuereinbrüchen
kommt. Wenn die Wirtschaft nicht läuft, läuft auch die Gewerbesteuer nicht. Einige Unternehmen haben bereits
angekündigt, geleistete Gewerbesteuervorauszahlungen
von den Kommunen zurückzufordern. Besonders hart
wird das Standortkommunen von Banken, Versicherungen, der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer treffen.
Mit steigender Arbeitslosigkeit werden die kommunalen
Ausgaben für soziale Leistungen deutlich steigen. Insofern werden die Kommunen von zwei Seiten in die Zange
genommen. Damit erhöht sich der Druck, kommunale
Leistungen zu kürzen und kommunales Vermögen verkaufen zu müssen. Eine verbesserte Gewerbesteuer ist also
notwendig, damit die Kommunen endlich wieder mehr investieren und damit Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung geben können und so auch Arbeitsplätze vor Ort
entstehen. Die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage
wäre dazu ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Als ebenso notwendig erachtet Die Linke eine Steuerpflicht für alle selbstständig ausgeübten Tätigkeiten. Bislang unterliegen Freiberufler oder andere nichtgewerbliche selbstständige Tätigkeiten wie Rechtsanwälte, Ärzte
nicht der Gewerbesteuer. Land- und forstwirtschaftliche
Betriebe werden nur besteuert, wenn sie im Handelsregister eingetragen sind oder der Umsatz, der mit gewerblichen Dienstleistungen erzielt wird, 5 000 Euro übersteigt.
Die Einbeziehung aller unternehmerisch Tätigen in die
Gewerbesteuerpflicht - bei Berücksichtigung sozialer
Belange kleiner Unternehmen und Existenzgründer würde dazu führen, die Steuerlast auf mehr „Schultern“
zu verteilen. Das nützt der örtlichen Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt, den Bürgerinnen und Bürgern.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sorgt sich, „eine
spontane Abschaffung der Gewerbesteuerumlage
({1}) das diffizile Gleichgewicht des Finanzausgleichs
zwischen Bund, Ländern und Kommunen aus dem Lot
bringen“. Dazu ist dreierlei festzustellen.
Erstens, die Kommunen sind nach der Finanzverfassung Teil der Länder, zwischen Bund und Gemeinden bestehen keine Finanzausgleichsbeziehungen. Also kann
hier gar nichts aus dem Lot gebracht werden. Deshalb
kann - wenn es politisch gewollt ist - die Gewerbebesteuerumlage an den Bund unverzüglich abgeschafft werden.
Zweitens wollen wir die Umlage an die Länder - wie
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beanstandet - keineswegs „spontan“ abschaffen. Wir plädieren in unserem
Antrag für eine schrittweise Abschmelzung bis Ende
2013, weil natürlich die Gewerbesteuerumlage durchaus
ein wichtiger Posten im Länderhaushalt ist und auch eine
gewisse Rolle im kommunalen Finanzausgleich spielt.
Entsprechend muss das Abschmelzen durch Kompensationen an anderer Stelle organisiert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Drittens kann von „Gleichgewicht des Finanzausgleichs“ schwerlich die Rede sein. Im Gegenteil, es gibt
da kommunalunfreundliche Unwuchten, die unser Antrag
faktisch mit beseitigen würde. So beispielsweise diese
Unwucht: Auf Wunsch der Länder wurden die westdeutschen Städte und Gemeinden durch bundesgesetzliche
Regelungen im Rahmen des Fonds Deutsche Einheit, ab
1991 und des Solidarpakts, ab 1995, an der Finanzierung
der einigungsbedingten Belastungen der alten Länder beteiligt. Die so in zwei Schritten „erhöhte“ Umlage fließt
ausschließlich den Ländern zu - immer noch, obgleich
sich die Geschäftsgrundlage geändert hat. Denn nach
den Beschlüssen zum Solidarpakt 2 im Sommer 2001
übernimmt der Bund die Finanzierung des Fonds Deutsche Einheit. Das heißt im Klartext, die Länder müssen ab
dem Jahre 2005 keine Zahlungen mehr an den Fonds leisten. Nichtsdestotrotz sind die Gemeinden dazu verpflichtet, über die Gewerbesteuerumlage den nicht mehr existierenden Länderanteil bis 2019 mitzufinanzieren.
Oder diese „Unwucht“: Mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ab 1998 wurde die Gewerbesteuerumlage um eine dritte zusätzliche Komponente zugunsten
der Länder erweitert. Selbst die Kommunen in den neuen
Ländern wurden einbezogen, obgleich hier eine Gewerbekapitalsteuer von vornherein nicht erhoben wurde. Das
oft gebrauchte Wort von den „klebrigen Fingern“ der
Länderfinanzminister ist sicher nicht ganz unberechtigt.
Die Fraktion der CDU/CSU hatte gegen unseren Antrag ganz andere Bedenken: „Im Antrag der Linken soll
die Gewerbesteuerumlage an den Bund ab dem 1. Juli
2009 abgeschafft werden. Der 1. Juli 2009 ist für Konjunkturmaßnahmen aber viel zu spät.“ Nun, meine Fraktion hätte gar nichts gegen eine rückwirkende Abschaffung! Und natürlich sollte und konnte unser Antrag vom
Dezember 2008 nicht das Zukunftsinvestitionsgesetz vom
13. Februar 2009 vorwegnehmen. Aber die dort verankerten 10 Milliarden für kommunale Investitionen sind
viel zu wenig, zumal aufgrund der Steuerausfälle, die den
Kommunen infolge der Maßnahmen aus den Konjunkturpaketen I und II entstehen, nur ein Teil dieser 10 Milliarden Euro bei den Kommunen ankommt. Da wäre eine sofortige Aufstockung um 1,6 Milliarden Euro durch den
Wegfall des Bundesanteils an der Gewerbesteuerumlage
durchaus eine kommunalfreundliche Botschaft in diesen
Krisenzeiten!
Zuletzt zum Beitrag der Fraktion der FDP. Sie meint:
„Sie wollen die Gewerbesteuer nicht abschaffen oder
schrittweise absenken. Sie wollen bloß das Aufkommen
umlenken, das dem Bund und den Ländern augenblicklich zusteht, und es den Kommunen zukommen lassen. Sie
schlagen also nur eine Form von Umverteilung vor, aber
keine Steuersenkung. Das ist eine Enttäuschung …“. Ja,
wenn auch die FDP enttäuscht ist, Die Linke will eben
nicht - wie die FDP - die Gewerbesteuer abschaffen.
Fazit: Die Linke will als einzige Partei im Bundestag
die Gewerbesteuerumlage abschaffen, will, dass letztlich
- mit dem Länderanteil - rund 7 Milliarden Euro im Jahr
in den Kommunen bleiben, wo sie besser aufgehoben
sind.
Mit ihrem Antrag, die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, springt die Fraktion Die Linke zu kurz. Die
Maßnahme ist allenfalls geeignet, das komplizierte Verteilungsgefüge zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
aus dem Lot zu bringen. Sie, sehr verehrte Kollegen und
Kolleginnen von den Linken, sind doch nicht so naiv, zu
glauben, dass Bund und Länder sich nicht an anderer
Stelle die Einnahmeverluste, die mit der Abschaffung der
Umlage verbunden sind, von den Kommunen holen werden, beispielsweise bei den halbwegs stabilen Einnahmequellen aus der Umsatzsteuer oder der Einkommenssteuer. Den Gemeinden blieben dann die Einnahmen aus
der leider immer noch konjunkturanfälligen Gewerbesteuer. Die kommunalen Spitzenverbände gehen davon
aus, dass die Einnahmeverluste der Kommunen bei der
Gewerbesteuer durch die Wirtschaftskrise allein in diesem Jahr mit 18 Prozent zu Buche schlagen. Wenn schon
die Landeshauptstadt München bereits mit einer Haushaltssperre die Notbremse gezogen hat, dann können wir
uns alle vorstellen, wie die Situation in anderen Regionen
mit deutlich weniger Wirtschaftskraft aussieht.
Ihr Vorschlag klingt zwar populär, er ist aber unseriös.
Er ist nicht geeignet, nachhaltig und zielgenau die Investitionskraft der Kommunen zu stärken. Verteilungspolitisch würden Sie nur die Kluft zwischen armen und
reichen Städten zementieren; denn die Städte und Gemeinden in strukturschwachen Regionen profitieren am
wenigsten von der Gewerbesteuer und müssen auch entsprechend wenig Umlage an Bund und Länder abführen.
Wir Grüne setzen uns deshalb dafür ein, die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer zu verstetigen. Die Gewerbesteuer muss nachhaltiger und gerechter ausgestaltet und
in eine „kommunale Wirtschaftssteuer“ umgewandelt
werden. Mit dieser Steuer soll durch die volle Einbeziehung gewinnunabhängiger Elemente, wie zum Beispiel
der Fremdkapitalzinsen, die Bemessungsgrundlage der
bisherigen Gewerbesteuer verbreitert werden. Auch Freiberufler sollen in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen
werden. Das vermeidet wirtschaftlich oft nicht nachvollziehbare Abgrenzungsprobleme und schafft faire Wettbewerbsbedingungen. Ein Freibetrag soll vor allem kleine
und mittlere Unternehmen entlasten.
Um die Städte und Gemeinden in der Krise zu unterstützen, bedarf es zielgenauer Investitionshilfen und hier
- sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
SPD - haben Sie mit Ihrem im Februar 2009 beschlossenen Konjunkturpaket auf ganzer Linie versagt. Bis heute
ist nicht ein Cent an die Kommunen abgeflossen, weil erst
seit wenigen Tagen die schon vor einem Vierteljahr beschlossenen Bundeshilfen an die Länder weitergereicht
werden können. Die Mittel stecken viel zu lang im Gerangel zwischen Bundes- und Länderinteressen fest. Dabei
wurde eine maximale Unsicherheit über die Förderbereiche, Fördersummen und die Zusätzlichkeit von Investitionen erzeugt. Hier hätten Sie viel deutlicher auf die
Länder Druck ausüben müssen. Mit der Föderalismusreform eröffnen sich neue Handlungsmöglichkeiten für den
Bund, um gezielter die Investitionshilfen in der Krise an
die Kommunen weiterzureichen. Sie müssen jetzt beim
Konjunkturpaket dringend nachsteuern, damit die Hilfen
Zu Protokoll gegebene Reden
auch in die Zukunftsbereiche fließen, in denen wir enormen Nachholbedarf haben. Ökologische Investitionen,
vor allem in erneuerbare Energien und den öffentlichen
Nahverkehr, müssen jetzt in den Förderkreis aufgenommen werden. Die Investitionen in das Bildungssystem
dürfen nicht länger auf bauliche Maßnahmen beschränkt
bleiben. Und leider fließen entgegen aller Beteuerungen
die Hilfen nicht gezielt an die notleidenden Kommunen,
die die Investitionshilfen besonders nötig hätten.
Union und SPD sind offenbar auch nicht in der Lage
aus der Krise auf lange Sicht zu lernen und die Weichen
im Grundgesetz neu auszurichten. Wenn Sie wie geplant
im Juli bei der Föderalismusreform die Kommunen außen
vor lassen, dann werden die Kommunen die Lasten tragen, die sich Bund und Länder mit den neuen Verschuldungsregeln aufbürden. Die Länder werden wie gewohnt
den finanziellen Sanierungsdruck auf die Städte und Gemeinden abwälzen. Die Kommunen unter Haushaltssicherung werden ohne Altschuldenhilfe noch mehr als bisher von der Hand in den Mund leben. Wichtige Hilfen für
Zukunftsinvestitionen werden nicht an die Städte und Gemeinden fließen, weil Sie, sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Großen Koalition, sich trotz Ihrer Verfassungsmehrheit nicht einigen konnten, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Kommunen wieder aus
der Verfassung zu streichen. Wir Grüne bleiben dabei:
Das Gebot der Stunde ist eine Mindestfinanzausstattung
der Kommunen, damit diese flächendeckend im Norden
wie im Süden, im Osten wie im Westen, ihre Aufgaben für
die Bürgerinnen und Bürger erbringen können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12700, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/11373 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustimmung
des Hauses im Übrigen angenommen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten!
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. April 2009, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.