Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Finanzielle Folgen für Beitragszahler und Patienten bei Verwirklichung des von der Koalition vorgelegten Gesetzes
zur Gesundheitsreform
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses im Rahmen der deutschen EU- und G-8-Präsidentschaft
- Drucksache 16/3011 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({1})
a) Entwurf eines Gesetzes der Abgeordneten Jan Mücke,
Horst Friedrich ({2}), Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte
- Drucksache 16/3008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksache 16/2793 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim
Otto ({5}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren
- Drucksache 16/2970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja Hajduk,
Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haushaltskonsolidierung konsequent anpacken - Haushaltsgesetzgebung reformieren
- Drucksache 16/2998 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige Arzneimittel
- Drucksache 16/3013 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({8})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Cornelia Behm, Undine Kurth ({9}), Hans-Josef
Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
({10})
- Drucksache 16/961 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
- Drucksache 16/2880 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Eva Bulling-Schröter
Redetext
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neue Armut in
Deutschland - Die aktuelle Diskussion um so genannte
Unterschichten
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen
- Drucksache 16/2997 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({12})
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach,
Erika Steinbach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Niels
Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen
- Drucksache 16/3001 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({13}),
Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in Zentralasien stärken
- Drucksache 16/2976 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin,
Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde
EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste
- Drucksache 16/2977 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({15})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 10 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer
Steuern
- Drucksachen 16/2708, 16/2956 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({16})
- Drucksache 16/3012 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({17})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({18}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3031 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({19})
Otto Fricke
Michael Lentert
Anja Hajduk
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich,
Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen
- Drucksache 16/2990 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 12 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze bei innergemeinschaftlichen Verstößen
- Drucksache 16/2930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Kerstin Andreae, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Arbeit in Armut verhindern
- Drucksache 16/2978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualifizierung statt Quoten - Vermittlungsagenturen für
landwirtschaftliche und andere grüne Berufe
- Drucksache 16/2991 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({23})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Tagesordnungspunkte 25 - Beschleunigung von
Planungsverfahren - und 30 o - Elektronischer Geschäftsverkehr - werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 15 - dabei handelt es sich um mehrere Vorlagen
zur Terrorismusbekämpfung - wird morgen nach dem
Tagesordnungspunkt 24 aufgerufen. Von der Frist für
den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Schließlich mache ich auf zwei geänderte Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Rechtsausschuss ({24}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Jahressteuergesetz 2007 ({25})
- Drucksache 16/2712 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({26})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Die Federführung für den in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf soll nunmehr auf den Haushaltsausschuss
({27}) übergehen.
Zweites Gesetz zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes
- Drucksache 16/2704 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({28})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und
Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung
der Streitkräftepotenziale ({29})
- Drucksache 15/5801 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({30})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und
Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der
Streitkräftepotenziale ({31})
- Drucksache 16/1483 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({32})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses im Rahmen der deutschen
EU- und G-8-Präsidentschaft
- Drucksache 16/3011 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Zum Jahresabrüstungsbericht 2005 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort.
({33})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt keinen Zweifel: Der nordkoreanische
Atomwaffentest ist eine gefährliche Provokation und ein
Irrsinn. Wir verurteilen das Verhalten Nordkoreas.
({0})
Deshalb müssen wir heute Morgen über die nordkoreanische, aber auch über die iranische Atomkrise sprechen.
Wir sollten allerdings ebenso deutlich machen: Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören insgesamt wieder
auf die internationale Tagesordnung.
({1})
Eine effektive Rüstungskontrolle muss erneut zum Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen werden.
Vertraglich vereinbarte Rüstungsbeschränkung kann
die Welt sicherer machen. Während des Kalten Krieges
trug eine effektive Rüstungskontrolle maßgeblich zur
Kriegsverhütung und zur Vertrauensbildung bei. Sie
schuf den Rahmen für Kooperation und friedlichen Wandel.
Abrüstung und Rüstungskontrolle waren aber nicht
nur im Kalten Krieg ein angemessenes Instrument. In
seinem Schatten wurden auch eine Reihe regionaler Rüstungskontrollverträge beschlossen. Diese Abkommen erleichterten die regionale Zusammenarbeit und schufen
ein Gefühl gemeinsamer Sicherheit. Abrüstung trug
dazu bei, vormalige Bürgerkriegsgesellschaften zu stabilisieren. So wurden mit dem Vertrag von Dayton
gegenseitige Abrüstungsschritte im ehemaligen Jugoslawien vereinbart. Auch in El Salvador und in Kambodscha wurde der Friedensprozess durch die Vernichtung
von Waffenbeständen unterstützt.
Doch nicht mehr nur Regierungen beeinflussen die
Rüstungskontrolle. Ohne die Bürgerinnen und Bürger in
den so genannten Nichtregierungsorganisationen wäre
das Landminenabkommen niemals in Kraft getreten.
Das war ein bedeutendes Signal.
Seit einigen Jahren gibt es jedoch so gut wie keine
Fortschritte mehr. Der Rüstungskontrollprozess tritt auf
der Stelle. Diese Krise ist allerdings nicht das Ergebnis
einer veralteten Idee. Im Gegenteil: Das Konzept der
Rüstungskontrolle ist modern und anpassungsfähig. Die
eigentliche Ursache für das Ausbleiben weiterer Fortschritte ist der fehlende politische Wille in wichtigen
Ländern.
({2})
Die USA haben sich aus den großen Verträgen zurückgezogen. Neue Vereinbarungen wurden ignoriert;
Verbesserungen wurden blockiert. Russland behindert
die Umsetzung der konventionellen Abrüstung in Europa. Frankreich und Großbritannien modernisieren wie
auch die anderen Kernwaffenstaaten ihre nuklearen Arsenale. Neue Sicherheitsdoktrinen weisen Kernwaffen
eine frühzeitige Einsatzmöglichkeit zu. Weltweit steigen
die Rüstungsausgaben und - dies sage ich selbstkritisch
auch an unsere Adresse - Rüstungsexporte haben wieder
Konjunktur. Weitere Gefahren sind die unkontrollierte
Verbreitung von Trägerraketen und die unsichere Lagerung von hoch angereichertem Uran in zu vielen Ländern. Und nicht zu vergessen: Zwischen den Atommächten Indien und Pakistan gibt es noch immer kein
belastbares Abkommen.
Diese Krisen zeigen deutlich: Wir brauchen neue Anstrengungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung.
Dabei müssen wir sowohl die lokalen als auch die globalen Bedingungen beachten und verändern. Beide Ebenen
stehen in einem Zusammenhang.
Im Atomkonflikt mit dem Iran müssen wir weiterhin konstruktiv, geschlossen und beharrlich an einer Lösung arbeiten. Der Versuch, den Streit in Verhandlungen
zu lösen, war und bleibt richtig. Dass jetzt auch Sanktionen von den Vereinten Nationen beschlossen werden sollen, signalisiert nicht das Scheitern der Diplomatie. Dieser Schritt ergänzt vielmehr die bisherige Strategie. Der
Iran muss seine Verstöße beenden, die Unklarheiten über
sein Atomprogramm ausräumen und versuchen, durch
vertrauensbildende Maßnahmen Glaubwürdigkeit herzustellen.
({3})
Die Verantwortlichen in Teheran sollten vor allem eines
wissen: Weder Status noch Großmannssucht werden
dem Land die gewünschte Rolle in der Welt zuweisen,
sondern nur eine Politik der Akzeptanz, des Respekts
und der Kooperation gegenüber den Nachbarn und der
Region.
({4})
Kernwaffen in Nordkorea sind eine ebenso große
Gefahr für den Frieden. Mehr noch: Ein unkontrollierter
Rüstungswettlauf könnte die Folge sein. Angesichts des
wachsenden Nationalismus, nicht geregelter Konflikte
und der mangelnden Bereitschaft zu einer gemeinsamen
Vergangenheitsbewältigung schafft dies Unsicherheiten
in der Region, aber auch für uns.
In Zukunft darf es allerdings nicht allein darum gehen, länderspezifische Lösungen für Kernwaffenaspiranten zu suchen. Ebenso notwendig ist es, über die offenkundigen Probleme und Schwächen, Ungleichgewichte
und doppelten Standards der Rüstungskontrollregime zu
sprechen. Dabei sollte eines klar sein: Die bisherigen
Abkommen müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben.
Die Instanzen, die die Einhaltung der jeweiligen Verträge überwachen, müssen gestärkt werden. Gleichzeitig
sollten die Vertragslücken geschlossen und, wo nötig, ergänzt werden. Im Einzelnen gehören dazu wirksame und
überprüfbare Maßnahmen der nuklearen Abrüstung, eine
Nulllösung bei den taktischen Atomwaffen, ein Kernwaffenregister, die Offenlegung der Plutoniumbestände
und das In-Kraft-Setzen des umfassenden Teststoppvertrages. Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag muss von allen Vertragsstaaten ohne Einschränkungen akzeptiert werden.
Der internationale Terrorismus ist heute auch eine
sicherheitspolitische Herausforderung. Es besteht die
Gefahr, dass diese Gruppen Massenvernichtungswaffen
besitzen und einsetzen wollen. Das beste Rezept, solche
Pläne zu verhindern, ist, weitere Staaten vom Besitz derartiger Waffen abzuhalten und die Atomwaffenstaaten zu
überzeugen, endlich ihre Verpflichtung zur Abrüstung
einzulösen.
({5})
Je weiter Atomwaffen verbreitet sind, umso wahrscheinlicher ist, dass sie in die Hände internationaler Terroristen geraten. Rüstungskontrolle ist deshalb auch ein Mittel gegen nicht staatliche Bedrohungen.
Demokratien sind Ordnungen, die einer effektiven
Rüstungskontrolle aufgeschlossen gegenüberstehen.
Deshalb ist es nicht nur ein Privileg, sondern auch die
Aufgabe demokratischer Institutionen, weitere Maßnahmen zur Rüstungsbegrenzung anzuregen. Vor allem
müssen Parlamente und Regierungen den Frieden zwischen den Ländern stärken. Zweifellos sind dabei Demokratien gegenüber ihresgleichen friedensgeneigter. Demnach bedeutet die Zunahme der Zahl demokratisch
regierter Länder auch eine Ausbreitung des Friedens.
({6})
Das ist allerdings keine einfache Gleichung. Die Form
allein bewirkt noch keine Demokratie. Außerdem sind
fragmentierte demokratische Staaten in der Regel keine
friedlichen Gesellschaften. Deshalb sind militärische,
von außen herbeigeführte Regierungswechsel nicht nur
völkerrechtswidrig; sie sind zum Aufbau demokratischer
Gesellschaften vollkommen ungeeignet.
({7})
Mehr noch: Derartige Handlungen diskreditieren das
Konzept des demokratischen Friedens, bedrohen die
Prinzipien des Völkerrechts und schaffen neue Unsicherheiten wie übermäßige Rüstung und falsches Regieren.
Die Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist
vor allem das Ergebnis politischer Fehlentscheidungen.
Weil der politische Wille zugunsten von Abrüstung und
Rüstungskontrolle fehlt, brauchen wir gerade jetzt mutige und kluge Schritte. Wir brauchen eine Wiederbelebung der Abrüstung und Rüstungskontrolle.
({8})
In den 70er- und 80er-Jahren waren es vor allem
westeuropäische Sozialdemokraten, die eine Politik der
Entspannung durch Initiativen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ergänzt haben. Egon
Bahr, Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky sind
nur einige Namen in einer beachtlichen Reihe von Personen, die für diese Politik standen.
Wenn wir heute, in Zeiten neuer Spannungen, wieder
eine Entspannungspolitik gestalten wollen, kann die
SPD ihre Erfahrungen und Ideen einbringen. Dabei reichen gute und überzeugende Vorschläge allein nicht. Um
die kollektive Friedenssicherung zu stärken, müssen wir
Abrüstung und Rüstungskontrolle als Ordnungsprinzip
der internationalen Politik erneuern. Die deutsche
Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union, vor allem aber der einjährige Vorsitz Deutschlands in der G 8
bieten dafür einen geeigneten Rahmen. Es wäre leichtfertig, wenn wir diese Chancen verpassen würden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestatten Sie mir, zu Beginn einen Satz aus
dem vorliegenden Jahresabrüstungsbericht 2005 zu zitieren:
Verlust an regionaler Sicherheit … wirkt sich stets
auf die weltweite Sicherheitsbalance aus.
Der nordkoreanische Atomwaffentest vom 9. Oktober
hat gezeigt, dass die Debatte um Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen aktuell und
dringender als selten zuvor ist.
Heute liegen uns die Jahresabrüstungsberichte der
Jahre 2004 und 2005 vor. Zusammenfassend lässt sich
festhalten: Gemeinsam mit dem Jahr 2006 waren es
schwarze Jahre für die weltweite nukleare Abrüstung.
Über diesen Umstand kann auch ein Friedensnobelpreis
für die Internationale Atomenergiebehörde im Jahr 2005
nicht hinwegtäuschen.
Mit Nordkorea hat vermutlich ein weiterer Kernwaffenstaat die weltpolitische Bühne betreten. Die Diskussion über das iranische Atomprogramm schwelt weiter;
eine tragfähige Lösung ist nicht in Sicht. Darüber hinaus
befinden sich das Nichtverbreitungsregime und dessen
Herzstück, der Nichtverbreitungsvertrag, in einer nicht
zu leugnenden Krise. Kernwaffenstaaten wie Russland
und die USA modernisieren ihr Nuklearwaffenpotenzial,
anstatt ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen
nachzukommen. Mit dem geplanten indisch-amerikanischen Nuklearabkommen erhält der Kernwaffenstaat
Indien die globale Anerkennung und Zugang zu
modernster Nukleartechnologie - spaltbares Material
eingeschlossen -, obwohl Indien dem Nichtverbreitungsvertrag nie beigetreten ist. Solche nuklearen Doppelstandards gefährden die Glaubwürdigkeit der internationalen Nichtverbreitungspolitik.
({0})
Die genannten Punkte dokumentieren, dass die nukleare Abrüstung in eine politische Sackgasse geraten ist.
Deshalb muss die Weltgemeinschaft jetzt entschlossen
gegen eine neue nukleare Weltordnung angehen, in der
Kernwaffen wieder eine zentrale sicherheitspolitische
Bedeutung erhalten. Der Eindruck, der Besitz von Atomwaffen sei der Garant für internationale Macht, Einfluss
und Anerkennung, hätte fatale Folgen: Es wäre ein unwiderstehlicher Anreiz für neue potenzielle Nuklearmächte. Der nordkoreanische Atomtest war ein lauter
Warnschuss vor den Bug einer statischen globalen
Sicherheitsarchitektur. Es ist dringend an der Zeit, dass
die großen Atommächte endlich ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen nachkommen.
({1})
Sowohl im Fall Nordkorea als auch in der Frage um
das iranische Atomprogramm ist ein geschlossenes und
konsequentes diplomatisches Vorgehen der P 5 weiterhin
notwendig. In dieser schwierigen Lage benötigt die internationale Abrüstungspolitik Impulse und politische
Ansätze, damit sie sich aus ihrer Stagnation befreien
kann.
Es ist gut, wenn die Bundesregierung das Thema
„Abrüstung und Nichtverbreitung“ auf ihre politische
Agenda setzt. Aber diesen Ankündigungen müssen natürlich entsprechende Taten folgen. Es ist deshalb die
Aufgabe unseres Landes, als glaubwürdiger Nichtkernwaffenstaat auf diesem Gebiet eine Führungsrolle zu
übernehmen. Die Rolle, die Deutschland bei den diplomatischen Bemühungen der EU 3 um das iranische
Atomprogramm eingenommen hat, kann hierfür beispielhaft sein.
Daher ist die bisherige Haltung der Bundesregierung
im Fall des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens unglücklich und über weite Strecken nicht akzeptabel. In seiner bisherigen Form stellt die bilaterale Vereinbarung zwischen Indien und den USA eine Belastung
für die Glaubwürdigkeit der internationalen Nichtverbreitung dar. Bei den Beratungen in der Nuclear Suppliers Group, die dem Abkommen einstimmig ihre Zustimmung erteilen muss, hat sich die Bundesrepublik
bisher hauptsächlich auf Nachfragen beschränkt. Medienberichten zufolge wurde auf diplomatischer Ebene
von Bundeskanzlerin und Außenminister anfänglich nur
der Zeitpunkt des Abkommens beim transatlantischen
Partner als schwierig bezeichnet. Indien als Nuklearmacht müssen jedoch die gleichen Verpflichtungen auferlegt werden wie den Kernwaffenstaaten, die den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet haben, wenn es in den
Genuss modernster Nukleartechnologie kommen will.
({2})
Die Kritik an diesen Schwachstellen des Nuklearabkommens wurde bisher vorrangig anderen europäischen
Nachbarstaaten wie Irland und Schweden überlassen.
Wir erwarten, dass die vom Bundesaußenminister im
Juni genannten Kriterien zur Nachbesserung des Abkommens auch offiziell als deutsche Position in der
nächsten Plenumssitzung der NSG zur Sprache gebracht
werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte diese Nachbesserungen bereits in einem Antrag im Mai eingefordert.
Die nukleare Nichtverbreitung ist nicht das einzige
abrüstungspolitische Themenfeld, das unserer verstärken
Aufmerksamkeit bedarf. Ende November findet in New
York die 6. Überprüfungskonferenz für das Biowaffenabkommen statt. Das Scheitern der Konferenz im Jahr
2001 stellt die internationale Gemeinschaft vor die
schwierige Aufgabe, neue Wege für eine Stärkung des
Vertrages zu finden. Ein tragfähiges und handlungsfähiges Biowaffenregime wird besonders wichtig, da gerade
die biologischen Waffen im Zuge der rasanten Entwicklung in den Biowissenschaften immer gefährlicher werden.
Im Schatten der Debatte um die Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen steht viel zu häufig das Problem der weltweiten Verbreitung von Kleinwaffen.
Derzeit sind circa 650 Millionen dieser Waffen international im Umlauf. Vor allem in den Entwicklungsregionen Afrikas, Asiens und Südamerikas werden Konflikte
überwiegend mit Kleinwaffen und leichten Waffen ausgetragen. Deswegen ist es nicht falsch, wenn im Zusammenhang mit Kleinwaffen von den wahren Massenvernichtungswaffen unserer Zeit gesprochen wird.
Der Jahresabrüstungsbericht 2005 verweist in diesem
Zusammenhang auf ein vorbildliches Engagement der
Bundesregierung. Ich sehe das etwas anders.
Rüstungsexporte der Gegenwart sind nicht selten die
Abrüstungsprobleme der Zukunft. Deshalb lohnt es sich,
einen Blick in den Rüstungsexportbericht zu werfen.
Die Gesamtsumme aller exportierten Kleinwaffen der
Bundesrepublik ist zwischen 2004 und 2005 nahezu
gleich geblieben. Aber die Exporte von Kleinwaffen in
Entwicklungsländer haben sich in der Relation verdreifacht: von 5 auf 15 Prozent der Gesamtausfuhren. Das ist
angesichts der bereits geschilderten Auswirkungen in
den Entwicklungsregionen besorgniserregend. Die Bundesregierung muss deshalb sicherstellen, dass die Empfängerländer bei Neulieferungen ihre alten Bestände vernichten, sodass diese Waffen nicht in die falschen Hände
geraten und die Region weiter destabilisieren können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die weltweite Abrüstung und Nichtverbreitung sowohl von Massenvernichtungswaffen als auch von konventionellen Waffen
stellt die Weltgemeinschaft nach der Beendigung des
Kalten Krieges vor große Herausforderungen. Wir müssen fähig sein, diese im Interesse der globalen Sicherheit
und Stabilität gerade jetzt gemeinsam zu bewältigen. Ich
sehe eine Reihe von Möglichkeiten, gemeinsame Initiativen zu ergreifen und wichtige Übereinstimmungen herzustellen. Ich bin sehr sicher, dass wir hier im Parlament
vernünftige Schritte unternehmen werden. Dieses
Thema ist so wichtig, dass wir alle unsere Kraft darauf
verwenden sollten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Nordkoreas Bombe mag klein gewesen sein. Die Konsequenzen des Atomtests - mittlerweile müssen wir ja davon ausgehen, dass es sich um eine nukleare Explosion
gehandelt hat - sind aber als dramatisch zu bezeichnen.
Die Welt ist ohne Zweifel unsicherer geworden. Wenn
die gemeinsame Ablehnungsfront aus Amerikanern, Europäern, Russen, Japanern und Chinesen keine angemessene Antwort auf diese Provokation Pjöngjangs findet,
dann könnte der 9. Oktober 2006 als jener Tag in die Geschichte eingehen, an dem ein neues nukleares Wettrüsten begonnen hat.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns über die
Motive Nordkoreas klar werden: Nordkorea ist ein
Regime, das als Folge seiner selbst gewählten Isolierung
mit dem Rücken zur Wand steht. Zur Machterhaltung
wählt es den Weg der Erpressung. Zur Erpressung wendet Nordkorea hauptsächlich zwei Mittel an: zum einen
seine Armee, zum anderen - so paradox es klingen
mag - die Drohung mit den wirtschaftlichen Folgen, die
sein Scheitern für seine Nachbarn haben würde.
Bisher hat Nordkorea den militärischen Teil seiner
Strategie vor allem auf konventionelle Streitkräfte gestützt. Dieses bitterarme Land hat ungefähr 1,3 Millionen Soldaten. Damit verfügt es über eine der größten ArEckart von Klaeden
meen, die es auf der Welt gibt. Wir wissen, dass die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten Nordkoreas immer
mehr dazu führen, dass diese Armee nicht mehr finanziert werden kann. Deswegen hat die provozierende und
zugleich paradoxe Sicherheitsstrategie Nordkoreas zur
Konsequenz, dass sich das Land um Atomwaffen bemüht.
Wie wir sehen, funktioniert diese Strategie. Südkorea
und China verhalten sich, wenn es um die wirtschaftlichen Folgen der im UN-Sicherheitsrat beschlossenen
Sanktionen geht, sehr zurückhaltend, weil sie den Zusammenbruch Nordkoreas fürchten. Dann müssten sie
Flüchtlinge aufnehmen und die Bruchstücke des zusammengebrochenen Regimes aufsammeln. Deswegen, so
glaube ich, müssen wir auch mit Südkorea und China
Gespräche über die Folgen eines möglichen Zusammenbruchs Nordkoreas führen.
({0})
Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass der häufig vorgetragene Gedanke, Nordkorea hätte durch direkte Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten
und Nordkorea von seinem Nuklearprogramm abgebracht werden können, bestenfalls naiv zu nennen ist.
Solche direkten Gespräche zwischen Nordkorea und den
Vereinigten Staaten hat es bereits nach der ersten nordkoreanischen Nuklearkrise Mitte der 90er-Jahre gegeben. Diese Gespräche waren - so hat man es jedenfalls
damals eingeschätzt - erfolgreich; denn sie haben mit
dem Abschluss eines Abkommens geendet. Als Gegenleistung für die Einstellung seines Nuklearprogramms
erhielt Nordkorea in der Folge umfangreiche Öllieferungen. Die extra zu diesem Zweck gegründete Organisation KEDO, an der sich auch die EU beteiligt hat,
begann zur Sicherstellung der Energieversorgung Nordkoreas mit dem Bau zweier Leichtwasserreaktoren.
Pjöngjang hat dieses Abkommen gebrochen und sein
Nuklearprogramm vor drei Jahren - so nehmen wir jedenfalls an - wieder aufgenommen. Das zeigt, dass der
beschriebene einfache Zusammenhang, der von manchen hergestellt wird, bestenfalls naiv ist oder Ausdruck
des bei uns bedauerlicherweise verbreiteten Antiamerikanismus, bei dem die Verantwortung für jede internationale Krise zunächst einmal bei den Vereinigten Staaten gesucht wird.
Welche Auswirkungen hat das Verhalten Nordkoreas
auf das internationale Nichtverbreitungsregime und die
Sicherheitslage? Besonders gefährlich sind die Auswirkungen natürlich für Nordostasien; denn die atomare Bewaffnung Nordkoreas droht die dortige relativ stabile
geopolitische Lage der letzten Jahrzehnte durcheinander
zu bringen. Diese Lage ist in kurzen Worten so zu beschreiben: Die Vereinigten Staaten schützen Südkorea.
China hat die Rolle Russlands übernommen, Nordkorea
im Zaum zu halten. Japan steht ebenfalls unter dem
Schutzschirm der Vereinigten Staaten.
Japan hat nach dem so genannten Taepodong-Schock
aus dem Jahre 1998, als Nordkorea zum ersten Mal eine
mehrstufige Rakete testete, intensiv über den Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems nachgedacht, dies
zu tun beschlossen und dabei die Zusammenarbeit mit
den Vereinigten Staaten gesucht. Es ist gut, dass der neue
japanische Premierminister Shinzo Abe, der über eine
eigene nukleare Bewaffnung seines Landes nachgedacht
hat, jetzt deutlich gemacht hat, dass er sich auf den
Schutzschirm der Vereinigten Staaten verlassen will. Er
weiß, dass eine eigene Nuklearkapazität seines Landes
mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten und hohen
diplomatischen Kosten für sein Land verbunden wäre.
Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund seiner Bemühungen, das stark belastete Verhältnis zu Peking
durch seinen ersten Besuch dort zu verbessern.
Aber auch andere Länder in der Region - Südkorea,
möglicherweise auch Taiwan - könnten sich durch die
nordkoreanischen Aktivitäten motiviert fühlen, eigene
Nuklearkapazitäten aufzubauen. Deswegen ist gerade
eine entschlossene und klare Reaktion der Weltgemeinschaft, des UN-Sicherheitsrates, auf die nordkoreanischen Aktivitäten so wichtig. Andere Länder sollen davon abgehalten werden, ebenfalls Nuklearkapazitäten
aufzubauen. Dazu bedarf es diplomatischer Bemühungen der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch
China und Russland spielen in dieser Krise eine zentrale
Rolle. China ist letztlich der Schlüssel dafür, dass Nordkorea seine Aktivitäten nicht fortsetzt.
({1})
Der Nichtverbreitungsvertrag war bisher ein Erfolg.
Es wäre daher falsch, das Nichtverbreitungsregime angesichts dieser Entwicklungen grundsätzlich infrage zu
stellen, auch wenn wir feststellen müssen, dass es ernsthaften Gefahren ausgesetzt ist. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hat in den 60er-Jahren prognostiziert, dass man binnen zehn Jahren mit 25 neuen
Nuklearmächten rechnen müsse. Glücklicherweise hat
sich seine Prognose nicht erfüllt. Mittlerweile haben wir
außer den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates
Indien, Pakistan, Israel und, seit dem 9. Oktober, Nordkorea als potenzielle oder tatsächliche Nuklearmächte.
Ungefähr 40 Staaten stehen laut dem Generaldirektor der
Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, an der
Schwelle, sich nuklear bewaffnen zu können.
Wir müssen aber auch sehen, welche Konsequenzen
die Reaktion der Weltgemeinschaft in Bezug auf den
Nuklearkonflikt mit dem Iran hat. Der Iran wird sehr
genau beobachten, ob deutliche Sanktionen gegen Nordkorea verhängt werden und ob die Weltgemeinschaft
sich durchringen kann, um die Proliferation von Nuklearwaffen auszuschließen, den Schiffsverkehr von und
nach Nordkorea zu kontrollieren.
Die Art, wie die Weltgemeinschaft jetzt auf Nordkorea reagiert, wird andere Staaten, die nach Nuklearwaffen streben, ermutigen oder möglicherweise davon abhalten, sich eigene Nuklearwaffen zuzulegen.
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, welche
sicherheitspolitischen Konsequenzen sich für uns aus
dieser Entwicklung ergeben. Wir müssen alles dafür tun,
dass das Nichtverbreitungsregime aufrechterhalten
bleibt, und wir müssen eine Strategie dafür entwickeln,
wie wir mit den Staaten umgehen, die sich außerhalb des
Nichtverbreitungsvertrages bereits Nuklearwaffen zugelegt haben.
Frau Kollegin Hoff, in diesem Zusammenhang fand
ich Ihre Darstellung der Bemühungen der Vereinigten
Staaten um eine Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime ein wenig einseitig, wenn ich das so sagen darf. Bei Ihrer Darstellung der amerikanischen Bemühungen haben Sie nämlich vollständig außer Acht
gelassen, dass es kein Geringerer als der Generaldirektor
der Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, gewesen ist, der unter Berücksichtigung aller realpolitischen Konsequenzen den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Indien unter dem Strich als einen
Fortschritt gerade auch im Hinblick auf die Unterstützung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet hat, weil
Indien durch diese Verhandlungen und den Vertrag stärker an das Nichtverbreitungsregime herangeführt wird.
Es ist richtig, das Nichtverbreitungsregime aufrechtzuerhalten und alle aufzufordern, sich daran zu halten,
aber wir müssen schließlich auch eine Strategie dafür
entwickeln, wie wir mit den Staaten umgehen und auf
konstruktive Signale der Staaten reagieren, die sich neben den offiziell anerkannten Nuklearmächten Nuklearwaffen beschafft haben.
Durch die Entwicklung, die wir zu beobachten haben,
müssen wir uns aber auch die Frage nach unserer eigenen Sicherheitspolitik stellen. Wir müssen uns die Frage
vorlegen, wie wir auf die Gefahr der asymmetrischen
Proliferation von Nuklearwaffen angemessen reagieren.
Wir müssen uns im Rahmen der NATO auch Gedanken
darüber machen, wie wir auf die Gefahr, dass es weitere
Nuklearmächte geben kann, und auf die Gefahr, dass
sich zum Beispiel der Iran tatsächlich nuklear bewaffnet,
reagieren.
Wir müssen bedenken, dass schon heute viele Staaten
Europas im Einzugsbereich iranischer Raketen liegen.
Es ist letztlich auch eine Frage der Zeit, wann wir die
Gefahren des nuklearen Terrorismus in der westlichen
Welt vor Augen geführt bekommen und wann wir damit
rechnen müssen, dass auch Europa von Nuklearwaffen
weiterer Atomstaaten bedroht wird. Darauf müssen wir
angemessen reagieren, und zwar einerseits mit den bereits vom Kollegen Mützenich beschriebenen Bemühungen, das Nichtverbreitungsregime aufrechtzuerhalten
und so viele Staaten wie möglich von ihren möglichen
Plänen, sich Nuklearwaffen zuzulegen, abzuhalten, und
andererseits, indem wir Überlegungen anstellen, wie wir
unsere eigene Bevölkerung effizient und erfolgreich vor
diesen Gefahren schützen können.
Das Beispiel Nordkorea und die Entwicklung in diesem Monat zeigen, dass wir unsere Sicherheit, die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, nicht mehr allein geografisch definieren können, sondern dass die
Entwicklungen in fernen Teilen unserer Welt auch für
die Sicherheit in unserem Land unmittelbare Konsequenzen haben. Wir müssen darauf vorbereitet sein.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Jahresabrüstungsberichte der Bundesregierung sind wie immer
informativ und wichtige Arbeitsmittel für alle, die abrüstungspolitisch engagiert sind. Dafür kann man sich
schon einmal bedanken. Ich spreche meine Anerkennung auch all denjenigen aus, die darauf hingewirkt haben, dass wir endlich Gelegenheit haben, in der so genannten Kernzeit über dieses Thema zu sprechen.
Der Haken bei der Sache: Abrüstung, substanzielle
Abrüstung, findet nicht mehr statt. Abrüstung ist kein offizielles Thema mehr. Wir machen uns nicht die Sichtweise zu Eigen, die besagt, dass es Rüstungsbedrohungen und Rüstungslasten anderswo gibt, zum Beispiel in
Pjöngjang und Teheran, und dass wir damit nicht unmittelbar zu tun haben. Hic Rhodus, hic salta! Wir müssen
hier auch darüber reden, was in diesem Hause geschieht.
({0})
Hier wird über mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr,
über die dafür notwendige Um- und Aufrüstung und
über mehr Geld für die Rüstung diskutiert. Auch das gehört in diese abrüstungspolitische Debatte.
({1})
Klar, die Bundesrepublik ist kein isolierter Akteur.
Wir haben es mit Welttrends zu tun. Da ist, wie man
sieht, Abrüstung „out of time“. Da hilft auch keine
Schönfärberei weiter. Im Jahresabrüstungsbericht der
Bundesregierung bemüht man lieber Schönsprech statt
Tacheles. Ein Beispiel hierfür ist der Ausdruck von der
„gemischten Bilanz der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik“.
Tatsache ist: Die weltweiten Ausgaben für das Militär
steigen wieder kräftig. Konventionelle Abrüstung ist
kein Thema. Es gibt dazu keine Foren, auf denen derzeit
über Abrüstungsschritte verhandelt wird. Im Bereich der
Atomwaffen droht eine entscheidende Erosion des
Nichtverbreitungsvertrags. Auch die Summe der Waffengeschäfte, also die Ein- und Ausfuhren - der Kollege
Mützenich hat darauf schon hingewiesen -, steigt wieder
kräftig an. Es ist auch ein bundesdeutsches Thema, wenn
Rüstungsexporte wieder Konjunktur haben.
Es ist richtig, wie Kollege Mützenich sagt, dass man
über diesen rüstungskontrollpolitischen Ansatz wieder
ernsthafter nachdenken muss. Das ist ein entscheidendes
Element der Vertrauensbildung. Aber es geht bei der
Rüstungskontrolle darum, einem undurchschaubaren
und unkontrollierten Aufwuchs von Rüstung zu wehren.
Abrüstung dagegen meint eine tatsächliche ReduziePaul Schäfer ({2})
rung, Minderung und Eliminierung von Waffenarsenalen, Reduzierung der Zahl der Streitkräfte und Senkung
der Rüstungsausgaben. Das ist viel weitgehender. Über
genau diesen Punkt muss man diskutieren.
Der Gedanke, der in den 80er-Jahren eine große Rolle
gespielt hat, dass Rüstung teuer ist, volkswirtschaftliche
Ressourcen bindet und eine zerstörerische und tödliche
Wirkung hat - auch das muss man in diesem Zusammenhang einmal sagen -, muss wieder Platz greifen. Deshalb
hat Abrüstung für uns einen eigenen Stellenwert.
({3})
Die Linke versteht sich als Partei der Abrüstung und das
wird auch so bleiben.
Ich halte es für problematisch, dass der Jahresabrüstungsbericht aus einem Aufrüstungs- und einem Abrüstungsteil besteht und sich unkritisch gegenüber dem
zeigt, was an Aufrüstung in der NATO und in der EU
stattfindet. Auf das Problem des „demokratischen Friedens“ und darauf, dass man das kritisch reflektieren
muss, ist schon hingewiesen worden. Manche verklären
die NATO zur größten Friedensbewegung der Welt und
deshalb soll all das, was dort an Rüstungs- und Aufrüstungsmaßnahmen vor sich geht, gut sein. Der Hinweis
auf Irak und Afghanistan an dieser Stelle muss genügen,
um zumindest die Sichtweise, es handele sich um gute
Hegemonialmächte und das, was sie rüstungspolitisch
täten, sei in Ordnung, zu hinterfragen.
Es bleibt die Tatsache: Zwei Drittel der Weltmilitärausgaben werden durch die NATO bestritten. Wenn
dann auch hier im Hause diskutiert wird und aufseiten
der Bundesregierung völlig zu Recht darauf hingewiesen
wird, dass es ein krasses Missverhältnis zwischen den
Weltmilitärausgaben und den Ausgaben für öffentliche
Entwicklung gibt, dann muss man doch zunächst einmal
innehalten und sich fragen: Was tragen wir, die Bundesrepublik, und die NATO als Bündnis, dessen Mitglied
wir sind, dazu bei?
Dazu muss man einfach sagen: Dieses krasse Missverhältnis besteht. Die Weltmilitärausgaben sind inzwischen auf die astronomische Summe von weit über
1 Billion Dollar gestiegen. Ich glaube, die öffentlichen
Entwicklungsmittel liegen gegenwärtig bei etwas über
80 Milliarden Dollar. Das ist ein krasses Missverhältnis.
Dieses Element trägt entscheidend zu Unfrieden und
Unsicherheit in der Welt bei. Hieran muss gearbeitet
werden. Das heißt: Abrüstung auch bei uns. Ebenso
muss die NATO Beispiele dafür geben, dass sie abrüstungspolitisch vorangehen will.
({4})
Das ist der Punkt. Ich bin pragmatisch denkend genug, um zu wissen, dass man hier nicht wie bei einer
Wundertüte von der einen Seite auf die andere Seite umverteilen kann. Aber dennoch ist der Hinweis auf diese
Diskrepanz zwischen Militär- und Entwicklungsausgaben wichtig, weil er einfach Fehlentwicklungen zeigt,
die korrigiert werden müssen. Deshalb fordern wir in unserem Entschließungsantrag, dass die NATO ähnlich wie
in den 70er-Jahren, in denen sie ein „long-term development programme“ begonnen und ihre Mitgliedstaaten
aufgefordert hatte, die Mittel für die Rüstungsetats jährlich um 5 Prozent zu steigern, ein entsprechendes Programm unter umgekehrten Vorzeichen auflegt. Warum
sagen wir nicht, die Mitglieder sollen jährlich die Mittel
für die Rüstungsetats um 5 Prozent reduzieren?
({5})
Die Bundesregierung schreibt in ihrem Bericht, im
Mittelpunkt ihrer Bemühungen stehe die „Verhinderung
der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel“ mit dem langfristigen Ziel der vollständigen Abschaffung. Das ist sehr wichtig. Spätestens seit
dem jüngsten stupiden Atomtest in Nordkorea steht die
nukleare Frage wieder auf der Tagesordnung. Auch die
Debatte um das iranische Atomprogramm hat gezeigt,
dass der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen in einer Krise steckt.
Es droht in der Tat - darin ist meinen Vorrednern zuzustimmen - eine Entwicklung, die zu mehr Atomwaffenmächten und neuen atomaren Rüstungswettläufen
führen wird. Es zeigt sich aber auch, dass sich auf Dauer
nicht aufrechterhalten lässt, dass es auf der einen Seite
das exklusive Monopol einer kleinen Staatengruppe gibt,
die für sich den Besitz von Atomwaffen beansprucht,
und auf der anderen Seite die nuklearen Habenichtse.
Das hat nicht zuletzt die ergebnislose Überprüfungskonferenz im Jahr 2005 gezeigt.
Wenn sich nichts an der beharrlichen Weigerung der
Atomwaffenbesitzer, abzurüsten, ändert, dann werden
wir bei der nuklearen Abrüstung nicht weiterkommen.
Die Nuklearmächte müssen daran erinnert werden, dass
sie sich im Atomwaffensperrvertrag zur Abrüstung verpflichtet haben. Diese Verpflichtung müssen sie endlich
ernst nehmen.
Auf der anderen Seite steht der um sich greifende militärische Interventionismus der Staaten des Nordens, der
in anderen Teilen der Welt als bedrohlich empfunden
wird. Auch darüber muss man sich Gedanken machen.
Man muss sich schließlich nicht wundern, wenn manche
glauben, sie könnten sich besser schützen, wenn sie selber über die tödlichste aller Waffen verfügten.
Die Glaubwürdigkeit der Atommächte - auch darauf
wurde schon hingewiesen - wird auch erschüttert, wenn
sie selber eine Politik der doppelten Standards verfolgen.
Während dem Iran wegen möglicher Atomwaffenambitionen bestimmte Rechte des Atomwaffensperrvertrags nicht zuerkannt werden, soll der neue Atomstaat
Indien mit einer breiten nukleartechnischen Zusammenarbeit belohnt werden.
Zur Erhöhung der nuklearen Gefahren gehören auch
waffentechnologische Entwicklungen, die die Schwelle
für den Einsatz dieser Waffen herabsetzen. Früher galten
Atomwaffen als politische Abschreckungswaffen. Es
gab immer Bestrebungen, sie auch für militärische Einsätze zu instrumentieren, um ihre Glaubwürdigkeit zu
erhöhen. Das war die Paradoxie der nuklearen Abschreckungsphilosophie.
Paul Schäfer ({6})
Inzwischen hat sich unsere Lage in rüstungstechnologischer Hinsicht verändert. Es gibt die so genannten
Mini-Nukes und Bunker brechende Waffen, die für sehr
konkrete Einsatzszenarien vorgehalten werden sollen.
Das heißt, dass die Gefahr des Einsatzes dieser Waffen
immens steigt. Auch darauf muss in diesem Zusammenhang hingewiesen werden, um daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.
Was folgt daraus? Ohne eine neue Dynamik bei der
atomaren Abrüstung ist der Weg zu atomaren Rüstungswettläufen vorprogrammiert. Darüber muss gesprochen
werden. Als erster Schritt müssen die bereits 1995 deklarierten negativen Sicherheitsgarantien, nach denen
Nichtatomwaffenstaaten nicht atomar angegriffen werden dürfen, rechtsverbindlich werden. Die Ersteinsatzdoktrinen gehören in den Orkus. Der Grundsatz „No first
use“ ist aktueller denn je.
({7})
Es geht aber nicht nur darum, was in anderen Staaten
geschieht. Auch in Deutschland geht es, wie gesagt, um
nukleare Abrüstung und um die deutschen Beiträge
dazu. Wir brauchen die taktischen US-Nuklearwaffen,
die in Büchel und Ramstein lagern, nicht mehr als transatlantische Klammer. Es ist ein armseliges Bündnis, das
auf einer solchen Lastenteilung beruht.
({8})
Diese Waffen sind gefährlich, und zwar sowohl für diejenigen im Osten, auf die sie gerichtet sind, als auch für
uns, weil sie Zielpunkte bei Einsatzplanungen anderer
Staaten sind. Deshalb ist die Bundesregierung aufgefordert, die USA zum Abzug zu drängen und diese Frage in
der Nuklearen Planungsgruppe der NATO beharrlich anzusprechen.
Bei der Diskussion über die Revision des strategischen Konzepts der NATO mit Blick auf den Gipfel
2008 sollte die Bundesregierung energisch darauf drängen, dass die aus dem Kalten Krieg übernommene Formel, wonach diese taktischen Nuklearwaffen essenziell
für die Verteidigung des Bündnisses sind, endlich in der
Mottenkiste der Geschichte verschwindet.
({9})
Schließlich sollte die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik endgültig ad acta gelegt werden. Das heißt, dass
auch die Tornadostaffel, die die Träger für diese Waffen
bereitstellt, aufgelöst werden sollte.
({10})
Das ist eine Reihe von Vorschlägen. Ich könnte einige
Vorschläge zur Rüstungsexportpolitik anschließen. Auch
in diesem Bereich könnte die Bundesrepublik Deutschland sehr viel mehr tun, als es gegenwärtig der Fall ist.
Also nicht immer auf andere zeigen, sondern hier mit der
Abrüstungspolitik beginnen! Leider reicht meine Zeit
nicht mehr, darauf genauer einzugehen.
Noch einmal: Die NATO muss ein positives Signal
bei der Abrüstung setzen. Wir müssen die nationalen
Spielräume für Abrüstung nutzen. Das Bombodrom in
der Kyritz-Ruppiner Heide muss geschlossen werden.
Der Weg muss für eine zivile Nutzung freigemacht werden.
({11})
Die Rüstungsexporte müssen eingeschränkt und schließlich beendet werden. Das alles fordern wir in unserem
Entschließungsantrag. Ich empfehle Ihnen, diesem zuzustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile
nicht alles, was mein Vorredner gesagt hat. Aber in einem Punkt hat er Recht: „Abrüstung“ klingt wie ein
Stichwort aus einer vergangenen Zeit. Ich bin mir sicher,
dass bei einer solchen Debatte noch vor 20 Jahren nicht
nur die unteren Ränge des Hauses sehr viel voller
gewesen wären, sondern auch die Pressetribünen. Das
Bedrohungsgefühl hat sich hierzulande offensichtlich
verändert. Vor 15 Jahren, nach dem Ende der Blockauseinandersetzungen und mit Herstellung der europäischen
Einheit, hat die Furcht vor Bedrohung nachgelassen.
Man begann zu hoffen, dass sich die Bedrohung durch
Massenvernichtungsmittel in Europa verflüchtigt oder
irgendwie von selbst erledigt. Das war ein böser Trugschluss. Der Atomtest in Nordkorea vor zehn Tagen hat
- darauf haben bereits viele hingewiesen - die Menschen
aufgerüttelt. Wir erleben nun, dass das Zeitalter der
Atomwaffen ganz offensichtlich nicht vorbei ist. Im Gegenteil: Manche Machthaber wie die in Nordkorea setzen ganz offenkundig darauf, sich mit atomaren Machtspielen wieder einen Platz in der Weltpolitik zu
verschaffen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle und vor Einstieg in
das eigentliche Thema einen Dank an das Hohe Haus
richten. Der Deutsche Bundestag hat das zur Diskussion
stehende Thema - ich glaube, das darf ich sagen - nicht
nur dann ernst genommen, wenn es im Brennpunkt der
medialen Aufmerksamkeit stand.
({0})
Allen hier vertretenen Parteien ist das Thema Abrüstung
immer ein Anliegen gewesen, wenn auch vielleicht mit
unterschiedlichen Gewichtungen. Das weiß man auch
außerhalb der Grenzen unseres Landes. Weil man uns in
Abrüstungsfragen ernst nimmt, finden Kongresse und
Veranstaltungen zu diesem Thema - achten Sie einmal
darauf! - häufig in Deutschland statt. Zuletzt fand im
Willy-Brandt-Haus eine Veranstaltung zu den Themen
„Abrüstung“ und „nukleare Abrüstung“ zusammen mit
dem Direktor der Internationalen Atomaufsichtsbehörde,
al-Baradei, statt.
Wir diskutieren heute über den Jahresabrüstungsbericht und dokumentieren damit zum 22. Mal in der Geschichte der Republik die Anstrengungen der Bundesregierung bei der Rüstungskontrolle, der Nichtverbreitung
und der Abrüstung. Zu Beginn der Vorlage der Abrüstungsberichte stand natürlich die Situation in Deutschland und in Europa - das habe ich vorhin angedeutet im Vordergrund. Die Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel und Trägerraketen war für unser Land allgegenwärtig. Heute stehen wir vor der Aufgabe, dem damals gewählten und noch immer richtigen Ansatz von
multilateralen Verpflichtungen und Verträgen zu neuer
Geltung und Durchsetzungsstärke zu verhelfen.
({1})
Europa und insbesondere Deutschland stehen dabei
- das bekenne ich - in ganz besonderer Verantwortung.
Wir wollen die Gefahr eines nuklearen Wettlaufs auch in
anderen Weltregionen durch eine aktive Abrüstungspolitik verhindern.
({2})
Wie dringlich dies ist, zeigt der Atomtest in Nordkorea, auf den ich schon zu Beginn meiner Rede hingewiesen habe. Das nordkoreanische Regime verstößt mit
dieser Provokation eklatant gegen die Bestimmungen
des Nichtverbreitungsvertrages. Wie Sie wissen, bedeutet die Zündung eines nuklearen Sprengkopfes, wie sie
nun stattgefunden hat, eine neue Eskalationsstufe.
Deshalb unterstützen wir - ich bin froh, dass das auch
viele andere hier gesagt haben - die eindeutige und deutliche Antwort des Weltsicherheitsrats auf diesen unverantwortlichen Schritt; denn wir dürfen nicht wegsehen,
wenn Nordkorea auf diese Weise nicht nur den Frieden
in der Region gefährdet, sondern mit seinen Aktivitäten
der Welt geradezu einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf aufzuzwingen versucht.
({3})
Deshalb lassen Sie uns auch von dieser Stelle noch einmal das Regime in Pjöngjang dazu aufrufen, den Weg einer, wie ich finde, völlig sinnlosen Selbstisolation zu
verlassen, und dies nicht nur wegen des Rüstungswettlaufs, sondern auch weil Nordkorea damit noch mehr
Armut und noch mehr Leid über die eigene Bevölkerung
bringt.
({4})
Indem ich das sage, bringe ich aber auch in Erinnerung,
dass in der Antwort des Weltsicherheitsrats ein Zweites
enthalten ist, nämlich auch die Aufforderung an Nordkorea, im Rahmen der Sechsergespräche an den
Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir unterstützen
ausdrücklich die schnelle Wiederaufnahme eines politischen Dialogs, nicht nur weil ich ihn für richtig halte,
sondern auch weil ich ihn für alternativlos halte.
({5})
Mit der gleichen Sorge, aber auch mit dem gleichen
Ziel haben wir uns in den Konflikt um das iranische
Atomprogramm eingeschaltet und Teheran zu einem
frühen Zeitpunkt in diesem Jahr, nämlich schon im Juni,
gemeinsam mit anderen ein sehr, sehr weit reichendes
Angebot zu Gesprächen und zu Verhandlungen gemacht.
Dabei ist auch Ihnen immer wieder offenbar geworden:
Wir sprechen Teheran eben nicht das Recht auf zivile
Nutzung von Atomenergie ab, aber wir wollen verhindern, dass sich Teheran unter diesem Deckmantel eigene
Nuklearwaffen zulegt.
({6})
Deshalb besteht die Weltgemeinschaft auf einer internationalen Kontrolle des Atomprogramms. Deswegen
pochen wir auf eine Aussetzung der Urananreicherung
und deshalb muss Teheran den Nachweis liefern, dass
geheime Aktivitäten aus offensichtlich mehr als 18 Jahren weder im Hauptzweck noch im Nebenzweck der
Entwicklung einer eigenen nuklearen Waffentechnologie
gedient haben.
Die Auseinandersetzungen mit Nordkorea und dem
Iran offenbaren - viele andere haben es eben gesagt eine schleichende Erosion des Nichtverbreitungsvertrages. Auch dieses Thema ist in der Weltpolitik in den
vergangenen Jahren zu Unrecht unter den Punkt „Verschiedenes“ gerutscht. Manche hat es kaum beunruhigt,
dass die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Mai 2005 ohne jedes substanzielle Ergebnis
auseinander- und zu Ende gegangen ist. Ich will deshalb
für uns betonen: Wir müssen das Thema Abrüstung wieder oben auf die Tagesordnung setzen.
({7})
Für die Bundesregierung - das verspreche ich Ihnen bleibt es ein zentrales Anliegen, dass die nächste Überprüfungskonferenz im Jahr 2010 ein Erfolg wird. Herr
Mützenich hat darauf hingewiesen, dass die G 8 einen
Rahmen dazu bietet, die Arbeiten schon im nächsten
Jahr aufzunehmen. Arbeit gibt es reichlich. Erst 41 von
44 Staaten haben den umfassenden Kernteststoppvertrag
unterzeichnet. Sieben müssen noch ratifizieren, darunter
die wichtigsten. Die Arbeit in der Genfer Abrüstungskonferenz braucht frische Impulse. Auch die Abrüstung
der Kernwaffenstaaten und insbesondere die Abrüstung
der nuklearen Kurzstreckenraketen von Russland und
den USA müssen wieder auf den Tisch kommen.
({8})
Zur Logik der Nichtverbreitung gehört aber auch,
dass wir glaubwürdige Angebote für die zivile Nutzung
der Kernenergie für solche machen, die sie nutzen wollen. Deshalb habe ich - dem einen oder anderen wird das
aufgefallen sein - vor wenigen Wochen einen Vorschlag
zur Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufs in die Diskussion gebracht, nicht etwa deshalb,
weil ich meinte, es gebe nicht genügend, sondern weil
ich der Meinung bin, dass jedenfalls auf Grundlage der
bisherigen Vorschläge kein Fortkommen zu erzielen war
und deshalb die Diskussion wieder neu angestoßen werden muss. Es gab Reaktionen auf diesen Vorschlag: Sie
waren so ermutigend, dass wir diesen Weg weitergehen
werden.
Wir werden diesen Weg fortsetzen, auch wenn er, wie
ich weiß, lang, beschwerlich und dornenreich ist. Obwohl das so ist, haben wir der Nuclear Suppliers Group
erst am Freitag der vergangenen Woche angeboten, dass
Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte dieser
Gruppe ihren Vorsitz übernimmt. Nach Lage der Dinge
wird das etwa im Jahr 2008 der Fall sein. Damit will ich
Ihnen nur sagen, dass wir es mit unserem Engagement
für eine multilaterale Nichtverbreitung ernst meinen.
Wir sind bereit, auch dafür Verantwortung zu übernehmen.
({9})
Mit einigen wenigen Worten muss ich einen zweiten
Komplex erwähnen: konventionelle Rüstungsgüter, insbesondere Kleinwaffen und Minen. Es handelt sich dabei um eine Kategorie von Waffen - ich habe es hier im
Hohen Hause schon einmal gesagt -, mit denen mehr
Menschen als mit den Waffen aller anderen Kategorien
zusammen umgebracht werden. Wie Sie wissen - es
wurde hier gesagt -, werden durch die massenhafte Verbreitung dieser Waffen Konflikte verschärft und wird die
Entwicklung in vielen Ländern destabilisiert. Deshalb
haben wir uns in diesem Bereich engagiert, vor allen
Dingen bei der Entschärfung von Minen. Die Bundesregierung hat zum Beispiel mit dem Internationalen Konversionszentrum Bonn und anderen Nichtregierungsorganisationen, mit der GTZ und der Bundeswehr, Herr
Jung, dafür gesorgt, dass viele dieser Minen entschärft
werden. Dadurch wurde das Leben vieler Menschen
wieder sicherer gemacht.
Wir werden bei diesem Engagement bleiben, etwa
wenn es um die Einführung von Standards für Antifahrzeugminen geht. Wir werden uns im Rahmen dieser Anstrengungen auch für ein völkerrechtlich verbindliches
Verbot von Streumunition einsetzen.
({10})
Sie können sich darauf verlassen, dass unser Engagement erhalten bleibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem meine Kollegin Elke Hoff, unsere abrüstungspolitische Sprecherin, die wesentlichen Fragen der beiden Jahresabrüstungsberichte behandelt hat, möchte ich
jetzt auf das, was Minister Steinmeier und andere Redner gesagt haben, eingehen und mich in meinem kurzen
Beitrag auf wenige Punkte beschränken.
Herr Steinmeier, es ist richtig: Ende der 80er-, Anfang
der 90er-Jahre war Abrüstungspolitik en vogue. Bei einem solchen Thema wäre dieses Haus voll gewesen und
man hätte sich danach gedrängt, in diesem Bereich
irgendeine Rolle zu spielen. Wer sich damals in den Verteidigungsausschuss begeben hat, wurde eigentlich belächelt, weil er eher als Aufrüster dargestellt wurde. Heute
spielt die Abrüstungspolitik offensichtlich keine so
große Rolle mehr. So schlimm die Themen sind, mit denen wir uns gegenwärtig befassen müssen - Nordkorea,
Iran -: Vielleicht ist mit dieser Situation die Chance für
einen Neubeginn in der Abrüstungspolitik verbunden.
({0})
Womöglich wird uns bewusst, dass Abrüstungspolitik
auch in Zeiten asymmetrischer Bedrohung einer Logik
folgen muss. Es war damals relativ einfach - ich anerkenne, was Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in der
Abrüstungspolitik geleistet worden ist -, weil man sich
in einem Gleichgewichtsdenken bewegen konnte.
Heute ist Abrüstungspolitik so schwierig, weil wir es
teilweise mit abstrakten, teilweise mit konkreten Bedrohungen zu tun haben, aber keine beidseitige Reduzierung im Sinne einer Gleichgewichtspolitik betreiben
können. Deswegen muss man bei diesem Thema sehr
viel Mut, Konsequenz und Standhaftigkeit haben.
({1})
Fast möchte ich selbstkritisch fragen: Was haben wir
versäumt? Darauf komme ich gleich zurück.
Wichtig ist mir, vorweg zu sagen: Was die konkreten
Fälle angeht, müssen wir klarstellen, wer verantwortlich
ist. Für das, was im Iran oder in Nordkorea passiert,
sind die Regierungen im Iran und in Nordkorea und niemand anders verantwortlich.
({2})
Wenn wir uns selbstkritisch mit der Frage beschäftigen,
was wir machen können, um eine zukunftsorientierte
Abrüstungspolitik zu gestalten, dann entlässt das diese
Regierungen nicht aus ihrer Verantwortung.
Es entlässt auch nicht diejenigen aus ihrer Verantwortung, die jetzt über Sanktionen nachdenken und im
Zweifel darüber entscheiden. Ich glaube, wir sind an einem Punkt angekommen, der es in beiden Fällen nahe
legt, dieses Mittel nicht mehr auszuschließen. Aber wir
alle müssen wissen: Sanktionen wie Embargomaßnahmen können nur funktionieren, wenn sie „dicht“ sind.
Dann darf es nicht schon am Anfang Relativierungen geben, wie wir sie jetzt seitens Chinas wieder gehört haben.
Ich glaube, dass in China jetzt eine Schocksituation
eingetreten ist und deshalb vielleicht wirklich eine
Chance besteht, die chinesischen Kollegen beim Wort zu
nehmen. Uns als Obleuten des Auswärtigen Ausschusses
haben die chinesischen Kollegen vor wenigen Monaten
nachdrücklich gesagt, für wie realistisch und machbar
sie die diplomatische Lösung im Falle des Iran - aber
wahrscheinlich auch im Falle Nordkoreas - halten. Wir
müssen sie jetzt einmal zeigen lassen, was sie auf diesem
Gebiet können. Nur Nein zu sagen, das kann es bei diesem Thema wirklich nicht sein.
({3})
Zweitens. Ich halte es für völlig absurd, davon auszugehen, dass sich die Vereinigten Staaten in direkte Gespräche mit Nordkorea hineinbomben lassen. Insofern
ist das Verhalten Nordkoreas gerade im Zusammenhang
mit dem Anliegen, das Nordkorea verfolgt, kontraproduktiv.
Ich sehe aber auch das Dilemma, vor dem die Vereinigten Staaten stehen. Wenn man eine militärische
Option ausschließt, was ich tue und was übrigens auch
auf Südkorea zutrifft, dann gibt es entweder die Möglichkeit, die Chance zu direkten Gesprächen nicht auszuschlagen, oder die Möglichkeit, sich endgültig damit abzufinden, dass Nordkorea über Nuklearpotenzial und
über die entsprechenden Trägersysteme verfügt.
Deshalb sollten wir uns im Westen Mut machen, wieder daran zu gehen, auf der Basis unserer eigenen Werte
und Überzeugungen Abrüstungspolitik zu betreiben. Die
Erosion der Regime in Osteuropa - teilweise schrecklicher Regime - ist nicht über eine konkrete militärische
Bedrohung, sondern über eine militärisch abgesicherte
Erosion von innen erfolgt. Darauf muss man auch im
Falle Nordkoreas auf Dauer setzen. Von daher sollte man
Gespräche nicht von vornherein ausschließen.
({4})
Drittens. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass wir es, wenn der Iran und Nordkorea Erfolg
haben sollten, mit einer zweistelligen Zahl - sie reicht an
die 20 heran - von Atommächten zu tun haben werden;
mit der Perspektive, dass dann die Proliferation an nicht
staatliche Akteure nicht mehr wird verhindert werden
können. Deshalb muss jetzt hier mit einer neuen Politik
eine Grenze gezogen werden. Das erfordert aber ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit der jetzigen Atommächte, und insbesondere der P 5. In diesem Kreise hat
es über Jahre in der Tat keine beherzte Abrüstungspolitik
gegeben. Vielmehr wird dort ständig über neue nukleare
Systeme philosophiert und es wird modernisiert. Deswegen müssen wir auch gegenüber denjenigen, die überlegen, ob sie sich eine nukleare Option schaffen sollten,
Glaubwürdigkeit demonstrieren. Unseren Partnern in
Ost und West sollten wir entsprechend Mut machen.
Herr Minister, ich freue mich, dass Sie den Vorsitz der
Nuclear Suppliers Group übernehmen. Das bedeutet
aber auch, dass Sie in der Nuclear Suppliers Group richtig abstimmen müssen, wenn es um Indien geht. Ich begrüße sehr, dass der Kollege Mützenich für die SPDFraktion gesagt hat: Es kann nicht sein, dass auf der
Grundlage der gegenwärtigen Bedingungen Deutschland
dem Nukleardeal zwischen den Vereinigten Staaten und
Indien zustimmt.
({5})
Meine Damen und Herren, es gibt - ich bin ein gnadenloser Optimist - vielleicht eine Chance, die Abrüstungspolitik wieder in Gang zu bringen. Ich freue mich,
dass Sie gesagt haben - wir haben Sie in diesem Jahr bereits mehrfach in Plenardebatten dieses Hauses dazu aufgefordert -, dass Sie die Abrüstungspolitik für die Bundesregierung ganz oben auf die Tagesordnung Ihrer
Politik setzen werden. Sie werden dabei unsere Unterstützung haben. Das wird ein schwerer Weg sein, und
zwar deshalb, weil die intellektuelle Herausforderung,
vor der wir stehen, wenn wir über Abrüstung bei asymmetrischer Bedrohung reden, sehr viel Musik enthält.
Wir werden Sie nach Kräften unterstützen. Ich hoffe,
dass wir bald Taten sehen werden; übrigens auch deshalb, weil Deutschland in der Völkergemeinschaft und
insbesondere in Europa eine ganz wichtige Rolle spielt,
da wir ein für alle Mal auf Atomwaffen verzichtet haben.
In Europa und darüber hinaus gibt es viele Länder, die
ebenfalls der Meinung sind, dass eine gute Zukunft und
ein großer Einfluss in der Weltpolitik auch dann möglich
sind, wenn man nicht über Atomwaffen verfügt.
Herzlichen Dank.
({6})
Herzlichen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Fast alles, was der Kollege Hoyer gesagt hat, ist
zu unterschreiben bzw. zu unterstreichen. Es ist wenig
hinzuzufügen. Trotzdem werde ich sicherlich noch einige Punkte finden.
Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrücklich den Stellenwert, den Sie der Rüstungskontrolle jetzt
einräumen und zukünftig einräumen wollen. Dieser Stellenwert spiegelt sich in dem sicherlich ehrgeizigen Ansatz wider, was die nächste Überprüfungskonferenz
anbelangt, und in dem ehrgeizigen Ansatz, bei beiden
Präsidentschaften - ich glaube, dass sich hier eine Verzahnung finden lässt - die Rüstungskontrolle ganz oben
auf die Tagesordnung zu setzen. Wir werden das unterstützen. Wir halten das für den richtigen Ansatz.
({0})
Die Debatte, die wir heute führen, ist außerordentlich
vielschichtig. Daher müssen wir uns davor hüten, mit
einseitigen Schuldzuweisungen zu arbeiten. Die Vielschichtigkeit zeigt sich beispielsweise in den Diskussionen, die wir im Unterausschuss führen. Herr Kollege
Schäfer, ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, dass wir
bezüglich gewissen Partnern und Bündnissen nicht einen
Zungenschlag in die Diskussion bekommen, der in meinen Augen wenig hilfreich wäre. Sie haben die NATO
genannt. Wenn in der Diskussion der Zungenschlag übrig bliebe, dass die NATO ein Faktor der Unsicherheit
wäre, dann wäre das - bei allem Reformbedarf - sicherlich falsch und ließe vergessen, welche Beiträge die
NATO in den vergangenen Jahren für unsere Sicherheit
und für die Stabilität in Europa geleistet hat und auch
heute noch leistet.
({1})
Die Rüstungskontrolle befindet sich - das ist heute in
allen Beiträgen angeklungen - in einer Krise. Herr Bundesaußenminister, Sie haben sogar von „Erosion“ gesprochen. Symptomatisch für diesen Befund ist mit
Sicherheit der derzeitige Zustand des Nichtverbreitungsvertrages. Für uns muss entscheidend sein, dass der Eindruck, der gerade vor dem Hintergrund der Situation in
Nordkorea und im Iran derzeit entsteht, dass Dreistigkeit
und Unverschämtheit siegen würden, niemals Maßstab
einer zielführenden Rüstungskontrollpolitik für uns sein
kann. Wir müssen diesem Eindruck entgegenwirken,
meine Damen und Herren.
Nun könnte man meinen, dass es der Alarm- und
Weckrufe in dieser und in vergangener Zeit genug gegeben habe. Allerdings scheinen sich einige internationale
Mitspieler noch ganz bewusst im Dornröschenschlaf befinden zu wollen. Manches Dornröschen mit Mundgeruch küsst man auch ungern wach. Das gilt sicherlich
auch für uns.
({2})
Das mag eine etwas harte Metapher sein,
({3})
aber sie spiegelt wider, vor welchen Defiziten und vor
welchen Paradoxa wir in dieser Thematik letztlich stehen. Die Mängel des Nichtverbreitungsvertrages sind
uns seit Jahren hinlänglich bekannt. Die fehlende Universalität ist letztlich nur paradigmatisch für viele andere
Dinge, die wir herausgreifen können und sollten. Geschehen ist letztlich wenig, zu wenig. Daher ist die Überprüfungskonferenz sicher der richtige nächste Schritt.
Was wäre zu tun? An sich ist mit den neuen Konfliktherden - wir spüren das heute Morgen - auch eine neue
Diskussionsdynamik gewonnen. Das ist wahrscheinlich
der einzige positive Schluss, den wir angesichts des insgesamt verheerenden Bildes ziehen können. Die Begleitung dieser Dynamik dürfen wir aber nicht allein den
Medien überlassen; auch wir hier in diesem Hause müssen sie aufgreifen - die heutige Tagesordnung spiegelt
das schon wider -, substanziell unterfüttern und ohne
einseitige Schuldzuweisungen mit unseren Partnern fortentwickeln. Insofern können wir sicherlich aus den gescheiterten Konferenzen der vergangenen Jahre lernen.
Manchmal ist der Lerneffekt auch ein guter, der in die
Zukunft hineinzureichen weiß.
In meinen Augen wäre auch eine Ausbalancierung
der Prozesse - zum einen Nichtverbreitung und zum anderen Abrüstung - geboten. Kollege Mützenich hat darauf hingewiesen. Angesichts der heute gegebenen Vernetzungen der asymmetrischen Komplexe neigen wir
noch dazu, in allzu starren, hergebrachten Mustern zu
denken. Ich glaube, wir müssen uns vom noch herrschenden Kastendenken verabschieden und kreativ neue
Wege aufzeigen, um die Ausbalancierung herzustellen.
Wir müssen aber auch differenzieren: So sehr aus nuklear aufgerüsteten Staaten Proliferationsrisiken entstehen können, so wenig wird aus der Umkehrung eine
zwangsläufige Logik. Sie haben auf den Punkt der Logik
hingewiesen, Kollege Hoyer. Wir dürfen daher nicht verkürzt argumentieren, sondern sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich nukleare Proliferation kaum durch hundertprozentige Abrüstungsbereitschaft der existierenden
Nuklearmächte vermeiden oder aufhalten lässt. Diesen
Punkt muss man immer wieder zur Sprache bringen. Das
heißt nicht, dass wir dem Ziel der völligen Abrüstung
von Nuklearwaffen nicht verpflichtet bleiben müssen
- das haben wir im Koalitionsvertrag ja auch entsprechend festgehalten -, sondern dass wir darauf achten
müssen, dass Hypothesen und Realitäten sich nicht in
gefährlicher Weise innerhalb der Argumentationsketten
vermengen.
Ich bezweifle leider, dass dem nordkoreanischen und
iranischen Streben nach Atomwaffen durch entsprechende Abrüstungsschritte des Westens tatsächlich Einhalt geboten werden könnte. Das sind zwei völlig unterschiedliche Ebenen, die wir zu behandeln haben. Das ist
bedauerlich und soll auch nicht falsch verstanden werden: Abrüstung ist dringend geboten. Doch man würde
es sich allzu leicht machen, lediglich isoliert vorzugehen. Wer glaubt, unsere Sicherheit würde sich sprunghaft erhöhen, wenn der Westen als solcher auf die Atomwaffen verzichten würde, der erliegt einer Illusion,
insbesondere solange wir Staaten wie Syrien und Iran
gegenüberstehen, die sich anderen Kontrollregimes nicht
verpflichtet fühlen; beispielhaft sei das Chemiewaffenübereinkommen oder das Biowaffenübereinkommen genannt. Es ist eine hochkomplexe Angelegenheit mit unterschiedlichen Schichten, in der man nicht zu brachial
argumentieren sollte. Das soll nicht heißen, dass gewisse
Zeichen bestimmter uns partnerschaftlich verbundener
Staaten im gesamten Abrüstungsbereich mit Blick auf
faktisch oder möglicherweise auch bündnispolitisch
nicht mehr benötigte Systeme und Waffen nicht wünschenswert wären. Das darf man ansprechen und das
sollte man auch in der entsprechenden Form ansprechen.
Es genügt natürlich nicht, gebetsmühlenartig immer
nur die Vereinigten Staaten zu nennen. Man sollte in diesem Kontext mit derselben Vehemenz, vielleicht mit einer noch größeren Vehemenz, auch einmal Russland benennen.
({4})
Heute ist auch auf Presidential Declarations oder Initiatives hingewiesen worden, die es im Jahr 1991 gab. Da
ist herzlich wenig geschehen. Auch Russland muss hier
in die Pflicht genommen werden.
({5})
Ein Zweites; auch das ist ein sehr komplexer Ansatz.
Es gilt in meinen Augen eine Politik zu entwickeln, die
sich zielführend mit dem zu Recht und zu Unrecht erhobenen Vorwurf der doppelten Standards auseinander
setzt. Das ist mittlerweile ein wechselseitig, und zwar
mit enormer Dynamik, erhobener Vorwurf. Es ist fast
eine Double-standards-Kultur entstanden, die wir nutzen, wann immer es uns wunderbar passt, gerade auch
im wirtschaftlichen Sinne, Herr Bundesminister. Beispielhaft sei hier die Debatte über das US-indische Nuklearabkommen - das ist heute schon angeklungen - genannt. Das ist eine außerordentlich schwierige Thematik,
die mit allen Schattierungen gesehen werden muss. Wir
dürfen diese Debatte nicht verkürzen. Man hat aber gelegentlich den Eindruck, dass mittlerweile die USA und
nicht Nordkorea oder Iran als hauptverantwortlich für
den Niedergang des Nichtverbreitungsregimes angesehen werden. Dazu wird dieses Abkommen jetzt gern herangezogen. Es wird auch ernsthaft argumentiert, dass
sich Iran und Nordkorea durch das Abkommen erst ermutigt gefühlt hätten, nach Atomwaffen zu streben. Das
ist - das muss klar festgestellt werden - barer Unsinn.
Dem Willen der internationalen Gemeinschaft läuft
das Verhalten Teherans und Pjöngjangs selbstverständlich entgegen. Aber dass dem US-indischen Abkommen
diesbezüglich eine Ursächlichkeit zugesprochen wird,
dem müssen wir einen Riegel vorschieben; denn das
nutzt in der Gesamtdebatte, die wir gerade führen, nun
wirklich niemandem. Das Abkommen zwischen den
USA und Indien ist im Hinblick auf diese beiden Problemkreise weniger das Problem. Es ist natürlich paradigmatisch für all die bekannten Schwächen des Nichtverbreitungsvertrages. Frau Zapf, das ist etwas, was Sie
mit großer Vehemenz und mit großer Verve bearbeiten.
Ich nehme an, dass Sie uns heute noch einige Punkte
nennen werden, die wir hier beachten müssen und in Zukunft beachten werden.
Die Verhandlungen laufen noch, was dieses Abkommen anbelangt. Vielleicht wäre es auch einmal geboten,
bei uns von parlamentarischer Seite auf die Kontakte zurückzugreifen, die beispielsweise zum amerikanischen
Senat bestehen. Weil gern so platt mit Schuldzuweisungen gearbeitet wird, will ich einmal sagen: In den USA
findet eine wirklich kontroverse Auseinandersetzung gerade im Senat statt. Das ist etwas, was wir positiv aufgreifen sollten. Da sollten wir nicht immer mit der flachen Hand über den Tisch fahren.
({6})
Zuletzt zum Iran. Ich bin für das dankbar, was der
Bundesaußenminister genannt hat. Ich möchte in diesem
Rahmen Folgendes sagen: Es sind schwierige und
manchmal fast dilemmatisch geprägte Verhandlungszüge, in denen man sich hier befindet. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten auf dem Gebiet
kreativ verantwortungsvoll gehandelt und verhandelt.
Das verdient auch einmal den Dank dieses Hauses. Was
hier zu leisten war, war nicht einfach. Es wurden viele
Impulse gesetzt - das muss man wirklich sagen - und
die Bundesregierung verhält sich hier entsprechend.
({7})
- Michael Schaefer ist in der Tat einer, der hier an der
Spitze zu nennen ist, mit Sicherheit, Herr Kollege Hoyer.
Es wäre zu wünschen, dass all das, was heute angeklungen ist, keine Eintagsfliege bleibt - zurzeit stehen
wir ja unter dem Eindruck der Probleme Nordkorea und
Iran -, dass dieser Tagesordnungspunkt so prominent besetzt bleibt und Kohärenz mit anderen Themenfeldern
findet. Herr Bundesaußenminister, unsere Unterstützung haben Sie, wenn Sie es in den kommenden Jahren
so hoch auf der Tagesordnung ansetzen. Ich danke Ihnen
allen dafür, dass Sie sich mit dieser Thematik entsprechend befassen. Hier liegt viel vor uns. Es sind komplexe Themenfelder.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenkundig: Die Nordkoreakrise offenbart auch die Krise
der Abrüstungspolitik. Israel, Indien und Pakistan ist
es gelungen, sich in den Besitz von Atomwaffen zu bringen, Nordkorea ist dabei und wir haben die schlimme
Vermutung, dass Iran Ähnliches betreibt.
Herr von Guttenberg, Sie haben hier gesagt, wir
müssten vermeiden, dass Dreistigkeit belohnt wird.
Diese Forderung kommt - ich muss das sagen - leider zu
spät. Schauen Sie sich die Reaktionen auf die Dreistigkeit von Indien und Pakistan an! Beide Staaten werden
heute mit Waffen bezahlt; alle Diskussionen über Embargos usw. sind beendet worden. Das ist der Hauptgrund, warum wir zu dem US-indischen Atomdeal so
kritisch stehen; denn genau das ist die Botschaft, die von
dieser Vereinbarung ausgeht: dass Dreistigkeit beim Zugriff auf Atomwaffen belohnt wird.
Man kann sich da auch nicht hinter Herrn Baradei
verstecken; er hat das ebenfalls konditioniert. Herr Bundesaußenminister, meinen Sie das, was Sie hier gesagt
haben, ernst? Sie sagen, wir könnten an Indien kein Nuklearmaterial liefern, wenn es nicht den Teststoppvertrag
unterschrieben hat; wir könnten das nur tun, wenn wir es
schaffen, Ihren richtigen Vorschlag der Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufes umzusetzen. Ich kann Ihnen sagen, wie Sie sich in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach in der Nuclear Suppliers
Group verhalten müssen, wenn Sie diese Bedingungen
ernst nehmen, Herr Bundesaußenminister: Sie werden
Nein sagen müssen an dieser Stelle. Sie werden sich genau so verhalten müssen, wie wir als Grüne das hier beantragt haben.
({0})
Ich glaube, dass es richtig ist, an dieser Stelle Nein zu
sagen; denn eine Welt, in der 15, 20 oder mehr Staaten
über Nuklearwaffen und die entsprechende Technologie
verfügen, was dazu führt, dass wir uns mit möglicher illegaler, halblegaler oder auch legaler Lieferung von solcher Technologie an Verbrecher, an Terroristen auseinander zu setzen haben, können wir uns, glaube ich, nur sehr
schwer vorstellen.
Ich habe immer gesagt, dass - da sind wir vielleicht
sogar einer Meinung - es vernünftig wäre, insgesamt auf
die Nutzung der Kernenergie zu verzichten. Das ist der
beste Schutz vor Proliferation. Aber wenn Sie diesen
besten Schutz nicht weltweit realisieren können, dann ist
es notwendig, die Fragen der Anreicherung und der Wiederaufarbeitung einem konsequenten multilateralen Regime zu unterstellen. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich
zu. Aber dieses multilaterale Regime wird nur dann erfolgreich sein, wenn es kein einseitiges ist, wenn es eines
ist, das auch uns hier in Deutschland und ebenso die
USA, Russland, Frankreich und alle anderen betroffenen
Staaten entsprechend bindet und einbindet. Nur dann
wird es ein glaubwürdiges und belastbares Regime sein,
das die Verbreitung von solchen Technologien, die eben
auch für kriegerische Zwecke zu nutzen sind, tatsächlich
unterbinden kann.
({1})
Bezüglich der heute Atomwaffen besitzenden Mächte
will ich hier nicht über Schuld und Ähnliches lange streiten, Herr von Guttenberg. Sie haben Recht, die aktuell
größte Bedrohung ist die, die von Nordkorea ausgeht;
das ist richtig. Aber Sie können doch nicht in Abrede
stellen, dass die permanente Weigerung, nuklear abzurüsten - Russlands, Chinas, der USA, Großbritanniens,
Frankreichs, also all derjenigen, die diese Waffen besitzen -, eine der Hauptursachen gewesen ist, dass es bei
der Nichtverbreitungskonferenz nicht zu einem Ergebnis
gekommen ist. Auch das dürfen wir in einer solchen Debatte nicht verschweigen.
({2})
Ich füge hinzu: Man muss sich gelegentlich an die eigene Nase fassen. Es kann nicht sein, dass in der Debatte
in dieser Woche über die Frage der Abrüstung gesprochen wird - was richtig ist, Herr Bundesaußenminister -,
aber uns in der nächsten Woche der Bundesverteidigungsminister den Entwurf eines Weißbuchs, abgesegnet durch einen Kabinettsbeschluss, präsentiert. Ich
möchte gerne einmal wissen, lieber Herr Jung und lieber
Herr Steinmeier: Findet sich auch nach dem Kabinettsbeschluss der Satz, der noch im Entwurf des Weißbuchs
enthalten ist, wieder, nämlich dass für eine glaubhafte
Abschreckung die nukleare Drohung nach wie vor unverzichtbar ist? Das heißt, Sie bedienen selber die Logik
derjenigen, die heute nach Atomwaffen greifen. Deshalb
sage ich: Kehren Sie vor der eigenen Haustür!
({3})
Sorgen Sie dafür, dass dieser Satz bis zur nächsten Woche aus dem Weißbuch gestrichen wird!
({4})
Wenn wir über Abrüstung reden, dann müssen wir
auch und gerade den Bereich der konventionellen Waffen einbeziehen. Ich glaube übrigens, dass es im Deutschen Bundestag für weitergehende Schritte - damit
meine ich nicht nur den Verzicht auf nukleare Teilhabe
Deutschlands - wie die wirksame Begrenzung von
Kleinwaffen und ein Verbot von Antifahrzeugminen
oder von Streumunition eine breite Mehrheit gibt. Aber
diese breite Mehrheit zeigt sich angesichts der Vereinbarungen der großen Koalition im Deutschen Bundestag
nicht. Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was beispielsweise der Vorsitzende der Sozialdemokratischen
Partei, Kurt Beck, auf einer gemeinsamen Veranstaltung
mit dem Bundesaußenminister geklärt hat. Er hat nämlich gefordert, die Frage der Abrüstung nachdrücklich
auf die Tagesordnung zu setzen.
Wir hätten uns gefreut, wenn angesichts des Besuchs
von Hans Blix nächste Woche anlässlich der Vorstellung
seines Berichts Deutschland seine Absicht bekunden
würde, im Bereich der Abrüstung die eine oder andere
Initiative, die sich im Bericht findet, zu unterstützen.
Aber wenn wir uns gerade die Bereiche Kleinwaffen
und Streumunition ansehen, dann muss man sagen,
dass auf diesem Feld, lieber Herr Kollege Mützenich,
erst einmal gar nichts passiert.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf folgenden
Punkt hinweisen: Gestern erst hat der Menschenrechtsausschuss unseren Antrag zum effektiven Regime über
Kleinwaffen abgelehnt. Der Knackpunkt, warum er abgelehnt wurde, war, dass nicht nur illegale, sondern eben
auch legale Exporte und die entsprechende Munition unter ein solches Regime gestellt werden sollten. Ich finde
es nicht glaubwürdig, auf Konferenzen der FriedrichEbert-Stiftung für Abrüstung zu plädieren und gleichzeitig solche Anträge im Deutschen Bundestag abzulehnen.
({5})
Ich will diese kritische Betrachtung für den Bereich
der Streubomben fortsetzen. Ich habe hier mit großem
Interesse die Aussagen des Bundesaußenministers über
ein Verbot von Streubomben gehört. Schauen wir uns die
Debatten dieser Tage im Bundestag an, dann muss man
sagen, dass das, was Union und SPD miteinander vereinbaren konnten - ich will Ihnen unterstellen, dass Sie eigentlich etwas anderes wollten; aber Sie konnten nur das
vereinbaren -, in dem schönen Satz gipfelte, man wolle
die „gefährliche Streumunition verbieten“. Mir ist neu,
dass es auch ungefährliche Streumunition gibt.
Es ist völlig egal - das können Sie zurzeit im Libanon
sehen -, ob in einem Cluster von Streubomben 10, 30
oder 40 Prozent der Munition nicht explodieren. Es ist
egal, ob 50 oder 500 Pellets zum Beispiel in einer Plantage liegen. In jedem Fall kann diese Plantage nicht
mehr betreten und nicht mehr bewirtschaftet werden. Ein
einziges dieser Pellets reicht aus, um ein Kind zu einem
Invaliden zu machen oder sogar zu töten.
Deswegen sage ich Ihnen: An dieser Stelle können
Sie nicht einen solch halbseidenen und inkonsequenten
Kurs fahren. Diese Munition darf insgesamt nicht akzeptiert werden. Es ist eine Tatsache, dass die gleiche Munition, die jetzt im Libanon zu finden ist und täglich zu Todesfällen führt, im Besitz unserer Bundeswehr ist. Die
Bundeswehr sollte diese Munition in eine geordnete Entsorgung überführen. Wir dürfen solche Waffen nicht besitzen. Das bedeutet, Abrüstung in unserem Lande
durchzuführen.
({6})
Es ist viel von den 80er-Jahren die Rede gewesen. Ich
will Sie an eine Lehre aus den 80er-Jahren erinnern.
Es gab damals immer das Bestreben, nur dann abzurüsten, wenn die andere Seite etwas tut. Da galt das Motto:
Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Die Friedensbewegung hat dem eine ganz einfache Erkenntnis entgegengesetzt: Abrüstung beginnt immer bei einem selber. Abrüstung beginnt dadurch, dass wir konsequent auf eine
nukleare Teilhabe verzichten. Abrüstung beginnt bei der
Forderung, Kleinwaffen einem internationalen Regime
zu unterwerfen. Abrüstung beginnt, wenn wir sagen: Wir
wollen, dass Streumunition verboten wird. Wir wollen
solche Waffen nicht mehr besitzen. - Das ist glaubwürdige Abrüstungspolitik.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Trittin, ich fühle mich, obwohl ich das eigentlich nicht wollte, bemüßigt, ein Wort zu Ihrer Kritik an
unserem Antrag zur Streumunition zu sagen. Sie sind
lange genug in der Politik, um zu wissen, wie schwierig
es in dem gesamten Prozess um Antipersonenminen und
andere Minenarten war, Fortschritte zu erreichen. Dasselbe gilt für die Streumunition. Ich finde, dass der
Schritt-für-Schritt-Ansatz im Hinblick auf die Aussteuerung einer ganzen Kategorie von Streubomben und den
Auftrag an die Bundesregierung, entsprechend zu verhandeln, den wir formuliert haben, schon einmal ein
Fortschritt ist. Wir sollten verfolgen, wie es in Bezug auf
die internationalen Abkommen weitergeht.
({0})
Ich will nun etwas tun, was heute eigentlich angebracht gewesen wäre und immer gemacht wurde, heute
aber in der Agitation über die weltpolitische Situation
vergessen wurde, nämlich ganz herzlich für die Vorlage
der Abrüstungsberichte - jeweils für die Jahre 2004 und
2005 können wir einen entgegennehmen - zu danken. Es
sind hervorragende Berichte.
({1})
Dies ist eine gute Arbeitsgrundlage. Man sollte auch
während des Jahres immer wieder einmal in den jeweiligen Bericht schauen, wenn man Initiativen in Gang setzen will. Auch für die gute Zusammenarbeit mit dem
Auswärtigen Amt möchte ich danken.
Zur allgemeinen Situation, zu der Aufgabe, die wir
haben, ist schon in vielen Reden etwas gesagt worden.
Deshalb werde ich versuchen, mein Konzept etwas zusammenzustreichen und auf ein paar wichtige Punkte
einzugehen, die noch erwähnt werden sollten. Wir haben
konstatiert, dass der Zeitpunkt des 9. Oktobers 2006,
10.36 Uhr, der Todesstoß für das Nichtverbreitungsregime gewesen sein könnte. Wir haben festgestellt, wo
überall es in den letzten Jahren Rückschritte in der
Nichtverbreitungspolitik gegeben hat. Wir haben auch
festgestellt, dass dies ein Anlass für uns ist, der Abrüstungspolitik einen neuen Schub zu geben, Impulse zu
setzen und miteinander darüber zu beraten, was gemacht
werden muss.
Die Situation ist doch so, dass der für die Nichtverbreitungspolitik so wichtige 13-Punkte-Aktionsplan
nach dem Jahre 2000, in dem dieser von der Überprüfungskonferenz verabschiedet worden ist, in keiner
Weise umgesetzt worden ist. Deshalb plädiere ich dafür,
noch einmal zu schauen, was für uns die wichtigsten Ansatzpunkte für unsere Nonproliferationspolitik sind.
Wenn wir den 13-Punkte-Aktionsplan noch einmal betrachten, dann können wir vielleicht ein paar Ansatzpunkte herausfiltern.
Kollege von Guttenberg, wir machen keine Schuldzuweisungen. Aber wir müssen bei der Analyse sauber sein
und hinterfragen, warum bestimmte Dinge schief gelaufen sind. Es gibt - darauf werde ich gleich noch einmal
zurückkommen - Doppelstandards. Wir müssen aber
auch konstatieren, dass diese 13 Punkte, die damals auch in diesem Hause - breiter Konsens waren, nicht
eingelöst worden sind und es dafür Verantwortliche gibt.
Als Erstes nenne ich den Atomteststoppvertrag. Er
wurde von den Amerikanern signiert, nicht ratifiziert
und wird jetzt infrage gestellt. Deshalb wird ein ganz
wichtiger Eckstein der zukünftigen Nichtproliferationspolitik nicht weiter ausgebaut.
Das Zweite ist das Cut-off-Abkommen. Wenn es uns
nicht gelingt, ein Verbot der Produktion waffenfähigen
Nuklearmaterials zu erreichen, werden wir der Proliferation nicht genügend entgegenzusetzen haben.
Ein weiterer Punkt - er wurde schon erwähnt - sind
die Sicherheitsgarantien. Ich glaube, dass es für ganz
viele Nichtnuklearstaaten von äußerster Wichtigkeit ist,
die Zusicherung zu bekommen, nicht nuklear angegriffen zu werden, wenn sie selbst keine Nuklearwaffen haben. Diese Sicherheit haben sie aber nicht.
Der Konsens ist auch - das muss man einmal sagen aufgrund von Entscheidungen der Kernwaffenstaaten
zerbrochen. Das ist keine Schuldzuweisung, sondern
eine Erinnerung an die Verantwortung der Kernwaffenstaaten. Sie haben ihre Arsenale verändert, weiterentwickelt und neue Kategorien entwickelt. Dadurch
drohen Kernwaffen mehr und mehr zu Kriegsführungswaffen zu werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen letzten
Punkt anführen. Wir müssen feststellen - ich sage das
ganz vorsichtig -, dass sich die Nuklearstrategien in
Richtung Kriegsführungsstrategien mit Nuklearwaffen
zu entwickeln drohen. Auch das trägt dazu bei, dass es
Länder gibt, die sagen: Vielleicht wäre es doch ganz nett,
über Nuklearwaffen als Abschreckungspotenzial zu verfügen.
Das Ausscheren von Nordkorea und Iran aus dem
Nonproliferationsregime ist hier ausreichend dokumentiert und kommentiert worden. Ich will, provoziert durch
meinen Kollegen zu Guttenberg und das, was Frau Hoff
zum Indien-USA-Nuklearabkommen gesagt hat, ein
paar Worte sagen. Ich mache mir große Sorgen. Ich
glaube, dass wir in diesem Hohen Hause zu einem Konsens kommen und unserer Regierung einen Auftrag erteilen müssen. Das gilt insbesondere, wenn diese Regierung in der Nuclear Suppliers Group eine Rolle spielen
will.
Herr von Klaeden, ich teile Ihre Auffassung nicht,
dass Herr al-Baradei Recht hat, wenn er sagt: Das ist ein
gutes Abkommen, es führt Indien an das Nonproliferationsregime heran. Das wird das Abkommen in der vorliegenden Form nicht leisten können. Das Abkommen
wird sicherlich für die Umwelt, die Energiepolitik und
alles mögliche andere gut sein. Auch das sind Punkte,
die al-Baradei genannt hat. Es wird Indien aber nicht an
das Nonproliferationsregime heranführen.
Ich will einige Punkte anführen, die meines Erachtens
für eine Zustimmung in der Nuclear Suppliers Group
notwendig wären. Ob wir uns hier auf alle Punkte einigen können, weiß ich nicht. Ich habe versucht, zusammenzufassen, was uns einigermaßen aus der Zwickmühle herausbringen könnte.
Der erste Punkt wurde schon erwähnt: Zeichnung und
möglichst Ratifizierung des Atomteststoppvertrages. Indien hat gesagt: Wir werden nicht testen. Es hat aber eine
Klausel eingefügt, nach der es doch testen kann, wenn es
meint, das tun zu müssen. Mein Vorschlag geht darüber
hinaus. Die Zeichnung und Ratifizierung wären also auf
alle Fälle gut.
Zweitens: Produktionsstopp von waffenfähigem
Spaltmaterial. Alle Nuklearstaaten haben sich dazu verpflichtet. Alle, inklusive China, halten sich daran. Deswegen werden wir das auch von Indien, das sich dem
bisher schlicht verweigert, verlangen müssen.
({2})
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn sonst passiert
das, was viele Analysten befürchtet haben, nämlich dass
dadurch, dass wir Brennstoff für die zivilen Reaktoren
liefern, die unter der Inspektion der IAEA stehen, anderes Material zur Produktion von waffenfähigem Material
frei wird und damit das indische Atomprogramm aufwächst, so, wie Indien es ganz offen verkündet hat. Das
muss verhindert werden.
Dann müssen mit der IAEA Full-Scope-SafeguardAbkommen getroffen und ein Zusatzprotokoll abgeschlossen werden. Wir müssen darauf dringen, dass eine
Deckelung des Nuklearwaffenarsenals auf dem heutigen
Stand stattfindet. Denn sonst findet tatsächlich ein Aufwuchs statt und Indien würde sozusagen als Kernwaffenstaat legitimiert.
Wir müssen Restriktionen bei den Lieferungen der
Nukleartechnologie und des -materials vornehmen. Das
heißt, dass wir keine Anreicherungs- und Wiederaufbereitungstechnologie und keine Schwerwassertechnologie
liefern dürfen. Das hat übrigens der Kongress in seiner
Resolution selber so formuliert.
({3})
Das ist sehr hilfreich.
Wir müssen darauf dringen, dass eine Endverbleibsklausel eingeführt wird, dass also gelieferte Nukleartechnik und -material nicht an Dritte weitergereicht werden dürfen. Wir müssen für den Fall, dass Indien einen
Atomtest durchführt, den Stopp der Kooperation und aller Lieferungen verlangen. Das lehnen die Inder voller
Empörung ab. Das verstehe ich nicht. Wir müssen auch
dafür sorgen, dass Indien seinerseits die restriktiven Exportgesetze für die Weitergabe von Technologien übernimmt. Das hat Indien nicht immer eingehalten. Es hat
keinen sauberen Rekord hinsichtlich der Nichtverbreitung.
Frau Zapf, bedenken Sie bitte Ihre Redezeit.
Ich bin sofort fertig.
Es gibt eine viel beklagte und von den USA sanktionierte Zusammenarbeit mit dem Iran, in deren Rahmen
Materialien geliefert worden sind, die eigentlich auf der
Sanktionsliste der Amerikaner stehen. Auch das muss
ein Gesichtspunkt sein.
Ich habe nach dieser Debatte ein bisschen Hoffnung
- das ist mein letzter Satz -, dass wir gerade in dieser
wichtigen Frage zu einem Konsens kommen und dass es
uns vielleicht gelingt, mit dem Ansatz, der hier von Frau
Hoff, von mir und von anderen vorgetragen wurde, einen
überfraktionellen Antrag zu stellen. Herr zu Guttenberg,
ich zähle auf Sie.
Frau Zapf, bitte!
Ich bin fertig.
Herzlichen Dank.
({0})
Sie haben eine Hustenzeitzulage bekommen. Anders
ist die Überschreitung der Redezeit nicht zu begründen.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir führen heute die Debatte über die Jahresabrüstungsberichte 2004 und 2005. Auch wenn zeitlich
gesehen in diesen Berichten eine nachträgliche Betrachtung vorgenommen wird, so steht die Thematik - das haben wir heute schon sehr oft gehört - gerade in diesen
Tagen ganz weit oben in der Prioritätenliste. Nordkorea
und Iran zeigen uns gegenwärtig deutlich, welche
potenzielle Gefahr weiterhin - auch nach dem Ende des
Kalten Krieges - für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes von Nuklearwaffen - hier ein Einschub für
Herrn Trittin - in den falschen Händen ausgeht.
Beide Staaten versuchen, mit ihrer ignoranten und
provozierenden Haltung ihre negativen Interessen skrupellos durchzusetzen. Dieser klägliche Versuch eines
Katz-und-Maus-Spiels ist mit aller Nachdrücklichkeit zu
verurteilen. Er wird scheitern; denn die Weltgemeinschaft steht geschlossen zusammen und spricht ein deutliches Nein zu weiteren Atomwaffentests in Nordkorea,
zur weiteren Anreicherung von nuklearwaffenfähigem
Material im Iran und zur illegalen Weiterverbreitung von
Trägermitteln.
({0})
Ich bin fest davon überzeugt, dass die vom UNSicherheitsrat beschlossenen Sanktionen die einzig
richtigen Maßnahmen sind, die von uns allen unterstützt
werden sollten. Nordkorea und der Iran müssen durch
Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Ihnen muss bewusst werden - ja, sie müssen es förmlich zu spüren bekommen -, dass Ignoranz zu Isolation und zu wirtschaftlichen Einbußen führt.
Das vordergründigste Ziel der Bemühungen der Weltgemeinschaft muss allerdings bleiben - ich hoffe, darin
sind wir uns hier im Hause einig -, eine Lösung nur auf
friedlichem Wege herbeizuführen.
Die Proliferationsgefahren im Nahen und Mittleren
Osten sowie auf der koreanischen Halbinsel beschäftigen uns nicht erst seit letztem Montag. In den beiden
vorliegenden Abrüstungsberichten der Jahre 2004 und
2005 geht die Bundesregierung daher schwerpunktmäßig auf diese Regionen ein. Ziel ist, die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen einschließlich ihrer Trägermittel in friedlicher Mission zu verhindern. Letztlich
muss die endgültige Abschaffung solcher Waffen, insbesondere in den genannten Regionen, angestrebt werden.
Allerdings sind nicht nur Nordkorea und der Iran ein
Bedrohungsschwerpunkt. Daher wird in beiden Jahresabrüstungsberichten zu Recht darauf hingewiesen, dass das
Risiko der Proliferation von Massenvernichtungswaffen
nicht regional begrenzbar ist. Nichtstaatliche Akteure
und terroristische Gruppen schmieden weltweit ihre
Pläne für weitere Angriffe. Die Ereignisse in New York,
Madrid und Istanbul haben uns dies leider auch vor unserer eigenen Haustür vor Augen geführt. Die Antwort,
die die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die regionale Unbestimmtheit dieses Risikos gibt, ist richtig und
von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen
Terrorismus und Gewalt. Globalen Gefahren muss global begegnet werden. „Global“ bedeutet in diesem Fall
immer: gemeinsam.
Die Weltgemeinschaft muss zusammenhalten. Wie
ich zu Beginn meiner Rede sagte, tut sie das auch, zumindest in Bezug auf Nordkorea und den Iran. Nur die
Bewahrung des im Bericht beschriebenen Konsenses
der internationalen Staatengemeinschaft kann uns vor
der Weiterverbreitung solcher Waffen schützen. Die
Bundesregierung fördert diesen Konsens in Übereinstimmung mit der am 12. Dezember 2003 verabschiedeten EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Eine internationale Ordnungspolitik mit den Paradigmen der Allgemeinverbindlichkeit und der Transparenz der Regularien sowie - das ist ganz wichtig - die
Vereinten Nationen als Wächter sind dabei oberste
Handlungsmaxime. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen
und mit aller Notwendigkeit im Sinne von Frieden und
Stabilität in der Welt fortzuführen. Operativ bilden unserer Meinung nach die Sechsergespräche sowie die Gespräche innerhalb der EU 3 das geeignete Forum, um unsere Ziele im Hinblick auf diese sensible und polypole
Thematik zu erreichen.
Zugegeben, es ist bedauerlich, dass die Verhandlungen im Zusammenhang mit den Nuklearwaffenprogrammen des Iran und Nordkoreas in den Jahren 2004 und
2005 sowie leider auch gegenwärtig noch ohne greifbare
Erfolge geblieben sind, was sicherlich nicht an uns gelegen hat. Dennoch gilt es, diesen Weg und die Deeskalationsstrategie gemäß der Verantwortung für den Weltfrieden konsequent weiter zu verfolgen.
({1})
Meine Damen und Herren, wie bereits erwähnt, standen nicht nur der Iran und Nordkorea im Blickpunkt der
abrüstungspolitischen Bemühungen. In beiden Berichten
werden auch Fortschritte in anderen Bereichen aufgeführt.
Diese sind ebenfalls von zentraler Bedeutung und sollten
genügend Beachtung finden. Stellvertretend möchte ich
nur die Erfolge, die im Zusammenhang mit der Kleinwaffenproblematik erzielt wurden, nennen. Laut Angaben der Vereinten Nationen machen jährlich 600 Millionen Klein- und Leichtwaffen die Welt unsicher. 300 000
Menschen sterben jährlich durch ihren Einsatz in den
Konflikten der Welt. Kofi Annan sagte auf einer UNKonferenz in New York: „Das große Töten geschieht
durch Kleinwaffen.“
Das ist nicht von der Hand zu weisen. Denn in den
meisten Konflikten spielen diese Waffen die dominierende Rolle. Dabei geht es nicht nur um unsere ohne
Zweifel sehr große Verantwortung gegenüber den vielen,
meist zivilen Opfern in zahlreichen Ländern dieser Erde,
sondern auch - das darf nicht vergessen werden - um
unsere Verantwortung gegenüber unseren eigenen Soldaten, die beispielsweise im Kongo, im Sudan oder in
Afghanistan im Einsatz für Frieden und Freiheit sind.
({2})
Ich konnte mir in der letzten Woche zusammen mit
Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss in Afghanistan ein Bild davon machen, welche
Unmengen von illegalen Kleinwaffen von den Taliban,
von Drogenbaronen und anderen Verbrechern gehortet
werden und so eine Bedrohung unserer Truppen darstellen. In diesem Zusammenhang ist es natürlich zu begrüßen, dass seit der Zeichnung des Ottawa-Abkommens
Ende 1997 nun im Dezember 2005 ein erstes globales
Rüstungskontrollabkommen im Konsens von der UNGeneralversammlung verabschiedet wurde, welches es
den Staaten ermöglicht, unerlaubte Kleinwaffen und
leichte Waffen rechtzeitig und zuverlässig zu identifizieren und, was ganz wichtig ist, ihre Lieferung zurückzuverfolgen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht
versäumen, den daran Beteiligten der Bundesregierung
für ihr Engagement meinen Dank auszusprechen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die erzielten
Fortschritte als Ansporn nehmen, den eingeschlagenen
Weg mit allem Nachdruck weiterzugehen. Nordkorea
und der Iran sowie die anderen ungelösten Probleme
werden mit Sicherheit auch in Zukunft all unsere Aufmerksamkeit erfordern. Es gilt, mit allem Nachdruck zu
verhindern, dass Iran eine Atombombe herstellt, und
Nordkorea muss dazu bewogen werden, sein Atomwaffenprogramm glaubhaft einzustellen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5801, 16/1483 und 16/3011 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/2999
soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck-
sache 16/1483 überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarpolitischer Bericht 2006 der Bundesregierung
- Drucksache 16/640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2005 bis 2008
- Drucksache 15/5820 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Impfen statt Töten - Praxisreife Markerimpfstoffe entwickeln und anwenden
- Drucksache 16/1442 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Zum Agrarpolitischen Bericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Horst Seehofer.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Agrarwirtschaft ist für unser Land nicht nur volkswirtBundesminister Horst Seehofer
schaftlich von großer Bedeutung. Sie befindet sich derzeit in guter, in Teilbereichen sogar in blendender
Verfassung. Das gilt für das, was für die Menschen produziert wird, unsere Lebensmittel, unsere Nahrungsmittel: beste Qualität, gesunde Produkte. Mir liegt sehr
daran, darauf hinzuweisen, dass an den Lebensmittelskandalen der letzten Monate kein einziger landwirtschaftlicher Betrieb, keine Bäuerin, kein Bauer beteiligt
war. Das heißt, dass unsere Bauern gut ausgebildet sind
und sehr verantwortlich mit der Schöpfung umgehen.
({0})
Die Agrarwirtschaft erlebt seit einiger Zeit einen
mächtigen Aufwind. Das kann man an verschiedenen Indikatoren festmachen. Es geht los beim Export, wo die
Zeichen auf Erfolg stehen: Seit 1993 hat sich das Exportvolumen unserer landwirtschaftlichen Produkte von
17,7 Milliarden Euro auf über 34 Milliarden Euro verdoppelt. Es wird oft darauf hingewiesen, dass alleine die
Zuwächse der Exporte nach Osteuropa im letzten Jahr
um 30 Prozent gestiegen sind. Die große Befürchtung,
dass die Erweiterung der Europäischen Union von der
deutschen Agrarwirtschaft nicht zu schultern sei, ist
widerlegt worden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich darf
darauf hinweisen, dass es in unserem Ministerium auch
aus diesem Grunde seit einigen Monaten eine Koordinierungsstelle für Exportförderung gibt.
Der Biomarkt boomt mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Nachfrage nach Holz steigt in nicht geahnte Höhen. Der Umsatz im Bereich des Holzes ist in Deutschland bei mittlerweile 115 Milliarden Euro angelangt. Die
Preise machen in vielen Bereichen einen gewaltigen
Sprung nach oben. In den letzten Monaten sind die
Preise für Brotweizen, Hafer und Mais um 20 Prozent
nach oben geschnellt. Für den Brotroggen war sogar eine
Preissteigerung von 30 Prozent zu verzeichnen. All diese
Daten und Entwicklungen stützen die These, dass die
deutsche Landwirtschaft wirtschaftlich in einem mächtigen Aufwind ist. Durch all dies werden Einkommen, Arbeitsplätze und Investitionen gesichert. Wir sollten viel
mehr positiv darüber reden, damit wir wieder junge
Menschen für einen Beruf in der Landwirtschaft gewinnen. Die Landwirtschaft ist lukrativ und hat Zukunft.
({1})
Mit dem Thema Klasse statt Masse, das in den letzten vier Jahren immer wieder eine Rolle gespielt hat,
möchte ich mich noch einmal kurz beschäftigen. Wir
stellen 80 Prozent der von uns benötigten Nahrungsmittel hier in Deutschland her. Wir haben einen hohen Grad
der Selbstversorgung. Bezüglich des Exportes unserer
Produkte sind wir an vierter Stelle auf der Welt. Erst
kommen die Amerikaner, dann die Franzosen, dann die
Niederländer und dann die Deutschen, was übrigens ein
sehr starkes Indiz dafür ist, dass weltweit Vertrauen in
unsere Produkte gesetzt und die Qualität geschätzt wird.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die typisch deutsche Phrase, die vor einigen Jahren hier an diesem Pult
geäußert wurde - wir möchten nicht Masse, sondern wir
wollen Klasse -, sehr ideologisch gefärbt war. Es war
nämlich auch falsch. Wir haben mit unseren Produkten
einen hohen Marktanteil in Deutschland und wir sind
beim Export weltweit Spitze, nämlich unter den Top
four. Mit all dem, was wir national produzieren und vermarkten sowie international exportieren, haben wir nicht
nur einen hohen Marktanteil, sondern dies zeugt auch
von einer hohen Qualität der Produkte, also von Klasse.
({2})
Deshalb gilt für mich nicht die Forderung Klasse statt
Masse, sondern ich finde, dass wir stolz darauf sein können, dass wir Masse haben und diese Masse auch klasse
ist. Beides gehört zusammen.
({3})
Ein wichtiger Punkt ist auch die Innovationskraft
bzw. die Dynamik in unserer deutschen Landwirtschaft.
Es lacht einem das Herz, wenn man in Deutschland unterwegs ist und die Betriebe besucht. Ich behaupte, dass
die deutsche Agrarwirtschaft ein Motor für den technologischen Fortschritt in unserem Lande ist. Wir sind auf
der Höhe der Zeit. Ich kenne kaum Bereiche, die einen
scharfen Strukturwandel, dem sie seit vielen Jahren ausgesetzt waren, so wie die deutschen Bäuerinnen und
Bauern angenommen haben. Ich nenne nur das Stichwort „nachwachsende Rohstoffe“. Es wurde nicht viel
nachgefragt, welche Subventionen und welche Unterstützung es durch den Staat gibt. Die Landwirte haben
die Dinge selbst in die Hand genommen und auf einen
großen Erfolgsweg gebracht.
({4})
Ich nenne die Stichworte Biogas, Biomasse und Biokraftstoffe. Wir investieren zum Beispiel viel in die Produktion von Biogas. Ich werde alles dafür tun, dass das
von den Bauern produzierte Biogas in absehbarer Zeit
auch für unsere Erdgasversorgung eingespeist wird. Es
ist überhaupt nicht einzusehen, warum das nicht der Fall
sein sollte.
({5})
Immer dann, wenn etwas positiv läuft, betreten natürlich die Skeptiker wieder die Bühne. Manchmal habe ich
den Eindruck, dass manche, die auf diesem Feld tätig
sind, ihren Kindern nur deshalb zu kleine Schuhe kaufen, damit sie von Kindesbeinen an lernen, zu jammern.
({6})
Jetzt höre ich nämlich schon wieder kritische Stimmen, die fragen, ob wir genügend Flächen für die Nahrungsmittelproduktion und für nachwachsende Rohstoffe haben. Dass wir eine solch positive Entwicklung
haben - auch wirtschaftlich -, liegt eindeutig an der
Politik der Pluralität und der Vielfalt. Wir haben den
Landwirten in Deutschland mehrere Möglichkeiten eröffnet: Nahrungsmittelproduktion, Rohstoffproduktion,
Pflege der Kulturlandschaft und Verbindung der
Landwirtschaft mit dem Tourismus, der Freizeit und der
Erholung, Kollege Ernst Hinsken. Aus mehreren Möglichkeiten ergeben sich höhere Chancen. Aus höheren
Chancen ergeben sich bessere wirtschaftliche Erfolge.
Ich warne davor, in die Diskussion einzusteigen, ob es
für all diese Nutzungsmöglichkeiten unseres Bodens in
der Bundesrepublik Deutschland ausreichend Flächen
gibt. Ich habe darauf eine ganz einfache Antwort: Das
soll um Gottes willen keine ministerielle Planungsbürokratie, sondern niemand anders als der Markt entscheiden.
({7})
Das, was ich hier zu vermelden habe, ist in erster Linie ein Erfolg der Bauern.
({8})
Ich registriere aber auch, dass die Bauern wieder Vertrauen in die Politik haben. Wir haben in allen Bereichen, die uns betreffen, Wort gehalten. Ich verweise auf
die Agrarverhandlungen der Welthandelskonferenz,
auf der wir die deutschen Bauern nicht auf dem Altar der
Welthandelskonferenz geopfert haben. Vielmehr haben
wir deutlich gemacht: Wir sind nur dann für die Öffnung
der Märkte und den Wegfall der Exportsubventionen,
wenn dies für alle Länder dieser Erde gilt. Es geht um
faire Wettbewerbsbedingungen.
({9})
Wir haben in der sozialen Sicherung, was die Beteiligung des Bundes an Zuschüssen betrifft, verlässliche
Bedingungen geschaffen. Die Bauern haben in Europa
wieder eine Stimme. Sie müssen nicht nach Paris fahren,
wenn in Brüssel ihre nationalen Interessen vertreten werden sollen. Eine Reise nach Berlin reicht aus.
Wir haben den ländlichen Raum mit seiner Bedeutung
mit einer langen Dialogreihe zur Zukunft des ländlichen Raumes, die wir eröffnet haben, wieder in den
Mittelpunkt gerückt. Das betrifft auch, aber nicht nur die
Landwirtschaft. Ich verweise darauf, dass wir sehr hart
daran arbeiten, damit der ländliche Raum bei der Entwicklung der neuen Technologien nicht abgehängt, sondern einbezogen wird, zum Beispiel bei der Einführung
des Breitbandkabelnetzes. Das ist für die Entwicklung
des ländlichen Raumes unglaublich wichtig.
({10})
Ich hatte am Montag gemeinsam mit dem Kollegen
Gabriel ein Gespräch mit Vertretern aller deutschen Automobilhersteller, der Mineralölwirtschaft und dem
Deutschen Bauernverband. Das Thema war die mittelfristige und langfristige Weiterentwicklung der Biokraftstoffe. Das ist auch hinsichtlich der Wertschöpfung im
ländlichen Raum ein ungeheuer spannendes Thema.
({11})
Wir streben an, in Deutschland eine Großanlage für
Kraftstoff aus Bt-Mais für die nächste Generation der
Biokraftstoffe zu errichten. Aber ich möchte nur darauf
hinweisen, dass wir wegen der zweiten Generation nicht
die Chancen der ersten Generation ungenutzt lassen dürfen.
({12})
Eine zweite Generation hat nach der Logik nur dann einen Sinn, wenn die Chancen der ersten Generation genutzt werden. Dabei verweise ich ohnehin darauf, dass
wir bei der ersten Generation wegen vieler ungeklärter
Fragen wahrscheinlich noch einen langen Weg vor uns
haben.
Auch bei der Entbürokratisierung in der Landwirtschaft haben wir Wort gehalten. Ich weise nur auf die
Tatsache hin, dass mir der Präsident des Deutschen Bauernverbandes vor gut acht Tagen für die Entschlackung,
die wir bei der Kontrolle der Landwirte bei der Einhaltung der Standards durchgeführt haben, Danke gesagt
hat. Ich habe immer gesagt: Ich bin dafür, dass Betriebe
daraufhin überprüft werden, ob sie die Standards hinsichtlich des Umweltschutzes, des Naturschutzes und
des Gewässerschutzes einhalten. Aber ich war immer
der Meinung, dass diese Kontrolle nicht in Schikane ausarten darf. Das haben wir geschafft.
({13})
Angesichts des Vorwurfs, wir hätten bei der ersten
und zweiten Säule Mittel gekürzt, möchte ich auf folgenden Umstand hinweisen: In dem Finanzierungsrahmen
der Europäischen Union für die nächsten sieben Jahre ist
vorgesehen, dass wir in Deutschland etwa 60 Milliarden
Euro als Unterstützung für die landwirtschaftliche Produktion und die ländlichen Räume ausgeben: 35 Milliarden Euro in der ersten Säule, 18 Milliarden Euro in der
zweiten Säule unter Einschluss der Ländermittel und
8 Milliarden Euro in der GAK. Das sind etwa 60 Milliarden Euro.
Nun verschweige ich auch nicht, dass für diese sieben
Jahre die EU-Mittel um etwa 1 Milliarde Euro gekürzt
werden, und zwar von 9,2 auf 8,1 Milliarden Euro. Aber
wir alle in der Koalition gehören nicht zu den Politikern,
die auf der einen Seite trotz der Erweiterung der EU
nicht mehr zahlen und auf der anderen Seite zu den Folgen dieser Entscheidung national nicht stehen wollen.
Man kann nicht allen Ernstes von einer Benachteiligung
der Landwirte oder des ländlichen Raumes sprechen,
wenn bei einem Fördervolumen von etwa 60 Milliarden
Euro in den nächsten sieben Jahren die Mittel um 1 Milliarde Euro gekürzt werden. Davon sind zehn Bundesländer betroffen. Man muss die 1 Milliarde Euro durch
sieben teilen. Verteilt auf zehn Bundesländer sind das
circa 15 Millionen Euro pro Land. Es kann wohl niemand im Ernst behaupten, dass dies die Zukunft der
Landwirtschaft oder des ländlichen Raumes zerstört.
({14})
Ich möchte zum Schluss auf einen Umstand hinweisen, der vielleicht hier oder da missverstanden worden
ist. Wir beraten heute über den Agrarpolitischen
Bericht 2006 und stützen uns dabei auf Zahlen des
Jahres 2004. Wenn Politiker über veraltete Zahlen diskutieren, dann laufen sie Gefahr, dass auch die Politik alt
aussieht.
({15})
Deshalb habe ich heute ganz aktuelle Zahlen genannt.
Ich bin der Meinung, dass wir durchaus jährlich über die
Lage der Agrarwirtschaft diskutieren sollten. Wir sollten
aber mit dem Unsinn aufhören, der Beratung fünf Berichte zugrunde zu legen, die die Verwaltung und viel
Personal binden und meistens veraltet sind, weil sie der
Debatte um ein oder zwei Jahre hinterherhinken.
({16})
Mein Vorschlag ist nicht, den Bericht abzuschaffen,
sondern - darüber werden wir in den Regierungsfraktionen reden - einen größeren Berichtszeitraum vorzusehen, um uns auf aktuelle und repräsentative Daten stützen zu können. Wir sollten uns nicht auf Daten stützen,
die zum Zeitpunkt der Debatte hoffnungslos überholt
sind.
({17})
Wir werden in der Ratspräsidentschaft im nächsten
Jahr die Entbürokratisierung in meinem Bereich besonders in den Mittelpunkt stellen. Wie ernst wir es mit der
Einbindung der Landwirtschaftspolitik in unsere Gesamtpolitik meinen, mögen Sie daraus ersehen, dass die
nächste Grüne Woche im Januar - sie stellt für alle beteiligten Politiker ein Stressprogramm dar - in Anwesenheit der Bundeskanzlerin und des Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, eröffnet wird. Das soll
den Landwirten und der Agrarwirtschaft in ganz Europa
zeigen, dass die Landwirtschaft bei uns nicht als Anhängsel oder auslaufender Posten betrachtet wird, sondern, wie ich eingangs sagte, ein für unser Land sehr bedeutsamer volkswirtschaftlicher Bereich ist.
Herzlichen Dank.
({18})
Als Nächste spricht die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan von der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich spreche heute, weil der agrarpolitische Sprecher unserer Fraktion, Michael Goldmann, kurzfristig erkrankt
ist. Ich denke, auch Sie senden ihm gute Genesungswünsche.
({0})
Herr Minister, Sie haben leider nicht Wort gehalten.
Es reicht schlicht nicht, etwas festzustellen, ohne es
durch Handeln zu belegen. Beim Handeln ist bei Ihnen
aber schlicht Fehlanzeige, Herr Minister.
({1})
Knapp ein Jahr nach der Bundestagswahl und dem
Regierungswechsel stellt sich die Frage, ob sich die Politik geändert hat. Ich muss feststellen, dass sich wenig geändert hat - mit Ausnahme der Tatsache, dass der Minister im Zusammenhang mit dem agrarpolitischen
Jahresbericht kaum mehr vorträgt als die Agrarpreise, an
denen er keinen Anteil hat.
({2})
Der Jahresrückblick enthält wenig Gutes, Herr Minister Seehofer. Man muss richtig danach suchen. Ich habe
mich bemüht, alles Positive herauszustellen, aber es gibt
wenig. Das Versprechen der CDU/CSU eines Politikwechsels ist im Bereich der Agrarpolitik Schall und
Rauch.
Minister Seehofer, Sie sind in Ihrem Amt als Bundeslandwirtschaftsminister nicht angekommen. Sie trauern
der Gesundheitspolitik nach.
({3})
Aber wir brauchen mehr als Worte: Wir brauchen Handeln.
({4})
Dass Sie nicht handeln, hat für die Menschen in den
ländlichen Räumen und die landwirtschaftlichen Betriebe in unserem Land sehr schlimme Folgen. Fast ein
Drittel der Menschen in Deutschland lebt in den ländlichen Räumen. Deren Lebensqualität ist nach wie vor
auch mit dem Wohlergehen der landwirtschaftlichen Betriebe verbunden. Deswegen brauchen wir die Stärkung
der unternehmerischen Landwirtschaft. Die Landwirte
brauchen planerische Sicherheit, die Sie ihnen nicht geben. Sie brauchen Vertrauen in die Zukunft, um investieren zu können, und rationale Entscheidungen und nicht
solche, die aus dem Bauch heraus getroffen werden. Sie
wissen genauso gut wie ich: Die Menschen sind der Natur entfremdet. Deswegen lobe ich Sie dafür, dass Sie die
Qualität unserer Produkte herausgestellt haben. Aber,
Herr Minister, das reicht nicht.
Es reicht im Übrigen ebenfalls nicht, die Jahresergebnisse der Betriebe zu betrachten; denn diese schwanken
beträchtlich. Es gilt auf die Gesamtentwicklung zu
schauen. Hier verheißt Ihr Handeln nichts Gutes, Herr
Minister. Ihr erstes Jahr war von drei Fleischskandalen
geprägt. Ich will ehrlich sagen, dass Sie am ersten keinen
Anteil hatten. Er hatte seinen Ursprung - genauso wie
die beiden anderen - in Bayern. Im November des letzten Jahres haben Sie ein Sofortprogramm zur Verhinderung weiteren Fehlverhaltens vorgelegt. Der letzte
Fleischskandal im September zeigte aber, dass sich
nichts geändert hat. Das Programm ist nicht umgesetzt
worden. Es wurde von Ihnen noch einmal verkauft, frei
nach dem Motto „alter Wein in neuen Schläuchen“. Sie
haben auf Stimmungen reagiert, angekündigt und Aktionismus gezeigt. Aber Sie stehen letztlich bei den
Fleischskandalen mit absolut leeren Händen da. Das
heißt, bei diesem wichtigen verbraucherpolitischen
Thema haben Sie schlicht gepatzt.
({5})
Herr Minister, ein weiteres Drama ist die Diskussion
über den Biodiesel. Entgegen allen Wahlaussagen haben
CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag festgelegt, die
ursprünglich bis Ende 2008 vereinbarte Steuerbefreiung
von Biodiesel einzukassieren. Die Folge ist ein massiver
Verlust an Vertrauen in politisches Handeln. Wo waren
Sie bei der Diskussion über den Biodiesel? Wo haben
Sie sich geäußert? Wo haben Sie sich für die Landwirtschaft eingesetzt? Nirgendwo! Sie waren schlicht abgetaucht. Sie haben an dieser Debatte gar nicht teilgenommen.
({6})
- Nein, Herr Kollege, ich habe keine Wahrnehmungsschwierigkeiten. Ich höre sehr genau zu. Der Minister
war nicht anwesend. Wenn er nichts sagt, kann man ihn
nicht hören; das ist eindeutig.
({7})
Die Steuerbefreiung wurde durch die Einführung einer unternehmensbezogenen Biokraftstoffquote für
Benzin und Diesel ersetzt. Die Auswirkungen sind dramatisch. Fiskalpolitisches Handeln hat wirtschaftliches
Denken ersetzt, und zwar zum Schaden der mittelständisch geprägten Biokraftstoffbranche. In Deutschland
geplante Investitionen wurden nach Schweden und England verlagert. Sie, Herr Minister, sind in der Diskussion
schlicht abgetaucht. Sie haben keinen Handschlag zugunsten unserer Landwirte getan. Das wird zur Folge haben - das ist absehbar -, dass Billigimporte aus Ländern
ohne Sozial- und Umweltstandards das Gegenteil von
dem bewirken, was wir alle wollen: eine nachhaltige
Biokraftstoffproduktion.
Herr Minister, Sie haben eben angekündigt, dass Sie
sich dafür einsetzen wollen, dass Biogas in die Erdgasversorgung eingespeist wird. Ich bin gespannt, ob und
wann - in diesem oder im nächsten Jahrzehnt - Sie dieser Ankündigung Taten folgen lassen werden. Das ist auf
jeden Fall ein sehr dringendes Thema.
Herr Minister, des Weiteren haben Sie bei der Geflügelpest versagt. Ihr Besuch auf Rügen war falsch. Wir
hoffen, dass Sie sich in Zukunft bei einem Seuchenfall
angemessen verhalten werden. Im Interesse des Schutzes
der Menschen und des Tierschutzes muss die Nichtimpfpolitik der EU beendet und durch eine Politik des gezielten Impfens mit markierten Impfstoffen ersetzt werden.
Wir investieren enorm viel in die Anlagen der Insel
Riems. Wo bleiben die Ergebnisse, die den dort getätigten Investitionen entsprechen?
Ihr Zickzackkurs in Sachen Gentechnik ist ein einziges Trauerspiel. Ihr Lob für die Investitionskraft der
deutschen Landwirtschaft ist zwar bemerkenswert. Aber
gerade auf dem von Ihnen angesprochenen wichtigen
Feld der Biogasproduktion versagen Sie völlig.
({8})
- Kollegin Mortler, dreimal sind Eckpunkte zur Novellierung des Gentechnikgesetzes angekündigt worden.
Dreimal! Wo sind sie denn? Es gibt sie nicht. Warum ist
die Novellierung nicht längst erfolgt? Das ist ein Versagen des Ministers.
({9})
Sie alle wissen aufgrund der rechtspolitischen Diskussion, dass dieses Gesetz Rechtsunsicherheit für die
Menschen im Lande und die landwirtschaftlichen Betriebe schafft, und zwar sowohl für die Betriebe, die die
Gentechnik anwenden, als auch für die Betriebe, die
keine Gentechnik anwenden. Dies ist nicht in Ordnung.
({10})
Sie sprechen davon, dass Sie die Menschen mitnehmen wollen. Das ist zwar richtig. Aber auf Ängste einzugehen, die nachweislich unbegründet sind, bedeutet, den
Menschen Information und Aufklärung zu verweigern.
Das ist mittelalterliches Handeln und entspricht in keiner
Weise den Erfordernissen einer Wissensgesellschaft. Wir
brauchen eine Novelle des Gentechnikgesetzes, und
zwar sofort.
({11})
- Sie, Kollegin Behm, verweigern den Bauern Rechtssicherheit. Das ist das Schlimmste, was man als Politiker
machen kann. Das tun Sie mit einem Gesetz, das Sie zu
verantworten haben. Das ist ein Skandal.
({12})
Die Charta für Wald ist eine Maßnahme der letzten
Regierung, die auch wir immer unterstützt haben.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Die jetzige Regierung hat vorgeschlagen, die Waldzustandsberichte nur noch einmal in der Legislaturperiode
zu erstellen. Das ist eine richtige Entscheidung. Nur,
Herr Minister, ich frage mich, ob Sie angesichts des Protestes eine solche rationale Entscheidung wirklich durchhalten werden oder ob Sie als Bauchpolitiker nicht relativ schnell kneifen werden. Ich habe vermisst, dass Sie
dem Bundesunternehmen Deutsche Bahn AG einmal gesagt hätten, dass Holz, das im Inland produziert wird,
gutes Holz ist und dass die Bahn dieses auch verwenden
sollte. Nichts dergleichen ist geschehen.
Herr Minister, Ihr erstes Jahr im Amt ist weitgehend
von Schatten geprägt. Ich hoffe, dass das nächste Jahr etwas heller wird.
Danke schön.
({0})
Als Nächste spricht Waltraud Wolff für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zahlen sind zwar nicht alles, aber Zahlen sind
etwas Abrechenbares. So können wir auch im Agrarpolitischen Bericht 2006 der Bundesregierung sehen, dass
sich die wirtschaftliche Situation der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland in Folge verbessert hat.
Damit das so bleibt, ist es unser Ziel, das Vertrauen der
Verbraucherinnen und Verbraucher in heimische Produkte zu steigern. Darüber hinaus wollen wir auf Eigenverantwortung und auf Nachhaltigkeit setzen.
Die SPD hat schon in der Vergangenheit in ihrer Regierungszeit mit dafür gesorgt, dass Transparenz in die
Produktion Einzug hält. Mit der Einführung des QS-Systems 2001 wird die Produktion vom Acker bis zur Ladentheke nachvollzogen. Dieses freiwillige Prüfsiegel ist
in der Branche zu einem Markenzeichen geworden.
Mit dem jetzt auch vom Bundesrat endlich beschlossenen Verbraucherinformationsgesetz haben wir als
Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich das Recht auf Information durch die Behörden, wenn es zu Verstößen gegen das Lebensmittel- und das Futtermittelrecht kommt,
ganz egal ob die Ware noch im Regal steht oder nicht.
({0})
- Herzlichen Dank. - Wir haben aus dem Gammelfleischskandal eine zusätzliche Lehre gezogen, nämlich
dass bei kriminellen Handlungen das bestehende Recht
in Deutschland ausgeschöpft werden muss. Herr Minister Seehofer, ich danke Ihnen an dieser Stelle ganz herzlich für Ihre klaren Worte, die Sie zu diesem Thema gefunden haben. Denn es kann einfach nicht angehen, dass
auf der einen Seite grobe Verstöße mit Bußgeldern um
die 100 Euro oder 500 Euro geahndet werden, auf der
anderen Seite aber das Geld aus Verkäufen von Gammelfleisch in den Kassen bleibt und zusätzlich eine gesundheitliche Gefährdung von Konsumenten in Kauf genommen wird.
({1})
Hier gibt das deutsche Recht ein Strafmaß von bis zu
fünf Jahren Haft vor. Ich denke, die Gerichte sollten an
dieser Stelle aufgefordert werden, ein solches Strafmaß
auszuschöpfen; denn nur so schafft man es, die schwarzen Schafe herauszufinden, und vermeidet man es, den
gesamten Berufsstand in den Schmutz zu ziehen.
Dass die Menschen im Lande auf qualitativ hochwertige Lebensmittel setzen, konnte man in den vergangenen Jahren, speziell im letzten Jahr, sehen. Man sieht den
Trend zu ökologischen Produkten. Bereits seit einigen
Jahren hält dieser Boom ununterbrochen an. So hatten
wir das gar nicht prognostiziert. Der Umsatz ökologischer Produkte ist vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2004 von
2 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro gestiegen. Ich
denke, in einer so kurzen Zeit eine Verdopplung zu erreichen, ist sicherlich sehr gut. Das geschah gewiss deshalb, weil die Menschen diesen Produkten eine hohe
Qualität zuschreiben und sie mit gesunder Ernährung
verbinden, aber auch weil im Jahr 2001 das Biosiegel
eingeführt wurde, das den Kriterien der EU-Öko-Verordnung entspricht. Das wird von den Konsumenten erkannt
und angenommen. Das wird in der Zukunft in der Landwirtschaft zu Arbeitsplatzsicherung führen.
Damit wir die Nachfrage nach Ökoprodukten in Zukunft noch stärker durch eigene Produktion befriedigen
können, ist natürlich auch die Politik gefragt. Ich finde,
hier sind ganz speziell die Länder in der Pflicht. Ich erinnere an die Möglichkeiten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“. Für die Zeit von 2005 bis 2008 sollten
die Länder diesen Rahmenplan nutzen. Mit den entsprechenden Förderrichtlinien wird den Betrieben auch der
Schritt zur Umstellung erleichtert.
Es gibt die Kritik, dass die Förderung des Ökolandbaus durch den Bund zu gering sei und dass das Angebot
der Nachfrage nicht nachkomme. In der Argumentation
stimmt das zwar auf den ersten Blick, aber wir sollten
uns doch die Mühe machen und einmal ein bisschen genauer hinschauen: Man muss damit rechnen, dass konventionelle Betriebe im Schnitt zwei Jahre brauchen, um
auf ökologische Landwirtschaft umzustellen. Das entsprechende Angebot kann es also erst dann geben, wenn
ein Betrieb sich umgestellt hat. Das bedeutet auf gut
Deutsch, dass es diese Angebote nur mit einer Zeitverzögerung geben kann.
Ungeachtet dessen - das sage ich auch in Richtung
der Opposition - besteht die Aufgabe fort, an konzeptionellen Verbesserungen zu arbeiten, wo dies angezeigt ist.
Aus diesem Grund begrüßen wir als SPD auch im Hinblick auf den nächsten Haushaltsansatz, dass das Bundesprogramm Ökologischer Landbau weitergeführt
wird.
Ich habe vorhin gesagt: Eigenverantwortung und
Nachhaltigkeit. Diese Punkte spielen auch in der Praxis
eine immer größere Rolle. Mit der Entkoppelung der
Prämien von der Produktion sind die Bauern gefordert,
von der Überschussproduktion wegzukommen. Wie wir
alle wissen, sind in Zukunft sowohl Intervention als auch
Exporterstattungen immer unwahrscheinlicher.
Zusätzliche, neue Einkommensquellen sind für viele
Betriebe schon jetzt genauso wichtig wie auch vielfältig.
Die Produktion und der Einsatz von Biomasse in der
landwirtschaftlichen Produktion haben rapide zugenommen. Auf etwa 1,5 Millionen Hektar Fläche waren im
Jahr 2006 nachwachsende Rohstoffe angepflanzt. Das
sind sage und schreibe 13 Prozent der Ackerfläche in
Deutschland. Der Einsatz von Biomasse in Biogasanlagen
Waltraud Wolff ({2})
oder die Verarbeitung zu Biosprit wird vom Berufsstand
natürlich schon intensiv genutzt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal ein ganz tolles Beispiel nennen; gerade gestern habe ich es über den
Bauernverband gehört. Brandenburg ist ein Bundesland
mit schlechten Ackerbodenwerten. Der Anbau von Roggen war für viele Brandenburger Betriebe überlebenswichtig. Allerdings - das weiß jeder hier im Haus - ist
diese Produktion immer am Markt vorbeigegangen. Um
die Marktpreise trotzdem stabil zu halten, hat die EU
diese Überproduktion vom Markt genommen, in die Intervention gegeben und dafür auch gezahlt.
Wie sieht es denn heute aus? Heute ist es so, dass die
Brandenburger Bauern ihren Roggen vorrangig für die
Bioethanolherstellung anbauen, soweit ich weiß, nichts
mehr in die Intervention geben und sogar bessere Preise
erzielen.
({3})
Durch dieses Beispiel wird das unterstrichen, was auch
Herr Seehofer vorhin gesagt hat: Der Berufsstand besteht fort, auch wenn er nicht subventioniert wird.
({4})
Im „Wegweiser Nachhaltigkeit“ aus dem letzten Jahr
stellt die Bundesregierung dar, dass gerade bei der Nutzung von Biomasse eine Nutzungskaskade von der stofflichen bis hin zur energetischen Nutzung möglich ist.
Gerade hier liegt ein weiteres, noch relativ ungenutztes
Potenzial im Bereich der Wärmeenergie. Die Auflage eines Wärmeenergiegesetzes würde meiner Auffassung
nach im Sinne einer nachhaltigen Energienutzung
ebenso positiv wirken wie seinerzeit das ErneuerbareEnergien-Gesetz für die Stromerzeugung.
({5})
Auch hier würden landwirtschaftliche Betriebe profitieren, Arbeitsplätze für den ländlichen Raum gehalten
und die Wirtschaftskraft - das liegt uns allen am Herzen - gestärkt.
Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin
ich der Auffassung, dass wir nicht nur auf europäischer
Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene einen
Aktionsplan Biomasse brauchen, um die energetische
und stoffliche Nutzung hier in Deutschland weiter voranzubringen. Ziele, wie 20 Prozent des Stromverbrauchs im Jahre 2020 über regenerative Energien oder
5,75 Prozent des Treibstoffverbrauchs im Jahre 2010
über Biosprit zu decken,
({6})
dürfen von uns nicht nur formuliert werden, sondern wir
müssen auch zur Erfüllung beitragen.
({7})
Wir haben dafür das notwendige Potenzial hier in
Deutschland. Die Perspektiven einer nachhaltigen Biomasseerzeugung liegen dabei in einer effizienten und
umweltgerechten Produktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Agrarbericht 2006 enthält so viele Dinge, die beleuchtet werden
sollten, aber leider sind zehn Minuten keine Stunde. Ich
hoffe und wünsche, dass die Kolleginnen und Kollegen,
die nach mir reden, weitere Themen ansprechen werden,
die auch mir noch wichtig sind.
Herzlichen Dank.
({8})
Als Nächste spricht für die Linksfraktion die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Nach den vielen eher bangen
Jahren der Vergangenheit kann der vorliegende Agrarbericht hinsichtlich der betrieblichen Abschlüsse der landwirtschaftlichen Betriebe auf positive Ergebnisse verweisen. Das ist gut. Denn wir brauchen eine stabile und
leistungsfähige Landwirtschaft als wesentliche wirtschaftliche Säule im ländlichen Raum.
({0})
Die Bilanz ist aber nicht nur positiv. Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung ist um 3 Prozent gefallen.
Viele Betriebe, vor allem kleinbäuerliche Betriebe in
Westdeutschland, müssen aufgeben. Der Agrarbericht
spricht von 3 Prozent pro Jahr im langjährigen Mittel.
Mit jeder Betriebsaufgabe ist in der Regel der Verlust
von Arbeitsplätzen verbunden. Mitarbeitende Familienmitglieder, vor allem Frauen, sind davon sehr hart betroffen. Auch wer auf ergänzendes ALG II angewiesen
ist, kann Haus und Hof verlieren. Der ländliche Raum
wird daher immer mehr zum sozialen Brennpunkt.
Trotzdem ist das Licht nicht zu übersehen: Die betrieblichen Gewinne waren im bundesweiten Durchschnitt um 23,9 Prozent höher als im Vorjahr. Die ostdeutschen Betriebe haben überdurchschnittlich gut
abgeschnitten. In den Bereichen ökologischer Landbau
und nachwachsende Rohstoffe ist die erhoffte positive
Entwicklung nun endlich eingetreten. Dass die ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe im Durchschnitt um
20 Prozent höhere Gewinne erzielt haben als die Betriebe in den Altbundesländern, zeigt, dass auch diese
Landstriche und die dort wohnenden Menschen Potenziale haben und diese auch nutzen.
Vor allem in Brandenburg konnten die Betriebsergebnisse deutlich verbessert werden. Unterdessen arbeiten - so der Präsident des Landesbauernverbandes, Udo
Folgart, vor wenigen Tagen gegenüber der „Märkischen
Oderzeitung“ - 40 000 Brandenburgerinnen und Brandenburger in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft.
Das sind 2 000 mehr als noch vor fünf Jahren. Der Abwärtstrend ist also gestoppt. Der Anteil der brandenburDr. Kirsten Tackmann
gischen Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt
nunmehr 6 Prozent. Bundesweit beläuft sich der Anteil
der Landwirtschaft auf nur 1 Prozent. Im neuen Leitbild
der Landesregierung spielt die Landwirtschaft komischerweise trotzdem keine Rolle.
Der positive Trend geht leider an sehr vielen Menschen im ländlichen Raum völlig vorbei. Am
14. Oktober 2006 berichtete die „Märkische Allgemeine
Zeitung“, dass mein Heimatlandkreis im Nordwesten
Brandenburgs mit einem durchschnittlichen Pro-KopfEinkommen von nur 13 000 Euro von Platz 419 auf
Platz 423 - bei 439 Landkreisen im gesamten Bundesgebiet - gefallen ist. Bei dem Licht am Ende des Tunnels
kann es sich also auch um einen entgegenkommenden
Zug handeln.
Zudem sind die positiven Trends, auf die der Bericht
verweist - Minister Seehofer hat bereits darauf hingewiesen -, nicht das Verdienst der aktuellen Regierung.
Aufgabe der jetzigen Regierung wäre es, diese positiven
Trends im Interesse der Schaffung von Arbeitsplätzen
und der Steigerung der Wertschöpfung im ländlichen
Raum zu stabilisieren.
Aber die politischen Entscheidungen der vergangenen
Monate sprechen eine andere Sprache.
Beispiel 1: Fördermittel für den ländlichen Raum.
Das ist bereits angesprochen worden. Die EU-Mittel für
den ländlichen Raum sind gekürzt worden. Statt dies
über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ mit Bundesmitteln auszugleichen, werden diese 2006 und 2007 um jeweils 50 Millionen Euro gekürzt. Vor dem Hintergrund
der reduzierten Bundesmittel kürzen jetzt die Bundesländer wichtige Programme, wie etwa für benachteiligte
Gebiete und den ökologischen Landbau.
Beispiel 2: Steuerbelastung für die kleinen und mittleren Landwirtschaftsbetriebe. Durch die Mehrwertsteuererhöhung und die unzureichende Anpassung des Steuersatzes für die pauschalierenden Betriebe wurde
zusätzliches Einkommen reduziert.
Beispiel 3: Beiträge zum agrarsozialen System.
Trotz steigender Beitragssätze werden jetzt die Bundeszuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung
um 100 Millionen Euro reduziert. Der für 2007 geplante
Ausgleich über die Rückflüsse früherer Förderkredite ist
nur eine Vertagung des Problems. Es liegt nach wie vor
kein zukunftsfähiges Konzept für die landwirtschaftliche
Unfallversicherung vor.
Aber das Sündenregister der Bundesregierung ist länger. Beispiel 4: Biokraftstoffe - darüber wurde schon
gesprochen. Natürlich ist an vielen Tankstellen mit dem
Preis für die fossilen Brennstoffe auch der Preis für Biodiesel gestiegen. Die damit angeblich bestehende Überkompensation, welche die Regierung jetzt mit Steuern
abschöpfen will, gibt es für viele aber trotzdem nicht.
Ein Teil des Biodiesels wird gar nicht an den Tankstellen
abgesetzt, sondern direkt an Speditionen verkauft - natürlich zu anderen Preisen. Der Rohstoff Raps ist unterdessen teurer geworden; die Nebenprodukte Glycerin
und Rapsexpeller sind billiger geworden. Kurzum: Der
sich gerade entwickelnde regionale Wachstumsmarkt
Biokraftstoffe ist akut gefährdet. Dem Landwirt bleibt
nur beim Eigenverbrauch ein Kostenvorteil - und wahrscheinlich auch der nicht ewig.
Beispiel 5: Ökolandbau - auch er ist schon angesprochen worden. Die Bundesregierung bringt auch hier
Räder zum Stillstand. Die kräftige Steigerung des Absatzes von Bioprodukten - 14 Prozent mehr als im Berichtsvorjahr - wird politisch nicht mehr aufgegriffen.
Die Zahl der Betriebe und auch die ökologisch bewirtschaftete Fläche stagnieren trotz guter Absatzlage und
im Durchschnitt höherer Gewinne dieser Betriebe. Stattdessen wird dieser attraktive Binnenmarkt zunehmend
aus dem Ausland bedient. Auch das ist ein Ergebnis der
aktuellen Förderpolitik.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass insbesondere die Risiken der Umstellung auf den ökologischen
Landbau einer Förderbegleitung bedürfen. Wir sehen im
Ökolandbau eine Möglichkeit, natürliche Ressourcen zu
schonen und gleichzeitig Arbeit und Wertschöpfung im
ländlichen Raum zu halten, da der Ökolandbau vergleichsweise arbeitsintensiv ist.
Die Bundesregierung vergrößert die Verunsicherung
aber auch im Bereich der konventionellen Landwirtschaft. Beispiel 6: Umgang mit der Agro-Gentechnik.
Die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen mit großer Mehrheit Lebensmittel ab, die aus oder
mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellt
werden. Aber auch der Anbau von Bt-Mais für Biogasanlagen ist nur scheinbar risikoarm; denn die ökologischen Risiken der Anwendung bleiben.
Die Bundesregierung schreibt im Agrarbericht, dass
sie Forschung und Entwicklung der Agro-Gentechnik
unterstützten will. Diese Zielsetzung geht aus meiner
Sicht klar am Wählerwillen vorbei. Es wird nicht einmal
mehr hinterfragt, ob der vermeintliche Nutzen der AgroGentechnik in Mitteleuropa wirklich belegbar ist. Das
Problem ist, dass wir dafür einen Standortvorteil riskieren. Denn qualitätsorientierte Strategien der landwirtschaftlichen Primärerzeugung, verbunden mit hohen
Umweltstandards, waren bisher die Garanten für eine
wettbewerbsfähige und verbraucherorientierte Landwirtschaft. Die Agro-Gentechnik befördern heißt daher für
mich, den Pfad dieser Tugend zu verlassen. Mein Fazit:
Das Aufatmen vieler landwirtschaftlicher Lobbyvereinigungen beim Regierungswechsel wird immer öfter zum
großen Seufzer.
In der aktuellen Diskussion um die Gemeinschaftsaufgabe teile ich die Auffassung, dass die inhaltliche
Ausgestaltung der Förderrichtlinien im Wesentlichen
den Erfordernissen entspricht und den EU-Rahmenbedingungen gerecht wird. Vor allem die Ausgleichszulage für benachteiligte Gebiete sowie die Agrarinvestitionsförderung sind aus meiner Sicht wichtig - nicht nur
für Ostdeutschland. Mit der Ausgleichszulage können
Arbeitsplätze gesichert, mit Agrarinvestitionen neue geschaffen werden. Daher dürfen diese Förderungen nicht
den Kürzungen auf EU-, Bundes- oder Länderebene zum
Opfer fallen.
({1})
Es muss das vorangige Förderziel sein, soziale und natürliche Lebensbedingungen in den ländlichen Räumen
mindestens zu erhalten. Das heißt auch, Anreize zur
Schaffung von Arbeitsplätzen und damit Existenzmöglichkeiten im ländlichen Raum zu schaffen. Das ist ein
gesamtgesellschaftliches Interesse; denn die Konsequenzen des Sozialabbaus werden immer deutlicher und gehen weit über persönliche Schicksale hinaus. Der gesellschaftliche Zusammenhalt droht zu erodieren, wenn ein
demokratisches System so viele Verlierer hinterlässt.
Selbstverständlich ist die Förderung nicht nur eine
Frage der Finanzausstattung. Ganz sicher können die
Gelder auch effektiver und noch zielgerichteter eingesetzt werden. Aber die Decke bleibt nun einmal zu kurz ob man sie hin und herzieht oder nicht.
Das dritte Thema dieser Debatte hat nur scheinbar
wenig mit den bisherigen Themen zu tun. Ich bin immer
wieder darüber erstaunt, wie oft das Risiko von Infektionskrankheiten bei Nutztieren ausgeblendet wird und das, obwohl sie in Zeiten exorbitanter Personen- und
Warenströme einer globalisierten Welt die größte wirtschaftliche Bedrohung unserer Nutztierbestände und damit auch der tierhaltenden Betriebe darstellen. Die nur
scheinbar überraschenden Ausbrüche von MKS, Geflügel- und Schweinepest und jetzt der Blauzungenkrankheit sind meine Kronzeugen.
Welche Schlussfolgerungen müssten daraus gezogen
werden? Es müsste alles dafür getan werden, dass wissenschaftlich begründet und konzeptionell gehandelt
werden kann. Stattdessen aber verstärkt sich auch für
mich angesichts der immer wieder stattfindenden Massentötungen der Eindruck mittelalterlicher Rituale. Spätestens die Bilder der brennenden Kadaverberge während des MKS-Seuchenzuges in Großbritannien hätten
zum Umdenken zwingen müssen:
({2})
hin also zu vernünftigen Präventions- und Interventionskonzepten.
Dabei kann es nicht nur, aber es muss auch um kluge
Impfstrategien gehen, wobei wir dann nicht nur über die
großen Nutztierbestände, sondern auch über die kleinen,
genetisch wertvollen oder einfach nur moralisch wertvollen Klein- und Hobbyhaltungen nachdenken müssen.
Darüber hinaus muss es aber um Folgendes gehen:
Erstens. Einschleppungs- und Verschleppungsrisiken
müssen sicher bestimmt und überwacht werden. Zweitens. Mit schnellem, effektivem Handeln müssen größere Ausbrüche von Endemien und Epidemien verhindert werden.
({3})
Drittens. Wirtschaftliche Schäden müssen minimiert
werden. Viertens. Nach Kosten-Nutzen-Analysen optimierte Interventionskonzepte müssen dringend entwickelt werden.
Auf diese Herausforderungen muss das Agrarforschungskonzept, das seit Monaten angekündigt und jetzt
entwickelt wird, Antworten geben. Deswegen erwarte
ich es mit ungestillter Neugier.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Als Nächstes hat das Wort Cornelia Behm für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Landauf und landab klopfen sich Unionspolitiker zurzeit auf die Brust, sind stolz auf den Aufwärtstrend
in der Landwirtschaft und verbuchen die verbesserte Wirtschaftslage auf ihr eigenes Konto. Dabei belegt der Agrarbericht, dass sie sich mit fremden Federn schmücken; denn
die um 24 Prozent erhöhten Gewinne der Agrarbetriebe
wurden bereits im Wirtschaftsjahr 2004/05 gemessen - der
Minister hat darauf hingewiesen -, also zu rot-grünen Zeiten, als Renate Künast Ministerin war.
({0})
Für 2005/06, also in der schwarz-roten Ära, zeichnet
sich laut Agrarbericht hingegen wieder ein Rückgang
der Einkommen um circa 5 Prozent ab. Das sind die Fakten, die der Agrarbericht nennt, meine Damen und Herren von der Union, auch wenn Sie die nicht so gern hören. Was wahr ist, muss wahr bleiben.
Dieser rot-grüne Aufschwung hatte seine Gründe.
({1})
Durch eine zielgerichtete Orientierung auf Qualitätsproduktion - Sie erinnern sich noch: Klasse statt
Masse; auch das hat der Minister zitiert - haben wir erreicht, dass die Verbraucher wieder Vertrauen in die
deutsche Lebensmittelproduktion gewonnen haben. Dies
spiegelt sich im gestiegenen Absatz inländischer Erzeugnisse wider. Aber auch die deutschen Agrarexporte haben sich positiv entwickelt. Im Jahr 2004 haben sie um
5,5 Prozent zugenommen. Experten führen dies auf
ebendiese Qualitätsorientierung und -förderung durch
die Politik zurück. Also: Erst Klasse, dann kommt
Masse.
({2})
Qualität, Vertrauen und der Trend zu Bioprodukten
haben dazu geführt, dass sich der Ökolandbau gut am
Markt platzieren konnte. So verbesserte sich auch die
Ertragslage der ökologisch wirtschaftenden Betriebe
weiter. Das ist eine erfreuliche Tendenz; denn die Ökobetriebe haben im Durchschnitt einen um 30 Prozent höheren Arbeitskräftebesatz. Sie sind damit für die ländlichen Räume ein wichtiger Jobmotor.
Wenn man auf die aktuelle großkoalitionäre Agrarpolitik blickt, dann muss man sich besorgt fragen: Soll
das, was so schön begann, schon wieder zu Ende sein?
Hier meine wichtigsten Kritikpunkte: Im Agrarbericht betont die Bundesregierung den hohen Stellenwert
einer Förderung der ländlichen Entwicklung; in der konkreten Politik setzt sie dies allerdings nicht um. Denken
Sie nur an den Merkel-Kompromiss zu den EU-Finanzen. Opfer sind die ländlichen Räume. Massiv gekürzt
wurden die Mittel für die zweite Säule der Agrarpolitik.
Ich kann das Rechenexempel von Ministern nicht nachvollziehen; da wird viel schöngerechnet.
({3})
In den Bundesländern steht - wie man feststellt, wenn
man sich das einmal wirklich kritisch anschaut - real bis
zu 50 Prozent weniger Geld für den ländlichen Raum zur
Verfügung. Wer da seine Hoffnungen auf den Minister
setzt, der jüngst seine Liebe zum ländlichen Raum entdeckt haben will, wird von der Realität bitter enttäuscht.
Der Agrarhaushalt weist keine Kompensation der EUKürzungen auf. Im Gegenteil, die GAK-Mittel wurden
im Haushalt 2006 um 50 Millionen Euro gekürzt. Die
Folge ist, dass viele notwendige und sinnvolle Programme im ländlichen Raum in Zukunft entweder gar
nicht mehr oder nur noch stark gerupft angeboten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die große Koalition
gefährdet eine weitere wichtige Säule, mit der Rot-Grün
für mehr Einkommen bei den Landwirten gesorgt hat:
Sie haben die Mineralölsteuerbefreiung für Biokraftstoffe aufgehoben. Damit drehen Sie einer aufstrebenden Branche, die mittelständisch organisiert ist, eine
Vielzahl von Arbeitsplätzen geschaffen und zahlreiche
Innovationen finanziert hat, im wahrsten Sinne des Wortes den Hahn ab.
Wir Grüne haben dem Bundestag einen Entschließungsantrag vorgelegt, mit dem wir diese gefährliche
Entwicklung stoppen wollen. Wir fordern von der Bundesregierung, das Energiesteuergesetz und das Biokraftstoffquotengesetz so zu korrigieren, dass der Ausbau der
Bioenergie und der Aufbau einer mittelständischen Biokraftstoffwirtschaft fortgeführt werden können. Wir fordern, dem hohen Stellenwert der ländlichen Entwicklung
durch eine ausreichende finanzielle Ausstattung Rechnung zu tragen. Wir fordern, die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ in eine Gemeinschaftsaufgabe für die Entwicklung
des ländlichen Raumes zu überführen. Wir fordern, dass
der Bundestag zukünftig in die Entscheidungsfindung
des PLANAK, also des Planungsausschusses für diese
Gemeinschaftsaufgabe, einbezogen wird.
({4})
Das ist unser Geld; darüber müssen wir doch zumindest
mitentscheiden können. Last, but not least muss die Förderpolitik zugunsten des Ökolandbaus fortgesetzt werden, damit auch die heimische Landwirtschaft am
Wachstumsmarkt der Biolebensmittel teilhaben kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es in der
Hand, ob der Agraraufschwung bei den Bioenergien, bei
den nachwachsenden Rohstoffen, bei der Qualitätsproduktion und beim Ökolandbau fortgesetzt oder aufs
Spiel gesetzt wird. Ich bitte Sie: Ziehen Sie aus dem
Agrarbericht die richtigen Konsequenzen!
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Johannes Röring.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eines feststellen: Die Stimmung in der Landwirtschaft, ja in der
ganzen Agrarwirtschaft ist zurzeit ausgesprochen gut.
Dieses Stimmungshoch ist nicht allein durch die Verbesserung der Betriebsergebnisse zu erklären. Frau Behm,
Einkommen werden durch den Fleiß und das Können
von bäuerlichen Familien erzielt und nicht durch die
Politik. Deswegen ist das alles zu relativieren.
({0})
Diese Ergebnisse sind erfreulich; aber sie sind nicht
der Grund für die gute Stimmung. Die Begründung liegt
an anderer Stelle. Bäuerinnen und Bauern, Land- und
Forstwirte, Gärtner und Fischer wurden viele Jahre öffentlich angeklagt. Sie wurden, und das sogar von führenden Regierungsmitgliedern, verantwortlich gemacht
für Tierseuchen, Krankheiten wie BSE
({1})
oder das Quälen von Tieren und das Verschmutzen von
Böden und Wasser.
({2})
Andere bezeichneten die Landwirtschaft als sterbende
Branche, als Subventionsempfänger und im Übrigen als
überflüssig, da ja alles, was wir produzieren, auf dem
Weltmarkt eh billiger zu bekommen sei. Diese Haltung
hat sich grundlegend geändert. Denn die neue Botschaft
der Bundesregierung heißt: Wir sind stolz auf unsere
Landwirtschaft und wir brauchen sie.
({3})
Denn: Zum Ersten ist die Agrarwirtschaft ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Diese Branche, die in extrem
hohem Maße mittelständisch geprägt ist und standortgebundene Arbeitsplätze in ländlichen Regionen
schafft, hat über 4 Millionen Beschäftigte und erwirtschaftet über 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zum
Zweiten - dieser Punkt wird vielfach vergessen - garantiert die Landwirtschaft die Versorgung von 82 Millionen Bundesbürgern mit ihrem täglichen Brot. Auch das
sollten wir deutlich machen.
Es wird heutzutage Nahrung in nie bekannter Vielfalt
und in hervorragender Qualität produziert. Wir sollten
stets beachten, dass Versorgungssicherheit nicht nur im
Energiebereich, sondern erst recht im Nahrungsmittelbe5496
reich wichtig ist. Wir haben daher allen Grund, auf unsere
Landwirtschaft stolz zu sein.
({4})
Die Landwirtschaft befindet sich im ständigen Wandel. Die Erzeugung von Nahrungsmitteln findet mittlerweile vor dem Hintergrund globaler Märkte und sich immer stärker öffnender Grenzen statt. Die Marktpreise für
Getreide sind mittlerweile überall in der Welt gleich. Die
Märkte für Fleisch und Milchprodukte sind hart umkämpft im internationalen Wettbewerb. Deswegen ist es
so wichtig und unabdingbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Agrarwirtschaft in Zukunft weiter verbessert wird.
Hierfür sind folgende Aspekte von sehr großer Bedeutung: Wir müssen alle bürokratischen Vorgaben und
Regelungen auf ihre Effizienz und Notwendigkeit überprüfen. Hier schließe ich natürlich die europäischen
Richtlinien und Verordnungen ein. Hiermit definieren
wir am Ende nämlich, wie wir Nahrung produzieren
wollen, wie wir mit der Natur und der Umwelt umgehen,
wie wir Tiere halten und - auch das ist wichtig - unter
welchen Bedingungen die Menschen in diesem Bereich
arbeiten und leben. Kurz gesagt: Wir setzen Standards.
Aber was hilft es, wenn wir in unserem Land Standards
formulieren und sie unter hohen Produktionskosten
streng einhalten, aber beim Import alle Augen zumachen? Das hat nichts mit fairem Welthandel zu tun.
({5})
An dieser Stelle gebührt unserem Minister Seehofer
ein großes Lob, der im Gegensatz zu seiner Vorgängerin
deutsche und europäische Interessen bei den Verhandlungen mit der WTO - zuletzt in Hongkong - stets im
Auge hatte.
({6})
Die weiteren Herausforderungen für die Landwirtschaft zeichnen sich deutlich erkennbar ab: Aktuelle
Prognosen sagen uns eine Verdoppelung des weltweiten
Fleischkonsums in wenigen Jahren voraus. Dadurch
wird eine erhebliche Steigerung der Nachfrage an Getreide, Mais und Sojaschrot verursacht, da die Erzeugung von einem Kilogramm Fleisch mehrere Kilogramm
Getreide erforderlich macht. Darüber hinaus - dieser
Punkt kommt hinzu - erwartet die Gesellschaft von der
Landwirtschaft ein immer stärkeres Engagement bei erneuerbaren Energien und Rohstoffen, die - das wird oft
in der allgemeinen Diskussion vergessen - von den gleichen Flächen kommen. Denn die Flächen sind nicht vermehrbar. In der Summe wird dies dazu führen, dass sich
die weltweite landwirtschaftliche Produktion in absehbarer Zeit verdoppeln muss, und das auf kaum vermehrbarer Fläche.
Dies sind gewaltige Aufgaben. Hier ist die deutsche
und europäische Landwirtschaft aufgrund der exzellenten Bedingungen bei Boden und Klima stark gefordert
und in der Verantwortung. Zu schaffen ist das aber nur
durch eine moderne und intelligente Landwirtschaft, die
alle Potenziale bei Ertragssteigerungen und Effizienzverbesserung nutzt. Hierzu zähle ich ausdrücklich die
Biotechnologie.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, Frau Präsidentin.
Auch müssen wir uns dringend die Frage stellen, ob
Flächenstilllegungen noch zeitgemäß sind und ob guter
Ackerboden nicht genauso schützenswert ist wie ein
Feuchtbiotop.
({0})
Für diese gigantischen Ziele und die Lösung der Aufgaben, die vor uns liegen, brauchen wir die Unterstützung der Bundesregierung in der Forschung. Hier sind
richtige Schritte gemacht worden. Ich glaube, dass die
Landwirtschaft auf einem guten Weg ist. Lassen Sie uns
diesen Weg weiter positiv gestalten!
Danke für das Zuhören.
({1})
Als Nächstes spricht der Kollege Dr. Edmund Geisen
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Der vorliegende Agrarbericht mag zwar
realistisch sein; aber die Worte des Herrn Ministers
heute Morgen wie auch die meines Kollegen Herrn
Röring stellen sich für mich als eine große Schönfärberei
dar.
({0})
Denn die in den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz bestehenden Probleme wurden
nicht gelöst und die meisten noch nicht einmal in Angriff
genommen.
({1})
Das Schlimmste, was man dem Herrn Minister vorzuwerfen hat, ist der andauernde Zickzackkurs seiner Politik in vielerlei Hinsicht, aber insbesondere in der Agrarsozialpolitik. Mit der Politik des Ministers ist unsere
Landwirtschaft vom Regen in die Traufe gekommen.
({2})
Es gab zunehmende Kürzungen im agrarsozialen Bereich des Haushalts. Die versprochene Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien wurde nicht eingehalten. Die
Erntehelferregelung war ein Flop. Es gibt keine LösunDr. Edmund Peter Geisen
gen für die Tierseuchenbekämpfung. Nein, die Landwirtschaft ist nicht, wie es der Herr Minister darstellt,
auf Rosen gebettet. Sie hat noch nichts davon gemerkt,
dass Verbesserungen eingetreten sind.
({3})
Was der deutschen Landwirtschaft besonders zu
schaffen macht, sind die ungleichen Wettbewerbsbedingungen auf EU-Ebene, die überbordende Bürokratie, die wettbewerbsverzerrenden Dieselbesteuerungen
im Agrarbereich sowie die unterschiedlichen Produktionsvorschriften und Auflagen im Umweltbereich, in
der Tierhaltung und in der Produktionstechnik. Dazu
kommen auf nationaler Ebene die enorm hohen finanziellen Anforderungen durch die alten Lasten.
Das alles ist nicht so in Angriff genommen worden,
dass unseren Landwirten eine Zukunftsperspektive geboten wird. Unsere Landwirte sind weiterhin vor allem
dadurch verunsichert, dass sie keine mittelfristige Planungssicherheit haben.
({4})
Deswegen fordern wir von der FDP-Fraktion den Herrn
Minister auf, diese genannten Probleme möglichst bald
in Angriff zu nehmen.
Wir fordern ebenfalls eine verstärkte verbraucherorientierte Politik, die den Verbrauchern und den Landwirten gerecht wird. Dazu gehören die Harmonisierung
der Qualitätsstandards in Europa - und darüber hinaus -,
die Qualitätssicherung im Agrar- und Nahrungsmittelbereich, die Aufklärung über die Produktionswege der
national und international erzeugten Produkte, die Herausstellung der heimischen Produkte durch deutliche
Kennzeichnung und die Aufklärung der Verbraucher
über Produktionsmethoden hierzulande und international, damit ein Vergleich gewährleistet ist. Wir fordern
Sie, Herr Minister Seehofer, auf, endlich Maßnahmen zu
ergreifen, die unseren Landwirten und dem ländlichen
Raum Zukunftsperspektiven aufzeigen.
({5})
Zum Schluss möchte ich etwas zur deutschen EUPräsidentschaft im kommenden Jahr sagen. Wir von der
FDP fordern Sie insbesondere auf, im Bereich der
Cross-Compliance und darüber hinaus für einen drastischen Bürokratieabbau zu sorgen. Hier stehen Sie, Herr
Minister, im Wort.
Ich bedanke mich für das Zuhören.
({6})
Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion
Dr. Gerhard Botz.
Frau Präsidentin! Herr Bundesminister! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ich möchte in meinem
heutigen Beitrag auf nur einen Punkt im Agrarbericht
eingehen, nämlich auf die Zukunft der ländlichen
Räume, genauer gesagt: auf einige Aspekte, die angesichts der aktuellen Situation aus unserer Sicht sehr
wichtig sind. Unsere Fraktion hat im September eine
bundesweite Konferenz zur Zukunft ländlicher Räume
durchgeführt und von Akteuren aus dem ländlichen
Raum eine Vielzahl von Anregungen erhalten.
({0})
Auf einige Aspekte möchte ich eingehen.
Wir brauchen wesentlich stärker eine integrierte Sicht
auf die Entwicklung in unserem ländlichen Raum. Wenn
wir ehrlich sind, müssen wir Agrarpolitiker eingestehen
- das betrifft uns alle -, dass wir zwar schon seit Jahrzehnten von einer integrierten Agrarpolitik sprechen, davon aber doch noch ein ganzes Stück entfernt sind. Herr
Bundesminister, deswegen begrüßen wir das, was wir in
den letzten Monaten aus Ihrem Haus - von Ihnen, aber
auch von Ihren führenden Mitarbeitern - hören, nämlich
dass es eine der wesentlichen politischen Zielstellungen
ist, jetzt zu einer integrierten Politik für ländliche
Räume zu kommen. Das bedeutet eine Abkehr von der
bisher prägenden sektoralen Betrachtungsweise.
({1})
Wir könnten uns vorstellen, auf Bundesebene so etwas wie einen Rat für die Entwicklung ländlicher Räume
einzurichten. Unser Ministerium sollte mit den anderen
Ministerien, die über fachliche Zuständigkeiten auf diesem Gebiet verfügen, zusammenarbeiten. Eine dementsprechende Einrichtung bräuchten wir auch auf der
Ebene der Länder; denn es ist klar, dass eine Politik für
ländliche Räume regional, das heißt hauptsächlich auf
der Landesebene, umgesetzt werden muss. Ich bin davon
überzeugt, dass die Geschwindigkeit, mit der wir diese
Entwicklung angehen, erhöht werden muss.
Eine entscheidende Zielstellung in diesem Zusammenhang ist und bleibt, Arbeit und Wertschöpfung vor
Ort zu halten. Auch deshalb müssen wir regionale Wirtschaftskreisläufe aktivieren, neue Marketingkonzepte
entwickeln und Beschäftigung gezielt fördern. Wenn wir
das wollen, brauchen wir mehr Mittel im Bereich der
zweiten Säule, als wir zurzeit - leider - zur Verfügung
haben. Deshalb ist es aus meiner Sicht unverzichtbar,
Mittel aus dem Bereich der ersten Säule in den Bereich
der zweiten Säule umzuschichten.
({2})
Natürlich müssen alternative Erwerbsmöglichkeiten für
die betroffenen Bürger im ländlichen Raum ausgebaut
werden. Eine Fülle erfolgreicher Leader-Projekte belegt,
dass das möglich ist. Auch das Instrument der Modulation ist deshalb kein Generalangriff auf die Einkommen
der heutigen Landwirte, sondern eher eine Maßnahme,
mit deren Hilfe es uns gelingen kann, öffentliche Mittel
- solange wir sie noch haben - sukzessive für vernünftige und zukunftsfähige Projekte im ländlichen Raum
einzusetzen.
({3})
Es gibt eine klare politische Zielstellung, der wir uns
als Sozialdemokraten verpflichtet fühlen: Unsere ländlichen Regionen, insbesondere die peripher gelegenen
strukturschwachen Regionen müssen als eigenständige Lebens- und Wirtschaftsräume erhalten und weiterentwickelt werden. Eine einseitige Ausrichtung zukünftiger staatlicher Förderstrategien auf Ballungsräume, die
ohnehin wachsen, kann deshalb nach meiner Auffassung
nicht akzeptiert werden.
({4})
Es gibt trotz der bekannten Probleme, die ich hier
nicht im Einzelnen aufführen muss, in fast jeder dieser
Regionen erhebliche Entwicklungspotenziale, die wir
fördern müssen. Wichtig ist es, dass wir dazu die Akteure vor Ort in die Entscheidung einbeziehen. Deshalb
- das möchte ich in Richtung unseres Bundesministeriums sagen - war es richtig, das Programm „Regionen
Aktiv“ für zwei Jahre zu verlängern.
Auch wenn wir weniger Geld haben und über neue Instrumente nachdenken müssen, bleibt die grundlegende
Entscheidung Deutschlands aus früheren Jahrzehnten
richtig, den Wegfall landwirtschaftlicher Beschäftigung
durch Erwerbschancen in Industrie, Gewerbe und
Dienstleistung im ländlichen Raum rechtzeitig auszugleichen. Frankreich zum Beispiel hat diese strategische
Entscheidung verschlafen und leidet bis heute unter den
Folgen.
Noch können wir in unseren ländlichen Räumen auf
ein besonders hohes ehrenamtliches Engagement unserer Bürger zurückgreifen. Wir müssen versuchen, trotz
knapper finanzieller Mittel dieses Kapital ehrenamtlicher Tätigkeit an wichtigen Schaltstellen gezielt zu fördern. Dabei geht es um Betreuungsangebote kultureller
und sportlicher Art für Jungendliche. Diese können mancherorts aufrechterhalten bleiben oder sogar verbessert
werden. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen,
dass das letzten Endes nichts anderes ist als eine vorsorgende Maßnahme gegen den wachsenden Einfluss
rechtsradikaler Organisationen insbesondere in ländlichen Regionen, die benachteiligt sind. Dort unterbreiten solche Organisationen Jugendlichen gezielt Freizeitangebote, um über diesen Weg ihr verhängnisvolles
Gedankengut in deren Köpfe zu bringen.
({5})
Wer über Perspektiven für ländliche Räume spricht
und ohne Illusionen in die Zukunft schaut - das ist
schließlich unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus -, der
darf nicht die Augen vor den mit hoher Sicherheit zu erwartenden Klimaveränderungen verschließen. Nüchterne Einschätzungen deuten darauf hin, dass wir uns
von der bisherigen Erfahrung von jährlichen Ertragszuwächsen in Höhe von etwa 3 Prozent verabschieden
müssen, allein deshalb, weil sich die Temperatur- und
Niederschlagsverteilung in den kommenden Jahrzehnten
erheblich verändern wird.
Wir sind also gut beraten, ohne Hast, aber konsequent
und entschlossen unsere Forschung im Agrar- und Forstbereich auf diese Herausforderungen rechtzeitig einzustellen. Herr Bundesminister, an dieser Stelle möchte ich
Sie ausdrücklich bestärken, diesen Aspekt mit Blick auf
die Vorhaben im Bereich der Ressortforschung, die wir
alle tragen - natürlich muss im Detail noch darüber beraten werden; aber wir unterstützen sie -, einzubeziehen.
Denn es werden Zeiten kommen, in denen wir froh und
vielleicht auch etwas stolz darauf sein werden, dass wir
Agrarforscher, Züchter und Verfahrenstechniker mit ausreichender Kapazität Vorbereitungen haben treffen lassen, damit die verbliebenen Landwirte, die in den kommenden Jahrzehnten unsere Bevölkerung versorgen
sollen, über die entsprechenden Maßnahmen und Verfahren verfügen.
Ich glaube, dass wir alle - damit möchte ich zum
Schluss kommen - uns darüber klar sind, dass ländliche
Räume, die Landwirtschaft und der Beruf des Landwirts
nicht mehr den Stellenwert haben, den sie vor einigen
Jahrzehnten noch hatten. Aber wir sollten nicht müde
werden, unseren Mitbürgern, den Medien und allen anderen Interessenvertretern klar zu machen, dass sie
wichtig sind. Das war immer so und es wird so bleiben.
Wir hängen existenziell von dieser Branche, von den
ländlichen Räumen ab. Deshalb hoffe ich, dass wir trotz
aller Aktivitäten, die wir Parlamentarier auf diesen Gebieten abwickeln, die Zukunft unseres Vaterlandes dementsprechend gemeinsam gestalten.
Vielen Dank.
({6})
Bärbel Höhn spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal unabhängig vom Thema
dieser Debatte darauf hinweisen, dass in diesem Moment
das Kuratorium „Baum des Jahres“ tagt. An dieser Sitzung können wir leider nicht teilnehmen, weil wir diese
Debatte führen. Heute wird nämlich der Baum des Jahres ausgerufen: die Waldkiefer. Wir sollten diesem Baum
und damit dem Naturschutz in unserem Land alles Gute
wünschen!
({0})
Jetzt komme ich auf den Agrarpolitischen Bericht 2006 der Bundesregierung zu sprechen. Herr
Seehofer, ich muss sagen, dass ich Ihre Rede enttäuschend fand. Denn die Diskussion über den Agrarbericht
ist eine Grundsatzdebatte. Deshalb hätte ich schon erwartet, dass Sie zum Beispiel auf das eingehen, was die
EU-Agrarkommissarin Fischer Boel im „Handelsblatt“
vom 16. Oktober dieses Jahres gesagt hat. Dort heißt es:
Fischer Boel kündigte ferner an, dass sie das Budget für die Direktzahlungen an die Bauern stärker
senken wolle als in der EU-Finanzplanung bis 2013
vorgesehen. Das Geld solle stattdessen in den
Fonds für ländliche Entwicklung fließen. … So
würden Bauern mit zukunftsweisenden Geschäftsideen belohnt, sagte sie.
({1})
Herr Seehofer, auf diese Ankündigung hätte ich von
Ihnen eine Reaktion erwartet. Sie haben die Kürzungen
der zweiten Säule hingenommen und gesagt, diese Kürzungen seien nicht schlimm, da es sich nur um
1 Milliarde Euro handele, was kein großer Betrag sei.
Auf diese Weise haben Sie versucht, die Bedeutung dieser Kürzungen herunterzureden. Für viele Bereiche der
deutschen Landwirtschaft und für viele Regionen unseres Landes sind diese Kürzungen der zweiten Säule allerdings eine existenzielle Bedrohung. Das sollten wir
immer wieder betonen.
({2})
Einige Bauern, beispielsweise in bestimmten Landkreisen Bayerns, sind finanziell stärker von der zweiten
Säule als von der ersten Säule abhängig. Herr Goppel
wird Ihnen das bestätigen, wenn Sie es noch nicht wissen. Von den Kürzungen der zweiten Säule sind sowohl
die Bauern, die extensive Landwirtschaft betreiben, als
auch die Bauern, die naturnahe Landwirtschaft betreiben, betroffen. Sie haben dramatische Auswirkungen.
Deshalb müssen wir etwas gegen diese Kürzungen unternehmen.
({3})
Genau die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind,
um diesen Kürzungen zu begegnen, haben Sie abgewürgt, indem Sie nicht nur die Kürzungen der zweiten
Säule hingenommen haben, sondern auch noch die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe gekürzt haben. Das Fatale an dem, was Sie getan haben, ist, dass Sie die Mittel
für die Bauern mit zukunftsweisenden Ideen gekürzt haben. Der Unterschied zwischen der Politik von Rot-Grün
und Ihrer Politik besteht darin, dass wir für zukunftsweisende Konzepte Geld zur Verfügung gestellt haben, Sie
aber tun das Gegenteil.
({4})
Ich möchte noch auf einen anderen wichtigen Bereich
eingehen, den Sie, Herr Seehofer, nicht angesprochen
haben: die Gentechnik. Wir könnten in diesem Zusammenhang sehr lange über ethische und ökologische Gesichtspunkte diskutieren. Ich will heute aber einzig und
allein über den wirtschaftlichen Vorteil reden, den Europa hätte, wenn es gentechnikfrei bliebe. Das wäre auch
ein wirtschaftlicher Vorteil für die Bauern in diesem
Land, nicht nur ein Vorteil für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.
({5})
Das große Land Kanada kann mittlerweile keinen
gentechnikfreien Raps mehr liefern. Doch was tut die
Ernährungswirtschaft? Sie fragt nach gentechnikfreiem
Raps. Auch Soja kann in vielen Bereichen nicht mehr
gentechnikfrei geliefert werden. Was ist das Ersatzprodukt? Das Ersatzprodukt ist gentechnikfreier Raps. Das
bedeutet, der Rapspreis hat sich nicht nur aufgrund gestiegener Energiekosten erhöht, sondern auch, weil Europa bisher gentechnikfrei geblieben ist. Das hat darüber
hinaus eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit zur
Folge. Das muss so bleiben.
({6})
Sie, Frau Happach-Kasan, waren doch gerade erst in
Argentinien. Wissen Sie, wie in Argentinien das
schlimmste Schimpfwort lautet, das Bauern und Vertreter der Ernährungswirtschaft in den Mund nehmen? Es
lautet Monsanto. Denn durch die Lizenzgebühren, die
dieses Unternehmen verlangt, sind viele Bauern in Abhängigkeit geraten. Mittlerweile ist es so, dass Monsanto
sowohl die Bauern als auch die Ernährungswirtschaft
knebelt. Einen solchen Zustand wollen wir in Deutschland nicht.
({7})
Es gibt noch einen Bereich, den ich ansprechen will
und für den Sie, Herr Seehofer, auch keine Worte gefunden haben: den Tierschutz. Ich finde es gut - am heutigen Tage sollte man darauf hinweisen -, dass wir im
Hinblick auf Robbenprodukte einen gemeinsamen Antrag eingebracht haben. Wir wollen heute - allerdings zu
nachtschlafender Zeit; daher spreche ich dieses Thema
schon jetzt an - für Deutschland die Einführung eines
Stopps des Imports von Robbenprodukten beschließen.
Das ist richtig, weil wir dadurch der grausamen Robbenjagd in Kanada endlich etwas entgegensetzen und erreichen, dass sich in diesem Land im Tierschutz etwas verändert. Das ist gut.
({8})
Vielen Dank an alle Fraktionen, übrigens auch an die
PDS, die dieses Vorhaben inhaltlich auch unterstützt.
Darüber hinaus wurden die Haltungsbedingungen für
Pelztiere verbessert. Dieses Thema ist erst vor kurzem
im Bundesrat behandelt worden. Aber das reicht uns
Grünen nicht. Denn beim Tierschutz geht es nicht nur
um Robben und Pelztiere. Ein Verbot von Robbenprodukten macht Ihnen, um es so zu sagen, wenig aus. Wir
wollen, dass die Einfuhr von Katzen- und Hundefellen
verboten wird. Dem entsprechenden Antrag von uns haben Sie bisher nicht zugestimmt. Vor allen Dingen wollen wir eine Verbesserung für Nutztiere. Durch Ihre Entscheidung in der Frage der Hennenhaltung und der
Schweinehaltung haben Sie dazu beigetragen, dass Millionen von Tieren unter schlechteren Bedingungen leben
müssen als vorher, als Rot-Grün regiert hat.
({9})
Wir müssen mehr für den Tierschutz tun in diesem Land.
Vielen Dank.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Uda Heller.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Agrarbericht zeigt deutlich die große Bedeutung,
welche die Bundesregierung einer starken und auf dem
internationalen Markt wettbewerbsfähigen Land- und
Agrarwirtschaft beimisst.
Ich habe mir ein Kapitel aus diesem Bericht ausgewählt, und zwar die Mittel zum Leben, besser gesagt: die
Lebensmittel. Als nachgelagerter Wirtschaftsbereich
spielt insbesondere die Ernährungswirtschaft eine entscheidende Rolle für die Sicherung der Versorgung unserer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. 80 Prozent unseres Nahrungsbedarfs werden mit heimischen Produkten
gedeckt und das ist gut so. Die Ernährungsbranche ist
mit etwa 5 900 Betrieben, circa 1,3 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von rund 260 Milliarden Euro
im Jahr einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige in
Deutschland. Die Branche boomt und wird von den Bürgern in Deutschland, aber auch im Ausland angenommen und geschätzt. Wenn wir jetzt noch lernen, nicht nur
auf den Preis, sondern auch auf die Qualität zu schauen,
sind wir auf dem richtigen Wege.
({0})
Die Vielfalt an Brot- und Biersorten in Deutschland
- um nur zwei Beispiele zu nennen - ist einzigartig in
der Welt. Allein im ersten Halbjahr 2006 wurden Nahrungsgüter im Wert von 18,1 Milliarden Euro exportiert.
Ich denke, damit sind wir auf einem sehr guten Weg. Die
Landwirtschaft ist aber in hohem Maße von der Verarbeitung ihrer Produkte und vom Handel abhängig. Denn
fast alle Agrarprodukte erreichen den Verbraucher in
verarbeitetem Zustand. Die positiven Synergieeffekte
von Land- und Ernährungswirtschaft sind wichtig, weil
beide Glieder eine Wertschöpfungskette bilden.
({1})
Dabei gilt es, eine möglichst hohe Wertschöpfung zu erzielen, weil diese für die wirtschaftliche Tragfähigkeit
der Agrarwirtschaft von großer Bedeutung ist.
In der vergangenen Woche fand in Magdeburg erstmals eine zweitägige „Zukunftskonferenz Ernährungswirtschaft“ auf Initiative von Bundesminister Horst
Seehofer statt. Unter dem Motto „Neue Wege und neue
Chancen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft“ konnten sich Vertreter der Landwirtschaft und der deren Produkte verarbeitenden Ernährungswirtschaft austauschen. Besonders erfreut war ich darüber, dass das
Bundesministerium als Veranstaltungsort für diese Konferenz Magdeburg in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt gewählt hat. Sachsen-Anhalt hat mittlerweile eine
Spitzenposition in der ostdeutschen Ernährungsbranche
erreicht.
({2})
Marken wie Rotkäppchen, Hasseröder Bier und Halberstädter Würstchen sind weit über die Grenzen von
Sachsen-Anhalt bekannt. Markenprodukte haben einen
positiven Identitätswert für unsere Menschen, die stolz
sind, wenn sie selbst in einem Supermarkt in Berlin oder
Hamburg Produkte aus ihrer Heimat vorfinden. Mit einer Umsatzsteigerung um über 300 Millionen Euro auf
5,8 Milliarden Euro im Jahr 2005 lag Sachsen-Anhalt
über dem Bundesdurchschnitt. Die Exportumsätze stiegen in diesem Zeitraum um 12 Prozent. Als ein besonders wichtiges Signal werte ich aber die leichte Zunahme
der Zahl der im Ernährungsgewerbe in Sachsen-Anhalt
Beschäftigten. Dort waren 2005 knapp 21 000 Arbeitnehmer in dieser Branche tätig.
({3})
Interessant ist: In Mecklenburg-Vorpommern liegt der
Umsatz der Ernährungswirtschaft mit 4,8 Milliarden
Euro noch deutlich vor dem der Tourismusbranche mit
3,5 Milliarden Euro. Im Gegensatz zur Tourismusbranche, die weitgehend vom Saisongeschäft abhängig ist,
besitzt die Ernährungsbranche ein sehr viel höheres
Wachstumspotenzial. Dieses gilt es auszuschöpfen.
Als umsatzstärkste Branche des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland hat sie zudem entscheidend
zum Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 5,6 Prozent in den vergangenen fünf Jahren beigetragen. Dies
ist ein erfreuliches Ergebnis, das zum großen Teil den
mittelständischen Unternehmen zu verdanken ist.
Um in Zeiten der Globalisierung im internationalen
Konkurrenzkampf um Marktanteile in der Ernährungsbranche erfolgreich zu sein, müssen wir auf unsere qualitativ hochwertigen Produkte bauen. Gleichzeitig gilt es,
die typisch deutschen Spezialitäten und kulinarischen
Besonderheiten einzelner Regionen intensiver und erfolgreicher zu vermarkten.
({4})
Auf lange Sicht ist es auch für uns unverzichtbar, in
noch viel höherem Maße neue ausländische Absatzmärkte zu erschließen.
({5})
Insbesondere geht es auch darum, Perspektiven auf den
Weltagrarmärkten auszuloten und sich bietende Chancen
beim Export in Drittländer zu nutzen. Ein hohes Nachfragepotenzial besitzen die neuen Mitgliedstaaten in der
Europäischen Union, aber auch die aufstrebenden Länder mit einer großen Wirtschaftskraft wie Brasilien, Indien und China.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja.
Meine Damen und Herren, als jemand, deren Vorfahren in einer über hundertjährigen Geschichte Lebensmittel hergestellt haben und die selbst in der Obst- und
Gemüsebranche gelernt und später Lebensmitteltechnologie studiert hat, sei es mir gestattet, auf eine große
Chance für unsere Jugend hinzuweisen. Ein Blick in diesen Berufszweig ist interessant. Er ist vielseitig und hat
Zukunft. Hochmoderne Anlagen und zum Teil komplizierte Technik verlangen gut qualifiziertes Personal nicht
nur für die Herstellung selbst, sondern zum Beispiel
auch für die Bereiche Lebensmittelüberwachung und Lebensmittelkontrolle.
Salopp gesagt: Gegessen und getrunken wird immer.
Deshalb rufe ich alle jungen Leute dazu auf, sich in dieser Branche ausbilden zu lassen und hier die Chancen zu
nutzen, die gegeben sind.
Danke.
({0})
Uli Kelber spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Rednerin der FDP hat zu Beginn davon gesprochen, sie könne keinen Politikwechsel feststellen.
Sie können sich vorstellen, dass ich als Sprecher der
Fraktion, die vor der letzten Bundestagswahl sieben
Jahre lang in der Regierungskoalition war und die es
jetzt im Augenblick auch ist, das eher als Lob denn als
Kritik verstehe.
({0})
- Frau Happach-Kasan, ich greife das auf, weil Sie als
Nächstes gesagt haben, Sie könnten in diesem Agrarbericht nichts Positives entdecken. Ich mag eine solche
Schwarz-Weiß-Malerei nicht. Es gibt genügend Themen,
über die man unterschiedlicher Meinung ist. Niemand in
der Bevölkerung nimmt uns ab, wenn wir erklären, der
eine habe in allem Recht, der andere habe nie Recht, alles sei schlecht oder alles sei gut. So funktioniert die
Welt nicht.
({1})
Sie sollten schon einmal in den Bericht hineinschauen.
Auch der Unterschied in der Darstellung der Oppositionsfraktionen war sehr interessant.
Es ist aus Ihrer Sicht also nichts Positives, dass es bei
den wirtschaftlichen Ergebnissen der landwirtschaftlichen Betriebe seit mehreren Jahren einen Aufschwung
gibt? Das steht im Agrarbericht.
({2})
Die stürmische Entwicklung bei den erneuerbaren Energien, in dessen Verlauf wir nicht nur die Nutzung für die
Landwirte verbessert haben, sondern auch Weltmarktführer in den entsprechenden Technologien geworden
sind, ist also nichts Positives in diesem Agrarbericht für
Sie? Auch die steigende Bereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher, für bestimmte Produkte mehr Geld
auszugeben - zum Beispiel für Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft -, ist also nichts Positives in diesem Agrarbericht für Sie?
({3})
Schwarz-Weiß-Malerei an dieser Stelle nützt nichts.
({4})
Von der Fraktion der Grünen haben sich Frau Behm
und Frau Höhn in ihren Reden mit dem Agrarbericht beschäftigt. Ich gehe auf die Punkte ländlicher Raum und
Biosprit ein. Die Auseinandersetzung bezüglich des
ländlichen Raumes hatten wir ja schon einmal. Frau
Höhn und Frau Behm, ich würde mir wünschen, dass sie
nicht nur der jetzigen Regierung vorwerfen, dass sie
Mittel für die ländlichen Räume kürzt, sondern auch erklären, wo Sie denn gewesen sind, als die größten Kürzungen bei den Gemeinschaftsaufgaben durch eine
grüne Ministerin erfolgt sind. Das gehört zur Ehrlichkeit
in dieser Debatte dazu.
({5})
Diese statistischen Daten sind wir beim letzten Mal gemeinsam durchgegangen und Sie haben sie an dieser
Stelle immerhin anerkannt.
({6})
Herr Kelber, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Happach-Kasan zulassen?
Ich wollte eigentlich zuerst den Biosprit abhandeln,
aber da Sie gerade fragen, lasse ich sie selbstverständlich
jetzt zu und tue das danach, Frau Präsidentin.
Frau Happach-Kasan.
Herr Kelber, ich finde es ausgesprochen angenehm,
dass Sie hier das Thema Biosprit tatsächlich angesprochen haben.
Nein, das wollte ich noch tun.
Langsam, Sie haben es hier angesprochen. Sie haben
kritisiert, dass ich die Politik der Bundesregierung hinsichtlich Biosprit angegriffen habe. Wir sind - da Sie
auch einmal das Positive dargestellt haben wollten - in
einem Punkt durchaus einer Meinung: Als wir im Bundestag gemeinsam die Steuerbefreiung für Biodiesel bis
Ende 2008 beschlossen haben, waren wir auf einem gemeinsamen Weg.
Wenn Sie diese Entscheidung so positiv bewerten,
wie Sie das jetzt gemacht haben, dann möchte ich Sie
fragen, warum Sie dann im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der CDU und der CSU beschlossen haben, diese
Entscheidung, die eine hervorragende und privat initiierte Entwicklung in Gang gesetzt hat, zu revidieren und
die Steuerbefreiung durch die Biokraftstoffquote zu ersetzen. Das widerspricht der positiven Bewertung, die
Sie vorher abgegeben haben.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Möglichkeit geben,
etwas zum Thema Biosprit zu sagen. Da Sie in Ihrer
Frage nur den Biosprit angesprochen haben, gehe ich davon aus, dass Sie die anderen Punkte wie wirtschaftlicher Aufschwung, positive Entwicklung bei den erneuerbaren Energien und steigende Bereitschaft zu höheren
Preisen anerkennen.
({0})
Zum Biosprit selbst. Die Entwicklung mit mehreren
Millionen Tonnen Biosprit ist in der Tat sehr gut.
({1})
Jetzt schauen wir uns genau an: Was war bisher die Gesetzeslage und was kommt jetzt? Ich persönlich könnte
mir sogar noch mehr als das vorstellen, was jetzt noch
kommt, aber bleiben wir bei diesem Vergleich. Bisher
war in dem Gesetz vorgesehen, bis zum Jahr 2009 Biokraftstoffe steuerlich zu fördern. Die Überkompensationsprüfung war in diesem Gesetz bereits enthalten.
Jetzt gilt folgende Regelung: Bei Ethanol bleibt diese
steuerliche Förderung bis 2015 anstatt bis 2009, bei Biogas bis 2018 anstatt bis 2009 und bei Biodiesel bis 2011
bestehen. Zwar wird ab dem nächsten Jahr die Förderung abgebaut, aber gleichzeitig wird sie durch eine
Quote unterstützt, die beim Absatz eine Mindestmenge
sicherstellt. Aus meiner Sicht sollten wir diese Quote sogar noch höher setzen und die reinen Kraftstoffe einbeziehen.
Das ist eine Ausweitung der bisherigen Beschlüsse.
Das ist eine Verstetigung und bedeutet eine Erhöhung
der Absatzchancen. Zudem ist diese Regelung industriefreundlich. Wer zum Beispiel Ethanol herstellt, weiß
jetzt, was er nicht nur in den nächsten ein oder zwei Jahren, sondern in den nächsten sieben Jahren, wenn seine
Anlage fertig ist, für Möglichkeiten hat. Ich halte das für
eine Verbesserung.
Ich frage mich bei der Kritik der FDP immer Folgendes: Bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
fordern Sie eine Abkehr von der finanziellen Förderung
und eine Hinwendung zu einer Quote.
({2})
Beim Biosprit wollen Sie weg von der Quote und hin zu
einer finanziellen Förderung. An dieser Stelle sollten Sie
als Partei eine einheitliche Position beziehen.
({3})
Herr Kelber, möchten Sie jetzt eine Frage von Frau
Höhn zulassen?
Selbstverständlich, gerne.
Bitte schön.
Herr Kelber, ich habe darauf gewartet, dass Sie dieses
Thema ansprechen. Wir haben darüber bereits diskutiert.
Deshalb habe ich mir vom Bundesministerium die Zahlen dazu besorgt, wie sich die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe entwickelt haben. Diese Zahlen wurden
unserem Ausschuss zur Verfügung gestellt. Ich gehe davon aus, dass Sie sie kennen.
Erster Punkt. Können Sie bestätigen, dass die konservativen Landwirtschaftsminister in dem Zeitraum ab
1992 bis heute die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
pro Jahr doppelt so stark wie Rot-Grün gekürzt haben?
Zweiter Punkt. In der Tat hat Herr Funke die Mittel
für die Gemeinschaftsaufgabe weniger als Renate
Künast gekürzt. Aber können Sie ebenso bestätigen, dass
dann, wenn man die vielen Programme von Renate
Künast aus dem Bereich der zweiten Säule einrechnet,
zum Beispiel „Regionen Aktiv“, Programme zur artgerechten Tierhaltung und zur Förderung des Ökolandbaus, die es neben der Gemeinschaftsaufgabe gegeben
hat, die Mittel im Bereich der zweiten Säule sogar noch
erhöht anstatt gekürzt worden sind?
({0})
In dem Zeitraum von 1992 - man kann auch früher
oder später ansetzen - bis 2006 gibt es eine klare Reihenfolge: Am meisten haben die Minister der CDU/CSU
gekürzt, dahinter kommt die Ministerin der Grünen und
erst an dritter Stelle folgt der rote Agrarminister. Das
können wir gerne gemeinsam festhalten. Genau diesen
Punkt habe ich angesprochen. Es gehört zur Bewertung
dazu, dass man nicht dann, wenn man zwischen Opposition und Regierung oder Regierung und Opposition
wechselt, auf einmal alles vergisst, was man vorher gesagt hat. Das nehmen die Menschen nicht mehr ernst.
({0})
Man muss zu seiner Regierungsverantwortung, aber
auch zu seiner Oppositionsverantwortung stehen. Ich
habe versucht, das zum Ausdruck zu bringen.
({1})
Ich weiß, dass ich beim ersten und auch beim zweiten
Mal noch nicht alle in diesem Parlament davon überzeugen kann. Aber ich werde dieses Thema beim nächsten
Mal wieder ansprechen und ich hoffe, dass ich dann
mehr Erfolg haben werde.
Dass ein Politikwechsel ausgeblieben ist - ich greife
gerne Ihre Äußerung auf, Frau Kollegin HappachKasan -,
({2})
wird auch innerhalb der Koalition debattiert. Die ständigen Wiederholungen, dass wieder mehr Vertrauen in die
Politik notwendig ist und wir in Europa mit einer
Stimme sprechen müssen, ermüden langsam. Wir sprechen hier über Politik; es geht nicht um Werbereden auf
dem eigenen Parteitag, liebe Kollegen in der Koalition.
Dass zum Beispiel der Boom bei den erneuerbaren
Energien nicht nur Einnahmemöglichkeiten bietet, sondern auch zur Stabilisierung der Rohstoffpreise und damit der Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe geführt
hat, ist einem Gesetz zu verdanken, dass wir gegen den
teilweise erbitterten Widerstand der damaligen Opposition durchsetzen mussten. Die gute wirtschaftliche Situation und das große Vertrauen in die Wirtschaft sind nicht
erst in den letzten elf Monaten entstanden; sie gehen
vielmehr auf dieses Gesetz zurück.
({3})
Wenn wir über die wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft sprechen, dann gehören auch die Grüne Gentechnik und ihr Einsatz in Deutschland zu diesem
Thema. Den Skeptikern bzw. Gegnern hinsichtlich eines
vermehrten Einsatzes von Grüner Gentechnik wird oft
vorgeworfen, nur den Verbraucherschutz und den Umweltschutz im Blick zu haben. Als jemand, der für Umweltpolitik und Verbraucherpolitik in meiner Fraktion
mitverantwortlich zeichnet, halte ich das eher für ein
Lob als für eine Kritik. Aber der entscheidende Punkt ist
- davon sind meine Fraktion und ich fest überzeugt -,
dass auch handfeste, für die Landwirtschaft überlebensnotwendige ökonomische Gründe für eine restriktive Linie beim Einsatz von Grüner Gentechnik sprechen.
({4})
Denn wenn die Nutzung unter gegenwärtigen Bedingungen deutlich ausgeweitet oder wenn sie bei unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen auch nur minimal betrieben würde, dann wären sehr viel mehr Arbeitsplätze
in der Landwirtschaft bedroht, als durch den Einsatz
Grüner Gentechnik je geschaffen werden könnten.
({5})
Die Wirtschaft ist der entscheidende Punkt. Wenn
Deutschland keine gentechnikfreien Produkte garantieren kann, dann entstehen daraus für unsere Landwirtschaft massive Probleme.
Ein Problem ist in der Debatte bereits genannt worden. Dabei handelt es sich um die Exporte. In der Tat
können wir feststellen, dass bei bestimmten Produkten
wie Mais und Raps andere Regionen der Welt keine
GVO-freien Produkte mehr garantieren können und deswegen für deutsche Unternehmen neue Exportchancen
entstanden sind. Man kann sich nicht darauf verlassen, in
Amerika, Kanada und anderen Regionen der Welt gentechnikfreie Rohware zu bekommen. In Deutschland ist
das aber möglich. Das war die Grundlage für den Abschluss entsprechender Exportverträge.
Wir alle erinnern uns an die Aussage von Hipp und
anderen Unternehmen, die ihren Namen in der Öffentlichkeit nicht mehr mit dem Begriff Gentechnik verbunden sehen wollten und deutlich gemacht haben, dass sie
ihre Rohware aus dem Ausland beziehen müssten, wenn
in Deutschland nicht mehr garantiert werden könnte,
dass sie gentechnikfrei ist. Damit würde in Deutschland
Wertschöpfung wegfallen. Das sind ökonomische
Gründe, die auch Gentechnikenthusiasten zu einer rationalen Betrachtung der Chancen und Risiken bringen
sollte.
Deswegen haben Sie, Herr Minister Seehofer, die
volle Unterstützung der SPD bei Ihrer derzeitigen Linie,
die Chancen und Risiken abzuwägen. Wir sollten uns in
der Tat die Zeit nehmen, die wir brauchen, und dann eine
Entscheidung treffen, die den Wünschen der Verbraucherinnen und Verbraucher und den ökonomischen
Chancen der deutschen Landwirtschaft am besten gerecht wird.
Es geht um nicht weniger als die echte Wahlfreiheit
zwischen Gentechnikfreiheit und Gentechnik. Ich glaube,
dass eine solche Wahlfreiheit in einer freien Gesellschaft
selbstverständlich ist. Dazu gehört die klare Kennzeichnung der Produkte, die aus meiner Sicht auch die Kennzeichnung von Produkten aus tierischer Produktion umfasst, die mit Gentechnik in Verbindung gekommen sind.
({6})
Ich würde mich freuen, wenn das Parlament diese Position einheitlich vertritt, damit der Minister das in der
EU entsprechend darstellen kann.
({7})
Demnach müssten auch Milch und Fleisch gekennzeichnet werden, wenn die Tiere mit Gentechnik in Verbindung gekommen sind.
({8})
Wir wollen auch keinen schleichenden Einzug der
Gentechnik. Das würde die Wahlfreiheit vernichten.
Deswegen muss eine Grenze gezogen werden, die noch
unterhalb des Grenzwerts von 0,9 Prozent liegt. Dieser
gesetzliche Grenzwert muss die Ausnahme sein; das
gentechnikfreie Produkt muss die Regel sein. Auf diesen
Normalfall muss die Politik ausgerichtet sein. Die Sicherung einer gentechnikfreien Landwirtschaft in Deutschland ist im Interesse der Absatzprodukte und des klaren
Wunsches von 80 Prozent der Verbraucherinnen und
Verbraucher nach gentechnikfreien Produkten notwendig.
Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass die Landwirte, die
gentechnikfrei produzieren wollen - das ist die überwiegende Mehrzahl -, nicht auf den Kosten eines verstärkten Einsatzes von Gentechnik in Deutschland sitzen bleiben.
({9})
Ich versuche, das am Beispiel der Tests darzulegen.
Schon heute sind die Tests aufwendig und teuer, die ein
Landwirt, wenn er zum Beispiel Mais anbaut, durchführen muss, um nachzuweisen, dass sein Mais gentechnikfrei ist bzw. der GVO-Anteil unter 0,9 Prozent liegt. Die
Kosten der Tests können durchaus einen substanziellen
Anteil am Ertrag pro Hektar ausmachen.
({10})
Wenn es in Zukunft nicht nur eine gentechnisch veränderte Maissorte gibt, sondern zwei Maissorten, wenn
nicht nur Bt-Mais, sondern beispielsweise auch eine
Maissorte mit besonders hohem Eiweißgehalt auf dem
Markt ist und die Zahl der Tests demzufolge zunimmt,
ist der Kostenfaktor der Überprüfung auf Gentechnikfreiheit möglicherweise höher als der Ertrag. Wir brauchen also eine klare Regelung, wer an dieser Stelle für
die Kosten der Landwirte aufkommt.
Wir haben zuletzt eine Debatte über ein Moratorium
beim Einsatz der Grünen Gentechnik geführt. Diese
wurde von der Fraktion der Grünen und dem CSU-Generalsekretär Söder angestoßen.
({11})
Beide wissen natürlich, dass ein solches Moratorium
nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Grünen haben das
- im Gegensatz zu Herrn Söder - in der Begründung ihres Entschließungsantrags zumindest zugegeben. Aber
vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Das
deutsche Parlament fordert den Minister auf, eine Initiative in der EU zu starten mit dem Ziel, dass sich Gebietskörperschaften zu gentechnikfreien Regionen verbindlich erklären können. Ich denke, darin könnten wir alle
den Minister unterstützen.
({12})
Verbündete würden wir in den Staaten finden, in denen
schon heute vom EU-Recht abgewichen wird. Es würde
bei der regionalen Unterscheidbarkeit und der Vermarktung helfen, wenn man sagen könnte: Aus unserer Region garantiert gentechnikfrei!
({13})
Damit kein Zweifel aufkommt: Meine Skepsis gilt der
Anwendung, nicht der Forschung. Ich befürworte die
Forschung zuallererst aus Sicherheitsgründen; denn wir
müssen wissen, womit wir umgehen. Wir müssen zudem
erforschen, ob eine zweite oder dritte Generation gentechnisch veränderter Organismen weniger Risiken birgt
und mehr gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Ich
bin zwar skeptisch, möchte es aber erforschen. Deswegen unterstütze ich eine Ausweitung der Forschung.
Dann können wir gemeinsam erreichen, dass die Gentechnik wirtschaftlich nicht negativ, sondern positiv von
der deutschen Landwirtschaft beurteilt wird sowie von
den Verbraucherinnen und Verbrauchern akzeptiert wird.
Das wünsche ich mir.
Vielen Dank.
({14})
Als Nächste hat das Wort die Kollegin Marlene
Mortler für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kelber, hinsichtlich der Grünen Gentechnik und der Wahlfreiheit betreffend Erzeuger, Verarbeiter und Konsument müssen wir wohl noch ein bisschen üben.
({0})
Zur Sache: In meiner Heimat gibt es die Regionalbewegung „Alles“. Dieses Kürzel steht für „Artenreiches
Land - Liebenswerte Stadt“. Die Botschaft dieser Bewegung lautet: Wir setzen auf eine Partnerschaft von Stadt
und Land; Stadt und Land Hand in Hand. Übertragen auf
die Politik der Union bedeutet das: Wir setzen auf alle
Produktionsrichtungen und alle Betriebsformen, ob
große oder kleine, ob ökologisch oder konventionell
wirtschaftende Betriebe.
({1})
Wir unterscheiden nicht zwischen Gut und Schlecht.
Gott sei Dank gehört damit die grüne Symbolpolitik der
Vergangenheit an.
({2})
Es ist keine Schande, als deutscher Landwirtschaftsminister deutsche Interessen in Brüssel und den WTOVerhandlungen zielgerichtet und glaubwürdig zu vertreMarlene Mortler
ten. Danke, sehr geehrter Herr Bundesminister, für Ihren
Einsatz.
({3})
Sie erleben sicherlich genauso wie ich, dass das Globale in zunehmendem Maße bestimmt, was wir national
noch machen dürfen. Unser Ziel muss aber eine umweltfreundliche, multifunktionale und flächendeckende Landwirtschaft bleiben.
({4})
Zum Haushalt: Es ist schon toll, wenn die, die noch
vor kurzem auf der Regierungsbank saßen und bei der
GAK 200 Millionen Euro gekürzt haben, jetzt von den
Oppositionsstühlen aus die gleiche Summe wieder einfordern.
({5})
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Höhn zulassen?
Die kann man im Anschluss beantworten.
({0})
- Nein, ich habe Herrn Trittin schon in ähnlicher Sache
geantwortet.
Fischer Boel ist aus meiner Sicht eine weise Frau. Sie
hat erstens von Gesundheitscheck gesprochen und Sie
hat davon gesprochen, dass die Bauern und Bäuerinnen
Planungssicherheit bis 2013 haben werden und diese
auch brauchen. So habe ich ihre Aussage interpretiert.
Ich finde, es ist eine Ohrfeige für unsere Bauern und
Bäuerinnen im Land, wenn Sie, liebe Frau Höhn, sagen,
gerade den zukunftsweisenden Bauern seien Mittel gekürzt worden. Auch normal wirtschaftende Betriebe sind
Zukunftsbetriebe.
({1})
In Bayern werden wir diese Lücke, die wir bei der zweiten Säule haben, mit viel Fantasie wieder schließen.
({2})
Wir sind auf gutem Weg. Passen Sie auf!
Die gute Stimmung und die hohe Investitionsbereitschaft der Bauern und Bäuerinnen bedeuten für uns in
der Regierung bzw. für uns Parlamentarier auch, weiter
für Verlässlichkeit und für Planungssicherheit zu sorgen.
Ich denke, der Spruch von Frau Fischer Boel „Raus aus
den Büros und rein in die Felder“ ist ein guter Slogan.
Nur, Anspruch und Wirklichkeit sind hier noch weit auseinander. Auch auf Bundesebene haben wir noch Verbesserungsbedarf. Ich merke auch kritisch an, dass im
Bereich der Saisonarbeitskräfte die Grenze der Leidensfähigkeit vieler Betriebsleiter längst überschritten
ist. Wir brauchen dringend eine Verbesserung der Eckpunkteregelung für 2007.
({3})
Die Biokraftstoffe der ersten Generation haben viele
Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Wir dürfen
die Biokraftstoffe der ersten Generation nicht abwürgen.
Sie brauchen auch weiter eine faire Chance.
({4})
Deshalb halten wir uns die Zweiwegestrategie vor Augen; denn aus meiner Sicht ist die zweite Generation,
von der viele so wundervoll reden, noch lange nicht lebensfähig.
Der Verbraucher spielt in unserem Tun eine wichtige
Rolle. Ich möchte kurz das Thema Ökolebensmittel
aufgreifen. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass
Ökolebensmittel ihre Reise um die halbe Welt antreten.
({5})
Für mich ist das ein wirklich großer Widerspruch. Darum setze ich im Gegensatz zur Bundesregierung auch
weiterhin auf eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung.
({6})
Der Verbraucher muss wählen können, woher sein Bioprodukt kommt.
Ich komme zum Schluss. Was die landwirtschaftliche Unfallversicherung betrifft, so kann es nicht sein,
dass die Beitragszahler von heute weiter die Versicherungsfälle von vorgestern bezahlen müssen. Ich setze auf
eine schnelle und gemeinsame Lösung, die die Akzeptanz und vor allem die Finanzierbarkeit dauerhaft sichert.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Mortler.
Begreifen wir Landwirtschaft als Zukunftsbranche.
Die grünen Jobs sind Jobs mit Zukunftsperspektive. Die
noch freien Ausbildungsplätze zeigen es.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/640, 15/5820 und 16/1442 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/3010 soll an
dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
16/640 überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstan-
den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 n und
30 p bis 30 t sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 6. Februar 2006 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Kroatien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 16/2955 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Jemen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2861 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Juni 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen
Republik Ägypten über die Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2862 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. und 20. April 2005 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2863 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 10. August 2005 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Republik Timor-Leste über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2864 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transparenzrichtlinie-Gesetzes
- Drucksache 16/2952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Eichgesetzes
- Drucksache 16/2920 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Berufsaufsicht und zur Reform
berufsrechtlicher Regelungen in der Wirtschaftsprüferordnung ({5})
- Drucksache 16/2858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Statistik der Verdienste und Arbeitskosten
({7})
- Drucksache 16/2918 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes
- Drucksache 16/2855 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 14. März 2006 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Franzö-
sischen Republik über den Bau einer Eisen-
bahnbrücke über den Rhein bei Kehl
- Drucksache 16/2860 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 16/2951
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
m)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Stasi-UnterlagenGesetzes
- Drucksache 16/2969 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Umwandlungsgesetzes
- Drucksache 16/2919 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
p) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Rahmenabkommen vom 22. Juli 2005 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und
zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März
2006 zwischen dem Bundesministerium für
Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland
und dem Minister für Gesundheit und Solidarität der Französischen Republik über die
Durchführungsmodalitäten des Rahmenabkommens vom 22. Juli 2005 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich
- Drucksache 16/2859 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Innenausschuss
q) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 2005
- Drucksache 15/5960 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
r) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2003/2004 sowie über die
Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 15/5790 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
s) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Ursula Lötzer, Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Keine Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt
- Drucksache 16/2995 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
t) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige
Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- Drucksache 16/3002 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 3 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Mücke, Horst Friedrich ({8}), Patrick
Döring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Gesetzes
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Beschleunigung von Zulassungsverfahren für
Verkehrsprojekte
- Drucksache 16/3008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksache 16/2793 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({11}), Christoph Waitz,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren
- Drucksache 16/2970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja
Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haushaltskonsolidierung konsequent anpacken - Haushaltsgesetzgebung reformieren
- Drucksache 16/2998 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler,
Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige
Arzneimittel
- Drucksache 16/3013 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen.
Der von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf
Drucksache 16/2969 - Tagesordnungspunkt 30 m - soll
zur Federführung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Innenausschuss, den Sportausschuss, den Rechtsausschuss,
den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3002 - Tagesordnungspunkt 30 t - mit dem geänderten Titel „Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages“ soll an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 s sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 23. Mai 1997
über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Seegerichtshofs und zu dem Abkommen vom 14. Dezember 2004 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Internationalen Seegerichtshof über den Sitz des
Gerichtshofs
- Drucksache 16/1288 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({14})
- Drucksache 16/2797 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/2797, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
ist damit mit dem einstimmigen Votum des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. März
1998 über die Vorrechte und Immunitäten der
Internationalen Meeresbodenbehörde
- Drucksache 16/1289 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({15})
- Drucksache 16/2798 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf
Drucksache 16/2798, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Auflösung der Unabhängigen Kommission
zur Ermittlung des Vermögens der Parteien
und Massenorganisationen der DDR
- Drucksache 16/2256 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16})
- Drucksache 16/2808 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Maik Reichel
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2808, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser
Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Weiterverwendung von Informationen öffentlicher Stellen ({17})
- Drucksache 16/2453 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18})
- Drucksache 16/3003 Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3003, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalition und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und
der Fraktion Die Linke. Gegenstimmen gab es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen mögen sich erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Beratung mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
30. September 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Belarus
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
- Drucksache 16/2705 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19})
- Drucksache 16/2992 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({20})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache
16/2992, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
1. Dezember 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 16/2706 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/2994 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({1})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache
16/2994, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es mögen
sich diejenigen erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai
2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 16/2707 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 16/2993 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({3})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache
16/2993, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte wiederum diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, aufzustehen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({4}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Ratsentscheidung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung
von Kriterien und Verfahren für die Annahme
von Abfällen auf Abfalldeponien
- Drucksachen 16/2580, 16/2680 Nr. 1.1, 16/2839 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf der Drucksache 16/2839, der
Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linksfraktion
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
- Drucksache 16/2763 Wer stimmt der Sammelübersicht zu? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion mit
den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 98 zu Petitionen
- Drucksache 16/2764 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 99 zu Petitionen
- Drucksache 16/2765 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 100 zu Petitionen
- Drucksache 16/2766 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der Linksfraktion bei Zustimmung des übrigen Hauses
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 101 zu Petitionen
- Drucksache 16/2767 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 102 zu Petitionen
- Drucksache 16/2768 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der Linksfraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 103 zu Petitionen
- Drucksache 16/2769 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 104 zu Petitionen
- Drucksache 16/2770 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 31 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 105 zu Petitionen
- Drucksache 16/2771 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen
die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
- Drucksache 16/2772 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 106 ist mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 s:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
- Drucksache 16/2773 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({16}), Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ({17})
- Drucksache 16/961 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
- Drucksache 16/2880 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 16/2880, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist abgelehnt bei Zustimmung von
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion und bei Gegenstimmen des Rests des Hauses. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Neue Armut in Deutschland - Die aktuelle Diskussion um so genannte Unterschichten
Als erste Rednerin rufe ich Katja Kipping für die
Fraktion der Linken auf.
({19})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die soziale Ausgrenzung, die wir alle bedauern, ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern wurde von Wirtschaft und herrschender politischer Klasse in den letzten
Jahren massiv befördert.
({0})
Sie waren es doch, die mit der Erleichterung von Minijobs die Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv vorangetrieben haben! Sie waren es doch, die mit Steuererleichterungen für Reiche und Unternehmen auf der einen
Seite und mit Leistungskürzungen für die Armen auf der
anderen Seite eine Umverteilung in großem Umfang vorangetrieben haben! Nur war das leider eine Umverteilung von unten nach oben.
({1})
Da Wirtschaft und Politik die soziale Ausgrenzung selber zu verantworten haben, sind sie jetzt auch in der
Pflicht, dagegen vorzugehen.
({2})
Herr Müntefering äußerte im Rahmen der Debatte um
die so genannte Unterschicht, man müsse zu den Erwerbslosen auch einmal sagen: Ihr müsst euch anstrengen! Ein solcher Satz erweckt den Eindruck, als ob der
fehlende Antrieb bei den Erwerbslosen die Ursache für
die Massenarbeitslosigkeit sei. Als ob fünf Millionen offene Stellen in diesem Land darauf warten, dass sich jemand bewirbt! Das Gegenteil ist doch leider der Fall.
Heute ist das Problem doch: Selbst die Bereitschaft,
alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, hilft
nur noch in den seltensten Fällen weiter.
({3})
Erst kürzlich kam ein Erwerbsloser zu mir in die Sprechstunde, der wirklich bereit war, alles zu tun. Er war auch
bereit, fünf Tage auf dem Bau mit Überstunden Probe zu
arbeiten - und das Ganze kostenlos. Das Ende vom Lied
war, dass er nach den fünf Tagen des kostenlosen Probearbeitens nach Hause geschickt wurde, damit sein Chef
den nächsten Erwerbslosen für fünf Tage kostenloses
Probearbeiten anstellen kann.
({4})
Die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen
Job zu tun, führt in der Praxis leider dazu, dass die Leute
immer mehr und immer stärker ausgebeutet werden. Ich
glaube, an diesem Punkt müssen wir etwas tun.
({5})
Insofern sollten wir mit einer Ideologie nach dem
Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorsichtig
sein. Eine solche Ideologie verschleiert nur den Blick
auf die wirklichen, auf die strukturellen Ursachen von
Verelendung und Massenarbeitslosigkeit.
Gestern im Ausschuss bekam ich von SPD, Grünen,
CDU/CSU und FDP zu hören, Geld allein sei nicht alles.
Ja, das stimmt, Geld allein ist nicht alles, aber ganz ohne
Geld ist alles andere auch nichts.
({6})
Spätestens dann, wenn man am Ende des Monats nicht
einmal mehr Geld hat, um sich eine Fahrkarte zu leisten,
um zum Erwerbslosentreff zu fahren, schlägt materielle
Armut in soziale Ausgrenzung um. Deswegen sind wir
gefordert, mehr Geld in die Hand zu nehmen.
({7})
Deswegen brauchen wir endlich eine soziale Grundsicherung in diesem Land, die wirklich für alle Menschen
Teilhabe gewährleistet. Das, meine Damen und Herren,
sind wir der Demokratie schuldig.
({8})
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sagen
immer, dass Armut vor allem ein Bildungsproblem ist.
({9})
Hier möchte ich Sie gern beim Wort nehmen. Deswegen
schlage ich Ihnen vor: Kümmern wir uns um folgende
drei Projekte! Nehmen wir folgende drei Projekte gemeinsam in Angriff:
Erstens. Die Kommunen müssen immer stärker sparen. Sie sparen unter anderem, indem sie Kindern von
Erwerbslosen den Anspruch auf einen Kitaplatz verweigern. Was bedeutet das in der Praxis? In der Praxis heißt
das, dass diese Kinder von klein an das Gefühl des Ausgeschlossenseins erleben, dass sie von der Bildungsinstitution Kindertagesstätte abgeschnitten werden. Von daher sollten wir uns dafür einsetzen, dass es bundesweit
für alle Kinder, gerade und besonders für die Kinder von
Erwerbslosen, einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz
gibt.
({10})
Zweitens. Immer mehr Kinder gehen ohne ein vollwertiges Frühstück in die Schule. Infolgedessen lässt
ihre Lernfähigkeit tatsächlich nach. Mangelhafte Ernährung wirkt sich nämlich negativ auf die Konzentration
aus. Ein kostenloses Mittagessen in der Schule für alle,
das wäre ein Ansatzpunkt, um nicht nur der Fehlernährung, sondern auch der sozialen Spaltung in der Schule
entgegenzuwirken.
({11})
Drittens. Die frühe Aufteilung in Haupt-, Realschule
und Gymnasium benachteiligt vor allem Kinder aus den
armen Familien. Werben wir in den Ländern also für Gesamtschulen! Denn Skandinavien zeigt: Längeres gemeinsames Lernen kann gleichzeitig den Lernstarken
und den Lernschwachen helfen.
({12})
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren
von der SPD, wenn Sie nur die Hälfte Ihrer Betroffenheit
über soziale Ausgrenzung ernst meinen, dann müssen
Sie zu einem grundlegenden Kurswechsel in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik bereit sein. Wer
aber nicht bereit ist, über einen grundlegenden Kurswechsel auch in der Wirtschaftspolitik zu reden, der
sollte über die angebliche Antriebsschwäche bei der so
genannten Unterschicht lieber schweigen.
Besten Dank.
({13})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat - nach ihrer eigenen
Veröffentlichung - versucht, herauszufinden, welche
Wertepräferenzen in der Bevölkerung vorliegen und
welche Zuordnungen zu politischen Typen diese Präferenzen erlauben, und hat dabei einen Typus ausgemacht,
der von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen
geprägt ist. Das ist das, worum es eigentlich ging.
Bei den Problemen, die dabei beschrieben werden,
haben wir es nicht nur und nicht in erster Linie mit zu
wenig finanziellen Leistungen des Staates zu tun, sondern mit kultureller Armut, mit einem Mangel an Bildung, an Perspektiven, an sozialer Anbindung, an eigenem Antrieb und an Leistungsbereitschaft. Deswegen
wird in dieser Studie auch von einem Prekariat und nicht
etwa von „Unterschicht“ gesprochen.
Ich glaube, dass der Bundesarbeitsminister Recht hat,
wenn er feststellt: Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es
schon immer gegeben. - Wahr ist jedoch, dass die Unterschiede in den letzten Jahren in vielen Bereichen größer
geworden sind. Das muss uns zu denken geben. Deswegen ist es richtig, dass wir in dieser großen Koalition daran arbeiten, die Probleme zu lösen. Wir sind dankbar
für alle Daten und Fakten, die wir in diesem Zusammenhang bekommen, um die Probleme auch angehen zu
können.
Was wir allerdings heute hier mit dieser Aktuellen
Stunde erleben, in deren Titel von „neuer Armut“ und
„so genannten Unterschichten“ die Rede ist, trägt nun
überhaupt nicht dazu bei, uns neue Fakten zu liefern. Im
Gegenteil, es ist der Versuch, zu vernebeln, zu täuschen
und Ursachen und Wirkungen durcheinander zu bringen.
Das werden wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Von den Linken wird hier groß herausgestellt, dass
das Problem besonders in den neuen Bundesländern bestehe. Wahr ist, dass das ein Problem ist, das wir gemeinsam zu lösen haben. Nur, diejenigen, die 40 Jahre
lang mit eiserner Knute
({1})
die Probleme, die jetzt hier kritisiert werden, herbeigeführt haben und die zum Teil noch heute in den Ländern
regieren, sind die Brandstifter, die sich jetzt zur Feuerwehr aufspielen. Deshalb sind Sie mit Ihren Äußerungen
völlig schief gewickelt.
({2})
Sie müssten sich für die Zahlen gerade in den neuen
Ländern schämen.
({3})
Lassen Sie mich auf die Diskussion über den Zweiten
Armuts- und Reichtumsbericht am 2. Juni 2005 hier in
diesem Hause zurückkommen. Der Kollege Kurth hat in
dieser Debatte zu Recht festgestellt, dass es zwischen
1998 und 2003 zu einer Zunahme der Armutsquote gekommen ist. Das ist leider wahr, Herr Kollege Kurth.
Wer in dieser Zeit regiert hat, ist uns genauso bekannt
wie Ihnen. In dem Zusammenhang von „neuer Armut“
zu sprechen, ist pure Heuchelei. Wir haben es mit Problemen zu tun, die wir lösen müssen, deren Ursachen
aber weit zurückliegen und lange bekannt sind. Das hat
mit neuer Armut überhaupt nichts zu tun. Deswegen ist
es völlig unangebracht, dass Sie damit ein politisches
Süppchen kochen wollen.
({4})
Insbesondere ist es völlig unangebracht, hier jetzt einen Zusammenhang mit angeblichem sozialen Kahlschlag durch Hartz IV herzustellen. Die Hartz-IVReform ist ausdrücklich durchgeführt worden, um den
früheren Sozialhilfeempfängern dieselben Arbeitsmarktinstrumente und dieselbe professionelle Betreuung zukommen zu lassen wie bis dahin nur den Empfängern
von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe.
({5})
Das war damals unsere gemeinsame Absicht. Da waren
Sie als Grüne im Übrigen dabei; es ist schade, dass Sie
das so schnell vergessen haben und sich von dem verabschiedet haben, was wir uns damals gemeinsam als Fördern und Fordern vorgenommen haben.
({6})
Angesichts der Entwicklung, dass wir nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im
Jahr 2005 5 Milliarden Euro mehr für die Menschen ausgeben und dass bei deutlich sinkender Arbeitslosigkeit
die Ausgaben weiter steigen, und zwar nicht für irgendwelche Verwaltungskosten, sondern direkt für die Menschen, ist es absolut polemisch, hier von sozialem Kahlschlag zu reden. Das ist entschieden zurückzuweisen.
Wir sind mit dem, was wir in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machen, auf dem richtigen Weg.
({7})
Das ist genau das, was man machen muss, wenn man
den Menschen helfen will. Wir dürfen nicht die Menschen, um die es geht, abschieben. Es ist ein Teil unseres
christlichen Menschenbildes, unseres christlichen Verständnisses vom Menschen, die Menschen, die Hilfe
brauchen, nicht abzuschieben, sondern anzunehmen.
Dieser Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht nur
über bessere Bildung und mehr Arbeitsplätze.
({8})
Das ist das, was wir uns hier vorzunehmen haben. Die
vielen Fehler, die in der Bildungspolitik gerade von den
grünen Bildungsideologen gemacht worden sind, haben
doch dazu beigetragen, dass wir in vielen Bundesländern
die nun bestehenden Probleme haben. Schauen Sie sich
doch in der PISA-Studie die Ergebnisse der von Ihnen
verantworteten Bildungspolitik an!
({9})
Bei der Bildungspolitik, bei der frühkindlichen Bildung muss angesetzt werden. Außerdem geht es um
mehr Arbeit. Wir sind froh, dass wir in dieser Bundesregierung heute feststellen können, dass es fast eine halbe
Million Arbeitslose weniger als vor einem Jahr gibt
({10})
und dass ein Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung zu verzeichnen ist. Mit unseren Arbeitsmarktreformen arbeiten wir daran, auf diesem Weg weiterzugehen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Damit sind wir auf dem richtigen Weg und damit werden wir den Menschen, um die es hier geht, helfen. Nicht
mit Vernebelungsdebatten und irgendwelchen Unterschichtsbegriffen, sondern mit konkreten Maßnahmen,
wie wir sie schon durchgesetzt haben und weiterhin, zur
Not auch gegen den Widerstand der Opposition, durchsetzen werden, werden wir helfen, die Probleme, die mit
dieser Studie aufgezeigt worden sind, zu beseitigen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich Sie so höre, Herr Brauksiepe, dann
scheint Ihre Welt ja in Ordnung zu sein und es gibt keine
Probleme.
({0})
Aber es ist anders, wie man feststellt, wenn man genau
hinschaut. Wir wissen - das ist kein Phänomen, das der
Herr Beck entdecken musste - seit den Armutsberichten
2001 und 2005, dass die Armut in Deutschland zunimmt,
({1})
dass die Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland zunimmt,
dass insbesondere der Prozess, dass Kinder ein spezifisches Armutsrisiko sind, nicht gestoppt ist.
In Berlin, wo die PDS regiert, leben 37 Prozent der
Kinder laut Aussage des Deutschen Kinderschutzbundes
in Armut. Ich sehe bei Ihnen auch nicht im Ansatz eine
Sozial- und Wirtschaftspolitik, die diese Defizite ausgleichen könnte.
({2})
Man muss verstehen - dieser Punkt ist genauso wichtig -, dass die Armut heute mit unterschiedlichen Verteilungsfragen verschränkt ist. Es geht also um Einkommen
und Zugangsmöglichkeiten. Armut besteht aus Bildungsarmut und aus mangelnden Zugangsmöglichkeiten
und Chancen. In diesem Zusammenhang hilft die Klassifizierung „Unterschicht“ nicht weiter; denn mit diesem
diskriminierenden Begriff werden die Armen noch weiter ausgegrenzt. Ich glaube, wir haben in der deutschen
Sprache mit dem Begriff der Armut eine deutliche Bezeichnung. Auch der Begriff „Prekariat“ hilft nicht wirklich weiter. Denn die verwendeten Begriffe sollten von
denen verstanden werden, um die es geht.
({3})
Hartz IV ist nach meiner Überzeugung nicht die Ursache dieser neuen Armut.
({4})
Hartz IV ist vielmehr ein Versuch, auf diese neue Armut
zum Teil eine Antwort zu geben.
({5})
Dieser Versuch - das sage ich an die Adresse der PDS,
auch wenn es Ihnen nicht gefällt - ist zum Teil gelungen.
Zum Beispiel hat gestern der Generalsekretär von Caritas, Georg Cremer, deutlich gesagt - das können Sie
nachlesen -, dass mit Hartz IV die verdeckte Armut
deutlich reduziert werden konnte.
({6})
Es war ein wichtiger Punkt, dass das Einkommen von
Sozialhilfeempfängern und von Menschen, die trotz Arbeit weniger Geld als das Sozialhilfeniveau hatten, durch
die Hartz-IV-Gesetzgebung verbessert worden ist. Das
Gleiche gilt auch für ihre Möglichkeiten für den Zugang
zum Arbeitsmarkt.
({7})
Ich halte überhaupt nichts davon, wenn man diesen Teil
der Wahrheit ausblendet, nur um - wie die Kolleginnen
und Kollegen von der PDS - eine einfache Antwort zu
finden.
({8})
- Ganz ruhig! Durch Ihr Geschrei werden Ihre Argumente nicht wahrer. Das ist einfach so.
({9})
Ein zweiter Punkt. Es gibt bei der Hartz-Gesetzgebung ein Grundversprechen, zu dem sich alle vor Jahren,
als dieses Thema im Vermittlungsausschuss behandelt
wurde, bekannt haben. Damals hieß es, dass die Kürzungen bei Arbeitslosenhilfeempfängern, die gut verdient hatten - in diesem Bereich gab es in der Tat Kürzungen -,
nur dann zu verantworten sind, wenn es bessere Möglichkeiten für den Zugang zum Arbeitsmarkt gibt, wenn
also das Fördern ein elementarer Bestandteil der gesamten Hartz-Gesetzgebung ist. Das war die Basis, auf der
wir im Vermittlungsausschuss die Verhandlungen abgeschlossen haben.
({10})
An die Adresse der Regierung, also an den anwesenden Staatssekretär, und an die Kollegen Fraktionsvorsitzenden von SPD und CDU/CSU, die lieber heute Abend
im Fernsehen diskutieren als jetzt im Parlament,
({11})
sage ich: Sie stehen auf der Bremse, wenn es um das
Fördern geht. Sie haben das Fördern zur Sparkasse der
Bundesagentur für Arbeit gemacht. Durch die Haushaltssperre sind die Eingliederungstitel um 900 Millionen Euro gekürzt worden. Vor Ort fehlt dieses Geld für
Qualifikationsmaßnahmen, für Eingliederungsmaßnahmen und für Maßnahmen, die für das Fördern wichtig
sind. Sie sind beim Fordern stark gewesen, aber beim
Fördern sind Sie abgestürzt. Auch das ist ein Grund dafür, dass sich die Lage jetzt verschlechtert.
({12})
Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, zwischen September 2005 und September 2006 ist zwar die
Arbeitslosigkeit zurückgegangen, aber der Anteil der
Menschen, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen sind,
ist von 37,4 Prozent auf 42,2 Prozent gestiegen.
({13})
Das ist ein Grund, beim Fördern endlich von der Bremse
zu gehen und den Menschen zu helfen, die dauerarbeitslos sind, und zwar mehr, als es diese Regierung derzeit
tut.
({14})
Ein letzter Punkt. Wenn wir diese Debatte über Armut
ernst nehmen wollen - wir müssen sie nun endlich führen -, dann müssen wir damit aufhören, die Menschen,
die in Armut und in Dauerarbeitslosigkeit leben oder die
Probleme mit ihren Kindern haben, noch zusätzlich
durch diese leidige Missbrauchsdebatte zu diskriminieren, die vor allem von der Union - aber auch die SPD
nimmt sie auf - immer wieder geführt wird.
({15})
Ich sage Ihnen klipp und klar: Solche Sprüche wie die
von Herrn Müller von der CSU, der nachher noch reden
wird, die dem Muster folgen, man solle einen Zwangsdienst für Arbeitslose einrichten, und auch solche Sprüche von Herrn Tiefensee über den Einsatz von Arbeitslosen in der S-Bahn und U-Bahn haben keine andere
Wirkung als die, dass man auf die Schwierigkeiten, die
Dauerarbeitslose sowieso schon haben, noch eines
draufsetzt. Man sagt damit nämlich nichts anderes als:
Da ihr Missbrauch treibt, seid ihr eigentlich selber
schuld an dem Schicksal, das ihr jetzt beklagt.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Die Vorschläge, die die Union jetzt gemacht hat, bedeuten nichts anderes als: Die Leute wollen überhaupt
nicht arbeiten. Man muss ihnen jetzt durch Kürzungen
auf die Sprünge helfen. - Wir halten das für grottenfalsch. Das ist eine zusätzliche Diskriminierung.
Ich sage zum Abschluss: Wer den Armen durch Missbrauchsdebatten auch noch ihre Würde nimmt, der
macht aus Armut Elend. Dann wird es noch viel schlimmer.
Vielen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde diese Diskussion sehr gut.
({0})
Ich kann die Feststellung, dass wir über gesellschaftliche
Probleme diskutieren, die nicht neu sind, ausdrücklich
unterstreichen. Es ist gut, darüber zu diskutieren und zu
versuchen, richtige Wege zu finden, um für die Menschen Abhilfe zu schaffen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat bei rund 3 000 Personen eine Untersuchung vorgenommen. Solche Untersuchungen sind nicht neu. Mit ihnen wird versucht, politische Werte und Einstellungen herauszubekommen und
sie zu klassifizieren. Ähnliche Untersuchungen gab es
Anfang der 90er-Jahre, zum Beispiel die Sinus-Studie.
Jeder erinnert sich auch an die wunderbare Debatte über
den Hedonismus in Deutschland und bestimmte Beteiligte, die besonders gern dem Hedonismus frönten.
Dass es Unterschichten gibt, ist eine ganz alte Tatsache. In früheren Untersuchungen hießen sie anders, zum
Beispiel Arbeitermilieu. Bei Karl Marx und anderen
kann man etwas über das Lumpenproletariat lesen. Das
eigentliche Problem besteht meines Erachtens darin,
dass man sich damit auseinander setzen muss, dass es
diese Gruppe in unserer Gesellschaft gibt.
({1})
Dass diese Gruppe wächst, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Sie definiert sich nicht nur durch nicht so hohe
Einkommen, sondern auch durch eine Reihe anderer
Positionen, mit denen man sich auseinander setzen muss
und die bei einer politischen Konzeption eine Rolle spielen müssen. Deswegen sind Kurzschlussargumentationen - das sei wegen Hartz IV so, das läge an der Politik
der Regierung Schröder oder an den beiden Armutsberichten und der darin nachzulesenden Entwicklung der
Quote, an der man ja sehe, wer die Verantwortung dafür
trage - ganz billige Debatten.
({2})
Damit versucht jeder, sein eigenes Süppchen zu kochen.
Was ist eigentlich die Aufgabe, vor der wir stehen?
({3})
Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist mit den Stichworten
Teilhabe und Chancengerechtigkeit gekennzeichnet.
({4})
Es geht um die Frage: Wie realisiere ich Teilhabe und
wie organisiere ich Chancengerechtigkeit?
({5})
Die Problemlage ist komplizierter und vielfältiger. Das
ist eine Folge der lang anhaltenden Arbeitslosigkeit, und
zwar nicht erst seit der Zeit der letzten Regierung. Wer
ehrlich darüber diskutiert, weiß, dass uns das Problem
schon seit den 70er-Jahren bewegt. Jeder kann sich je
nach Regierungsbeteiligung selbst ein Stückchen Schuld
zuschreiben. Denjenigen, die mit einfachen Rezepten daherkommen und zum Beispiel sagen, man müsse das
ALG II doch nur um 20 Prozent erhöhen, sei gesagt: Das
ist zwar schöner Populismus, aber das hilft nicht.
({6})
Ich finde, wir als Regierung haben unsere Verantwortung sowohl in den letzten Legislaturperioden als auch in
der jetzigen Legislaturperiode wahrgenommen. Es geht
nämlich darum, etwas zu tun, um Menschen Teilhabe zu
ermöglichen. Das heißt, wir müssen ihnen den Weg in
den Arbeitsmarkt öffnen. Mir muss keiner erzählen
- auch nicht Oskar Lafontaine -, dass wir gegenwärtig
zu wenig Arbeitsplätze haben. Das weiß selbst die Bundesregierung; Sie werden es nicht fassen. Man kann
Menschen aber nur in den Arbeitsmarkt bekommen,
wenn auch Arbeitsplätze vorhanden sind.
({7})
An dem Prinzip „Fördern und Fordern“ ändert das jedoch überhaupt nichts. Das ist in einer solchen Situation
wie der jetzigen völlig richtig.
({8})
Wenn man dieses Prinzip umsetzen will, muss man
berücksichtigen, dass damit viele Faktoren zusammenhängen, die ich jetzt nicht im Einzelnen darlegen kann.
Aber im Gegensatz zu den Jahren 2001, 2002 und 2003
werden wir in diesem Jahr voraussichtlich eine Wachstumsrate von 2,3 Prozent haben. Für das nächste Jahr
wird eine Wachstumsrate von 1,4 Prozent prognostiziert.
Dass damit ein Beschäftigungszuwachs einhergeht,
merkt wohl jeder. Selbst die PDS muss merken, dass es
mehr Beschäftigung gibt.
({9})
Dass die Zahl der offenen Stellen zunimmt, müssen auch
Die Linke und die PDS merken.
Es besteht die Chance, hier etwas zu bewegen. Im
Februar 2006 waren mehr als 5 Millionen Menschen arbeitslos. Jetzt sind es 4,2 Millionen Menschen.
Man muss sich ferner über den Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit Gedanken machen.
({10})
Es geht hier nicht um diejenigen, die ein Jahr arbeitslos
sind. Es gibt Gruppen, die teilweise sehr viel länger arbeitslos sind.
({11})
Diesen Menschen muss man spezielle Hilfen anbieten
und ihnen einen Weg aufzeigen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Sie sollen nicht auf Dauer irgendwo
verwahrt werden, sondern Beschäftigung finden. Dieser
Ansatz hebt sich deutlich von Ihrer Forderung nach einem flächendeckenden öffentlichen Beschäftigungsmarkt ab; das will ich Ihnen ganz klar sagen.
({12})
Sie folgen der Melodie: Wir machen ganz viele Programme. - Das haben wir schon probiert. Jetzt diskutieren wir darüber, wie wir mit speziellen Programmen
weiterhelfen können.
Wir müssen Programme für Kinder und Jugendliche
auflegen. Dabei geht es in erster Linie um Bildungschancen.
({13})
Es geht um den Kindergartenbesuch. Es geht darum, die
Kinder und Jugendlichen aus diesen Bevölkerungsgruppen so früh wie möglich anzusprechen, um eine Einmauerung in ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte
Situation zu verhindern.
({14})
Die Regierung stellt bis 2007 4 Milliarden Euro für
den Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung. Wir
haben ein ganz neues Konzept für den Umgang mit Betreuung. Durch Geschlechtergerechtigkeit muss Chancengleichheit geschaffen werden. Dass wir viel dafür tun
müssen, dass Frauen Kinder haben können, ohne die
Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verlieren, gehört genauso dazu.
Für mich gehört auch dazu - wir brauchen nicht die
PDS, um das zu erkennen -,
({15})
dass wir dafür sorgen müssen, dass Menschen vernünftig
entlohnt werden.
({16})
Ich weiß, dass das ein ganz schwieriges Thema ist. Es ist
nicht so einfach, wie es den Anschein macht, wenn Sie
es hier platt vortragen. Die Koalition setzt sich gegenwärtig mit den Fragen auseinander, wie besonders
schwer zu vermittelnde Gruppen gefördert werden können und wie Beschäftigungsmöglichkeiten für sie geschaffen werden können. Sie befasst sich ferner - das ist
ein ganz wichtiges Thema, das mit dazugehört - mit der
Beschäftigungssituation Älterer; hier will man fördernd
einwirken. Wir müssen auch in den Bereichen der Jugendarbeitslosigkeit und der Bildung und Berufsausbildung junger Menschen etwas tun. All das gehört für
mich dazu.
({17})
Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, lautete ursprünglich: Die Entdeckung der Unterschichten durch die politische Klasse. Donnerwetter!
Wie einfach die Welt doch sein kann, wie schön man sie
sich malen kann!
({18})
Dazu fällt mir eigentlich überhaupt nichts mehr ein. Es
geht um plumpen Populismus.
({19})
Sie sagen einfach: Hartz ist schuld. Erhöht den Benefit,
dann ist alles erledigt! - Frau Kipping, darüber haben
wir gestern im Ausschuss diskutiert. Man kann doch
nicht einfach sagen: Ihr müsst nur die Sozialtransfers erhöhen, dann ist alles bestens. Legt beim ALG II etwas
drauf und woanders auch noch. - Wir haben doch das
Kindergeld erhöht.
({20})
Eine plumpe Diskussion darüber, dass die ALG-IISätze und die Sozialhilfesätze nicht ausreichen, hilft
nicht weiter. Wir sind der Auffassung, dass die Sätze
ausreichend hoch sind und dass es nicht darum gehen
kann, einfach zu fordern, dass sie erhöht werden. Für genauso verfehlt halte ich allerdings die Vorstellung, man
könne dem Problem durch simple Kürzungen beikommen.
({21})
Ich denke, hier muss es darum gehen, eine ganz kluge
Politik zu machen und den Versuch zu unternehmen,
sich den Problemen zu stellen.
Ich glaube nicht, dass man einfach antreten und sagen
kann, man könne diese Probleme abschaffen. Ich bin
auch weit davon entfernt, zu sagen, jeder sei seines
Glückes Schmied. Das wäre verrückt. Jedem bieten sich
die gesellschaftlichen Möglichkeiten. Ein bisschen muss
man sich aber selbst anstrengen und bewegen. Das zu
fördern und zu entwickeln, ist Kernphilosophie dessen,
was wir als aktivierenden Sozialstaat bezeichnen. Jeder
soll Hilfe erhalten, um seine Situation durch Erwerbsarbeit, durch Teilhabe an Bildung und durch entsprechende Maßnahmen selbst zu verbessern. Wer sich so an
der Diskussion beteiligt, der hilft, für Deutschland einen
vernünftigen Weg zu finden.
Schönen Dank.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die hier benutzte Terminologie belegt, dass ein
großer Teil der Debatte tatsächlich purer Populismus ist.
Liberale unterscheiden die Menschen nicht in Schichten
oder Klassen.
({0})
Wir haben die Vorstellung von einer liberalen Bürgergesellschaft, in der jeder Bürger die gleichen Rechte hat
und die gleichen Startchancen bekommen muss.
({1})
In dieser Bürgergesellschaft gibt es Stärkere und Schwächere. Das muss man auszugleichen versuchen, ohne in
Gleichmacherei zu verfallen.
({2})
Ich habe die Zwischenrufe vonseiten der PDS gehört.
Ich bin mit Sicherheit niemand, der Sippenhaft unterstützt, und würde das Zitat auch nicht wiederholen, wenn
es nicht von einem Mitglied eines Landesvorstandes Ihrer Partei - Ihrer Frau, Herr Lafontaine - stammen
würde. Frau Müller sprach von der „Reproduktion des
asozialen Milieus“. Das zeigt Ihre wahre Wertschätzung
derjenigen, für die Sie hier vermeintlich sprechen.
({3})
Dass die Grünen sich dieser Debatte anschließen,
wirft ein bemerkenswertes Licht auf den Zustand Ihrer
Fraktion, Herr Kuhn. Aber sei es drum.
Wir diskutieren hier im Kern über den Fluch der falschen Tat: Armut in Deutschland ist das Ergebnis falscher Politik. Der Armut in Deutschland liegt nicht nur
die Antriebsschwäche Einzelner zugrunde, sondern eine
dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, gegen die gesetzgeberisch weder von der letzten Regierung noch von dieser
Regierung das Richtige unternommen wurde. Das ist das
Grundproblem.
({4})
Die Bundesrepublik leistet sich ein Sozialbudget in
Höhe von 696 Milliarden Euro. Je mehr Aufgaben der
Staat an sich zieht, desto mehr Menschen werden vom
Staat abhängig. Je mehr Menschen in die Abhängigkeit
des Staates geraten, desto mehr Menschen verlieren ihre
Antriebsfähigkeit und versuchen oftmals gar nicht mehr,
sich aus ihrer depressiven Situation zu befreien. Walter
Wüllenweber vom „Stern“ schreibt in dieser Woche:
Mit mehr Sozialknete kann man die Benachteiligung nicht wirksam bekämpfen. Bekäme jede arme
Familie 200 oder 300 Euro mehr Stütze im Monat,
würden sich dadurch ihre Aussichten auf einen Job,
auf ein selbstbestimmtes Leben, auf bessere Aufstiegschancen ihrer Kinder keinen Millimeter verbessern.
({5})
Damit hat Walter Wüllenweber Recht. Es geht nicht um
das weitere Verteilen von Staatsknete. Die Konzepte der
vergangenen Jahrzehnte waren bei der Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit offenkundig nicht erfolgreich. Es
geht darum, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der
es den Menschen ermöglicht, durch eigene Arbeit Teilhabe an der Gesellschaft zu haben. Deswegen ist die
FDP die Partei der sozialen Verantwortung.
({6})
Wir wollen eine Politik gestalten, die es den Menschen ermöglicht, durch ihrer eigenen Hände Arbeit wieder an dieser Gesellschaft teilhaben zu dürfen. Wir brauchen eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, ein
Steuersystem, das den Menschen und den Betrieben
mehr Geld vom Selbstverdienten übrig lässt, und ein
Arbeitsrecht, das Beschäftigung ermöglicht und nicht
verhindert. Genau das Gegenteil hat die rot-grüne Bundesregierung gemacht und die schwarz-rote Bundesregierung tut nichts, um diese Missstände zu beheben.
Wenn bei dieser vermeintlich großen Koalition Stillstand
herrscht, ist das vermutlich das Beste, was für die Bürger
erreicht werden kann.
({7})
Wir brauchen eine Veränderung der Schwerpunktsetzung hinsichtlich dessen, was der Staat zu finanzieren
hat. Das heißt, wir müssen, wie es die Landesregierung
in Baden-Württemberg macht, weit mehr für frühkindliche Bildung tun. Es geht um Sprachförderung und nicht
nur um die Frage, ob man die deutsche Sprache beherrscht. Es geht auch um die rechtzeitige Erkennung
von Sprachentwicklungsverzögerungen. Im Haushalt
des Landes Baden-Württemberg haben wir Mittel zur
Verfügung gestellt, die eingesetzt werden, um Sprachdefizite bereits im vierten Lebensjahr zu erkennen, sodass
die Kinder beim Eintritt in die Grundschule gleiche
Startchancen haben.
({8})
- Das ist richtig. Die dortige Regierung, an der die FDP
beteiligt ist, ist hervorragend.
Jedes Jahr verlassen 80 000 Schülerinnen und Schüler
unser Bildungssystem ohne Abschluss. Selbst Arbeitgeber, die in ihren Betrieben Ausbildungsplätze anbieten,
müssen oftmals feststellen, dass die Bewerber keine hinreichende Ausbildungsfähigkeit vorweisen können. Dieses Problem können Sie nicht wegdiskutieren. Davon erfahren Sie, wenn Sie Betriebe besuchen, egal in welcher
Region und Branche.
Unser Ansatz muss also sein, einerseits die
696 Milliarden Euro, die für Sozialleistungen zur Verfügung stehen, sinnvoller einzusetzen als nach dem Prinzip
Gießkanne, wie es bisher der Fall war. Wir müssen einen
größeren Teil dieser Mittel in Bildung, insbesondere in
frühkindliche Bildung, investieren. Andererseits müssen
wir diejenigen, die ihre Antriebskräfte verloren haben,
motivieren, sich wieder einzubringen. Es darf nicht sein,
dass sie sich in einer sozialen Hängematte ausruhen.
({9})
Vielmehr sollte unser Sozialsystem als Netz fungieren,
das jeden, der hineinfällt, wie ein Trampolin zum Mitmachen in unsere Gesellschaft katapultiert.
({10})
Die Anreize müssen anders gesetzt werden. Wir fordern ein Bürgergeldsystem, eine Kombination aus
Steuer- und Transfersystem: Diejenigen, die genug Geld
verdienen, sollen Steuern zahlen, und diejenigen, die
nicht genug Geld verdienen, sollen im Rahmen einer negativen Einkommensteuer die notwendige Unterstützung
erhalten. Das ist ein wegweisender Vorschlag, der über
all das, was hier bisher angesprochen worden ist, hinausgeht.
Vergessen Sie Ihren Populismus!
({11})
Legen Sie Ihre Rezepte von vorgestern in die Schublade
zurück! Machen Sie eine Politik, die den Menschen in
diesem Land Chancen eröffnet! Das wäre der richtige
Weg.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Stefan Müller für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte, die wir heute führen, ist sehr bemerkenswert. Sie wurde durch eine Studie der Friedrich-EbertStiftung mit dem Titel „Gesellschaft im Reformprozess“
ausgelöst, in der es eigentlich überhaupt nicht um das
Thema Armut, sondern um die Reformbereitschaft der
Deutschen geht. In dieser Untersuchung wird versucht,
bestimmte Gesellschaftsgruppen daraufhin zu identifizieren, ob sie in Zukunft SPD wählen oder nicht. So
könnte man den Inhalt dieser Studie auf den Punkt bringen.
({0})
Über den Inhalt dieser Studie kann man streiten. Letztlich müssen ihn allerdings ihre Adressaten bewerten.
Der Begriff „neue Armut“, um den es in dieser Aktuellen Stunde geht, erweckt den Eindruck, als liege eine
gänzlich neue Erkenntnis vor, als hätte man dieses
Thema bzw. die soziale Frage insgesamt neu entdeckt.
Ich möchte uns alle zunächst einmal auffordern, den Begriff „Unterschichten“ nicht zu verwenden, und zwar
ganz einfach deswegen, weil er die Betroffenen - wir
alle kennen sie und können sie identifizieren - stigmatisiert.
({1})
Immerhin, Herr Kuhn, haben Sie zugegeben, dass
diese Debatte auch für die Grünen nicht ganz neu ist. Als
ich mich vorhin im Internet auf der Homepage Ihrer
Fraktion umgesehen habe,
({2})
stellte ich fest, dass Sie dort über das Thema der heutigen Debatte schreiben:
Handeln statt Reden. Die Debatte über Armut und
soziale Ausgrenzung ist nicht neu.
So weit bin ich einverstanden. Gewundert habe ich mich
aber beim nächsten Satz:
Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir verschiedene Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gefordert.
({3})
Manchmal erwecken Sie den Eindruck, als hätten Sie in
der letzten Wahlperiode nicht regiert. Aber ich denke,
wir sind uns schon einig, dass Sie in der 15. Wahlperiode
mitregiert haben.
({4})
Noch besser ist es, wenn man die grüne Sozialbilanz
vom Juli 2005 liest. Darin haben Sie geschrieben:
Im Mittelpunkt grüner Politik steht der Schutz vor
sozialer Ausgrenzung.
Das ist in Ordnung. Weiter heißt es allerdings:
Nun steigt, wie der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung von 2005 zeigt, die Zahl jener an, die in Armut leben oder von Armut bedroht
sind. … Es stimmt, dass 2003 mehr Menschen unter
die Armutsgrenze fielen als 1998.
Auch an dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, wer
in den letzten zwei Wahlperioden regiert hat.
({5})
- Wenn Sie sagen, Sie seien ehrlich, muss ich Ihnen antworten: Gebracht hat es nichts. Es ist ein Eingeständnis
eigener Schwäche, wenn ausgerechnet Sie hier skandalisieren. Das ist in höchstem Maße unanständig, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen; denn Sie haben
doch in den letzten sieben Jahren mitregiert.
({6})
Nun wird niemand bestreiten, auch die Union nicht,
dass es Armut in Deutschland gibt, dass Armut und soziale Ausgrenzung in diesem Land keine Randphänomene sind. Das ist natürlich eine große Herausforderung
für die Politik. Gerade weil wir in einem nach wie vor
reichen Land leben, müssen wir hier etwas tun; niemand
darf sich mit dieser Situation abfinden. Es ist eine Tatsache, dass sich viele Menschen in unserem Land in ungesicherten Lebensverhältnissen befinden: Menschen, die
Stefan Müller ({7})
keine Arbeit haben, aber auch Menschen, die zwar Arbeit haben, aber nicht wissen, ob es ihren Arbeitsplatz in
Zukunft noch geben wird. Mich beschwert natürlich
auch, was in Teilen der deutschen Wirtschaft los ist. Ich
habe genauso wenig Verständnis dafür, dass die Folgen
diverser Kostensteigerungen oder Managementfehler allein den Arbeitnehmern aufgebürdet werden. Auch ich
finde das unanständig.
({8})
Aus der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wissen
wir, dass es Menschen gibt, die keine Hoffnung haben,
dass sich ihre Lage in Zukunft bessern wird. Das ist auch
einer der Gründe, warum der wirtschaftliche Aufschwung bisher nicht in dem gewünschten Maße vorhanden ist. Wenn Unsicherheit verbreitet wird, wird natürlich nicht konsumiert und auch nicht investiert. Wir
wollen mit unserer Politik wieder für mehr Sicherheit
und politische Verlässlichkeit sorgen. Daran, dass die
heutige Debatte dazu beiträgt, habe ich erhebliche Zweifel. Das ergibt sich jedenfalls aus der Art und Weise, wie
wir sie führen.
Es gibt etliche Studien und Gutachten, die zeigen,
dass es in Deutschland ein steigendes Armutsrisiko gibt.
Es gibt auch etliche Studien und Gutachten, in denen
festgestellt wird, dass die Zunahme des Armutsrisikos
mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit einhergeht. Nun
brauchen wir heute nicht darüber zu reden, warum in der
Vergangenheit so viele Arbeitsplätze verschwunden
sind; darüber sind wir uns, glaube ich, großenteils einig.
Aber es bleibt doch die Feststellung, dass die Hauptursache für Armut und soziale Ausgrenzung die Arbeitslosigkeit ist.
Die Verkürzung auf populistische Thesen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bringt uns
nicht weiter. Es ist doch Unsinn, zu behaupten, Hartz IV
habe diese Armut verursacht. Hartz IV hat die Armut
nicht verursacht, sondern nachgewiesenermaßen verdeckte Armut erst sichtbar gemacht.
({9})
Deswegen ist Ihre Schlussfolgerung letztendlich falsch.
({10})
Das wirksamste Mittel gegen das Risiko von Armut
und sozialer Ausgrenzung ist ein sicherer Arbeitsplatz.
Es sind eben nicht höhere Transferleistungen, wie Sie sie
fordern, auch wenn Sie das vorhin bestritten haben, Frau
Kipping. Tatsächlich wollen Sie alle Probleme finanziell
lösen. Doch durch mehr finanzielle Leistungen wird das
Problem nicht gelöst. Auch eine dauerhafte Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge bedeutet ein latentes Armutsrisiko. Deswegen sind wir aufgerufen, die Rahmenbedingungen für mehr wirtschaftliches Wachstum und
für mehr Arbeitsplätze zu schaffen; der Herr Staatssekretär hat dies schon angesprochen. Eine Politik für Arbeitsplätze ist immer noch die beste Sozialpolitik. Ich
finde, die große Koalition ist hier auf dem richtigen
Weg.
({11})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brauksiepe, ich habe Ihnen genau zugehört.
({0})
Wissen Sie, manchmal gibt es auch in meiner Fraktion
Meinungsverschiedenheiten. Doch Sie schaffen es immer wieder, uns zusammenzuschweißen.
({1})
Das finde ich auch ganz in Ordnung. Da hilft die CDU
und da helfen auch Sie persönlich.
Herr Müller war ja heute auch völlig zahm. Herr
Müller, sonst stellen Sie lauter Forderungen, die Arbeitslosen zu drangsalieren. Heute haben Sie hier einen ganz
anderen Typ abgegeben.
({2})
Herr Niebel, in einem Punkt möchte ich Ihnen Recht
geben. Der Begriff „Unterschicht“ ist indiskutabel - er
stammt aber nicht von uns, sondern aus dieser Studie -,
({3})
weil dieser die Leute diskriminiert.
({4})
Eine „Armutsschicht“ gibt es. Wenn Sie behaupten, es
gebe keine Schichten in der Gesellschaft,
({5})
dann fragen Sie einmal eine Sozialhilfeempfängerin und
Herrn Ackermann, ob sie glauben, dass sie in einer
Schicht sind. Ich sehe da schon Unterschiede.
({6})
Ich hätte mir gewünscht, dass sowohl Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als auch Grüne in dieser
Aktuellen Stunde einmal selbstkritisch sind. Doch davon
kann keine Rede sein. Hat es die Politik der letzten sieben Jahre gegeben oder hat es sie nicht gegeben? Haben
Sie vergessen, was Sie alles beschlossen haben? Sie haben die Steuern für die Konzerne dramatisch gesenkt,
die Körperschaftsteuer um 15 Prozent.
({7})
Sie haben die Veräußerungserlössteuer für die Kapitalgesellschaften gestrichen, die muss keiner mehr bezahlen.
Sie haben Parteitage abgehalten und von einer Vermögensteuer geredet, aber natürlich keine eingeführt, als
Sie an der Regierung waren.
Sie haben den Spitzensatz der Einkommensteuer um
11 Prozent gesenkt. Sie haben die Reichen in der Gesellschaft gefördert. Das ist wahr.
({8})
Herr Staatssekretär, in den letzten sieben Jahren sind
die Einkommen in Deutschland um 0,9 Prozent gesunken. In den USA sind sie um 20 Prozent gestiegen,
({9})
in Großbritannien sind sie um 25 Prozent gestiegen und
in der EU sind sie im Schnitt um 9 Prozent gestiegen.
Hier sind sie gesunken. Das ist die Wahrheit. Und das
sind Ursachen für Armut in Deutschland.
({10})
Hinzu kommt: Zur selben Zeit, als Sie die Steuergeschenke gemacht haben, haben Sie den Kranken gesagt,
sie müssten zuzahlen, weil Sie nicht mehr genug Geld
hätten, und Sie haben den Rentnerinnen und Rentnern
gesagt, sie müssten zusätzliche Beiträge zahlen, sodass
es ein Minus gab. Sie haben Nullrunde auf Nullrunde
folgen lassen und nicht einmal die Preissteigerungen
ausgeglichen. Auch das führt zu Armut in einer Gesellschaft.
({11})
Schließlich haben Sie Hartz IV für die Arbeitslosen eingeführt.
Es stimmt - das will ich einmal sagen -, dass es einigen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern entweder gleich gut oder sogar besser geht.
({12})
Den meisten Arbeitslosen geht es aber schlechter. Ich
nenne Ihnen wieder mein Beispiel: Ein Ingenieur,
51 Jahre alt, wird arbeitslos. Aufgrund der altersrassistischen Gesellschaft hat er mit 51 Jahren überhaupt keine
Chance mehr auf eine Vermittlung. Das ist die Wahrheit.
({13})
Er erhält ein Jahr lang Arbeitslosengeld I. Nach einem
Jahr sagt der Gesetzgeber: Wir akzeptieren den Lebensstandard, den er sich 25 Jahre lang als Ingenieur aufgebaut hat, nicht mehr. Er muss die Werte seiner Wohnung,
seines Auto und seines Sparguthabens auf das Niveau
senken, das man einem Sozialhilfeempfänger zubilligt.
Wenn er das nicht tut, bekommt er gar nichts mehr. Das
ist Armut per Gesetz und das haben Sie beschlossen.
({14})
Hinzu kommen noch die Mini- und Midijobs.
Was macht die neue Regierung? Man konnte hoffen,
dass es ein paar Korrekturen gibt. Eines haben Sie getan:
Sie haben wenigstens das ALG II Ost an das Westniveau
angeglichen; das stimmt. Bei den jüngeren Leuten haben
Sie das aber gekürzt und Sie haben den Druck auf die
Arbeitslosen ständig erhöht. Jetzt haben Sie per Gesetz
beschlossen, dass das Geld für die Leute, die irgendeinen
Job ablehnen, bis auf null gestrichen wird.
Jeden Tag gibt es neue Missbrauchsdebatten. Es gibt
immer irgendwo Einzelne, die etwas missbrauchen. Sie
sind aber nicht der Maßstab. Maßstab sind die Millionen
Arbeitslosen, die eine Erwerbsarbeit wollen.
({15})
Ich verstehe diese Drangsalierungsdebatten nicht.
Es gibt dabei noch einen Punkt, der hier bisher überhaupt nicht angesprochen worden ist. Laut der Studie
gibt es einen großen Unterschied in der Anzahl der Armen zwischen West und Ost. Im Westen sind es 4 Prozent, im Osten sind es 20 Prozent. Wieso ist das kein
Thema mehr?
({16})
Wir haben zwei unterschiedliche Teilgesellschaften, die
sich weiter auseinander entwickeln. Seit Jahren reden
bestimmte Leute davon, dass wir einen Fahrplan brauchen, dass es irgendwann gleichen Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung geben
muss und dass wir eine Investitionspauschale für die
Kommunen brauchen, damit dadurch Wirtschaftskreisläufe in Gang gesetzt werden und Arbeitsplätze entstehen können. Nichts dergleichen geschieht. Sie diskutieren nicht einmal mehr darüber.
({17})
Ich sage Ihnen: Das wird in einer Katastrophe enden.
Zum Teil erreichen wir die Armen noch und zu einem
kleinen Teil erreicht die SPD sie noch. Die meisten gehen aber gar nicht mehr wählen und viele wählen rechtsextrem. Wenn wir das nicht wollen, wenn wir keine
Gesellschaftszerstörung wollen, dann müssen wir die
Armut in der Gesellschaft allein schon in unserem Interesse und erst recht im Interesse der Betroffenen überwinden. Dazu möchte ich einmal Vorschläge hören.
({18})
Natürlich gibt es Mittel dafür. Natürlich brauchen wir
einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir müssen sagen, was
man in Deutschland mindestens mit einer Stunde Arbeit
zu verdienen hat. Das ist keine abwegige Idee.
({19})
Viele Staaten haben sich dafür entschieden und wir
könnten das auch.
({20})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Wir brauchen auch mehr soziale Gerechtigkeit. Dafür
brauchen wir gerechte Steuern. Davor drücken Sie sich.
Ihnen fehlt der Mut dazu, weil Sie gegenüber den Konzernen - genauso wie leider auch die Grünen und die
SPD - immer nur einknicken.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gerade haben wir hier wieder einen populistischen Vortrag zu einem Problem gehört,
({0})
das nicht neu ist, um das deutlich zu sagen.
Zumindest wir Sozialdemokraten begrüßen, dass die
Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie auf den Weg gebracht hat, um ein bekanntes Problem noch einmal in Erinnerung zu rufen. Dabei haben auch viele Persönlichkeiten in diesem Land deutlich gemacht, wie es mit
Armut und Reichtum, Chancen und Chancenlosigkeit in
dieser Gesellschaft bestellt ist.
Beispielsweise sagt der Bischof Reinhard Marx - ich
selbst kenne ihn recht gut - noch einmal ganz deutlich,
dass das Problem, um das es sich hier handelt, seit mindestens 20 Jahren existiert. Die Sozialdemokraten kennen die soziale Not. Genau deshalb haben wir damals
mit unserem Koalitionspartner den Armuts- und Reichtumsbericht eingeführt.
({1})
Wir wollten eine klare Ausgangsposition haben und wissen, wo wir in diesem Land stehen. Wir wollten vor diesem Problem die Augen nicht verschließen, sondern öffnen und uns der Herausforderung stellen. Das ist die
Aufgabe der Sozialdemokraten.
({2})
Wir wollen nicht, dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, insbesondere seiner sozialen Verantwortung. Deshalb stellen wir uns den Problemen. Durch
das Sozialgesetzbuch II - vielen als Hartz IV bekannt wurden Arbeitssuchende - das ist ein großes Verdienst -,
die in der Vergangenheit berechtigte Ansprüche nicht
geltend gemacht haben, aus dem statistischen Dunkel
hervorgeholt. Es handelt sich hier um eine Größenordnung von über 400 000 Menschen, die wir aus dem statistischen Dunkel hervorgeholt haben. Ihre Situation haben wir auf die Tagesordnung gesetzt und organisieren
jetzt für diesen Personenkreis ganz besondere Prozesse.
({3})
- Man kann es Prozesse nennen. Jedenfalls ist es so, dass
wir für diesen Personenkreis endlich auch Förderangebote schaffen. Wenn Sie fordern „Hartz IV muss weg“,
dann müssen Sie wissen, dass Sie damit insgesamt
36 Milliarden Euro, die diese Gesellschaft zur Finanzierung der Langzeitarbeitslosen ausgibt, einfach streichen
wollen. Ihr monotoner Spruch „Hartz IV muss weg“ bedeutet Armut pur.
({4})
Wir müssen in dieser Situation aber auch erkennen,
dass fast die Hälfte der Arbeitslosengeld-II-Empfänger
besondere Probleme hat. Die Hälfte hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, nahezu ein Viertel hat keinen Schulabschluss und fast ein Viertel leidet unter
gesundheitlichen Einschränkungen. Die Ursachen dafür
liegen weit in der Vergangenheit, in den 80er-Jahren; ich
habe das bereits angesprochen. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Versäumnisse, die, wenn wir Hartz IV nicht
entwickelt hätten, nicht angefasst worden wären. Auch
wenn die Situation nicht einfach ist: Wir haben das
Rückgrat gehabt, das Thema transparent zu machen. Das
ist das Verdienst der jetzigen Politik.
({5})
Viele Populisten neigen dazu, Hartz IV in Bausch und
Bogen zu verdammen; das haben wir auch heute wieder
gehört. Fakt ist jedoch, dass dieses Gesetz viele neue
Möglichkeiten eröffnet, den Menschen zu helfen. Klar
ist - das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen -,
dass Arbeitsmarktpolitik kein Reparaturbetrieb der Nation sein kann, denn die Arbeitslosigkeit ist die Ursache
für die Armut, nicht das SGB II.
({6})
Die Ursachen für die Armut werden in unserem Land
früh gelegt. Die PISA-Studie hat gezeigt, wo die Probleme liegen. Eine frühe Aussonderung Schwächerer
und fehlende Angebote am Nachmittag sind das Problem. In diesem Zusammenhang will ich ganz klar sagen, dass das von Rot-Grün gemeinsam entwickelte
Ganztagsschulprogramm erstmals einen Weg in die richtige Richtung gewiesen hat. Ich denke, dass dies von den
Ländern konsequent umgesetzt werden müsste.
({7})
Die frühkindliche Betreuung in Deutschland ist unzureichend; das wissen wir. Kinder aus bildungsfernen
Schichten werden in der Schule schon früh abgehängt.
Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang ist nun
einmal die Bildungsarmut. Da sind die Länder gefordert.
Sie können sich nicht mehr damit herausreden, dass wir
sie im Stich lassen. Vielmehr haben wir die Mittel dafür
zur Verfügung gestellt.
({8})
Wer glaubt, den Menschen durch höhere Transfers
helfen zu können, der betätigt sich als Menschenfänger,
ohne tatsächlich zu helfen. Die Armut in unserem Land
ist nicht nur materielle Armut, sondern auch Armut an
Bildung, an Kultur und auch Armut in Bezug auf ein gesundes Leben.
({9})
Da sich die Linke - das haben wir heute gehört - in
Sprüchen wie „Hartz IV muss weg“ - zu dem Umfang
der Ausgaben habe ich bereits etwas gesagt - oder
„Ganz ohne Geld ist alles andere nichts“ ergötzt, muss
sie sich einfach vorhalten lassen, was diese Gesellschaft
an Mitteln aufbringt. Ich habe die 36 Milliarden Euro
bereits angesprochen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen
Punkt ansprechen. Das ständige Rufen nach verschärften
Sanktionen oder dem Abbau von Arbeitnehmerrechten
ist nichts anderes als blanker Populismus.
({10})
Denn wer den Menschen jede Sicherheit nimmt, der
raubt ihnen auch die Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Durch weniger Arbeitnehmerrechte werden
die Arbeitsplätze nicht sicherer. Leistungskürzungen
motivieren nicht; sie demotivieren vielmehr.
Deshalb sage ich unserem Koalitionspartner an dieser
Stelle ganz offen: Herr Söder von der CSU liegt völlig
falsch, wenn er meint, Rot-Grün trage die Schuld an der
heutigen Armut.
({11})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die Ursachen für die Armut sind alt. Wir gehen ihnen
nach. Deshalb müssen wir mit einer offensiven Beschäftigungspolitik und einer verbesserten Bildungspolitik,
bei der auch die Länder gefordert sind, weitermachen.
Das sind die besten Antworten auf die Armut. Wir wollen nicht nur über materielle Verteilungsspielräume reden, sondern wir wollen Chancen bieten.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Markus Kurth für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, die Debatte ist an einem Punkt angekommen,
an dem man sich mit den Worten und Taten der großen
Koalition und mit den Fakten auseinander setzen muss.
Ich will an dieser Stelle nicht über die Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte, die gerade die
Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen weiter
schwächen wird, und über die kleine Kopfpauschale von
8 Euro sprechen, die offenkundig diejenigen überproportional treffen wird, die monatlich weniger als 800 Euro
zur Verfügung haben.
Ich möchte vielmehr ein Thema aufgreifen, das Sie
alle unisono angesprochen haben, nämlich die Forderung nach mehr Bildung. Das ist durchaus richtig. Diesen Punkt haben Herr Brauksiepe und Herr Staatssekretär Andres angesprochen. Sie haben das noch einmal
betont, Herr Brandner. In dem Bereich muss mehr getan
werden. Herr Heil hat von einer neuen Philosophie in der
Sozialpolitik gesprochen. Diese Äußerungen könnte
man immerhin schon als Fortschritt in der politischen
Debatte werten. Denn bisher wurde insbesondere auf einer Seite des Hauses statt über eine vernünftige Förderung mit Leidenschaft darüber diskutiert, ob und wie
man arbeitslose Ingenieure am besten in ein Spargelfeld
bringt. Das zeigt die ganze Armseligkeit der politischen
Debatte, mit der bislang über Ausgrenzung und Langzeitarbeitslosigkeit gesprochen wurde.
Bildung ist - darin sind wir uns offenbar einig - eine
Schlüsselressource. Heute Abend könnte die große
Koalition einen kleinen Schritt in Richtung Armutsbekämpfung tun. Denn wir werden heute Abend Änderungen im Sozialhilferecht beschließen. Dazu liegt ein
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vor, in dem wir Öffnungsklauseln vorschlagen. Die Jobcenter sollen Schülerinnen und Schüler gezielt mit Schulbüchern versorgen,
ihnen die Teilnahme am Schulessen ermöglichen und die
Vereinsbeiträge von Kindern und Jugendlichen direkt
übernehmen können, sofern die Betroffenen selbst nicht
dazu in der Lage sind.
({0})
Das entspricht genau der neuen Philosophie, die
Transferleistungen nicht mehr direkt zu erhöhen, sondern eine zielgerichtete Hilfe speziell für Kinder und Jugendliche zu bieten.
({1})
- Frau Kipping, das braucht man gerade auch in Berlin,
wo in Ihrer Verantwortung die Kitagebühren erhöht wurden
({2})
und wo es kein kostenloses Kitaessen gibt. Sie stellen
sich hier als selbstgenügsame Traditionalistin dar und
bejammern, dass die Kinder morgens ohne Frühstück in
die Schule gehen.
({3})
Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben in unserem
Antrag die Öffnungsmöglichkeiten gefordert. Ich sage
Ihnen voraus: Sie werden den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen heute Abend ebenso ablehnen, wie Sie es
gestern im Ausschuss getan haben. Sie greifen ihn nicht
einmal in Form einer eigenen Initiative auf.
({4})
Das finde ich heuchlerisch. Es ist nicht in Ordnung, hier
mehr Bildung zu fordern, aber entsprechende Änderungsmöglichkeiten nicht aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. So geht
es nicht.
({5})
Es ist bezeichnend, dass diese Debatte heute Abend
zu einer Zeit stattfindet, wenn die Kameras abgeschaltet
und die Tribünen leer sind. Denn wie leider festzustellen
ist, bewegt sich nicht nur die Armut im Dunkeln; auch
die entsprechende Gesetzgebung scheint das Licht der
Öffentlichkeit zu scheuen, obwohl die Probleme riesengroß sind.
Damit komme ich zu dem mangelnden Aufstiegswillen, den insbesondere Ihr Parteivorsitzender, Herr Beck,
beklagt. Aufstiegswillen hat auch etwas mit Aufstiegschancen zu tun.
Solange die Chancen durch aktive Förderung so gering sind, wie Herr Kuhn es beschrieben hat, ist es nahezu unverschämt,
({6})
Benachteiligten und Armen mangelnden Aufstiegswillen
vorzuwerfen. Ich will Ihnen einmal aufzeigen, wo wir
aufgrund der zuletzt betriebenen Politik im europäischen
Vergleich stehen. In Dänemark sind 22 Prozent der Menschen ohne Berufsausbildung in einer Weiterbildungsmaßnahme oder in einem Kurs. In Deutschland sind es
gerade einmal 3 Prozent derjenigen ohne Berufsausbildung. Hier gilt es zu investieren.
({7})
Der Vorwurf des mangelnden Aufstiegswillens hat
nichts mit der Realität zu tun. Eine aktuelle Studie der
Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass es 2 Millionen Geringverdiener gibt, die kein Arbeitslosengeld II beziehen, obwohl sie darauf Anspruch haben. Das sind Menschen, die
auf eigenen Beinen stehen wollen. Das muss man anerkennen. Ich empfehle insbesondere dem SPD-Vorsitzenden Beck, sich einmal Einrichtungen der Jugendberufshilfe und der Beschäftigungsträger anzuschauen.
({8})
Wenn Sie einmal vor einem jungen Erwachsenen gestanden haben, dessen sechsmonatiger 1-Euro-Job ausgelaufen ist und der, teilweise mit Tränen in den Augen, fragt:
„Können Sie mir eine Anschlussförderung vermitteln?
Was kann ich jetzt machen, um nach oben zu kommen?“,
und ihm antworten müssen: „Ich kann leider nichts machen“, während Sie gleichzeitig zugeben müssen, dass
900 Millionen Euro Eingliederungsmittel nicht ausgegeben werden, dann wird Ihnen sicherlich weh ums Herz.
Wenn Sie das wirklich ernst nehmen, dann werden Sie
nicht mehr von mangelndem Aufstiegswillen bestimmter
Gruppen sprechen.
({9})
Ich bin sehr dafür, dass wir die Würde der betroffenen
Menschen achten; denn sonst fehlen alle Voraussetzungen für eine vernünftige Politik.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Andreas Steppuhn,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich halte es für richtig, dass wir in Deutschland
begonnen haben, eine grundsätzliche sozialpolitische
Debatte zu führen. Die zum Teil vorab veröffentlichte
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Lebensbedingungen und beschäftigungspolitischen Perspektiven der
uns anvertrauten Menschen ist hierbei eine sehr große
Hilfe. Wir alle im deutschen Parlament haben die Aufgabe, alles Erdenkliche zu tun, um die Schere zwischen
Arm und Reich nicht weiter auseinander klaffen zu lassen, sondern, wenn irgend möglich, zu schließen.
({0})
Eine Spaltung der Gesellschaft, wenn auch nur in der
politischen Diskussion, ist wenig hilfreich. Sie ist kontraproduktiv, weil wir sonst Gefahr laufen, hierdurch
Menschen, die in Armut leben oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, den rechten Rattenfängern in die Arme zu treiben.
({1})
Unabhängig davon müssen wir diese wichtige sozialpolitische Debatte führen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen, sondern müssen die Situation ehrlich analysieren, um hieraus politischen Handlungsbedarf abzuleiten.
Hierfür stehen wir als Sozialdemokraten.
({2})
Wir sind für gleiche Bildungschancen und für bessere
Perspektiven auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt.
Ich erinnere noch einmal daran, dass es eine SPD-geführte Bundesregierung war, die mit dem Armuts- und
Reichtumsbericht dafür gesorgt hat, dass die soziale
Lage in Deutschland offen gelegt wird. Hierdurch ist
eine Analyse erst möglich geworden.
({3})
Außerdem haben wir Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe
zusammengelegt. Dadurch haben wir der statistisch verdeckten Arbeitslosigkeit ein Ende gemacht.
({4})
Im Übrigen war diese Maßnahme seinerzeit unumstritten. Durch diese beiden Maßnahmen sind wir erst in die
Lage versetzt worden, zu Studien zu kommen, die die
soziale Lage der Menschen, denen es alles andere als gut
geht, in Gänze erfassen. Es muss für uns eine Herausforderung sein, denjenigen Menschen, die auf der Schattenseite des Wohlstandes leben, mehr Bildungschancen einzuräumen und berufliche Perspektiven zu bieten. Gerade
jungen Menschen und Kindern sind wir es schuldig, alles Erdenkliche zu tun, dass sie überhaupt eine Aussicht
haben, eine Chance auf eine gute Zukunft zu bekommen.
({5})
Es ist sicherlich auch Selbstkritik angebracht. Diese
muss aber in einem zweiten Schritt dazu führen, Überlegungen anzustellen, was anders und besser gemacht werden muss. Hierzu gehört nicht nur, dass wir über Armut
in Deutschland debattieren und zeitweise schöne Bekenntnisparolen herausposaunen, sondern auch, dass wir
das Thema Reichtum in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken.
({6})
Nur so kann eine zusammenhängende Debatte geführt
werden. Die zentrale Frage dabei lautet: Wie kann es zu
einer Umverteilung von oben nach unten kommen?
({7})
Das allzu oft gebrauchte Wort der Verteilungsgerechtigkeit darf nicht nur eine Worthülse sein, sondern muss
auch konsequent mit Leben erfüllt werden. Es muss aber
auch die Aufgabe von Politik sein, also unsere Aufgabe,
meine Damen und Herren, die Menschen mitzunehmen
und ihnen eine persönliche Perspektive zu geben.
Dies gilt vor allem für die Menschen in den neuen
Bundesländern; denn offensichtlich sind hier die Lebensunterschiede und die Perspektivlosigkeit besonders
groß. Doch auch das ist nicht neu. Arbeit war für die
Menschen in Ostdeutschland nicht nur ein Muss, es war
auch eine Pflicht. Als Bundestagsabgeordneter für die
Harzregion erlebe ich genau das in vielen meiner Bürgersprechstunden: Die Menschen in Ostdeutschland fühlen viel deutlicher, dass sie auf der Strecke geblieben
sind, dass sie von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen abgekoppelt sind. Hier müssen wir
etwas tun. Eine Spaltung, auch die zwischen Ost und
West, dürfen wir nicht akzeptieren.
({8})
Vieles von dem, was wir heute hier diskutieren, ist
doch nicht ganz neu, wenn wir ehrlich sind. Sicherlich
hat Politik und haben auch Sozialdemokraten in der Vergangenheit Fehler gemacht. Jedoch muss man aus Fehlern auch lernen und daraus ableiten, was man anders
und besser machen kann. Dass die Stärkeren solidarischer mit den Schwächeren sein müssen, darf sich nicht
nur im politischen Handeln ausdrücken, sondern dieses
Leitmotiv muss auch wieder ein Bestandteil von gesamtgesellschaftspolitischer Verantwortung werden. Deshalb
brauchen wir eine Fortentwicklung der Arbeitsmarktpolitik, aber - das sage ich ganz deutlich - wir brauchen
auch Mindestlöhne in Deutschland.
({9})
Wer die Lebenssituation von Menschen mit Begrifflichkeiten, die ich hier nicht wiederholen möchte, bezeichnet und damit prägt, der versucht, Deutschland zu
spalten. Dies kann kein Akt von demokratischer Verantwortung sein. Wir haben in Deutschland Probleme. Die
können und die wollen wir als Sozialdemokraten nicht
verschweigen. Unsere Hausaufgabe lautet, dafür Sorge
zu tragen, dass den Menschen, deren Lebensumstände
aufgrund ihrer sozialen Situation schlecht sind, die sich
von der Gesellschaft an den Rand gedrängt fühlen und deren Bildungsstand niedrig ist, zukünftig eine echte Perspektive gegeben wird. Hier denke ich in erster Linie an
Familien mit Kindern und an junge Menschen. Lassen Sie
uns gemeinsam dieser Verantwortung gerecht werden.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn sich Frau Kipping und Herr Gysi hierher stellen
und feststellen, dass die Arbeitslosigkeit und damit auch
die proportionale Armut in den neuen Bundesländern besonders hoch sind, höher jedenfalls als in den alten Bundesländern, ohne mit einem Wort darauf hinzuweisen,
dass wir immer noch mit den Folgen von 40 Jahren
SED-Misswirtschaft kämpfen,
({0})
die Sie verursacht haben und für die Sie als Partei immer
noch Verantwortung tragen, dann ist das unverschämt.
({1})
Betroffen macht mich, dass diese Aktuelle Stunde
von den Linken und dem Bündnis 90/Die Grünen beantragt worden ist; denn wir wissen alle, dass ehrenwerte
Bürgerinnen und Bürger der Bürgerbewegung, die die
friedliche Revolution mit auf den Weg gebracht haben,
in der Fraktion der Grünen aufgegangen sind. Diese Allianz macht mich betroffen.
({2})
Nun zur Sache. Als vor fünf Jahren zum ersten Mal
der Armutsbericht der Bundesregierung vorgelegt
wurde, wurde wissenschaftlich bestätigt, was wir alle,
die wir uns den angeborenen Blick für das Normale in
diesem Leben bewahrt haben, schon wussten, nämlich
dass es jeder zehnte Mitbürger unter uns - ungewollt und
manchmal auch selbst verschuldet - im Leben etwas
schwerer hat, weil er wenig Einkommen hat. Man
spricht von der so genannten Einkommensarmut. Der
zweite Bericht im letzten Jahr hat allerdings gezeigt und
verdeutlicht, dass ziemlich viel Bewegung in diesem
Prozess ist. Ein Drittel der Einkommensarmen kann
nämlich nach einem Jahr und ein weiteres Drittel nach
zwei Jahren die Armut hinter sich lassen. Auch das muss
hier einmal gesagt werden. Die Bedingung dafür ist natürlich - das haben wir immer festgestellt - eine ordentliche Ausbildung und selbstverständlich ein Arbeitsplatz. Hier hapert es.
Fakt ist: Wir haben in Deutschland nicht zu wenig Arbeit - sie steht und liegt überall herum -; uns fehlt ausreichend bezahlbare Arbeit. Diese Diskrepanz ist in den
neuen Bundesländern in der Tat besonders groß.
Leider gibt es aber auch dort Leute, die sich in unserem Sozialsystem eingerichtet haben. Sie nehmen alles,
was zu holen ist. Sie sind froh, den lieben Tag über ihre
Ruhe zu haben, und schimpfen in aller Öffentlichkeit
über den ach so schlechten Staat, der ihnen zu wenig
zum Leben gibt. Gewissenlose Gesellen, die es in unserer Gesellschaft auch gibt, machen sich diese Stimmung
zunutze. Darauf sollten wir stärker achten.
Die meisten arbeitslosen Menschen in den neuen
Bundesländern sind jedoch motiviert und gewillt, jede
Art von Arbeit anzunehmen. Es ärgert sie selbstverständlich, dass sie zum Beispiel als überqualifiziert gelten - Beispiele sind schon genannt worden - und deshalb
keine niedrig qualifizierte Arbeit erhalten, obwohl sie
diese annehmen wollen - einfach nur, um Arbeit zu haben. So wichtig der Lohn in der Lohntüte am Monatsende ist, so wichtig sind für sie immer noch das Gefühl und die Gewissheit, nützlich zu sein und gebraucht
zu werden.
({3})
Ich weiß nicht, wie viele der öffentlich geförderten
Arbeitsprogramme schon gelaufen sind, mit gutem und
weniger gutem Erfolg. Ich weiß nur, dass wir diese auch
in Zukunft brauchen werden, um Menschen Hoffnung zu
geben und sie nicht in die totale arbeitsmäßige Armut
und Isolation fallen zu lassen. In den neuen Ländern sind
nämlich einfach zu wenige Arbeitsplätze für die in den
Arbeitsprozess strebenden Menschen vorhanden. Die
Anzahl dieser Menschen ist größer, als man es sich vor
Jahren vielleicht ausgemalt hat.
Bezahlen tun das die Leute - auch das muss man immer wieder sagen -, die jeden Tag zur Arbeit gehen und
am Monatsende unterm Strich mitunter auch nicht mehr
in der Lohntüte haben als die, die ihr Monatseinkommen
von der Bundesagentur für Arbeit überwiesen bekommen. Wenn im Jahre 2005 etwa 11 Prozent aller Kinder
in Deutschland in Haushalten lebten, in denen kein einziges Mitglied einer Erwerbstätigkeit nachging, dann
müssen wir uns nicht wundern, dass diesen Kindern ein
Weg vorgelebt wird, den sie nur mit großer Anstrengung
verlassen können.
Ich erinnere mich an einen Lehrling meiner früheren
Arbeitsstätte, der als Einziger in der Familie täglich um
halb sechs aufgestanden ist, um pünktlich zur Arbeit zu
kommen, um am Monatsende sein Lehrlingsgeld nach
Hause zu bringen. Erahnen wir eigentlich, welche Kraft
und Motivation dieser junge Mann jeden Morgen
brauchte, um sich - vorbei an den schlafenden Eltern
und Geschwistern - ohne Frühstück aus der Wohnung zu
schleichen, damit er keine Abmahnung wegen Unpünktlichkeit erhielt, die letztlich den Verlust seines Ausbildungsplatzes bedeutet hätte? Wie viel Kraft musste dahinterstecken? Wie viel Hilfe, die übrigens auch vom
Staat bezahlt wird, war wohl nötig, damit er motiviert
blieb, um diese Ausbildung durchzuhalten?
Mit diesem Beispiel - das ist bestimmt kein Einzelfall - wird deutlich, wie differenziert die Frage Armut zu
sehen ist. Man sieht, wie schnell man in Armut hineinrutschen kann. Man sieht aber auch, dass unsere Gesellschaft viele Möglichkeiten bietet, sich daraus zu befreien. Ich verweise nur auf §§ 240 ff. SGB III. Diese
Paragrafen gibt es nicht erst seit wenigen Monaten, sondern seit vielen Jahren. Die dort enthaltenen Regelungen
sollen sozial benachteiligten Jugendlichen den Weg in
eine gute berufliche Zukunft ermöglichen.
Ich will noch ein weiteres Thema ansprechen. Das
Suchen nach einem Arbeitsplatz und die damit verbundene Abwanderung führen zu Strukturveränderungen,
die wir sehr ernst nehmen müssen. Mich hat zum Beispiel eine 80-jährige rüstige Omi um halb sechs in der
Frühe angerufen und gesagt: Tun Sie etwas dafür, dass
mein Enkel hier in der Nähe eine Arbeit findet, damit ich
nicht allein bin und jemanden habe, den ich anrufen
kann, wenn ich Hilfe brauche.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich will damit nur sagen: Unser Leben bedeutet Anstrengung. Wir sind nicht für ein bequemes Leben geboren, sondern für Anstrengung. Dies gilt für alle: für die,
die viel leisten können, und für die, die wenig leisten
können. Auf diesem Weg sind wir.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Spanier für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte über die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
ist eine falsche Debatte. Gleichzeitig ist sie eine richtige
und wichtige Debatte.
({0})
Diese Debatte ist zum Beispiel deswegen eine falsche
Debatte, weil diese Studie überhaupt noch nicht komplett veröffentlicht ist.
Dennoch debattiert die Öffentlichkeit seit Wochen intensiv darüber.
({1})
- Seit 14 Tagen. Es handelt sich um eine falsche Debatte, weil es in dieser Studie überhaupt nicht - das ist
bereits mehrfach gesagt worden - um Armut und Armutsentwicklung in Deutschland geht. Vielmehr geht es um
politische Einstellungen und um politische Wertvorstellungen. Diese sind geordnet und in verschiedene Gruppen eingeteilt worden. Genannt werden hier unter anderem die selbstgenügsamen Traditionalisten, Herr Kurth,
und das so genannte Prekariat.
Es ist aber auch eine richtige und wichtige Debatte,
auch wenn sie aus falschem Anlass geführt wird. Wir
sprechen jetzt nämlich endlich nicht nur hier im Deutschen Bundestag, sondern auch in einer breiten Öffentlichkeit über das Thema Armut und Armutsentwicklung.
Ich hielte es für richtig, wenn wir gleichzeitig in diesem
Zusammenhang auch über Reichtum und Reichtumsentwicklung in Deutschland reden würden.
({2})
Was an Schuldzuweisungen zu lesen und zu hören
war, bringt überhaupt nichts. Einen Zusammenhang zwischen der in der Tat wachsenden Armut in Deutschland
und Hartz IV herzustellen, ist abwegig. Das hat sogar
Michael Sommer öffentlich festgestellt. Hier liegt nicht
die Ursache. Die Befragung - ein ganz einfaches Argument - ist im Februar/März dieses Jahres durchgeführt
worden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Hartz IV gerade einmal ein Jahr wirksam war. Hier liegt also nicht
die Ursache. Ursache ist vielmehr - das ist uns allen bewusst - die seit langem verfestigte Massenarbeitslosigkeit.
({3})
Ihre wirtschaftlichen bzw. weltwirtschaftlichen Ursachen sind jedem in diesem Raum bekannt.
Ich komme zu dem Begriff „Unterschicht“, der in der
öffentlichen Debatte eine, wie ich finde, merkwürdige
Rolle spielt. Als wissenschaftlicher Begriff ist er seit
langem in Gebrauch. Dagegen spricht auch überhaupt
nichts. Als politischen Kampfbegriff muss man ihn jedoch, so meine ich, ablehnen, da er in der Tat nur dazu
führt, diejenigen, die sich ohnehin bereits ausgegrenzt
fühlen, zusätzlich auch noch sprachlich auszugrenzen.
Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass wir
schon zwei Armuts- und Reichtumsberichte vorliegen
hatten und debattiert haben, übrigens - leider - mit einer
deutlich geringeren öffentlichen Resonanz, als wir sie
jetzt, dieser Tage, erleben, und auch mit einer deutlich
geringeren Resonanz hier im Deutschen Bundestag.
Auch über den nationalen Aktionsplan zur Vermeidung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit haben wir
hier im Bundestag fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesprochen. Das war nicht etwa auf die Tageszeit
zurückzuführen, zu der wir darüber debattiert haben,
sondern darauf, dass es offensichtlich kein öffentliches
Interesse an diesem Thema gegeben hat. Ich hoffe, dass
sich das jetzt ändert.
Übrigens musste es in diesem Hause erst eine rotgrüne Mehrheit geben, damit die Vorlage eines Armutsund Reichtumsberichtes durchgesetzt werden konnte.
({4})
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass unser Antrag zu Zeiten Helmut Kohls mit dem Argument
abgelehnt wurde, Armut gebe es in Deutschland nicht.
Es gebe Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. - Fertig,
Schluss, Aus.
Meine Damen und Herren, mehrfach ist heute von
Bildung gesprochen worden. Es ist richtig: Wenn wir
wirksam etwas gegen Armut tun wollen, müssen wir die
Kinder im Blick haben, die in diesen Verhältnissen aufwachsen und leben, die nicht nur materiell arm sind, sondern die ausgegrenzt, die zum Teil weitgehend von
Bildung ausgeschlossen und auch gesundheitlich unterversorgt sind usw. Ich empfehle wirklich, sich mit dem
Zwölften Kinder- und Jugendbericht auseinander zu setzen. Ich glaube, dass wir Kinder- und Jugendpolitik als
eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe auffassen
müssen. Wir werden das Problem nicht mit Sozialpolitik
und auch nicht mit Transferleistungen lösen.
Bildung von Anfang an als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung ist die einzige Chance, die wir haben.
({5})
Bei der Umsetzung werden wir, meine Damen und
Herren, vor großen Problemen stehen. Das Ressortdenken, in dem wir selbst immer wieder verhaftet sind, aber
auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen für das, was mit dem erweiterten Bildungsbegriff gemeint ist, werden die Umsetzung
sicherlich erschweren. Aber wie viele Hinweise wollen
wir denn noch haben? PISA-Studie, Jugendbericht, Armutsbericht - seit Jahren wird uns die Situation vor Augen geführt. Wir haben in Deutschland bisher nicht die
Kraft gehabt, das Problem über die Grenzen der Ebenen
hinweg konsequent anzugehen und mit der Bildung für
Kinder und Jugendliche, gerade für diejenigen, die in
Armut leben, ernst zu machen, um ihnen die Chance zu
eröffnen, ein eigenständiges Leben zu führen und aus
der Armut herauszukommen. Diese Leiter müssen wir
bereitstellen und vielleicht müssen wir auch einmal helfen, damit sie die Leiter tatsächlich hochkommen.
Das alles ist längst überfällig. Deshalb sollten wir uns
darauf verständigen, Kinder- und Jugendpolitik als zentrale gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Wir sollten
in den nächsten Wochen und Monaten zu einem konkreten Handeln kommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Rede mag jetzt einige Punkte wiederholen, aber ich
glaube, dass es für einige im Saal das richtige Mittel ist,
gewisse Dinge durch Wiederholung zu vertiefen.
({0})
Die Kollegen vor mir haben es schon angesprochen,
dass es für die Menschen in dieser Stadt tragisch ist, dass
Ihre Partei weiterregiert, Frau Kipping. Entlarvend ist
doch: Das, was Sie hier reden, hat mit den Handlungen
Ihrer Partei in Berlin nichts gemein. Der Kollege Kurth
von den Grünen hat bereits nachgewiesen, dass Sie die
Kitagebühren erhöht haben und dass die Kinder in die
Kitas kommen, ohne gefrühstückt zu haben. Ich rate Ihnen, Frau Kollegin Kipping: Gehen Sie nach der Debatte
in Ihr Büro und rufen Sie eine Mitarbeiterin der Allgemeinen Sozialen Dienste hier in Berlin an! Fragen Sie
die Dame, wie viel Zeit Sie denn hat, um sich um ein
Kind zu kümmern, welches die Hilfe zur Erziehung bekommt! Dann erleben Sie die Realität in Berlin.
({1})
Aber Sie verkünden hier vollmundig, was Sie meinen,
im Bereich der Familienpolitik bewegen zu können. Ich
halte das für falsch.
Ich glaube, wir müssen als Fazit der Debatte zwei
Dinge konstatieren: Zum einen geht es um Begriffsklarheit und zum anderen um die Frage von Ursache und
Wirkung. Zur Begriffsklarheit: Meinem Vorredner
stimme ich nicht in der Einschätzung zu, dass es heute
eine Unterschicht gibt. Natürlich gab es, in der historischen Betrachtung, Klassen und Schichten in Deutschland. Mittlerweile sprechen wir über Milieus. Das Milieu, über das wir heute sprechen, hat nicht die
Formation einer Schicht. Zur Frage von Ursache und
Wirkung: Materielle Armut gab es in der Historie der
Bundesrepublik tragischerweise schon immer. Doch daraus zu schließen, dass Hartz IV die Ursache für die Entwicklung des genannten Milieus sei, ist schlichtweg
falsch.
Wer - das hat mein Vorredner gesagt - die Frage aufwerfen will, wie man dieses Milieu wieder in die Gesellschaft zurückholt, kommt zu den Themen Bildungspolitik und Kultur-, Jugend- und Familienpolitik als den
zentralen Ansätzen für politisches Handeln.
Dieses Milieu, das durch eine gewisse Hoffnungslosigkeit und soziale Schwäche geprägt ist, bricht von Zeit
zu Zeit aus. Ich denke da an das Beispiel der RütliSchule. Dort sind Jugendliche ausgebrochen, weil sie in
Bezug auf ihren schulischen Werdegang ohne Perspektive waren und gemerkt haben, dass sie gesellschaftlich
am Rande stehen. Das ging übrigens einher mit der Ablehnung von staatlichen Autoritäten und mit der Tendenz, den demokratischen Bereich zu verlassen.
In der Diskussion muss, wie es schon von fast allen
Vorrednern angesprochen wurde, unter anderem eine
moderne Bildungspolitik im Mittelpunkt stehen. In
Deutschland haben wir jetzt endlich erkannt, welche Bedeutung frühkindliche Bildung und Vorschulbildung haben, und sind über die Phase hinaus, die Schule als Reparaturbetrieb betrachten zu müssen. Wir müssen in
diesen Bereich investieren und die Bildungspyramide
auf den Kopf stellen.
({2})
Das ist bisher nicht gelungen. Dabei besteht gerade für
die Kinder aus diesem Milieu das Problem, dass sie von
Anfang an nicht die Möglichkeit haben, sich aus dem
Teufelskreis zu befreien.
Wir müssen zudem über die Fragen sprechen, wie
man Kindertagesbetreuung und Grundschule besser vernetzen und sie in einer Zukunftsoption verzahnen kann,
wie man Grundschule und Sekundarstufe koppeln kann
und wie man Möglichkeiten schafft, dass die Menschen
von sich aus - oder gegebenenfalls mit staatlicher Unterstützung - ihren Berufsweg einschlagen.
Was die Bundesregierung in dieser Frage gemacht
hat, ist richtig. Sie hat gerade bei der Ausbildung angesetzt: Jobstarter und Ausbildungspakt. Es muss der
Grundsatz gelten, dass kein Jugendlicher eine Bildungsinstitution ohne einen Anschluss verlässt; kein Abschluss ohne Anschluss.
Der zweite Bereich - das hat auch mein Vorredner
deutlich gemacht - ist die Familienpolitik, die Jugendpolitik und die Jugendhilfe. Ich komme aus Hamburg.
Da gab es den Fall der kleinen Jessica, die zu Tode gekommen ist. Wer so etwas einmal erlebt hat und ertragen
musste, der weiß, was auf unser Land zukommen kann.
Fälle dieser Art sind Einzelfälle, sie hat es immer gegeben und wird es tragischerweise wohl auch immer geben. Aber dahinter besteht die große Gefahr, dass mehr
und mehr Kinder und Jugendliche vernachlässigt werden. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir über eine
Vernetzung der Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, also über eine Vernetzung von
Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen, zu einer
engeren Kooperation kommen. Auf der politischen
Ebene werden das in naher Zukunft die Themen sein.
Über die ökonomischen Betrachtungen wurde hier
schon das eine oder andere gesagt.
Unter dem Strich bleibt: Begriffliche Klarheit, Ursache und Wirkung klar definieren! Hartz IV ist nicht die
Ursache. Hartz IV ist die Folge einer falschen Politik.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Aktuelle Stunde darf gerade beim Thema Armut
keine einmalige Stunde bleiben. Ich habe die ausdrückliche Hoffnung - ich darf hier ja zum Schluss reden -,
dass sich dieses Parlament in Kontinuität und ernsthaft
mit diesen Fragen beschäftigt, wie in der Vergangenheit,
so auch in Zukunft.
({0})
Ich komme auf das zurück, was unser sozialdemokratischer Urvater Lassalle gesagt hat - manche werden es
wissen -: Am Anfang muss stehen: Sagen, was ist. Vielleicht kann man es so sehen: Von Kurt Beck ist ein
Stein ins Wasser geworfen worden, das hat uns gemeinsam dazu gebracht zu sagen, was ist.
In Klassenanalysen, in Schichtenanalysen und in
Polaritäten kann man ausdrücken, dass es in dieser Gesellschaft natürlich Arm und Reich gibt - darüber muss
man sprechen können -, dass es natürlich Oben und Unten gibt - darüber muss man sprechen können - und dass
es Dabei-Sein und Außen-vor-Sein gibt. Aber es gibt
auch Resignation und Hoffnung. Wenn wir es einfacher
aussprechen, fühlen sich vielleicht auch mehr Menschen
angesprochen. Sie können von ihrem Parlament erwarten, dass es diskutiert, wie sie etwas ausdrücken und wie
sie etwas erleben.
Ich möchte es so wenden, dass mindestens ich mich
durch das, was durch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aufgeworfen worden ist, nicht nur das Ökonomische, sondern auch das Mentale, wie sich Menschen fühlen, angesprochen fühle. Das muss dann in einem
Parlament Ausdruck finden. Es muss dort seinen Niederschlag in den Parteien finden. Wir alle hoffen: in diesem
Spektrum der Parteien und nicht in einem erweiterten
Spektrum, das uns - wir haben es in den Ländern gesehen - droht. Deshalb ist es vielleicht nicht gut, hier nur
im Dissens zu reden. Es ist gut, auch im Konsens zu debattieren und sich zu fragen: Was haben wir denn gemeinsam? Wo brauchen wir Unterschiedlichkeit, die,
auch wenn sie letztlich wieder integriert und zusammenführt, Menschen, die sich abgehängt, resigniert, außen
vor gelassen, arm fühlen oder erleben oder dies auch
sind, Stimme gibt?
Ohne dass das schulmeisterlich sein soll, will ich zunächst gern in zwei Richtungen fragen. Bei Ihnen von
der FDP ist mir aufgefallen, dass Sie zu Armut sprechen
sollten, aber über Systempolitik der FDP räsoniert haben.
({1})
Bei Ihnen ist nicht spürbar, ob Sie als Partei eigentlich
merken, dass es ein Signal an die Gesellschaft und auch
an die Menschen in Armut, ohne Ausbildung und ohne
Arbeit sein könnte, wenn Sie sagen würden: Wir von der
FDP wissen, wie viele Selbstständige wir vertreten, die
auf uns ihre Hoffnung richten.
({2})
Wir sind Treuhänder dafür, dass wir in diese Gruppe der
Selbstständigen hinein die Botschaft geben: Überlegt
einmal, zweimal, dreimal, ob ihr als diejenigen, die vielfach kleine Betriebe - eins bis 20 Beschäftigte - führen,
noch eine Lehrstelle mehr mobilisieren könnt!
({3})
Das wäre ein soziales Anliegen der FDP. Das könnte ein
Signal sein, das Sie aus dieser Debatte geben.
Ich lasse Sie jetzt gern allein, bitte aber trotzdem darum, dass Sie das in einer Armutsdebatte, die in einer
Gesellschaft etwas bewegen soll, aufnehmen; denn wir
stehen doch auch für Parteien, an die die Menschen Erwartungen und Wünsche haben.
Kollege Gysi, Ihnen will ich sagen: Der Hinweis
„20 Prozent in Ostdeutschland, 4 Prozent in Westdeutschland“ ist richtig. Aber ist das eine rein materielle
Betrachtung oder geht es auch um die Mentalität und die
Hoffnung? Das schwingt bei Ihnen durch; aber ich bin
mir nicht sicher, ob Sie, wenn Sie den Anspruch haben,
Betriebsrat, Sprachorgan derjenigen, die sich dort abgehängt fühlen, zu sein, wirklich so handeln, wie es Betriebsräte tun: Sie sagen auch Wahrheiten;
({4})
sie sagen zum Beispiel, was sich verändert und wie man
sich auf diese Veränderungen einstellen muss. Sie sagen
den Leuten nicht nur, dass sie den Status des Opfers haben,
({5})
sondern sie gehen in diese Kreise der Bevölkerung und
sagen den Menschen, wie sie - bei allen Schwierigkeiten; da will ich jetzt nichts schönreden - aus der Opferrolle in eine mitgestaltende Rolle kommen können.
Wir finden, diese Erwartung muss an eine solche Debatte geknüpft werden können. An die Politik besteht die
Erwartung, dass Wahrheiten ausgesprochen werden, und
mit ihr werden Hoffnungen verknüpft. Damit muss sich
die Politik selbstkritisch befassen.
Ich will, weil das von uns erwartet wird, sagen, dass
wir in Bezug auf das Grundprinzip des Förderns und
Forderns bei Hartz IV sicherlich keine Abstriche zu machen haben. Wir müssen als Sozialdemokratie allerdings
sehr wohl überlegen, ob wir in Bezug auf die Weiterbildung, die Qualifizierung, die Umschulung, das Geben
von Chancen zusammen mit den Grünen zu weit gegangen sind und ob wir dort selbstkritisch in eine Revision,
in neue Überlegungen eintreten müssen.
({6})
Weil wir merken, dass Armut ein weit gespanntes
Feld ist, will ich umgekehrt fragen, ob wir tatsächlich
wissen, wie wichtig es ist, eine Wohnung zu haben, die
bezahlbar ist. Wir sollten überlegen, ob wir gemeinschaftlich, als neues Zentrum, Wohnungsbestände nicht
so sehr als Kapitalverwertung, als attraktiv für internationale Fonds, sondern als für die betroffenen Menschen
wichtig sehen sollten. Sonst geht es ganz schnell nur
noch um Finanzprodukte und REITs. Die Frage ist: Ist
uns der Mieterbund oder die Deutsche Börse wichtig?
({7})
Man muss die CDU/CSU natürlich fragen - obwohl
Herr Weinberg das, wie ich finde, schon sehr differenziert angesprochen hat -, ob wir bestimmte gemeinsame
Grundprinzipien nicht zusammen vertreten können, beispielsweise die Bildung in Kindertagesstätten und Krippen, statt sie negativ zu werten, als Unterstützung für
frühkindlichen Aufwuchs zu sehen. Das gilt auch für
Bildung, Ganztagsschulen und längeres gemeinsames
Lernen.
Herr Kollege, ich darf Sie an die Redezeit erinnern.
Dies kann das Ergebnis einer solchen Debatte werden, weil wir dann anders sprechen, weil wir uns dann
vielleicht auch einen Ruck geben müssten, mehr mit den
Betroffenen zu sprechen. Ich habe einen Wunsch: dass
die Kanzlerin beispielhaft
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
- bei einer Tafel, einem sozialen Dienst ist und zeigt,
wie man sich dem zuwendet.
Außerdem möchte ich, dass wir ein Klima haben,
Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal an die Redezeit erinnern!
- in dem auch diejenigen, um deren Anliegen es geht,
den Ton der Debatte mitbestimmen können.
Danke schön.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis 5 c:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gestaltung einer ergebnisoffenen transparen-
ten Endlagersuche mit großer Öffentlichkeits-
beteiligung
- Drucksachen 16/1605, 16/2690 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umgehend Konzept für eine ergebnisoffene
Standortauswahl für ein nationales Atommüllendlager vorlegen
- Drucksache 16/2790 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Offene Fragen zur Entsorgung radioaktiver
Abfälle klären - Verantwortung für nachfolgende Generationen übernehmen
- Drucksachen 16/267, 16/1462 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Angelika Brunkhorst
Sylvia Kotting-Uhl
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Renate Künast von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Frage, die sich angesichts eines atomaren Endlagers
stellt, ist keine geringe. Sie lautet: Ob und wie kann man
hoch radioaktiven Müll für mehr als 1 Million Jahre von
der Biosphäre fernhalten und damit Sicherheit schaffen?
Das ist die Frage, die jeder Wissenschaftler über alles
setzt.
An dieser Stelle könnte man sagen, das sprengt eigentlich unser aller Vorstellungskraft.
Ich will einmal einen Vergleich mit den Pyramiden
anstellen, um zu verdeutlichen, worum es geht. Diese
Bauwerke wurden vor sehr langer Zeit errichtet. Wir bewundern, dass sie nur unter Zuhilfenahme des Hebelprinzips gebaut wurden und nach so vielen Jahren noch
existieren. Der Vergleich eines Endlagers mit den Pyramiden hinkt aber. Warum? Die Pyramiden existieren seit
ungefähr 5 000 Jahren. Die Aufgabe, vor der wir jetzt
aber stehen, nämlich ein atomares Endlager zu errichten,
ist damit nicht zu vergleichen. Denn bei einem Endlager
geht es nicht um einen Zeitraum von 5 000, 10 000 oder
20 000 Jahren, sondern um einen Zeitraum von mehr als
1 Million Jahren, in dem die Bausubstanz erhalten werden muss, um den hoch radioaktiven Müll sicher zu lagern.
Ich wundere mich, dass an dieser Stelle vonseiten der
Regierung keinerlei Vorlage kommt, obwohl die Hausaufgaben eigentlich schon alle gemacht sein müssten.
Das Ganze droht offenbar schon wieder im Klein-Klein
und Koalitionshickhack zwischen Gabriel und Glos unterzugehen.
({0})
Wenn die vorherige Bundesregierung unter grüner
Beteiligung nicht den Atomausstieg organisiert hätte,
wäre das Problem heute noch viel größer. Wegen des
Atomausstiegs ist die Masse an hoch radioaktivem Material relativ begrenzt. Wir werden aber endgültig im
Jahr 2030 ein Lager für hoch radioaktiven Abfall brauchen, weil dann die Zwischenlagerung nicht mehr funktioniert. Wir werden auf der Basis des Atomausstiegs zu
diesem Zeitpunkt 24 000 Kubikmeter hoch radioaktiven
Müll und 256 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiven Müll haben. Die Grundlage für eine sichere
Lagerung muss aber heute gelegt werden. Deswegen
frage ich: Herr Glos und Frau Merkel, wo bleibt die entsprechende Vorlage?
({1})
Das ist keine einfache Aufgabe, zumal weltweit gesehen
bisher noch kein genehmigtes Endlager existiert.
Wir wissen: Ein Endlager muss maximale Anforderungen erfüllen. Für den Schutz von Mensch und Umwelt muss es mehr als 1 Million Jahre Bestand haben. Es
muss sich um ein bestmögliches Endlager in tiefen geologischen Formationen handeln. Um sicherzustellen,
dass keine Radioaktivität in die Biosphäre gelangt und
dass die Menschen damit nicht in Berührung kommen,
muss man auf die Beschaffung der Oberfläche achten.
Außerdem muss man beachten, wie die Nutzung dieses
Bereichs in 100 000 oder 200 000 Jahren aussehen
könnte, wie die Klimaveränderungen sein werden und
auf welchen Stand das Wasser steigen könnte. Kurz gesagt: Man muss alle Szenarien durchdenken. Auf dieser
Basis und unter Beachtung der möglichen veränderten
Nutzung durch den Menschen muss man ein sicheres
Endlager schaffen.
({2})
- Was wir in sieben Jahren Regierung gemacht haben,
werde ich Ihnen gleich erzählen. Ich bitte Sie, diese
Frage nachher auch den SPD-Rednern zu stellen.
({3})
Wir wissen ja - die FDP vielleicht nicht -, dass zu einer
Koalition immer zwei gehören.
({4})
- Ich weiß, in Zukunft gehören drei dazu. Vielleicht werden Sie eines schönen Tages dazu gehören.
Die Argumente der Gegner spiegeln nicht die ganze
Wahrheit wider. Sie behaupten erstens, man habe bereits
eine Lösung, und zweitens, es gebe eine sichere Lösung.
Ich will darauf hinweisen, dass beide Behauptungen
falsch sind. Der Salzstock in Gorleben und der Schacht
Konrad für den mittelradioaktiven Müll sind nicht aus
Sicherheitserwägungen vorgeschlagen worden. Außerdem sind beide bis heute noch nicht endgültig auf ihre
Tauglichkeit geprüft worden. Ich war vor Ort und habe
mich informiert.
({5})
Es wurde mir gesagt, diese Standorte seien noch nicht
endgültig geprüft und man habe noch nicht einmal richtig mit der Prüfung angefangen.
({6})
Beide Standorte sind aus ökonomischen Interessen
vorgeschlagen worden. Der Schacht Konrad war finanziell nicht mehr lukrativ. Deswegen gab es den Vorschlag, ihn zum Endlager umzufunktionieren. Die Region Wendland und der Landkreis Lüchow-Dannenberg
sind, was Arbeitsplätze anbelangt, schwach aufgestellt.
Deshalb wurde dieser Vorschlag gemacht. Wir setzen
aber auf einen offenen Prozess bei der Endlagersuche.
Dabei dürfen keine Rücksichten genommen werden.
Warum? Meine Sorge, wenn ich auf die Industrie blicke,
ist, dass hier wieder nur Preisdrückerei passiert oder
nach dem Sankt-Florians-Prinzip verfahren wird. Leute
wie Herr Koch oder Herr Stoiber wollen zwar Atomkraftwerke betreiben, sogar länger als der Konsens vorsieht, wenn es aber um das Suchen von Lagern geht, heißen sie alle Sankt Florian. Das Sankt-Florians-Prinzip
lautet: Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus,
zünd’ andere an. Ich sage Ihnen, wer Atomkraft will und
behauptet, das sei kein Problem, ist der Erste, der in seinem Bundesland auch eine Suche zulassen muss.
({7})
Ich vermute an der Stelle eine Preisdrückerei. Warum Preisdrückerei? - Weil man natürlich das Interesse
hat, für die unabhängige Suche keine weiteren Gelder
auszugeben. Deshalb möchte man es am liebsten gleich
beim Salzstock in Gorleben oder beim Schacht Konrad
belassen.
Ich sage Ihnen ganz klar, die Vorarbeiten sind gemacht. Die Vorgängerregierung hat über den AkEnd
- national und international viel beachtet - Auswahlkriterien vorgelegt. Sie wurden von Atomkraftgegnern und
Atombefürwortern zusammen erarbeitet. Da geht es darum, bis 2030 den bestmöglichen Standort zu haben.
Was ist der bestmögliche Standort? Das ist einer, bei
dem Sicherheit wirklich vor Finanzfragen oder anderen
ökonomischen Fragen geht; bei dem man auf der höchsten Ebene der geowissenschaftlichen Erkenntnisse ist;
bei dem man ein bundesweites Auswahlverfahren durchführt; bei dem klar ist, dass es eine Verursacherverantwortung gibt. Das heißt, die Betreiber, die den Abfall erzeugt haben, müssen die Suche und den Betrieb des
Standortes finanzieren.
({8})
Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen ein echtes Bürgerbeteiligungsverfahren und am Ende die abschließende Entscheidung durch den Deutschen Bundestag.
Wir reden hier nicht über einen Komposthaufen, den
man nach Wochen oder Monaten einmal umgräbt oder
an eine andere Stelle versetzt. Wir reden hier über hoch
radioaktiven, lebensgefährlichen Müll, der über 1 Million Jahre gelagert werden muss.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit hinweisen!
Das ist mein letzter Satz.
Ich bitte in Richtung Regierungsfraktionen an der
Stelle um eines: Beantworten Sie unsere Fragen hier in
der Debatte nicht so, wie Sie das in der Beantwortung
unserer Großen Anfrage getan haben. Bei 31 Fragen haben Sie elfmal plump auf die Antwort zu Frage zwei verwiesen. Dort steht:
Nach dem Koalitionsvertrag beabsichtigt die Bundesregierung, die Lösung der sicheren Endlagerung
radioaktiver Abfälle zügig und ergebnisorientiert
anzugehen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht den Verweis auf die Antwort zu Frage zwei, sondern wir brauchen endlich einen Gesetzentwurf, damit ab 2030 eine
sichere Lagerung möglich ist.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Debatte um die Errichtung von Endlagern
für atomaren Müll in Deutschland dauert schon Jahrzehnte. Es scheint mir, dass dabei die Fakten leicht
durcheinander geraten. Deshalb möchte ich zunächst
einmal den Status quo feststellen:
Derzeit stehen als potenzielle Endlager zwei Standorte im Mittelpunkt der Diskussion: für schwach- und
mittelradioaktive Abfälle der Schacht Konrad und für
hoch radioaktive Abfälle das Erkundungsbergwerk Gorleben. Aus physikalischen Gründen brauchen die beiden
Sorten Abfälle nämlich unterschiedliche Lagerbedingungen.
Wie der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz noch gestern im Umweltausschuss ausführte, gibt
es im Schacht Konrad seit 1975 Voruntersuchungen;
1982 wurde bei der zuständigen Behörde, dem niedersächsischen Umweltministerium, der Antrag auf Planfeststellung gestellt; 1992/93 fand ein nach Aussage von
Präsident König sehr aufwendiger Erörterungstermin mit
großer Öffentlichkeitsbeteiligung statt; 2002 erfolgte der
Planfeststellungsbeschluss durch den damaligen niedersächsischen Umweltminister Jüttner der Regierung
Gabriel und bis März 2006 wurden die gerichtlichen Anfechtungen dieses Beschlusses vor dem OVG Lüneburg
verhandelt. Dies bestätigte den Planfeststellungsbeschluss in vollem Umfang und wies alle Klagen ab.
({0})
Gegen die Nichtzulassung der Revision liegen derzeit
noch Klagen beim Bundesverwaltungsgericht vor. Sollten diese abgewiesen werden, könnte die Umrüstung des
Schachtes zum Endlager erfolgen.
Bundesumweltminister Gabriel hat in seiner Presseerklärung zum Urteil des OVG unmissverständlich gesagt, dass das Urteil des OVG ein Endlager sehr wahrscheinlich mache, zunächst aber die Entscheidung über
die Revisionsnichtzulassungsbeschwerde abzuwarten
sei. Das Letztere ist aus Respekt vor den Klägern und
dem Gericht selbstverständlich. Ich gehe davon aus, dass
die Bundesregierung nach Vorlage des Urteils zügig handelt.
Nun zum Erkundungsbergwerk Gorleben. 1977 beschloss die Bundesregierung Schmidt, Gorleben als Endlagerstandort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein
Auswahlverfahren der Bundesregierung, die 26 verschiedene Standorte in Betracht zog, und eine Untersuchung von mehr als 140 Salzstöcken durch die niedersächsische Landesregierung, die schließlich Gorleben
zur intensiven Erkundung vorschlug. Seit 1979 wird der
Salzstock oberirdisch und seit 1986 auch unterirdisch
untersucht. 1979 fand zudem unter der Regierung
Albrecht in Niedersachsen das Gorleben-Hearing zur
Standortentscheidung statt. Das war eine aufwendige,
eine Woche dauernde öffentliche Anhörung, die auch
vom Niedersächsischen Landtag begleitet wurde. Seit
2000 ist die Erkundung durch das Moratorium, das im
Rahmen des Atomausstiegs vereinbart wurde, unterbrochen, um so genannte Zweifelsfragen abzuarbeiten.
Angesichts dieser Fakten mutet die Endlagerdebatte
in Deutschland manchmal etwas irreal an. So wird darauf verwiesen, es habe eine willkürliche Standortauswahl gegeben und der Untersuchung hätten keine nachvollziehbaren Kriterien zugrunde gelegen. Tatsächlich
aber haben die Bundesrepublik Deutschland und das
Land Niedersachsen verschiedene Standorte in Betracht
gezogen. An den Standorten Schacht Konrad und
Gorleben ist seit mehr als 20 Jahren für ein Gesamtkostenvolumen von mehr als 2 Milliarden Euro erkundet
worden. Kein Mensch konnte mir bislang erklären, wie
man so lange für so viel Geld Dinge untersuchen kann,
ohne zu wissen, was man eigentlich untersucht.
({1})
In jüngster Zeit wurde immer wieder gesagt - wir haben es gerade wieder gehört -, man suche nicht einen geeigneten Standort, wie es im Atomgesetz steht, sondern
den bundesweit bestmöglichen Standort. Man könnte ja
an zwei oder drei anderen Standorten ober- oder unterirdische Erkundungen durchführen. Wer wollte dem angesichts einer Technologie, die tatsächlich besondere
Sicherheitsanforderungen stellt, denn nicht spontan zustimmen?
Ich frage aber: Versprechen wir den Menschen nicht
etwas, was wir letztendlich gar nicht halten können? Ich
habe bislang von niemandem gehört, dass Alternativuntersuchungen in dem gleichen Umfang wie an den
Standorten Gorleben und Schacht Konrad durchgeführt
werden sollen. Der Präsident des BfS nannte gestern im
Ausschuss einen erforderlichen Zeitraum von lediglich
fünf bis sechs Jahren. Wie können diese Daten dann aber
vergleichbar sein mit denen, die über 20 Jahre an den
beiden bislang intensiv untersuchten Standorten erhoben
worden sind?
Und wenn doch intensiver untersucht werden soll:
Wer soll das finanzieren? Das Atomgesetz sieht in § 21 b
vor, dass der notwendige Aufwand zur Suche, zur Errichtung und zum Betrieb von Endlagern von den Kraftwerksbetreibern zu leisten sei. Ist aber die Suche nach
einem alternativen Endlager notwendiger Aufwand?
Das OVG Lüneburg hat in seinem Urteil zum Schacht
Konrad festgestellt, dass ein Mangel nicht darin bestehe,
„dass alternative Standorte nicht umfassend und vergleichend untersucht worden sind. Ein derartiges Standortsuchverfahren ist nach den geltenden atomrechtlichen
Bestimmungen nicht vorgesehen.“
Wenn man nun dennoch verschiedene Standorte eingehend untersuchen würde - in Deutschland kommen
wohl nur Ton- und Salzbergwerke infrage -, käme man
auch dann nicht zu einer eindeutigen Aussage. Für einige Anforderungen der atomaren Endlagerung ist Ton
besser geeignet und für andere Salz. Selbst wenn man
zwei Salzstandorte miteinander vergliche: beim einen ist
die Ausdehnung des Salzstocks besser, beim anderen
seine tiefe Lage unter der Oberfläche, beim dritten seine
Abdeckung, also das so genannte Deckgebirge. Angesichts dessen kann man nicht sagen, der eine Standort ist
am besten geeignet. Man kann nur sagen, ob ein Standort
geeignet ist oder nicht.
({2})
Die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass
es bis 2030 ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle
geben werde. Das ist auch deshalb erforderlich, da die
Zwischenlager und die Castorbehälter lediglich für
40 Jahre genehmigt sind und niemand wollen kann, dass
sie über diesen Zeitpunkt hinaus Bestand haben. Wenn
noch andere Standorte erkundet werden sollen, so ist der
Zeitpunkt 2030 für ein funktionierendes Endlager unerreichbar.
Der Vorschlag der Union lautet deshalb: Das Versuchsbergwerk Gorleben muss zügig zu Ende erkundet
werden. Das dauert noch circa zwei bis drei Jahre. Danach ist eine Langzeitsicherheitsanalyse in Vorbereitung
des Planfeststellungsverfahrens erforderlich. Die erhobenen Daten müssen bewertet werden. Dafür ist - wiederum nach Angaben von Präsident König von gestern ein Zeitraum von acht bis zehn Jahren erforderlich.
Das BfS unterstreicht in seinem Synthesebericht
„Wirtsgesteine im Vergleich“ vom November 2005 ausdrücklich, dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit verfügbar ist und die Sicherheit eines möglichen
Endlagers nur mit standort- und anlagenspezifischen Sicherheitsanalysen ermittelt werden kann.
Dabei könnte der am 3. September 2006 in der „Welt
am Sonntag“ gemachte Vorschlag des Umweltministers,
durch internationale Gutachter internationale Sicherheitsstandards anlegen zu lassen, helfen, eine Analyse,
die Entscheidungsgrundlage für die Politik sein kann, zu
erhalten. Machen wir uns nichts vor: Entscheiden und
die politische Verantwortung für die Auswahl des Endlagers übernehmen muss der Deutsche Bundestag. Dazu
sind wir Abgeordnete der großen Koalition - ich verweise auf unseren Koalitionsvertrag - bereit.
Sollte die Langzeitsicherheitsanalyse für Gorleben
sprechen, dann sollten wir uns für Gorleben entscheiden.
Spricht sie gegen diesen Standort, so muss selbstverständlich ein anderer Standort gesucht werden.
({3})
Erst danach beginnt das Planfeststellungsverfahren, das
im Fall von Schacht Konrad 20 Jahre gedauert hat und
bei dem selbstverständlich eine umfangreiche Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen ist. Dann wird der
Planfeststellungsbeschluss sicherlich noch einmal gerichtlich überprüft werden. Das Zieldatum 2030 ist aus
meiner Sicht ohnehin kaum noch zu erreichen.
Doch das soll uns nicht daran hindern, den vorgeschlagenen Weg zu gehen. Sorgfalt und Sicherheit gehen
dabei vor Termindruck. Doch wir sollten jetzt zügig an
der Lösung der Probleme arbeiten, auch um der Bevölkerung vor Ort endlich Sicherheit hinsichtlich der Planungen der Politik zu geben.
Die Bevölkerung in Gorleben und der Samtgemeinde
Gartow trägt seit über 30 Jahren an ihrer Bereitschaft,
möglicherweise ein nationales Endlager bereitzustellen.
Bei jedem Castortransport führen großenteils angereiste
Demonstranten zu teilweise erheblichen Behinderungen
des öffentlichen Lebens. Dennoch haben die Gemeinde
Gorleben und die Samtgemeinde Gartow im Herbst 2005
in einem Brief an die Verhandlungsführer der großen
Koalition gefordert, die Erkundung zügig fortzusetzen.
Die kommunalen Mehrheitsverhältnisse, die diesen
Brief tragen, sind bei der Kommunalwahl vor drei Wochen eindrucksvoll bestätigt worden.
Wir sollten uns unserer nationalen Verantwortung für
die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle stellen, die
Lösung dieser Frage zügig und ergebnisorientiert angehen und noch in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis kommen, so, wie der Koalitionsvertrag es vorsieht.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika
Brunkhorst, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren!
Ich muss mich wirklich wundern. Frau Künast, ich empfehle Ihnen dringend, die Chronologie zu lesen, die vom
BfS im Jahr 2005 in dem Bericht „Endlagerung radioaktiver Abfälle als nationale Aufgabe“ erstellt wurde.
Dort werden Sie Antworten darauf finden, wonach Sie
heute gefragt haben. Herr Trittin - dahinten sitzt er muss ja ständig zusammengezuckt sein;
({0})
denn Sie haben hier die Hinterlassenschaft Ihrer Politik
kritisiert. Das haben Sie gerade getan und nichts anderes.
({1})
Kommen wir zum Thema. Wir brauchen endlich eine
Lösung für das Problem der Lagerung der bereits in erheblichem Maße angefallenen radioaktiven Abfälle. Das
ist allen im Hause klar. Ich denke, dass wir eine baldige
Endlagerung für die schwach- und mittelradioaktiven
Abfälle in Sicht haben. Sie ist greifbar nahe. Denn wir
haben bereits einen Planfeststellungsbeschluss für den
Schacht Konrad. Dieser Planfeststellungsbeschluss ist
unter der Ministerpräsidentschaft von Herrn Gabriel in
Niedersachsen entstanden. Es stehen natürlich noch einige rechtliche Beschwerden aus. Aber ich habe die
Hoffnung, dass das Verfahren Ende des Jahres abgeschlossen sein wird. Dann können wir unter Umständen
Anfang nächsten Jahres mit dem Bau von Schacht
Konrad beginnen. Ich bin in dieser Hinsicht sehr zuversichtlich.
({2})
Äußerst dringlich ist den Liberalen natürlich die Lösung des Problems der Endlagerung der hoch radioaktiven Abfälle, auch wenn diese insgesamt gerade einmal 10 Prozent aller radioaktiven Abfälle ausmachen.
Die Menge von etwa 25 000 Kubikmeter wurde genannt.
Ich denke, trotz alledem stellt sich die Sachlage so dar,
dass die Untersuchungen im Erkundungsbergwerk
Gorleben bereits weit fortgeschritten sind. Die Situation
wurde ja so dargestellt, als wäre überhaupt noch nichts
passiert.
Deswegen möchte ich sie hier noch einmal darstellen.
Das Erkundungsbergwerk Gorleben besteht seit 1977.
Zwei Drittel aller anstehenden Arbeiten sind bereits erledigt. In Gorleben wird eine Konditionierungsanlage geprüft und dort wird zwischengelagert. Die finanziellen
Aufwendungen sind von der Kollegin Flachsbarth bereits genannt worden. Sie liegen mittlerweile bei
2 Milliarden Euro. Dort ist also schon einiges geleistet
worden, nicht nur wissenschaftlich, technisch und von
der Expertise her, sondern auch finanziell.
Deswegen ist es für mich unerklärlich, dass Sie, Herr
Gabriel, am Moratorium festhalten. Denn wir haben die
so genannten zwölf Zweifelsfragen, die vom damaligen
Umweltminister Trittin in Auftrag gegeben wurden, abgearbeitet und 2005 als geklärt bewertet.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/
Die Grünen, Sie reklamieren in Ihrem Antrag Transparenz. Das finde ich gut, aber auch erstaunlich, weil Sie
diejenigen sind, die im September 2005, als es darum
ging, das Ergebnis der Klärung dieser zwölf Zweifelsfragen offen und transparent darzustellen, einen Workshop
hinter verschlossenen Türen gemacht haben.
({4})
- Aha, so war das.
Als Stand der Dinge ist zu konstatieren: Die Bewertungen der Experten von GRS, DBE und BGR fallen so
aus, wie es auch gestern von Herrn König, dem Präsidenten des BfS, bestätigt wurde - das wiederhole ich natürlich gerne -: dass die grundsätzliche Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben
({5})
nicht infrage zu stellen ist und die fachliche Aussage der
Experten weiterhin Bestand hat, dass es aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür
gibt, eine der in Deutschland vorkommenden Wirtsgesteinformationen - Granit, Ton und Salz - zu favorisieren.
({6})
Ich möchte aus Sicht der Liberalen an Herrn Minister
Gabriel appellieren: Das „Moratorium Gorleben“ muss
aufgehoben werden. Dieser Schritt ist längst überfällig.
({7})
- Drei Mitglieder Ihrer Fraktion werden zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen. Sie können dann auf meine
Ausführungen eingehen.
({8})
- Wenn wir den Salzstock Gorleben weiter erkunden,
werden wir sehen, ob er geeignet ist. Wir wollen ihn
doch auch weiterhin erkunden, Herr Kelber.
({9})
Herr Gabriel hat in den letzten Stellungnahmen, die er
im Umweltausschuss abgegeben hat, formuliert, dass
noch Handlungsbedarf besteht. Er hat einen weiteren
Synthesebericht angefordert und gesagt, dass er weitere
Sicherheitskriterien aufstellen möchte.
Diese Aussagen sind für uns nebulös. Daher hake ich
jetzt an einer Stelle nach, an der Frau Flachsbarth bereits
sehr weit in die Tiefe gegangen ist: Wir untersuchen das
seit 20 Jahren und haben auch wissenschaftlichen Sachverstand einfließen lassen. Es wird doch wohl irgendwelche Sicherheitskriterien gegeben haben. Es kann
doch nicht ohne jegliche Basis und ohne Anforderungen
geforscht worden sein. Es geht um Sicherheitsaspekte.
Das gilt für die letzten 20 Jahre, für heute und natürlich
auch für die Zukunft. Worum soll es denn sonst gehen?
Herr Gabriel, da Sie Ihre Rede gleich im Anschluss
halten, möchte ich Sie ganz ernsthaft bitten - das ist
keine Polemik -, deutlich zu machen, was ganz konkret
noch fehlt
({10})
und welche Erkenntnisse, über die wir heute noch nicht
verfügen, wir vielleicht daraus werden ziehen können.
Ich bin gespannt.
Manche Vorhaben, die Ihr Vorgänger, Herr Trittin, in
Angriff genommen hat, sind noch nicht abgearbeitet.
Der AK-End-Bericht zum Beispiel ist unter Herrn
Trittin und auch unter der jetzigen Regierung noch nicht
abschließend bewertet worden. Das muss nachgeholt
werden, um eine umfassende Bewertung vornehmen zu
können.
Herr Trittin konnte sich im Hinblick auf ein Endlagersuchgesetz in der rot-grünen Koalition nicht durchsetzen. Sie, Herr Gabriel, haben nun ein Standortsuchgesetz in die Diskussion eingebracht. Damals ist das
Endlagersuchgesetz auch am Widerstand aus den Reihen
der SPD gescheitert.
({11})
Ich denke, dass uns diese Diskussion im Moment überhaupt nicht weiterbringt und sie eine reine Verzögerungstaktik ist. Den Gegenwind aus dem Koalitionsausschuss haben Sie bereits verspürt.
Wir meinen, dass die Erkundung weiterer Standorte
erst dann notwendig und sinnvoll ist, wenn sich nach der
Beendigung der Erkundungsarbeiten in Gorleben auch
nur der geringste Zweifel an der Eignung dieses Standorts ergibt. In diesem Fall - hier kann ich meiner Vorrednerin nur zustimmen - werden wir mit der Suche nach
einem neuen Standort beginnen müssen. Herr Gabriel,
diese politisch hoch brisante Diskussion werden wir führen müssen. Die Bürger jeder potenziellen Suchortgemeinde werden natürlich mit Recht fordern: Macht erst
einmal das zu Ende, was noch offen ist. Sie werden fragen: Warum fangt ihr an anderen Standorten an, obwohl
ihr den einen noch nicht einmal abschließend bewertet
habt?
Schauen wir uns die geologische Landkarte von
Deutschland an: 80 Prozent der potenziellen Wirtsgesteinformationen liegen in Niedersachsen. Einige wenige liegen in Nordrhein-Westfalen, einige wenige in
Baden-Württemberg und wenige in Bayern. Die Odyssee
bei der Suche nach einem alternativen Standort ist also
nicht zu rechtfertigen, solange die Untersuchung von
Gorleben nicht abgeschlossen ist.
({12})
Ich wünsche mir für die Zukunft - ich denke, da bin
ich nicht alleine -, dass wir mehr wissenschaftlichen
Nachwuchs für den kerntechnischen und sicherheitstechnischen Bereich ausbilden und ihm auch die Chance geben, sein Wissen anzuwenden. Das wird sicherlich zu
mehr Sicherheit führen.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.
Ja, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Die
Entsorgungsfrage wurde in den letzten Jahren verschleppt, zulasten nachfolgender Generationen. Herr Minister Gabriel, ich appelliere an Sie - wir werden das
ständig wiederholen, das verspreche ich Ihnen -: Beenden Sie das und zeigen Sie den Mut, konkrete Schritte
einzuleiten!
({0})
Bevor ich nun das Wort dem nächsten Redner erteile,
will ich darauf hinweisen, dass, wie ich gerade sehe,
zwei Kollegen aus der Fraktion Die Linke Embleme
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
tragen, die diesem Saal, dieser Diskussion und diesem
Haus nicht angemessen sind.
({0})
Ich bitte Sie, Ihre Zeichnungen mit dem durchgestrichenen Hakenkreuz abzunehmen.
Nun erteile ich für die Bundesregierung das Wort dem
Bundesminister Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Thema, das uns heute beschäftigt, ist in der Tat ebenso
schwierig zu lösen, wie es umstritten ist. Um bei Frau
Brunkhorst anzufangen: Wissen Sie, es kommt immer
darauf an, wie man fragt. Wenn man jemanden fragt:
„Bist du einverstanden damit, dass man bei dir zu Hause
nach einem Endlagerstandort sucht?“, sagen in der Regel
hundert Prozent der Betroffenen: Nein.
({0})
Wenn man dagegen fragt: „Bist du der Auffassung, dass
man den geeignetsten Standort für ein Endlager suchen
muss?“, sagen der letzten Umfrage zufolge mehr als
zwei Drittel der Befragten: Ja, natürlich müsst ihr Alternativen vergleichen.
Eigentlich sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass man sich nicht auf einen Standort verlassen
kann.
({1})
Ich sage gleich etwas dazu, was die internationale Gemeinschaft in dieser Frage denkt. Überlegen Sie einmal:
Da wird in den 70er-Jahren angefangen, einen Standort
auf Eignung zu prüfen - mit Wissenschaft und Technik
auf dem Stand der 70er-Jahre -, einen Standort, an dem
hoch gefährliche Stoffe für 500 000 bis 1 Million Jahre,
jedenfalls für einen unvorstellbar langen Zeitraum, sicher abgeschlossen werden sollen. Gerade haben Sie gesagt: Es gibt kein Wirtsgestein, das besonders gut geeignet ist. Dann ist es doch nur logisch, verschiedene
Wirtsgesteine zu prüfen, um sagen zu können, welches
nach menschlichem Ermessen der sicherste Ort ist, um
radioaktive Abfälle einzulagern. Das ist eine Frage der
Logik, mehr nicht.
({2})
Wissen Sie, wer das auch logisch findet? Die Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien aus BadenWürttemberg - auch der FDP -, die uns, die Bundesregierung, auffordern, sich dafür einzusetzen, dass die
Schweiz, die ein Endlager an der Grenze zu BadenWürttemberg plant, sich ja nicht auf den ins Auge gefassten Standort festlegt, bevor sie alternative Standorte
daraufhin geprüft hat, ob sie nicht besser geeignet sind.
({3})
Ich glaube, dass die Recht haben. Ich glaube, dass die
Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg einen
Anspruch darauf haben, dass wir uns dafür einsetzen. Ich
habe gehört, die Schweizer wollen das auch so machen.
Doch warum soll das nur für die Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger gelten? Das muss
doch für alle Deutschen gelten. Man muss einen Standort nach bestem Wissen und Gewissen wählen, es sei
denn, man hat einen Geheimplan, Frau Brunkhorst, der
lautet: Ich will nicht mit diesem Problem belastet werden. Denn natürlich ist es ganz schwierig, jemandem zu
erklären, dass bei ihm vor der Tür nach einem geeigneten Standort gesucht wird. Das ist für jeden, der in der
Politik ist, für jeden Kommunalpolitiker ganz schwierig,
und zwar überall.
Wenn man dem entgehen und das Problem sozusagen
loswerden will, dann kann man nach dem so genannten
Sankt-Florians-Prinzip handeln: Heiliger Sankt Florian,
verschon’ mein Haus, zünd’ andere an. Wenn das ausgerechnet diejenigen tun, die sich für den Ausbau der
Kernenergie einsetzen, dann wird es schwierig. Ich
glaube, deswegen müssen wir uns etwas redlicher mit
der Frage auseinander setzen.
Frau Kollegin Künast, bei aller inhaltlichen Sympathie für das, was Rot-Grün dort diskutiert hat: Ich fand es
ein bisschen mutig, als Sie vorhin gesagt haben, dass wir
immer noch kein Endlagerkonzept vorgelegt haben.
1998 haben Sie dem AK End einen Auftrag erteilt. 2002
wurde Ihnen der Bericht übergeben. Auch nach drei weiteren Jahren haben Sie sich noch nicht in der Lage gesehen, ein solches vorzulegen. Ich mache Ihnen das übrigens nicht zum Vorwurf. In Ihrer Rede sagten Sie vorhin,
dass das an der Koalition lag, weil es mit den Sozialdemokraten so schwierig gewesen sei.
({4})
- Das darf man sagen. Wenn es aber in Ihrer Koalition
drei Jahre lang schwierig war, dann darf es in der Koalition von SPD und CDU/CSU mindestens elf Monate
lang schwierig sein. Ich finde, Sie müssen die Elle bei
allen gleich anlegen.
({5})
Sie wissen, dass das ein schwieriges Thema ist. Wir
versuchen, das so schnell wie möglich inhaltlich zu klären. Um nur einmal etwas zur Zeitdauer zu sagen: Ich
hoffe, dass alle wissen, dass wir vor 2030 auch wegen
der notwendigen Abklingphase von Brennelementen
selbst dann nicht zur Einlagerung von hoch radioaktiven
Stoffen kommen könnten, wenn wir vorher ein Endlager
hätten.
Frau Kollegin Flachsbarth, an Ihrer Argumentation ist
eine Sache nicht ganz logisch. Darüber müssten Sie noch
einmal diskutieren. Sie sagen, dass Sie Gorleben zu
Ende erkunden und dann zehn Jahre lang eine Langzeituntersuchung durchführen wollen. Wenn Sie dann feststellen, dass Gorleben nicht geeignet ist, wollen Sie damit beginnen, einen alternativen Standort zu suchen.
Hierdurch ist eines sichergestellt: Bis 2030 schaffen Sie
das mit Ihrem Konzept niemals. Wir sind da auf der sichereren Seite. Hier ist ein Bruch in der Logik.
({6})
Wie weit sind wir?
Erstens, insbesondere an die Kollegin Künast gerichtet: Wie von mir angekündigt, hat das Bundesumweltministerium den Spitzen der Koalition in diesem Sommer - jedenfalls dann, wenn man den September noch
zum Sommer zählt - ein Konzept zur Umsetzung eines
Endlagers in Deutschland zugeleitet. Die Tatsache, dass
Sie das noch nicht haben, spricht für die Qualität der vertrauensvollen Zusammenarbeit in der großen Koalition
und nicht gegen sie. Das wollte ich vorsichtshalber nur
einmal anmerken.
Zweitens. Dieses Konzept wird jetzt durch die Koalitionsspitzen beraten.
Drittens. Das Konzept wurde übrigens unabhängig
von der aktuellen Laufzeitdebatte geschrieben, formuliert und diskutiert. Sie werden Verständnis dafür haben,
dass ich darauf Wert lege.
Eine Randbemerkung zu Schacht Konrad, bevor ich
noch etwas zur Kontroverse um Gorleben sage. Sie wissen, dass ich auch aufgrund meiner Biografie nicht gerade der Vorsitzende des Fanclubs von Schacht Konrad
bin. Ich finde es allerdings ein bisschen problematisch,
wenn sich ein Mitglied der früheren Regierung, der Regierung, die Schacht Konrad nach bestem Wissen und
Gewissen über die zuständige Behörde vorangetrieben
und uns mit Weisungen dazu gebracht hat, dass wir den
Planfeststellungsbeschluss am Ende gefasst haben, jetzt
hier hinstellt und sagt, der Beschluss hinsichtlich
Schacht Konrad sei auf problematische Weise zustande
gekommen. Das würde ich nicht tun.
({7})
Ich muss Schacht Konrad weniger verteidigen als Sie.
Jetzt gilt aber eines - darauf hat Frau Dr. Flachsbarth
hingewiesen -: Es gibt einen Gerichtsbeschluss und eine
Nichtzulassungsbeschwerde dagegen.
({8})
Wenn darüber entschieden ist, dann wird sich die Bundesregierung ohne weitere Verzögerung exakt so verhalten, wie uns das dann durch den Gerichtsbeschluss vorgeschrieben wird. Das könnten Sie auch nicht anders
tun.
({9})
Zu Gorleben. Im Jahre 1974 wurde von der Bundesregierung das Konzept eines nuklearen Entsorgungszentrums vorgestellt. An einem Ort sollten Wiederaufbereitung, Brennelementefabrik, Konditionierungsanlagen und
Endlager konzentriert werden. In mehreren Auswahlverfahren wurden unter Zugrundelegung nach heutigen
Maßstäben sehr einfacher Kriterien - das ist die Antwort
auf Ihre Frage, Frau Brunkhorst - verschiedene Standorte geprüft. Die Standortauswahl bezog sich dabei
eben nicht auf ein Endlager, sondern auf ein Gelände für
das geplante nationale Entsorgungszentrum in der Größe
von circa 12 Quadratkilometern.
Im Jahre 1976 wurde vorgeschlagen, die Standorte
Weesen-Lutterloh, Lichtenhorst und Wahn im Auftrag
des Bundes gleichzeitig und gleichrangig zu untersuchen. Damals war man der Meinung, man müsse Standorte gleichzeitig gegeneinander abgleichen.
({10})
Das war die Position der Bundesregierung. Gorleben
war damals nicht dabei. Nachdem es an allen drei Standorten zu Protesten gegen die Erkundung kam, wurden
noch 1976 die Arbeiten aufgrund von Bedenken der niedersächsischen Landesregierung eingestellt. Niedersachsen benannte dann später Gorleben als Standort. Schon
damals war Gorleben nicht erste Wahl.
Der Entscheidung für Gorleben liefen Entscheidungen mit Standortalternativen voraus, die nicht transparent waren und sich nur, Frau Brunkhorst, auf ganz wenige sicherheitsbezogene Kriterien stützten und nicht
aufgrund von vorher systematisch festgelegten Auswahlund Sicherheitskriterien erfolgten. Bei der Auswahl Gorlebens kommt hinzu, dass nicht allein ein Standort für
ein Endlager gesucht wurde, sondern die Suche ging,
wie gesagt, weit darüber hinaus.
Ich sage Ihnen: Mit den damals angelegten Kriterien
für die Auswahl von Gorleben wäre heute das Prozessrisiko enorm hoch, wenn wir versuchen würden, Gorleben
auf Teufel komm raus durchzusetzen.
({11})
Wer 2030 ein Endlager haben will, der muss bereit sein,
die Konsequenzen zu ziehen und - jetzt kommt es - internationale Standards für die Auswahl eines Endlagerstandorts zugrunde zu legen. Das ist mein Vorschlag.
Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit zwar schon
knapp überschritten. Gestatten Sie gleichwohl eine Zwischenfrage der Kollegin Brunkhorst?
Gerne.
Herr Minister, es geht mir wirklich darum, diese
Dinge zu verstehen. Deswegen möchte ich Sie einfach
bitten - das habe ich auch vorhin klar gemacht -: Sagen
Sie mir doch einmal, welch tiefer gehendes Kriterium,
das Sie auf Anhieb benennen können, fehlt. Ich möchte
das gerne nachvollziehen. Auch ich diskutiere mit Experten. Diese sagen mir, sie könnten nicht erkennen, ob
wir heute bei einer Suche auf der Grundlage von bestimmten Kriterien zu anderen Ergebnissen kämen.
Ich möchte Sie auch etwas zur Standortsuche fragen,
die damals im Vorlauf zu Gorleben stattgefunden hat.
Damals sind 140 Standorte untersucht worden. Zudem
erfolgte die Suche bundesweit und nicht nur in Niedersachsen. Ich bitte Sie, das zu berücksichtigen. Der Bericht des Bundesamtes für Strahlenschutz ist wirklich
hochinteressant. All das, was ich gerade genannt habe,
steht dort.
({0})
Frau Brunkhorst, es geht darum, dass vor der Auswahl des Standortes die Auswahl- und Sicherheitskriterien sowie das Verfahren, nach dem geprüft wird, festgelegt werden müssen. Auch die internationalen Standards,
die heute gelten, müssen berücksichtigt werden. All das
ist damals nicht passiert.
Als Antwort auf Ihre Frage möchte ich auf die Aufforderung der Internationalen Atomenergiebehörde zu
sprechen kommen. Deutschland hat die so genannten
„Safety Requirements: Geological Disposal of Radioactive Waste“ unterschrieben. Im Mai des Jahres 2006 haben wir von der IAEO einen Bericht bekommen, in dem
wir aufgefordert werden, entsprechend der Konvention,
der wir beigetreten sind, in einem so genannten zweiten
Überprüfungsbericht zu diesem Übereinkommen klare
und transparente Kriterien für die Standortauswahl und
ein Standortauswahlverfahren entsprechend der Praxis in
anderen Ländern mit fortgeschrittenem Endlagerprogramm festzulegen.
Dies interpretiere ich so: Die IAEO ist der Auffassung, dass wir den internationalen Kriterien mit dem,
was wir 1976 für Gorleben getan und bis dahin entwickelt haben, nicht gerecht geworden sind. Wir haben
aber dazu einen Vertrag unterschrieben. In dieser Situation befinden wir uns und das ist meine Antwort auf Ihre
Frage.
({0})
Ich bin bereit, im Umweltausschuss detailliert darzulegen, was noch an Kriterien fehlt und wo wir die
Schwierigkeiten sehen. Ich sage Ihnen noch etwas: Ich
bin nicht dagegen, Gorleben nicht weiter zu erkunden.
Allerdings muss dies unter der Voraussetzung geschehen, dass wir zeitgleich die alternative Standortsuche
nach gemeinsamen und internationalen Kriterien beginnen. Ich bin dafür, dass die weitere Erkundung von internationalen Experten durchgeführt wird. Ich sage Ihnen
auch, warum. In Deutschland sind meines Erachtens inzwischen viel zu viele entweder auf ein Ja oder Nein zu
Gorleben festgelegt.
Ich bin sogar dann bereit, Gorleben in Betrieb zu nehmen, wenn es auch nur gleich gute Endlager an anderer
Stelle gibt, weil in Gorleben das meiste Geld investiert
worden ist. Aber ich finde es fahrlässig, sich in einer
Frage, bei der es um 1 Million Jahre geht, auf einen 1977
ausgewählten Standort zu beschränken. Das halte ich
- das sage ich offen und von Herzen; es ist kein politischer Trick - für unverantwortlich. Sie werden keinen
niedersächsischen Sozialdemokraten finden, der sich in
der Vergangenheit bereit erklärt hätte, Gorleben selbst
dann, wenn andere Standorte nur gleich gut geeignet
sind, in Betrieb zu nehmen. Bisher sind wir immer vom
Burden-Sharing ausgegangen oder wie der Bauer sagt:
Der Mist gehört auf den Bauernhof, auf dem die Kühe
stehen. Deswegen waren wir in der Vergangenheit dafür,
dass auch andernorts ein Endlagerprojekt betrieben wird.
Wenn wir gleich geartete Standorte finden, wird
Gorleben ausgewählt. Aber wir müssen die Standorte
untersuchen. Die Frage ist in der Koalition strittig. Frau
Professor Dr. Flachsbarth hat die Lage völlig richtig geschildert.
({1})
- Habe ich sie gerade habilitiert?
({2})
- Ich finde, Sie haben es verdient.
({3})
Ich habe aber leider nicht die Möglichkeit dazu.
Ich weiß, dass die Frage strittig ist, Frau
Dr. Flachsbarth. Ich wollte versuchen zu erläutern, warum wir glauben, dass wir so vorgehen müssen.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Kaum ein
Land der Erde verzichtet bei der Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort für radioaktive Abfälle auf
ein Standortauswahlverfahren und einen Standortvergleich. Das ist internationaler Standard. Ich finde, dass
sich das Land, das technologisch auf dem höchsten
Stand ist und die entsprechende Verantwortung empfindet, dem internationalen Standard beugen sollte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nachdem die beiden Kollegen aus der Fraktion Die
Linke meiner vorherigen Bitte nicht gefolgt sind, will
ich diese wiederholen und sie auch begründen.
Liebe Kollegen, dieser Raum ist ein Ort, an dem wir
uns mit Argumenten und Wortbeiträgen auseinander setzen. Es ist kein Ort der Demonstration. Ich bitte, dies
auch zu berücksichtigen und zu beachten. Es ist ein
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Übereinkommen aller Mitglieder dieses Hauses. Deshalb bitte ich auch die Mitglieder der Fraktion Die
Linke, sich dieser Bitte nicht zu verschließen. Ansonsten
wird dies im dafür zuständigen Gremium, dem Ältestenrat, besprochen werden.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Kurt
Hill, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Ergebnis der Großen Anfrage der Fraktion der Grünen kann man in einem Satz zusammenfassen: In Sachen
Atomendlager gibt es nichts Neues. Aber das kennen wir
auch aus eigener Erfahrung mit unseren Fragen an die
Regierung, die wir im Interesse der besorgten Bürgerinnen und Bürger stellen. Der beliebteste Antwortsatz lautet - Frau Künast hat ihn eben zitiert -: „Die Bundesregierung beabsichtigt, die Lösung der Endlagerung
zügig und ergebnisorientiert anzugehen.“
({0})
Wie lange sollen wir uns das noch anhören? Fangen Sie
endlich an! Ich hoffe, Herr Gabriel, dass Sie es nicht auf
die lange Bank schieben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit
Ihrem Antrag arbeiten Sie zurzeit die Versäumnisse in
Ihrer eigenen Regierungszeit auf. Das sei kurz zur Erinnerung gesagt; es ist schon angesprochen worden. Wesentlich schöner wäre es gewesen, wenn wir heute ein
Suchkonzept für ein Endlager diskutieren könnten.
Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP. Sie gehen ganz anders an das Thema heran. Sie
machen eine Reise in die Vergangenheit und wollen den
Atommüll in vorhandene Löcher kippen - mit Vorstellungen über Endlager, die 30 Jahre alt sind. Das hat der
Minister eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Eine
Vorfestlegung auf Gorleben und Schacht Konrad ist
nicht nur unsachlich, sondern meiner Meinung nach in
der Form auch völlig unverantwortlich.
({2})
Mit einem schlüssigen Endlagerkonzept wäre uns womöglich Schacht Konrad erspart geblieben. Ich bin froh,
dass eben vollständig zitiert wurde, was das Bundesamt
für Strahlenschutz wirklich gesagt hat: Man weiß nicht,
ob Gorleben geeignet oder nicht geeignet ist. Was
Schacht Konrad betrifft, müssen die Anwohner zurzeit
alleine für ihr Recht kämpfen. Ich will aber nicht, dass
bei Gorleben das Gleiche passiert, weil keine Alternativen vorgelegt werden.
({3})
Statt Antworten zu bekommen, beobachten wir seit
Monaten ein eigenartiges Spiel. Zuerst erfolgt der Aufschlag von Minister Gabriel: Atomausstieg. Dann
kommt die Rückhand von Minister Glos: Ausstieg vom
Ausstieg. Zudem haben wir zahlreiche Zaungäste - zumeist aus Hessen und Bayern -, die weitere Bälle aufs
Spielfeld werfen. RWE und Co. wollen derweil neue
Spielregeln. Aber eines übersehen Sie bei diesem Zirkus,
meine Damen und Herren von der großen Koalition: Die
Menschen in Deutschland haben Anspruch auf eine Antwort auf die Frage, wie es denn nun mit dem Atomausstieg weitergehen soll.
({4})
Zur Erinnerung: Die überwältigende Mehrheit in
Deutschland lehnt die unbeherrschbare Atomenergie ab.
({5})
- Wieso hat das nichts mit der Endlagerfrage zu tun? Sie
werden gleich verstehen, was es damit auf sich hat.
Wie gesagt, die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lehnt die unbeherrschbare Atomenergie ab. Daran ändert auch der
Populismus der Atomstromlobby in diesem Hause und
außerhalb nichts. Die Menschen sind ja nicht dumm. Ein
Blick auf die Stromrechnung zeigt ihnen: Trotz abgeschriebener Kraftwerke ist Energie so teuer wie nie zuvor. Die Konzerne hingegen machen mit jedem Atommeiler pro Jahr 300 Millionen Euro Gewinn. Mit den
Atomkraftwerken sichern RWE, Vattenfall und Co. ihre
kartellartige Stellung ab. Tatsache ist: Atommeiler können nur in monopolartigen Strukturen und mit Subventionen betrieben werden. Unter diesen Bedingungen ist
Atomstrom aber teuer, wie jeder Stromkunde sieht. Echter Wettbewerb ist Gift für die Atomlobby.
Wer sich bei der Nutzung der Atomenergie auf den
Klimaschutz beruft, der hat in der Tat fachliche Probleme mit diesem Thema. Im Emissionshandel gibt es
festgelegte Obergrenzen für den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen. Laufzeitverlängerungen bringen also
im Hinblick auf den Klimaschutz gar nichts, weil die
Energieversorger eine festgelegte Menge CO2 ausstoßen
dürfen. Das werden sie - nebenbei gesagt - auch tun.
Der Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie ist der
einzig gangbare Weg und grundlegende Voraussetzung,
um das Endlagerproblem anzugehen.
Wenn ich zu Hause meine Badewanne voll laufen
lasse, drehe ich den Wasserhahn zu, bevor die Wanne
überläuft.
({6})
- Dann drehe ich den Wasserhahn ebenfalls zu. Aber das
verstehen Sie leider nicht.
Wir können nicht weiter giftigen Strahlenmüll erzeugen, obwohl uns klar ist, dass es über Jahrtausende keine
Sicherheitsgarantien für hoch radioaktiven Strahlenmüll
gibt.
({7})
Kein Mensch weiß, wie sich die Bedingungen in einem
Endlager über so lange Zeiträume verändern. Die Festlegung einer solchen Lagerstätte ist eine gewaltige gesellschaftliche Aufgabe. Die Zeit bis 2030 wird bei der Umsetzung schneller vergehen, als uns lieb ist. Deshalb
erfüllt es uns mit großer Sorge, dass sich die Bundesregierung noch immer nicht in der Lage sieht, grundsätzliche Fragen das Endlager betreffend zu beantworten. Wir
sollten uns ernsthaft fragen, warum sich die Regierung
vor der Beantwortung der Fragen nach Transparenz, Ergebnisoffenheit und Öffentlichkeitsbeteiligung drückt.
Ich sage Ihnen: Es geht hier nicht um einen Geräteschuppen, sondern um ein Endlager für hoch radioaktiven, giftigen und gefährlichen Atommüll.
Danke schön.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Um der Debatte mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen: Herr Kollege Hill, Sie sollten mit Ihren
Vergleichen vorsichtiger sein.
({0})
- Herr Trittin, zu Ihnen komme ich gleich noch. Ihre
Zwischenrufe habe ich schon eingeplant.
({1})
Ich freue mich, dass Sie die heutige Debatte mit Ihrer
Anwesenheit bereichern.
Herr Hill, Sie haben den Vergleich mit der Badewanne gewählt. Aber Sie müssen sich schon ernsthaft
mit den Fragen beschäftigen. Unabhängig davon, ob Sie
die Kernenergie fortführen wollen oder nicht, müssen
Sie die Entscheidung über die Endlagerung treffen.
Dazu haben Sie kein schlüssiges Konzept angeboten. Sie
haben die Grünen mit genau diesem Vorwurf kritisiert.
Ich glaube, dass Sie in Ihrer eigenen Partei überlegen
müssen, was Sie eigentlich dazu beitragen wollen, um
dieser Problematik gerecht zu werden.
({2})
Die Bundesregierung muss schließlich diese Fragen, die
zu Recht gestellt werden, beantworten. Der Bundesminister der großen Koalition hat viel von Logik und
fast in philosophischer Manier von logischen Schlüssen
gesprochen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zwingend
logisch, dass das Moratorium in Gorleben aufgehoben
wird.
({3})
Wir werden sonst keine ernsthafte und adäquate Antwort
auf die Frage des Endlagers finden.
Herr Trittin, ich habe Sie auf Ihren Zwischenruf hin
angesprochen. Das Einendlagerkonzept, das die Vorgängerregierung vertreten hat und manche immer noch
vertreten, halte ich für einen ganz großen Irrtum. Ich
möchte Ihnen auch sagen, warum: Der Bundesrechnungshof hat am 27. November 2003 in einem Prüfbericht die finanziellen Risiken des Einendlagerkonzepts
beanstandet. Spätestens da hätte die Vorgängerregierung
umdenken und zur Sachdebatte zurückkehren müssen.
Das Vorgehen Ihres Umweltministeriums sei - ich zitiere - „nicht zielgerichtet, unwirtschaftlich und wenig
transparent“, schrieben die Prüfer damals. Recht haben
sie damit. Zudem berge es finanzielle Risiken von mehreren Milliarden Euro für den Bundeshaushalt. Ich
möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie verschwenderisch mit Steuermitteln dort umgegangen worden ist, wie gravierend die finanziellen Folgen dieser
Einendlagerstrategie für den Bundeshaushalt sind und
dass dieses Konzept nicht trägt. Das Geld könnte weitaus besser in die Forschung investiert werden. Dann
würde man einen wirklichen Beitrag zur Sicherheit der
Kernenergie insgesamt - auch weltweit - leisten.
({4})
Warum die Einendlagerstrategie falsch ist, lieferten
die Rechnungsprüfer in ihrer Begründung gleich mit. In
den geprüften Unterlagen fanden sie keinen einzigen
Hinweis auf eventuelle wissenschaftlich-technische Vorzüge der Einendlagerkonzeption. Vielmehr sei Deutschland das einzige Land, das dieses Konzept überhaupt
verfolge. Eindeutiger kann man es gar nicht sagen. Weil
dem Bundesumweltminister damals die Argumente ausgingen - ich muss mich mit den Grünen beschäftigen;
denn wir behandeln auch ihren Antrag -, haben Sie in
Ihrer unnachahmlich polemischen Art dem Rechnungshof unterstellt, er wolle sich in politische Entscheidungen einmischen. Manchmal ist es besser, wenn man auf
unabhängige Gutachter hört oder sie zumindest zur
Kenntnis nimmt und sie nicht gleich polemisch abwertet.
({5})
Diese Einmischung haben Sie zurückgewiesen. Das
Problem ist aber immer noch auf der Tagesordnung der
großen Koalition. Sie tragen mit Ihrem Antrag und dem,
was bisher von den Grünen hier vorgetragen worden ist,
nicht dazu bei, dass wir tatsächlich einer Lösung näher
kommen. Man kann sich über die Konzeption der Zukunft streiten, aber ich glaube, es ist seit 1998 erneut
sehr viel Zeit verloren gegangen. Ein Beitrag der großen
Koalition kann sein, dass wir diesen Zeitverlust zumindest begrenzen und uns um eine ernsthafte Lösung bemühen. Deshalb erneuere ich meine Forderung, das Moratorium für Gorleben aufzuheben und sich glaubwürdig
um einen Standort für ein Endlager zu bemühen. Ich
glaube, dass dies überfällig ist, unabhängig davon, wie
sich die Zeitfenster der Zukunft entwickeln werden. Wir
werden bei der neuen Prüfung von Standorten den Zeitrahmen von 2030 nicht einhalten, Höchstwahrscheinlich
wird es dann 2050 sein. Die Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land haben nach 35 Jahren Endlagersuche endlich eine Antwort auf die Frage verdient, wie es in
Deutschland mit den radioaktiven Abfällen weitergehen
soll.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel! Seit nunmehr 30 Jahren diskutieren wir die Frage der Endlagerung radioaktiver Abfälle in Deutschland. Seither hat der
Bundestag zahllose Debatten zum Thema Endlager erlebt. Dies waren immer besonders emotionale und kontroverse Debatten. Es stellt sich die Frage: Wo stehen
wir heute? Eine Lösung der Endlagerfrage, die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird,
haben wir bisher nicht erreicht. Mit diesem mageren Ergebnis befinden wir uns in guter Gesellschaft; denn weltweit existiert bis heute kein einziges Endlager für abgebrannte Brennelemente.
Trotz aller Meinungsverschiedenheiten denke ich,
dass wir bereits in zwei Punkten Einigkeit erzielt haben:
Erstens. Wir alle bekennen uns zur nationalen Verantwortung für die sichere Endlagerung unserer radioaktiven Abfälle.
Zweitens. Es besteht Einigkeit über die nicht rückholbare Endlagerung in tiefen geologischen Formationen.
Das ist eine Basis, auf der wir in den kommenden
Monaten aufbauen können und müssen.
Uns liegen heute zwei Anträge der Opposition vor,
auf die ich im Folgenden eingehen möchte.
Zuerst zum Antrag der FDP. Was Sie von der FDP
tun, finde ich nicht ganz korrekt; denn Ihr Antrag, Frau
Brunkhorst, ist nicht wirklich neu: Ihre Forderungen
stammen nicht von Ihnen; sie sind einem Antrag der
Union aus der letzten Legislaturperiode nahezu wortwörtlich entnommen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, für
eine Partei mit einer Mitgliederkampagne unter dem
Motto „Selbstdenker gesucht“ ist das schon ein bisschen
bedenklich.
({1})
Sie offenbaren damit wieder einmal, dass Sie in zentralen Zukunftsfragen dieses Landes nichts Eigenständiges
zu bieten haben. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen
sein, dass es inzwischen eine Bundestagswahl gegeben
hat. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass Union
und SPD sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Es handelt sich um einen Koalitionsvertrag, in dem
wir uns verpflichtet haben, zügig und ergebnisorientiert
zu einer Lösung der Endlagerfrage zu kommen. Daran
arbeiten wir.
Dabei gilt für die SPD-Bundestagsfraktion:
Erstens. Sicherheit hat oberste Priorität. Denn bei der
Frage der Endlagerung treffen wir Entscheidungen nicht
für menschliche, sondern für geologische Zeiträume.
Wir suchen deshalb nicht ein geeignetes, sondern das geeignetste Endlager.
({2})
Zweitens. Es muss eine ergebnisoffene, qualitativ
hochwertige Endlagersuche geben.
Drittens. Die Endlagersuche muss transparent sein.
Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist für uns ein wesentliches Element - ein Element, das bei der bisherigen
Standortauswahl völlig vernachlässigt wurde.
Viertens. Die Endlagersuche muss ergebnisorientiert
sein. Sie muss für Bürger, Politik und Energiewirtschaft
Planungs- und Rechtssicherheit schaffen. Das bedeutet:
Transparenz und Bürgerbeteiligung dürfen die Ergebnisorientierung nicht ad absurdum führen.
Nun zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen. Auch auf Ihren Antrag möchte ich noch
eingehen. Sie fordern die Bundesregierung auf, umgehend ein Konzept für eine ergebnisoffene Standortauswahl vorzulegen. „Umgehend“, Frau Künast: Man reibt
sich verwundert die Augen; schließlich waren die Grünen doch sieben Jahre lang für das Umweltministerium
zuständig. In sieben Jahren, Frau Künast, haben die Grünen es nicht weitergebracht als zu einem nicht abgestimmten Gesetzentwurf. Das hat der damalige Umweltminister Jürgen Trittin in einem Namensartikel in der
„Netzeitung“ vom 11. Mai 2006 selbst noch einmal hervorgehoben - ich zitiere -:
Irrig ist auch die Auffassung, es handele sich bei
dem Gesetzentwurf um einen antizipierten Kompromiss mit dem damaligen Koalitionspartner. Es
handelt sich um den vom Bundesumweltministerium unter meiner Leitung im Dezember 2004 fertig gestellten Entwurf. Es handelt sich um einen
grünen Entwurf.
Den nicht abgestimmten Gesetzentwurf haben Sie
dann kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl noch
veröffentlicht, um nicht ganz mit leeren Händen dazustehen.
({3})
Ich weiß, dass Sie seither immer wieder in der Öffentlichkeit verbreiten - auch heute wieder -, die SPD sei
schuld an den Verzögerungen gewesen. Das ist in meinen Augen, Frau Künast, unredlich.
({4})
Um in einer Koalition über einen Gesetzentwurf zu
beraten, muss zunächst einmal ein Gesetzentwurf vorliegen. Das ist die Aufgabe des federführenden Ministeriums. In diesem Fall war das Ihr Ministerium. Ich
denke, es wäre fair, wenn Sie der neuen Bundesregierung zumindest einen Bruchteil der Zeit einräumten, die
Sie sich selbst genehmigt haben.
({5})
Keine Sorge: Sieben Jahre werden wir dafür nicht benötigen.
({6})
Ich habe volles Vertrauen in den Bundesumweltminister,
dass er schon bald ein Endlagerkonzept vorlegen wird.
Wir haben gerade gehört, dass er den Spitzen der Regierungskoalition bereits ein Konzept hat zukommen lassen. Ich bin also zuversichtlich, dass wir sehr, sehr
schnell zu einer entsprechenden Aussage kommen werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Vielleicht wundert es Sie, wenn ich einleitend sage, dass der
Antrag der Fraktion der Grünen durchaus konsensfähige
Teile enthält. Unabhängig davon, wie man zum Ausstieg
aus der Kernenergie steht, muss man festhalten: Wir
brauchen ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle und
abgebrannte Brennelemente. Wir brauchen eine nationale Endlagerung, wir brauchen das Endlager bis zum
Jahre 2030. Die Verantwortung dafür trägt die jetzt handelnde Generation.
Diese Beschreibung der Ausgangslage ist eigentlich
eine Grundlage für schlüssiges Handeln. Meine Damen
und Herren von den Grünen, Sie sprechen von Verantwortung, meinen aber Verhindern, Verzögern, Verunsichern und Verängstigen.
({0})
Das ist eine altbekannte Strategie der Grünen vom Waldsterben bis zur Kernenergie: Sie schüren Ängste, um
sich ihren eigenen politischen Markt zu schaffen.
({1})
Offenkundig geht es Ihnen darum, den Ausstieg aus der
Kernenergie unumkehrbar zu machen.
({2})
Deshalb wollen Sie die Endlagerdiskussion möglichst
breit, offen und langwierig führen.
({3})
Anderenfalls zöge der Vergleich nicht mehr, die Kernenergie sei wie ein Flugzeug ohne Landebahn. Sonst
müsste man Farbe bekennen und über die Probleme reden, die uns der Ausstieg aus der Kernenergie wirklich
bringt, nämlich über die Frage, wie wir unseren Strombedarf decken und die dafür notwendigen Kapazitäten
schaffen sollen. Dann müsste man solche Kapazitäten
tatsächlich aufbauen.
({4})
Frau Künast, wenn Sie so heftig bestreiten, dass es Ihnen um Verzögern geht, dann schauen Sie sich doch einmal an, was Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung getan haben.
({5})
Erreicht haben Sie das Moratorium für Gorleben
2000. Wer aber eine zügige Klärung dieser Fragen will,
darf natürlich kein Moratorium erlassen, sondern muss
schauen, dass die Eignung Gorlebens geprüft wird.
Parallel kann dann diskutiert werden, was man darüber
hinaus noch tun will, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben.
({6})
Auch bei der Verstopfungsstrategie, die Sie mit dem
Vorschlag betrieben haben, Zwischenlager an den Kernkraftwerksstandorten zu errichten, geht es doch nur um
Verzögern, Verärgern und Verunsichern. Das, was Sie
zuvor als Blechhütten abqualifiziert hatten, haben Sie
plötzlich zwölffach kopiert.
Als ruchbar wurde, dass Schacht Konrad juristisch
nicht zu verhindern ist, haben Sie plötzlich von der
Einendlagerstrategie gesprochen, um auch hier zu Verzögerungen zu kommen.
Aber es wird noch kurioser. Sie sagen, man müsse die
Verfahren aus den 70er-Jahren anzweifeln, als müsste
man Rechtsstaatlichkeit ausgerechnet von den Steinewerfern der Vergangenheit lernen.
({7})
- Dass Herr Trittin an dieser Stelle am heftigsten lacht,
ist aus meiner Sicht spannend.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Künast?
Aber gerne.
Sie haben darüber gesprochen, ob Sie Rechtsstaatlichkeit von Steinewerfern lernen sollten. Da wir beide uns
im Dialog befinden, möchte ich von Ihnen gern wissen,
wo ich jemals einen Stein geworfen hätte.
({0})
- Das hat er behauptet.
Sie halten hier einen putzigen Beitrag. Ich hoffe, dass
Sie im Rahmen Ihrer fünfminütigen Redezeit, die ich Ihnen mit meiner Frage gern um eine Minute verlängere,
endlich zur Kernfrage kommen. Unabhängig davon, ob
man den Ausstieg aus der Kernenergie will oder nicht
- Sie wollen ihn nicht -, fällt Atommüll an. Mich interessiert brennend, ob Sie die erstbeste Möglichkeit für
die Endlagerung nutzen wollen oder ob Sie nicht vielmehr auch der Idee anhängen, dass Sicherheit immer
Vorrang hat und es deshalb darum gehen muss, die beste
Lagermöglichkeit in Deutschland zu finden. Sind Sie in
der CDU/CSU bereit, sich auf diesen Weg zu machen
und nach der besten Endlagermöglichkeit zu suchen,
oder wollen Sie einfach das jetzt Getestete nehmen, um
Geld zu sparen?
Frau Künast, zunächst einmal habe ich Sie nicht direkt als Steinewerfer angesprochen. Ich bin überrascht,
dass Sie sich an dieser Stelle so betroffen fühlen.
({0})
Im Übrigen: Das Thema Sicherheit liegt uns natürlich am Herzen. Wir wundern uns nur darüber, dass manche jetzt plötzlich die Kriterien ändern und nicht einen
geeigneten, sondern den bestgeeigneten Standort wollen.
Wir wundern uns über Leute, die sagen, dass bis zum
Jahr 2030 alles soweit sein müsse, die aber das Moratorium nicht aufheben wollen und sich nicht länger mit
dem Thema Gorleben beschäftigen wollen, sondern erst
einmal - in der Hoffnung, dass es so etwas schneller
geht - andere mögliche Standorte prüfen wollen. Das erinnert mich ein wenig an das Motto: Drum prüfe, wer
sich ewig bindet, ob sich nicht was Bessres findet. In Ihren Reihen gibt es ja den einen oder anderen, der weiß,
dass man auf diese Weise nicht einmal den richtigen Lebenspartner findet, geschweige denn ein Endlager.
({1})
Uns geht es darum, dass wir nicht alle 20 Jahre neue
Kriterien einführen und auf einer neuen Bewertungsbasis über eine Frage reden, mit der wir uns schon 20 Jahre
beschäftigt haben. Viele Bürgerinnen und Bürger fragen
sich, ob das denn immer so weitergehen soll. Im Koalitionsvertrag gibt es dazu ganz klare Regelungen. Wir
wollen keine ergebnisoffene, sondern eine ergebnisorientierte Suche. Wir wollen eine Lösung noch im
Laufe dieser Legislaturperiode. Das ist ein zentrales Anliegen der Union. Mit uns wird es jedenfalls kein Standortsuchgesetz nach den Vorstellungen der Grünen zur
Verunsicherung der Menschen geben.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Marco Bülow, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, dass wir versuchen müssen,
eine Balance zu finden: Auf der einen Seite dürfen wir
nichts verzögern, sondern müssen dieses Endlager auf
einem schnellen Wege finden.
({0})
Auf der anderen Seite dürfen wir aber nicht dem Prinzip
„Aus den Augen, aus dem Sinn“ folgen. Darum geht es
bei der Debatte und darum haben sich die Wortmeldungen gerankt.
Eigentlich wollte ich es nicht, aber nun muss ich doch
auf einige Vorredner eingehen. Herr Nüßlein, der Atomausstieg ist unumkehrbar.
({1})
Wir haben einen Vertrag geschlossen und wollen ihn
auch einlösen. Herr Mißfelder, bei vielen Punkten sind
wir uns einig, aber wir sollten vielleicht noch einmal
darüber reden, dass Gorleben als Einendlager konzipiert
worden ist. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen - ob
wir das wollen oder nicht. Das aber nur als kurze Berichtigung.
Frau Brunkhorst, Sie haben zum Schluss darüber gesprochen, dass wir es den zukünftigen Generationen
schulden, ein Endlager zu finden. Das ist richtig; genau
deswegen suchen wir ja nach dem bestmöglichen Standort. Aber wie kann man es als Generationenfrage bezeichnen, wenn es darum geht, in einigen Jahren - oder
vielleicht auch in einigen Jahrzehnten - den bestmöglichen Standort zu finden, um mit einem Material umzugehen, das wahrscheinlich 1 Million Jahre oder noch viel
länger strahlt? Man muss sich schon alle Mühe geben,
den bestmöglichen Standort zu finden, und muss die
Zeitspannen einmal im Verhältnis sehen. Da sollte man
nicht von Generationen reden.
({2})
Das ist auch die Diskussion, die wir führen sollten.
Wir sollten uns bewusst werden, über was wir hier reden. Es sind 24 000 Kubikmeter hoch belastendes Material. Das ist ungefähr - wir haben das einmal ausgerechnet - das Fassungsvermögen dieses Plenarsaalgebäudes.
Davon ist schon 1 Kubikzentimeter ausreichend, um
große Flächen oder zum Beispiel große Mengen von
Wasser zu verseuchen. Darüber reden wir.
Eine andere Umrechnung. Im Ruhrgebiet spricht man
gern in der Fußballersprache. Man müsste 3,5 Fußballfelder einen Meter hoch mit Wasser füllen, wenn man es
denn könnte. Bei dem schwach bis mittelstark radioaktiven Material wären das entsprechend 40 Fußballfelder.
Das ist eine ganze Masse.
Diese Größenordnung gilt aber nur, wenn wir aussteigen. Wir haben gerade vom Sankt-Florians-Prinzip
gesprochen. Nur wenn wir aussteigen, macht es Sinn,
über diese Menge zu sprechen. Wenn wir nicht aussteigen, erhöht sich die Menge. Egal ob wir dann noch über
andere Risiken sprechen; diese Menge erhöht sich. Dessen, denke ich, müsste man sich immer bewusst sein,
wenn man über ein Endlager spricht.
Ich will noch einmal auf die 1 Million Jahre eingehen.
Das ist auch nur eine Zahl, die vorgegeben ist. Die meisten Experten sagen, es müsste eigentlich 10 Millionen
Jahre sicher gelagert werden. Uran-238, auch in den
Brennelementen vorkommend, hat eine Halbwertszeit
von 4,4 Milliarden Jahren. Frau Künast hat einen Vergleich mit den Pyramiden bemüht. Seit 8 000 Jahren gibt
es menschliche Zivilisation. Ich weiß nicht, vor wie viel
Millionen Jahren sich die Alpen hochgefaltet haben. Wer
kann eine Garantie über Millionen von Jahren abgeben?
Wer kann das wirklich? Nach menschlichem Ermessen
können wir das nicht. Deswegen können wir kein sicheres Endlager, sondern nur das am besten geeignete finden. Aber zumindest genau dies sind wir den Menschen
und den Generationen, die da kommen, schuldig.
Die SPD bekennt sich zu dieser Verantwortung. Wir
müssen das im Dialog lösen - anders haben wir keine
Chance -, weil das Thema viel zu wichtig ist, als dass
man nur Streit darüber führen kann. Wir müssen zu Lösungen kommen, die die Mehrheit der Menschen akzeptiert und die die Mehrheit dieses Bundestages vorgeben
muss.
({3})
Das sollten wir alle nicht vergessen - bei allen Streitereien, die wir über Atomenergie und über Endlager haben. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Menschen. In der Debatte heute habe ich zumindest bei
vielen herausgehört, dass wir uns dieser Verantwortung
stellen wollen. In diesem Sinne: Alles Gute, bis dann!
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2790 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 16/1462 zum Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Offene Fragen zur Entsorgung radio-
aktiver Abfälle klären - Verantwortung für nachfolgende
Generationen übernehmen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 16/267 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstim-
men der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
6 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der
Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union
- Drucksache 16/2293 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien und
Rumäniens zur Europäischen Union
- Drucksache 16/2954 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum
Erfolg führen
- Drucksache 16/2997 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesaußenminister, Dr. FrankWalter Steinmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In Stunden wie diesen erinnert man sich an die
Vorbereitungen der letzten großen Erweiterungsrunde 2004 - im Kern eine Osterweiterung der Europäischen Union und, wenn man so will, endlich eine sichtbare Dividende aus der Liquidationsmasse des Kalten
Krieges. Die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Tschechien, Slowenien und Ungarn waren Dokument der
wieder gefundenen Einheit Europas. Feuerwerke und
Festveranstaltungen waren schon während der Ratifikationsphase in Vorbereitung; wachsende Euphorie war
mit Näherrücken des Beitrittsdatums 1. Mai 2004 nicht
nur in den Beitrittsstaaten - ich erinnere mich gut -, sondern durchaus auch in der alten Europäischen Union
spürbar.
Wenig davon ist heute spürbar, wenn wir über den bevorstehenden Beitritt Bulgariens und Rumäniens reden.
Selbst die EU-Außenminister haben vergangenen Dienstag, am 17. Oktober, in, wie ich finde, ungewohnt trockener Sprache beschlossen:
Der Rat nimmt zur Kenntnis, dass der laufende Prozess der Ratifizierung des Beitrittsvertrages weit
gediehen ist ...
Nun habe ich - meine Damen und Herren, Sie wissen
das - nichts gegen Nüchternheit. Aber diese Sprache
bettet sich ein in eine öffentliche Stimmung, die, wie
ich finde, weder den historischen Ausgangspunkt der
Beitritte Bulgariens und Rumäniens in Erinnerung noch
die Chancen einer solchen Erweiterung und erst recht
nicht die Nachteile des anderen Wegs, des Wegs der Zurückweisung, für Europa im Blick hat.
({0})
Deshalb lassen Sie mich noch einmal ganz kurz in Erinnerung rufen: Bei dem großen Projekt der Wiederherstellung der europäischen Einheit waren Bulgarien und
Rumänien nie außerhalb unseres europäischen Bemühens. Von Anfang an gehörten sie zu jenen zentral- und
osteuropäischen Ländern, die nicht nur - wie die anderen - durch den Eisernen Vorhang vom Rest Europas getrennt waren, nein, deren Orientierung wirtschaftlich und
kulturell auf Europa, auf die Europäische Union fest ausgerichtet war. Wir alle - auch daran erinnere ich mich haben sie nicht erst seit Eröffnung der Beitrittsverhandlungen eingeladen, sich auf diesen Weg nach Europa zu
begeben, wohl wissend, dass dieser Weg für Bulgarien
und Rumänien wesentlich weiter sein würde als etwa für
Polen, Tschechien und andere.
Die historisch zu nennende Wiederherstellung der
Einheit Europas als großes, friedenssicherndes Projekt,
aber auch die Wiederherstellung der kulturellen Verbindungen und die Schaffung des größten einheitlichen
Wirtschaftsraums der Welt hieß das große Ziel, das der
Fall der Mauer in Berlin und alle daraus resultierenden
Folgeereignisse erst möglich gemacht haben.
({1})
Diesen Prozess, meine Damen und Herren, haben alle
deutschen Bundesregierungen seit 1990 von Anfang an
aktiv unterstützt, natürlich auch, weil wir als Deutsche
aus eigener Erfahrung wussten, was Teilung bedeutet.
Alle Regierungen haben deshalb zu ihrer Verantwortung
gestanden, zur Überwindung der Teilung auch in Europa
beizutragen.
Wenn wir über Bulgarien und Rumänien reden, dann
erinnern wir uns doch bitte daran: Skepsis war auch in
der Erweiterungsrunde 2004 weit verbreitet. Aber
heute können wir sagen: Nicht nur die Erweiterungsländer haben und hatten Vorteile von diesem Beitritt. Bei allen gewachsenen Schwierigkeiten, die ich im letzten
Jahr wirklich kennen gelernt habe, in den internen Abstimmungsprozessen der Europäischen Union - gerade
deshalb brauchen wir die Verfassung - haben auch die
alten Mitgliedsländer, auch Deutschland, von dieser Erweiterung profitiert.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn ich das sage, meine
ich das nicht nur außenpolitisch. Deutschland ist zwar
jetzt in der historisch einmaligen Situation, nur von Staaten umgeben zu sein, mit denen wir freundschaftlich verbunden sind; aber auch handfeste politische und wirtschaftspolitische Vorteile sind sichtbar geworden. Wenn
wir uns am Jahresende hoffentlich wieder darüber freuen
dürfen, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dann erinnern wir uns bitte auch daran, dass zwei Drittel der
deutschen Exporte nicht nach Indien, China und in die
USA gehen, sondern in die Europäische Union und zunehmend auch in die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union. Schauen Sie sich die großen LKW-Schlangen in Richtung Polen und Tschechien an; da finden Sie
einen täglichen Beleg für diese Entwicklung.
Wenn Bulgarien und Rumänien beitreten, so ist das
nicht nur ein weiterer Schritt zu mehr Sicherheit in der
Region des östlichen Balkans und am Schwarzen Meer.
Auch hier sind deutsche Unternehmen seit längerem dabei, sich diese neuen Märkte zu erschließen. Nur durch
den Beitritt kann der rechtliche Rahmen geschaffen werden, der für die Entfaltung von wirtschaftlichen Aktivitäten notwendig ist.
Bulgarien und Rumänien haben seit 1989/1990 große
Anstrengungen unternommen, um ihr politisches System, ihre Wirtschaft und ihr Rechtssystem an die Standards der Europäischen Union anzupassen.
({3})
Seit sie 1995 ihre Anträge auf Beitritt gestellt haben, haben beide Länder einen weiten Weg zurückgelegt, der
auch mit Entbehrungen für die Bevölkerung und manchmal mit Rückschlägen verbunden war.
Ich habe genauso wie Sie mit Spannung den letzten
Monitoringbericht der Europäischen Kommission und
ihre Einschätzung erwartet, ob der Beitrittstermin zum
1. Januar 2007 aus Sicht der Kommission gehalten werden kann. Aus meiner Sicht - ich habe es in diesem
Hause schon einmal gesagt - hat die Kommission eine
objektive und ehrliche Bestandsaufnahme vorgelegt. Ich
teile die Einschätzung, dass es die Fortschritte, die beide
Länder bei ihren innerstaatlichen Reformen während der
letzten 15 Jahre erreicht haben, rechtfertigen, ihnen sowohl die Rechte als auch die Pflichten eines Mitglieds
der Europäischen Union zu übertragen.
Weil ich die Vorbehalte der Europäischen Kommission, die in dem letzten Monitoringbericht zum Ausdruck gekommen sind, und die öffentliche Diskussion
kenne, sage ich, dass wir kein Geheimnis daraus machen
dürfen, dass es in beiden Ländern Defizite gibt, über die
man reden muss. In beiden Ländern ist der Aufbau einer
unabhängigen, effizienten und transparenten Justiz noch
nicht so gelungen, wie sich die Kommission und wir uns
das vorstellen. Richtig ist auch, dass die Bekämpfung
der Korruption in beiden Ländern weitergeführt werden
muss.
Es ist ebenfalls richtig, dass die Kommission mit
Blick auf Bulgarien der Meinung ist, dass die Verfolgung und Ahndung von Geldwäsche und von organisierter Kriminalität noch zu wenig vorzeigbare Ergebnisse
gebracht haben. Ich sage deshalb ausdrücklich: Wir müssen darüber reden - es hat keinen Sinn, die Defizite
schönzureden -, worauf wir uns einlassen, und wir müssen die entsprechenden Vorkehrungen treffen. Deshalb
begrüße ich ausdrücklich die von der Kommission angekündigten Maßnahmen, mit denen sichergestellt werden
soll, dass der Reformprozess auch nach dem Beitritt am
1. Januar 2007 weitergeht.
({4})
Das ist, wie Sie wissen, vor allen Dingen in den besonders sensiblen Bereichen Justiz und Inneres von
großer Bedeutung. Dort ist ein „Kooperations- und
Überprüfungsmechanismus“ vereinbart worden, der
Bulgarien und Rumänien auch nach dem 1. Januar 2007
konkrete Reformziele setzt. Damit sind Verfassungsund Gesetzesänderungen und vor allen Dingen konkrete
Schritte bei der Verfolgung von Korruption und insbesondere Geldwäsche erfasst.
Die Fortschritte beider Länder werden weiterhin
überwacht. Es war für die Kommission nicht einfach,
das durchzubringen. Sie wird den Mitgliedstaaten darüber regelmäßig berichten. Das ist aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass wir festgehalten haben: Sollten trotz der Überwachungsmaßnahmen die
vorgegebenen Fortschritte nicht erreicht werden, dann
wird die Kommission entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen. So kann die EU-weite Anerkennung von
Haftbefehlen und Strafurteilen ausgesetzt werden. Die
Auszahlung von Geldern aus den Agrar- und Strukturfonds kann dann gesperrt werden, wenn eine ordnungsgemäße Verwendung nicht nachgewiesen werden kann.
In anderen Bereichen können Ausfuhrverbote und Beschränkungen auf Grundlage der Binnenmarktregelungen getroffen werden.
Ich halte diesen Weg, den die Europäische Kommission aufgezeigt hat, für richtig. Deshalb möchte ich gern
empfehlen und gleichzeitig darum bitten, dass der Antrag im Ratifizierungsverfahren hier im Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit erhält.
Sie wissen, dass von den 25 Mitgliedstaaten bereits
23 ratifiziert haben. Neben uns befindet sich noch Dänemark im Ratifizierungsverfahren. Dort hat die erste Lesung am 10. Oktober 2006 stattgefunden und ich hoffe,
dass wir bald ebenso weit sind.
Vielen Dank.
({5})
Der nächste Redner ist der Kollege Markus Löning
von der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir uns daran erinnern, wie Europa vor gut 15 Jahren nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs ausgesehen hat. Die Bilder von damals, die sich mir besonders ins Gehirn gebrannt haben,
sind Bilder aus Rumänien, aus Kinderheimen, von der
Ceausescu-Exekution und andere. Das ist lange, lange
vorbei. Wenn man jetzt in diese Länder reist, sieht man,
was für ein enormer Fortschritt - trotz allem, was man
im Einzelnen noch sagen kann - von den Demokraten in
diesen Ländern erreicht worden ist.
({0})
Ich glaube, wir als Deutsche sollten uns besonders
klar machen - weil wir als Deutsche Debatten hatten und
nach wie vor darüber haben -, wie schwierig es ist, die
neuen Länder zu integrieren. Die DDR war das erste
Land aus dem ehemaligen Ostblock, das der EU beigetreten ist. Wir wissen, wie schwer es für uns ist, die DDR
zu integrieren, die neuen Länder zu integrieren. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir an diesem Tag auch anerkennen, um wie viel unendlich schwerer es die neuen
Länder in Osteuropa auf ihrem Weg zur Marktwirtschaft,
zur Demokratie und hin zu unseren europäischen Werten
gehabt haben.
({1})
Insbesondere Bulgarien und Rumänien haben sich
sehr schwer getan. Aber sie haben aufgeholt. Ich muss
mit einem gewissen Stolz sagen, dass sie in den letzten
Jahren auch unter starker Beteiligung Liberaler in den
Regierungen sehr stark aufgeholt haben, unter anderem
beim Wirtschaftswachstum. Es gibt ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum, insbesondere in Rumänien,
aber auch in Bulgarien. Das zeigt, dass in Zukunft
- nicht in naher Zukunft, aber in absehbarer Zukunft die Einkommenslücke geschlossen werden kann.
Wir haben inzwischen mit beiden Ländern einen
enormen Handelsaustausch. Ich möchte das Beispiel Indien noch einmal aufgreifen, weil der Außenminister
darauf Bezug genommen hat. Wir haben mit Bulgarien
und Rumänien gemeinsam soviel Handel wie mit Indien. Wir haben mit beiden Ländern einen deutlichen
Handelsüberschuss. Meine Damen und Herren, das zeigt
die Wichtigkeit dieser Länder für uns.
Wir hatten neulich ein Gespräch mit dem Präsidium
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und
haben gefragt: Was denkt ihr darüber? Sie sagten: Jawohl, das müssen wir machen; die beiden Länder müssen Mitglieder werden. Das ist ein großer Vorteil für
deutsche Firmen und für Arbeitsplätze in Deutschland,
die durch den Handel und die wechselseitigen Investitionen in diesen Ländern erhalten, gesichert und auch geschaffen werden.
Dennoch gibt es Bereiche, die noch nicht so weit sind,
wie wir sie uns wünschen. Es sind in allen Bereichen
große Anstrengungen unternommen worden, es sind vor
allem große Anstrengungen in den Bereichen Justiz und
Inneres unternommen worden. Aber ich glaube, an dieser Stelle sollte man auch nicht verschweigen, dass es
durchaus unterschiedlich ist, was erreicht worden ist.
Das möchte ich hier auch ansprechen. Insbesondere in
Bulgarien müssen wir im Bereich der Bekämpfung der
organisierten Kriminalität, der Bekämpfung der Geldwäsche, heftigst weitere Fortschritte einfordern. Es kann
nicht sein, dass die Standards hier nicht erreicht werden.
Wir brauchen das Erreichen der Standards gerade auch
in diesen Bereichen. Bulgarien zeigt in anderen Bereichen und Ministerien, dass es dazu in der Lage ist, die
europäischen Standards zu erreichen. Ich wünsche mir
insbesondere für den Bereich Inneres und Justiz, dass
hier bald deutliche Fortschritte gemacht werden.
({2})
Deutschland lebt seit der Wiedervereinigung Europas
in einer Zone von Frieden und Wohlstand. Das mag abgedroschen klingen, weil Europapolitiker das immer und
immer wieder sagen. Ich bestehe darauf, dass wir das
immer wieder wiederholen: Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir auf einem Kontinent leben, auf
dem die Völker zivilisiert miteinander umgehen. Wir haben eine Struktur geschaffen, die den Frieden auf diesem Kontinent erhält. Deswegen wünsche ich mir, dass
wir die Wiedervereinigung Europas mit der Aufnahme
von Bulgarien und Rumänien in diesem Haus auf breiter
Basis begrüßen. Ich wünsche mir für die Beitritte eine
breite Mehrheit in diesem Haus. Das wäre ein wichtiges
Signal nach innen, aber auch an die Adresse dieser beiden Länder.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am
26. September hat die Europäische Kommission ihren
Fortschrittsbericht vorgelegt. Beiden Ländern wurden
enorme Fortschritte attestiert.
Ich denke, der 1. Januar 2007 wird für beide Länder
ein historisches Datum werden. Es ist viel geleistet worden. Es ist aber auch ein historisches Datum für die Europäische Union. Schließlich findet dann die Erweiterung um zwölf Länder ihren Abschluss. Bei allen
Debatten über eine Verschiebung - sie wurden oft auch
in Deutschland geführt -, dürfen wir nicht vergessen,
dass es bereits eine Verschiebung gab. 2004 wurde gesagt: Die beiden Länder erfüllen die Kriterien zwar noch
nicht, wir können aber sicher sein, dass für beide Länder
der Weg in die Europäische Union dann am 1. Januar
2007 frei sein wird.
Die Ehrlichkeit gebietet es - das klang bereits an -,
dass hier auch die defizitären Bereiche benannt werden,
also die Bereiche, in denen weitere Fortschritte dringend
notwendig sind. Die Fortschritte sind zuvorderst im Interesse der Menschen, die in diesen Ländern leben. Die
Reformen sind kein Selbstzweck. Die Länder machen
diese Reformen auch nicht, um der Europäischen Union
oder uns zu gefallen. Die Menschen in den Ländern
müssen von den Reformen profitieren.
In diesem Zusammenhang ist zunächst die Justiz zu
nennen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist weder in Bulgarien noch in Rumänien flächendeckend befriedigend
gelöst. Wir brauchen, auch im Justizwesen, besser funktionierende Behörden.
Auch auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung
- das klang bereits an - ist noch sehr viel zu tun. In Rumänien funktioniert sie erfreulicherweise im Bereich der
so genannten High-Level-Corruption; aber noch nicht im
Bereich der Alltagskorruption. Es wird wahrscheinlich
noch sehr viele Jahre dauern, bis wir sagen können:
Diese Probleme sind gelöst.
Bei den Auszahlungsagenturen im Bereich der Landwirtschaft ist auch noch einiges zu tun, damit die Gelder, die die Europäische Union hierfür zur Verfügung
stellt, sach- und zweckgerichtet verwendet werden. Dafür zu sorgen, sind wir auch den Menschen in Deutschland schuldig. Wenn wir den Rentnern hier sagen, dass
Nullrunden erforderlich sind, dann muss Gewähr dafür
geleistet werden, dass das Geld, das in die Hand genommen wird, seine entsprechende Verwendung findet.
Auch im Bereich der organisierten Kriminalität
gibt es noch viel zu tun. 150 unaufgeklärte Auftragsmorde in Bulgarien - das muss so ehrlich gesagt
werden - sind genauso wenig akzeptabel wie das Vorhandensein der Geldwäsche im Bereich der organisierten
Kriminalität.
All diese Hausaufgaben sind noch zu machen. Es wären aber keine Hausaufgaben, wenn sie von den Ländern
nicht zu Hause erledigt werden müssten. Beide Länder
können sich hierbei unserer Unterstützung sicher sein.
Es ist an der Zeit, den Regierungsberatern, die seitens der Bundesrepublik vor Ort tätig sind, zu danken.
Sie machen einen exzellenten Job. Insbesondere den
Kommissionsmitarbeitern, die jeden Tag in den Ländern
vertreten sind, danke ich. Auch die Stiftungen leisten
eine sehr wertvolle Arbeit. Parteiübergreifend leisten die
Parlamentariergruppen, die Deutsch-Rumänische Parlamentariergruppe unter dem Vorsitz von Frau Dr. Kastner
und die Deutsch-Bulgarische Parlamentariergruppe unter dem Vorsitz von Michael Stübgen, hervorragende Arbeit. Hier werden wertvolle Kontakte geknüpft und intensiviert.
({0})
Die Länder können sich unserer Unterstützung sicher
sein.
Es wurde vielfach gefragt, warum wir den Beitritt
nicht auf 2008 verschieben. Diese Option hat sich nie
ernstlich gestellt. Denn es war von vornherein klar, dass
viele Länder eine Verschiebung gerade im Hinblick auf
Bulgarien nicht mitmachen würden. Wenn Länder wie
Polen, Großbritannien, aber auch Österreich sagen, sie
würden eine Verschiebung nicht mitmachen, dann ist sie
im Falle von Bulgarien von vornherein gestorben und
auch im Falle von Rumänien nicht realistisch. Denn Rumänien hat durch engagierte Reformschritte Bulgarien in
den Reformanstrengungen überholt. Aber das macht
auch nichts.
Wir haben in den Verträgen alle Flexibilität. Wir haben Sicherungsklauseln, mit denen wir reagieren können. Herr Außenminister Steinmeier, es besteht, so
denke ich, unter den Kollegen die Erwartung, dass die
Sicherungsklauseln angewandt werden, und zwar mit
Beginn am 1. Januar 2007, wenn die Defizite noch vorhanden sind.
Das ist ein wichtiger Punkt, und zwar vor allem deswegen, weil wir Standards haben. Wir würden ein Erklärungsproblem gegenüber diesen beiden Ländern bekommen, wenn wir sie nicht jetzt anwenden würden, sondern
erst später. Sie würden uns dann zu Recht sagen: Moment einmal, das habt ihr doch schon vor einigen Monaten gewusst. Deswegen ist es wichtig, dass die Standards
gewahrt bleiben und wir, wo eben möglich - ich nenne
den Justizbereich und die Anerkennung von Strafurteilen -, die entsprechenden Reaktionen bekommen.
Es ist aber kein Beitritt zweiter Klasse. Auch das sei
in Richtung dieser Länder klar hervorgehoben. Beide
Länder werden vollwertige Mitglieder der Europäischen
Union mit allen Rechten und Pflichten. Denn zum Beispiel auch wir in Deutschland - siehe das Maastrichtverfahren - sind bestimmten Reglements ausgesetzt.
Mir ist die Stimmung in den Fraktionen und auch in
der Bevölkerung hinsichtlich erneuter Erweiterungsschritte sehr wohl bekannt. Aber ich mahne vor allem
uns dazu an, diese Diskussion nicht fatalistisch zu führen. Die Europäische Union ist ein Erfolgsmodell. Das
wurde von Ihnen, Herr Minister, aber auch vom Kollegen Löning zu Recht hervorgehoben. Friede, Freiheit
und die Wahrung der Demokratie - dies mussten diese
Länder in ihrer Geschichte entbehren - sind keine
Selbstverständlichkeit und moderner denn je. Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, vorangehen.
({1})
Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben zu Recht
darauf hingewiesen, dass sich uns enorme Chancen eröffnen, zum Beispiel Absatzmärkte für unsere Wirtschaft, auch für die mittelständische Wirtschaft. In diesem Bereich geht Österreich sehr viel pragmatischer
voran. Das nur einmal nebenbei gesagt. Auch für die
mittelständische Wirtschaft im Maschinenbau eröffnen
sich Chancen. Alle reden von China und von Indien.
Doch hier geht es um Absatzmärkte, die direkt vor unserer Haustür liegen. Immerhin gab es in den letzten fünf
Jahren allein in Rumänien ein kumuliertes Wirtschaftswachstum von über 40 Prozent. Das sollte an dieser
Stelle einmal erwähnt werden.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Stabilität, die
wir hinzugewinnen, insbesondere im Bereich des
Schwarzen Meeres. Die Schwarzmeerpolitik gehört bei
uns in Deutschland ganz oben auf die politische Agenda.
Die Republik Moldau führt in unserer Diskussion bislang fast ein Schattendasein, rückt aber durch den Erweiterungsschritt glücklicherweise näher an uns heran. Da
tun sich Probleme auf, über die wir an anderer Stelle
dringend reden sollten.
Letztlich ist es so - damit möchte ich schließen -,
dass wir seitens der Politik immer nur die Rahmenbedingungen setzen können. Das Bild, das in diesen
Rahmen hineingesetzt wird, obliegt den Menschen. Ein
Europa von unten aufzubauen, ist deswegen dringender
denn je erforderlich. Ein steigender Tourismus, Städtepartnerschaften und Schüleraustausch - all das gehört
dazu. Ich denke, dann werden wir Europa sehr erfolgreich in die Zukunft führen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hakki Keskin, Fraktion
Die Linke.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Bundesaußenminister! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, dass wir gemeinsam, also interfraktionell,
mit Bulgarien und Rumänien zwei neue Mitglieder im
Kreis der Europäischen Union begrüßen.
Die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft hat beide
Länder zu enormen Reformleistungen beflügelt; das ist
unbestreitbar. Die Menschen in Rumänien und Bulgarien
profitieren schon heute von wirtschaftlichem Aufschwung, sozialen Errungenschaften und Verwaltungsreformen.
Ebenso begrüße ich die Reformbemühungen im Bereich der Justiz, bei der Korruptionsbekämpfung und
beim Vorgehen gegen Kriminalität, die in beiden Ländern unternommen wurden. Allerdings darf die Umsetzung dieser Reformen mit dem EU-Beitritt keinesfalls
erlahmen; vielmehr muss sie energisch fortgeführt werden.
Bei allen Meinungsverschiedenheiten, die es zwischen den Fraktionen dieses Hauses gibt, können wir
festhalten: In den EU-Mitgliedstaaten herrscht seit Jahrzehnten Frieden. Ich hoffe, dass unsere Kinder den Krieg
nie am eigenen Leibe erfahren müssen.
({0})
Diesen großen historischen Gewinn haben wir der europäischen Idee zu verdanken.
Dennoch dürfen wir über die aktuelle Krise der Europäischen Union nicht hinwegsehen. Der vorgelegte Verfassungsvertrag ist, wenn auch noch nicht endgültig
gescheitert, so doch auf absehbare Zeit von einer Umsetzung weit entfernt. Dies ist weder ein Vermittlungsproblem noch ein politisch-administratives Problem. Es
ist so, dass die Menschen in Frankreich und in den
Niederlanden gegen diesen Entwurf eines Verfassungsvertrags votiert haben. Diese Signale müssen ernst genommen werden. Daher ist es dringend geboten, als essenziellen Bestandteil des Verfassungsentwurfs eine
Sozialcharta zu verankern.
({1})
Die Fraktion Die Linke hat zu Recht stets ein soziales
und demokratisches Europa eingefordert. Europa darf
nicht als ein grenzenloser Wirtschaftsraum verstanden
werden, in dem Großkonzerne ihre Profitinteressen zulasten großer Teile der Bevölkerung durchsetzen können.
({2})
Die Bürger wollen ein soziales Europa. Dies ist eine
große zivilisatorische Errungenschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen. Die
Menschen erleben und beobachten mit großer Beunruhigung, wie ohnmächtig die Politik ist und dass sie sogar
einseitig zugunsten der Wohlhabenden agiert.
({3})
Sie nehmen mit großer Sorge zur Kenntnis, dass die Umverteilung von unten nach oben zur angeblich unvermeidlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird. Darüber
haben wir heute bereits diskutiert.
Ein aktuelles Beispiel: Nachdem die Stromnetze liberalisiert wurden, benutzen nun vier Konzerne ihre Oligopolstellung auf dem Energiesektor, um willkürlich die
Preise hochzutreiben. Unter den in Deutschland in astronomische Höhen gestiegenen Preisen für Strom und Gas
leiden vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende und kinderreiche Familien.
({4})
Wie wehrt sich die Bundesregierung hiergegen? Was tut
die EU? Bislang wenig oder nichts. Die Bürger erwarten
von ihren Regierungen, dass diese den Sozialstaat und
die sozialen Rechte zum unverzichtbaren Bestandteil erheben und soziale Gerechtigkeit als Kompass und Tugend Europas verstehen.
Auch was den EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien angeht, haben, wie wir alle wissen, viele Menschen
Ängste und Sorgen. Sie fürchten Lohndumping und zunehmenden Lohndruck. Das sind berechtigte Ängste der
Arbeitnehmer und der Arbeitslosen, die wir ebenfalls
ernst nehmen müssen.
({5})
Die EU wäre durchaus in der Lage, durch gesetzliche
Rahmenbedingungen Lohndumping und Lohndruck entgegenzuwirken. Deshalb brauchen wir einheitliche Standards in den EU-Ländern. Um es deutlicher zu sagen:
Die Mobilität der Arbeitnehmer darf nicht zur Senkung
der Löhne in den alten EU-Ländern führen.
({6})
Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Europa, in
dem die sozialen Interessen der Menschen vor dem Interesse der Großkonzerne daran, ungehemmt Gewinn zu
machen, geschützt werden.
({7})
Die politische und wirtschaftliche Integration Europas
muss eingebettet werden in eine Strategie der sozialen
Sicherung auf hohem Niveau. So steht für uns, Die
Linke, der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Kapital.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von uns haben sicherlich noch die Bilder im Gedächtnis von damals, als das Ceausescu-Regime in Rumänien zusammengebrochen ist, eine fürchterliche Diktatur, die die Menschen im wahrsten Sinne bis aufs Blut
ausgepresst hat und ein Land über viele Hungerwinter an
den Rand seiner Existenz gebracht hat. Wenn man sich
diese kaum mehr als 15 Jahre zurückliegenden Bilder in
dieser Stunde noch einmal vergegenwärtigt, dann erkennt man, was diese beiden Länder, insbesondere Rumänien, geleistet haben. 15 Jahre später steht so ein
Land an der Schwelle zu einem Beitritt zur Europäischen
Union. Hieran sieht man, wie die Kraft der Idee der
europäischen Integration, das Ziel, ein Teil dieses Europas zu werden, Menschen befähigen kann, ihre Lebenssituation zu verbessern. Ich glaube, wir müssen uns in einer Stunde wie heute dieser historischen Dimension
bewusst werden, um die Leistung dieser Länder würdigen zu können.
({0})
Zu Recht sind Bedenken geäußert worden, dass beide
Länder den Acquis communautaire so, wie wir ihn uns
vorstellen, noch nicht vollständig erfüllen. Das ist richtig
und das muss man auch deutlich sagen. Denn zu einer
Europäischen Union, wie ich sie mir wünsche, gehören
auch Ehrlichkeit und Offenheit zwischen den Partnerinnen und Partnern; gar keine Frage. Aber wir stehen in
dieser Stunde, in der wir über die Ratifizierung entscheiden, immer auch vor der Frage nach den Alternativen.
Der Außenminister hat zu Recht auf sie hingewiesen.
Wir wollen solidarisch mit diesen Ländern in Europa zusammenleben. Wir wissen, dass ein Zurückweisen die
innenpolitische Situation in diesen Ländern katastrophal
verändern würde. Daran können wir kein Interesse haben, als Deutsche nicht und als Europäer auch nicht.
Dies würde die ökonomische Situation destabilisieren
und die Standards, die wir mit Europa verbinden, eher
verschlechtern als verbessern.
Deshalb ist der Ratifizierungsprozess, mit dem wir
heute, wie ich hoffe, gemeinsam beginnen werden, alternativlos. Wir verzichten dabei aber nicht auf Konsequenzen. Ich glaube, das ist gerade in einer Situation wichtig,
in der viel über die Handlungsfähigkeit Europas gesprochen wird. Sie wird Europa nämlich häufig abgesprochen.
Man muss sich einmal anschauen, was wir aus den
Problemen bei den Erweiterungsverfahren gelernt haben. Wir haben bezüglich Bulgarien und Rumänien tatsächlich einen Schutzmechanismus entwickelt, der, wie
ich glaube, greifen wird. Aus meiner Sicht verdient
Europa das Vertrauen, dass es nicht blauäugig in Situationen hineinläuft, sondern dass es tatsächlich Schutzmechanismen entwickelt, die im Sinne des europäischen
Integrationsgedankens notwendig sind und durch die den
Ländern sowie den Menschen in diesen Ländern geholfen wird. Von daher glaube ich auch, dass Europa in vielen Teilen der konkreten Politik handlungsfähiger ist, als
einige Leute in ihren Sonntagsreden oder noch viel häufiger an den Stammtischen daherreden. Ich glaube, wir
brauchen uns nicht zu schämen.
({1})
Auf die Einzelheiten des Beitrittsprozesses will ich
jetzt nicht eingehen. Die Kollegen Krichbaum, Löning
und andere haben das schon detailliert getan, sodass ich
das nicht wiederholen muss. Wir wissen um die Probleme und wir haben das im Ausschuss auch mit dem
Kommissar Olli Rehn sehr intensiv besprochen.
Eines sollten wir aber nicht vergessen - ich finde, das
zeichnet die Debatte aus -: Die europäische Erweiterung
erfolgte nie ohne Probleme. Insbesondere in den Nachbarländern - beispielsweise in Frankreich, als es um
Spanien und Portugal ging - hat es immer große Probleme im Hinblick auf die Akzeptanz der Bevölkerung
gegeben. Wir wissen: Die Geschichte hat jedes Mal gezeigt, dass die Integration ein Erfolgsprojekt war, dass
all die Befürchtungen, die vorher verständlicherweise
geäußert wurden, in der Wirklichkeit nicht eingetreten
sind und dass Europa mit diesen Problemen immer gut
fertig geworden ist.
({2})
Das sollte uns Mut machen und das sollten wir auch
offensiv nach außen vertreten. Dieses Europa ist ein
Hoffnungsträger in der Welt. Es ist überhaupt nicht angesagt, dass wir kleinmütig unter dem Teppich durchmarschieren, wenn wir über Europa reden. Als Politiker
in Europa können wir auf diese Integrationsleistung stolz
sein.
Deshalb sage ich auch sehr deutlich: Die Erweiterungsdebatte ist für uns Bündnisgrüne mit diesen Beitritten nicht zu Ende. Es gibt viele europäische Länder, die
diese Erweiterungsperspektive brauchen, weil sie sich
selbst nur in diesem erweiterten Europa politisch und
ökonomisch entwickeln können. Das gilt ganz besonders
für den Balkan, das gilt aber auch für den Südosten
Europas. Über die Mechanismen, wie wir die Beitritte in
Zukunft gestalten, müssen wir sicherlich noch reden. In
einer Situation, in der der Beitritt die einzige Chance für
die entsprechenden Länder ist, Integration zu erreichen,
wäre es das Falscheste, was wir tun könnten, ihnen die
Tür vor der Nase zuzuschlagen.
({3})
Gerade den Ländern auf dem Balkan und in Südosteuropa müssen wir sagen: Es gelten die Kopenhagener
Kriterien und auch die Kooperationskriterien, die in
Kopenhagen nicht entsprechend definiert worden sind.
Mitglied einer Europäischen Union kann nur das Land
werden, das aus tiefster Überzeugung bereit ist, mit all
seinen Nachbarn in Frieden zu kooperieren. Europa ist
nicht das ökonomische Erfolgsprojekt oder das Sozialmodell für einige Leute, um sozusagen auch noch ein
bisschen von dem Kuchen abzubekommen. Europa ist
vor allem ein Friedensprojekt.
({4})
Deshalb geht es für den Balkan und für andere Staaten genau darum. Europa ist ein Friedensprojekt und jeder, der willkommen sein will - das wollen all diese
Länder -, muss begreifen, dass er mit seinen Nachbarn
friedlich kooperieren muss. Ansonsten wird Europa in
diesem Bereich nicht die Zukunft haben, die wir uns
wünschen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin aus Bulgarien! Sehr geehrter Herr Botschafter
aus Rumänien! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bulgarien und Rumänien sollen am 1. Januar 2007 der Europäischen Union beitreten. Ich freue mich, dass darüber
nun endlich Einigkeit herrscht. Dieses klare Ja ist überfällig. Es ist überfällig, dass wir den Weg für den Beitritt
frei machen.
Für meine Fraktion möchte ich betonen: Wir mussten
uns dieses Ja zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens
nicht lange abringen. Das Ja kommt uns auch nicht halbherzig über die Lippen. Nein, wir begrüßen den Beitritt
Bulgariens und Rumäniens nachdrücklich und uneingeschränkt. Wir freuen uns, dass beide Länder ab dem
1. Januar 2007 Mitglieder der Europäischen Union sind.
({0})
Getrübt wird diese Freude allein dadurch, dass sich
die Debatte um den heute vorliegenden Antrag so lange
hinausgezögert hat. Ich weiß nicht genau, ob es einige
Kollegen besonders spannend machen wollten. Ich bin
zwar ein Krimifan, aber in diesem Fall hätte ich gern auf
die Spannung verzichtet. Es wäre mir lieber gewesen,
wenn wir nicht die Letzten in der Europäischen Union
gewesen wären, die mit dem Ratifikationsverfahren beginnen.
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir heute im
Bundestag endlich das parlamentarische Verfahren zur
Ratifikation beginnen, mit dem wir - wie es richtig im
Titel unseres Antrags heißt - den „EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen“ wollen. Der Beitritt beider Länder wird ein großer Erfolg sein, auf den
wir alle zusammen werden stolz sein können.
Ich möchte hier noch einmal nachdrücklich betonen:
Erweiterung steht nicht im Gegensatz zur Vertiefung. Ich
sehe eine hohe Korrelation zwischen Erweiterung und
Vertiefung.
({1})
Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist der notwendige Abschluss der Osterweiterung, die 2004 mit
dem Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten sowie
Maltas und Zyperns begonnen hat. Die Osterweiterung
ist die selbstverständliche Fortführung einer Friedenspolitik. Sie war die Antwort auf die weltpolitische Situation nach dem Ende des Kalten Krieges und ein Garant
dafür, dass die EU auch in Zukunft Friedensmacht sein
kann. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Bulgarien und Rumänien schon in den letzten Jahren eine
wichtige Funktion bei der Stabilisierung der gesamten
Region hatten.
Beide Länder haben seit Ende des Kalten Krieges
nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch
Erhebliches geleistet. Sie haben eine enorme Transformationsleistung vollbracht. Sie haben den Übergang zu
Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen. Dabei wurden das politische System, das Rechtssystem und die
Gesellschaft einem grundlegenden Wandel unterzogen.
Ich glaube, einige von uns, die in ihrem Leben noch nie
von einer solchen tief greifenden Umwälzung betroffen
waren, können nicht ansatzweise nachvollziehen, was
die Transformation für ein Land, aber auch ganz persönlich für jeden seiner Bürger bedeutet.
Bei aller Unterstützung durch die EU: Die Leistungen
haben die Menschen in Bulgarien und Rumänien erbracht. Ich möchte als Beispiel Bulgarien anführen.
Kleine und mittelständische Unternehmen mussten Kredite aufnehmen, um ihre Betriebe umzustrukturieren und
an die hohen EU-Standards anzupassen. Das war sehr
schwierig, weil zur gleichen Zeit Banken zusammengebrochen waren. Das Gesundheitswesen und der Agrarsektor mussten total umstrukturiert werden. Der Agrarsektor musste sich nun nach den hohen hygienischen
Anforderungen der EU richten. Auch dies bedurfte einer
enormen Anstrengung und finanzieller Opfer. Die
Schwächsten der Gesellschaft haben am meisten gelitten. Rentner mussten mit 60 Euro im Monat wirtschaften. Erst in den letzten zwei Jahren, in denen die Wirtschaft in Bulgarien boomte, wurden die Renten um 5 bis
8 Prozent angehoben.
Auch im Bereich der Demokratie sind beachtliche
Fortschritte erzielt worden. Der Minderheitenschutz
wurde ausgebaut. Heute hat Bulgarien ein gut funktionierendes multiethnisches System. In Bulgarien sagt
man: Demokratie ist kein Lift, sondern eine steile
Treppe, die man hochgehen muss. Alle Bürger Bulgariens haben gespürt, was es heißt, diese Treppe hochgehen
zu müssen. Diese Transformationsleistungen würdigen
wir heute mit unserem Antrag. Für uns ist es heute eine
Debatte im Plenum; für Bulgarien und Rumänien ist es
ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem historischen
Datum.
Wir freuen uns, dass die Kommission Bulgarien und
Rumänien in ihrem letzten Fortschrittsbericht die Beitrittsreife bescheinigt hat, auch wenn in einigen Bereichen noch Mängel bestehen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich um eine
Mitgliedschaft mit gleichen Rechten und Pflichten
handelt. Ich finde es deshalb richtig, dass wir in dem
gemeinsamen Antrag festgehalten haben, dass die
Fortschritte Bulgariens und Rumäniens im Heranführungsprozess auch das Ergebnis der Perspektive einer
gleichberechtigten Teilhabe an den Rechten und Pflichten eines Mitglieds der Europäischen Union sind.
„Gleichberechtigt“ ist das Schlüsselwort, obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, dass der Beitritt nach den zwischen Bulgarien und Rumänien auf der
einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen
Seite vereinbarten Spielregeln erfolgen wird. Diese
Spielregeln besagen, dass der Beitritt Bulgariens und
Rumäniens erfolgt, wenn beide Länder ausreichende
Fortschritte in der Angleichung ihres politischen und
rechtlichen Systems gemacht haben.
Erweiterungskommissar Olli Rehn hat uns gestern im
Europaausschuss noch einmal bestätigt, dass die Fortschritte Bulgariens und Rumäniens für den Beitritt ausreichen. Aber auch die bestehenden Mängel werden von
der Kommission nicht verschwiegen, sondern klar benannt. Über diese Mängel können und wollen wir nicht
hinwegsehen. Wir fordern Bulgarien und Rumänien auf,
in ihren Bemühungen nicht nachzulassen und die bestehenden Probleme bis zum Ende dieses Jahres zu beheben. Auch das haben wir vereinbart.
Aber was passiert nach dem 1. Januar 2007? Am heftigsten wird derzeit über die Schutzklauseln diskutiert.
Dabei ist mir allerdings nicht klar, worüber wir streiten.
Für den Fall, dass die Mängel im Justizsystem und in der
Landwirtschaft auch nach dem Beitritt fortbestehen sollten, können die vereinbarten Übergangsmaßnahmen und
Schutzklauseln in Kraft treten. Ich betone: Die Schutzklauseln können in Kraft treten, sie müssen es aber nicht.
Ob die Schutzklauseln auf Antrag der Kommission
oder eines Mitgliedstaates in Kraft gesetzt werden, wird
in einem zweistufigen Verfahren entschieden. Bulgarien
und Rumänien müssen drei Monate nach dem Beitritt
- also bis Ende März 2007 - einen Bericht vorlegen, in
dem sie die Fortschritte darlegen, die sie erreicht haben.
Diese Fortschritte wird die Kommission überprüfen und
in einem eigenen Bericht niederlegen, der im Juni 2007
erscheinen und die Entscheidungsgrundlage für die
Schutzklauseln sein wird. Die Kommission hat dafür
Benchmarks bzw. Richtgrößen entwickelt. Anhand dieser Richtgrößen können wir entscheiden, ob die Schutzklauseln zur Anwendung kommen oder nicht.
An diesem Verfahren gibt es, glaube ich, nichts zu
deuteln. Insofern reichen nicht nur die Fortschritte der
beiden Länder für den Beitritt zum 1. Januar 2007, sondern auch die zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir unvoreingenommen und rational auf Bulgarien und Rumänien.
Es ist nämlich auch richtig, dass die Beitrittskriterien bei
beiden Ländern viel schärfer gehandhabt wurden als bei
den vorangegangenen Erweiterungsrunden. Es ist nur
redlich, auch das einmal anzusprechen.
({2})
Es stünde uns auch gut an, endlich die Perspektive zu
wechseln. Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist
keine Gefahr für die EU und schon gar nicht für die einzelnen Länder. Der Beitritt ist eine Chance für die Europäische Union als Ganzes und auch für Deutschland.
Bulgarien und Rumänien bringen der EU mehr an Stabilität und Sicherheit im gesamten südeuropäischen Raum
bis in den westlichen Balkan.
Ich jedenfalls freue mich, dass wir Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007 als Mitglieder der Europäischen Union und damit als Partner mit gleichen Rechten
und Pflichten und unter Anwendung der gemeinsam vereinbarten Spielregeln begrüßen können.
({3})
Das Wort hat Christian Ahrendt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, die bisherige Debatte hat eines gezeigt: Keiner bestreitet die Fortschritte Rumäniens und
Bulgariens. Dort ist ein enormer Reformprozess geleistet
worden.
Dass wir in der Lage sind, detailliert über den Reformprozess zu debattieren, haben wir der Europäischen
Kommission zu verdanken. Es ist das erste Beitrittsverfahren, in dem sehr detailliert beobachtet worden ist, wie
sich die Beitrittsländer entwickeln. Dieses Verfahren haben wir in erster Linie - auch in der Genauigkeit - dem
EU-Kommissar Olli Rehn zu verdanken.
({0})
Bei einem solch genauen Verfahren rücken nicht nur
die Erfolge in den Vordergrund. Vielmehr sieht man
auch die vorhandenen Schattenbereiche; diese wurden
bereits angesprochen. Ein wesentlicher Schattenbereich
ist die Justiz. Hierzu habe ich eine andere Meinung als
diejenige, die bislang geäußert worden ist. Wenn mit
dem 1. Januar 2007 der Beitritt wirksam wird, werden
die Justizakte in den Bereichen des Strafrechts und des
Zivilrechts im Wege der Anerkennung für andere europäische Staaten und damit für andere Staatsangehörige
automatisch Geltung beanspruchen. Wenn wir aber in
den Berichten lesen müssen - das ist gerade für das
Strafrecht relevant -, dass es noch keine unumkehrbare
Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere der Richter
gibt, dass es den Gerichtsverfahren nach wie vor an
Transparenz fehlt und dass die Ausbildung der Staatsanwälte und der Richter nicht ausreicht, um ein genaues
Verfahren durchzuführen, dann müssen wir uns darüber
Gedanken machen, wie wir mit der Situation umgehen.
Der Beitrittsvertrag eröffnet verschiedene Möglichkeiten. Die Kommission favorisiert die Möglichkeit,
nach einer weiteren Beobachtungsphase eine Entscheidung zu treffen. Ich glaube, dieser Weg ist falsch, weil er
keine Rechtsfolgen zeitigt und wir in dem Zeitraum, in
dem die Entscheidung vakant ist, mit Justizakten umgehen müssen. Wenn man sich den Beitrittsvertrag und insbesondere Art. 38 genau anschaut, stellt man fest, dass
die Schutzklausel im Justizbereich bereits am 1. Januar
2007 greifen kann. Hierfür bedarf es lediglich der Forderung eines Landes. Es kommt also nicht auf eine Kommissions- oder eine Ratsentscheidung an. Dann würden
Strafurteile und Haftbefehle nicht automatisch anerkannt.
Das wäre kein Beitritt zweiter Klasse, aber wir hätten
die Möglichkeit, die beigetretenen Länder aufzufordern,
in den kommenden Monaten in diesem sehr wichtigen
Bereich, in dem es unter anderem um unmittelbare Eingriffe in Persönlichkeitsrechte durch Strafrechtsakte
geht, das zu leisten, was in den Berichten vorgeschrieben
ist, beispielsweise die Strafverfahren besser zu organisieren und die rechtsstaatlichen Ansprüche zu gewährleisten. Ich glaube, an dieser Stelle wird man wesentlich
strikter vorgehen müssen, als es die Kommission vorgeschlagen hat. In diesem Sinne wird die Diskussion über
den Ratifizierungsprozess in den nächsten Tagen und
Wochen zu führen sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Eduard von
Bismarck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein für
Europa sehr erfreuliches Ereignis. Zum 1. Januar 2007
treten Rumänien und Bulgarien der Europäischen Union
bei. Dieser Erweiterungsschritt unterstreicht einmal
mehr die Attraktivität der Europäischen Union als politisches Projekt.
Gleichzeitig ist dieser Erweiterungsschritt mit einigen
Stolpersteinen verbunden. Die Kommission hat in ihrem
jüngsten Fortschrittsbericht vor drei Wochen klar gemacht, dass zwar die beiden Länder bereits große politische, soziale und wirtschaftliche Reformanstrengungen
unternommen haben, dass aber die Veränderungen dringend mit unverminderter Kraft fortgeführt werden
müssen. Nur wenn Rumänien und Bulgarien ihren Reformkurs konsequent fortsetzen, kann sich unser Zusammenleben in der Europäischen Union erfolgreich entwickeln.
Ein Beispiel: Bulgarien hat im August dieses Jahres
verstärkt Maßnahmen gegen den Menschenhandel ergriffen. Von nun an verbietet ein Gesetz den Handel mit
Schwangeren, deren Babys nach der Geburt verkauft
werden sollen. Das zeigt, dass sich beide Länder ihren
Problemen stellen und sie beherzt angehen. Dieses Beispiel deutet aber auch auf bestehende schwerwiegende
Defizite hin. Wir wissen heute, dass wir gut daran getan
hätten, abzuwarten, bis die Früchte der Reform geerntet
worden wären.
Es war sicher ein Fehler, im Beitrittsvertrag feste Termine für die europäische Mitgliedschaft zu nennen. Diesen Fehler sollte die EU künftig vermeiden.
Aber trotz aller Skepsis und trotz der Befürchtung,
dass die essenziell wichtigen Schutzklauseln des Beitrittsvertrages nicht rechtzeitig, nämlich erst nach dem
Beitritt der beiden Länder greifen, bin ich überzeugt davon, dass wir uns hier langfristig gesehen in einer - neudeutsch ausgedrückt - Win-win-Situation befinden. Warum? Weil der Exportweltmeister Deutschland und alle
anderen europäischen Staaten satte wirtschaftliche
Gewinne zu erwarten haben. Schauen Sie sich den
Kommissionsbericht zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der EU-Erweiterung an und Sie werden mir zustimmen.
Die Europäische Union wird durch diesen wirtschaftlichen Erfolg ihre Rolle als Stabilitätsanker Europas
weiter ausbauen können. Wir werden durch die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die Europäische
Union ganz Europa und den Balkan im Speziellen stabiler, sicherer und friedlicher machen. Wie genau soll das
geschehen? Der Handel zwischen Deutschland und Rumänien sowie zwischen Deutschland und Bulgarien ist
im vergangenen Jahr kräftig gewachsen. Im Vergleich
zum Vorjahr nahmen die deutschen Exporte nach Rumänien im ersten Halbjahr 2006 um 21 Prozent und die Importe von dort um 25 Prozent zu. Nach Bulgarien haben
wir im gleichen Zeitraum 10 Prozent mehr exportiert
und sage und schreibe 36 Prozent mehr importiert als im
Vorjahr. Das ist eine überaus erfreuliche Entwicklung.
Wir können davon ausgehen, dass sie sich mit Rumänien
und Bulgarien als neuen EU-Mitgliedern unvermindert
fortsetzen wird.
Doch damit nicht genug; denn steigende Im- und Exporte bedeuten nicht nur Wohlstand, sondern auch Stabilität und Sicherheit. Rumänien und Bulgarien profitieren davon in erster Linie. Mittel- und langfristig wird
die neu gewonnene Stabilität auf politischer, sozialer
und wirtschaftlicher Ebene aber auch auf die übrigen
Balkanstaaten abfärben.
({0})
Auch dies ist für Europa ein Gewinn; denn ein stabiler,
befriedeter Balkan ist für uns als Deutsche und Europäer
von vitalem Interesse. Da, so denke ich, sind wir uns alle
einig.
Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung aber noch
einen anderen Punkt ansprechen. Die negativen Ergebnisse der Referenden zum Verfassungsvertrag und Bürgerumfragen sind ein klares Zeichen: Sowohl in der
deutschen als auch in vielen anderen Bevölkerungen
schwindet das Vertrauen in die Europäische Union
und ihre Erweiterungsschritte zusehends. Die Menschen
haben Angst vor einer Invasion von Billiglohnarbeitern
aus den neuen Mitgliedsländern. Sie befürchten außerdem, ihre EU würde durch die mutmaßliche Grenzenlosigkeit unkontrollierbar, und sie sorgen sich um die Anerkennung regionaler Besonderheiten. Sie sehen sich
durch die Erweiterung schon an der Grenze zum Nahen
Osten und wollen sich damit nicht mehr identifizieren.
Diese Befürchtungen und Ängste verdecken leider häufig die Erfolge der europäischen Einigung. Wir haben
hier ein ernstes Kommunikationsproblem, das dringend behoben werden muss; denn mangelnde Unterstützung durch die Bevölkerung kann auch noch so sinnvollen Projekten und Unternehmungen den Garaus machen.
Das wissen wir alle.
Das Problem können wir nur lösen, indem wir allen
EU-Bürgern klar machen, dass sie Teil einer modernen,
bürgerfreundlichen Union sind, in der sie sich beruflich
frei entfalten können und in der Innovationen gefördert
werden. Zugleich müssen wir ihnen klar machen, dass
sie in der Europäischen Union auf der sicheren Seite
sind. Schließlich bekämpfen wir den internationalen Terrorismus und Kriminalität unnachgiebig. Darüber hinaus
muss die Europäische Union dringend darauf achten,
Kernbeschlüsse wie den Stabilitätspakt der Wirtschaftsund Währungsunion einzuhalten und den Beitrittskandidaten die strikte Erfüllung des Acquis communautaire
abzuverlangen.
Zu guter Letzt lassen Sie mich anmerken, dass wir
dringend grundlegend und nachhaltig über die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union debattieren müssen. Wir müssen uns unserer Kapazitäten bewusst sein.
In all diesen Punkten müssen wir an Klarheit gewinnen,
dementsprechend handeln und dies den Bürgern deutlich
vermitteln. Nur so können wir unseren Weg erfolgreich
gehen und unsere Glaubwürdigkeit wahren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur
Europäischen Union haben wir in diesem Haus bereits
öfter debattiert. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich
gleich zu den kritischen Tönen komme, bevor ich versuchen werde, auch einige versöhnliche zu finden.
Wir haben in unseren Debatten stets versucht, darauf
hinzuwirken, dass die Situation, die jetzt eingetreten ist,
möglichst vermieden wird. Ja, es gibt bemerkenswerte
Fortschritte in Bulgarien und Rumänien. Das ist ausdrücklich anzuerkennen. Ja, wir wollen auch den Beitritt. Aber es bestehen in einer Reihe von Fragen schwerwiegende Defizite. Die Kommission - so verstehe ich
ihre Analyse - kann beiden Ländern bis jetzt noch nicht
die vollständige Beitrittsreife bescheinigen. Das ist ein
Thema nicht nur für Bulgarien und Rumänien, sondern
auch für uns und die Europäische Union; denn wir kommen in Erklärungsnot, wenn wir nach Ratifizierung und
Anwendung des Vertrages den Beitritt zum 1. Januar
2007 verwirklichen wollen, obwohl Fragen offen bleiben.
Ich plädiere deswegen nachhaltig dafür, dass wir die
Defizite und die Fragen, die die Kommission selbst aufgeworfen hat, nicht ignorieren und mit einem Achselzucken abtun. Vielmehr sollten wir auf die offenen Fragen
überzeugende Antworten finden. Ich meine, das schulden wir der Glaubwürdigkeit unserer Erweiterungspolitik und das erfordert auch die Situation in der Europäischen Union und ihren Bevölkerungen. Es ist ein
Beitrag zur Akzeptanz der Europäischen Union und
der Erweiterungspolitik, wenn wir die offenen Fragen
sehr ernst nehmen.
Der Kommissionsbericht nimmt eine, wie ich finde,
kritische Analyse vor. Es ist zu begrüßen, dass die Defizite klar benannt werden. Ich bin nur der Meinung, dass
die Kommission unzureichende Schlussfolgerungen aus
ihrer eigenen Analyse zieht. Offenbar hat der Mut gefehlt, zu Konsequenzen zu greifen. Ich meine, dass es
Not tut, bereits zum 1. Januar 2007, also von Beginn des
Beitritts an, die in der Beitrittsakte zur Verfügung stehenden Schutzmechanismen zu aktivieren, um die offenen Fragen zu beantworten.
Natürlich liegt es zunächst in der Hand Bulgariens
und Rumäniens selbst, weitere Fortschritte zu erzielen.
Das betrifft die Unabhängigkeit und Effizienz des Justizwesens, die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, die Lebensmittelsicherheit in den Bereichen Tierkörperbeseitigung und Schweinefieber, aber
auch die Landwirtschaft, das integrierte Verwaltungsund Kontrollsystem, die Auszahlung von Direktbeihilfen. Sicher mit Differenzen zwischen Bulgarien und Rumänien; aber insgesamt sind beide aufgefordert, ihre Anstrengungen zu verstärken. Ich glaube, alles, was jetzt,
bis zum 31. Dezember dieses Jahres, noch erledigt werden kann, erleichtert auch die Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Erweiterung zu diesem Zeitpunkt.
Wir, die Europäische Union und auch der Deutsche
Bundestag, müssen uns an den Kriterien, die wir selbst
aufgestellt haben, messen lassen. Wir müssen diese
Frage gerade in dem sensiblen Bereich „Justiz und Inneres“ sehr aufmerksam diskutieren. Aus meiner Sicht ist
gerade dieser Bereich, der mit Rechtssicherheit zu tun
hat, ganz unabdingbar, nicht nur für die Bevölkerung in
Bulgarien und Rumänien, sondern auch für alle, die nach
der Erweiterung in engeren Kontakt mit diesen Ländern
kommen wollen, insbesondere für Investoren, die
Rechtssicherheit brauchen, wenn sie sich in diesen Ländern engagieren wollen.
Die Kommission hat in ihrem Bericht angekündigt,
zunächst weitere Stellungnahmen von Bulgarien und
Rumänien einzuholen und dann im Juni nächsten Jahres
einen weiteren Fortschrittsbericht vorzulegen. Sie
schreibt in ihrem jetzigen Bericht vom 26. September,
dass es dann, im Juni nächsten Jahres, erforderlich werden könnte, zu Schutzmaßnahmen zu greifen, beispielsweise die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zu
entbinden, Urteile gegenseitig anzuerkennen.
Ich meine, das ist keine schlüssige Argumentation.
Denn wenn die Kommission nach eigener Auffassung
im Sommer nächsten Jahres gehalten sein könnte,
Schutzklauseln zu aktivieren, dann ist es doch offenkundig, dass die zugrunde liegende Problematik nicht erst
dann eintreten wird, sondern bereits jetzt besteht. Deswegen ist es notwendig, dass wir Schutzmaßnahmen mit
Beginn des Beitritts zum 1. Januar 2007 ergreifen. Ich
glaube, allein das kann eine überzeugende Antwort auf
die inkriminierten Defizite im Kommissionsbericht sein.
Ich glaube, das ist auch aus deutscher Sicht ein brisantes Thema; denn es geht um die Fragestellung, wie
die Bundesregierung mit eigenen Staatsangehörigen umgeht, die in Kontakt mit dem Justizwesen in Bulgarien
und Rumänien kommen können. Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem - ich darf darauf hinweisen auch ein Untersuchungsausschuss in diesem Hause. Ich
plädiere dafür, genau hinzuschauen und die Thematik
ernst zu nehmen. Das, was ich fordere, nämlich Urteile
vorerst gegenseitig nicht anzuerkennen, eine Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vorerst
nicht vorzunehmen, vorsichtig zu sein beim Zugang zu
den Datenbanken von Europol und Eurojust, wäre keinerlei Einschränkung gegenüber Bulgarien und Rumänien im Vergleich zum Status quo, sondern lediglich eine
Aufrechterhaltung des Status quo in diesen begrenzten
Bereichen für einen begrenzten Zeitraum nach dem Beitritt. Das sollten wir uns wert sein. Ich appelliere an die
Bundesregierung, hierzu eine Initiative gegenüber der
Europäischen Kommission zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
noch Folgendes sagen: In der Abwägung bin ich ein Befürworter des Beitritts, auch zum 1. Januar 2007, weil
der Eiserne Vorhang erst dann vollständig beseitigt sein
wird, wenn Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union sind. Es ist ein Beitrag zur Demokratisierung und zur Stabilisierung der gesamten Region
in Südosteuropa, wenn Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Es gibt eine hoffnungsvolle wirtschaftliche Dynamik. Erwähnen möchte ich auch - damit komme ich
zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass es in Bulgarien
wie in Rumänien Gesellschaften gibt, die proeuropäisch
eingestellt sind und die auch für unser Land einige Sympathie hegen. Das sollten wir erwidern. Uns verbinden
mit Rumänien und Bulgarien enge historische und kulturelle Beziehungen. Das kann eine Basis für eine erfolgreiche Integration beider Länder in die Europäische
Union sein.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/2293, 16/2954 sowie 16/2997
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 16/2293
- Tagesordnungspunkt 6 a - soll zusätzlich an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisungen sind so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Siebter Bericht der Bundesregierung über
ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhardt
Müller-Sönksen, Florian Toncar, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
7. Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen
Beziehungen und in anderen Politikbereichen
- Drucksachen 15/5800, 16/1999, 16/3004 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Volker Beck ({1})
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Erika Steinbach, Carl-Eduard von
Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer,
Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen
- Drucksache 16/3001 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in Zentralasien stärken
- Drucksache 16/2976 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe hat in seine Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 16/3004 den Antrag der Fraktion der FDP
auf der Drucksache 16/1999 mit dem Titel „7. Bericht
der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in
den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen“ mit einbezogen. Über diesen Antrag soll ebenfalls abschließend beraten werden. Sind Sie damit
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
einverstanden? - Ich sehe, dass dies der Fall ist. Es ist
also so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Christoph Strässer von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Siebte Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen
und in anderen Politikbereichen, über den wir heute debattieren, ist wie bereits sein Vorgänger ein umfangreiches, hochinteressantes Kompendium geworden, ein
Kompendium, das man zur Pflichtlektüre zum Beispiel
im Politik- oder Gemeinschaftskundeunterricht an unseren weiterführenden Schulen machen sollte. Gerade angesichts vieler Ereignisse in unserem Lande wäre das
nicht wirklich verkehrt.
({0})
Denn es ist nach wie vor erschreckend, meine Damen
und Herren, wie wenig im Bewusstsein gerade junger
Menschen die Idee der Grund- und Menschenrechte
verankert ist, wie wenig wir uns selbst immer wieder
klar machen, dass Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind. Sie müssen auch bei uns immer wieder
aufs Neue verteidigt werden. Das erleben wir beinahe
tagtäglich. Ihre universale Wirksamkeit, die unmittelbarer Ausfluss der Würde des Menschen, eines jeden
Menschen auf dieser einen Erde ist, ist noch nicht überall erkämpft worden. Nachrichten über schlimmste Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt füllen
deshalb immer wieder die Schlagzeilen.
Der Siebte Menschenrechtsbericht dient der kritischen Analyse der Aktivitäten der Bundesregierung zur
Durchsetzung der Menschenrechte auf globaler Ebene,
aber auch in unserem Land selbst. Ich bedanke mich deshalb im Namen der SPD-Fraktion ganz ausdrücklich
beim Auswärtigen Amt und seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die dieser Aufgabe mit großem Verantwortungsbewusstsein und, wie ich finde, mit einem nicht nur
vorzeigbaren, sondern guten Ergebnis gerecht geworden
sind.
({1})
Erstmals enthält der Bericht als integralen Bestandteil
einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte,
wie dies der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode gefordert hat. Dieser nationale Aktionsplan stellt eindeutig einen Fortschritt für die Menschenrechtsarbeit in Deutschland dar. Denn er dokumentiert
den politischen Willen, menschenrechtliche Themen an
herausragender Stelle in der Regierungspolitik zu verankern. Darüber hinaus stellt auch dieser nationale Aktionsplan ein öffentliches Dokument mit hohem Bildungswert dar, das den allgemeinen Diskurs über
menschenrechtliche Themen fördert und zur Bewusstseinsschärfung beiträgt und - last, but not least - die
Möglichkeit zur Evaluierung nicht nur eröffnet, sondern
sogar vorsieht. Wir werden darüber in den nächsten Jahren sicherlich noch an der einen oder anderen Stelle diskutieren.
Im Aktionsplan wird an zentraler Stelle die weltweite
Ächtung der Todesstrafe als eines der Leitprinzipien
deutscher Menschenrechtspolitik hervorgehoben. Und
dies zu Recht! Das menschliche Leben, die Würde des
Menschen sind unantastbar, und zwar auch gegenüber
solchen Menschen, die sich ihrerseits nicht an solche Regeln halten.
Staatliche Verantwortung bietet niemals und nirgendwo einen rechtlich legalen oder moralisch legitimierten Ansatz zur Vernichtung menschlichen Lebens.
Dieser Grundsatz gilt und - das sage ich ganz deutlich muss gelten, unabhängig vom Stand der Entwicklung
der jeweiligen Gesellschaft. Die meisten Hinrichtungen
finden nach wie vor in China statt, gefolgt vom Iran, von
Saudi-Arabien und - das muss man sagen - von den Vereinigten Staaten von Amerika.
Wir werden weiterhin in den Rechtsstaats- und
Menschenrechtsdialogen mit China und mit dem Iran
die Todesstrafe kritisch zur Diskussion stellen. Das
macht auch Sinn, wenn man sich vor Augen hält, meine
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass in diesen Ländern auch Minderjährige und geistig
Behinderte öffentlich hingerichtet werden. Solche Bilder
gehören nicht zu einer humanen Gestaltung der Welt.
Dagegen müssen wir an allen Stellen protestieren.
({2})
Eine weitere große Herausforderung, der sich die
deutsche Menschenrechtspolitik in der derzeitigen
schwierigen weltpolitischen Lage stellen muss, ist die
Verteidigung der Menschenrechte gerade auch in Zeiten
des globalen Terrorismus. Der Siebte Menschenrechtsbericht widmet dieser Frage verdienstvollerweise viel
Raum. Die Terrorismusbekämpfung, die nötig ist, darf
nur unter Berücksichtigung des nationalen Rechts wie
des Völkerrechts stattfinden. Sonst vergibt sie ihre rechtliche und ethische Legitimation.
Gerade in dieser Auseinandersetzung besteht die existenzielle Gefahr der Aufweichung rechtsstaatlicher
Grundprinzipien. Einen solchen „Erfolg“ dürfen wir terroristischen Gruppen nicht gönnen.
({3})
In diesem Zusammenhang ist auch die national wie
international geführte Debatte über das Folterverbot
von großer Bedeutung. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die endlich erfolgte Zeichnung
des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention
durch Außenminister Steinmeier im September zu Beginn der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Dies ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt im Interesse der
Glaubwürdigkeit unserer eigenen Menschenrechtspolitik
nach innen wie nach außen. Wir werden - das ist ein
Versprechen, keine Drohung - die Einrichtung der entChristoph Strässer
sprechenden Präventionsmechanismen sehr sorgfältig
begleiten und dafür sorgen, dass sie im Sinne der Vereinbarungen der Vereinten Nationen wirken können.
({4})
Allerdings muss uns in diesem Zusammenhang die
Verabschiedung des US-amerikanischen Gesetzesvorhabens zur Behandlung mutmaßlicher Terroristen - ich
sage das ganz deutlich - zutiefst beunruhigen. Trotz einiger Fortschritte, die wir sehen, bleibt es demnach der
CIA erlaubt, Gefangene in unterkühlten Zellen mit kaltem Wasser zu überschütten oder so lange mit Dauerstehen und Schlafentzug zu zermürben, bis sie schließlich
zu Aussagen bereit sind. Obwohl der Wahrheitsgehalt
solcher unter Druck gemachten Aussagen zweifelhaft ist
- das wissen wir alle -, können Ankläger sie verwenden
und damit Unschuldige zur Verurteilung bringen. Alle
Informationen, auch solche vom Hörensagen - alle Juristen wissen, wie schwierig das ist -, gelten als verwertbar, sind jedoch von der Verteidigung nicht überprüfbar.
Die internationale Rechtslage an dieser Stelle ist eindeutig. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt zur
Abgabe einer Erklärung eines gefangenen Menschen unterliegt einem absoluten Verbot, und zwar ohne irgendeine Ausnahme. Besonders deutlich ist Art. 2
Abs. 2 der VN-Konvention gegen Folter. Dieser bestimmt, dass auch außergewöhnliche Umstände, gleich
welcher Art, seien es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, nicht als Argument für Folter geltend gemacht
werden dürfen. Das ist gut. Das ist richtig. In diesem Zusammenhang bleibt für mich die Feststellung, dass in
Guantanamo nach Berichten vieler internationaler Organisationen bereits seit 2002 Grundrechte durch grausame und entwürdigende Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden.
Der Schutz der Menschenrechte ist immer und ganz
wesentlich der Schutz vor der Willkür durch den
Staat. Es kann nur eine Schlussfolgerung geben und die
lautet: Guantanamo - das hat glücklicherweise auch die
Bundeskanzlerin gefordert - muss so schnell wie möglich geschlossen werden. Die dort Einsitzenden müssen
rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden. Darüber
sollte sich der Deutsche Bundestag sehr einig sein.
({5})
Zum Schluss zu einem anderen Bereich. Ein besonderes Anliegen der Menschenrechtsarbeit der SPD-Bundestagsfraktion war und ist seit jeher, die Rechte der
Kinder weltweit, aber auch national einzufordern und
durchzusetzen. Der Siebte Menschenrechtsbericht gibt
diesem Thema einen dementsprechenden Stellenwert. Es
muss unsere Aufgabe sein, die Chancen von Kindern auf
ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu verbessern. Ihre Ausbeutung in vielen Regionen dieser Erde,
ihre Ausbeutung als Arbeitssklaven oder zu sexuellen
Dienstleistungen sowie ihr Missbrauch als Soldaten und
Soldatinnen in gewalttätigen Auseinandersetzungen sind
verabscheuungswürdige Menschenrechtsverletzungen,
gegen die wir stets vehement gekämpft haben und weiter
kämpfen werden.
Ich sehe es als einen großen Fortschritt an, dass es in
Teilen Afrikas, insbesondere in Norduganda, offensichtlich gelingt, diesen Zustand langsam, aber sicher, wenn
auch zu langsam, zu überwinden. Das haben wir zu meiner großen Freude gerade heute von Mitgliedern der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ erfahren. Daran sollten
wir weiter arbeiten.
({6})
Aber ich benenne an dieser Stelle auch einen innerstaatlichen Mechanismus, über den wir uns sehr schnell
verständigen müssen. Die Kinderrechtskonvention der
Vereinten Nationen ist auch im Sinne des Schutzes der
Kinder weltweit ein Zeichen von Achtung und Verantwortlichkeit der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber diesen Kindern. Insofern ist es wichtig - wir haben das im Rahmen der Berichterstattung diskutiert, seit
ich diesem Deutschen Bundestag angehöre -, dass
({7})
- ja, aber mehr kann ich nicht sagen - die noch bestehenden Vorbehalte Deutschlands zur Wirksamkeit der Kinderrechtskonvention endlich und ohne Einschränkung
zurückgenommen werden.
({8})
Ich sage das ganz deutlich. In den letzten Jahren gab es
ja immer wieder die eine oder andere Fechterei zwischen
den Fraktionen. Aber im Bereich der Menschenrechtsarbeit bietet die große Koalition keine Legitimation mehr
dafür, die Nichtrücknahme der Vorbehalte zu erklären.
Auf die einschränkungslose Rücknahme dieser Vorbehalte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
sollten wir uns schnellstens verständigen. Alles andere
wäre nicht gut für das Image Deutschlands in der Welt.
({9})
Meine Damen und Herren, der Siebte Bericht ist, wie
gesagt, aus unserer Sicht ein gelungenes Dokument. Wir
müssen seine Schlussfolgerungen umsetzen. Seneca, der
römische Philosoph, hat bereits gesagt: „Nicht der Wissende ist glücklich, sondern der Handelnde.“ Es gäbe
keine Fortschritte bei der Durchsetzung menschenrechtlicher Standards ohne die verdienstvolle Arbeit vieler
Nichtregierungsorganisationen. Deshalb gilt mein ausdrücklicher Dank gerade den vielen ehrenamtlich Tätigen, die in allen Teilen der Welt unter oftmals schwierigsten Bedingungen aktiv sind und einen wesentlichen,
einen unverzichtbaren Beitrag für die Menschen leisten,
die in existenzieller Not sind. Ich hoffe und wünsche,
dass es gelingt, die Zusammenarbeit zwischen Parlament
und den Nichtregierungsorganisationen, insbesondere
den im Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen, zu vertiefen - im Interesse der Menschen, die unsere Unterstützung weiterhin benötigen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn unserer heutigen großen Menschenrechtsdebatte möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei den
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, beim Auswärtigen Amt und beim Menschenrechtsbeauftragten der
Bundesregierung für die Zusammenarbeit zu bedanken.
Sie ist in der Regel sachorientiert und wenig von den typischen Reflexen gekennzeichnet, die man in anderen
Ausschüssen erlebt. Das empfinde ich als sehr angenehm.
Wir diskutieren heute den Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung. Die erste Frage, die sich stellt, lautet:
Was muss ein solcher Bericht leisten? Ich erkenne zwei
Hauptaufgaben. Es geht zum einen um die Information
der Öffentlichkeit, um Menschenrechtsbildung und um
Sammlung von Informationen über Menschenrechte.
Das leistet der Bericht zweifelsohne. Ich glaube aber,
dass das die weniger wichtige der beiden Aufgaben ist,
die der Bericht erfüllen muss, denn es gibt viele Quellen,
in denen man etwas über die Menschenrechtssituation
nachlesen kann. Wir können die Berichte der Nichtregierungsorganisationen zu Rate ziehen oder den Jahresbericht von Amnesty International. Das Auswärtige Amt
stellt Informationen über verschiedene Länder bereit und
wir haben das Deutsche Institut für Menschenrechte. Es
gibt eine Vielzahl von Quellen, die ähnliche Inhalte und
Aufgaben vorweisen.
Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Das ist die Aufgabe, die diesen Bericht legitimiert und ihn besonders
wichtig macht. Es geht um die Frage: Was tut die Bundesregierung im Bereich Menschenrechtspolitik? Ich
glaube, ein solcher Bericht muss noch sehr viel klarer,
als das bisher der Fall war, benennen, wo unsere Ziele
und unsere Schwerpunkte sind, was wir gemacht haben,
welcher Instrumente wir uns bedient haben und wie am
Ende der Erfolg aussah. Mit dem nationalen Aktionsplan, den es jetzt erstmals gibt, ist ein Anfang gemacht.
Dieser Aktionsplan stellt das Herz und die eigentliche
Begründung für die Existenz eines solchen Menschenrechtsberichts dar. Aus diesem Grund muss er im Zentrum stehen und darf aus meiner Sicht nicht durch ein
Übermaß an Fakten und sonstigen Zusatzinformationen
verwässert werden. Der Leser muss klar erkennen können, was die Bundesregierung am Ende getan und erreicht hat.
({0})
Natürlich sind in dem Bericht eine Vielzahl von Themen angesprochen. Aber ein Gedanke zieht sich durch,
der mir persönlich besonders wichtig ist, nämlich der
Gedanke des Zusammenhangs von Menschenrechtspolitik im Inneren und im Äußeren. Es ist ein Zusammenhang, den man eindeutig sehen kann. Bei manchen
Fehlentwicklungen kann man erkennen, dass er nicht
beachtet wird, etwa in den USA. Da sind Fehlentwicklungen im äußeren Bereich mit Fehlentwicklungen im
inneren Bereich einhergegangen. Das sollte uns in
Deutschland eine Lehre sein.
Natürlich sind wir in Deutschland immer noch auf einem sehr hohen Stand, was die Verwirklichung der Menschenrechte angeht. Aber wir hatten beispielsweise im
Berichtszeitraum auch eine Diskussion über das Folterverbot. Es gab auch in Intellektuellenzirkeln und in dem
einen oder anderen Feuilleton durchaus Menschen, die
vorgeschlagen haben, Folter unter eine Art Abwägung
zu stellen, das heißt, dass man zum Beispiel foltern darf,
wenn besonders schlimme Schäden oder Ähnliches drohen. Ich glaube, dass es Aufgabe unseres Ausschusses
und dieses Hauses ist, darauf zu achten, dass jede Form
von Relativierung des Folterverbots bei uns im Inland
keine Chance bekommt.
({1})
Die Glaubwürdigkeit, die dadurch entsteht, dass wir
uns im Inneren an unsere Werte halten, hilft uns natürlich auch im Äußeren. Das ist unbestreitbar. Wenn wir
uns im Inneren Dinge zuschulden kommen lassen, wird
das bei Gesprächen im Ausland sofort aufgegriffen. Das
zerstört die Basis, auf der wir argumentieren.
Deswegen hat es mich schon geärgert, als vor einiger
Zeit bekannt wurde, dass deutsche Beamte in Guantanamo und auch in Damaskus in Gefängnissen Verhöre
vorgenommen oder sich an solchen Verhören beteiligt
haben; denn das führt dazu, dass uns, wenn wir in den
entsprechenden Ländern unterwegs sind, diese Geschichte vorgehalten wird und wir dem Vorwurf der
Doppelmoral entgegentreten müssen.
({2})
Aus diesem Grunde halte ich es auch für ausgesprochen bedenklich, dass der Kontakt von deutschen Soldaten bei der Bewachung eines Gefängnisses in Kandahar dem Verteidigungsausschuss fünf Jahre lang nicht
bekannt geworden ist.
({3})
Jetzt stehen Vorwürfe im Raum, die aufgeklärt werden
müssen. Es stellt sich natürlich die Frage, warum das
bisher nicht geschehen ist. Die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“ schreibt heute völlig zu Recht:
Was wäre daran verwerflich gewesen - wenn sonst
nichts war?
Das Leidige an solchen Vorkommnissen ist immer, dass
das Verteidigungsministerium sich einem Verdacht aussetzt. Noch leidiger ist es, wenn an den Vorwürfen am
Ende überhaupt nichts dran ist. Deswegen kann ich nur
ausgesprochen bedauern und mein Missfallen ausdrücken, dass es wieder einmal so gelaufen und das Parlament nicht angemessen informiert worden ist.
({4})
Es ist nämlich so, dass man mit wenigen Handstrichen und durch wenige Einzelpersonen manches einreiFlorian Toncar
ßen kann, was viele andere an unterschiedlichsten Stellen im Bereich der Menschenrechtspolitik jahrelang
aufgebaut haben. Wir haben in Deutschland durchaus einen Ruf zu verlieren. Ich möchte nicht, dass sich solche
Vorgänge und auch solche Informationsverläufe wiederholen. Es kann auch nicht dabei bleiben, dass man diese
Vorgänge allein aufgrund von dienstlichen Erklärungen
von Soldaten aufklärt. Da wird schon etwas mehr Aufwand erforderlich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen zweiten Antrag, über den wir heute beschließen. Das ist ein
Antrag zum Menschenrechtsrat, der auf den ersten Erfahrungen mit diesem neuen Gremium beruht. Es gibt
gute Erfahrungen; das weiß ich. Ich möchte trotz allem
sagen, dass ich persönlich von den Entwicklungen, die
sich in Genf ergeben haben, insgesamt enttäuscht bin.
Ich glaube, dass es einige ernüchternde Entwicklungen
gegeben hat. Es droht die Entwicklung, dass wir Sitzungsperiode für Sitzungsperiode immer mehr dazu
übergehen, in diesem Rat Schadensbegrenzung zu betreiben und Schlimmeres zu verhindern. Das kann nicht
Sinn eines solchen Gremiums sein.
Der Antrag bringt in sehr klarer Sprache zum Ausdruck, dass es Defizite gibt. Schon in der Überschrift
heißt es: „Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit
schaffen“. Wirksamkeit scheint noch nicht gegeben zu
sein; Glaubwürdigkeit muss erst noch geschaffen werden. Da haben die Antragsteller Recht. Es ist durchaus
bemerkenswert, dass das auch in der Klarheit der Formulierung zum Ausdruck kommt.
In dem Antrag der Koalition wird zu Recht von der
großen Gefahr der Blockbildung gesprochen. Die Formulierung, dass die Mehrheit der Staaten des Südens die
Handlungsfähigkeit der Minderheit in unerträglicher
Weise einschränken würde, spiegelt durchaus wider, was
im Menschenrechtsrat abgelaufen ist. Da haben wir einige bedauerliche Fehlentwicklungen zu verzeichnen.
({5})
Für mich persönlich ist ganz wichtig, dass wir beim
Universal Periodic Review, also der regelmäßigen
Überprüfung aller Mitgliedstaaten durch den Menschenrechtsrat, weiterkommen. Eine Voraussetzung für die
Zustimmung zu diesem Kompromiss war, dass sich die
Mitgliedstaaten dieses Rates diesem Review als Erste
und zuvorderst stellen. Damit ist sichergestellt, dass ein
Land, das mitentscheiden kann, selbst überprüft worden
ist. Mit dieser Regelung habe ich die Hoffnung verbunden, dass die menschenrechtspolitisch problematischen
Staaten, die zwar Mitglied dieses Rates sind, die aber
nicht immer die konstruktivste Arbeit leisten, vielleicht
zu der einen oder anderen Verbesserung veranlasst werden können. Wenn dieses Instrument nachher nicht
greift, dann wäre ein Kernelement des neuen Menschenrechtsrats gescheitert. Das darf nicht passieren.
({6})
Ich möchte mit einem wichtigen Gedanken schließen,
der auch in diesem Antrag angesprochen wird. Es geht
um den Einfluss Europas auf die Menschenrechtspolitik. Durch neue starke Spieler, die auf die Bühne treten
- ich nenne beispielsweise China, das in Afrika sehr präsent ist -, wird es für uns Europäer zunehmend schwieriger, in Gesprächen mit Vertretern anderer Länder menschenrechtspolitische Positionen zu vertreten; denn es
gibt für diese Länder alternative Gesprächspartner, die
keine lästigen Fragen nach den Menschenrechten stellen.
Wir müssen die Diskussion über unsere Möglichkeiten in der internationalen Menschenrechtspolitik etwas
offener führen. Wir müssen aber auch klar sagen, dass es
nicht angehen kann, dass sich ein Land wie China, das
immerhin ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist - die Vereinten Nationen haben ja die
Sicherung des Weltfriedens als Aufgabe -, auf Dauer bei
allen menschenrechtspolitisch bedeutsamen Entscheidungen eine Zustimmung für selbstverständliche Maßnahmen - beispielsweise für das Vorgehen gegen den
Massenmord in Darfur - politisch vergolden lässt, indem
ihm an anderer Stelle Zugeständnisse gemacht werden.
Wenn alle so handeln würden, wäre keine internationale
Organisation mehr handlungsfähig. Aus diesem Grund
müssen wir dieser Tendenz entgegentreten.
({7})
Ich hoffe, dass die Bundesregierung dieses Thema
zum Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft macht. Da
diese Forderung auch im Antrag enthalten ist, gehe ich
davon aus, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zur Ratspräsidentschaft auf das Menschenrechtsthema ausführlich eingehen wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Hinblick auf das, was der Kollege Toncar über das Verhalten
von deutschen Soldaten und deutschen Beamten gesagt
hat, gerne wiederholen, was ich im letzten Jahr an dieser
Stelle dazu gesagt habe: Wenn sich deutsche Soldaten
und deutsche Beamte - an welcher Stelle auch immer nicht ordnungsgemäß verhalten haben, dann gehört das
auf den Tisch des Hauses und dann müssen diese Vorfälle aufgeklärt werden. Aber bevor das der Fall ist, rate
ich, dass wir sehr vorsichtig mit Vorwürfen sind und
Vorurteile vermeiden; denn das kann ganz schnell zum
Bumerang werden.
({0})
Was Herr Toncar gesagt hat und was der Kollege
Strässer angemerkt hat, zeigt: Es ist die Hauptaufgabe
eines Menschenrechtspolitikers, unangenehme Themen
deutlich, wenn auch diplomatisch allerorts und zu jeder
Zeit anzusprechen. Das gilt für das Ausland wie auch für
das Inland. Deshalb ist der Bericht der Bundesregierung
über die Menschenrechtspolitik, über den wir heute diskutieren, ein wichtiger Beitrag für eine Standortbestimmung. Er gibt einen Überblick und ist zugleich eine
Bewertung nationaler und internationaler Menschenrechtspolitik.
Wir alle wissen, dass die Erstellung eines solchen
Werkes ein hartes Stück Arbeit darstellt und großer Koordinationsarbeit innerhalb der Bundesregierung bedarf.
Deswegen möchte ich dem Auswärtigen Amt und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Erstellung
dieses Berichtes verantwortlich sind, ganz herzlich danken.
({1})
Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen; das
wird nachher mein Kollege von Bismarck tun. Ich will
hingegen kurz auf die Erwartungen für die künftigen
Jahre, die wir in einer interfraktionellen Beschlussempfehlung niedergelegt haben, zu sprechen kommen. Nachdem der nächste Bericht etwas außerhalb des sonstigen
Rhythmus im Jahr 2008 vorgelegt wird, wollen wir zur
zweijährigen Periode zurückkehren. Wir wollen weiterhin, dass die Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird und dass auswärtige und innenpolitische Themenbereiche kohärent beleuchtet werden.
Wir wollen, dass Themen weniger deskriptiv und noch
mehr auf die Handlungen und Handlungsabsichten der
Bundesregierung ausgerichtet werden, dass der Nationale Aktionsplan als Bestandteil des Berichtes erhalten
bleibt und dass die Tätigkeiten Deutschlands im Rahmen
der internationalen Menschenrechtspolitik dargestellt
werden.
Spätestens mit der internationalen Menschrechtspolitik bin ich wieder bei den unangenehmen Dingen, die
man ab und zu als Menschenrechtspolitiker sagen muss.
„Chance für die Menschenrechte“, das war eine der
Überschriften, mit der eine Zeitung den damals neu gegründeten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen
begrüßt hat.
Heute, nachdem zwei von drei der für dieses Jahr vorgesehenen Sitzungsperioden vorübergegangen sind, bietet sich ein Bild mit Licht und Schatten.
Auf der einen Seite gibt es positive Aspekte: die verstärkte Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen
am interaktiven Dialog, die erhöhte Tagungsfrequenz
und -dauer sowie die Bereitschaft, sich neben wichtigen
Verfahrensfragen mit mindestens ebenso wichtigen inhaltlichen Fragen zeitnah zu beschäftigen. - Auf der anderen Seite haben wir sehr viel Anlass zur Sorge: Die
aus der Menschenrechtskommission bekannte Blockbildung scheint sich bisher eher zu verstärken. Der Erhalt
bewährter Mechanismen, etwa der Sonderberichterstatter, scheint zumindest fraglich. Der Universal Periodic
Review, der, wie der Kollege Toncar richtig angemerkt
hat, integraler Bestandteil der gesamten Reform ist und
dafür sorgen soll, dass alle Mitgliedstaaten der UN mindestens alle fünf Jahre einer Überprüfung unterworfen
werden, wird nur wirksam sein, wenn wir es schaffen,
dass diese Überprüfung von unabhängigen Experten
durchgeführt wird, und zwar auf der Grundlage ausreichenden Datenmaterials. Das bedeutet, dass nicht nur
Regierungsdokumente der jeweiligen Länder, sondern
auch Dokumente von unabhängigen internationalen Gremien, Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsgruppen Berücksichtigung finden müssen.
({2})
Ich glaube, diese Punkte werden entscheidend dafür
sein, ob der Menschenrechtsrat Erfolg haben wird. Es
gibt keine Alternative. Entweder wir sind erfolgreich
oder wir werden scheitern. Ich weiß nicht, wie ein neuer
Weg aussehen könnte. Daran wird sich entscheiden, ob
der Rat eine Chance für die Menschenrechte ist oder sogar hinter die alte Menschenrechtskommission zurückfällt, was eine Katastrophe wäre.
Der Deutsche Bundestag sollte hier seine Stimme erheben. Der Antrag der Koalition bietet eine gute Grundlage hierfür. Deshalb kann ich ihn wärmstens zur Zustimmung empfehlen.
In diesem Zusammenhang möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass bei dem Besuch, den die Vorsitzende
und ich in Genf gemacht haben, die konstruktive Rolle
der Bundesrepublik bei den schwierigen Verhandlungen
immer wieder erwähnt worden ist. Auch dafür möchte
ich der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Genf recht
herzlich danken.
({3})
Auch das ist schon angesprochen worden: Es wird
noch mehr Verantwortung auf Deutschland zukommen.
Wir haben nicht nur die Ratspräsidentschaft bei der Europäischen Union, wir haben noch dazu den Vorsitz bei
der G 8. Das ist eine außergewöhnliche Situation, die es
uns einerseits ermöglicht, innerhalb des Rates EU-Positionen im Sinne deutscher Menschenrechtspolitik noch
stärker zu beeinflussen. Andererseits haben wir vielleicht auch die Möglichkeit, durch entsprechende Diskussionen in der G 8 dafür zu sorgen, dass die von mir
eben angesprochene Blockbildung ein bisschen aufgebrochen wird und Menschenrechte einen höheren Stellenwert bekommen.
Menschenrechten einen höheren Stellenwert zu geben
ist offensichtlich per se die sehr löbliche Absicht, die die
Fraktion der Grünen mit ihrem Antrag zu Zentralasien
verfolgt. Er ist vermutlich vor dem Hintergrund unserer
kürzlich beendeten Usbekistanreise entstanden. Der Antrag enthält sicherlich viele richtige Feststellungen. Über
die eine oder andere Schlussfolgerung wird man jedoch
im Laufe des Verfahrens noch diskutieren müssen, vor
allen Dingen darüber, wie realistisch und inwiefern sie
umsetzbar sein wird.
Zusammenfassend habe ich, meinen Aussagen zu Anfang folgend, viel Unangenehmes sagen müssen. Lassen
Sie uns mit der heutigen Debatte helfen, dass eines TaHolger Haibach
ges eine Situation eintritt, in der Menschenrechtspolitiker mehr Angenehmes als Unangenehmes über Menschenrechte sagen können.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile Kollegen Michael Leutert für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle
Fraktionen im Bundestag begrüßen, dass es den Menschenrechtsbericht gibt und dass er in den nächsten Jahren fortgeschrieben werden soll. Entscheidend ist aber
nicht, was darin steht - das ist meistens gut und bietet zumeist einen Handlungsfaden für die nächsten Jahre -,
sondern das, was nicht darin steht.
Die Beschlussempfehlung des Ausschusses gibt meines Erachtens zwei wichtige Impulse, wie man diese
Mängel beheben könnte: Der erste Aspekt ist - das
wurde schon angesprochen -, dass Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu betrachten ist; sie bezieht
sich nicht nur auf die Außenpolitik. In der Beschlussempfehlung werden insbesondere Frauen- und Kinderrechte angesprochen. Zweitens soll auch mit Blick auf
die Prozesse in der Europäischen Union mehr Gewicht
auf die Einhaltung der Menschenrechte gelegt werden.
An dieser Stelle möchte ich meine Kritik anbringen
und sagen, was ich mir für den nächsten Menschenrechtsbericht wünsche. Herr Haibach, Sie haben darauf
hingewiesen, dass es auch Aufgabe von Menschenrechtspolitikern ist, unbequeme Dinge zu sagen.
({0})
Das möchte ich tun, indem ich auf ein paar Defizite des
Berichts hinweise.
Ich wünsche mir, dass im nächsten Menschenrechtsbericht steht, dass Menschenrechtsverletzungen leider
auch in der Europäischen Union an der Tagesordnung
sind. Ich spreche die Problematik um das Baskenland
an. Amnesty International berichtet immer wieder davon, dass im Baskenland willkürliche Verhaftungen
stattfinden, dass dabei Menschen verachtende Methoden
angewandt werden, die in den Bereich der Folter fallen,
unter anderem die Bolsa-Methode, bei der dem Betroffenen eine Plastiktüte über den Kopf gezogen wird und er
einem Erstickungstod nahe gebracht wird, dass Zeitungen verboten werden, dass das Recht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt wird usw. Davon steht in diesem Bericht nichts.
Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass im Jahr
2001 während des G-8-Gipfels in Genua bei dem Überfall auf die Diaz-Schule mehr als 100 Menschen willkürlich verhaftet worden sind und unter unmenschlichen
Bedingungen eingesperrt und geschlagen wurden. Einige wurden so schwer geschlagen, dass sie noch heute
unter den Folgen leiden. Für die Verantwortlichen hatte
das bisher keinerlei Konsequenzen. Auch das wird in
dem Bericht nicht erwähnt.
Was die Querschnittsaufgabe betrifft, möchte ich auf
Folgendes hinweisen: Wie wir alle wissen, gibt es nicht
bloß bürgerliche, sondern auch soziale Menschenrechte.
Soziale und bürgerliche Rechte gehören untrennbar zueinander; ich glaube, darüber sind wir uns einig.
Wir hatten heute das Vergnügen, einer Debatte über
die insbesondere von der SPD neu entdeckte so genannte
Unterschicht in Deutschland beizuwohnen. Wie steht es
denn um die sozialen Rechte in Deutschland? Ich erinnere an Art. 22 der Menschenrechtserklärung, das Recht
auf soziale Sicherheit. Wie steht es in Deutschland darum? In der Unterschichtendebatte geht es um 11 Millionen Menschen. Es geht nicht um einige Wenige, die irgendwo in ihrem Zimmerchen sitzen. Wie steht es bei
diesen Menschen um die Einhaltung des Art. 23 der
Menschenrechtserklärung, um das Recht auf Arbeit?
Wie steht es um das Recht auf - das sage ich an die
Adresse der FDP - befriedigende Entlohnung, wie es in
der Menschenrechtserklärung heißt? Wie steht es um
Art. 24, Recht auf regelmäßigen - im Übrigen bezahlten Urlaub? - Das alles ist Inhalt der Menschenrechtserklärung, die nicht wir erstellt haben. Es sind Rechte, denen
wir immer wieder beipflichten und die wir gerne hochhalten. Aber wie kann ein Hartz-IV-Empfänger, der von
der Willkür seines so genannten Fallmanagers abhängig
ist, wenn er in den Urlaub fahren möchte, von seinem
Recht auf Urlaub Gebrauch machen?
Wie steht es um Art. 26, Recht auf Bildung? Im
Haushaltsausschuss haben wir heute über den Einzelplan 30 - Bildungs-/Forschungsministerium - debattiert.
In diesem Zusammenhang wurde deutlich gemacht, dass
in Deutschland nur noch 11 Prozent der Kinder aus
Schichten mit niedrigem Einkommen ein Studium aufnehmen können, aber ein Drittel der Kinder aus der
Schicht mit mittlerem, zwei Drittel aus der Schicht mit
gehobenem und über 80 Prozent aus der Schicht mit hohem Einkommen. Wie wird angesichts dessen das Recht
auf Bildung verwirklicht?
Wie steht es um Art. 27, Recht auf Teilnahme am
kulturellen Leben? Sie fragen sich vielleicht, was ich
damit meine. Gehen Sie zum Beispiel einmal mit Ihren
Kindern in den Zoo. Dort zahlen Sie 12 Euro Eintritt.
Das sind ungefähr 4 Prozent des Regelsatzes eines ALGII-Empfängers. Wie steht es darum?
Wie gehen wir mit Art. 12 um, Recht auf Nichtbeeinträchtigung seiner Ehre und seines Rufes? Dieses
Recht hat jeder Mensch. Doch diese Menschen hören
immer wieder, sie ruhten sich in der sozialen Hängematte aus - dieses Argument ist heute wieder gefallen oder seien antriebslos.
Letztendlich frage ich - auch das wurde schon von allen Rednern angesprochen -, wie es um Art. 9, den
Schutz vor willkürlichen Verhaftungen, und Art. 5, das
Folterverbot, steht. Wir müssen uns fragen - die Zeitungen sind heute wieder voll mit diesem Thema -, welche Rolle das KSK tatsächlich im Ausland spielt. War
das BKA zum Beispiel in syrischen Folterknästen und
hat dort Gefangene verhört?
({1})
Nutzen wir Informationen, die unter Folter erlangt wurden, oder nutzen wir sie nicht? Diese Fragen interessieren mich. Ich denke, dass sie im nächsten Menschenrechtsbericht mehr Gewicht finden sollten.
Ich komme zurück zur Querschnittsaufgabe. Ich habe
skizziert, was ich darunter verstehe. Eine Konsequenz
für das Parlament sollte sein, dass der Menschenrechtsbericht in Zukunft in allen Ausschüssen beraten wird,
insbesondere im Sozialausschuss. Wenn wir die Menschenrechte im eigenen Land vernachlässigen - das ist
für mich ein ernsthaftes Problem -, dann verwirken wir
auch das Recht, auf internationaler Ebene für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten.
Danke.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion
der Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade
nach dieser Rede muss ich sagen: Man darf nicht alles
mit allem vermengen und die Kriterien für die Bewertung der Situation in verschiedenen Ländern nicht durcheinander bringen. Das scheint Ihrem Redebeitrag leider
nicht ganz gelungen zu sein.
({0})
Ich finde es ganz entscheidend - dieser Bericht steht
exemplarisch dafür -, dass man Menschenrechtspolitik
immer innenpolitisch und außenpolitisch sehen und beachten muss. Wir müssen immer darauf achten, dass wir
die Menschenrechte auch in allen Bereichen gewährleisten und nicht Standards bestimmter menschenrechtspolitischer Konventionen verletzen. In diesem Bericht finden sich zum Beispiel Maßnahmen zum Folterverbot,
Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen und
für Kinderrechte, und zwar national wie international.
Deswegen halte ich den Ansatz des Berichts, das zusammen zu sehen, für richtig.
Ich bedauere sehr, Herr Gloser, dass Ihre Kollegen
aus dem Bundesinnenministerium dieser Debatte nicht
beiwohnen.
({1})
Das hätte gut zum Ausdruck gebracht, dass wir die Menschenrechtspolitik nicht nur als Kritik gegen andere Länder wenden, sondern dass sie ein Maßstab ist, den wir
auch an uns anlegen lassen und für dessen Nichteinhaltung wir uns kritisieren lassen. Wenn wir die Menschenrechte international als wesentliches Leitmotiv dafür,
wie Staaten mit ihren Bürgerinnen und Bürgern umgehen sollen, durchsetzen wollen, müssen wir deutlich machen, dass Menschenrechte kein Kulturprojekt des Westens sind, sondern dass Menschenrechte universell sind
und überall gelten. Menschenrechte beinhalten auch das
Recht auf Nahrung, das Recht auf Bildung und das
Recht auf Arbeit. Das ist richtig. Aber es darf vor allem
nicht sein, dass die Kinder, weil die Eltern eine „falsche“
politische Gesinnung haben oder einer falschen NGO
angehören, nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Das
sind im Kern die Fragen, über die wir im Zusammenhang mit der Menschenrechtspolitik diskutieren.
In vielen Ländern, die wir als Ausschuss besuchen,
würde Hartz IV für die Menschen ohne Einkommen und
ohne Arbeit schon eine erhebliche Verbesserung der sozialen Lage bedeuten.
({2})
Das sollte man einmal festhalten, bevor wir hier eine Debatte führen, als läge Deutschland mitten in Usbekistan.
Ich finde es sehr gut, dass sich die Koalition zum
zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit mit der Arbeit des
Menschenrechtsrates beschäftigt. Das ist in der Tat
wichtig; denn wir hatten höhere Erwartungen an diese
Reform geknüpft. Wir müssen die Arbeit des Rates aufmerksam verfolgen. Deshalb werden wir den Antrag der
Koalition unterstützen.
Obwohl vieles im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsrat unzureichend ist und wir deshalb genau
hinschauen und die Bundesregierung bei ihren Initiativen unterstützen müssen, dürfen wir die anderen Mechanismen, die uns zur Verfügung stehen, die OSZE, die
Europäische Union und auch den Europarat, nicht hintanstellen. Deshalb sind wir hier insbesondere in Bezug
auf Zentralasien initiativ geworden. Dort müssen die
Mechanismen der OSZE wirkungsmächtiger ausgestaltet
werden.
Im Rahmen unserer Reise nach Usbekistan haben
wir, beispielhaft für die gesamte Region, erfahren, wie es
dort um Demokratie und Menschenrechte steht. Usbekistan ist das Land mit den meisten Menschenrechtsinstitutionen. Zumindest gibt es dort die meisten Verwaltungen, die das Wort „Menschenrechte“ im Namen
führen. Das steht allerdings im umgekehrten Verhältnis
dazu, in welchem Umfang den Bürgerinnen und Bürger
in diesem Land Menschenrechte gewährt werden. Das
muss man offen aussprechen, damit die Verantwortlichen in den betreffenden Ländern merken, dass wir uns
als westliche Politikerinnen und Politiker von solcher
Nomenklatura und solchem Windowdressing nicht an
der Nase herumführen lassen.
Volker Beck ({3})
({4})
In Usbekistan kann man sehr gut beobachten, dass
man Menschenrechtsdialoge - auch mit Usbekistan
führen wir einen solchen Dialog - auf Dauer nicht ohne
Zielvorgaben führen darf. Andernfalls entwickeln sie
sich zu Veranstaltungen, auf die sich diese Regierungen
berufen können nach dem Motto: Diese Probleme werden angesprochen und gelöst. Es gibt keine Probleme,
die nicht zu lösen sind. - Mit solchen Sprachformeln
wird allerdings überdeckt, dass in puncto Einhaltung der
Menschenrechte nichts, aber auch gar nichts geschieht
bzw. dass sich die Situation sogar noch verschlechtert.
In Usbekistan können wir, ähnlich wie in Russland
- zwar auf einem anderen Niveau, aber mit derselben negativen Tendenz -, ebenfalls beobachten, dass die NGOs
neu registriert werden und am Ende dieses Prozesses
Hunderte oder sogar Tausende von ihnen unter den Tisch
gefallen oder in die Illegalität gerutscht sind. Solche Entwicklungen sind in den postkommunistischen Staaten
leider häufiger zu beobachten, insbesondere im Raum
der GUS.
Wir müssen deutlich machen: Wir lassen Menschenrechtsdialoge von diesen Regimen nicht instrumentalisieren, um sich dadurch zu legitimieren. Diese Dialoge
werden von uns nur dann fortgeführt, wenn sich dadurch
eine schrittweise Verbesserung der Situation der Menschen in den jeweiligen Ländern erzielen lässt.
({5})
Auch muss ganz klar sein, dass wir die Sanktionen
gegen Usbekistan nicht aufheben, solange man dort
nicht bereit ist, der OSZE wieder ein volles Mandat für
die Arbeit in diesem Land zu erteilen
({6})
und dem Internationalen Roten Kreuz freien Zugang zu
allen Gefängnissen und allen Gefangenen zu gewähren.
Wir müssen deutlich machen, dass wir, was bestimmte
Standards angeht, nicht mit uns spaßen lassen.
Ich war sehr beeindruckt - das will ich kritisch anmerken -, als uns die Vertreter der NGOs gesagt haben:
Deutschland ist in Europa das Land, das den Menschenrechten in seinen auswärtigen Beziehungen zu Usbekistan den geringsten Stellenwert einräumt. - Das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben und deutlich
machen, dass dem nicht so ist. Die Usbeken fühlen sich
sicher, weil unser Militärstandort in Termes ist. Er ist
wichtig für unseren Einsatz in Afghanistan. Aber wir
müssen auch einen Plan B in der Tasche haben. Wir dürfen durch Termes in unseren auswärtigen Beziehungen
zu diesem Land unter menschenrechtspolitischen Gesichtspunkten nicht erpressbar sein.
Christoph Strässer, Sie hatten vorhin darauf hingewiesen, dass die UN-Kinderschutzkonvention ein ganz entscheidender Punkt ist. Diese Konvention müssen wir
endlich vorbehaltlos umsetzen. Deshalb verstehe ich
nicht, warum die große Koalition gestern wieder ganz
groß gekniffen hat. Als wir unseren Antrag zur Abstimmung gestellt haben, haben Sie seine Behandlung mit einer fadenscheinigen Ausrede vertagt.
({7})
- Bitte schön, Herr Haibach.
Einen Moment. Es ist immer noch so, dass ich das
Wort erteile.
Ihre Redezeit, lieber Kollege Beck, ist abgelaufen.
Deswegen ist auch keine Zwischenfrage mehr möglich.
Doch, Herr Präsident.
Handeln Sie nicht mit mir! Ich habe die Uhr vor mir.
Ihre Redezeit ist überschritten.
Seien Sie doch gnädig!
Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Rede. Die Zwischenfrage wird nicht mehr zugelassen.
Kollege Haibach darf seine Frage also nicht stellen.
Ich stelle fest: Sie hätten das gestern auf den Weg
bringen können. Das haben Sie aber nicht getan. Sie haben sich herausgeredet, indem Sie angekündigt haben,
eine Anhörung zur Verankerung der Kinderrechte in der
Verfassung durchführen zu wollen. Dieses Thema hat
mit der UN-Kinderschutzkonvention aber nichts zu
tun. Bei der Kinderschutzkonvention geht es um den
Schutz von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen,
nicht um die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Sie hätten beides auf den Weg bringen können: das
eine mit Ihrer Anhörung, das andere durch Zustimmung
zu unserem Antrag. Schade, dass daraus nichts geworden ist. Aber vielleicht bekommen wir das noch hin.
({0})
Der Kollege Haibach bekommt nun Gelegenheit zu
einer Kurzintervention.
({0})
Herr Präsident! Herr Kollege Beck, als Parlamentarischer Geschäftsführer sind Sie jemand, der mit Verfahrensfragen vertraut ist und, wie ich weiß, auch großen
Wert darauf legt, zumindest wenn es gewisse Verfah5564
rensfragen betrifft. Deshalb möchte ich mir schon die
Bemerkung erlauben, dass wir gestern nicht in der Sache
über den Antrag abgestimmt haben. Wir haben, weil der
federführende Ausschuss - wir sind nicht der federführende Ausschuss - die Befassung mit diesem Antrag vertagt hat, dies ebenfalls getan. Darüber haben wir gestern
abgestimmt. Wir haben nicht in der Sache abgestimmt.
Ich finde, das hätten Sie der Redlichkeit halber sagen
können.
({0})
Kollege Beck, bitte schön.
({0})
Die Antwort heißt: Die Koalition hat in allen Ausschüssen das Gleiche getan. Sie hat unsere Fraktion und
die anderen Oppositionsfraktionen daran gehindert, diesen Antrag zu beschließen, in dem es um die Rücknahme
der Vorbehalte geht. Da sind die Mitglieder der Koalition im Menschenrechtsausschuss nicht besser und nicht
schlechter als die Mitglieder im Familienausschuss.
Bloß, die Argumente sind überall gleich schwach.
Es geht letztlich darum, dass diese Vorbehalte zurückgenommen werden. Man kann nicht darauf verweisen,
dass es in einem anderen Gremium, in der Kinderkommission, eine Anhörung über die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung gebe. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, außer dass das Wort „Kinder“ in
beiden Titeln vorkommt. Deshalb ist es eine faule Ausrede dafür, dass Sie als Koalition nicht in der Lage sind,
sich in dieser Frage abschließend zu positionieren. Im
federführenden Ausschuss hat man zudem gesagt, man
müsse einmal abwarten, was bei dieser Anhörung herauskommt. Vertreten Sie die Position, wie Christoph
Strässer sie hier deutlich gemacht hat, dass die Vorbehalte zurückgenommen werden können? Oder wollen
Sie abwarten und zu neuen Erkenntnissen gelangen, was
am Ende bedeuten könnte, dass Sie an den Vorbehalten
festhalten wollen? Was ist denn nun die Position der großen Koalition in der Frage der Vorbehalte bei der Kinderschutzkonvention? Die Antwort darauf sind Sie mit
Ihrer Kurzintervention leider schuldig geblieben.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem
Kollegen Christoph Strässer.
Herr Kollege Beck, es ist schön, mit welcher Eloquenz Sie hier das Versagen Ihrer eigenen Leute in den
letzten beiden Legislaturperioden zum Ausdruck bringen. Sie wissen genau, dass wir im Deutschen Bundestag
die alte Bundesregierung mindestens zweimal aufgefordert haben, diese Vorbehalte aufzuheben. Sie wissen
auch genau, dass das unter Ihrer Regierungsbeteiligung
nicht stattgefunden hat. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, in dieser wichtigen Frage ein Schaugefecht zu
veranstalten. Wir wollen und schaffen das in dieser Legislaturperiode mit dieser Koalition.
({0})
Kollege Beck, in aller notwendigen Kürze.
({0})
Die Geschäftsordnung, Herr Präsident, gesteht mir
hierfür drei Minuten zu. Sie wären sicher besser weggekommen, hätten Sie vorhin die Zwischenfrage zugelassen.
({0})
Ich muss mich auch an die Geschäftsordnung halten.
Das will ich, ohne den Präsidenten zu kritisieren, anmerken. - Ich will trotzdem in aller Kürze sprechen und
mein Rededeputat nicht ausschöpfen.
Lieber Herr Strässer, die alte Koalition hat im Bundestag immerhin beschlossen, diese Vorbehalte zurückzunehmen. Wir haben uns nicht gescheut, zu sagen, welche Auffassung wir haben, obwohl es schwierig war und
Otto Schily beinahe aus dem Fenster gesprungen wäre.
({0})
Dass das nachher von der Administration nicht vollzogen wurde, steht auf einem anderen Blatt.
Sie hätten unseren Antrag gestern beschließen und
dann dafür sorgen können, dass er von der Regierung
endlich vollzogen wird; denn Otto ist ja nicht mehr da.
({1})
- Nicht in der Regierung.
Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Eduard von
Bismarck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte fast gesagt: Jetzt ist Otto
wieder da. So hieß mein Ur-Ur-Großvater.
Wir beraten heute die Beschlussempfehlung zum
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Papier ist
bekanntlich geduldig. So könnte man geneigt sein, den
immerhin 370 Seiten starken Bericht der Bundesregierung auf den Lesestapel für die nächste Sommerpause zu
legen.
Dies wäre allerdings ein fataler Fehler; denn der
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist das
wichtigste amtliche Dokument zum Zustand der Menschenrechte weltweit und in Deutschland. Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung legt Zeugnis ab
über Art und Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen
in aller Welt. Gleichzeitig stellt er dar, wie die Bundesregierung auf bi- und multilateraler Ebene aktiv wird, um
grundlegende Menschenrechte in der Welt zu fördern.
An dieser Stelle möchte ich der Bundesregierung und
insbesondere dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, sowie seinem Vorgänger
Tom Koenigs meinen herzlichen Dank für ihr Engagement aussprechen.
({0})
Deutschland hat in Fragen der Förderung von Menschenrechten international einen ausgezeichneten Ruf.
Dies darf für uns jedoch kein Ruhekissen sein. Ein Blick
in die Tagespresse lässt erahnen, dass der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung 2008 kaum dünner
ausfallen wird. Eine Vielzahl von Ereignissen, bei denen
Menschen um ihre grundlegenden Rechte gebracht werden, dürfen dies leider nicht zulassen.
Der Mord an der russischen Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Anna Politkowskaja vor zwei
Wochen hat international große Bestürzung ausgelöst. Es
kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es sich hierbei um einen politischen Mord gehandelt hat. Wie kaum
eine andere Journalistin war Anna Politkowskaja für
ihren Mut bekannt, Missstände wie Korruption und
Menschenrechtsverletzungen im russischen Militär, insbesondere in der Krisenregion Tschetschenien, anzuprangern. Auch wenn Präsident Putin eine Aufklärung
des Mordes angekündigt hat, bleibt ein fader Beigeschmack.
({1})
Die Äußerung Putins, die Ermordung Politkowskajas
schade Russland und den Behörden in Tschetschenien
mehr, als ihre Artikel es vermocht haben, verdeutlicht
zum wiederholten Male den Zynismus und die Hybris
des russischen Präsidenten. Und so verdient es unsere
Aufmerksamkeit, wenn einer der führenden Menschenrechtsberater von Präsident Putin, Oleg Orlow, aus diesen Äußerungen die Konsequenzen gezogen und sein
Amt niedergelegt hat.
Gleichzeitig muss es uns mit äußerster Besorgnis erfüllen, dass die russische Polizei laut Agenturberichten
vor einigen Tagen in der südrussischen Stadt Nasran eine
Sympathiekundgebung für Anna Politkowskaja gewaltsam aufgelöst und fünf Demonstranten festgenommen
hat. Dabei hatten die Teilnehmer der Kundgebung nur
dazu aufgefordert, die Mörder der Journalistin unverzüglich ausfindig zu machen.
Russland ist zwar nur ein Land von vielen auf der
Welt, in denen wir Verstöße gegen das Menschenrecht zu
beklagen haben. Aber die Vielzahl an Besorgnis erregenden Nachrichten in diesen Tagen rechtfertigt meiner
Meinung nach die besondere Aufmerksamkeit, die wir
gerade diesem politischen Partner widmen müssen.
({2})
Meine Damen und Herren, der Fall Politkowskaja
reiht sich in eine Serie von Morden an Journalisten in
Russland ein. In den Jahren 1996 bis 2005 sind in Russland 24 Journalisten von Auftragskillern umgebracht
worden. Was ist in diesem Land los, welches Mitglied
der UN und des Europarates ist und eine Vielzahl von
Menschenrechtskonventionen unterschrieben hat? Wir
dürfen nicht zulassen, dass Menschenrechtskonventionen zu Lippenbekenntnissen degradiert werden!
Lassen Sie mich an dieser Stelle nur ganz kurz auf das
Schicksal des in Russland inhaftierten Michail
Chodorkowski eingehen; denn ich weiß, dass wir uns
keinesfalls nur auf prominente Opfer von Menschenrechtsverletzungen konzentrieren dürfen. Die Vielzahl
der Missetaten auf dieser Welt findet im Verborgenen
statt. Dies geschieht leider in viel zu vielen Ländern. Opfer sind zu Tausenden meistens namenlose und entrechtete Menschen ohne Fürsprecher und Unterstützung. Wir
wissen, dass das leider so ist. Wir müssen das Schicksal
dieses Michail Chodorkowski dennoch verfolgen; denn
sollte Russland, welches derart mit der westlichen Staatengemeinschaft verbunden ist, in seinem eigenen Land
selbst das Menschenrecht eines so prominenten Opfers
missachten, dann wissen wir ungefähr, wie es um den
Rest der Welt steht, um das einmal ganz banal auszudrücken.
Diese Vorfälle zeigen, wie wichtig es ist, dass sich der
Westen mit geschlossener Stimme gegen Akte der Willkür und Unmenschlichkeit und für die Einhaltung von
Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahren einsetzt. Diese Aussage ist keine Banalität, sondern sie entspringt der Erkenntnis, dass der Westen massiv an außenpolitischem Einfluss verlieren wird, wenn wir unsere
Interessen und Wertvorstellungen nicht klar und geschlossen artikulieren und konsequent vertreten.
({3})
Folgendes - damit komme ich zur zweiten Vorlage,
die wir heute zu beraten haben - treibt mich außerdem
um: Im neu gegründeten UN-Menschenrechtsrat sind
die menschenrechtsfreundlichen Staaten mittlerweile in
der Minderheit. Der Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung, Günter Nooke, hat es Anfang der Woche auf einer Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion klar ausgeführt. Im UN-Menschenrechtsrat ist
mittlerweile Pakistan als Sprecher der Länder der Islamischen Konferenz zum Hauptakteur geworden. Die
45 Außenminister der Organization of the Islamic Conference, OIC, haben 1990 in Kairo eine Erklärung unterschrieben, die sich letztlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, weil die
Einhaltung der Menschenrechte unter den Vorbehalt der
Scharia gestellt wurde.
Viele dieser Staaten sind jetzt Wortführer im Menschenrechtsrat. Sie bilden einen starken Block, der mit
unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht viel gemein hat. China vertritt als ebenfalls
gewähltes Mitglied die Position, dass Staaten wegen ihrer kulturellen Hintergründe unterschiedliche Ansichten
zu Menschenrechten haben könnten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie soll es dann zu einer
universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte in der Welt kommen?
Hier darf die westliche Staatengemeinschaft nicht
wegsehen. An dieser Stelle müssen wir in Zukunft auch
bereit sein, Konflikte einzugehen, die wir jetzt noch zu
vermeiden versuchen. Wir sind es den Opfern von Menschenrechtsverletzungen schuldig. Wir sind es unter anderem Anna Politkowskaja schuldig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat beraten wir heute wieder einmal eine ganze
Schublade voll außerordentlich wichtiger Fragen. Auf
der einen Seite befassen wir uns mit dem Siebten Menschenrechtsbericht, über den wir uns schon vor einigen
Monaten in erster Lesung unterhalten haben. Auch ich
bin der Meinung, dass es ein sehr guter Bericht ist. Ich
schließe mich also dem Dank ausdrücklich an. Lieber
Herr Kollege von Bismarck, Sie gestatten, dass ich auch
noch Herrn Rothen, Leiter des Arbeitsstabs Menschenrechte im Auswärtigen Amt, und Tom Koenigs erwähne.
Der Bericht bezieht sich nämlich aufs letzte Jahr; Tom
Koenigs ist jetzt UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechte in Afghanistan. Das schließt überhaupt nicht aus,
dass wir große Erwartungen an den jetzigen Menschenrechtsbeauftragten, Herrn Nooke, haben.
Ich hätte mich gefreut, wenn er heute bei der Debatte
anwesend wäre. Wir alle stimmen darin überein, dass
wir eine Menge zusätzlicher Erwartungen an den nächsten, also den Achten Menschenrechtsbericht haben. Erwartungen richten wir auch an die Bundesregierung, die
die Präsidentschaft in der Europäischen Union und in der
G 8 im Jahre 2007 innehat. Wir beraten auch über die
Menschenrechte in Zentralasien. Darüber werden wir
uns noch häufiger unterhalten. Außerdem geht es um
den Zustand des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Er bekümmert uns außerordentlich.
Verehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Geschäftsführer, ich fände es gut, wenn wir
einmal eine Menschenrechtsdebatte führen könnten, in
der wir auf die Details eingehen und uns nicht mit einem
großen Strauß von Fragen beschäftigen. Es tut nämlich
der Seriosität der Menschenrechtsarbeit nicht unbedingt
gut, wenn man immer Zentralasien, die Vereinten Nationen, den Menschenrechtsrat, die Menschenrechtspolitik
der Bundesregierung - sei sie noch so gut - und andere
Fragen in nur einer Stunde abhandeln muss. Das deutet
nicht unbedingt darauf hin, dass man den Menschenrechten eine zentrale Stellung einräumt. Wir alle glauben jedoch, dass die Menschrechte eine zentrale Stellung
einnehmen sollten.
({0})
Ich darf noch einmal sagen: Es geht hier nicht um
Gutmenschen, es geht auch nicht allein um individuelle
Ansprüche. Die Fragen der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und aller anderen Freiheiten, übrigens nicht
nur in einem Land, sondern in Ost und West, in Europa,
in Russland und in anderen - auch westlichen - Ländern,
spielen hierbei eine große Rolle. Es geht auch um die
Frage der Rechtsordnung in Deutschland, in Europa,
aber auch um die globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte sind als Element der globalen Rechtsordnung unverzichtbar.
Sie wissen, dass der Hochkommissar für Menschenrechte des Europarates anwesend ist. Ich weiß, dass Kollege Lintner speziell dazu noch Stellung nehmen wird.
Es geht hier um einen der Bereiche, über die wir in aller
Ausführlichkeit reden müssen.
Viele von uns sind Mitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und haben deswegen
ein vitales Interesse daran, dass wir die Verzahnung der
nationalen und globalen Ebene nicht nur über die Europäische Union, sondern auch über den Europarat gut hinbekommen, dass die Institutionen des Europarates gesichert werden und dass die Menschenrechtspolitik in
Europa nicht durch das Aufsplitten in unterschiedliche
Verantwortungsbereiche geschwächt wird.
({1})
Ich möchte noch auf den Menschenrechtsrat eingehen. Der Antrag, den wir heute mit großer Mehrheit beschließen wollen, ist eine Art Bestandsaufnahme. Es ist
richtig - das ist schon erwähnt worden -, dass die Erwartungen sehr hoch sind. Die Resolution zur Schaffung eines Menschenrechtsrats, die die Generalversammlung
der Vereinten Nationen beschlossen hat, ist gut und gibt
Anlass zu hohen Erwartungen. Aber nach zwei Verhandlungssitzungen wird deutlich, dass es neben den erfreulichen Punkten - über die in der Regel weniger geredet
wird - auch Gefahren gibt. Das ist keine Frage. Diese
Gefahren sind schon mehrfach angesprochen worden;
ich glaube, das muss nicht wiederholt werden.
Wir sind in Genf durch Botschafter Steiner und seine
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tat hervorragend vertreten. Auch hier arbeitet die Menschenrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes in vorzüglicher Weise.
Aber um deutlicher zu machen, was wir im Bundestag
wollen, ist es, glaube ich, nötig, nicht nur die Gefahren
aufzuzeigen oder - wie Herr Toncar - mit leicht resignierendem Unterton festzustellen, dass sowieso nichts
daraus wird. Das kann man heute noch nicht sagen. Vor
allem liegt es nicht in unserem Interesse - weder im
deutschen Interesse noch im Interesse des Deutschen
Bundestages -, so zu argumentieren. Unser Ansatzpunkt
muss vielmehr darin bestehen, was wir bzw. die Bundesrepublik Deutschland tun können, um dem Menschenrechtsrat zum Erfolg zu verhelfen. Diese Frage ist in der
Tat noch nicht beantwortet. Ich denke, die Kolleginnen
und Kollegen aus allen Parteien, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, verfügen über beträchtliche Möglichkeiten und haben eine große Kreativität eingebracht.
Einige Anregungen will ich an dieser Stelle erwähnen. Die Blockbildung ist schon angesprochen worden.
Mich wundert das nicht, weil einer der Vorwürfe an die
Menschenrechtskommission in der Tat lautete, ihre Zusammensetzung habe sich nach den Blöcken gerichtet;
dadurch seien einzelne Regionen der Welt nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das ist korrigiert worden.
Wenn aber die Blockbildung in das neue System übernommen wird, dann kann sich an der bisherigen Situation nichts ändern. Deshalb müssen wir - das ist die erste
Forderung an die Bundesregierung - Verfahren und Strategien finden, damit sich die Blockbildung nicht verfestigt.
({2})
Der Europabeauftragte der Bundesregierung, Herr
Gloser, ist anwesend. Ich glaube, dass die Europäische
Union vergleichbare Möglichkeiten hat, weil sie in Menschenrechtsfragen immer noch die Koordinierung bis
zum letzten Semikolon vorantreiben muss, und eine
ganze Menge tun kann. Man wird innerhalb der EU im
nächsten halben Jahr in Menschenrechtsfragen nicht nur
über Verfahren, sondern auch sehr viel über Grundsatzfragen reden müssen. Denn sonst kann man nicht mit
den „like-minded“ Staaten aus anderen Regionen der
Welt reden.
Aber dabei soll es nicht bleiben. Ich denke, dass die
Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour,
auch die Unterstützung der Bundesregierung und des
Bundestages benötigt, die wir ihr sicherlich auch gewähren werden. Wir können das in den verschiedenen Gremien, in denen wir arbeiten, deutlich zum Ausdruck
bringen.
Zudem hat jeder von uns sehr viele Kontakte in den
Parteien, den Parlamentariergruppen und zu den verschiedenen Fachpolitikern und Fachpolitikerinnen.
Wenn wir es schaffen, unseren Partnern in Afrika, Lateinamerika und auch in Asien, wo es durchaus Staaten
gibt, denen die Menschenrechte in immer stärkerem
Maße am Herzen liegen, zu vermitteln, dass sich dies
auch im Menschenrechtsrat ausdrücken muss, dann hat
der Bundestag einen Beitrag dazu geleistet, die Blockbildung zu überwinden.
Das alles meine ich, wenn ich sage, dass es nicht genügt, das eine oder andere zu beklagen, wenn wir im
Deutschen Bundestag über Menschenrechtspolitik reden. Wir können nämlich selber das eine oder andere
tun.
Lassen Sie mich nach diesem Ausflug auf die globale
Ebene zum Inland zurückkehren. Ich teile die Auffassung derjenigen - ich weiß, dass sie in allen Fraktionen
dieses Hauses vertreten sind -, die sagen: Wir haben
auch bei uns die eine oder andere sehr gravierende Menschenrechtsverletzung bzw. Gefährdung von Menschenrechten zu beseitigen. Ich will einen Punkt aufgreifen,
den uns die Kirchen, die karitativen Organisationen und
insbesondere die Menschenrechtsorganisationen ständig
vortragen, denen wir in der Diskussion über den
Siebten Menschenrechtsbericht und in der Frage, was im
nächsten Menschenrechtsbericht stehen soll, so vieles
verdanken. Das ist die Tatsache, dass es eine große Zahl
illegal in der Bundesrepublik Deutschland lebender
Menschen gibt, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und zum Rechtsschutz haben und deren Kinder,
wenn überhaupt, nur einen eingeschränkten Zugang zu
den Bildungsmöglichkeiten haben. Zugang zu diesen
Bereichen zu haben, gehört aber zu den grundlegenden
Menschenrechten.
({3})
Meine Bitte ist, dass wir uns zusammen mit all denjenigen, die das aufgreifen wollen - das sind fraktionsübergreifend sehr viele -, damit vor der Veröffentlichung des
nächsten Menschenrechtsberichts befassen und den einen oder anderen Schritt hin zu einer Verbesserung der
Menschenrechtslage dieser Menschen gehen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Lintner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der bloße
Umfang des Siebten Menschenrechtsberichts der Bundesregierung - es sind immerhin 208 eng bedruckte Seiten - ein handfester und sehr konkreter Beleg dafür ist,
dass die Bundesregierung die Durchsetzung, die Geltung
und die Achtung der Menschenrechte als eine echte
Querschnittsaufgabe ihrer gesamten Politik begreift.
Diese Einschätzung wird durch den Inhalt bestätigt. In
dem Bericht wird sehr detailliert und geradezu akribisch
Bilanz gezogen und es werden Aktionsfelder für die
konkrete Politik aufgezeigt.
Lassen Sie mich genau an diesem Punkt ansetzen und
aufgrund meiner Erfahrungen als Vorsitzender des Monitoringausschusses der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats zwei konkrete Anliegen ansprechen, die
viel mit der praktischen Wirksamkeit und der Durchsetzung von Menschen- und Grundrechten im Alltag von
sage und schreibe 800 Millionen Menschen zu tun haben, die in den Mitgliedstaaten des Europarats leben.
Laut Aktionsplan hat sich die Bundesregierung die Stärkung der Zivilgesellschaft in aller Welt vorgenommen,
um, wie es heißt, einen unverzichtbaren Beitrag zum
Menschenrechtsschutz zu leisten. Genau in diese Richtung gehen meine Anregungen. Die Bundesregierung
könnte beispielsweise mehr als bislang tun, um die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg zu unterstützen. Er ist - ich habe es
bereits erwähnt - für die 800 Millionen Bürgerinnen und
Bürger in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats in vielen Fällen der einzige verlässliche Hoffnungsträger im
Kampf um die Achtung der Menschenrechte und die
letzte Instanz, wenn es darum geht, sich gegen den Staat
oder dem Staat zuzurechnende Übergriffe wirksam zu
wehren. 80 000 Klagen haben sich dort mittlerweile angesammelt. Damit steht das Gericht, das, wie ich vor
kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen habe, eigentlich Europas Trumpf in der Auseinandersetzung
über die Menschenrechte weltweit sein könnte, in Wirklichkeit vor dem Kollaps.
In ihrem Bericht findet die Bundesregierung durchaus
lobende Worte für die Menschenrechtsarbeit des Europarats und seines Gerichtshofs. Aber im Aktionsplan sucht
man vergebens das konkrete Versprechen, sich dafür einzusetzen, die chronische Misere des Gerichts durch eine
deutlich bessere sachliche und personelle Ausstattung
endlich zu beenden.
({0})
Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich
hier bietende Chance, sich international in Sachen Menschenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen,
zumal sich - ({1})
- Ist das mein Handy?
({2})
- So kann es gehen. Ich war überzeugt, dass es ausgeschaltet ist.
Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich
hier bietende Chance, sich international in Sachen Menschenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen,
zumal sich der dafür erforderliche zusätzliche finanzielle
Aufwand in einem vergleichsweise sehr bescheidenen
Rahmen bewegt.
({3})
- Meine Damen und Herren, wieder zurück zum nötigen
Ernst. - Es gäbe sogar eine Möglichkeit, die dafür benötigten Mittel anderweitig aufzubringen. Ich meine die
von uns allen für völlig überflüssig angesehene Einrichtung einer eigenen Grundrechteagentur der Europäischen Union.
({4})
Was der Europarat, was der Kommissar für Menschenrechte, was das Monitoringverfahren und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit Jahrzehnten
erfolgreich praktizieren und was diesen Institutionen zu
Anerkennung und Achtung in aller Welt verholfen hat,
droht nun durch eine Art Konkurrenzeinrichtung für den
Bereich der EU in den Hintergrund gedrängt zu werden.
Dabei sind doch alle EU-Mitgliedsländer auch Mitglieder des Europarats und damit ohnehin den Kontrolleinrichtungen und den Rechtsbehelfen des Europarats unterworfen. Es bedarf also überhaupt keiner zusätzlichen
EU-Grundrechteagentur. Die EU will dafür jährlich üppige 21 Millionen Euro ausgeben und die Einrichtung
mit sage und schreibe mehr als 60 neuen Planstellen ausstatten. Das alles könnte eingespart werden und nur ein
Bruchteil des dafür vorgesehenen Aufwands, abgezweigt
für die Arbeit des Gerichts in Straßburg, würde dieses
Gericht für alle Zukunft sichern und in seiner Arbeit unterstützen. Ich appelliere daher an die Bundesregierung,
sich trotz der bei der EU - ({5})
Das ist ja doch eine ganz schöne Melodie, nicht wahr?
Das ist die Tücke der Technik. Es tut mir Leid.
({0})
Ich appelliere daher an die Bundesregierung, sich
trotz der Beschlusslage, die sich mittlerweile bei der EU
ergeben hat, nachdrücklich für diese Lösung einzusetzen. Im Übrigen käme sie dabei entsprechenden Wünschen - darauf habe ich hingewiesen - von Mitgliedern
aller Fraktionen dieses Hohen Hauses nach, die - das ist
ja ein durchaus seltener Fall - bei der Beratung dieses
Punktes im zuständigen Ausschuss fast einhellig zum
Ausdruck gekommen sind.
Ich nehme an, die Bundesregierung hat sich durch den
technischen Zwischenfall nicht ablenken lassen.
({1})
Wir hoffen, Herr Staatssekretär, dass Sie diesen Gerichtshof unterstützen; denn wir wissen, dass er ein ganz
wirksames Instrument ist, um zumindest für den Bereich
des Europarats, dessen Mitglied unter anderem auch
Russland ist, für einen wirksamen Schutz der Menschenrechte zu sorgen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Siebten Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen
und in anderen Politikbereichen. Das sind die Drucksachen 15/5800 und 16/3004. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3004 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1999 mit
dem Titel „7. Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen
und in anderen Politikbereichen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/3001 mit dem Titel „Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag
ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2976 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kein Weißbuch ohne vorherige Parlamentsdebatte
- Drucksache 16/2082 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Birgit
Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über einen Antrag der FDP-Fraktion
zum Weißbuch. Ich bin froh, dass wir aufgrund dieses
Antrags die Gelegenheit haben, hier, im Deutschen Bundestag, über dieses Weißbuch überhaupt einmal zu sprechen.
({0})
Bisher hat die Bundesregierung über alle Weißbücher
entschieden. Deswegen will sie nächste Woche im Kabinett auch über das neue Weißbuch entscheiden, ohne den
Deutschen Bundestag damit vorher befasst zu haben.
Dazu sage ich: Ja, in der Vergangenheit war das so. Aber
die alten Weißbücher waren im Wesentlichen Fortschreibungen bestehender Weißbücher. Wir haben es jetzt mit
einer ganz neuen Situation zu tun. Das Einsatzspektrum
der Bundeswehr ist deutlich erweitert. Wir haben mehrfach Veränderungen in der Struktur der Bundeswehr erlebt. Das letzte Weißbuch stammt aus dem Jahr 1994.
Das Weißbuch muss auf der Basis einer grundlegend anderen sicherheitspolitischen Lage Antworten auf Fragen
geben, die komplexe und weit über den bisherigen Rahmen hinausgehende neue Herausforderungen betreffen.
Wenn man diesem Anspruch gerecht werden will,
dann brauchen wir eine intensive Debatte. Eine solche
Debatte hat der Bundespräsident in seiner Rede über Außen- und Sicherheitspolitik auf der Kommandeurstagung
vor gut einem Jahr gefordert. Auch Sie, Herr Minister,
haben mehrfach gesagt, dass es dringend notwendig sei,
in Parlament und Gesellschaft eine breite Debatte zu
führen.
({1})
Nur, wenn Sie das wollen, dann dürfen Sie jetzt nicht
einfach einen Kabinettsbeschluss fassen, der dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird. Wer eine lebendige Debatte will, wer erreichen will, dass die Gesellschaft sich
mit der Bundeswehr beschäftigt, sich hinter die Bundeswehr stellt, der muss eine Diskussion zulassen, und zwar
im Vorfeld, der muss Möglichkeiten eröffnen, dass man
sich an der Formulierung beteiligen und Gedanken einbringen kann. Das schaffen Sie nicht.
({2})
Seit gestern gerät dieses Vorgehen gänzlich zur Farce.
Das Weißbuch wurde zwischenzeitlich öffentlich bekannt; es ist über die Homepage einer Zeitung zugänglich. Herr Minister, ich hätte erwartet, dass Sie wenigstens jetzt endlich in die Offensive gehen und den
Entwurf den Mitgliedern des Ausschusses von sich aus
zusenden, sodass eine öffentliche Diskussion ermöglicht
wird.
({3})
Ich verstehe Ihre Mauschelei nicht. Mit Ihrem wiederholt misslungenen Versuch der Geheimhaltung haben
Sie dem Ziel, das Weißbuch insgesamt zu diskutieren
und eine unstrittige Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik der nächsten Jahre zu schaffen, einen
Bärendienst erwiesen.
({4})
Dieser Vorgang ist wieder einmal bezeichnend für den
Zustand der Koalition. Herr Minister, Sie haben in der
letzten Woche angekündigt, es sei ein Konsens über den
Bundeswehreinsatz im Inneren erzielt worden. Sofort
hat die SPD widersprochen.
Die CDU/CSU hat schon vor dem Hintergrund der
Fußballweltmeisterschaft versucht, alte ideologische
Forderungen, wie den generellen Einsatz der Bundeswehr im Inneren, durchzusetzen. Das ist damals nicht
gelungen. Jetzt versucht man das im Zusammenhang mit
dem Entwurf des Weißbuchs wieder. Wäre es nach der
CDU/CSU gegangen, dann wären terroristische Bedrohungen mit äußerer Bedrohung gleichgesetzt worden,
mit der Folge, dass in einem solchen Fall grundsätzlich
der Verteidigungsfall ausgerufen würde. Das wäre, erstens, eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Luftsicherheitsgesetz und, zweitens, der Versuch, die Bundeswehr im Inneren durch die Hintertür
einzusetzen. Das hat die CDU/CSU versucht. Das ist
jetzt offensichtlich verhindert worden; der neue Entwurf
sieht Derartiges nicht vor.
Sie haben dafür allerdings einen hohen Preis bezahlt:
dass die Debatte in der Öffentlichkeit wieder einmal nur
als eine Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im
Inneren wahrgenommen wurde. Damit werden Sie den
Herausforderungen, vor denen wir stehen, überhaupt
nicht gerecht.
({5})
In der Tat weigern Sie sich erneut, über Kriterien
und Grundsätze zu reden, obwohl wir sie brauchen. Die
Bundesregierung sagt schlicht, dass sie zukünftig jeden
Einzelfall prüfen wird. Natürlich werden wir nicht umhinkommen, jeden Einzelfall eines Auslandseinsatzes zu
diskutieren. Aber wir brauchen doch einmal Leitlinien.
Auch die NATO-Partner haben Grundsätze wie den, dass
solche Einsätze Frieden, Freiheit und Wohlstand dienen
und im Einklang mit außenpolitischen Zielen stehen sollen.
Es besteht ein UN-Mandat und internationale Unterstützung. Es gibt ein klares Ziel und vor allem auch ein
Konzept, wie das Ziel erreicht werden kann, damit man
irgendwann einmal feststellen kann, wann die militärischen Einheiten wieder abgezogen werden können, also
eine so genannte Exit-Strategie. Außerdem muss der
Einsatz finanziell, personell und materiell leistbar sein.
Alle diese Grundsätze hätte man doch einmal aufschreiben können. Natürlich kann ich sie nicht einfach
nur abhaken, sondern muss sie in jedem Einzelfall beurteilen. Das ist aber etwas, was Leitlinien ausmacht. Es
geht um ein nachvollziehbares Korsett für Entscheidungen.
Das, was andere NATO-Partner haben, sollten auch
wir haben. Das erwarten wir von diesem Weißbuch.
({6})
Ferner muss geklärt werden, welche Bedeutung
nationale Interessen spielen sollen. Auch hier gibt es
eine Veränderung vom ersten Weißbuchentwurf zum jetzigen Entwurf. Der erste Entwurf war sehr klar an unserer Export- und Rohstoffabhängigkeit sowie daran orientiert, dass wir den Zugang zu kritischen Rohstoffen und
Energieträgern sichern müssen. Die Vorstellung einer
rohstoff- und energieorientierten Außen- und Sicherheitspolitik wurde durch die simple Tatsachenbeschreibung abgelöst, dass wirtschaftlicher Wohlstand unter anderem auch vom Zugang zu Rohstoffen und freien
Transportwegen abhängt. Natürlich ist das richtig. Aber
welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wir müssen
diskutieren, welche Konsequenzen wir daraus für zukünftige Auslandseinsätze der Bundeswehr ziehen.
Auch hier ist Fehlanzeige, meine Damen und Herren!
Ich prophezeie Ihnen, diese Frage wird künftig zu weiterem Streit in der Koalition führen, da Sie die weitere
Diskussion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Eigentlich sollte das Weißbuch doch die Grundlage
für künftige Einsatzentscheidungen schaffen, ohne dass
es Streit darüber gibt. Hieran scheitern Sie.
Eine letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das
soll sie meines Erachtens auch bleiben. Deswegen kann
ich Sie, Herr Minister, nur sehr herzlich bitten und an Sie
appellieren, einen Halbsatz aus diesem Dokument zu
streichen. Sie schreiben:
Die Entscheidung über Bundeswehreinsätze im internationalen Rahmen liegt in erster Linie im Kompetenz- und Verantwortungsbereich der Bundesregierung.
Erst dann sagen Sie, dass der Bundestag zustimmen
muss. Herr Minister, Sie hätten sich diesen Halbsatz sparen können. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Vor
dem Hintergrund der Diskussionen der vergangenen Wochen, in denen wir debattiert haben, ob das Parlament
ausreichend über die Einsätze informiert ist, macht mich
dieser Satz nachdenklich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie sollten sich diese
Missachtung des Deutschen Bundestages nicht gefallen
lassen und dafür sorgen, dass, bevor eine Beschlussfassung im Kabinett erfolgt, eine intensive Auseinandersetzung hier im Deutschen Bundestag stattfindet.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans Raidel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen hier eine Art Geisterdebatte, nämlich
eine Diskussion über etwas, das im Raum steht, aber
noch nicht existent ist. Dieses Weißbuch ist doch überhaupt noch nicht auf dem Markt,
({0})
zumindest nicht offiziell.
({1})
Die Bundesregierung muss dieses Dokument erst noch
verabschieden.
Beachten Sie doch bitte die Spielregeln, verehrte
Frau Kollegin! Dieses Parlament hat eine Geschäftsordnung, und auch die Bundesregierung hat eine Geschäftsordnung. Wir als Parlament haben für unsere Arbeit
Spielregeln verabschiedet, in denen genau steht, wer wofür zuständig ist. Wenn wir diese Spielregeln so nicht
mehr einhalten wollen, bleibt es uns doch unbenommen,
sie zu ändern. Solange die Spielregeln aber so gelten, ist
klar, dass die Bundesregierung dieses Weißbuch in eigener Verantwortung verabschiedet, ihre Meinung darlegt
({2})
und wir dann darüber diskutieren können. Als Parlament
können wir unsere eigenen Vorschläge jederzeit einbringen; das ist uns unbenommen.
({3})
Wir können jederzeit - das ist das Wünschenswerte - in
einen Wettbewerb guter Ideen eintreten und festlegen,
wie wir das haben möchten. Das Parlament ist in seinen
Rechten - anders als Sie versuchten auszuführen - überhaupt nicht beschnitten.
({4})
Zu den Inhalten. In unserer Koalitionsvereinbarung
haben wir gemeinsam festgelegt, wie wir die Richtung
der künftigen deutschen Sicherheitspolitik darlegen
wollen. Ein Instrument dafür war das Weißbuch. Sie,
Herr Minister, haben diese Idee sehr schnell aufgegriffen
und dieses Weißbuch erarbeitet. Auch wir wünschen uns
eine breite Debatte in der Öffentlichkeit über den Inhalt
der künftigen deutschen Sicherheitspolitik. Auch wir
sind der Auffassung, wir sollten uns intensiver - das gilt
für den Ausschuss genauso wie für das Parlament - mit
den Fragen der Sicherheit beschäftigen: mit Ausrüstung,
mit Ausbildung und mit dem Umfang dieser Armee. Wir
sollten begleiten, was in unseren Bündnissen passiert,
also in der NATO, in der OSZE, in Europa und woanders.
Wir müssen prüfen, ob wir dieser Aufgabe immer gerecht werden. Spätestens, wenn es um die Finanzen geht,
doch wohl eher nicht! Dann aber gestalten Sie hier Ihren
Redebeitrag mit den Worten: Man sollte! Man könnte!
Man müsste! Man dürfte! Man dürfte nicht! Ja, sagen
Sie doch ganz konkret, wie Sie es haben wollen! Dann
kann sich die Regierung damit auseinander setzen und
wir uns damit befassen. Möglicherweise würde dann am
Schluss eine gemeinsame Richtung vorgegeben. Sie
werden dem Anspruch, den Sie versucht haben darzustellen, in keiner Weise gerecht.
({5})
Das ist ein großes Problem.
Ich will gar nicht darauf hinweisen, dass die Weißbücher in der Vergangenheit genau nach diesen Spielregeln
und damit nicht im Parlament verabschiedet worden
sind. Wir sind uns allerdings auch darüber einig, dass es
ungut ist, wenn das Weißbuch vorab in der Presse und
sonst wo zu lesen ist und wir hier nicht darüber gesprochen haben. Insofern habe ich die Bitte, Herr Minister,
dass Sie da auskehren, damit diese Dinge so nicht mehr
vorkommen.
({6})
Natürlich haben wir alle Wünsche bezüglich des Inhalts des Weißbuchs. Es soll objektiv und realistisch die
Sicherheitslage in unserer Republik feststellen, nichts
weglassen und nichts verschweigen, sodass die Bevölkerung endlich wieder das Gefühl für das Sicherheitsthema
insgesamt bekommt. Das scheint mir in der Vergangenheit ein bisschen vernachlässigt worden zu sein, denn
sonst würde die Bevölkerung ganz anders über die Sicherheitsfragen diskutieren.
Natürlich wissen wir, dass letztlich alles auch am
Geld hängt. Aber wir dürfen doch nicht so tun, als wenn
es für die Sicherheit kein Geld gäbe. Ich sage Ihnen: Die
Bevölkerung hat den Anspruch auf diesen Schutzschild nach innen und nach außen. Die Bundeswehr hat den
Anspruch, dass wir bei Ausrüstung und Ausbildung alles
tun, damit sie immer das Notwendige, also das, was auf
dem Markt verfügbar ist, bekommt. Wenn wir das der
Bundeswehr nicht geben und uns hinter mangelndem
Geld verstecken, wenn wir die Leute in einen Einsatz
schicken, bei dem sie zu Schaden oder sogar zu Tode
kommen können, nur weil wir die notwendige Ausrüstung nicht zur Verfügung gestellt haben, dann handeln
dieses Parlament, der Verteidigungsausschuss und der
Haushaltsausschuss, dann handeln also wir insgesamt
unmoralisch. Das dürfen wir nicht tun. Aber darüber redet keiner! Wir streiten uns über die Verfahrensfragen,
lassen dabei aber die wirklich wichtigen Themen außer
Acht.
({7})
Wo waren Sie denn? Wo haben Sie die notwendigen Anträge durchgesetzt,
({8})
als es darum ging, bei Entwicklung, bei Forschung, bei
neuer Bestimmung der Standorte für die Rüstungsindustrie entsprechend zu handeln?
({9})
Was haben Sie gemacht, als es konkret um die finanzielle Absicherung ging?
({10})
Was Sie möchten, ist etwas ganz anderes. Sie führen
sich hier als Sicherheitspartei auf, die die deutschen Sicherheitsinteressen vertritt. Dieses Thema ist längst von
anderen, von CDU/CSU und SPD, besetzt.
({11})
Jeder landauf, landab weiß das und akzeptiert das. Sie
können sich noch so sehr aufs Podest stellen wollen: Das
nimmt Ihnen als kleiner 9-Prozent-Partei in Wirklichkeit
niemand ab.
Auch ich könnte mir etwas Neues vorstellen: Wenn
das Weißbuch herauskommt, könnten wir einen Einstieg
wagen in der Weise, dass wir einmal im Jahr eine Sicherheitsdebatte führen, in der wirklich alle Fragen für
diese Nation auf den Tisch gelegt werden, uns einmal
mindestens einen ganzen Tag mit diesen Themen befassen - so ähnlich haben wir damals die Berlindebatte geführt -, daraus entsprechende Beschlüsse ableiten und so
dieses Thema in die Bevölkerung hineintragen, damit Interesse geweckt wird, ein breiter Konsens entsteht und
wir der Bevölkerung aus dem Parlament heraus beweisen können, wie ernst es uns mit der Sicherheit in diesem
Land ist und wie wir zu unserer Bundeswehr stehen.
In der praktischen Ausformung bedeutete das, dass
wir vielleicht auch einmal zu anderen Formen kommen,
zum Beispiel dazu, ein Bundeswehraufgabengesetz zu
verabschieden, in dem alle Einzelfragen seriös und gesetzestechnisch richtig behandelt werden. Von daher
wäre dann auch das notwendige Rüstzeug bereitgestellt.
Diese Debatte ist möglicherweise ein Einstieg; das
will ich überhaupt nicht bestreiten. Die Herausgabe des
Weißbuchs ist mit Sicherheit eine gute Gelegenheit, auch
zu neuem Denken zu kommen. Wir alle spüren, dass
wir mit den alten Denkstrukturen - da treffen wir uns
wieder - nicht mehr weiterkommen und dass wir unserem eigentlichen Auftrag, der Bevölkerung das Gefühl
von Sicherheit zu geben und damit auch die Legitimation für die Finanzierung unserer Bundeswehr zu erhalten, nicht mehr gerecht werden. Vielleicht ist die Debatte
über dieses Weißbuch ein Einstieg in ein neues Denken.
Dann hätte sich das tatsächlich gelohnt. Wenn das nicht
gelingt, dann sind es nur Worthülsen und Sprechblasen.
Die sollten wir uns im Interesse unserer Bundeswehr eigentlich sparen.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten einen FDP-Antrag, der unseres Erachtens einige
vernünftige Grundgedanken enthält. Ein Weißbuch, das
die Eckpfeiler unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik für eine längere Zeit festlegen soll, ist zu wichtig,
als dass es von oben herab verkündet werden dürfte.
Auch unsere Auffassung ist, dass es darüber eine breite
Debatte in diesem Haus, aber auch in der Öffentlichkeit
geben sollte. So weit, so gut; das sagen alle.
Es kann aber nicht nur darum gehen, dass wir jetzt
diskutieren nach dem Motto, lieber Kollege Raidel: Gut,
dass wir mal darüber gesprochen haben. - Das kann es
nicht sein.
({0})
- Es wird aber leider so kommen, fürchte ich. Die Regierung wird verkünden, wir dürfen nächste Woche diskutieren und nach einiger Zeit steht das Werk im Regal.
Es kommt doch gerade darauf an, eine Rückkopplung zu erreichen, eine Rückkopplung zwischen Regierung, Parlament, gesellschaftlichen Akteuren und kritischer Öffentlichkeit. Darum geht es.
({1})
Deshalb, denke ich, müssen wir auch über die Regeln
reden, lieber Kollege Raidel; völlig richtig. Wir müssen
über die Regeln reden und sie ändern. Das heißt, dass es
einen Entwurf geben sollte, der durch die kritische Debatte noch verändert werden kann.
Ich weiß, dem steht die Auffassung entgegen, die sich
in konservativen Kreisen hartnäckig hält: Außen- und
Sicherheitspolitik ist eine Sache der Exekutive.
({2})
Aber das ist Vergangenheit. Das ist 19. Jahrhundert. Wir
sind im 21. Jahrhundert. Es gibt heute Weltsozialforen,
bei denen hunderttausend Menschen zusammenkommen, die über internationale Politik reden. Das ist die
Realität von heute.
({3})
Wir wollen eine solche Demokratisierung von
Außenpolitik, was heißt: Die Menschen sollen mitreden, mitentscheiden können. Das reicht von öffentlichen
Debatten bis hin zur Möglichkeit von Volksabstimmungen über außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen.
Warum nicht? In der Schweiz wird darüber entschieden, ob die Wehrpflicht abgeschafft wird, welche Auslandseinsätze man macht, ob das Land der EU beitritt.
Warum sollte die Bevölkerung nicht auch hierzulande
über Fragen wie NATO-Mitgliedschaft oder Atomwaffen auf deutschem Boden entscheiden? Ich finde, darüber muss hier gesprochen werden. Wir sind für eine
solche Demokratisierung der Außenpolitik.
({4})
Der FDP-Antrag enthält eine weitere vernünftige
Grundüberlegung. Es heißt dort, wir müssten vor allem
diplomatische, wirtschaftliche, ökologische, soziale und
entwicklungspolitische Ansätze beachten und zum Ausdruck bringen. Es stellt sich aber die Frage, ob es dann
ausreicht, die Federführung beim Ministerium der
Verteidigung zu belassen und die Herausgabe dem
Kanzleramt zu übertragen. Ich glaube, dass die Federführung beim Ministerium der Verteidigung es mit sich
bringt, dass sicherheitspolitische Herausforderungen primär militärisch beantwortet werden, und genau das führt
in die Sackgasse. Deshalb muss man sich sehr wohl Gedanken machen, wie man künftig einen ressortübergreiPaul Schäfer ({5})
fenden Ansatz - über den alle sprechen, der dann aber
auch institutionell umgesetzt werden muss - finden kann,
der die Chance erhöht, dass zivile Konzepte und Kapazitäten der Sicherheitsvorsorge und Konfliktprävention ein
viel entscheidenderes Gewicht bekommen. Der sicherlich ausbaufähige Aktionsplan „Zivile Konfliktprävention“ sollte den Handlungsrahmen zumindest - ich drücke mich vorsichtig aus - mitprägen und nicht Anhängsel
von militärisch definierten Krisenlösungen sein.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Weißbuchentwurf sind zentrale Fragen angesprochen, die einer
grundlegenden Erörterung bedürfen - darüber werden
wir ja nächste Woche sprechen -: Soll die Bundeswehr
auch im Inneren neue Aufgaben wahrnehmen oder bleibt
es dabei, dass für die innere Sicherheit die Polizei zuständig ist? Sollen den Streitkräften neue Aufgaben bei
der Sicherung unserer Rohstoff- und Energieversorgung
zufallen oder ist das eine Angelegenheit der internationalen Wirtschafts- und Handelspolitik? Soll die deutsche
Teilhabe an Atomwaffen fortgesetzt oder - besser - unwiderruflich beendet werden? Über diese Fragen - da
hat Kollegin Homburger völlig Recht - muss neu und
gründlich nachgedacht werden. Deshalb muss man beim
Weißbuch ein neues Verfahren finden. Sonst hätte man
sich die Mühe sparen können.
Wir wollen jedenfalls eine sicherheitspolitische Debatte, die neue Erkenntnisse und neue Schlussfolgerungen bringt und aus der Sackgasse militärischer Krisenlösungsversuche führt.
Danke.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von den Liberalen, wir stehen ja nicht am Anfang der Debatte, sondern wir haben bereits eine Praxis,
hier im Parlament mit der sich verändernden Welt umzugehen. Ich stelle fest, dass es einen relativ breiten Konsens hier in diesem Hause gibt, mindestens getragen von
vier Fraktionen, zu denen Ihre Fraktion gehört.
Wir sind uns darin einig, dass sich in der sich verändernden Welt neue Gefahren entwickeln. Wir sind uns
darin einig, dass wir einen umfassenden Sicherheitsbegriff vertreten wollen. Wir behaupten nicht, Sicherheit
sei allein Verteidigung oder Militär. Selbst in den Einsatzgebieten, wo das Militär eine große Rolle spielt, gibt
es inzwischen eine vernetzte Sicherheitsarchitektur. Ich
erinnere an die PRTs in Afghanistan. Aber auch all das,
was wir tun, bevor es überhaupt zu bewaffneten Konflikten kommt, ist inzwischen Bestandteil einer umfassend
verstandenen Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass wir
das hier im Hause breit tragen.
Wir bekennen uns gemeinsam zu einem aktiven Multilateralismus. Wir wollen, dass viele daran teilnehmen,
unsere Welt sicherer zu machen. Wir haben eine europäische Sicherheitsstrategie, die so genannte Solana-Strategie von 2003, die ein bisschen etwas anderes formuliert
als die amerikanische Sicherheitsstrategie, diese aber
auch ergänzt und in einer Welt, die Gestaltung braucht,
für ein selbstbewusstes Europa wirbt. Deutschland ist
ein Teil davon. Was in der Solana-Strategie formuliert
ist, wird hier breit getragen und ist Bestandteil unseres
sicherheitspolitischen Selbstverständnisses.
Wir wollen die kollektiven Sicherheitssysteme stärken: die OSZE, die NATO, die UNO. Es ist eben nicht
mehr nur die NATO; das hat sich verändert. Ich glaube,
auch das wird in diesem Hause breit getragen. Wir stehen also nicht am Anfang der Debatte über eine neue Sicherheitspolitik und das Weißbuch wird sie auch nicht
abschließen. Das Weißbuch ist ein Meilenstein, eine
Etappe in diesem Diskussionsprozess, der aus gegebenem Anlass nun schon einige Jahre läuft.
Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Auslandseinsätze. Ob es sich um eine kleine oder um eine
große Koalition handelt: Wir bemühen uns, dass der
Rückhalt für unsere Soldaten im Einsatz in diesem
Hause so breit wie möglich ist. Das ist inzwischen eine
Tradition geworden.
Wenn ich das Wirken der Verteidigungspolitiker betrachte, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir ein
gemeinsames Interesse an einer deutschen wehrtechnischen Industrie in einem selbstbewussten Europa haben.
Dieses Ziel hat die vergangene Regierung verfolgt.
Diese Regierung setzt die dazugehörige Politik fort. Dabei wird sie von diesem Parlament unterstützt.
Unser Weg in eine Europäisierung der Sicherheitspolitik wird in diesem Haus ebenso breit unterstützt. Es
geht nicht mehr darum, nur national zu denken und sich
zu überlegen, was wir für unsere eigene Sicherheit tun
können. Es geht vielmehr darum, was wir für ein zusammenwachsendes Europa tun können, wie wir Kosten
sparen und Verantwortung teilen können. Das sind die
Erfahrungen aus den vielen Jahren, die seit dem Erscheinen des letzten Weißbuchs vergangen sind.
Es gibt auch ein paar Unterschiede in diesem Haus.
Gelegentlich wird die Wehrpflicht thematisiert. Die
Mehrheit ist relativ groß, dass wir sie beibehalten. Aber
die Unterschiede in dieser Frage kann man anhand einer
Festlegung im Weißbuch diskutieren. Es gibt auch Unterschiede in Fragen der nuklearen Teilhabe. Auch darüber muss man weiter diskutieren.
Außerdem gibt es Unterschiede in der Auffassung, an
welchen Begriffen man sich sozusagen entlangarbeiten
will. Der Begriff vom nationalen Interesse hört sich für
mich so an, als handele es sich um einen Begriff aus dem
19. Jahrhundert. Er suggeriert, unser Interesse sei gegen
die Interessen Frankreichs und Großbritanniens gerichtet. Diese Art von konkurrierenden Interessen gibt es
- Gott sei Dank! - nicht mehr. Wir haben gemeinsame
Interessen und teilen die gemeinsamen Werte mit unseren Freunden und Partnern.
Wir versuchen beispielsweise nicht, auf Kosten anderer Rohstoffe zu sichern. Manchmal wird mit großem
Pathos behauptet, man solle einmal ehrlich sein und zugeben, dass es doch um Rohstoffe gehe. Nein, es geht
nicht um Rohstoffe: nicht auf dem Balkan, nicht in Afghanistan und auch nicht dann, wenn wir im Bundestag
über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Bündnissen, in denen wir Mitglied sind, entscheiden. Rohstoffe sind für alle Länder eine lebenswichtige Ressource. Wir wollen eine offene Welt und Zugang von
möglichst vielen zu den Wohlstandsquellen. Darin stehen wir nicht in Konkurrenz zu anderen.
Mir ist also der Begriff vom nationalen Interesse
manchmal zu anachronistisch am 19. Jahrhundert ausgerichtet. Ich würde ihn lieber durch den Begriff „politische
Maximen“ ersetzen. Deutschlands sicherheitspolitisches
Handeln unterliegt politischen Maximen. In diesem Zusammenhang kann man auf das verweisen, was gemeinsam getragen wird: der Multilateralismus, der umfassende Sicherheitsbegriff und unsere Vorstellungen von
der Weiterentwicklung kollektiver Sicherheitssysteme.
Zum Bereich der politischen Maximen gehört die
Schaffung einer offenen Welt, von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit. Dabei wollen wir Demokratie nicht
exportieren, sondern wir wollen uns gemäß unseren eigenen Maßstäben im Ausland verhalten. Wir erwarten
übrigens von unseren Verbündeten, dass sie dies genauso
tun.
Es gibt nicht nur politische Maximen deutschen Handelns mit Blick auf eine zusammenwachsende Welt. Es
gibt auch eine besondere deutsche Verantwortung.
Das haben wir in der Debatte über den Libanon-Einsatz
gespürt. Es war nicht leicht, den deutschen Beitrag so zu
formulieren, dass er der deutschen Verantwortung in allen Richtungen gerecht wurde. Es ist uns gut gelungen.
Der Grund für unser Handeln war nicht das deutsche Interesse an Rohstoffen im Nahen Osten, sondern die besondere deutsche Verantwortung, die wir übernommen
haben. Ich denke, das wird sich auch im Weißbuch niederschlagen. Darin wird es nicht den anachronistischen
Interessenbegriff des 19. Jahrhunderts geben.
Noch ein Wort zur strittigen Frage des Bundeswehreinsatzes im Innern. In der Frage der Bundeswehr als
Ersatzpolizei liegen wir nicht weit auseinander. Niemand der verantwortlichen Sicherheitspolitiker will,
dass die Bundeswehr an den Stellen Polizeiaufgaben
übernimmt, an denen die Polizei zu wenig Personal hat.
Das kann nicht die Richtung unserer gemeinsamen Politik sein. Es geht nicht um die Absicherung von Veranstaltungen, bei denen der Veranstalter selbst nicht genug
Personal für Ordner stellen kann, bei denen die Landespolizei nicht ausreicht oder bei denen die hinzugezogene
Bundespolizei nicht ausreicht. Wenn dann die Bundeswehr gebraucht würde, würde ich sagen: Sagen wir lieber das Fernsehgucken im Freien ab. Das kann man auch
tun.
Darum geht es also nicht. Wenn wir darüber diskutieren, dass das Grundgesetz an der einen oder anderen
Stelle eine Veränderung, eine Präzisierung, eine Verankerung neuer gesetzlicher Regelungen braucht, dann
geht es um die Luft- und die Seesicherheit und um Sicherheit für die politisch Verantwortlichen, Entscheidungen auf verfassungsrechtlich vernünftiger Grundlage zu
treffen. Da sind wir für Änderungen offen. Ich glaube,
diese Debatte fängt nicht erst jetzt an und wird mit dem
Weißbuch auch nicht abgeschlossen sein. Sie wird aber
im Weißbuch einen vernünftigen Niederschlag finden.
Was an Land nötig und möglich ist, das ist mit Art. 35
Grundgesetz, Amtshilfe, und natürlich mit der Reserveregel, die das Grundgesetz inzwischen seit fast 40 Jahren
hat, geregelt. Damals war sie stark umkämpft, es wurde
um sie hart gerungen, aber jetzt steht sie seit Jahrzehnten
im Grundgesetz: die Notstandsverfassung. Sie gilt und
kann im äußersten Notfall greifen. Gott sei Dank ist das
bisher nie der Fall gewesen. Wir hoffen, dass das so
bleibt. Aber diesen letzten Rettungsanker, den haben wir
jetzt schon im Grundgesetz stehen.
Ich glaube, wir brauchen nicht künstlich einen Streit
zu suchen, da der Konsens in diesem Haus und in der
großen Koalition relativ groß ist. Vermutlich wird durch
das Weißbuch auch deutlich werden, wie groß er ist. Die
Debatte dazu führen wir nächste Woche Donnerstag,
aber heute haben wir darüber geredet, dass es gut ist,
diese Debatte über das Weißbuch anzufangen und sie
über die Sicherheitspolitik fortzusetzen, die Deutschland
in einer zusammenwachsenden Welt gestalten will.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außen- und Sicherheitspolitik gilt traditionell als Domäne
der Exekutive. Hans Raidel hat darauf hingewiesen. Zugleich aber gibt es in der Bundesrepublik eine gewachsene rechtsstaatliche Tradition der Parlamentsarmee.
Diese Tradition ist so zeitgemäß wie nichts anderes.
({0})
Denn heutzutage ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte so sehr auf die Akzeptanz der Gesellschaft angewiesen wie wohl nie zuvor. Deshalb ist es ausdrücklich
eine Fortsetzung alten Denkens, wenn ein konzeptioneller Meilenstein deutscher Sicherheitspolitik abgeschottet
in den Ministerien entwickelt und dem Parlament und
der Öffentlichkeit dann sozusagen zum Nachvollzug
vorgesetzt wird.
({1})
Eine echte, breite sicherheitspolitische Debatte, die eben
auch immer etwas Offenheit benötigt, wird damit behindert. Herr Minister, dass Sie das so abgewickelt haben,
ist wohl - schaut man sich das Vorgehen der VorgängerWinfried Nachtwei
minister an - nicht unüblich, aber trotzdem kein Beweis
von Stärke.
({2})
Dass die Koalitionsfraktionen das so mitmachen, obwohl zwischendurch alle möglichen anderen Zeichen da
waren, ist ein Beispiel - ich bedauere das sehr - von parlamentarischer Selbstentmündigung.
({3})
Zweck eines Weißbuches kann nicht nur die innerkoalitionäre Verständigung sein und sein Adressat ist auch
längst nicht nur die sicherheitspolitische Community.
Gerade heute muss ein Weißbuch vor allem Antworten
auf brennende Fragen geben, die in der Bevölkerung,
sehr stark unter den Soldaten und auch in der Politik gestellt werden: Was haben denn die Auslandseinsätze und
Krisenengagements bisher überhaupt gebracht? Warum
dauern die meisten so endlos? Warum ist der Übergang
zu selbsttragender Sicherheit und Friedensprozessen so
enorm schwierig? Gegenüber welchen Risiken und Bedrohungen können Streitkräfte überhaupt etwas ausrichten? Wofür werden sie angesichts der jetzigen und künftigen Risiken und Bedrohungen vor allem gebraucht und
wofür eigentlich gar nicht? Da gibt es den geflügelten
Begriff - das ist inzwischen ein Baukastensatz -, Streitkräfte heute zur Krisenverhütung und Konfliktbewältigung, einschließlich Bekämpfung des Terrorismus, einzusetzen. - Das ist auf der ganz allgemeinen Ebene so
richtig wie aussagelos.
Wie wird schließlich der Anspruch auf umfassende
und Gewalt vorbeugende Sicherheitspolitik überhaupt in
die Tat umgesetzt? Wie ist das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Mitteln der Sicherheitspolitik? Wie
wird der offenkundige Rückstand der zivilen Fähigkeiten aufgeholt? Wie kann - daran sollten wir bei der
bevorstehenden Debatte vor allem denken - dem wachsenden sicherheitspolitischen Desinteresse in der Bevölkerung entgegengewirkt werden? Ich befürchte, dass das
demnächst vorliegende Weißbuch auf diese Fragen nur
unzureichende Antworten gibt. Umso mehr stehen wir
Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Pflicht,
diese Fragen bei der bevorstehenden Debatte über das
Weißbuch zu stellen und verständlich zu beantworten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2082 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes
- Drucksache 16/1936 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/3007 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Kersten Naumann, Dr. Martina Bunge,
Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern
- Drucksachen 16/2746, 16/3007 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3007 den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2746 mit
dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ mit
einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.
({2})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das nun zu debattierende so genannte Betriebsrentenänderungsgesetz zur Umstellung der Finanzierung des Pensions-Sicherungs-Vereins ist im Laufe der Beratung im
Ausschuss des Bundestages um einige sehr sinnvolle
und im Kern unstrittige Punkte ergänzt worden, weil wir
wollen, dass diese wichtigen sozialpolitischen Regelungen noch in diesem Jahr in Kraft treten.
({0})
Der Kern des Gesetzes ist die Umstellung der Finanzierung des Pensions-Sicherungs-Vereins von der teilweisen Umlagefinanzierung auf die Kapitalfinanzierung. Diese Umstellung stößt bei allen Beteiligten auf
ungeteilte Zustimmung; denn dadurch wird die Insolvenzsicherung zukunftsfester. Das ist gut für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil ihre Rentenansprüche
dadurch besser abgesichert sind. Das ist auch für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gut; denn sie können auf
ein verlässliches Altersversorgungssystem hinweisen.
Im Kern ist es auch für die Alterssicherung gut; denn dadurch wird die Gesamtversorgung aus gesetzlicher Rente
sowie privater und betrieblicher Altersvorsorge gestärkt.
({1})
Von den weiteren Vorhaben, die im Gesetz enthalten
sind, spreche ich aus Zeitgründen nur einige an:
In der gesetzlichen Rentenversicherung werden die
Zusatzjobs nach dem SGB II bei der Berechnung der
Höhe der Rentenanpassungen und der Bestimmung der
Sozialversicherungsrechengrößen künftig herausgenommen. Eine Verzerrung wird somit verhindert. Dadurch
ergibt sich eine klarere Grundlage für die Ermittlung der
Beiträge und der Leistungen in den Sicherungssystemen.
Mit der Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für
Lohnunterlagen aus der ehemaligen DDR bei den Arbeitgebern in den neuen Bundesländern bis zum
31. Dezember 2011 sichern wir den Zugriff auf die
Lohndaten. Das gibt den Menschen ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen Rentenkonten.
({2})
Durch die Änderung beim Insolvenzgeld stellen wir
sicher, dass Arbeitnehmer, die mit ihrem Arbeitgeber
eine Vereinbarung über Entgeltumwandlung getroffen
haben, im Insolvenzfall nicht benachteiligt werden. Das
umgewandelte Entgelt fließt künftig in die Berechnung
des Insolvenzgeldes ein. Auch das bringt mehr Sicherheit.
Ebenso sinnvoll ist, die Regelungen zum Vermittlungsgutschein, mit dem arbeitslose Menschen einen
privaten Arbeitsvermittler beauftragen können, um ein
Jahr zu verlängern; denn erst nach der für 2007 vorgesehenen Evaluation werden wir wissen, wie nutzbringend
der Beitrag der privaten Vermittler sein kann.
Mit der Einbeziehung des Dachdeckerhandwerks in
das neue Leistungssystem Saisonkurzarbeitergeld können nun auch die Beschäftigten dieses Wirtschaftszweiges die verbesserten Förderbedingungen ab Dezember 2006 nutzen. Das heißt Verringerung des Risikos
Arbeitslosigkeit, das heißt Einkommenssicherung und
dass die Beschäftigten mit ihren Kompetenzen dem Betrieb erhalten bleiben.
Wir nehmen eine ganz wichtige Klarstellung im Behindertenrecht vor, die helfen wird, Diskriminierung zu
vermeiden. Man wundert sich ja manchmal, welche Alltagspossen die Realität bietet. Zum Schutz der Menschen gibt es das Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis, mit dem die Notwendigkeit ständiger
Begleitung unterstrichen wird. Damit ist das Recht gemeint, eine ständige Begleitung zu haben, wenn man
zum Beispiel ins Theater oder ins Schwimmbad geht
oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen möchte.
Man wundert sich, wenn dann auf einmal derjenige hinterm Schalter sagt, dass man, weil man keine Begleitung
hat, nicht ins Schwimmbad oder nicht ins Theater dürfe
oder nicht mit dem öffentlichen Verkehrsmittel fahren
könne. Die Regelung wird dabei sozusagen umgedreht.
Das darf in Zukunft nicht mehr passieren. Diese Diskriminierung wollen wir verhindern. Deswegen stellen wir
eindeutig klar: Der Schwerbehinderte ist berechtigt, eine
Begleitung mitzunehmen, aber nicht dazu verpflichtet.
Das gibt mehr Sicherheit im Alltag und mehr Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben.
({3})
Schließlich noch eine Anmerkung zum Sozialgesetzbuch II. Wir stellen klar, dass die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende bereits in der Zeit bis zur
Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle über die
Erwerbsfähigkeit bzw. die Hilfebedürftigkeit Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen haben. Das verhindert ungeklärte Situationen für die Antragsteller und bedeutet Sicherheit und Verlässlichkeit.
Alles zusammengefasst bedeutet das im Kern mehr
Klarheit, mehr Sicherheit und mehr Verlässlichkeit. Diskriminierungen sollen verhindert werden. Ich glaube,
dass mit dem Betriebsrentenänderungsgesetz und den
weiteren sozialpolitischen Entscheidungen, die damit
verbunden sind, die Möglichkeit besteht, diese Regelungen noch bis Ende des Jahres in Kraft zu setzen. Deswegen bitte ich um Zustimmung in diesem Haus.
Danke.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Anhörung und die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass die geplante Umstellung auf Kapitaldeckung
beim Pensions-Sicherungs-Verein allgemeine Zustimmung findet. Dieser Punkt wird von der FDP-Bundestagsfraktion mitgetragen. Allerdings - Sie, Herr Staatssekretär, haben es gesagt - sind im Laufe des Verfahrens
noch einige Punkte hinzugekommen, die mit dem ursprünglichen Inhalt des Entwurfes nicht zusammenhängen und von denen einzelne - ich möchte drei nennen aus unserer Sicht nicht unproblematisch sind.
Aber eins nach dem anderen. Zunächst noch ein Wort
zur Umstellung der Finanzierungsgrundlage. Wir denken, dass die Umstellung auf Kapitaldeckung sinnvoll
ist und dass sie hoffentlich noch zur rechten Zeit erfolgt.
Denn infolge der Zunahme der externen Durchführungswege in der betrieblichen Altersvorsorge ist vorauszusehen, dass in Zukunft beim Pensions-Sicherungs-Verein
die Beitragsbemessungsgrundlage zurückgeht. Dann
würde der Pensions-Sicherungs-Verein zunehmend mit
der Ausfinanzierung von Anwartschaften aus InsolvenDr. Heinrich L. Kolb
zen vergangener Jahre belastet. Es käme zu Beitragssatzsteigerungen. Dem wird durch die Umstellung vorgebeugt.
Ich darf noch anmerken, Herr Staatssekretär, dass ich
es schade finde, dass die Koalition das Instrument der
Kapitaldeckung nur beschränkt auf diesen Fall, Pensions-Sicherungs-Verein, zum Einsatz bringt. Die Kapitaldeckung wäre auch ein geeignetes Instrument, um
drohenden Beitragssteigerungen in der Krankenversicherung entgegenzuwirken. Aber man muss leider
feststellen: Die Koalition hat - das kann man bei den
Verhandlungen zur Reform des Gesundheitswesens anschaulich verfolgen - leider nicht die Kraft, ein als richtig erkanntes Prinzip auf die Finanzierung des Gesundheitsbereiches zu übertragen.
({0})
Die Herausnahme der so genannten 1-Euro-Jobs aus
der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung ist
zwar richtig, aber noch besser wäre es, wenn die Berechnung der Rentenanpassung endlich - wie bereits von der
Rürup-Kommission gefordert und im ursprünglichen
Referentenentwurf zum Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehen - auf die beitragspflichtigen
Löhne und Gehälter gestützt würde. In der Anhörung
wurden durch die Rentenversicherung die Bedenken
vorgebracht, bis zur Mitte des Jahres seien die beitragspflichtigen Löhne und Gehälter des Vorjahres nicht zu
ermitteln. Ich muss sagen, dass ich nicht bereit bin, dieses Argument zu akzeptieren. Die Arbeitgeber melden
nach der neuen Fälligkeitsregelung am Ende eines jeden
Monats ihre beitragspflichtigen Entgelte an die Sozialversicherungsträger, genauer gesagt, an die Krankenkassen. Dass diese Daten dann auf ihrem weiteren Weg
durch die Institutionen irgendwo versickern, jedenfalls
nicht zeitnah zur Verfügung stehen, darf meines Erachtens nicht sein.
({1})
Aus meiner Sicht hat die Deutsche Rentenversicherung
hier ein organisatorisches Problem, das durchaus gelöst
werden kann und auch gelöst werden muss.
({2})
- Ja, beispielsweise durch einfache Addition.
Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der
Lohnunterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten
ist nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 16 Jahren
seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen
mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären.
({3})
Die ungeklärten Konten sind, wie der Vertreter der Deutschen Rentenversicherung in der Anhörung ausführte,
auf die fehlende Mitwirkung der Betroffenen zurückzuführen.
({4})
Es ist nicht absehbar, dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versicherten erhalten jährliche Renteninformationen. Außerdem bekamen sie Briefe, in denen sie
über die Notwendigkeit der Kontenklärung und über den
Fristablauf aufgeklärt wurden.
({5})
Vor diesem Hintergrund halten wir es für nicht richtig, dass die Unternehmen, die die Aufbewahrung der
Lohnunterlagen gegen Entgelt übernommen haben, nun
die Kosten dafür tragen sollen, dass viele Menschen
nicht bereit waren, ein Mindestmaß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Ohnehin können die Betroffenen
ihre Rentenansprüche auch nach Fristablauf und ohne
ihre Lohnunterlagen vorzulegen glaubhaft machen.
({6})
Dann erhalten sie zwar nur fünf Sechstel ihrer Ansprüche. Aber ich denke, dass unter diesen Umständen keine
Fristverlängerung notwendig ist.
Die vorzeitige Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdeckerhandwerk wird von uns abgelehnt.
Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Steppuhn von der SPD-Fraktion?
Ja, gerne.
Herr Kolb, ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen bekannt,
dass es noch mindestens 1,3 Millionen ungeklärte Rentenkonten gibt und dass in dieser Zahl die Konten der
Personen, die in den Westen verzogen sind, noch gar
nicht mit berücksichtigt sind?
Diese Zahl ist mir durchaus bekannt. Aber wie ich bereits sagte - Sie haben mir wohl nicht zugehört, Herr
Kollege Steppuhn -, hat der Vertreter der Rentenversicherung darauf aufmerksam gemacht, dass es aufgrund
der Vielzahl von Fällen offensichtlich an der Bereitschaft der Betroffenen mangelt, bei der Klärung ihrer
Rentendaten mitzuwirken.
({0})
Die Frage ist: Wenn 16 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht ausgereicht haben, was berechtigt dann zu
der Annahme, dass die nächsten fünf Jahre eine wesentliche Veränderung dieses Sachverhalts mit sich bringen
werden? Möglicherweise ist es doch so, dass sich einige
der Betroffenen sogar besser stellen, wenn sie den Weg
der Glaubhaftmachung wählen.
({1})
- Es kann sich sogar um eine noch größere Zahl von Betroffenen handeln, Herr Kollege. Vielleicht ist das allerdings ein bewusst gewähltes Verhalten. Ich sage Ihnen:
Durch die Verlängerung der Frist um fünf weitere Jahre
gewinnen Sie nach meinem Dafürhalten nichts. Es entstehen zwar zusätzliche Kosten, die getragen werden
müssen. Aber man gewinnt dadurch im Hinblick auf die
Rentendaten nicht mehr Sicherheit.
Ich will unsere Ablehnung der vorzeitigen Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdeckerhandwerk begründen: Wir haben bereits bei der Einführung des Saisonkurzarbeitergeldes erklärt, dass wir vor
einer Ausdehnung auf andere Branchen zunächst einmal
die Evaluation und die durch das Saisonkurzarbeitergeld
entstehende Kostenbelastung abwarten wollen. Daran
halten wir weiterhin fest.
Zudem ist zu erwarten - das kam auch in der Anhörung zum Ausdruck -, dass, nachdem das Dachdeckerhandwerk berücksichtigt wurde, relativ zügig weitere
Branchen in diese Regelung aufgenommen werden wollen. Mit welchem Argument wollen Sie anderen Branchen die Aufnahme versagen, wenn Sie dem Dachdeckerhandwerk dieses Recht eingeräumt haben? Nein, ich
denke, ohne Kenntnis der Folgen und der entstehenden
Kosten ist eine Ausweitung auf weitere Branchen nicht
verantwortbar und nicht zustimmungsfähig.
({2})
Insbesondere aus den letzten beiden Gründen, unserer
Ablehnung der Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung von Lohnunterlagen und unserer Ablehnung der
vorzeitigen Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes
auf das Dachdeckerhandwerk, können wir dem Entwurf
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes nicht zustimmen. Da wir allerdings die Einführung der vollständigen Kapitaldeckung beim Pensions-Sicherungs-Verein positiv bewerten, werden wir
uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
({3})
Den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ lehnen wir
aus den vorgetragenen Gründen ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich müsste morgen früh auf den Titelseiten der
Zeitungen erwähnt werden, dass wir heute Abend diese
Debatte führen.
({0})
Denn so viele ausgesprochen gute Dinge,
({1})
wie mit diesem Gesetz beschlossen werden, gibt es eigentlich selten auf einmal. Das zeigt: Die große Koalition ist gut für gute Nachrichten.
({2})
Gute Nachricht Nummer eins: Wir tun Gutes für die
betriebliche Altersvorsorge. Das Finanzierungsverfahren der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung wird auf vollständige Kapitaldeckung umgestellt und damit zukunftssicherer gestaltet.
({3})
Zudem wird auch das Geld, das im Wege der Entgeltumwandlung für die Altersvorsorge angespart wird, in den
Insolvenzschutz einbezogen.
({4})
Wir schaffen damit zusätzliche Anreize für den weiteren
Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge und dafür, dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
die Entgeltumwandlung nutzen, um fürs Alter vorzusorgen.
Das zentrale Thema bei der Debatte über die Altersvorsorge ist eigentlich nicht die gesetzliche Rente, sondern wie wir die zweite und dritte Säule der Altersversorgung - die betriebliche Altersversorgung und die
private, kapitalgedeckte Altersversorgung - so ausbauen, dass die Menschen im Alter von Altersarmut verschont bleiben und einen ausreichenden Lebensstandard
durch die drei Standbeine der Altersversorgung haben.
Deshalb ist der heutige Tag ein guter Anlass, alle Betriebe, alle Arbeitgeber, aber auch alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzufordern: Nutzen Sie die
Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge! Nutzen
Peter Weiß ({5})
Sie die Entgeltumwandlung, bei der Ihnen der Staat bares Geld schenkt! Dann steht Ihre Altersversorgung auch
in Zukunft auf sicheren Beinen. Das ist die Hauptbotschaft.
({6})
Die gute Nachricht Nummer zwei ist: Die große Koalition sorgt für Klarheit und Verlässlichkeit bei der
Rente.
({7})
Es gibt genügend publizistische und politische Strategen
- einer ist der Kollege Dr. Kolb, der gerade geredet
hat -, die mit Begriffen wie „Schrumpfrente“ die Rentnerinnen und Rentner verunsichern wollen. Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, stellen wir klar, dass
so genannte Zusatzjobs oder 1-Euro-Jobs - wie immer
man sie nennen will - das Lohnniveau, das für die Rentenberechnung maßgeblich ist, nicht nach unten ziehen
dürfen. Wir machen gleich Nägel mit Köpfen, indem wir
schon heute die Sozialversicherungsrechengrößen für
das Jahr 2007 festlegen.
({8})
Also schaffen wir Klarheit bei der Rentenberechnung.
Herr Dr. Kolb, Sie haben etwas zur Rente gesagt.
({9})
- Doch. - Unabhängig davon, dass dieses Jahr ein dreizehnter Sozialversicherungsbeitrag eingezogen wird, sagen uns alle Indikatoren: Es läuft bei der Rente ausgesprochen gut, sowohl was die Rentenfinanzierung des
Jahres 2006 betrifft als auch was die Rentenfinanzierung
des Jahres 2007 anbelangt. Deswegen muss endlich
Schluss sein mit der ständigen Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner! Mit Blick auf dieses Gesetz, aber
auch auf das, was uns an Daten, Zahlen und Fakten vorliegt, können wir eines sagen: Die Rente 2006 und die
Rente 2007 sind gut finanziert. Das ist eine gute Botschaft für die Rentnerinnen und Rentner in unserem
Land.
({10})
Gute Nachricht Nummer drei. Es wird dem Gesetzgeber, also uns, oftmals vorgeworfen, wir würden mit bürokratischen Regelungen das Leben der Menschen erschweren. Es ist gerade umgekehrt: Menschen machen
sich gegenseitig das Leben schwer. Ein Beispiel dafür ist
der Umgang mit dem Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis. Dieses Merkzeichen besagt, dass ein
Anspruch auf ständige Begleitung besteht. Herr Staatssekretär Thönnes hat schon geschildert, dass es vorgekommen ist, dass ein Mensch mit Behinderung, in dessen
Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „B“ stand,
im Schwimmbad oder in einer Disco abgewiesen worden
ist, nach Hause geschickt worden ist, weil er keinen Begleiter dabei hatte. Da hat jemand etwas falsch verstanden! Deshalb müssen wir im Gesetz jetzt leider ausdrücklich klarstellen, dass das Merkzeichen „B“ im
Schwerbehindertenausweis zwar zur Mitnahme einer
Begleitperson berechtigt, aber nicht verpflichtet, in jedem Fall und unbedingt eine Begleitperson dabeizuhaben.
({11})
Deswegen ist diese Klarstellung im Gesetz, die wir heute
vornehmen, auch ein Stück Kampf gegen die Diskriminierung behinderter Menschen in unserem Land. Ich
finde, auch das ist eine gute Nachricht für die Behinderten in Deutschland.
({12})
Wir entsprechen daneben dem ausdrücklichen Wunsch
der Deutschen Rentenversicherung und mehrerer Bundesländer, die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen
der früheren DDR bis 2011 zu verlängern.
({13})
Verehrter Herr Kollege Dr. Kolb, ich finde, wenn diejenige, die zuständig ist, nämlich die Deutsche Rentenversicherung, und die Bundesländer fordern, das zu tun,
dann sollten wir uns als Fachpolitiker im Bundestag
nicht gescheiter machen als die Deutsche Rentenversicherung und die davon betroffenen Bundesländer, sondern diesem berechtigen Wunsch entgegenkommen.
({14})
Die Kollegin Maria Michalk, die aus Sachsen kommt,
hat mir erzählt, dass sie heute eine ganze Reihe von Anrufen und E-Mails von Leuten bekommen hat, die gehört
haben, dass wir das heute regeln, und die sagen: Gott sei
Dank verlängert ihr die Frist. - Ich finde, es ist eine gute
Nachricht für die Menschen in den neuen Bundesländern, dass wir ihrem Wunsch nachkommen und die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen
heute beschließen.
({15})
Auch das, was Sie zum Dachdeckerhandwerk gesagt haben, kann ich nicht nachvollziehen. Das Dachdeckerhandwerk hat die tarifvertraglichen Voraussetzungen selbst geschaffen - dort sitzen ja Arbeitgeber und
Arbeitnehmer zusammen, die frei etwas vereinbaren -,
um das neue System zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung nutzen zu können. Wir als Bundestag können jetzt doch nicht sagen: Weil ihr das freiwillig miteinander vereinbart habt, lehnen wir als Gesetzgeber es ab,
euch in diese Förderung mit einzubeziehen.
({16})
Peter Weiß ({17})
Ich finde es richtig, dass wir sie noch vor dem Winter
und nicht erst nach dem Winter mit einbeziehen. Das ist
ja wohl auch logisch.
({18})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rohde?
Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, ich habe wirklich eine Wissensfrage. Ich kenne die Antwort selbst nicht. Wie sieht der
Tarifvertrag im Dachdeckerhandwerk, der jetzt gerade
beschlossen wurde, denn aus? Im Verlaufe des Jahres
- zu Beginn haben wir das Saisonkurzarbeitergeld im
Baugewerbe eingeführt - haben wir festgestellt, dass die
Tarifverträge vonseiten der Tarifpartner nachgebessert
wurden und dass jetzt Vorleistungen durch das Einbringen von Stunden für dieses Saisonkurzarbeitergeld entfallen sind. Wie sieht das jetzt aus?
({0})
Herr Kollege Rohde, es kann nicht nachgebessert
worden sein, weil das Dachdeckerhandwerk erst jetzt die
tariflichen Voraussetzungen geschaffen hat, um die Regelung überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Wir
als Gesetzgeber regeln, dass sie diese auch in Anspruch
nehmen können. Von daher muss ich sagen, dass Ihre
Frage etwas ins Leere geht.
({0})
Wir regeln in diesem Gesetz noch weitere Gegenstände, die ich nicht alle aufführen will. Wir verlängern
die Geltungsdauer der Regelungen bezüglich des Vermittlungsgutscheines, weil wir erst dann, wenn die Evaluierungsergebnisse der Wissenschaftler vorliegen, definitiv darüber entscheiden, ob es ihn so oder in anderer
Form auch in Zukunft geben soll. Zusammengefasst
finde ich, dass das alles gute Nachrichten sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie
alle persönlich fragen, ob Sie schon einmal einen Bus
verpasst haben. Wenn man einen Omnibus verpasst,
dann steht man nämlich in der Regel ziemlich dumm da.
Wir beschließen heute ein so genanntes Omnibusgesetz,
durch das eine Vielzahl unterschiedlicher Gesetzesmaterien geregelt wird. Ich finde, Sie sollten es alle nicht verpassen, in diesen Omnibus voll guter Nachrichten einzusteigen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Thönnes hat es ja schon ausgeführt:
Am Anfang dieses Omnibusgesetzes stand zunächst einmal allein und ausschließlich das Zweite Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes. In diesem Gesetz
wird geregelt - auch das ist ja schon angesprochen worden -, dass die Finanzierung der Insolvenzsicherung von
Betriebsrenten - und nur der Insolvenzsicherung und
nicht der Betriebsrenten - über den Pensions-Sicherungs-Verein auf volle Kapitaldeckung umgestellt wird.
Es hat sich erwiesen, dass alle Beteiligten davon profitieren: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben
durch diese Umstellung den Vorteil eines stärkeren
Schutzes ihrer Betriebsrente vor dem Risiko einer Insolvenz des Arbeitgebers. Die Arbeitgeber zahlen zwar für
einen überschaubaren Zeitraum von 15 Jahren zunächst
höhere, danach aber wegen der Zinseffekte niedrigere
Beiträge, sodass auch sie die Änderung begrüßt haben.
({0})
- Herr Kolb, darüber haben wir heute Abend nicht zu
diskutieren.
({1})
Wo es nur Gewinner und keine Verlierer gibt, herrscht
natürlich beste Stimmung. Wenn die Stimmung so gut
ist, kann man sie natürlich nutzen: Man stellt dann einen
Omnibus auf und packt all das hinein, was man in der
Sozialgesetzgebung schon längst erledigt haben wollte,
wozu man aber bislang keine Zeit oder keine Gelegenheit gefunden hat. Weil die Aussage der Kanzlerin, in
dieser Koalition gehe Sorgfalt immer vor Schnelligkeit,
nicht immer ganz richtig ist, hat man noch ein paar Gesetze hineingepackt, mit denen handwerkliche Fehler beseitigt werden.
Sie haben, wenn auch schamhaft, auch zwei rote Rosen aus dem Garten der Linken in den bunten Strauß eingebunden.
({2})
- Sie können sie als Stiefmütterchen bezeichnen. Stiefmütterchen sind aber, wenn ich das richtig sehe, nicht
rot. - Nachdem Sie gemäß Ihrem Grundsatz „Guter Antrag, falscher Antragsteller“ noch im März den Antrag
der Fraktion Die Linke, die 1-Euro-Jobs aus der Berechnung der Werte der Rentenversicherung herauszunehmen, als überflüssig abgelehnt haben, bringen Sie ihn
nun selbst ein. Besser spät als nie!
({3})
Volker Schneider ({4})
Kollege Brauksiepe, Sie behaupten immer wieder, damals - das hört sich bei Ihnen so an, als sei es Ewigkeiten her; es war im März - sei diese Änderung noch nicht
notwendig gewesen, fragten dann in der Anhörung aber
selbst den Gutachter der Rentenversicherung, ob es
angesichts des Zeitpunkts nicht sinnvoll sei, die Rechengrößen statt über Rechtsverordnungen direkt im Gesetzgebungsverfahren zu regeln. Was ist das: Ahnungslosigkeit, Ignoranz oder Schizophrenie?
({5})
Wären Sie damals unserem Antrag gefolgt, bestünde
jetzt nicht die Notwendigkeit, sich als Gesetzgeber in
den Tätigkeitsbereich der Exekutive einzumischen.
({6})
Damit Sie die zweite Rose besser im Strauß verstecken können, haben Sie vom Stiel ein Sechstel abgeschnitten. Ob Sie die Frist für die Aufbewahrung von
Lohnunterlagen aus der früheren DDR nur um fünf
oder, wie von uns gewünscht, um sechs Jahre verlängern, ist nun wirklich nicht der Punkt.
Es ist wichtiger - da muss ich im Ansatz dem Kollegen Kolb Recht geben -, zu überlegen, wie es uns in der
zusätzlich gewonnen Zeit gelingen wird, die Betroffenen
in den mindestens 1,3 Millionen Fällen ungeklärter Rentenkonten dazu zu bewegen, die erforderliche Klärung
vorzunehmen. Aufgrund unserer Erfahrungen sind wir
der Meinung, dass in vielen Fällen ein Mangel an Vertrauen in die Rente die Ursache der Zurückhaltung ist.
Die Betroffenen stellen sich die Frage: Warum viel Zeit
und Aufwand in eine solche Angelegenheit investieren,
wenn dabei unterm Strich doch nichts oder wenig herauskommt? Auch durch noch so viele Erinnerungen der
Deutschen Rentenversicherung wird sich diese Skepsis
nicht aufbrechen lassen.
({7})
Hier sind wir besonders gefordert.
Kurz noch etwas zu den anderen Blumen in diesem
Strauß: Die Fraktion Die Linke begrüßt ausdrücklich die
Einbeziehung der Dachdecker in die Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung sowie die Klarstellung hinsichtlich des Merkzeichens „B“ im Behindertenausweis.
Hinsichtlich der Verlängerung des Instruments der
Vermittlungsgutscheine haben wir im bisherigen Verfahren deutlich gemacht, dass wir Zweifel an den positiven Wirkungen dieses Instruments haben, Mitnahmeeffekte aber real beobachtbar sind. Daran ändern aus
unserer Sicht auch die vorgenommenen gesetzlichen Änderungen nichts. Wenn sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang durch eine Evaluation weitere Sicherheit verschaffen will, stehen wir diesem Ansinnen
nicht im Wege, unterstützen es aber auch nicht.
Die Einbeziehung der unter 25-Jährigen in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern lehnen wir grundsätzlich
ab. Die hier vorgenommene weitergehende Veränderung
lehnen wir zwar nicht ab, denn sie bringt eine Verbesserung für die Betroffenen; wir können ihr aber auch nicht
zustimmen.
In unserer ablehnenden Haltung gegenüber den Änderungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, die
von Ihnen als nur redaktionell bezeichnet wurden, sehen
wir uns durch die Anhörung bestätigt. Diesen Teil des
Antrags lehnen wir ab.
Man muss nicht jede Blume mögen, um einen Strauß
ansehnlich zu finden. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben schon deutlich überzogen.
Sie wissen vielleicht, warum Sie unserem Antrag
zwar gefolgt sind und die gewünschte Gesetzesänderung
bereits eingebracht haben, aber unserem Antrag nicht
folgen. Wir verstehen es nicht.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
vorgeschlagene Änderung des Betriebsrentengesetzes
findet unsere volle Zustimmung.
({0})
Durch eine bessere Insolvenzsicherung der unverfallbaren Anwartschaften wird die betriebliche Alterssicherung der Beschäftigten zukunftssicherer. Immerhin geht
es dabei um 8,5 Millionen Menschen.
({1})
- Warten Sie ab!
Die betriebliche und private Vorsorge wird - darin
sind wir uns einig - zunehmend wichtiger.
({2})
Wir hätten uns allerdings in diesem Zusammenhang gewünscht, dass auch die Möglichkeit, Betriebsrentenansprüche beim Wechsel des Arbeitsplatzes mitzunehmen,
verbessert worden wäre.
({3})
Herr Weiß, Sie führen immer wieder an, dass Sie so viel
Gutes tun. An dieser Stelle hätten Sie eine gute Chance
dazu gehabt, aber die große Koalition ist eben ein bisschen träge.
({4})
Wir unterstützen auch die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus früheren DDRBetrieben bis zum Jahre 2011, damit 1,3 Millionen Menschen, deren Renten noch nicht geklärt sind, keine Kürzung aufgrund fehlender Nachweise erfahren müssen,
wie es bei einer Glaubhaftmachung der Fall wäre.
Herr Kolb, ich finde es geradezu zynisch, dass Sie sagen, einige stellten sich mit der Glaubhaftmachung besser. Wenn Sie die kleine Rente einer Ostrentnerin hätten,
die noch um 16 Prozent gekürzt würde, dann würden Sie
anders reden.
({5})
So weit, so gut. Bis zu diesem Punkt haben Sie unsere
Zustimmung. Nun komme ich zum kritikwürdigen Teil
Ihres Vorhabens.
({6})
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hat die große Koalition Änderungen am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz im Ausschuss einfach angehängt. Damit haben
Union und SPD verhindert, dass sich der Bundestag ordnungsgemäß in einer ersten Beratung mit den Korrekturen am AGG beschäftigen kann. Das zeigt, wie peinlich
Ihnen der ganze Vorgang ist, und zwar zu Recht. Mit
hektischen Last-Minute-Änderungen am vormals rotgrünen Entwurf haben Sie schon im Sommer zahlreiche
Unstimmigkeiten geschaffen. Seitdem ist im AGG der
Wurm drin. Aber statt eine Wurmkur zu machen, vergrößern Sie heute mit den drei Änderungen noch die Löcher.
Ich nenne ein Beispiel aus dem Zivilrecht. Seit jeher
stehen in unserem Grundgesetz Religion und Weltanschauung gleichberechtigt nebeneinander. Völlig willkürlich beharrt Schwarz-Rot darauf, im Zivilrecht die
Weltanschauung aus dem Diskriminierungsschutz auszugrenzen. Das ist eine Diskriminierung von Freidenkern, Atheisten und Anthroposophen. Das gilt selbstverständlich jeweils auch für die weibliche Form.
Das nächste Beispiel betrifft die Verbändebeteiligung.
Ohne jeden sachlichen Grund beschneiden Sie nun auch
die Beteiligungsmöglichkeiten von Verbänden in Arbeits- und Sozialgerichtsverfahren. Diese Beschränkung
ist mit den EU-Richtlinien unvereinbar. Sie fordern nämlich starke Verfahrensrechte.
Das dritte Beispiel ist das Arbeitsrecht. Alle Fachleute sagen, den Bereich Kündigung aus dem AGG herauszunehmen, verstoße gegen die EU-Richtlinien zu
Beschäftigung und Beruf. Aber was machen Sie? Sie
nehmen Ihren richtlinienwidrigen Eingriff nicht etwa zurück, sondern werfen auch noch die letzten verbliebenen
Altersregelungen hinaus.
Staatssekretär Andres hat im Ausschuss gesagt, das
seien alles nur redaktionelle Änderungen. Aber ich frage
Sie, Herr Thönnes: Halten Sie es gerade vor dem Hintergrund der geplanten Rente mit 67 für gerechtfertigt, ältere Beschäftigte beim Kündigungsschutz schlechter zu
stellen? Die Anhörung im Ausschuss hat klipp und klar
gezeigt - übrigens waren keine Sachverständigen zu diesem Thema eingeladen; auch das macht etwas deutlich -,
dass Sie sehenden Auges richtlinienwidriges Recht beschließen. Sie schaffen damit - bewusst oder unbewusst rechtliche Grauzonen.
Das Antidiskriminierungsgesetz als solches ist nicht
das Problem. Dabei handelt es sich um ein gutes Gesetz.
Problematisch sind vielmehr Ihre Verschlimmbesserungen. Sie schaffen mit den beabsichtigten Änderungen ein
Beschäftigungsprogramm für die Gerichte.
Ich denke, der Koalitionsfrieden hat für Sie Vorrang
vor der Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger.
Was Sie hier machen, ist kein Nachbessern, sondern ein
Nachmurksen.
({7})
Im Ausschuss haben wir getrennt über die einzelnen
Punkte abgestimmt, sodass wir die AGG-Regelungen
ablehnen konnten. Allen anderen Punkten haben wir zugestimmt. Heute wird über den gesamten Entwurf abgestimmt. Daher enthalten wir uns der Stimme.
Ich danke Ihnen.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus
Brandner, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn so viele
Fraktionen dem Gesetzentwurf zustimmen oder zumindest in Teilen zustimmen, dann haben wir ein gutes Gesetz für die Menschen in diesem Land gemacht.
({0})
Insofern hat Peter Weiß Recht: Heute ist ein guter Tag
für das Parlament.
Die Kollegin Schewe-Gerigk hat die heutige Debatte
zum Anlass genommen, um auf das AGG einzugehen
und die Frage nach dem besonderen Kündigungsschutz
für Ältere in Tarifverträgen aufzuwerfen. Ich weise in
diesem Zusammenhang darauf hin, dass das, was wir in
einem Änderungsantrag als Klarstellung zu dem Gesetzentwurf vorgesehen haben, bewirkt, dass sowohl der allgemeine als auch der besondere Kündigungsschutz
durch das AGG nicht berührt werden. Es ist wichtig,
dass die Menschen in diesem Land wissen, dass wir
nicht für eine Verschlechterung sorgen, sondern eine
Klarstellung herbeiführen. Sowohl der allgemeine als
auch der besondere Kündigungsschutz bleiben wirksam.
Die Streichung der Regelbeispiele in § 10 Nr. 6 und
Nr. 7 AGG ist rein redaktioneller Art und hat keine
Rechtswirkung. Das möchte ich ausdrücklich feststellen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht nur mit dem
Zweiten Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes etwas Gutes bewirken. Vielmehr zeigen die Koalitionsfraktionen auch, dass sie flexibel und schnell
handeln können, wenn es den Menschen dient. Die Winterbauförderung für das Dachdeckergewerbe führt
dazu, dass die Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Wir wollen das Dachdeckergewerbe in
eine gesetzliche Regelung einbeziehen. Schließlich sind
die dort tätigen Menschen aufgrund witterungsbedingter
Schwankungen einer besonderen Beschäftigungssituation ausgesetzt. Diese Regelung ist ein wichtiger Schritt
hin zu stabilen Beschäftigungsbedingungen und ein Beitrag gegen die Verunsicherung in diesem Lande. Das
nimmt den Menschen Zukunftsängste.
({1})
Diese Regelung, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern
Planungssicherheit gibt, ist ein gutes Beispiel für die
funktionierende Tarifautonomie in diesem Land. Denn
es zeugt von großer gemeinsamer Verantwortung der Tarifvertragsparteien, dass sie den notwendigen tarifpolitischen Rahmen geschaffen haben, der uns als Gesetzgeber in die Lage versetzt, eine wirksame Regelung für die
Menschen zu beschließen, die der Winterarbeitslosigkeit
im Baugewerbe sonst ausgesetzt wären. Damit erhalten
die betroffenen Menschen in der Schlechtwetterzeit eine
Arbeitsplatz- und Beschäftigungssicherung.
Ein weiterer Bereich, den wir regeln, betrifft den Vermittlungsgutschein. Hier geht es darum, Menschen bessere Beschäftigungschancen zu eröffnen und schneller in
Arbeit zu bringen. Die Koalitionsfraktionen von CDU/
CSU und SPD haben sich darauf geeinigt, die Geltungsdauer des bestehenden Vermittlungsgutscheins um ein
Jahr zu verlängern. Das gibt den Beschäftigten in diesem
Gewerbe Planungssicherheit, eröffnet aber auch den
Menschen Chancen, die auf eine bessere Vermittlung in
Arbeit angewiesen sind. Für uns sind die privaten Arbeitsvermittler eine ausgesprochen belebende Ergänzung
der öffentlichen Vermittlung. Hierfür spricht, dass die
Bundesagentur für Arbeit die privaten Vermittler zunehmend als Kooperationspartner annimmt. Das haben wir
zumindest der Stellungnahme zu der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf entnehmen können.
Wir haben das Instrument der Vermittlungsgutscheine
weiterentwickelt und sehen uns in der Evaluation bestätigt. Danach haben Vermittlungsgutscheinbesitzer deutlich bessere Integrationsaussichten; das haben wir beabsichtigt. Wir haben uns vorgenommen, auf der Basis der
Evaluation den Instrumentenkasten insgesamt auszuwerten und zu ermitteln, wie dieses Instrument wirkt, wenn
es qualitativ weiterentwickelt wird. Solange die Vermittlungsgutscheine dazu beitragen, mehr nachhaltige sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu
schaffen, werden wir die Geltungsdauer dieses Instruments verlängern. Wenn dem nicht so ist, werden wir das
in den Evaluationsprozess einbeziehen und entscheiden,
ob wir das Instrument weiter einsetzen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
kannt, dass uns eine persönliche Erklärung der Kollegin
Silvia Schmidt nach § 31 der Geschäftsordnung vor-
liegt.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Betriebsrentengesetzes, Drucksache 16/1936.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/3007, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Fraktionen der Linken, der SPD und der
CDU/CSU bei Enthaltungen der Fraktionen der Grünen
und der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Lesung mit demselben Ergebnis wie in
zweiter Lesung angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3007 empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 16/2746 mit dem Titel „Aufbewahrungsfrist der
Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember
2012 verlängern“. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/
CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der Fraktion der Grünen ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand
- Drucksache 16/2678 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Herbert Schui, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Regelmäßige technische Überprüfung der
Stromnetze
- Drucksache 16/1447 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Kurt Hill, Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir zurzeit auf dem Energiemarkt beobachten, ist
doch ein Stück aus dem Tollhaus.
({0})
Die Energiekonzerne glauben, sie können tun und lassen, was sie wollen, und die Regierung sieht tatenlos zu.
Die Strom- und Gasnetze sind nahezu vollständig in
der Hand von RWE, Eon, Vattenfall und EnBW.
80 Prozent der Kraftwerkskapazitäten werden von den
großen Vier kontrolliert. Wird erwogen, in das Kartell
einzugreifen, drohen die Konzerne schon einmal indirekt
mit Stromausfall. Man wolle den Neubau von Kraftwerken zurückhalten, wenn mehr reguliert werde. Eine Drohung nach der anderen. Die 13,5 Milliarden Euro Profit
letztes Jahr waren wohl nicht genug. Irgendjemand
kriegt den Hals wohl nicht voll.
Nun gibt es neben RWE und Co. neue Energieanbieter auf dem Markt. Tatsächlich ist gut die Hälfte der geplanten Kraftwerksprojekte von anderen Unternehmen
geplant. Doch von Wettbewerb keine Spur. Da wird
schlicht der Zugang verweigert, Bürokratie vorgeschoben oder es werden unerfüllbare Auflagen gemacht. Ein
Beispiel: Im Fall von Engpässen sollen die Kraftwerke
der großen Vier Vorrang vor Anlagen anderer Anbieter
haben. Mit anderen Worten: RWE und Co. können die
Konkurrenz ausschalten. Ein anderes Beispiel: RWE
verlangt von einem Energieanbieter, der ein neues Kraftwerk plant, er soll doch bitte 600 Millionen Euro für
150 Kilometer Netzausbau selber zahlen. Das ist faktisch das Aus für solch ein Projekt. RWE kann so das
Energieangebot weiter knapp halten und die Börsenpreise für Strom manipulieren.
Aus meiner Sicht ist das Missbrauch. So kann es nicht
weitergehen.
({1})
Die Netzeigner weigern sich auch, die Netze auf den
wachsenden Anfall erneuerbarer Energien auszurichten.
Das Ergebnis heißt dann Lastenmanagement. Auf
Deutsch, Windkraftanlagen werden schlicht abgeschaltet, wenn bei guten Windverhältnissen viel CO2-freier
Strom erzeugt wird. Der Netzausbau richtet sich also
nicht nach der Zukunftsfähigkeit der Energieversorgung,
sondern nach Eigeninteressen und Profit.
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Die
Bundesnetzagentur ist unverzichtbar, um die jetzige Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wir
unterstützen die Fachleute nach Kräften; denn die Aufgaben sind enorm. Die Linke fordert deshalb eine Anhebung des Etats der Behörde um 5 Millionen Euro, auch
damit sie die technische Sicherheit der Netze neutral und
kompetent überwachen kann. Das ist übrigens unabhängig von der Eigentumsfrage notwendig.
Mit Blick auf die Marktmacht der großen Vier wird
aber der Erfolg der Bundesnetzagentur begrenzt bleiben.
Sie kann naturgemäß keine Entscheidungen darüber treffen, wie die Energieversorgung und damit die Netzstruktur zukünftig aussehen soll. Die Kontrolle der Netzbetreiber stößt aber auch schnell an Grenzen, wenn es um
die Betriebsgeheimnisse geht. Beispiel: Das Gutachten
zum katastrophalen Stromausfall im Münsterland konnte
nur teilweise veröffentlicht werden, weil - ich zitiere „es Bezug nimmt auf interne Unterlagen der RWE, die
als Geschäftsgeheimnisse deklariert sind“.
Was am Ende herauskommt, erleben die Strom- und
Gaskunden dieser Tage: Die Netzagentur senkt die
Netzentgelte. Die Energieversorger erhöhen die Kosten
bei der Erzeugung. Unterm Strich kann man froh sein,
dass die Preiserhöhung geringer ausfällt. Von sinkenden
Strom- und Gaspreisen kann also keine Rede sein.
Fazit: Die Netze sind gewissermaßen die Achillesferse der Energieversorgung. Sie gehören deshalb in die
öffentliche Hand, um dem Versorgungsanspruch gerecht
zu werden, Missbrauch zu verhindern, die Energieversorgung zukunftsgerecht zu gestalten und für die Kommunen eine umfassende Mitgestaltung zu gewährleisten.
({2})
Deshalb liegen Ihnen heute zwei Anträge zur Entscheidung vor. Stellen Sie sich auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher! Stimmen Sie den Anträgen zu!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Analyse können wir uns in diesem Hause
über einiges verständigen; in der einen oder anderen
Frage sind wir einigermaßen gleicher Meinung. Aber in
der Bewertung und vor allem in den Schlussfolgerungen
- ich werde gleich darauf eingehen - sind wir es mit Sicherheit nicht.
In der Tat ist festzustellen, dass der Wettbewerb im
Energiebereich - dazu zählen nicht nur der Strombereich, sondern selbstverständlich auch die Wärme und
das Gas - und auch auf anderen Feldern - ich erinnere
nur an den Transport und an den Verkehr - noch nicht
richtig funktioniert. Gerade beim Strom - man muss da
unterscheiden und sollte nicht alles über einen Kamm
scheren - haben wir 1998 bewusst den Weg in die Liberalisierung beschritten. Die Liberalisierung und der
Wettbewerb im Strombereich funktionieren bisher aber
nur eingeschränkt. Insoweit sind wir in der Analyse noch
einig.
Im Erzeugungsbereich gab es anfänglich wesentliche
Fortschritte bei der Liberalisierung: Rationalisierungsund Liberalisierungseffekte in einer Größenordnung von
8,5 Milliarden Euro. Das kam den Stromverbrauchern direkt zugute: Ende der 90er-Jahre und in den Jahren 2000
bis 2001 hatten wir sinkende Strompreise zu verzeichnen.
Auf der anderen Seite gibt es Bereiche wie das natürliche Monopol Netz, in denen wir in Deutschland erst einen Sonderweg beschritten haben, nämlich den des verhandelten Netzzugangs. Dieser Weg hat sich nicht als
erfolgreich erwiesen. Aus Einsicht und weil in der EU
mit den Beschleunigungsrichtlinien ein anderer Weg beschritten wird, haben wir letztes Jahr mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes die Grundlage gelegt, im Bereich des natürlichen Monopols Netz einen
Wettbewerb zu implementieren, der ebenfalls dafür
sorgt, dass es zu sinkenden Preisen und Entgelten
kommt.
Im Energiewirtschaftsgesetz ist für eine Übergangsphase bis einschließlich 2007 - das Gesetz ist im Juli
letzten Jahres in Kraft getreten - eine Ex-ante-Kostenregulierung vorgesehen. Dafür brauchen wir die Bundesnetzagentur, die in der Tat der Kostenkalkulation auf den
Grund geht und in diesem Jahr wirklich erfolgreich arbeitet. Im Grunde stündlich gehen die Bescheide ein,
was Gas- und Stromentgelte anbelangt. Insofern ist hier
mit Sicherheit eine preisdämpfende Wirkung festzustellen. Die Monopolrenditen werden dadurch reduziert.
Wir haben uns aber auch darauf verständigt, für die
Zeit vom 1. Januar 2008 an in diesem Bereich eine Anreizregulierung zu implementieren, die Vergleichsmärkte in den Blick nimmt und gerade erst im Entstehen
ist. Sie wird am 1. Januar 2008 in Kraft treten und soll
dann ihre Wirkung entfalten, was sie, gut angelegt, mit
Sicherheit auch tun wird.
Das Folgende sage ich nicht nur zu Ihrem Antrag,
sondern auch zu der Diskussion auf europäischer Ebene,
die aktuell geführt wird und für die, wenn ich das richtig
sehe, Teile des Koalitionspartners gewisse Sympathien
hegen. Ein eigentumsrechtliches Unbundling wäre maximal ein weiterer Schritt, der zu prüfen wäre, wenn die
anderen Instrumente nicht funktionieren würden.
Mit Verlaub, Herr Kollege Hill: Sie haben das Ganze
zwar differenziert dargestellt und gesagt, dass die Bundesnetzagentur benötigt und eigentlich auch gestärkt
werden müsse, aber wenn ich Ihren Antrag richtig sehe,
dann fordern Sie mit einem Griff in die sozialistische
Mottenkiste - dazu fällt mir nichts mehr ein -, als wären
40 Jahre DDR-Sozialismus mit „Ruinen schaffen ohne
Waffen“ spurlos an Ihnen und uns vorübergegangen, die
Enteignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und
Gasnetze.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill?
Selbstverständlich. Ich habe heute Abend keinen Termin mehr. Insofern habe ich viel Zeit. Zumindest habe
ich meinen nächsten Termin erst um 8 Uhr.
({0})
Wir haben noch einen Termin.
Herr Kollege Pfeiffer, Sie haben gerade von der SEDVergangenheit gesprochen, die Sie wieder aus der Mottenkiste ausgegraben haben.
Ich habe aus Ihrem Antrag zitiert.
In zwei Ländern, nämlich in Dänemark und in den
Niederlanden, sind die Netze verstaatlicht worden. Beide
Länder haben meines Erachtens relativ konservative Regierungen. Meinen Sie, dass der Weg, der dort beschritten worden ist, falsch ist?
Auch in diesem Fall gilt, Herr Kollege Hill, dass man
sich zunächst einmal mit dem Sachverhalt auseinander
setzen und dass man prüfen sollte, wie sich die Lage
wirklich darstellt. Die Situation unterscheidet sich in allen anderen europäischen Ländern mit Ausnahme Österreichs von der in Deutschland. Traditionell haben sich in
den anderen europäischen Ländern die Netze bereits in
einer Hand, vormals zumeist in staatlicher Hand, befunden. Das gilt zum Beispiel für England und auch für
Frankreich. Dort gibt es eine ganz andere Tradition: Die
Dinge haben sich seit 100 Jahren, seit Entstehen der
Netze, ganz anders entwickelt als in Deutschland.
Ich glaube nicht, dass eine Lösung für Deutschland in
der Errichtung dezentraler Netze bestehen würde. Sie
haben Recht, dass es nur vier Übertragungsnetzbetreiber
gibt. Das gesamte deutsche Stromnetz und die Verteilungsebene befinden sich aber in den Händen mehrerer
Hundert Betreiber, etwa von Stadtwerken. Ich habe nur
Ihren Antrag zitiert. Sie wollen, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzentwurf einzubringen - ich wiederhole das -, der eine Enteignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und
Gasnetze zum Gegenstand hat.
({0})
- Ich bin noch bei der Beantwortung der Frage von
Herrn Hill. Vielleicht können Sie die Uhr anhalten, Frau
Präsidentin.
Sie fordern eine Verstaatlichung. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg, Herr Hill. Er ist wirklich nur mit
dem Griff in die sozialistische Mottenkiste zu begründen.
({1})
- Herr Kurth fordert mit Sicherheit nicht die Verstaatlichung der Netze. Das wäre mir ganz neu. Das hat er weder bei seiner Berichterstattung in der letzten Beiratssitzung, in der Sie wohl nicht anwesend sein konnten, noch
sonst wo gefordert.
Nichtsdestotrotz ist Tatsache, dass der Wettbewerb in
dem Erzeugungsbereich nicht richtig funktioniert. Doch
inzwischen haben wir im Netzbereich die Instrumente
dafür angelegt. Nun müssen wir noch dafür sorgen, dass
sie entsprechend wirkungsvoll werden. Unterstützen Sie
uns deshalb bei der Umsetzung einer Anreizregulierung,
die preisdämpfend wirkt!
Insgesamt kann ich nur davor warnen, dass die Politik
falsche Hoffnungen weckt. Sie vermitteln den Eindruck,
es müsse nur alles in staatliche Hand überführt werden,
dann würden die Preise stabil bleiben oder sogar sinken.
Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Wenn wir
uns für den Weg der Liberalisierung und der Marktwirtschaft entschlossen haben, müssen wir diesen Weg
auch konsequent gehen. Das fordere ich ein. Bislang gehen wir ihn nämlich nicht konsequent. Wir haben im Bereich der Erzeugung heute noch keinen richtigen Wettbewerb. Deswegen haben wir beispielsweise gesagt, dass
die Tarifpreisgenehmigung im nächsten Jahr auslaufen
soll.
Es gibt aber auch Leute, die fordern, die Tarifpreisgenehmigung zu verlängern. Dann würden wir ein staatliches Siegel für die gesamten Stromkosten behalten, welches den Preis, bei dem durchaus Spielraum besteht
- weil dieser Spielraum besteht, ist doch das Kartellamt
mit seinen Bemühungen gescheitert -, legitimiert. Der
marktkonforme Weg muss und wird deshalb sein, das
Kartellamt entsprechend zu stärken. Nicht wir sollten die
Tarifkontrolle ausüben, sondern das Kartellamt. Dafür
müssen wir die Vorschriften über die Missbrauchsaufsicht anpassen und dem Kartellamt zeitlich begrenzt
- bis es auch im Erzeugungsbereich im notwendigen
Umfang funktioniert - die entsprechenden Möglichkeiten einräumen.
({2})
- Sie können ja gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich
habe, wie gesagt, ja noch Zeit.
({3})
Herr Kollege, die Zwischenfragen lässt die Präsidentin zu.
({0})
Vielen Dank für die Hilfestellung in der Interpretation
der Geschäftsordnung.
Mehr Wettbewerb gibt es nur mit mehr Erzeugung.
Wir brauchen dezentrale Erzeugung, die jetzt ja auch
wieder attraktiv wird. Deshalb müssen wir die Netzzugangsbedingungen verbessern. Die Bundesnetzagentur
und das Bundesministerium für Wirtschaft sind gefordert, den Netzzugang so zu konzipieren, dass neue Wettbewerber die Möglichkeit haben, einzuspeisen. Das gilt
sowohl für die Wettbewerber aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, von denen es viele Klagen gibt, dass
sie nicht richtig einspeisen können, als auch für neue
Wettbewerber aus dem Bereich der fossilen Energien,
die in Deutschland an den Markt kommen wollen.
Wir werden nur mit mehr Liquidität im Markt erreichen, den Wettbewerb zu stärken. Deshalb werbe ich dafür, dass wir nicht das zarte Pflänzchen des Wettbewerbes, das gerade im Begriff ist, sich zu entwickeln, kaputt
treten und durch staatliche Reglementierungen ersetzen.
Es ist nämlich nicht so, dass der Staat alles besser weiß
und deshalb Preise festsetzen kann. Vielmehr müssen
wir den Wettbewerb so stärken, dass er auch wirklich
greift. Das geht eben nur mit marktkonformen Instrumenten. Damit stärken wir zugleich die Wahlfreiheit der
Kunden. Wie in anderen Bereichen soll der Kunde auswählen können, woher er seinen Strom und seine Energie bezieht. Im Ergebnis setzt dann, in marktkonformer
Weise, der Kunde die Höchstpreise fest. Das ist heute
nicht der Fall.
Nur wenn wir unseren Weg konsequent weitergehen,
dann werden wir - das wird allerdings noch eine gewisse
Zeit dauern - die Früchte unserer Bemühungen ernten
können, nicht aber bei einer Verstaatlichung und Vergesellschaftung der Netze. Das hat schon in der DDR nicht
funktioniert; daran leiden wir noch heute. Sie aber fordern das heute wieder ein! Das ist der falsche Weg. Der
marktkonforme Weg ist der richtige. Diesen wird die
Koalition - hoffentlich mit Unterstützung der FDP und
vielleicht auch der Grünen - beschreiten.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Wir stehen im Deutschen Bundestag vor der
Frage, worauf wir setzen: auf Verstaatlichung von Netzen oder auf eine konsequente Regulierung der Netze,
um einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu gewährleisten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben uns dafür
entschieden, hier auf konsequente Regulierung zu setzen, weil wir anders leider nicht zu mehr Wettbewerb auf
dem Energiemarkt kommen; da gebe ich dem Kollegen
Pfeiffer ausdrücklich Recht. Die Stärkung des Wettbewerbs ist aber notwendig und Voraussetzung dafür, dass
wir überhaupt die Chance zur Kostensenkung erhalten.
({0})
Herr Kollege Hill, Sie setzen in einer Reflexbewegung, die aus jahrzehntelang geübter politischer Überzeugung in die Neuzeit übertragen wurde, wiederum auf
den Staat und sagen tatsächlich, hier müsse eine Verstaatlichung der Netze erfolgen; die führe automatisch
zu niedrigeren Preisen. Das ist eine Logik, über die ich
nicht einmal mehr lachen kann.
({1})
Gerade das Beispiel Airbus zeigt doch: In dem Moment, wo sich Politik in dem Sinne einmischt,
({2})
dass sie versucht, wirklich ins Management einzugreifen, in dem Moment, wo nicht Unternehmer einen Betrieb führen, sondern sich der Staat direkt einmischen
soll, geht meist vieles schief. Wir haben erlebt, dass dort,
wo das Regime vom Staat übernommen wird, mehr Bürokratie, mehr Ineffizienz und viel mehr Kosten entstehen. Diese Lektion können wir lernen.
({3})
Sie fordern in Ihrem Antrag ein eigentumsrechtliches
Unbundling, also eine Entflechtung von Netzen und Erzeugung, zum jetzigen Zeitpunkt. Ich glaube, dass dies
der falsche Weg ist. Wir haben das auch in der FDPBundestagsfraktion diskutiert und sind zu der Ansicht
gekommen, dass es wichtig ist, die Wirksamkeit aller Instrumente, die hier zu einer Entflechtung führen sollen
- organisatorische, buchhalterische und ab dem nächsten
Jahr auch rechtliche -, zu prüfen und dann abzuwarten,
ob mit der Anreizregulierung die von uns allen angestrebte Entflechtung und damit auch Wettbewerbsstärkung erfolgen. Die eigentumsrechtliche Entflechtung
kann nach unserer Überzeugung allenfalls ein allerletztes Instrument sein, wenn denn gar nichts anderes mehr
geht.
({4})
Zur Historie - der Kollege Pfeiffer hat das ganz richtig dargestellt -: In den anderen EU-Staaten haben und
hatten wir es zumeist mit einem großen Staatsunternehmen zu tun, während wir in Deutschland immerhin bis
zu 1 700 Netzbetreiber haben.
({5})
Sie müssen bedenken, dass bei einer solchen Entflechtung zum jetzigen Zeitpunkt auch mit großen Gerichtsverfahren zu rechnen wäre. Die Zeit sollten wir lieber nutzen, um zur Herstellung von Wettbewerb die
richtigen Instrumente einzusetzen. Dafür haben wir die
Bundesnetzagentur. Sie soll wirken. Wir haben daneben das Bundeskartellamt, das als Missbrauchsaufsichtsbehörde sehr wertvolle Dienste leistet und das man
personell noch verstärken sollte; das wäre sinnvoll.
Nun braucht man bei einer solchen Regulierung natürlich das Instrument der Geduld. Wir müssen Geduld
aufbringen, damit sich die Wirkung dessen, was wir mit
dem Energiewirtschaftsgesetz beschlossen haben, auch
entfalten kann. Ich sage es noch einmal: Der diskriminierungsfreie Netzzugang ist das Allerwichtigste, damit
weitere Erzeuger und neue Anbieter hier Fuß fassen können und damit die Verbraucher in die Lage versetzt werden, zum jetzigen Zeitpunkt ihre Anbieter zu wechseln
- beim Gas vermehrt erst in Zukunft -, damit es hier
hoffentlich zu Preissenkungen kommt.
({6})
Das kann man nicht versprechen. Aber das ist natürlich auch unser Ziel, denn es kann nicht sein, dass Politik
hilflos zusieht, wie hier Monopolstrukturen - darum
geht es - weiter bestehen können, ohne dass wir versuchen, in besserer Weise einzuwirken.
Das heißt also, liebe Kollegen und Kolleginnen, wir
sind uns einig - die meisten jedenfalls, glaube ich -, dass
eine Verstaatlichung auf gar keinen Fall der richtige Weg
ist. Vielmehr müssen wir den Wettbewerb durch konsequente Regulierung stärken. Wir sollten alles daransetzen, gemeinsam die Bundesnetzagentur in ihren Bemühungen zu unterstützen. Wir sollten nicht ständig neue
Instrumente erfinden und jetzt zum Beispiel eine Preisaufsicht aus dem Hut ziehen, statt abzuwarten, ob sich
die Wirkungen dessen, was wir bereits beschlossen haben, jetzt entwickeln. Also: keine Verstaatlichung, sondern konsequent an der Herstellung von mehr Wettbewerb arbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einer der beiden Anträge, die die Linke zur heutigen Debatte gestellt hat, ist fast untergegangen. In diesem Antrag geht es um die regelmäßige technische
Überprüfung der Stromnetze. Allein die Antragstellung
suggeriert natürlich schon, in dieser Beziehung sei in
den letzten Jahren nichts geschehen. Das ist falsch. Wir
haben im letzten Jahr - das ist mehrfach erwähnt worden - ein neues Energiewirtschaftsgesetz auf den Weg
gebracht. Da heißt es in § 13 Abs. 7:
Zur Vermeidung schwerwiegender Versorgungsstörungen haben Betreiber von Übertragungsnetzen
jährlich eine Schwachstellenanalyse zu erarbeiten
und auf dieser Grundlage notwendige Maßnahmen
zu treffen. Das Personal in den Steuerstellen ist entsprechend zu unterweisen. Über das Ergebnis der
Schwachstellenanalyse und die notwendigen Maßnahmen hat der Übertragungsnetzbetreiber jährlich
bis zum 31. August der Regulierungsbehörde zu berichten.
Im Übrigen ist in § 14 genau die gleiche Regelung für
die Betreiber von Elektrizitätsverteilungsnetzen vorgesehen.
Die Regelungen im Energiewirtschaftsgesetz sind
aber nicht nur vorbeugend, sondern auch nachsorgend.
Wenn es etwa um bereits stattgefundene Versorgungsstörungen geht, sieht das Energiewirtschaftsgesetz in § 52
entsprechende Meldepflichten vor. Ich könnte auch das
im Einzelnen zitieren, will es Ihnen aber ersparen.
Es wird jedenfalls ganz klar deutlich, dass wir bereits
im letzten Jahr, als wir das Energiewirtschaftsgesetz auf
den Weg gebracht haben, auch an den Aspekt der Qualität gedacht haben und selbstverständlich auch im Einzelnen dafür gesorgt haben, dass die Bundesnetzagentur
über die notwendigen Instrumente verfügt, um diese
Qualität auch durchzusetzen.
({0})
Der zweite Punkt, den ich nannte, also die nachsorgende Beschäftigung mit Versorgungsunterbrechungen,
die stattgefunden haben, hat gerade im letzten Jahr eine
besondere Rolle gespielt. Sie haben es eben indirekt erwähnt: Es gab die Stromausfälle im RWE-Netz im
Münsterland. Es hat sich gezeigt, dass hier in der Tat der
genannte Mechanismus gegriffen hat. Es gab ein umfängliches Gutachten der Bundesnetzagentur. Dabei
wurde durchaus auch bestätigt, dass das galt, was der
Netzbetreiber für sich in Anspruch genommen hat, dass
nämlich vor allen Dingen äußere Faktoren zu diesem
Unglück geführt haben. Gleichzeitig hat die Bundesnetzagentur das Unternehmen aber angewiesen, das bestehende Sanierungskonzept zu beschleunigen.
Ich denke, all das sind nicht nur Nachweise, dass wir
gesetzgeberisch gehandelt haben, sondern dass dieses
Handeln tatsächlich auch entsprechende Wirkung zeitigt.
Übrigens gilt das Gleiche - auch das will ich jetzt nicht
im Einzelnen zitieren - für die Gasnetze.
Auch im Zusammenhang mit dem Thema Anreizregulierung haben wir uns mit diesem Qualitätsaspekt,
den Sie hier anbringen, beschäftigt. Insofern - ich will
auch das jetzt nicht vertiefen - ist klar, dass auch das Anreizregulierungskonzept, das jetzt vorgelegt worden ist,
und die Verordnung, die jetzt erarbeitet wird, neben dem
kosteneffizienten Netzbetrieb auch ein Augenmerk auf
Qualität und auf Investitionen legen. Im Übrigen würde
ich mir wünschen, dass die Zusammenhänge häufiger
beachtet würden; in der Energieversorgung geht es nämlich immer um mehrere Ziele. Wir wollen immer eine
umweltverträgliche und zugleich preisgünstige Energieversorgung. Dabei soll es auch eine langfristige Versorgungssicherheit geben. Dass dies Zielkonflikte sind,
dürfte jedem klar sein. Dass die hohe Qualität auch etwas kostet, muss man den Menschen im Lande gelegentlich sagen. Man darf ihnen nicht suggerieren, als hätten
wir beliebig viele Möglichkeiten, die Energiepreise nach
unten zu regulieren. Wir müssen immer einen Kompromiss zwischen Preiswürdigkeit auf der einen Seite und
Versorgungssicherheit, Qualität und Investitionen auf
der anderen Seite finden.
Der zweite Antrag, mit dem wir uns hier beschäftigen, befasst sich mit der Verstaatlichung der Stromund Gasnetze. Wir haben zu diesem Thema schon mehrfach Anträge der Linken gehabt, die in eine ähnliche
Richtung gingen. Das ist für uns nichts Neues, für die
Linken selber auch nicht. Das hat ein wenig mit ihrer
Historie zu tun. Ich will diesen Antrag nicht weiter kommentieren. Ich sage nur: Wir haben begonnen, einen anderen Weg zu gehen. Wir haben im letzten Jahr die Bundesnetzagentur eingerichtet. Sie hat darüber zu wachen,
dass die organisatorische Entflechtung, die wir beschlossen haben, erfolgreich umgesetzt wird. Sie soll einen diskriminierungsfreien Netzzugang durchsetzen und sie soll
letztlich auch sinkende Netzentgelte bewirken.
Die Bundesnetzagentur ist diesen Weg bereits ein
kleines Stück gegangen. Wir können schon zu diesem
sehr frühen Zeitpunkt feststellen: Die Netzentgelte sinken in der Tat, in Teilen auch die Endverbraucherpreise.
Es ist nicht ganz verwunderlich, dass sinkende Netzentgelte nicht jedes Mal und sofort auf die Endpreise durchschlagen. Wer die Berichte der Bundesnetzagentur
kennt, weiß, dass Geschichte nicht stehen bleibt und dass
zwischenzeitlich neue Sachverhalte eingetreten sind, die
zu bestimmten Verrechnungsmechanismen geführt haben, die aber wiederum von der Bundesnetzagentur entsprechend überwacht worden sind.
Wir haben im Übrigen - auch dies ist schon mehrfach
im Plenum angesprochen worden - verschiedene andere
Instrumente in Vorbereitung, um die Wirksamkeit der
Tätigkeit der Netzagentur weiter zu verstärken. Dazu gehört zum einen die Kraftwerksanschlussverordnung.
Es geht darum, neuen Anbietern eine möglichst faire
Chance zu geben, mit ihren neuen Kraftwerken ans Netz
zu gehen und am Netz zu bleiben. Es ist also beileibe
nicht so, als sei die Benachteiligung der kleinen oder
neuen Anbieter vorprogrammiert. Bei der neuen Kraftwerksanschlussverordnung geht es darum, Wettbewerb
im Bereich der Erzeugung zu fördern und einen Preisdruck zu bewirken. Dieser Verordnung kommt sozusagen eine Scharnierfunktion zwischen dem Bereich der
Netze und der Kraftwerke zu.
Im Übrigen ist es so, dass die Bundesnetzagentur
durchaus Instrumente hat, um zum Beispiel Engpassmanagement zu organisieren und in einem weiteren
Schritt beispielsweise über die Festlegung von Investitionsbudgets und Ähnlichem dafür zu sorgen, dass auch
ein Netzausbau stattfindet. All die Punkte, die eingefordert worden sind, sind bereits umgesetzt oder werden gerade durch entsprechende gesetzliche Initiativen vorbereitet.
Anstatt auf den Staat zu setzen, der Netze übernimmt
- am Ende vielleicht noch die Kraftwerke selbst und den
Vertrieb -, anstatt also auf die Schaffung eines Staatsmonopols in Deutschland zu setzen, sollten wir, wie es Herr
Dr. Pfeiffer gerade gefordert hat, eher auf den WettbeRolf Hempelmann
werb setzen. Weil es in den Medien eine sehr missverständliche Berichterstattung in den letzten zwei Tagen
gegeben hat, sage ich sehr deutlich: Ich persönlich, aber
auch die SPD begrüßt die Initiative zu einer Novelle des
GWB, um zu einer Stärkung der Missbrauchsaufsicht
beim Kartellamt zu kommen.
({1})
Man wird aber darüber streiten dürfen, wie das im
Einzelnen ausgestaltet wird. Es ist opportun - es gehört
sich auch so -, dass man sich darüber unterhält, ob denn
die Wirkungen, die wir uns wünschen, eintreten werden
oder ob möglicherweise ungewünschte Nebenwirkungen
überwiegen. Das wird Inhalt der Debatte zwischen Parlament und Regierung und innerhalb der Koalitionsfraktionen sein. Ich denke aber, das ist nichts Anrüchiges;
denn es gehört zum parlamentarischen Alltag.
Einen weiteren Punkt, den Herr Dr. Pfeiffer angesprochen hat, unterschreibe ich ebenfalls: Wir wollen keine
Verlängerung der Preisaufsicht. Ich spitze zu: Ich will
auch keine Verlagerung der Preisaufsicht auf das Bundeskartellamt. Das ist nicht zielführend.
({2})
Zielführend ist alles, was wir gerade im Einzelnen an Instrumenten und zur Beförderung von Wettbewerb dargestellt haben.
Meine Damen und Herren, es ist spät, deswegen
danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Analyse der Probleme des Energiemarktes sehe ich in diesem Haus viel Übereinstimmung. Der Wettbewerb des Strom- und Gasmarktes hat
eine deutliche Schieflage. Die Endkundenpreise für
Strom und Gas steigen seit Monaten kontinuierlich an.
Fast im Gleichschritt entwickeln sich die Gewinne der
großen Energiekonzerne - ich sage hier ausdrücklich
nicht, die der Energiebranche. Betrachtet man die Energiewirtschaft genauer, läuft es auf der Gewinnerseite
derzeit nur auf eine handvoll marktbeherrschender Unternehmen hinaus.
Natürlich kann die Politik diese Entwicklung nicht
gutheißen und tatenlos zusehen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz hat die rot-grüne Koalition schon eine
wichtige Rahmenbedingung verändert. Die Bundesnetzagentur ist mittlerweile ein nicht mehr wegzudenkender
Akteur. Die Kostenkontrolle bei den Netzentgelten ist
auf einem guten Weg. Wenn die Bundesregierung ihre
im Gesetz zugewiesene Aufgabe der Anreizregulierung
gewissenhaft angeht, dann haben wir einiges erreicht.
Was wir nun brauchen, sind Initiativen für mehr Wettbewerb in der Stromerzeugung und auch bei der Gasbeschaffung. Der Anschluss neuer Kraftwerke - zum Beispiel auf der Basis von Biogas und anderen erneuerbaren
Energien - muss erleichtert werden. Ambitionierte Verordnungen könnten hier schon einiges erreichen. Sicherlich wäre auch eine stärkere Entflechtung hilfreich.
Aber bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, schütten Sie nicht das Kind mit dem Bade aus.
Eine Verstaatlichung aller Netze geht einfach zu weit.
Fragen Sie doch einmal die Stadtwerke auf der Verteilnetzebene, wo es auf der einen Seite kaum Missbrauch
gibt, aber auf der anderen Seite gravierende wirtschaftliche Einbrüche geben würde, wenn die Stadtwerkenetze
verstaatlicht werden sollten. Um ihre Entflechtung kümmert sich auf der Basis des Energiewirtschaftsgesetzes
doch bereits die Netzagentur.
Bei den Transportnetzen ist es in der Tat deutlich
spannender. Hier würde eine eigentumsrechtliche Entflechtung tatsächlich einiges bewirken. Sie würde positive Wettbewerbseffekte haben und sie würde den großen Energieversorgungsunternehmen ein Instrument der
Blockadehaltung gegen die erneuerbaren Energien aus
der Hand schlagen. Das hat Kollege Dr. Pfeiffer gerade
auch als Problem betont.
({0})
Spannender als den Antrag von den Linken finde ich
die Vorschläge von Bundesminister Glos und Herrn
Rhiel. Warum nicht an der Erzeugerseite selbst anpacken? So falsch können die Ansätze doch nicht sein, der
Aufschrei der großen Energieversorgungsunternehmen
ist ja kaum zu überhören. Aber der Ruf der Linken nach
der Allmacht des Staates ist wohl Teil eines inneren Auftrages, den Sie immer spüren. Zu diesem Urteil muss
man kommen, wenn man Ihren zweiten Antrag liest. Es
kann doch nicht Aufgabe des Staates sein, alle Netze zu
überprüfen. Wer soll denn das bezahlen? Der Steuerzahler oder der Energiekunde? - Egal, in jedem Fall der
Bürger. Haben Sie denn schon einmal die sozialen Auswirkungen solcher Strompreissteigerungen ausgerechnet?
Nein, es gibt hier wesentlich effizientere Methoden,
zum Beispiel eine Festschreibung von Mindeststandards
für die Netzsicherheit und bei Verletzung Strafzahlungen oder gar den Verlust der Konzession. Dazu gehört
dann natürlich auch eine Anrechung der Netzinvestitionen bei den Energiepreisen.
({1})
Meine Damen und Herren, Teile der SPD halten weiter an der Strategie fest, wenige Unternehmen zu europäischen Champions hochzupäppeln. Den Preis zahlen
die deutschen Strom- und Gaskunden sowie der Wettbewerb. Damit knickt die SPD zugleich als erste vor der
Drohung der Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und
EnBW ein, zukünftig keine Kraftwerke mehr zu bauen,
wenn ihre exorbitanten Gewinne nicht langfristig gesichert werden. Es scheint die SPD nicht zu interessieren,
dass es sich dabei zugleich um die Atomstromkonzerne
handelt, die den Atomkonsens faktisch aufgekündigt haben.
({2})
Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen so
zu verändern, dass wirtschaftliche Energiepreise gewährleistet werden. Das kann selbst die SPD nicht bestreiten. Die Energiepreise aber steigen seit Monaten
kontinuierlich an, fast im Gleichschritt mit der Gewinnentwicklung der vier großen Energieversorger. Die von
Rot-Grün eingeführte staatliche Aufsicht über die Netze
konnte diese Entwicklung bisher nur bremsen, aber nicht
völlig stoppen. Wir brauchen dringend effektive Handlungen der Regierung, um diese Preistreiberei zu stoppen.
({3})
Zum Schluss: Unverständlich bleibt uns auch, warum
die Emissionshandelszertifikate nach 2008 weiter an
die Energiekonzerne verschenkt werden, die sie dem
Endkunden teuer in Rechnung stellen. Wir brauchen
jetzt einen Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte, damit uns die Energiepreise für Kleinkunden und
Energieverbraucher nicht weiter davongaloppieren.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2678 und 16/1447 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anspruchsberechtigung von Ausländern
wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss
- Drucksache 16/1368 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
- Drucksache 16/2940 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Sibylle Laurischk
Ekin Deligöz
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/2941 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Dr. Frank Schmidt
Otto Fricke
Roland Claus
Anna Lührmann
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es geht heute in zweiter Lesung um die Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld,
Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss.
Die bisherigen Regelungen besonderer Anspruchsvoraussetzungen für ausländische Staatsangehörige hat
das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Juli
2004 für verfassungswidrig erklärt, sodass wir uns nun
erneut darüber Gedanken machen müssen, wie wir auch
ausländische Kinder und ihre Eltern an diesen staatlichen Leistungen beteiligen wollen. Wir haben eine Regelung vorgelegt - das ist eine gute Nachricht für ausländische Familien -, die den Kreis der Berechtigten
maßvoll ausweitet. Deshalb ist mit überschaubaren Leistungssteigerungen beim Kindergeld, beim Bundeserziehungsgeld und beim Unterhaltsvorschuss sowie mit
Mindereinnahmen beim Einkommensteuergesetz zu
rechnen.
Wir können es uns aber nicht leisten, dass alle Ausländer, die derzeit in Deutschland leben, an diesen Familienleistungen gleichermaßen beteiligt werden. Wir halten es für richtig - an diesem Leitmotiv orientiert sich
der Gesetzentwurf - danach zu unterscheiden, ob von einem dauerhaften Aufenthalt der ausländischen Familie
in Deutschland auszugehen ist oder nicht.
({0})
In Anbetracht der Haushaltslage halten wir es für berechtigt, bei dieser Leistungsausweitung zurückhaltend
vorzugehen, das heißt, nicht unbedingt über das hinauszugehen, was von Verfassungs wegen gefordert wird.
Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Existenzsicherung natürlich nötigenfalls durch Leistungen
der Sozialhilfe für jeden Ausländer und für jedes ausländische Kind, unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen
Status, von Anfang an garantiert ist. Heute geht es wirklich nur darum, zusätzliche Bonusleistungen für Familien in sinnvoller Weise zu konzentrieren. Für den unter
finanziellen Gesichtspunkten wohl interessantesten Regelungsbereich des Kindergeldes - das ist schließlich
das Kernstück des familienpolitischen Leistungsausgleichs des Staates - heißt das, dass die heutige Diskussion für all diejenigen bedeutungslos ist, die im Sozialhilfebezug stehen; denn für diese werden die Leistungen
für die Kinder nach Sozialhilfesätzen - der Satz beträgt
immerhin 207 Euro pro Kind und Monat - unter Anrechnung des Kindergeldes gezahlt.
Ich möchte zunächst auf den Grundsatz unserer Gesetzesänderung zurückkommen. Wir wollen Menschen,
die sich im Einklang mit den Voraussetzungen des Aufenthaltsgesetzes dazu entschließen, ihren Lebensmittelpunkt und den ihrer Kinder dauerhaft nach Deutschland
zu verlegen, fördern und ihre Integration unterstützen.
Damit man sich die Dimension dieser Aufgabe klar machen kann, nenne ich ein paar Zahlen: In Deutschland leben etwa 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die als ausländische Staatsangehörige oder als
Spätaussiedler zu uns gekommen sind. Das ist fast ein
Fünftel der Bevölkerung in unserem Land.
Hinter dem Begriff Migration verbergen sich sehr unterschiedliche Lebensschicksale und Lebenswirklichkeiten. Manche kommen freiwillig und manche eben nicht.
Entscheidend für eine Politik, die die Integration und die
Förderung ausländischer Familien vorantreibt, ist immer, ob diese Menschen ihr Leben dauerhaft in unserer
Gesellschaft führen wollen und können. Dabei bedeutet
erfolgreiche Integration Identifikation, Teilhabe und
Verantwortung. Dafür sind Anstrengungen auf beiden
Seiten erforderlich: auf der einen Seite des Staates und
der bürgerlichen Gesellschaft und auf der anderen Seite
der Migranten und Migrantinnen selbst, die bereit sein
müssen, sich auf ein Leben in unserer Gesellschaft einzulassen, das Grundgesetz und die gesamte Rechtsordnung vorbehaltlos zu akzeptieren und insbesondere das
Erlernen der deutschen Sprache als ein sichtbares - oder
besser gesagt: hörbares - Zeichen der Zugehörigkeit zu
Deutschland zu setzen.
({1})
Aufseiten der deutschen Gesellschaft und des Staates bedeutet das gleichzeitig, diejenigen, die nun dauerhaft
hier leben, zu unterstützen nach dem Motto: Wer fordert,
muss auch fördern.
Es gibt noch einen anderen Zusammenhang, der es
meiner Auffassung nach gebietet, die Leistungen auf
diejenigen zu beschränken, die dauerhaft hier bleiben.
Wir müssen uns angesichts unserer Haushalts- und
Schuldenlage darüber klar sein, dass jede zusätzliche
Sozialleistung nur auf Kredit, also als Wechsel auf die
Zukunft, möglich ist.
Investitionen in Kinder und Jugendliche sind sicher
eine gute Entscheidung, aber wir müssen sehen: Für
Deutschland zahlt sich diese Investition nur aus, wenn
die Kinder hier heranwachsen und sich als Leistungsträger in unsere Gesellschaft, aber auch in unseren Arbeitsmarkt integrieren. Es werden dann diese Kinder sein, die
gemeinsam mit den deutschstämmigen Kindern das
Bruttosozialprodukt erwirtschaften, von dem diese
Schulden zurückgezahlt werden,
({2})
während die Kinder, die in ihre Heimatländer zurückkehren, sich nicht daran beteiligen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem zitierten
Beschluss den Grundsatz unangefochten gelassen, dass
sich die Gewährung von Kindergeld danach richten
kann, ob eine Familie dauerhaft hier bleibt oder nicht.
Wir stehen also nun vor der Aufgabe, geeignete Kriterien zu finden und Anspruchsvoraussetzungen zu formulieren, die die Prognose zulassen, dass es sich um einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland handelt. Das
ist bei einer Niederlassungserlaubnis natürlich völlig unproblematisch. Auch bei anerkannten Asylberechtigten
und Flüchtlingen ist die Situation klar.
Aber wenn nur eine Aufenthaltserlaubnis vorliegt,
müssen weitere Kriterien hinzukommen. Der Gesetzentwurf knüpft für den Regelfall daran an, ob diese Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt.
Dann ist von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen.
({3})
Ausnahmen sind dann vorgesehen, wenn die Aufenthaltserlaubnis nur erteilt wurde, um einen von vornherein nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt abzusichern.
Es wäre nicht richtig, wenn wir zum Beispiel auch denjenigen Kindergeld gewähren, die sich nur als Studenten
oder für die Dauer einer Ausbildung vorübergehend in
Deutschland aufhalten.
({4})
Hier und heute streiten wir noch darüber, ob das auch
für eine Aufenthaltserlaubnis gilt, die in Härtefällen
nach § 23 a Aufenthaltsgesetz oder nach § 25 Abs. 3 bis
5 Aufenthaltsgesetz, also aus humanitären oder politischen Gründen, erteilt wurde. Die Koalitionsfraktionen
gehen davon aus, dass in diesen Fällen nicht ohne weiteres mit einem dauerhaften Verbleib zu rechnen ist. In
diesen Fällen, in denen es zum Beispiel um vorübergehende private Gründe gehen kann, aber natürlich auch
um politische Verhältnisse im Herkunftsland, die einer
Rückkehr entgegenstehen, ist der Aufenthalt in Deutschland eindeutig nicht auf Dauer angelegt, unbeschadet der
Tatsache, dass sich der Aufenthalt länger hinziehen kann
als ursprünglich geplant.
Im Prinzip muss man diese Situationen so beschreiben, dass der betroffene Ausländer jederzeit bereit ist, in
seine Heimat zurückzukehren, sobald sich dort die Verhältnisse geändert haben und Reisehindernisse entfallen
sind. In so einer Situation generell von dauerhaften Hindernissen auszugehen oder jede politische Veränderung
zum Positiven im Heimatland der betroffenen Ausländer
aus Erfahrung für unwahrscheinlich zu halten, wäre eine
pessimistische Betrachtungsweise, der sich die Unionsfraktion nicht anschließen möchte.
({5})
Deshalb halten wir es im Gegensatz zu dem, was in
den Anträgen von FDP und Linken steht, für angebracht,
bei rechtmäßigem Aufenthalt - gestattet oder geduldet als zusätzliche Voraussetzung eine dreijährige Wartefrist oder die Berechtigung zur Erwerbstätigkeit zu verlangen, bevor - wie gesagt, zusätzlich zur jederzeit
garantierten Existenzsicherung - weitere Familienleistungen gezahlt werden.
({6})
Wenn der Aufenthalt aus diesen Gründen bereits drei
Jahre andauert, ist das sicherlich ein Indiz dafür, dass
sich die Situation tatsächlich verfestigt hat. Dann kann
man den Sachverhalt anders beurteilen.
({7})
- Dann wird die Leistungsberechtigung auf Grundlage
des Gesetzes angenommen.
({8})
Ich möchte kurz zusammenfassen: Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung erfüllt in seiner vorliegenden Fassung die verfassungsmäßigen Vorgaben. Das haben die
beteiligten Ministerien eingehend geprüft. In ihm werden richtige politische Entscheidungen getroffen. Insbesondere wird eine wichtige Unterscheidung getroffen:
zwischen den Personen, die dauerhaft hier bleiben, und
denjenigen, die nur für eine überschaubare Zeit bei uns
leben, die zum Teil Zuflucht bei uns suchen, die wir ihnen auch gerne gewähren, die dann aber in ihr Herkunftsland zurückkehren oder in ein anderes Land gehen
und sich in die dortige Wirtschaft und Gesellschaft integrieren.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
Wir müssen die zusätzlichen finanziellen Mittel, die
wir zur Verfügung stellen, auf die Familien konzentrieren, die sich für ein Leben in unserer Gesellschaft entschieden haben. Diese Familien zu unterstützen, begreifen wir als Investition in unsere gemeinsame Zukunft.
Das tun wir gern.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen
zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
umgesetzt werden. Ziel ist, nur solchen Ausländerinnen
und Ausländern Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss zu gewähren, von denen zu erwarten ist,
dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden.
Die FDP hätte es sehr begrüßt, wenn dieses Ziel konsequent verwirklicht worden wäre. Stattdessen hat die
große Koalition in letzter Minute - sogar ohne ein einziges Wort der Begründung - einen Änderungsantrag vorgelegt, der zum Inhalt hat, dass weitere Gruppen hier
lebender Ausländerinnen und Ausländer von einer Anspruchsberechtigung ausgeschlossen werden. Daran
wird wieder einmal deutlich, wie schwierig es für Union
und SPD ist, sich beim Thema Migration und Integration
auf eine einheitliche Linie zu einigen.
({0})
Die FDP kritisiert, dass durch die vorliegende Regelung nun auch diejenigen vom Bezug von Familienleistungen ausgeschlossen werden sollen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten. Dabei
handelt es sich insbesondere um Personen, die sich aufgrund einer Entscheidung der Härtefallkommission in
Deutschland befinden. Auch sie sollen jetzt vom Bezug
von Kindergeld und Erziehungsgeld ausgeschlossen
werden.
Den Menschen, deren Aufenthalt aufgrund einer Einzelfallprüfung sowohl eine Kommission als auch die
oberste Landesbehörde befürwortet haben - dasselbe gilt
auch für diejenigen, die sich aus humanitären Gründen
in Deutschland aufhalten, wenn ihre Rückkehr unmöglich ist -, wird durch die Blume gesagt: Wir wollen euch
nicht; ihr bekommt kein Kindergeld, kein Erziehungsgeld, kein Elterngeld und keinen Unterhaltsvorschuss.
({1})
Das ist keine ehrliche Politik. Aber das ist für diese Regierung typisch.
({2})
Herr Grindel, Sie haben kein stimmiges und kein
stringentes Konzept zur Zuwanderung und Integration.
({3})
Einerseits wird pressewirksam ein Integrationsgipfel
einberufen, andererseits werden im Bundesinnenministerium Vorschläge für Maßnahmen zur Einschränkung
der Integration erarbeitet. Darüber hinaus geht es der
großen Koalition immer wieder um die Notwendigkeit,
Integration und Zuwanderung zu fördern, um bestimmten Problemen wie der demografischen Entwicklung zu
begegnen.
({4})
Wir als FDP meinen, dass hiervon wenig zu spüren ist.
Wir fordern daher die Bundesregierung mit unserem
Entschließungsantrag auf, schnellstmöglich eine Novellierung des Zuwanderungsgesetzes vorzulegen. Die
Bundesregierung muss nach ihren vielen Ankündigungen endlich handeln und eine Regelung für ein Bleiberecht langjährig geduldeter Flüchtlinge vorlegen.
({5})
Denn wir wissen doch alle: Viele der Flüchtlinge sind
sozial und wirtschaftlich hervorragend integriert. Viele
ihrer Kinder sind in Deutschland geboren. Es scheint mir
keine besonders kluge Politik zu sein, Menschen, die erfolgreich unser Bildungssystem durchlaufen, wieder
fortzuschicken. Ich habe da einige Fälle vor Augen, in
denen ich die Betroffenen persönlich kenne; viele von
Ihnen kennen sicher auch solche Fälle.
Wir Liberale wollen, dass sich Menschen, die dauerhaft zu uns nach Deutschland kommen, ihren Lebensunterhalt - das finde ich sehr wichtig - selbst verdienen
können. Das passiert nicht. Wir reden über die Belastung
der Sozialversicherungssysteme - wie es meine Vorrednerin getan hat -, über Hartz IV und darüber, dass die
Haushaltsmittel knapp sind. Doch wir geben Menschen,
die sich hier aufhalten, nicht die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sich Arbeit zu suchen.
Das muss geändert werden.
({6})
Wir erneuern unsere Forderung aus der letzten Legislaturperiode, dass Ausländerinnen und Ausländer, die
rechtmäßig in Deutschland leben, die Genehmigung erhalten, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien
selbst zu sorgen. Bislang ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für diese Menschen zu restriktiv geregelt. Derzeit
wird nur Sozialneid auf diese Empfänger staatlicher
Transferleistung gefördert. Das wollen wir nicht.
({7})
Wir fordern Sie auf: Überarbeiten Sie Ihren Gesetzentwurf und nehmen Sie bitte auch unsere Vorschläge
auf!
Die FDP-Bundestagsfraktion wird Ihren Gesetzentwurf, über den heute Abend abgestimmt wird, in der vorliegenden Form ablehnen.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Lopez, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das
Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004 mit zwei
Entscheidungen - einer zum Erziehungsgeld und einer
zum Kindergeld - die bereits dargestellte Verfassungswidrigkeit des ursprünglichen Gesetzes vorgestellt. Uns
wurde aufgegeben, den verfassungswidrigen Zustand zu
beseitigen.
Die Bundesregierung hat am 3. Mai 2006 einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die in den beiden Entscheidungen genannten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden sollen.
({0})
Ziel dieses Gesetzes - das haben wir bereits gehört; ich
kann auf eine Wiederholung verzichten - ist im Wesentlichen, dass jetzt folgender Personenkreis als anspruchsberechtigt berücksichtigt wird: Ausländer mit Niederlassungserlaubnis und Ausländer, die zwar noch nicht über
einen verfestigten Aufenthaltsstatus verfügen, bei denen
aber ein weiterer Anhaltspunkt hinzukommt, der mit einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt regelmäßig
einhergeht: dass sie erwerbstätig sind. Ausgeschlossen
von Familienleistungen bleiben ausländische Staatsangehörige, deren Aufenthalt befristet ist oder bei denen
ein dauerhafter Aufenthalt nicht absehbar ist. Hierbei
geht es zum Beispiel um Studierende oder Saisonarbeitskräfte.
({1})
- Nicht nur, aber eindeutig.
Leider - auch das haben wir bereits gehört - hat es
eine Ausweitung des Kreises der Nichtberechtigten gegeben, zum Beispiel Ausländer, deren Abschiebung ausgesetzt ist. Sie können die Anspruchsberechtigung nun
auch erst nach einer Wartefrist erreichen. Dafür wurde
diese Frist aber von den vorgesehenen fünf Jahren auf
nunmehr drei Jahre verkürzt. Zumindest das ist gut so.
Wie Sie wissen, hat es vonseiten des Bundesrates Bestrebungen gegeben, den Ausschluss von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auszuweiten. Dies hat die Bundesregierung aus gutem
Grund abgelehnt, weil dieser Personenkreis eine dauerhafte Bleibeperspektive hat. Diese Zurückweisung begrüßen wir ausdrücklich.
Ebenso begrüßen wir die Aufnahme eines neuen Paragrafen in das Einkommensteuergesetz, nämlich des
§ 76 a. Durch ihn wird erstmals sichergestellt, dass das
überwiesene Kindergeld für die Dauer von sieben Tagen
seit der Gutschrift unpfändbar bleibt. Zuvor war die
Pfändbarkeit sofort gegeben.
Bei dem Ausschluss von der Anspruchsberechtigung
auf Zahlung von Kindergeld stellen sich im Gegensatz
zu den Regelungen zum Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss aber noch weitere Fragen. Ich habe die zum
Kindergeld ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so verstanden, dass über die konkretere
Bestimmung des nicht berechtigten ausländischen Personenkreises hinaus Sorge dafür getragen werden muss,
dass es innerhalb der Gruppe der Nichtberechtigten
nicht zu Ungleichbehandlungen kommt. Dies scheint
mir nicht gewährleistet zu sein.
Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in
dieser Entscheidung ausgeführt, dass alle Menschen, die
legal in Deutschland leben, in gleicher Weise durch die
persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der
Kindererziehung belastet sind. Das Gericht führte weiter
aus - ich zitiere jetzt wörtlich -:
Für eine solche Durchbrechung eines in der Erfüllung seines sozialstaatlichen Schutzauftrages aus
Art. 6 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber geschaffenen
Systems bedürfte es besonders gewichtiger Gründe.
Damals konnte das Gericht - so die weiteren Ausführungen - keine besonders gewichtigen Gründe erkennen.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes hat
in den Beratungen im Ausschuss bereits eine Rolle gespielt. Ich habe aufgrund der Zweifel, die mir nach der
Lektüre des Urteils zum Kindergeld gekommen sind,
noch einmal nachgehakt. Ich danke Herrn Staatssekretär
Dr. Kues für die prompte Antwort.
({2})
Aus der Antwort geht hervor, dass meine Bedenken
nicht geteilt werden, folglich unbegründet sind. Wir, die
SPD-Fraktion, verlassen uns auf diese Auskunft.
({3})
- Ja, ich bin keine Verfassungsrechtlerin und noch nicht
einmal Juristin. Ich muss mich darauf verlassen.
Mit der Abstimmung über den hier vorliegenden Gesetzentwurf erfüllen wir die durch das Bundesverfassungsgericht angemahnten Erfordernisse und erledigen
den inzwischen drängenden Arbeitsauftrag. Das Thema
selbst, nämlich die erfolgreiche Eingliederung von Migrantinnen und Migranten, wird uns sicherlich weiterhin
beschäftigen. Ich bin mir sehr sicher, dass wir uns in diesem Kontext sicherlich bald auch wieder über die finanzielle Ausstattung hier lebender ausländischer Familien
unterhalten müssen, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Erst vor drei Wochen hat die Bundesregierung mit einem Gesetz deutlich gemacht, dass sie
auch beim Thema Familienförderung mit zweierlei Maß
misst: Das „1 : 0 für die Familien“ - so pries Ministerin
von der Leyen das Elterngeld an - ist für circa
340 000 Familien in der Bundesrepublik wohl eher so etwas wie ein Eigentor. Es sind die Familien, die nicht im
Fokus der Bundesregierung stehen: die Familien, die nur
ein geringes oder gar kein Erwerbseinkommen haben.
Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird die Gruppe
dieser Menschen noch etwas größer. Wieder geht es um
Kinder und darum, wie sich ihr Stellenwert in unserem
Land bemisst. Die Familienministerin spricht oft und
gern von der Unterstützung, die sie Kindern gewähren
möchte, die auf der Schattenseite stehen. Mit der heutigen Gesetzesänderung hätte sie dazu eine Chance gehabt.
Eigentlich ist die Ungleichbehandlung von Migrantinnen und Migranten bei den kindbezogenen Leistungen
schon für sich genommen ein Skandal. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Dass seit dem Urteil
vom 6. Juli 2004 über zwei Jahre ins Land gehen mussten, bis heute eine Bundesregierung mit einer Gesetzesänderung darauf reagiert, ist der nächste Skandal. Der
richtig große Skandal beginnt aber erst jetzt, da das Gesetz vorliegt, das dank eines in letzter Sekunde eingebrachten Änderungsantrags der großen Koalition nichts,
aber auch gar nichts an der Verfassungswidrigkeit ändern wird.
({0})
In den letzten Tagen wurde aus einem sehr tragischen
Grund wieder vollmundig davon gesprochen, dass Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Dies wäre eine Maßnahme, bei der Sie sicher sofort
Zustimmung von der Linken fänden, aber nur, wenn die
Rechte aller Kinder dabei berücksichtigt werden und
man sich nicht nur die aussucht, die gerade ins aktuelle
politische Kalkül passen.
Im Familienausschuss haben SPD und CDU/CSU
gestern beschlossen, dass ein Antrag der Grünen von der
Tagesordnung abgesetzt wird, der auf die Rücknahme
der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention
zielt. Die Rücknahme der Vorbehalte würde nämlich bedeuten, dass Sie alle Kinder und Jugendlichen gleich behandeln müssten. Wie Sie dazu stehen, machen Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf deutlich. Es bleibt bei der repressiven Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten, die
das Ziel hat, „Zuwanderungsanreize abzubauen“.
Unser Antrag macht unsere Vorstellungen von einem
Gesetz deutlich, welches der Situation der betroffenen
Menschen entspräche und zudem die Verfassungskonformität gewährleisten könnte: die voraussichtliche Aufenthaltsperspektive als maßgebliches Kriterium, die
Rücknahme des Ausschlusses von Personen mit einer
humanitären oder menschenrechtlichen AufenthaltserDiana Golze
laubnis und eine genauere Bestimmung der Anspruchsberechtigung, die auch Geduldete und Asylbewerber
durch eine Öffnungsklausel einschließen würde.
({1})
Ich komme zu einer zweiten Ungleichbehandlung aus
politischem Kalkül. Es ist eine parlamentarische Ungehörigkeit, in das Gesetz zur Anspruchsberechtigung von
Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss eine allgemein gültige Änderung des
Kinderzuschlags nach Bundeskindergeldgesetz einzubauen. Im Familienausschuss stellte ein Mitglied einer
die Regierung tragenden Fraktion sogar die Frage, ob
diese Regelung dann nur für Ausländer gelten würde.
Selbst wenn es so wäre, meine Damen und Herren von
SPD, CDU und CSU, wäre es dann weniger schlimm?
({2})
Sie verstoßen damit auch gegen den im Koalitionsvertrag beschlossenen und durchaus lobenswerten Vorsatz,
den Kinderzuschlag zu einem Instrument zu machen, das
wirklich zur Bekämpfung von Kinderarmut beiträgt.
Das komplizierte Regelwerk des Gesetzes führt bislang dazu, dass neun von zehn Anträgen abgelehnt werden. Wir können deshalb erst recht nicht nachvollziehen,
warum die Antragsfrist von sechs Monaten auf nur einen
Monat verkürzt werden soll. Ich frage deshalb: Was
nutzt ein Kindergeldzuschlag, der den Betroffenen den
Bezug von ALG II ersparen soll, aber unter denselben
entwürdigenden Bedingungen bewilligt oder eher abgelehnt wird?
Die Bundeskanzlerin hat erst gestern gesagt, dass sie
mit der Gesundheitsreform Politik für die Versicherten
machen möchte. Das ist längst überfällig. Genauso wichtig wäre es aber, Familienpolitik für Familien und Kinderpolitik für Kinder zu machen. Mit dem vorliegenden
Gesetz hat sich die Bundesregierung wiederholt davon
entfernt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef
Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Bevölkerung beschwert sich
sehr oft über die große Koalition. Es wird gesagt, es
gehe in diesem Lande sehr langsam voran. Manchmal
geht es aber sehr schnell voran, zum Beispiel wenn es
darum geht, ausländische Familien in Deutschland
schlechter zu stellen. Denn wie wir schon gehört haben,
sieht eine in letzter Minute von den beiden die Regierung tragenden Fraktionen eingebrachte Änderung an
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, dass aus
humanitären Gründen dauerhaft in Deutschland bleibeberechtigte Ausländer nur noch sehr eingeschränkt
Familienleistungen erhalten sollen. Dabei sollte mit dem
ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004
umgesetzt werden, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, bis zum 1. Januar dieses Jahres den gegen
den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 des Grundgesetzes
verstoßenden und damit verfassungswidrigen Ausschluss erwerbstätiger Ausländer mit rechtmäßigem
Aufenthalt vom Kinder- und Erziehungsgeld aufzuheben.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit deutlichen
Worten festgestellt, dass die bestehenden Kindergeldregelungen ausländische Familien mit humanitärem Bleiberecht in nicht zu rechtfertigender Weise benachteiligen. Es beanstandete insbesondere, dass Ausländern mit
einer Aufenthaltsbefugnis nach dem alten Ausländergesetz grundsätzlich keine Familienleistungen gewährt
wurden. Dazu haben die Richter festgestellt - das ist
auch logisch -, dass dieser Aufenthaltstitel nicht zwingend nur vorübergehender Art sei.
Das Urteil wird aber - das muss man an dieser Stelle
festhalten - von der Koalition nicht nur gnadenlos missachtet, sondern in geradezu obszöner Art und Weise im
Sinn verdreht. Das ist skandalös.
({0})
- Wenn das Ihres Erachtens falsch ist, warum gehen Sie
dann in Ihrer Begründung zum Gesetzentwurf mit keinem Wort darauf ein, dass Sie den Gesetzentwurf in letzter Minute geändert haben? Also stimmt es doch wohl
und Sie verstoßen tatsächlich gegen die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts.
({1})
Von den Gesetzesänderungen werden nämlich genau
diejenigen betroffen sein, auf die sich das Verfassungsgerichtsurteil bezogen hat, nämlich Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis nach § 23 a des Aufenthaltsgesetzes
- das wurde schon erwähnt - aufgrund einer positiven
Entscheidung der Härtefallkommission. In diesen Fällen kann man wohl davon ausgehen, dass nicht erst nach
drei Jahren, sondern von vornherein ein dauerhafter Aufenthalt angestrebt wird. Es ist völlig willkürlich und widersinnig, dass der Aufenthalt als vorübergehend betrachtet wird, wenn die Härtefallkommission nach
langwierigen Entscheidungsprozessen die Aufenthaltserlaubnis nach § 23 a erteilt hat.
({2})
Des Weiteren sind Kriegsflüchtlinge nach § 24 betroffen sowie Personen mit menschenrechtlichem Abschiebeschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nach § 25 Abs. 3, Personen mit humanitärem
Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 4 und Personen, denen
die Rückkehr rechtlich oder tatsächlich dauerhaft unmöglich ist, nach Art. 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Das ganze Gesetz macht insofern im Prinzip keinen
Sinn mehr. Das halten wir für skandalös.
Wir meinen - da teilen wir die Auffassung der Linksfraktion und der FDP-Fraktion -, dass Flüchtlinge mit
humanitärem Abschiebeschutz genauso einen Anspruch
auf Familienleistungen haben wie andere Ausländer mit
Arbeitsgenehmigung.
({3})
Wir halten den weitgehenden Ausschluss dieser Ausländergruppen von Familienleistungen für kinder-, familien- und insbesondere flüchtlingsfeindlich.
Ich muss noch einen Aspekt ansprechen, weil die
große Koalition ständig über die Verbesserung der Leistungen für Familien und über Integration diskutiert. Der
angeblichen politischen Maßgabe der Koalition, Familien zu stärken und ihre Integrationsleistungen anzuerkennen und sie darin zu unterstützen, widerspricht der
Gesetzentwurf eklatant. Aus diesem Grund stimmen wir
ihm keinesfalls zu.
Wir stimmen allerdings dem Entschließungsantrag
der FDP-Fraktion zu. Bei dem Entschließungsantrag der
Linksfraktion enthalten wir uns der Stimme, weil uns einige Details nicht passen.
Den Gesetzentwurf der Bundesregierung halten wir
für schlecht. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss, Drucksache 16/1368. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2940, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3029? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
abgelehnt.
({0})
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3030? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Jürgen Trittin, Undine Kurth ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schaden von der Reputation der Osteuropabank abwenden - Das Öl- und Gasprojekt
Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung
internationaler Umwelt- und Sozialstandards
- Drucksachen 16/1668, 16/2925 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema der
Einhaltung von Umweltstandards auf internationaler
Ebene haben wir hier schon etliche Male diskutiert. Es
ist unbestritten ein wichtiges Thema. Umweltprobleme
bleiben nicht nur auf das betreffende Land beschränkt,
sondern wirken weit über die von Menschen gesetzten
Grenzen hinaus. Deshalb reden wir heute wieder über
ein solches Thema. Das Projekt „Sachalin II“ stand
schon mehrfach auf der Tagesordnung.
Das Ölförderprojekt „Sachalin I“ im Ochotskischen
Meer ist bereits seit 1999 in Förderbetrieb. Zur besseren
Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen sind durch die
internationalen Investoren drei weitere Offshorebohrplattformen, Offshore- und Onshorepipelines, Verladeeinrichtungen und Terminals geplant. In der vorgesehenen 800 Kilometer langen Pipeline sollen Öl und Gas in
Zukunft vom Norden in den Süden der Insel transportiert
und in die Anivabucht, die fast das ganze Jahr eisfrei ist,
verschifft werden. Bislang ist eine Ölförderung nur in
den Sommermonaten möglich. Das wird sich durch die
Pipelines ändern.
Die für das Projekt mit einem Gesamtvolumen von
21,3 Milliarden US-Dollar notwendige Finanzierung soll
über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten sichergestellt werden, unter anderem möglicherweise durch einen Kredit in Höhe von 400 Millionen US-Dollar von
der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE. Ich wiederhole, um die Dimensionen zu
verdeutlichen: Bei einem Gesamtvolumen von 21,3 Milliarden US-Dollar geht es um 400 Millionen US-Dollar
Kredite von der EBWE. Es ist bekannt, dass die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung am sorgfältigsten die umweltpolitischen Risiken des Projekts
prüft. Die Überprüfung wird auch von anderen Banken
sowie selbstverständlich von Nichtregierungsorganisationen aufmerksam verfolgt. Unabhängig von der zu erwartenden Entscheidung ist von den Investoren bereits
mit dem Bau eines ersten Sockels der neuen Ölplattform
begonnen worden.
Das Problem dieses Projekts besteht in den gravierenden Auswirkungen auf die natürlichen Lebensräume und
die Artenvielfalt. Durch die Erschließung der Öl- und
Gasvorkommen ist eine Verunreinigung des Meeresbodens mit Kohlenwasserstoff möglich, ja zu erwarten. Der
durch die Kälte bedingte langsame Abbau führt insbesondere für die letzten westpazifischen Grauwale zu einer Bedrohung ihres Lebensraumes. Immer wieder haben Forscher und Nichtregierungsorganisationen auf die
Bedrohung der Grauwale durch die Öl- und Gasförderung hingewiesen, und zwar durchaus erfolgreich.
2004 hat der Wissenschaftsausschuss der Internationalen Walfangkommission auf der 56. Tagung der
IWC durch den maßgeblichen Einsatz der damaligen
Bundesregierung - Frau Koczy, damals waren Sie noch
nicht hier, aber es ist so gewesen - im Konsens eine
Resolution verabschiedet, die alle Staaten auffordert,
sich für den Schutz der westpazifischen Grauwale einzusetzen. Ebendiese Resolution wurde im letzten Jahr
auf der 57. Tagung noch einmal von allen Staaten, also
im Konsens, bekräftigt.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ist ihren eigenen Regeln zufolge verpflichtet,
der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, vor einer
Projektbeteiligung das Projekt zu kommentieren. Das ist
auch geschehen. Die Anhörung ist erst am
21. April 2006 beendet worden. Nur dadurch - ich finde
es sehr wichtig, dass die EBWE überhaupt eingebunden
wurde - haben wir die Möglichkeit bekommen, auf die
umweltpolitischen Rahmenbedingungen positiv Einfluss
zu nehmen, und eine umfangreiche Beteiligung der Öffentlichkeit in Form einer Anhörung erreicht. Wir haben
uns also in der vorherigen Regierung unter Rot-Grün,
aber auch in dieser Koalition deutlich für die Einhaltung
der Standards für eine umweltgerechte Durchführung
des Projekts ausgesprochen.
Mit unserem Antrag „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“, den damals Frau Kollegin
Rawert eingebracht hat und der am 7. September 2006,
also gerade einmal vor sechs Wochen, hier im Plenum
verabschiedet worden ist, haben wir uns ebenso deutlich
dafür ausgesprochen, dass sich die Bundesregierung, die
im Direktorium der EBWE vertreten ist, für die umweltgerechte Durchführung des Projekts „Sachalin II“ mit
dem Ziel einzusetzen hat, Umweltschäden, insbesondere
Schädigungen der akut bedrohten Grauwalpopulation
und damit selbstverständlich auch der anderen Arten in
diesem Gebiet, so weit wie irgend möglich zu vermeiden. Gleichzeitig haben wir hier die Bundesregierung
aufgefordert, sich gegen eine Bewilligung des Finanzierungsantrags durch die EBWE auszusprechen, falls diese
Anforderungen nicht erfüllt werden. Seit August 2006
prüft die russische Umweltbehörde, ob die Lizenz für
das Sachalinprojekt zurückgezogen werden soll. So
lange sieht die Europäische Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung grundsätzlich von einer Förderung des Projekts ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen
liebe Frau Koczy, wir fallen nicht hinter die Position der
russischen Regierung zurück, wie Sie in Ihrer Erklärung
zu dem Antrag am 7. September im Plenum behauptet
haben. Das ist wirklich barer Unsinn.
({0})
Ihr Vorwurf, wir hätten die Dramatik der Lage nicht erkannt, läuft ebenso ins Leere. Hätten wir die Dramatik
nicht erkannt, hätten wir uns nicht darum gekümmert.
({1})
Wäre dieses so, hätten wir gar keinen Antrag stellen
müssen. Es ist wichtig, dass wir darauf Einfluss nehmen,
so weit wie möglich Schäden für die Umwelt zu vermeiden. Wir sind in der Pflicht, dieses zu tun, wohl wahr.
Wir halten uns aber an die international gültigen Sozialund Umweltstandards. Dafür haben wir die Bedingungen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, und diese sind auch unsere Messlatte. Wenn
diese Standards nicht eingehalten werden, wird dieses
Projekt nicht durch diese Bank finanziert. Das ist klar
und deutlich unser Auftrag an die Bundesregierung gewesen.
Deshalb hat unser Antrag nach wie vor seine Berechtigung und ich sehe nicht ein, dass wir gerade einmal
sechs Wochen später wieder einen Antrag zu dem
Thema verabschieden sollen. Sie hätten vor sechs Wochen die Möglichkeit gehabt, sich anzuschließen. Sie haben die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Im Übrigen:
Alle paar Wochen die Messlatte ein kleines bisschen
höher zu legen, spricht nicht für die Sache, sondern
zeugt eher von dem Versuch, in bestimmten Gruppierungen mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich halte fest: Die Forderungen eins und drei, die Sie
in Ihrem Antrag stellen, entsprechen vollkommen der
Haltung der Bundesregierung. Die Forderung vier hat
sich mit Verabschiedung der neuen Energiepolitik der
Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
am 11. Juli 2006 erledigt. Das ist auch Ihnen bekannt.
Der Forderung zwei können wir nicht entsprechen. Das
liegt für uns in der Logik. Fazit: Wir lehnen Ihren heutigen Antrag ab.
({2})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen wollen
also mit diesem Antrag hier einen Lackmustest durchführen. Sehr schön. Soll es denn blaues oder rotes Lackmuspapier sein? Ich vermute mal rotes, weil dann die Farbe
so schön zu tiefdunkelgrün wechselt.
({0})
Sprich: Grün wäre also jetzt die Farbe des Widerstandes
gegen dieses Projekt? Das hätte Ihnen natürlich auch ein
bisschen früher einfallen können; denn nach meinen Informationen hat sich die EBWE noch in der rot-grünen
Ägide mit 170 Millionen Dollar an der ersten Phase des
Projekts beteiligt. Das grüne Gewissen kommt hier also
leider ein bisschen spät -,
({1})
aber besser spät als nie.
({2})
- Genau.
Wenn ich Ihren Antrag durchlese, wird mir nicht so
ganz klar, was Sie eigentlich beabsichtigen: Wollen Sie
den Ruf der EBWE retten? Das fänden wir sehr gut; dem
würden wir uns glatt anschließen. Wollen Sie die Bevölkerung und die Umwelt der Insel Sachalin retten? Prima,
dem würden wir uns ebenfalls anschließen. Wollen Sie
vielleicht das ganze Projekt „Sachalin II“ stoppen?
({3})
Dem würden wir uns nicht so ganz anschließen. Wenn es
Ihnen um die Osteuropabank geht: Vielen Dank, dass Sie
um die Reputation dieser Bank so besorgt sind.
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die EBWE sich an
ihre eigenen Regeln hält - sehr richtig! Das unterstützen
wir von ganzem Herzen, auch wenn Sie damit ein bisschen Ihre Klientel bedienen wollen. Wenn die Bank sich
nicht an die von ihr selbst gesetzten Umwelt- und Sozialstandards hält, dann soll sie sich auch nicht mit Kreditvergaben in dieses Projekt einmischen - völlig richtig!
Das gilt vor allen Dingen, wenn das ganze Kreditvolumen
nur 1,5 Prozent des Gesamtvolumens beträgt.
({4})
Frau Groneberg, Sie haben gerade von einem Gesamtvolumen von 400 Millionen Euro gesprochen. Mir liegt
die Zahl 300 Millionen Euro vor. Nach Adam Riese
entspricht dies ganzen 1,5 Prozent.
Aber wenn es Ihnen um die Bevölkerung von Sachalin und den Umweltschutz auf dieser Insel geht, dann
muss ich Ihnen sagen: Dazu stehen in Ihrem Antrag leider keine harten Fakten. Ich zitiere:
… die bereits erfolgten und kaum noch revidierbaren Verstöße von Shell, Mitsui und Mitsubishi gegen russische und internationale Umwelt- und Sozialnormen …
Wovon sprechen Sie hier eigentlich genau? Warum nennen Sie nicht die Umweltkatastrophen, die dort stattgefunden haben sollen, beim Namen? Hat es wirklich so
gravierende Auswirkungen gegeben oder sind das nur
Ordnungswidrigkeiten? Ich finde Ihre Argumentation
dort ein bisschen schwach. Aber es geht hier nicht so
sehr um den Umweltaspekt, sondern mehr um die Reputation der EBWE.
Nach der Lektüre Ihres Antrags habe ich den Eindruck bekommen, dass Sie das ganze Projekt am Ende
wirklich stoppen wollen. Mittlerweile ist dieser Fall beinahe eingetreten: Die Russen haben dem Konsortium die
Lizenz entzogen. Sie begründen ihren Einspruch mit
Verstößen gegen russische Umweltauflagen. Man höre
und staune und werfe auch einmal einen Blick auf die
derzeitigen russischen Produktionsanlagen und deren
Umweltschutz - ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Mir
drängen sich da wirklich Assoziationen in Richtung
Gasprom auf. Der Ölpreis ist inzwischen ein wenig gestiegen und daher möchte Gasprom natürlich gern einen
Fuß in die Tür setzen. Da die Gespräche nicht zu dem
gewünschten Erfolg geführt haben, haben die Russen
einfach andere Wege gewählt. Aber das will ich Ihnen
nicht vorwerfen. Das ginge jetzt zu weit.
Wollen Sie wirklich, dass dieses Projekt gestoppt
wird? Es ist mittlerweile zu 70 Prozent fertig gestellt. Ich
weiß nicht, ob es für die Umwelt so gut ist, wenn in
Sachalin eine Investitionsruine steht. Gerade in diesen
Zeiten wird das Erdöl sehr dringend gebraucht. Das Erdölvorkommen dort ist eines der größten, die in jüngster
Zeit weltweit entdeckt worden sind. Wir steuern auf eine
internationale Energieknappheit zu. Wir könnten diese
Energie eigentlich ganz gut gebrauchen. Ich weiß wirklich
nicht, ob die Welt es sich leisten kann, auf diese Vorräte
einfach so zu verzichten. Das sind zwar wieder fossile
Energien - richtig! - mit Auswirkungen auf das Klima;
aber über eine vernünftige Nutzung der Atomkraft können
wir mit Ihnen ja leider nicht reden.
({5})
Natürlich muss dieses Projekt mit Rücksicht auf die Umwelt gefördert werden. Aber man sollte bitte nicht gleich
alles stoppen.
({6})
Zurück zu Ihrem Antrag. Ihre letzten Forderungen
haben mit Sachalin II im Grunde überhaupt nichts mehr
zu tun. Da propagieren Sie eigentlich nur Ihren Ökokolonialismus. Da ist die Rede von Energieeffizienz und
von der Förderung erneuerbarer Energien. Prima, das
finden wir ebenfalls alles gut. Aber warum soll das jetzt
auf einmal wieder mit einem Verzicht auf die Wasserkraft einhergehen? Für mich ist Wasserkraft nach wie
vor eine der saubersten Energien. Leider ist Ihr Antrag
nicht so schlüssig, wie wir uns das wünschen. Es scheint
mir im Grunde ein Gefälligkeitsantrag für Ihre Klientel
zu sein. Das können wir leider nicht mitmachen. Deshalb
werden wir uns hier enthalten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Öl- und Gasprojekt „Sachalin II“ befindet
sich zweifellos in einem ökologisch besonders empfindlichen subarktischen Gebiet. Aufgrund der Größenordnung des Projektes sind die Auswirkungen auf die
Umwelt besonders nachhaltig zu prüfen. Dies war Grund
für die CDU/CSU und die SPD, den Antrag vom
5. September dieses Jahres zu formulieren, den Sie kennen. Er steht unter der Überschrift „Die weltweit letzten
100 westpazifischen Grauwale schützen“. Das ist im
Grunde nichts anderes als ein Pars pro Toto; denn
„Schutz der Grauwale“ bedeutet auch Schutz von Fauna
und Flora in der Anivabucht, Schutz der Lachse und der
Fischerei sowie Schutz der Menschen. 30 Prozent der
Menschen dort leben vom Lachsfang; das ist also auch
entwicklungspolitisch relevant.
Wir wollen die umwelt- und entwicklungspolitischen
Fragen nicht vernachlässigen. Deshalb haben wir den
vorliegenden Antrag formuliert. Wir meinen, dass damit
aber das Notwendige gesagt ist.
Meine Damen und Herren, vorhin wurde angesprochen, dass die Russen dem Projekt „Sachalin II“ die
Unbedenklichkeitserklärung in Bezug auf die Umwelt
entzogen haben. Wir könnten uns eigentlich zurücklehnen und sagen: Endlich haben es die Russen erkannt. - Aber, meine Damen und Herren, man muss sich
schon fragen, ob dies ein Zeichen für eine neue umweltpolitische Sensibilität in der russischen Politik ist. Wenn
man sich zum Beispiel anschaut, wie marode das Pipelinenetz ist, das die Russen betreiben, wenn man sich vor
Augen führt, dass sie Geld nur in Neubauten stecken, die
alten Leitungen aber nur notdürftig repariert werden und
große Mengen Rohöl im Boden versickern, dann kommen einem schon Zweifel, wie sie der Kollege Addicks
vorhin formuliert hat. Dass es nicht um Umweltmotive,
sondern um die Motive Macht und Geld geht, liegt aus
meiner Sicht relativ nahe.
Nun kann man sich die Frage stellen, warum die Russen erst jetzt, drei Jahre nachdem die Unbedenklichkeitserklärung erteilt worden ist, darauf kommen, diese wieder zurückzuziehen. Ich behaupte, das Vorgehen liegt im
Kontext der neuen russischen Rohstoffpolitik oder
- vielleicht besser - Machtpolitik. Schauen Sie sich das
an: Liquidierung des Yukos-Konzerns, Gaskrieg mit der
Ukraine, und jetzt scheinen die Konzerne Shell, Mitsui
und Mitsubishi als derzeit maßgebliche Träger des
„Sachalin II“-Projektes an der Reihe zu sein.
Dafür gibt es verschiedene Belege, zum einen den
Zeitpunkt. Kurz bevor die Verhandlungen über die Beteiligung von Gasprom an Sachalin II gescheitert sind,
wird die Unbedenklichkeitserklärung kassiert. Zum anderen gibt es Belege wie Aussagen des russischen Rohstoffministers, der unverhohlen sagt, Sachalin II sei für
Russland zu wenig vorteilhaft.
Schaut man sich die Verträge an, so merkt man in der
Tat, dass sie in den 90er-Jahren, als Russland sich noch
in einer anderen wirtschaftlichen Situation und einer anderen politischen Verfassung befunden hat, so gestrickt
worden sind, dass die Konzerne im Prä sind und Russland erst dann an dem beteiligt wird, was aus dem Boden
gefördert wird, wenn die Konzerne ihre Investitionen zurückverdient haben. Ein Berater Putins soll sogar gesagt
haben, es sei wünschenswert, dass das Projekt „Sachalin“ in nationale Projekte umgewandelt wird.
Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, warum
ich das im Zusammenhang mit dem Antrag der Grünen
erzähle. Meine Damen und Herren von den Grünen,
glauben Sie ernsthaft, dass dann, wenn sich die Osteuropabank nicht mit 300 oder 400 Millionen Euro an
diesem Projekt beteiligt, das, was dort auf Sachalin in
Grund und Boden steckt, nicht ausgebeutet wird?
({0})
Angesichts des Energiehungers dieser Welt, angesichts
des Bedarfs, der sich in den Schwellenländern plötzlich
entwickelt, ist es völlig unwahrscheinlich, dass die Rohstoffe ohne Zutun dieser Bank nicht ausgebeutet würden.
Wir müssen uns doch auch fragen, wie wir damit umgehen sollen. Ist es nicht sinnvoller, dass wir uns - natürlich unter Einhaltung von Umweltstandards, natürlich
unter Einhaltung von Auflagen - an diesem Projekt
beteiligen, auf die von Ihnen angesprochene Signalwirkung hoffen und darauf setzen, dass sich dort tatsächlich etwas bewegt und wir beides, nämlich die Gewinnung von Rohstoffen auf der einen Seite und den Schutz
der Umwelt in dieser Region auf der anderen Seite, in
Einklang bringen können? Den Russen muss man natürlich auch sagen, dass sie sich bei dem, was sie politisch
tun, schon überlegen müssen, ob sie nicht anfangen sollten, ihre Vertrauenswürdigkeit Investoren gegenüber unter Beweis zu stellen und ihr Verhältnis zu Japan zu hinterfragen, mit dem es noch immer keinen
Friedensvertrag gibt. Das sind Dinge, die man in diesem
Zusammenhang vielleicht einmal ganz offen ansprechen
sollte.
({1})
Allerdings muss sich auch Shell vorhalten lassen, das
Projekt ohne Umweltverträglichkeitsanalyse begonnen
zu haben.
({2})
Von einem internationalen Konzern wie Shell muss man
in diesem Punkt etwas mehr Sensibilität verlangen können.
({3})
Der Maßstab für die Beurteilung von Sachalin II muss
ein materieller und darf eben kein formaler sein. Deshalb
sagen wir ganz offen: Die Bundesregierung und die
EBWE können zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht
entscheiden, wie man mit dem Projekt umgeht.
Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung
zu Nummer vier Ihrer Forderungen machen, und zwar
unabhängig von der Tatsache, dass sich das aufgrund des
Zeitablaufs schon erledigt hat. Wir reden über die Frage,
wie es energiepolitisch mit der Ausbeutung von fossilen
Rohstoffen weitergeht. Sie wollen weg von der Kernenergie. Sie wollen auch in den Entwicklungs- und
Schwellenländern CO2-schonend Energie produzieren.
Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass Entwicklungs- und Schwellenländer Zugang zu Energie haben;
denn das ist ein ganz besonderes entwicklungspolitisches Thema. Wenn man das so sieht, dann darf man
aber nicht Vorschriften machen, die sich widersprechen.
Was machen Sie? Sie fordern die Nutzung von erneuerbaren Energien, nehmen aber die Große Wasserkraft aus,
weil Sie den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht
das zugestehen wollen, was andere schon lange tun.
Aber irgendwie, meine Damen und Herren, müssen wir
doch den Energiebedarf decken! Wenn nicht über die
Große Wasserkraft, nicht über die Kernenergie und natürlich - denn im Kern wollen Sie ja letztlich das
„Sachalin II“-Projekt stoppen - auch nicht über die fossilen Brennstoffe, wie denn dann? Diese Frage müssen
Sie beantworten.
Der Zugang zu Energie ist - ich glaube, meine Damen
und Herren, da sind wir uns einig - Voraussetzung für
den Wohlstand, den wir nicht nur bei uns, sondern auch
in anderen Ländern schaffen wollen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Sachalin II ist eines der größten Öl- und Gasförderprojekte der Welt. Das haben meine Vorredner bereits erwähnt. Am Anfang des Jahres verkündete das Konsortium Sakhalin Energy, dass sich die Umsetzung des
Projektes in die Länge ziehen würde. Die Kosten würden
von 12 Milliarden auf 20 Milliarden US-Dollar steigen.
Nun soll die Osteuropabank einspringen und Kredite in
Höhe von bis zu 400 Millionen Euro gewähren.
Wir fordern die Bundesregierung auf - und da sind
wir uns mit den Antragstellern einig -: Lehnen Sie diesen Kreditantrag im Direktorium der Bank ab!
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Das Projekt
hat bereits vor seiner Fertigstellung die Anivabucht auf
der Insel Sachalin buchstäblich verseucht. Die Pipeline
quer über die Insel hat ebenfalls schwere Umweltschäden verursacht. Sie wurde unter Verstoß gegen russische
und auch internationale Umwelt- und Sozialnormen verlegt. Das Betreiberkonsortium hat es nicht einmal für nötig erachtet, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzulegen. Durch eine Zustimmung zur Kreditvergabe würde
sich die Bundesregierung direkt mitschuldig machen,
({0})
mitschuldig an der kriminellen Umweltzerstörung in einer der verbliebenen urwüchsigen Naturlandschaften der
Welt.
Hauptaktionär des Projektes „Sachalin II“ ist der
Energiekonzern Shell. Der Konzern gebärdet sich wie
ein Wiederholungstäter. In der Anivabucht vor Sachalin
wiederholt sich eine Umweltkatastrophe, wie wir sie bereits aus dem Nigerdelta kennen. Auch dort vergiftet die
Ölförderung unter Verantwortung von Shell die Lebensgrundlagen von Mensch und Natur.
Nun traf sich der Shell-Vorstand am vergangenen Wochenende mit dem russischen Minister für Bodenschätze, Juri Trutnev. Nach dem Treffen erklärte nicht
nur Shell vor der Presse, alle Umweltprobleme seien beseitigt; nein, auch Herr Trutnev schlug plötzlich versöhnliche Töne an. Es hieß, der von der russischen Regierung erwogene Stopp von Sachalin II sei hinfällig,
wenn Shell einen neuen Plan vorlege.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Ein neues
Papier wird die Vernichtung der unschätzbaren Natur
auf Sachalin nicht rückgängig machen. Es drängt sich
der Verdacht auf, dass sich die russische Regierung mit
dem Shell-Vorstand weniger über Grauwale und Wiederaufforstung als vielmehr über die Konditionen bei der
Ausbeutung des Öl- und Gasfeldes unterhalten hat.
({1})
Eine bloße Neuverteilung der zu erwartenden Gewinne aus der Ölförderung zwischen Staat und Konsortium kann kein Kriterium für eine positive Neubewertung des Projekts sein.
({2})
Ich bin mir sicher, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsparteien, das genauso sehen.
Warum wollen Sie diesem Antrag dann aber nicht zustimmen?
Die deutsche Öffentlichkeit hat noch gut in Erinnerung, wie Gerhard Schröder direkt aus dem Kanzleramt
in den Aufsichtsrat des Betreiberkonsortiums für die
Ostseepipeline wechselte.
({3})
Wie weit wollen Sie, liebe SPD-Kolleginnen und Kollegen, diesen Weg der unkritischen Begleitung der russischen Regierungspolitik noch mitgehen? Man mag ja
kaum seinen Ohren trauen, wenn Altkanzler Schröder
den russischen Präsidenten Putin dafür lobt, dass er
Russland - ich zitiere - „auf den demokratischen Weg
führt“. Das war am 6. Oktober. Einen Tag später wurde
in diesem Land die kremlkritische Journalistin Anna
Politkowskaja erschossen,
({4})
jene Journalistin, die von Putin im Fernsehen unverblümt als Feindin des Volkes bezeichnet wurde. Ein Zufall?
Die Regierungsparteien ziehen sich darauf zurück,
dass bereits ein Antrag zum Schutz der Grauwale vor der
Insel verabschiedet worden sei. Ich frage mich: Warum
spricht das gegen den vorliegenden Antrag?
({5})
Hier geht es um die Kreditvergabepolitik der Osteuropabank.
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Jetzt, wo ein Antrag eine
konkrete Bedeutung zum Schutz der Natur vor der russischen Ostküste hat, ziehen Sie sich feige zurück. Ich
glaube, hier sollten Sie Mut aufbringen und dem Antrag
zustimmen.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute
Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unser grüner Antrag will dafür sorgen, dass
das Unterlaufen von Standards in der Öl- und Gasproduktion durch den Konzern Shell in Russland nicht noch
durch deutsche Politik unterstützt wird.
Wir stehen aktuell vor einer Entscheidung der Osteuropabank. Auch in Russland wird darüber diskutiert. Der
aktuelle Anlass ist also gegeben.
Wir kennen natürlich die Position der Regierungsfraktionen und auch den Antrag, der da heißt „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“,
den die Koalitionsfraktionen am 5. September eingebracht haben, aber leider nicht diskutierten; es gab keine
Aussprache dazu.
({0})
Wir wissen, dass der Antrag vor der Sommerpause zurückgezogen wurde. Deshalb ist es wichtig, diesen Punkt
hier zu benennen und zu diskutieren.
({1})
Frau Groneberg, es ist tatsächlich so: Die Umweltschäden vor Ort sind enorm. Sie haben in Ihrem Antrag
diese Situation und auch die sozialen Folgen für die
Menschen dort ausgeblendet.
({2})
Deswegen konnten wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Dieser Antrag, der zu Recht die weltweit letzten lebenden Grauwale schützen will, verweigert sich damit der
Erkenntnis, in welchem Zusammenhang die Ausbeutung der Rohstoffe steht. Ich finde, Sie haben eine
große Chance vertan.
Die Osteuropabank, die jetzt über einen Kredit für
Sachalin II entscheidet, ist eine angesehene internationale Entwicklungsbank. Deutschlands Stimme in ihrem
Direktorengremium hat beträchtlichen Einfluss auf die
Vergabeentscheidungen der Bank. Deutschland hat damit die besondere Verantwortung, dass zum einen der
Ruf der Osteuropabank, zum anderen aber auch internationale Standards nicht beschädigt werden. Beides riskieren wir, wenn dieses Haus unserem Antrag nicht zustimmt.
Sakhalin Energy als Förderkonsortium bei
Sachalin II hat eine unglaubliche Liste von Verstößen
gegen internationale Umwelt- und Sozialstandards produziert. Wenn die Osteuropabank ihre eigenen Standards
ernst nimmt, dann darf das Konsortium diesen Kredit
nicht bekommen. Frau Groneberg und Herr Addicks, Sie
haben hier abgewiegelt und gesagt, es gehe um die
400 Millionen Euro im Vergleich zu der Gesamtsumme.
Es geht aber nicht um das Geld, sondern darum, ob die
Osteuropabank ein Gütesiegel für die Ausbeutung auf
Sachalin - unter den katastrophalen Umweltbedingungen, die dort herrschen - gibt. Dieses Gütesiegel verweigern wir.
({3})
Es gibt Proteste vor Ort und eine breite Bewegung gegen das Projekt und gegen die finanzielle Unterstützung
des Projekts durch die Osteuropabank. Die Bank muss
wissen: Mit einer Kreditvergabe würde ein starkes
Signal der Aufweichung internationaler Standards an
andere Banken und Ressourcenprojekte ausgesendet.
({4})
Dabei ist es eigentlich Aufgabe der Bank, ehrgeizige
Umwelt- und Sozialstandards nach Osteuropa zu vermitteln.
Die Bank muss jetzt umsteuern und sich auf die Förderung von regenerativen Energien und Energieeffizienz
konzentrieren. Welchen Sinn macht es, die knappen Mittel der Entwicklungsbank in Zeiten akuten Klimawandels in riesige Ölprojekte zu stecken, für die es ohnehin
ausreichend Kreditfinanzierung gibt?
({5})
Die Osteuropabank braucht das Geld nicht; sie muss dieses Gütesiegel nicht geben.
({6})
Was wir brauchen, ist ein klares Nein zur Kreditvergabe
durch die Osteuropabank an Sachalin II.
({7})
Derzeit geht die russische Regierung gegen Sakhalin
Energy wegen seiner Umweltvergehen vor; das wurde
auch schon erwähnt. Ich meine, man muss auch darauf
hinweisen, dass es dabei nicht nur darum geht, die Ökologie zu schützen. Machtpolitische Motive sind mindestens genauso wichtig.
Ich will Sie zum Abschluss meiner Rede auch noch
darüber informieren, dass es die mutige russische Umweltaufsicht sehr schwer hat. Gestern haben Einheiten
der russischen Kriminalpolizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Büros der Behörde durchsucht. Dabei haben sie Dokumente über das von der Umweltaufsicht
eingeleitete Umweltaufsichtsverfahren gegen Sakhalin
Energy und andere Ölunternehmungen konfisziert. Da
findet gerade ein Machtkampf statt. Ich bin der Meinung, wir sollten uns daran nicht beteiligen.
Stimmen Sie unserem Antrag zu; sagen Sie Nein zur
Kreditvergabe an Sachalin II.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2925 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Schaden von der Reputation der Osteuropabank abwenden - Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/1668 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Grünen und der Fraktion der Linken sowie Enthaltung der FDP angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 15 ohne Aussprache
aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe daher den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 16/3043 -
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/3043, die Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an-
genommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksachen 16/2711, 16/2753 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/3005 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2})
- Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja
Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN
Für ein menschenwürdiges Existenzminimum
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln - Das
Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten
und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen
- Drucksachen 16/2743, 16/2750, 16/2751,
16/3005 Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt wieder einmal,
dass hinter den Kulissen der Koalition mit heißer Nadel
Gesetzesänderungen gestrickt werden, die wir im Parlament nach kurzer Diskussion verabschieden sollen.
({0})
Immerhin wurden auch drei Punkte, die die FDP in die
Beratung zu den Gesetzesänderungen eingebracht hat,
von der Koalition übernommen.
Wir begrüßen als FDP den Bürokratieabbau bei der
Frage der bisher jährlichen Festlegung der Höhe der monatlichen Regelsätze durch Verordnung der Landesregierungen.
({1})
Zukünftig müssen die Landesregierungen nur noch eine
neue Verordnung erlassen, wenn sich die Regelsätze
auch wirklich ändern.
({2})
Auch die Erweiterung der Gewährung von Darlehen an Leistungsberechtigte bei der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung halten wir für richtig.
Besonders hervorzuheben ist die Beibehaltung des
Bruttoprinzips in § 92 SGB XII. Noch am 22. September 2006 hatte die Bundesregierung, Herr Staatssekretär
Thönnes, auf meine Frage hin bestätigt, dass sie die Befürchtungen der Sozialverbände bei der Einführung des
Nettoprinzips bei der Eingliederungshilfe für Menschen
mit Behinderungen nicht teilt. Die Anhörung am Montag
in Berlin hat aber aus meiner Sicht ganz klar ergeben,
dass es notwendig ist, beim Bruttoprinzip zu bleiben,
({3})
um Menschen mit Behinderungen finanzielle Leistungen
aus einer Hand anzubieten. Wir freuen uns als FDP heute
also über die Einsicht der Bundesregierung und der Koalition in diesem wichtigen Punkt.
({4})
Bei der anstehenden Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Zusammenarbeit mit den Kommunen und
den Ländern wollen einige Abgeordnete der Koalition
aber schon in naher Zukunft wieder über die Einführung
des Nettoprinzips diskutieren. Aus Sicht der Sozialverbände kann hier also noch keine endgültige Entwarnung
erfolgen. Aber die Liberalen stehen hier klar an der Seite
der Verbände und der Betroffenen. Wir werden hier
wachsam bleiben.
({5})
Nun komme ich zu einigen Punkten im vorliegenden
Gesetzentwurf, welche die Liberalen gemeinsam mit den
Bundesländern gerne verbessert hätten. Zum Beispiel
haben wir im Ausschuss gefordert, dass EU-Bürger, die
nach Deutschland ziehen, frühestens nach Ablauf von
drei Monaten leistungsberechtigt sind. Gerade als Betriebsrat bin ich für Freizügigkeit der Arbeitnehmer in
Europa und für die soziale Absicherung dieser Freizügigkeit. Aber einem Zuzug in unsere Sozialsysteme
müssen wir entgegenwirken.
({6})
Auch hätten wir uns eine gesetzliche Klarstellung gewünscht, um die Zuständigkeit für Wohnungsbeschaffungskosten, Umzugskosten und Kautionen eindeutig
festzulegen. Beim SGB II hatten wir erst im Sommer
eine entsprechende Klarstellung beschlossen. Warum
wollen Sie dies nicht auch im SGB XII regeln?
Als Drittes möchte ich an dieser Stelle die Aufhebung
der Verortung der Schiedsstellen bei den Landesbehörden kritisieren. Im Zuge der zunehmenden Kommunalisierung könnte die Änderung des § 80 SGB XII von den
Bundesländern dazu genutzt werden, die Schiedsstellen
bei den Landkreisen zu verorten. Damit könnte der öffentliche Rechtsträger zum einen potenzielle Partei eines
Schiedsstellenverfahrens sein und zum anderen für den
Aufbau und die Organisation der Schiedsstelle zuständig
sein. Selbst wenn die Schiedsstellen bei den in einigen
Bundesländern bestehenden Landeswohlfahrtsverbänden angesiedelt würden, entstünden ähnliche Verwerfungen, wenn die Landeswohlfahrtsverbände von den Landkreisen getragen werden. Der Nutzen für die Menschen
in Einrichtungen erschließt sich mir nicht. Wir hätten die
Schiedsstellen lieber weiter bei den Landesbehörden gesehen und fordern daher, den § 80 nicht zu ändern.
({7})
Leider haben Union und SPD alle diese weitergehenden Vorschläge im Ausschuss abgelehnt.
Des Weiteren kritisieren wir, dass wir mittlerweile
eine Regelsatzbemessung nach Kassenlage haben.
({8})
Wir haben weiterhin die starke Vermutung, dass bei der
Veränderung der Parameter für die EVS 2003, also die
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, so lange an
den Parametern gedreht wurde, bis das gewünschte Ergebnis von circa 345 Euro errechnet werden konnte.
({9})
- Das ist eine Vermutung, meine Damen und Herren.
Hier fordern wir künftig mehr Nachvollziehbarkeit
und eine Ausrichtung des Regelsatzes an objektiven Kriterien wie dem Preisniveau.
({10})
- Heute keine Zwischenfragen!
Zudem sollten die Anrechnungsregeln für den Hinzuverdienst für SGB-XII-Empfänger nicht gegenüber
dem heute geltenden Recht verschlechtert werden. Der
Anreiz zu Aktivität und Arbeit bei den Leistungsempfängern würde vermindert. Hier widersprechen die Liberalen mit Nachdruck.
Alles in allem frage ich mich, warum Sie ausgerechnet jetzt den Vorstoß zu einer so weit gehenden Änderung des SGB XII gemacht haben. Sie flicken und doktern an der Eingliederungshilfe herum, obwohl Sie doch
andere Pläne hatten. Ich darf Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen, an Ihren Koalitionsvertrag erinnern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion?
Heute nicht, Herr Kollege.
({0})
Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich:
Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den
Verbänden behinderter Menschen werden wir die
Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und
leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei
haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die
Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste,
Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die
Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert.
Beinahe hätten Sie die finanzielle Leistungserbringung
aus einer Hand gekippt. Jetzt wird es endlich Zeit, Ihre
Pläne mit den Betroffenen zu diskutieren.
({1})
Für heute ist nach unserer Bewertung die ursprüngliche Gesetzesvorlage durch die Änderungsanträge der
Koalition zwar verbessert worden, aber unter dem Strich
können wir als FDP-Fraktion aus den zuletzt genannten
Gründen dem SGB-XII-Änderungsgesetz nicht zustimmen und lehnen es daher ab. Für unseren Entschließungsantrag bitten wir dagegen um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun
dem Kollegen Peter Weiß.
Herr Kollege Rohde! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich befürchte, dass die ungeheuerliche Behauptung, die Sie zum Regelsatz in der Sozialhilfe nach dem
SGB XII aufgestellt haben, nachher von einer anderen
Fraktion wiederholt wird, mit der Sie sonst nicht so gern
koalieren.
Es war 1989 ein großer Fortschritt, der damals von
der gesamten Fachwelt und auch den Wohlfahrtsverbänden begrüßt worden ist, dass wir den Warenkorb abgeschafft haben und dazu übergegangen sind, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen
Bundesamtes bei den unteren 20 Prozent der in Deutschland erhobenen Einkommen zur Grundlage des Regelsatzes in der Sozialhilfe zu machen, und damit zu einem
Verfahren gekommen sind, das auf statistisch einwandfreien Daten basiert und auf das die Politik und andere
keinen Einfluss nehmen können.
Ich möchte es noch einmal betonen: Es ist richtig,
dass sich die Bundesregierung bei der Regelsatzverordnung an diese Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
hält; denn dadurch wird das tatsächlich ermittelte Verbrauchsverhalten der Schicht der unteren 20 Prozent der
Einkommen in Deutschland zur Grundlage des Regelsatzes.
Wer dieses Verfahren in der Art und Weise verdächtigt, wie Sie es getan haben, betreibt nicht Sozialpolitik,
sondern macht eine Rückwärtsrolle in Sachen Sozialpolitik. Dagegen sollten wir uns entschieden wehren. Ich
behaupte: Das Statistische Bundesamt lügt nicht. Wenn
Sie hier eine solche Behauptung aufstellen, dann beweisen Sie auch auf Punkt und Komma, wo Sie meinen,
dass unsere Statistiker lügen und eine falsche Berechnung vorgenommen haben. Ich behaupte: Die EVS ist
richtig. Sie sollte auch in Zukunft angewandt werden.
({0})
Zur Erwiderung Herr Rohde, bitte.
Herr Kollege Weiß, wir hatten vor zwei Wochen zum
gleichen Thema und fast zur gleichen Stunde genau die
gleiche Auseinandersetzung. Ich habe damals gesagt:
Ich vermute es. Das ist keine Behauptung, sondern das
ist eine Vermutung von mir persönlich. Aber die Nachvollziehbarkeit ist insofern gegeben, weil 1998 bei der
letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein Satz
errechnet wurde, von dem dann aus politischen Gründen
abgewichen wurde. Den Leuten wurde etwas mehr gegeben.
({0})
Diesmal kam bei der Berechnung exakt der Betrag heraus, der bisher gezahlt wurde. Das nährt meine Vermutung, dass aus politischen Gründen ein bisschen an den
Parametern gedreht wird. Das ist nur eine Vermutung. Es
ist völlig richtig: Ich habe keine Beweise dafür. Aber ich
bleibe bei meiner Vermutung.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eine ganz interessante Erfahrung, wenn man sieht,
dass sich FDP und CDU/CSU hier einmal streiten.
Wir haben heute Mittag über Armut in Deutschland
diskutiert. Jetzt handeln wir. Wir erhöhen nicht nur die
Sozialhilfe in Ostdeutschland, sondern schaffen auch die
gesetzliche Grundlage zur Verbesserung der finanziellen
Situation von Menschen in stationären Einrichtungen.
Ich spreche von der Anhebung des Barbetrages und der
damit verbundenen bundesweiten Wiedereinführung der
Weihnachtsbeihilfe. Fast ein Jahr lang hing sie in der
Luft. Jetzt machen wir den Weg für die Weihnachtsbeihilfe frei, und zwar rückwirkend für dieses Jahr.
Im Zuge der Reform des Bundessozialhilfegesetzes
und der damit verbundenen Umstellung auf Pauschalierung der Sozialhilfe in 2003 ist die gesetzliche Verpflichtung der Länder zur Zahlung von Einmalleistungen zu
besonderen Anlässen - ehemals § 21 BSHG - weggefallen. Das hatte zur Folge, dass im letzten Jahr nur noch
sieben Bundesländer die Weihnachtsbeihilfe als freiwillige Leistung gezahlt haben. Nun muss man natürlich die
schwierige Finanzsituation der Länder vor Augen haben.
Ich bin mir jedoch sicher, dass die Streichung der Weihnachtsbeihilfe von gerade einmal 36 Euro pro Leistungsbezieher und Jahr kein echter Sanierungsbeitrag für die
Länderhaushalte sein kann.
({0})
Aus meiner Sicht haben diese Einsparungen aber zu einer nicht zu vertretenden sozialen Härte geführt. Wer im
Heim und von Sozialhilfe lebt, gehört zu den bedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind natürlich
mit dem Nötigsten versorgt; für ihren persönlichen Bedarf steht ihnen aber lediglich ein Barbetrag von knapp
90 Euro im Monat zur Verfügung. Das ist wenig. Wenn
dann noch die Weihnachtsbeihilfe in Höhe von 36 Euro
wegfällt, dann ist das viel.
Im Rahmen der Föderalismusreform haben wir heftig über die Zuständigkeiten von Bund, Ländern und
Kommunen diskutiert. Der Umgang mit der Weihnachtsbeihilfe ist für mich ein deutliches Beispiel dafür, dass
wir die soziale Sicherung der Menschen in unserem
Land nicht aus der Zuständigkeit des Bundes entlassen
dürfen.
({1})
Deshalb lehnen wir die im FDP-Antrag vorgeschlagene
Regionalisierung der Sozialhilferegelsätze entschieden
ab.
({2})
Bleiben wir bei der FDP. Zugegeben, ich war überrascht, als ich in Ihren Änderungsvorschlägen die Forderung nach einer Heraufsetzung des Barbetrages für
Heimbewohner um gleich 2 Prozentpunkte gefunden
habe. Wir haben uns mit der Union im Hinblick auf die
schwierige Verhandlungssituation mit den Ländern, die
dem Gesetz ja auch zustimmen müssen, auf 1 Prozentpunkt geeinigt. Ich habe mich gefragt: Seit wann hat die
FDP ein so ausgeprägtes soziales Gewissen, dass sie
gleich 2 Prozentpunkte mehr fordert? In der letzten Ausschusssitzung haben Sie die Welt dann aber wieder gerade gerückt, Herr Kollege Rohde, als Sie sagten, dass
natürlich die von Ihnen gewünschte Heraufsetzung des
Barbetrages an die Unterstützung der Kompensationsforderungen der Länder geknüpft sei. Diese Forderungen
haben es in sich. Die Länder bieten rund 30 Millionen Euro und wollen den Heimbewohnern durch Streichung anderer Leistungen im Gegenzug mehr als
150 Millionen Euro entziehen. Das ist ein schlechtes Geschäft. Herr Kollege Rohde, wir werden ein solches Geschäft zulasten der Heimbewohner auf keinen Fall mitmachen.
({3})
Man ist in der Politik vor Überraschungen nicht sicher. Während sich die FDP auf den ersten Blick für eine
Besserstellung der Sozialhilfe beziehenden Menschen in
Heimen einsetzt, schweigt die Linkspartei zu diesem
wichtigen Thema. Kein Änderungsantrag weit und breit.
Sie setzt sich allerdings für eine Aufstockung des
Regelsatzes auf 420 Euro ein. Diese Maßnahme würde
rund 10 Milliarden Euro kosten; denn der Regelsatz ist
auch Grundlage für das Arbeitslosengeld II und für die
Berechnung des steuerlichen Existenzminimums. Die
zusätzliche Belastung wäre aber nicht ausschließlich
vom Bund, sondern insbesondere von den Ländern und
Kommunen zu tragen. Wie Ihre Forderung bei der angespannten Lage der öffentlichen Kassen umgesetzt werden soll, bleibt im Nebel.
Es ist auch fraglich, ob die Aufstockung von Transferleistungen für alle Betroffenen der richtige Weg ist.
Ich denke an die rund 1 Million Menschen, die trotz
Arbeit Grundsicherung beziehen. Eine neue Studie der
Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass die
tatsächliche Zahl der Leistungsberechtigten weit höher
liegt. Es wäre ein falscher Weg, den Niedriglohnsektor
durch eine Aufstockung der Grundsicherung noch stärker zu subventionieren. Diese Menschen brauchen keine
höheren Transferleistungen, sondern Arbeit, von der sie
leben können.
({4})
Dazu gehören ordentliche Lohnabschlüsse und ein Mindestlohn, der den freien Fall nach unten begrenzt. Höhere Transferleistungen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linkspartei, sind nicht immer das Allheilmittel.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun erneut
der Kollege Rohde.
Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich möchte Sie nur
leicht korrigieren. Sie haben Recht: Wir haben den Änderungsantrag, in dem wir eine Erhöhung von 26 auf
28 Prozentpunkte fordern, eingebracht. Im Ausschuss
haben wir gefordert, die Mittel in genau diesem Umfang
zu kompensieren. Aufgrund der Ergebnisse der Diskussion im Ausschuss würde ich diesen Betrag mit circa
26 Millionen Euro beziffern. Wir haben im Ausschuss
nicht erklärt, wie wir dies kompensieren wollen.
({0})
Die Diskussion darüber haben wir noch nicht abgeschlossen. Wir wünschen uns eine Kompensation. Zu
den Länderforderungen haben wir uns nicht geäußert.
Bitte sehr, Frau Kollegin, zur Erwiderung.
Herr Kollege Rohde, danke für Ihre Darstellung. Sie
bringt uns allerdings nicht viel weiter. Es ist eigentlich
egal, für welche Kompensationsforderung Sie sich einsetzen.
Sie haben im Ausschuss und auch jetzt betont, dass
Sie eine Aufstockung des Barbetrages in Höhe von
2 Prozentpunkten nicht ohne Kompensation wollen.
Also unterstützen Sie die Länder in ihrer - ich würde
einmal sagen - etwas unsozialen Herangehensweise im
Umgang mit der Heraufsetzung des Barbetrages. Die
Länder fordern im Gegenzug Einsparungen in Höhe von
150 Millionen Euro.
({0})
Dieser Betrag würde den Menschen in den Heimen fehlen. Das ist also ein schlechtes Geschäft.
({1})
Sie haben leider nicht gesagt, dass Sie sich für eine
Anhebung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte einsetzen und auf eine Kompensation verzichten. Wenn Sie
dies gesagt hätten, hätten Sie meine volle Unterstützung.
Das aber haben Sie nicht getan. Sie haben Ihr wahres
Gesicht gezeigt, und das ist nicht sozial. Das ist wieder
einmal deutlich geworden.
({2})
Nun hat das Wort die Kollegin Elke Reinke, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Vorliegen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist die Bundesregierung verpflichtet,
die Regelsätze des Sozialgesetzbuches XII zu prüfen
und gegebenenfalls anzupassen. Im Unterschied zu anderen Gesetzesvorhaben waren die Regierungsfraktionen nach der Anhörung nicht so beratungsresistent wie
bei der Föderalismusreform und aktuell bei der Gesundheitsreform. Eine Mehrheit der Expertinnen und Experten hat sich für das Bruttoprinzip bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ausgesprochen
und die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der SPD haben sich belehren lassen.
Leider wurden andere Bedenken, die in der Anhörung
geäußert wurden, nicht ernst genommen. Der Sachverständige Hesse von der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege hat angemerkt, dass sich die
Preise in den Aldi-Filialen nicht unterscheiden, dass
Menschen überall im Land 10 Euro Praxisgebühr beim
Arzt zahlen müssen und dass alle von der Mehrwertsteuererhöhung betroffen sind. Weil es keine relevanten Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten gibt, sieht
unsere Fraktion keine Grundlage für regionale Abweichungen bei den Regelsätzen in den verschiedenen Bundesländern.
({0})
Wir fordern in unserem Antrag „Für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ die Einführung einer bedarfsdeckenden Grundsicherung von 420 Euro. In den
Ausschussberatungen wurde uns mehrfach Wunschdenken unterstellt. Ich würde gerne einmal hören, wie Sie zu
den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stehen, der schon im Mai dieses Jahres als Notmaßnahme forderte, die Leistung auf 415 Euro zu erhöhen.
Wenn Sie einen Eindruck von der Stimmung der Leidtragenden Ihrer Politik bekommen wollen, dann sollten Sie
die Demos gegen Sozialabbau besuchen, die am kommenden Samstag stattfinden.
({1})
Die Regierungsfraktionen haben auch auf ein anderes
drängendes Problem nicht reagiert. Dr. Ulrich Schneider
vom Paritätischen Wohlfahrtsverband forderte ebenso
wie wir, kindgerechte Bedarfe anders zu berechnen.
Selbst in den Reihen der SPD gab es zu diesem Vorschlag zustimmendes Kopfnicken.
Im Regelsatz für Kinder sind anteilig 12 Euro für
Zigaretten vorgesehen. Windeln, Spielsachen, Bücher
und Buntstifte tauchen hier gar nicht auf. Nur ein Beispiel für die lebensfremde Berechnungsweise dieses Regelsatzes: Für ein Kind, dessen Eltern Sozialhilfe beziehen, werden pro Jahr 52,80 Euro für den Kauf von
Schuhen zur Verfügung gestellt. Liebe Mütter und Väter
hier im Hause, wann waren Sie das letzte Mal mit Ihren
Kindern Schuhe kaufen? Erklären Sie mir einmal, wie
Sie von diesem Betrag Halbschuhe, Winterstiefel, Sandalen und Turnschuhe bezahlen wollen!
({2})
Hinzu kommt, dass Kinder auch noch die unangenehme
Angewohnheit haben, zu wachsen.
Zum Weltkindertag hat die Linke der Öffentlichkeit
die Eckpunkte einer Kindergrundsicherung vorgestellt. Wir wollen den schrittweisen Einstieg in eine bedarfsorientierte und individuelle Kindergrundsicherung.
Wo bleiben Ihre Antworten auf das drängende Problem
der Kinderarmut in unserem reichen Land?
({3})
Angesichts der Ergebnisse der Studie der FriedrichEbert-Stiftung und aufgrund der aufgeregten Debatte
über zunehmende Armut und abgehängte Unterschichten
empfehle ich Ihnen, diesen Antrag an die Ausschüsse
zurückzuverweisen. Dort könnten wir nicht nur debattieren, sondern auch sofort gemeinsam handeln. Wer keine
Schulbücher finanziert und wer für 2,5 Millionen betroffene Kinder und Jugendliche keine armutsfeste Grundsicherung einführt, der sollte sich seine Empörung über
Motivationsprobleme und die so genannte Bildungsferne
sparen.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das für die Menschen in Deutschland mehr soziale Sicherheit bedeutet.
({0})
Diese gute Botschaft richtet sich vor allem an die Menschen, die sich nicht selbst helfen können, an diejenigen,
die nicht erwerbsfähig sind und deshalb unbedingt sozialer Unterstützung bedürfen.
Mit diesem Gesetzentwurf trägt die große Koalition
dazu bei, den Unterschied zwischen Ost und West aufzulösen; denn in Zukunft wird in ganz Deutschland ein einheitlicher Regelsatz gelten. Es ist eine große Leistung
dieser Koalition, dass sie ihrer sozialen Verantwortung
trotz der sehr schwierigen Haushaltslage und knapper
Finanzmittel gerecht wird. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ausdrücklich zu loben.
({1})
Von vielen Seiten wurde kritisiert, es sei nicht richtig
gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur Grundlage des Regelsatzes zu machen. All
diejenigen, die dies kritisiert haben, sind allerdings die
Antwort auf die Frage schuldig geblieben, auf welcher
Grundlage sie den Betrag ermittelt hätten, der für ein Leben in hinreichend gesicherten Verhältnissen anzusetzen
ist. Ich bin der Meinung, der gewählte Ansatz, von dem
Verbrauchsverhalten derer auszugehen, die die untersten
20 Prozent der Einkommensskala bilden, ist eine vernünftige Grundlage für die Festlegung des Regelsatzes.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Straubinger. Dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, also das Verhalten der
untersten 20 Prozent der Einkommensskala, die Grundlage des Verfahrens für die Berechnung des Regelsatzes
ist, wie es Herr Weiß betont hat, wird von niemandem in
Zweifel gezogen. Aber Sie wissen auch, dass es bei diesen Werten Abschläge gibt, je nach Warengruppe. Was
kritisiert wird, ist, dass das Berechnungsverfahren nicht
transparent ist. Es wird nicht klar, warum zum Beispiel
für Strom pauschal 85 Prozent des ermittelten Wertes gezahlt werden. Der Herr Staatsekretär hat im Ausschuss
versucht, zu erklären, dass die Heizung anteilig berücksichtigt wird. Es haben aber nicht alle eine elektrische
Heizung. Wie will man das trennen?
Die Begründung für die Abschläge ist nicht deutlich.
Würden Sie also bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir
nicht die Grundlage kritisieren, sondern die Abschläge,
die vorgenommen werden? Darauf gründet sich die Kritik.
Herr Kollege Kurth, ich glaube, dass die Bundesregierung mit diesem transparenten und für jemanden,
der sich damit beschäftigt hat, durchaus nachvollziehbaren Verfahren letztlich eine gute Lösung gefunden hat.
Natürlich spielt der alte Warenkorb hier noch eine Rolle.
Das ist beim Verbrauchsverhalten der Menschen sicherlich feststellbar; das liegt auf der Hand. Aber ich bin
überzeugt, dass die Grundlage vernünftig ist, Herr
Kurth.
({0})
Es ist wichtig, darzustellen, dass wir wegen unserer
begrenzten Mittel keine zusätzlichen Leistungen erbringen können, wie es die Oppositionsfraktionen - die
Fraktion der Linken, aber auch, wenn auch nicht in Zahlen dargelegt, die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen - gefordert haben.
Ich möchte mich mit den Forderungen der Fraktion
der Linken auseinander setzen. Sie fordern eine Anhebung des Regelsatzes auf 420 Euro im Monat. Das
würde den Bundeshaushalt jährlich mit zusätzlichen
10 Milliarden Euro belasten. Ich glaube, dass dies nicht
leistbar ist und eine starke Überforderung derer bedeutete, die die Leistungen zu erbringen haben.
({1})
Bemerkenswert ist die Begründung der Linken, warum der Regelsatz auf diesen Betrag angehoben werden
muss. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf den Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Nein, danke. - Demnach sollen zusätzliche Ausgaben
für Mobilfunk und weitere Privat-PKW sowie Gesundheitsausgaben von Privatpatienten eingerechnet werden,
aber auch wesentlich höhere Ausgaben für Tabakwaren
und Verpflegungsdienstleistungen sollen berücksichtigt
werden. Ich glaube, für eine gesunde Lebensführung ist
es eigentlich entscheidend, nicht zu rauchen. Dieser Ansatz des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist meines
Erachtens nicht gerechtfertigt. Vor allen Dingen ist diese
Erhöhung nicht von der Allgemeinheit zu erbringen.
({0})
Der Kollege Hüppe wird noch auf die Veränderungen
eingehen, die sich im Fortgang der Beratungen ergeben
haben, auf das Brutto- bzw. Nettoprinzip und die Weihnachtsbeihilfe. Entscheidend ist, dass wir zum Bürokratieabbau beigetragen haben; das ist auch für die Länder
wichtig. Der Kollege Rohde hat das hier bereits gewürdigt.
Für mich ist es auch sehr wichtig, dass wir die Darlehensgewährung für Leistungsberechtigte durch den Verweis auf § 91 im SGB XII ausgeweitet haben. Das bedeutet, dass den Menschen, die in Not geraten sind bzw.
sich in einer Notlage befinden und der sozialen Unterstützung bedürfen, sehr schnell und sehr sachgerecht von
staatlicher Seite geholfen werden kann.
In diesem Sinne kann ich Sie alle nur dazu aufrufen:
Stimmen Sie diesem Gesetz heute in zweiter und dritter
Lesung zu.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Da heute offensichtlich weder der Minister noch der Staatssekretär reden
wollen und da weder Frau Hiller-Ohm noch Sie, Herr
Straubinger, sich zu dem Brutto-Netto-Prinzip geäußert
haben, würde ich gerne die Frage an Sie richten - diese
muss ja jemand von der Koalition beantworten -, ob die
Rücknahme des Nettoprinzips, also dessen, dass behinderte Menschen in Zukunft erst einmal selbst bezahlen
müssen und anschließend beim Sozialamt fragen dürfen,
ob sie das Geld wiederbekommen, endgültig ist oder ob
das eine taktische Maßnahme ist, die Sie in zwei, drei
Monaten oder vielleicht in einem halben Jahr doch wieder zurücknehmen.
Für die Menschen, die das betrifft, wäre es sehr wichtig, zu wissen, dass es dabei bleibt und dass die Sachkosten aus einer Hand voll übernommen werden. Wenn es
tatsächlich jemanden gibt, der etwas zuzahlen kann,
dann wird das zurückgefordert. Es kann aber nicht sein,
dass diejenigen, die ohnehin nichts haben - wir hören
hier von Menschen, die nur 90 Euro im Monat haben
und jetzt gnädigerweise wieder Weihnachtsgeld bekommen; da kann man ja fast das Heulen kriegen -, in Vorleistung gehen sollen.
({0})
Bleibt die Regelung so, wie sie jetzt ist, oder wird das,
was Sie vorhatten und zurückgezogen haben, weil der
Protest aus dem Kreis der Betroffenen zu stark war, nach
kurzer Zeit wieder hervorgeholt?
Diese wichtige Frage für die Betroffenen hätte ich
von Ihnen gerne beantwortet.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Straubinger, zur Erwiderung, bitte.
Frau Präsidentin! Herr Seifert, bei der CDU/CSUund bei der SPD-Bundesfraktion, die die Regierung unterstützen, ist die Politik nicht auf Taktik angelegt, wie
bei der Fraktion der Grünen.
({0})
- Entschuldigung, der Linken. - Wir betreiben eine beständige Politik.
Weil nachfolgend der Kollege Hüppe hier eine Rede
hält und sich in seinen Ausführungen ausdrücklich mit
dem Brutto-Netto-Prinzip befassen wird, verweise ich
diesbezüglich auf den Kollegen Hüppe.
({1})
Nun erteile ich dem Kollegen Markus Kurth, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Straubinger, die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen fühlt sich sowohl taktisch als auch strategisch
leistungsfähig. Das kann ich Ihnen versichern.
({0})
Es ist jetzt nicht nur rein taktisch, wenn ich die Rede
damit eröffne, dass ich sage, dass das vorliegende Gesetz
zur Änderung des Sozialhilferechts ein Gesetz ist, das im
Laufe der Ausschussberatungen stark verbessert worden
ist.
({1})
Das ist durchaus nicht selbstverständlich und das kann
man ruhig einmal sagen. Das freut uns umso mehr, als
Sie als Koalitionsfraktionen auch auf Bedenken eingegangen sind, die wir bereits bei der Einbringung des Gesetzes in einem begleitenden Antrag zum Ausdruck gebracht haben.
Änderungen, wodurch der Gesetzentwurf besser geworden ist, sind die angesprochene Darlehensregelung
für Personen, die nicht sofort zum Beispiel ihr Immobilienvermögen einsetzen können, sodass sie trotzdem in
den Genuss von Leistungen kommen, die Regelung zur
Weihnachtsbeihilfe und natürlich - das ist ganz entscheidend und dazu möchte ich auch noch einige Sätze sagen die Beibehaltung des Bruttoprinzips in der Eingliederungshilfe.
Weiterhin ist nun die zügige Hilfegewährung in stationären und teilstationären Einrichtungen möglich. Die
auf solche Hilfen angewiesenen Menschen werden nun
nicht, wie ursprünglich geplant, mit der aufwendigen Arbeit belastet, ihre Einkommen und ihre Unterhaltsansprüche zusammenzustellen und diese Ansprüche vor allen Dingen auch geltend zu machen. Diese Arbeit
erledigen nun weiterhin die Sozialhilfeträger, die über
das nötige Fachpersonal verfügen. Wie aufwendig diese
Arbeit ist, zeigt sich daran, dass allein im Bereich des
Landschaftsverbands Rheinland, dem größten überörtlichen Sozialhilfeträger, mehr als 100 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter damit beschäftigt sind, dies zusammenzutragen. Es wäre also durchaus eine große Belastung,
wenn all das auf Menschen mit Behinderung übertragen
worden wäre.
Gleichwohl ist von Vertretern der großen Koalition
auch im Ausschuss verkündet worden - wir haben es bereits mehrfach gehört -, dass das Bruttoprinzip erneut
zur Disposition steht. Angesichts dieser Ankündigung
möchte ich die Kolleginnen und Kollegen von SPD und
CDU/CSU nachdrücklich auffordern und ermuntern,
sich endlich einmal grundsätzlich mit dem Recht der
Eingliederungshilfe auseinander zu setzen.
({2})
- Nein, das machen Sie bislang nicht. - Besser noch
wäre, wenn Sie eine Reform der Eingliederungshilfe mit
einer Strukturreform beim Rehabilitationsrecht verbinden würden, um endlich den Prinzipien „ambulant vor
stationär“ und „Hilfe aus einer Hand“ wirklich zum
Durchbruch zu verhelfen.
({3})
Ich biete Ihnen dabei die Hilfe meiner Fraktion an.
({4})
- Herr Brauksiepe, Sie brauchen gar nicht so abschätzig
zu rufen. Es ist eine gute Tradition in diesem Hause
- auch deshalb habe ich Lob ausgesprochen -, dass in
Fragen der Politik für Menschen mit Behinderung über
die Fraktionsgrenzen hinweg zusammengearbeitet wird.
({5})
Es gibt hier keinen Grund zur Häme bei Zwischenrufen.
Auch Sie wissen, dass die Bundesländer nicht lange
mit neuen Vorstößen auf sich warten lassen werden, um
mit Salamitaktik zu Einschnitten bei der Eingliederungshilfe zu kommen. Wir haben gesehen, welche Vorschläge von den Bundesländern im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahren gemacht wurden. Weniger als
jeder einzelne Kürzungsvorschlag der Länder - darüber
kann man reden; ich erkenne das Interesse der Kommunen an, den Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe in
Grenzen zu halten - verärgern mich bei den Vorschlägen
der Länder die Kurzsichtigkeit, der vordergründige
Sparzwang und die mangelnde Bereitschaft, hier endlich
einmal nach einer grundlegend anderen Leistungsstruktur zu suchen und andere Anreizstrukturen zu schaffen.
({6})
Ich würde mir wünschen, dass wir die Diskussion, die
wir hier über dieses Gesetz führen, weiterhin führen und
wir zu einer anderen Reform bei der Eingliederungshilfe
kommen.
Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion und ich
können wegen der bereits vielfach - auch heute Mittag erwähnten Fragen der Regelsatzbemessung und der Öffnungsklauseln im Bereich des Sozialhilferechtes dem
Gesetz nicht zustimmen. Abgesehen davon ist es ein
ganz passables Gesetz. Ich hoffe, dass wir im Bereich
der Behindertenpolitik später einen Schritt vorankommen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Silvia Schmidt, SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte nicht auf die Änderungsan5610
Silvia Schmidt ({0})
träge der Opposition eingehen. Ich denke, mit diesem
Änderungsgesetz zum SGB XII haben wir etwas Hervorragendes geschaffen. Ich möchte wiederholen - Kollege Straubinger hat es bereits gesagt -, was es Gutes mit
sich bringt. Ich habe nämlich das Gefühl, durch die
Streitdiskussion gehen die guten Seiten unter.
Die Menschen können sich freuen, besonders die
Menschen in den neuen Bundesländern. Der einheitliche Sozialhilferegelsatz führt ja dazu, dass sich die Einkommenssituation der betreffenden Personen in den
neuen Bundesländern deutlich verbessert. Das ist einfach gut. Man hört davon nur wenig. Vielleicht kommt
es in der einen oder anderen Partei nicht an.
Wer bisher die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung bezogen hat, musste Kürzungen in
Kauf nehmen, wenn der Partner Zuschläge nach den Regelungen des Arbeitslosengeldes II erhielt. Hierzu wird
es nun nicht mehr kommen. Das heißt, diese Zuschläge
werden bei der Sozialhilfe nicht angerechnet. Es gibt
also deutlich mehr Geld für die Menschen. Das sollte
endlich einmal ankommen.
Wir haben einige Anträge des Bundesrates gestoppt.
Der Bundesrat wollte, dass nur die Eltern Kindergeld erhalten, die mit ihren volljährigen behinderten Kindern
zusammenwohnen. Das entspricht nicht dem steuerlichen Familienlastenausgleich. Mit einem anderen Antrag wollte der Bundesrat bereits 2004 den Zusatzbarbetrag für Heimbewohner abschaffen. Wir erinnern uns
noch an die Demos vor dem Brandenburger Tor; wir waren dabei. Gemeinsam - auch daran möchte ich erinnern haben wir den Bestandsschutz durchgesetzt.
({1})
Auch der zweite Versuch des Bundesrates scheitert heute
in diesem Haus.
Ein weiterer Antrag des Bundesrates betraf die Erhöhung des Barbetrags, allerdings nur als Pauschale. Das
hört sich zunächst gut an, aber bei der Pauschalierung
wird übersehen, dass die Kosten für Sehhilfen und die
Zuzahlungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente nicht mit einbezogen sind.
Wir wollen den Barbetrag auf 27 Prozent erhöhen.
Darin ist die Weihnachtsbeihilfe mit enthalten. Mein
Dank gilt in diesem Zusammenhang Gabriele HillerOhm, die besonders dafür gestritten hat.
({2})
Die Erhöhung des Barbetrags ist auch gut für die
Heimbewohner in den neuen Bundesländern. Denn dadurch erhalten sie 27 Prozent von 345 Euro statt
26 Prozent von 331 Euro.
Das Bruttoprinzip, über das sehr viel gestritten worden ist, wird erhalten bleiben.
({3})
Aber wir können nicht die Augen davor verschließen,
dass das Nettoprinzip schon lange in der Altenhilfe und
in der Pflege Anwendung findet. Die behinderten Menschen, die außerhalb der Einrichtungen in den Gemeinden in betreuten Wohnformen bzw. in eigenen Wohnungen leben, kennen das Verfahren des Nettoprinzips
genau. Das Nettoprinzip fördert die Selbstständigkeit.
Das wird niemand leugnen. Die Menschen haben ein
Recht auf Kostentransparenz. Auch das wird niemand
leugnen.
Ich kann aber auch die bereits erwähnten Befürchtungen der Einrichtungsbetreiber verstehen. Sie haben zum
Beispiel nicht die Möglichkeit, Rentenansprüche zu
pfänden. Aber wir werden alle Beteiligten in die Reform
mit einbeziehen. Denn wir alle wollen ein leistungsfähiges System der Eingliederungshilfe. Das steht im Koalitionsvertrag und wird unsere Aufgabe für 2007 sein.
Wir wollen verstärkt das Prinzip „ambulant vor stationär“ umsetzen. Auch das steht im Koalitionsvertrag.
Deshalb wird dieses Prinzip bei der Reform der Eingliederungshilfe maßgeblich sein. Das ist nicht nur der
Standpunkt der Bundesregierung; es wird auch auf europäischer Ebene schon lange gefordert. Art. 26 der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union fordert ausdrücklich die Integration behinderter Menschen. In
Art. 19 der UN-Konvention für die Rechte behinderter
Menschen vom 25. August wird gefordert, dass behinderte Menschen leben sollen wie alle anderen Menschen
auch. Das ist ein Menschenrecht.
Wir wollen die Bundesinitiative „Daheim statt
Heim!“ ins Leben rufen. Ich rufe Sie alle auf, mitzumachen. Denn wir wollen, dass behinderte Menschen auch
außerhalb von Einrichtungen leben können.
Ich danke Ihnen.
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Bemerkung vorweg, lieber Kollege
Kurth. Wenn Sie feststellen, dass wir möglicherweise
Kürzungen vorhätten, dann darf ich daran erinnern, dass
die Grünen in der letzten Legislaturperiode - übrigens
gegen die Stimmen der Union - der Abschaffung des
Zusatzbarbetrags in Einrichtungen zugestimmt haben.
({0})
Ohne diese Maßnahme hätten die Betroffenen in den
Einrichtungen heute einige Probleme weniger.
({1})
Ich möchte als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion die beiden Punkte ansprechen, die Max Straubinger
schon für meine Rede angekündigt hat. Das ist zum einen das Bruttoprinzip. Ich freue mich ausdrücklich daHubert Hüppe
rüber, dass dieses Prinzip in den Einrichtungen beibehalten wird.
({2})
Dies bedeutet - wir gehen immer davon aus, dass die
Zuhörer wissen, wovon wir reden, aber vielleicht sollte
man das doch deutlich machen -, dass bei behinderten
Menschen, die in Einrichtungen leben, weiterhin zunächst der Sozialhilfeträger in Vorleistung tritt und er
erst zu einem späteren Zeitpunkt den Eigenanteil dieser
Menschen einfordert.
Ich begrüße zum anderen, dass wir uns auf die Erhöhung der Weihnachtsbeihilfe für die Heimbewohner geeinigt haben.
Bislang wurde sie freiwillig gezahlt, aber nicht von
allen. In diesem Jahr haben wir einen einheitlichen Standard von mindestens 36 Euro erreicht; das ist eine ganze
Menge. Im nächsten Jahr wird es mehr sein, weil wir
diese Beihilfe zusätzlich zum monatlichen Barbetrag gewähren. Zukünftig wird es als Barbetrag statt 26 Prozent
vom allgemeinen Regelsatz in Höhe von 345 Euro
27 Prozent geben. Das ist ein Fortschritt.
({3})
Wir sind für das Bruttoprinzip, weil damit der Grundsatz der Leistungserbringung aus einer Hand bestehen
bleibt. Manche Befürworter des Nettoprinzips argumentieren, man könne damit das Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderung stärken und zudem
gelte der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Des Weiteren wurde behauptet, dass der Eigenanteil mit dem persönlichen Budget der Menschen mit Behinderung vergleichbar sei. Das ist aber nicht der Fall; denn das
persönliche Budget bedeutet, dass ein Mensch mit Behinderung einen Betrag bekommt, den er so ausgeben
kann, wie er es möchte; das wollen wir und die Regierung. Das ist aber mit dem Nettoprinzip nicht vergleichbar; denn hier haben die Menschen mit Behinderung keinen Einfluss auf die Höhe ihrer Einnahmen. Diese
werden vielmehr von den Trägern der Sozialhilfe festgelegt. Wenn die Träger der Sozialhilfe und die kommunalen Spitzenverbände in der Anhörung sagen, dass die
Einsparungen nicht so groß seien, und wenn wir sehen,
dass die Bürokratie so zunimmt, dass Menschen mit Behinderung, insbesondere denjenigen mit so genannter
geistiger Behinderung, die Teilhabe an der Gesellschaft
eher unmöglich gemacht wird, dann glaube ich nicht,
dass dies in Zukunft angetastet wird. Ich jedenfalls hielte
es für nicht richtig.
({4})
Wir werden über die Eingliederungshilfe zu reden haben. Aber es bleibt dabei: Wir werden mit den Verbänden und den Menschen mit Behinderung sprechen. Wir
halten an dem im Jahr der Menschen mit Behinderung
entwickelten Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ fest.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 13 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksachen 16/2711 und 16/2753. Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3005, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/3006. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/
CSU und SPD sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/3005 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2743 mit dem Titel „Für ein menschenwürdiges Existenzminimum“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/2750 mit dem Titel „Das
Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu
berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/2751 mit dem Titel „Die Eingliederungs5612
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
hilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln
- Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und
Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie den
Zusatzpunkt 9 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto ({0}),
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für einen zukunftsfähigen europäischen
Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste Den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten
- Drucksache 16/2675 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine verbraucherfreundliche und Qualität
sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste
- Drucksache 16/2977 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel,
Wolfgang Börnsen, Christoph Pries, Jörg Tauss,
Christoph Waitz, Lothar Bisky und Grietje Bettin haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich
eine Aussprache.
({3})
- Ich höre dazu nichts, Herr Kollege Tauss.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/2675 und 16/2977 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf der Drucksache 16/2675 zu Tages-
ordnungspunkt 14 soll zusätzlich an den Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über-
wiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungsvor-
schlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind
die Überweisungen so beschlossen.
1) Anlage 3
Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten
Abkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Staaten von
Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger
anderer Steuern
- Drucksachen 16/2708, 16/2956 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 16/3012 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3031 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({7})
Anja Hajduk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Lothar Binding von der SPD-Fraktion das Wort.
({8})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Eigentlich müssten wir heute Abend gar nicht reden, weil das
Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA vollständig ausgehandelt ist und wir heute keine Möglichkeit haben, etwas zu ändern. Und doch wollen wir reden und
seit ich heute in die „Frankfurter Rundschau“ geschaut
habe,
({0})
denke ich auch, dass es notwendig ist, zu reden; denn
mich hat etwas ziemlich geärgert. Es funktioniert nach
folgendem Prinzip. Denken Sie an ein Kochrezept. Ich
gebe Ihnen jetzt einige Elemente: Steuerprivileg,
Schlupflöcher, USA, Vereinigte Arabische Emirate, Bundesregierung, Steueroase und Steinbrück. Der darf nicht
fehlen. Dann kommt etwa Folgendes heraus: Steinbrück
hat eine Aktiengesellschaft in Dubai mit einer Tochter in
den USA und einem Enkelunternehmen in Deutschland
Lothar Binding ({1})
und nutzt ein Steuerprivileg, um 25 Millionen der Bundesregierung von der Lufthansa steuerfrei in Steueroasen
der Vereinigten Arabischen Emirate bringen zu lassen.
Ungefähr so lautet die Botschaft, mit der wir es heute zu
tun hatten.
({2})
Der Kollege Schick meint dazu - das ist jetzt die Quintessenz -: Es könnte aber auch ein bisschen mehr sein.
Dazu sage ich: Das ist nicht schick.
({3})
Ich will in diesem Zusammenhang noch eine Ableitung darstellen. Diese Botschaft enthält etwas, wie ich
finde, sehr Falsches: Man kümmerte sich bei uns nicht
um Steuerschlupflöcher; vielmehr - umgekehrt - eröffnete man den Unternehmen einen Weg, ihre Gewinne in
Steueroasen zu transferieren. Das halte ich für grundfalsch. Ich will selbst einige Beispiele nennen, die der
Kollege Schick vielleicht nicht mehr so im Kopf hat,
weil es vor seiner Zeit im Bundestag war.
Wir haben mit einer hohen Sensibilität versucht, Verlustzuweisungsmodelle zu vermeiden, und waren in
vielen Fällen erfolgreich.
({4})
Ich will einfach einmal eine Liste anführen. Medienfonds: Der alte Weg ist verschlossen. Mehrkontenmodell: abgeschafft. Mehrmütterorganschaft: abgeschafft.
Wir haben einen Mindesthebesatz eingeführt. Wir haben
eine Mindestgewinnbesteuerung. Wir haben die Pflicht
zur Bildung von Bewertungseinheiten in der Steuerbilanz. Wir haben Aufzeichnungspflichten bei Verrechnungspreisen deutlich verbessert. Wir haben Sonderausgabenabzüge, zum Beispiel für die Steuerberatung,
abgeschafft. Wir haben Beschränkungen bei der Verlustverrechnung eingeführt. All das zwingt die Unternehmen, korrekt zu versteuern.
({5})
Die Botschaft, wir würden einen Weg in die falsche
Richtung freimachen, ist wirklich sehr unehrlich. Die
heutige Pressemitteilung hat mich daher sehr geärgert.
({6})
Dass wir mit den USA eine ganz besondere Beziehung
haben und dass sie mit der mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Dubai und mit vielen anderen nicht
zu vergleichen ist, mögen nur ganz wenige Zahlen belegen. Unser Export in die USA hat eine Größenordnung
von etwa 70 Milliarden Euro, der Import aus den USA
hat eine Größenordnung von etwa 40 Milliarden Euro.
Was die Direktinvestitionen angeht, investieren die
US-amerikanischen Unternehmen in Deutschland etwa
80 Milliarden Euro, während deutsche Unternehmen in
den USA etwa 140 Milliarden Euro investieren. Ich
glaube, jeder erkennt unschwer, dass das eine Sonderstellung ausmacht.
({7})
Aber diese Sonderstellung ist gar nicht so ausgeprägt.
Wir befinden uns mit vielen anderen Ländern in einem
Konkurrenzverhältnis und deshalb müssen wir uns anstrengen, unsere Steuerpolitik so auszugestalten, dass
unsere Unternehmen mit Unternehmen anderer Länder,
in denen sie sich ansiedeln wollen, konkurrieren können.
({8})
Ich verweise auf Folgendes: Japan, Großbritannien,
Holland, Mexiko, die skandinavischen Staaten und Australien haben die gleiche Regelung wie die USA, nämlich den Verzicht auf eine zusätzliche Steuerbelastung im
internationalen Austauschverkehr. Von Steueroase ist
also weit und breit keine Spur. Darum geht es heute auch
überhaupt nicht. Wir müssen sehen, dass der Anlass für
diese Reform, für dieses Doppelbesteuerungsabkommen, eine in der EU seit 1992 geltende Regelung ist,
nämlich, keine Kapitalertragsteuern auf Ausschüttungen
an Muttergesellschaften mehr zu erheben.
Für die, die jetzt vielleicht nicht wissen, was ich
meine - Gäste in diesem Saal könnte dies ebenfalls interessieren -, will ich wenigstens kurz die Mechanik, um
die es geht, erläutern. Wenn eine Muttergesellschaft in
Deutschland einen Gewinn erzielt, dann zahlt sie darauf
Steuern, nämlich Körperschaftsteuern in Höhe von
25 Prozent. Wenn sie durch ein Tochterunternehmen in
den USA einen zusätzlichen Gewinn erzielt, dann muss
das Tochterunternehmen in den USA ebenfalls Körperschaftsteuern zahlen, im Zweifelsfall 35 Prozent. So
kommen nur 65 Prozent des in den USA erzielten Gewinns in Deutschland an. Die Frage ist, ob man auf diese
65 Prozent in Deutschland ebenfalls eine Kapitalertragsteuer oder eine Körperschaftsteuer erhebt. Unsere Antwort lautet: Wir wollen das nicht; denn das wäre eine
echte Doppelbelastung, die wir ausschließen wollen. Ich
könnte noch die Feinmechanik erklären.
({9})
Meine Erläuterung war sehr grobschlächtig; aber immerhin ist klar, dass wir eine Doppelbesteuerung vermeiden
wollen. Wir glauben, dass die Belastung durch eine zusätzliche Körperschaftsteuer nicht in Ordnung ist.
Dieses Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA
ist sehr gut, insbesondere weil es symmetrisch ist. Dieses
Abkommen gilt nämlich nicht nur für Tochterfirmen
deutscher Unternehmen in den USA, sondern auch umgekehrt. Aus Symmetriegründen glauben wir, dass es
mit Blick auf die Konkurrenzfähigkeit unserer deutschen
Unternehmen klug ist, dieses Abkommen zu schließen.
Wir versprechen uns davon auch eine deutliche Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA
und Deutschland. Ich glaube, dass wir damit auf dem
richtigen Weg sind. Ich bitte Sie, diesem Abkommen zuzustimmen, mit dem Wissen, dass es vollständig und seriös ausgehandelt wurde.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für
die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Es macht immer Freude, im Bundestag
vor einem fachkundigen Publikum zu diesem Thema
sprechen zu dürfen. Da die Reihen nicht ganz gefüllt
sind, sind im Wesentlichen Fachkundige anwesend.
Die FDP-Fraktion begrüßt, dass heute das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika
vom Deutschen Bundestag die erforderliche Zustimmung erhalten wird. Insofern, Herr Kollege Binding,
stimme ich Ihren Ausführungen zu.
({0})
Das derzeit gültige Doppelbesteuerungsabkommen
stammt noch aus der Zeit vor der deutschen Einheit. Es
ist nämlich am 29. August 1989 geschlossen worden.
Zwischenzeitlich sind viele Rechtsänderungen eingetreten, die eine Änderung dieses Doppelbesteuerungsabkommens erforderlich machen. Insbesondere in der
Frage der Besteuerung von Alterseinkünften wurden in
den letzten Jahren Eingaben von deutschen Bürgern, die
in Amerika leben, an den Deutschen Bundestag gerichtet. Es ist gut, dass auch diese Probleme mit dem Doppelbesteuerungsabkommen nicht nur angesprochen, sondern überwiegend auch gelöst werden.
({1})
Die Vereinigten Staaten sind für Deutschland der
wichtigste Handelspartner außerhalb der Europäischen Union. Sie sind Hauptanlageland für deutsche Investitionen. Umgekehrt sind die Vereinigten Staaten der
bedeutendste ausländische Investor in Deutschland. Die
Direktinvestitionen der USA betrugen Ende 2003 rund
80 Milliarden Euro, die Direktinvestitionen Deutschlands in den USA betrugen zu dieser Zeit 140 Milliarden
Euro.
Bezüglich des Handels ist festzustellen, dass Deutschland aus den USA in einer Größenordnung von
40 Milliarden Euro pro Jahr importiert. Vor allem aber
ist wichtig, dass Deutschland in die USA in einer Größenordnung von 70 Milliarden Euro exportiert, und das
Jahr für Jahr. Dies schafft und sichert Arbeitsplätze in
Deutschland. Wir wollen, dass weiterhin Arbeitsplätze
in Deutschland entstehen und gesichert werden.
({2})
Insofern - erlauben Sie mir, dies zu sagen, da Herr
Schick von den Grünen noch sprechen wird - habe ich
überhaupt kein Verständnis dafür, dass seitens der Linkspartei und der Grünen ausschließlich verkürzt fiskalisch
argumentiert wird. Eine solche Sichtweise greift wirklich viel zu kurz.
({3})
Zunächst wird übersehen, dass Steuern erst dann entstehen können, wenn Investitionen getätigt werden und
aufgrund der Investitionen Gewinne erzielt werden.
({4})
Das musste einmal gesagt werden. Ich bedanke mich
sehr für den Beifall seitens der FDP-Fraktion.
({5})
Deutschland hat ein originäres Interesse daran, dass
deutsche Firmen auch in den Vereinigten Staaten investieren. Denn die dort anfallenden Erträge stehen den
deutschen Firmen nach Steuern zur Verfügung und stärken den Ertrag sowie die Wettbewerbsfähigkeit dieser
Firmen.
Im Gegenzug hat Deutschland ein großes Interesse
daran, dass aus den Vereinigten Staaten in Deutschland
investiert wird. Jede Investition schafft Arbeitsplätze,
jede Investition schafft Beschäftigung. Insofern freue ich
mich, dass die Mehrheit im Deutschen Bundestag mit
der Zustimmung zu diesem Doppelbesteuerungsabkommen der Aufforderung des Bundespräsidenten Horst
Köhler nachkommt: Mit diesem Besteuerungsabkommen schaffen wir weitere Voraussetzungen dafür, dass
zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland entstehen
können und die bestehenden Arbeitsplätze in Deutschland sicherer sein werden.
({6})
Zu einem Punkt, nämlich zur Absenkung der Quellensteuer in Höhe von 5 Prozent auf Null, muss man
feststellen, dass sich einiges geändert hat. Die Vereinigten Staaten haben inzwischen mit wichtigen Handelspartnern, mit Großbritannien, mit den Niederlanden, den
skandinavischen Staaten, aber auch mit Mexiko, Japan
und Australien, Nullsätze vereinbart. Innerhalb der
Europäischen Union gilt das ohnehin. Wenn Deutschland an dieser Stelle nicht ebenso handelt, läuft Deutschland Gefahr, dass Investitionen amerikanischer Unternehmen nicht in Deutschland, sondern in anderen
Ländern getätigt werden. Das wäre zum Schaden
Deutschlands. Diesen Schaden wollen wir auch als FDPFraktion vermeiden.
({7})
Wir wollen, dass die Amerikaner in Deutschland investieren.
Als FDP haben wir uns immer zu einer kritisch-konstruktiven Oppositionsrolle bekannt. Bei der Ablehnung
dieses Doppelbesteuerungsabkommens durch die Linkspartei und die Grünen kann der Eindruck einer latenten
amerikafeindlichen Handlung entstehen. Das wollen wir
nicht. Wir bekennen uns zu der Partnerschaft mit Amerika und deshalb stimmen wir als FDP dem Doppelbesteuerungsabkommen auch zu.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte als Erstes die Suppe, die Herr Binding gerührt
hat, aufklaren. Es geht um drei unterschiedliche Abkommen, die ich immer klar getrennt habe. Sie zusammenzurühren, ergibt keinen Sinn.
Es ging zum einen um die Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dieses Abkommen stellt insofern eine
Ausnahme dar, als aufgrund der Kombination der Tatsache, dass es in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit
der Ausnahme der Besteuerung bei Öl- und Gasförderungen keine Einkommen- und Körperschaftsteuer gibt,
mit der Anwendung der Freistellungsmethode Gewinne
aus Dubai und anderen Orten der Emirate praktisch steuerfrei nach Deutschland transferiert werden können.
Dieses Abkommen zu verlängern, halten wir für falsch.
Denn das Abkommen stellt einen wichtigen Baustein eines schiefen und unfairen Steuerwettbewerbs dar, den
wir beklagen. Ich glaube daher, dass man die Existenz
eines solchen Abkommens durchaus kritisieren kann.
({0})
Bei dem Abkommen mit dem Jemen geht es um etwas anderes. Es bezog sich nur auf Luftfahrtgesellschaften und es hatte anders als sonstige Abkommen keine
kurze Rückwirkung von zwei oder drei Jahren, sondern
eine 24-jährige Rückwirkung. Von der Bundesregierung
ist uns gesagt worden, dass das spezifisch für deutsche
im Jemen tätige Luftfahrtunternehmen gilt. Dass diese
extreme Form der Rückwirkung eine Sonderbehandlung
und damit ein Privileg ist, werden auch Sie, Herr
Binding, nicht abstreiten wollen. Das und nichts anderes
habe ich angesprochen.
({1})
Kommen wir nun zu dem Abkommen, um das es
heute geht, zum Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich stimme Ihnen zu: Das ist das
wichtigste Abkommen für Deutschland; denn die USA
sind unser wichtigster Handelspartner. Gerade weil das
Abkommen so wichtig ist, schauen wir es uns ganz genau an; das hat nichts mit Amerikafeindlichkeit zu tun.
Wir argumentieren auch nicht nur „verkürzt fiskalisch“. Ich möchte Ihnen sagen, was aus unserer Sicht
die Plus- und Minuspunkte sind. Ich finde es insofern
ein gutes Abkommen, als mit der Switch-Over-Klausel
die Möglichkeit zum Übergang zum Anrechnungsverfahren offen gehalten ist. Das ist sinnvoll und das begrüßen wir ausdrücklich. Wir begrüßen auch ausdrücklich
das obligatorische Schiedsverfahren, das behandelt worden ist. Das ist eine gute Klausel, weil sie Rechtssicherheit auch dann ermöglicht, wenn bei Anpassungen von
Transfer-Pricing-Verfahren ein Abgleich notwendig ist.
Für die Unternehmen ist es wichtig, dass sie sich darauf
verlassen können, dass es das Schiedsverfahren auch
wirklich geben wird und dass sie nicht zwischen die
Mühlen zweier Staaten geraten. Ich finde auch die Regelung über die Alterseinkünfte richtig; es wurde auf neue
Entwicklungen Bezug genommen.
Wir haben aber auch drei Kritikpunkte. Der erste
Kritikpunkt ist, dass es tatsächlich zu Steuerausfällen
kommt. In einer Situation, in der wir die Mehrwertsteuer
anheben und den Bürgern andere Belastungen zumuten,
müssen wir Steuerausfälle immer besonders genau beleuchten. Ich finde, das ist berechtigt und kann nicht als
„verkürzt fiskalisch“ abgetan werden.
({2})
Der zweite Kritikpunkt ist ein wirtschaftspolitischer.
Wenn wir auf die Quellenbesteuerung bei der Kapitalertragsbesteuerung verzichten, dann hat das eine Auswirkung auf das Ausschüttungsverhalten von Unternehmen.
Außerdem geht es - insofern muss man der Analyse von
Herrn Binding noch etwas hinzufügen - nicht nur um
das, was US-Töchter in Deutschland tun. Sie wissen ja,
wie das Netz aus Doppelbesteuerungsabkommen wirkt.
Es wirkt als Netz, in dem das, was in Deutschland stattfindet, häufig genutzt wird, um über andere Länder Gewinne günstig in die USA zu transferieren.
Der zentrale Punkt, der uns dazu gebracht hat, es abzulehnen, ist folgender: Wir sollten bei dem multilateralen Ansatz auf Basis des OECD-Musterabkommens
bleiben. Die bilateralen Verhandlungen, die die USA in
den letzten Jahren geführt haben - ich komme damit
zum Schluss -, halten wir nicht für den richtigen Ansatz,
weil es gerade in diesem Netz von Doppelbesteuerungsabkommen extrem wichtig ist, dass die OECD-Staaten
zusammenhalten, um das Treaty-Shopping, das von einigen Steueroasen ganz gezielt genutzt wird, gemeinsam
unterbinden zu können. Die OECD hat dazu vieles vorgeschlagen. Es wäre falsch, dies nun durch bilaterale
Abkommen zu unterlaufen. Die multilateralen Abkommen sind unseres Erachtens die einzig sinnvolle Vorgehensweise gegen das, was wir als unfairen, schiefen
Steuerwettbewerb bezeichnen würden.
Danke schön.
({3})
Der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die
Linke hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Damit hat als nächster Redner das Wort der Kollege
Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren
Kollegen! Es ist gut, dass wir dieses Doppelbesteue-
rungsabkommen mit den USA heute einmal im Plenum
des Deutschen Bundestages debattieren. Dabei ist schon
der Begriff Doppelbesteuerungsabkommen irreführend.
1) Anlage 4
Es geht ja nicht um eine doppelte Besteuerung; es geht
um die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Wir in
Deutschland sind Exportweltmeister. Wir müssen ein
besonderes Interesse daran haben, dass bei internationaler Wirtschaftstätigkeit eine Doppelbesteuerung entfällt,
Herr Schick, und zwar im Hinblick auf unsere Arbeitsplätze. Deshalb haben wir immer ein prinzipielles Interesse an Doppelbesteuerungsabkommen.
({0})
Das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA ist
wahrscheinlich das wichtigste, das wir als Bundesrepublik Deutschland schließen, da die USA - das ist schon
verschiedentlich gesagt worden - unser wichtigster Handelspartner außerhalb der EU sind und wir für die USA
der wichtigste Handelspartner in Europa sind. Die amerikanischen Direktinvestitionen in Deutschland betrugen
bis Ende 2003 81 Milliarden Euro, unsere Direktinvestitionen in den USA 140 Milliarden Euro.
Unmittelbarer Anlass für die Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens war die von Ihnen kritisierte
Dividendenbesteuerung, Herr Kollege Schick. Auf Dividenden, die Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften ausschütten, wird beiderseits des Atlantiks nach dem
alten Doppelbesteuerungsabkommen eine Kapitalertragsteuer in Höhe von 5 Prozent gezahlt. Dazu kommt noch
die Körperschaftsteuer in den USA - bis zu 34 Prozent
für die deutsche Tochter dort - oder für die amerikanische Tochter hier Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer
in Höhe von bis zu 39 Prozent. Dies führt zu Mehrbelastungen dieser Tochtergesellschaften etwa gegenüber inländischen Gesellschaften.
Diesen Wettbewerbsnachteil deutscher Tochtergesellschaften in den USA und amerikanischer Tochtergesellschaften in Deutschland wollen wir abbauen. Das ist
nicht amerikanischer Unilateralismus, den Sie hier irgendwie wahrzunehmen scheinen; das ist seit 1992 innerhalb der EU Usus. So verfahren wir mit allen unseren
europäischen Nachbarländern. So verfahren auch die
USA mit einer Reihe ausgewählter Handelspartner. Es
ist gut, dass wir als Bundesrepublik Deutschland es geschafft haben, in diesen Kreis zu kommen.
({1})
Dieser Nullsatz für deutsche Töchter in den USA
liegt gerade im deutschen Interesse, Herr Schick. Sie haben sich das vielleicht genau angeschaut, aber dann eben
nicht genau genug. Ich sage Ihnen jetzt einmal drei
Gründe, die dafür sprechen, dass Sie es sich nicht genau
genug angeschaut haben:
Erstens. Die deutschen Direktinvestitionen in den
USA - rund 140 Milliarden Euro - sind fast doppelt so
hoch wie die amerikanischen Direktinvestitionen in
Deutschland. Wir haben dort mehr Töchter, als die Amerikaner hier haben. Die Nullbesteuerung liegt also eher
im Interesse Deutschlands als im Interesse der USA. So
haben wir als Bundesrepublik Deutschland mit vielen
ausländischen Direktinvestitionen generell ein Interesse
an der Nullbesteuerung.
Zweitens. Wenn die deutschen Unternehmen im
Schnitt stärker entlastet werden als die amerikanischen,
dann spiegelt sich das auch beim Fiskus wider. Ich vermute einmal, dass der amerikanische Fiskus durch die
Nullbesteuerung höhere Einbußen hat als der deutsche
Fiskus. Das ist dann zumindest kein Schritt zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Drittens. Ihre Argumentation ist auch falsch, was das
Anrechnungsverfahren betrifft. Sie sagen, das deutsche
Steuersubstrat werde dadurch geschädigt, dass es beim
Doppelbesteuerungsverfahren einen unterschiedlichen
Mechanismus gibt: Wir haben das Freistellungsverfahren, die USA haben das Anrechnungsverfahren. Das ist
schlicht und ergreifend in diesem Fall nicht zutreffend.
Es ist zwar richtig, die USA benutzen das Anrechnungsverfahren dafür, das irgendwo erzielte Welteinkommen
von US-Gesellschaften eventuell auf amerikanisches
Niveau hochzuschleusen. Nur, in diesem Fall gibt es
überhaupt nichts mehr hochzuschleusen. Die deutsche
Körperschaftsteuer liegt bei 25 Prozent, die deutsche
Gewerbesteuer bei 14 Prozent, das sind zusammen
schon 39 Prozent; hinzu kommen noch 3,75 Prozent
durch die Dividendenbesteuerung. Das liegt über dem
höchsten Körperschaftsteuerniveau von 35 Prozent in
den USA. Das deutsche Steuersubstrat ist also nicht geschädigt. Ihre Argumentation geht da wirklich völlig in
die Irre. Wir von der CDU/CSU können nicht nachvollziehen, dass Sie aus diesem Grunde das Doppelbesteuerungsabkommen ablehnen.
Das ist mir auch deshalb unbegreiflich, weil dieses
Doppelbesteuerungsabkommen natürlich noch eine
ganze Reihe weiterer Maßnahmen enthält, die im Interesse des gegenseitigen Austauschs und im Interesse der
gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen dringend notwendig sind. Ich nenne hierzu abschließend drei Punkte.
Erstens. Durch die zunehmende internationale Verflechtung - die wir begrüßen - kommt es zu einer vermehrten Entsendung deutscher Arbeitnehmer. Wir wissen, dass heute die Altersversorgung nicht mehr allein
staatlicherseits geleistet werden kann; wir setzen auch
auf eine betriebliche Altersversorgung. Diese betriebliche Altersversorgung wird in Deutschland steuerlich unterstützt und gefördert. Das war bisher aber nicht im
Ausland möglich. Ein deutscher Arbeitnehmer, der fünf
Jahre in den USA verbringt, kann den Aufbau seiner
deutschen Altersversorgung dort nicht steuerlich geltend
machen. Das wird jetzt anders. Ich halte das für einen
ganz großen Erfolg im Interesse des wechselseitigen
Austauschs.
({3})
Zweitens: Das obligatorische Schiedsverfahren. Die
USA tun sich manchmal ein bisschen schwer, sich obligatorischen Schiedsverfahren zu unterwerfen. Hier ist
das gelungen.
({4})
- Sie haben das auch gewürdigt, aber ich verstehe dann
nicht, wie Sie das Doppelbesteuerungsverfahren ablehnen können.
Drittens nenne ich einen Punkt, der uns in den nächsten Jahren hin und wieder Sorge machen wird: Das ist
die Besteuerung der Alterseinkünfte. Nach dem gegenwärtigen DBA besteuert - abgesehen von den Pensionen des öffentlichen Dienstes - der Wohnsitzstaat die
Alterseinkünfte. Das ist ein Problem für Länder wie die
Bundesrepublik Deutschland, da zahlreiche deutsche
Ruheständler
({5})
- Mallorca lässt grüßen, Florida auch - ihren Lebensabend woanders verbringen. Es gibt 130 000 deutsche
Rentenempfänger, die ihren Lebensabend in den USA
verbringen. Umgekehrt tun das nur 30 000 US-Amerikaner in Deutschland. Wir haben also ein Interesse an einer
anderen Regelung. Die USA haben jetzt akzeptiert, dass
in gewissen Grenzen das Besteuerungsrecht bei Alterseinkünften auf den Quellenstaat übergeht, der ja während des Erwerbslebens dies steuerlich gefördert hat.
Das ist in einer gemeinsamen Erklärung zum Doppelbesteuerungsabkommen festgehalten worden. Wegen der
langen Übergangsfristen im Alterseinkünftegesetz wird
hier eine Regelung nicht vor 2015 in Kraft treten; das
muss sie aber auch nicht. 2013 treten wir dazu in Verhandlung. Ich glaube, auch das ist ein großer Erfolg.
Alles in allem, Frau Staatssekretärin Hendricks, kann
man den Verhandlungsführern zu diesem Ergebnis gratulieren. Es verbessert die Wettbewerbssituation deutscher
Tochterunternehmen in den USA und verschlechtert keinesfalls die Lage des deutschen Fiskus. Die Ausführungen, in denen dies behauptet wurde, habe ich nicht nachvollziehen können.
Die CDU/CSU begrüßt deshalb das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA und wird ihm hier zustimmen.
Danke schön.
({6})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort
der Kollege Lothar Binding.
({0})
Ich wollte noch eine kurze Bemerkung machen. Die
Rede des Kollegen Schick klang schon sehr viel fairer
als die Botschaften, die in dem entsprechenden Artikel
in einer ganz speziellen Weise zusammengemixt wurden. In der Rede wurde eine getrennte Betrachtung vorgenommen. Denn das DBA mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und das DBA mit dem Jemen, über die
man sicher reden kann, sind etwas ganz anderes als das
DBA mit den USA.
Ich habe aber nicht verstanden, warum Sie das
Schiedsverfahren kritisiert haben.
({0})
- Kritik ist immer Lob und Tadel. In diesem Falle haben
Sie das Schiedsverfahren gelobt.
Sie haben den Nullsatz für Altersvorsorgeeinrichtungen bei den Vertragsstaaten und für Kapitalanlagen in
dem jeweils anderen Staat gelobt. Sie haben außerdem
die Vorschriften zur Bekämpfung des Abkommensmissbrauchs gelobt. Gleichwohl sagen Sie, Sie lehnen das
Abkommen mit den USA ab. Das habe ich nicht verstanden. Ich glaube, die wenigstens von uns können dies
nachvollziehen. Herr Kolbe hat es vorhin versucht. Das
muss sicherlich im Nachgang noch einmal erläutert werden.
({1})
Ich schließe nun die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Abkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger
anderer Steuern. Das sind die Drucksachen 16/2708 und
16/2956. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
16/3012, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Neuregelung des Hochschulzugangs und der
Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und Qualitätsentwicklung nutzen
- Drucksache 16/2796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Anette Hübinger, Uwe Barth, Cornelia
Hirsch und Kai Gehring haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1) Damit entfällt die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2796 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung
der Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung
von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen
Mitgliedstaaten
- Drucksache 16/2922 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Michael Hennrich,
Anette Kramme, Heinz-Peter Haustein, Werner Dreibus,
Matthias Berninger und der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2) Damit können wir auf die Aussprache
verzichten. Interfraktionell wird die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2922 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Priska Hinz ({3}), Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für
Ausbildung, Qualifizierung und ProgressivModell verwenden
- Drucksache 16/2509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürArbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Peter Rauen,
Wolfgang Grotthaus, Dirk Niebel, Kornelia Möller,
Brigitte Pothmer und der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.3) Damit findet keine Aussprache statt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
1) Anlage 5
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Drucksache 16/2509 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu kei-
nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenpro-
dukte
- Drucksache 16/2755 -
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Peter Jahr,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Hans-Michael Goldmann, Eva
Bulling-Schröter und Cornelia Behm haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.4) Damit gibt es keine Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2755 mit
dem Titel „Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den
Zusatzpunkt 11 auf:
20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({5}), Jan Mücke, Patrick Döring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umfassenden Feldversuch über die Vor- und
Nachteile von 60-Tonnen-Lkw starten
- Drucksache 16/2683 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen
- Drucksache 16/2990 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen
Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Patrick Döring von der FDP-Fraktion das Wort.
({8})
4) Anlage 8
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu dieser späten Stunde reden wir heute das Plenum leer.
({0})
- Ja, Herr Tauss, das war eine Drohung. Sie können sich
aber auch, wie die meisten Ihrer Kollegen, anderen Dingen widmen.
({1})
In den letzten Tagen haben wir in Deutschland eine
interessante Diskussion zum Thema 60-Tonner erlebt.
Da gibt es zum einen die Bundesregierung, die dem
Land Niedersachsen bezüglich des laufenden Feldversuches vorwirft, dieser Feldversuch sei rechtswidrig. Im
Gegenzug teilt uns der Wissenschaftliche Dienst des
Deutschen Bundestages mit, dass die Rechtsauffassung
des Bundesverkehrsministeriums nicht zutreffend sei
und nicht der Rechtslage entspreche.
({2})
Zum anderen wird jetzt auch in Baden-Württemberg ein
Feldversuch zu diesem Thema durchgeführt.
({3})
- Ja, Herr Hermann, das ist auch eine ordentliche Regierung!
Gleichzeitig schreibt aber das Bundesverkehrsministerium in seiner Begründung, der Feldversuch in Niedersachsen sei deshalb nicht zu befürworten, weil die teilnehmenden drei Speditionen, unter anderem die Firma
Boll aus Meppen, und die drei Referenzstrecken, auf denen das stattfindet, nicht repräsentativ seien. Zwei Fragen später wird uns dann mitgeteilt, einen umfassenden
Feldversuch, wie ihn die FDP einfordert, soll es auch
nicht geben, weil die Bundesregierung schon weiß, was
dabei rauskommt.
({4})
Eins von beiden kann nur stimmen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Wir sind dafür, dass wir uns erst einmal
eine Meinung bilden.
({5})
Die Grünen haben dankenswerterweise und erwartungsgemäß ihren Antrag eingebracht und
({6})
gesagt: Das darf es auf deutschen Straßen niemals geben, das ist alles des Teufels.
({7})
Das findet allerdings jeden Tag statt, und zwar nicht
von deutschen Spediteuren, sondern - wie Sie wissen von anderen europäischen Nachbarn, die diese LKW
längst einsetzen und auch über deutsche Straßen fahren.
Ich persönlich kann überhaupt nicht begreifen - und
ich bin dankbar, dass der Kollege Beckmeyer da ist,
denn er hat sich dazu mehrfach öffentlich geäußert -,
({8})
wie man dagegen sein kann, dass wir jetzt erst einmal ermitteln, wo man diese Art von LKW einsetzen kann und
ob es tatsächlich zu Schäden kommt oder nicht.
({9})
- Nein, Sie wissen das eben auch nicht, Herr Tauss!
Wir erleben, dass diese Verkehre seit vielen Wochen
auf den drei Strecken in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen hervorragend funktionieren, dass es weder zu Schäden baulicher Art
({10})
noch zu Verkehrsunfällen mit diesen Fahrzeugen
kommt, sondern dass schlicht und einfach die Anzahl
von Fahrten und der CO2-Ausstoß verringert wird, weil
diese Fahrzeuge mehr Ladung mitnehmen können.
({11})
Das ist doch der Zweck der Übung.
({12})
Wir alle wissen, dass der Güterverkehr in unserem Land
insgesamt zunehmen wird.
Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass diejenigen, die
hier gleich wieder streng schienengläubig argumentieren
werden, sagen: Es müssen mehr Güter auf die Schiene.
Das wird mit Sicherheit passieren. Dafür kämpfen wir an
anderer Stelle gemeinsam. Güter werden aber auch vermehrt auf der Straße transportiert werden. Wenn wir es
schaffen können, auf bestimmten Strecken mit bestimmten Fahrzeugen mehr Güter mit weniger CO2-Ausstoß
von A nach B zu transportieren, dann ist das - so glaube
ich - der Mühe eines Feldversuchs wert.
({13})
Vonseiten des Deutschen Städtetages gab es zahlreiche Bemerkungen, warum das alles nicht geht. Dazu
kann ich als jemand, der lange Jahre kommunalpolitisch
tätig war, sagen: Die lehnen etwas ab, was keiner fordert.
Niemand will, dass diese Fahrzeuge in Innenstädte fahren. Niemand will, dass diese Fahrzeuge an irgendwelchen Stadteinfall- oder Stadtausfallstraßen stehen und
weder wenden noch nach links oder rechts abbiegen
können. Auch die beteiligten Speditionen wollen das
nicht. Die Firma Boll teilt das ausdrücklich mit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Ja.
Danke schön. - Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit
habe ich eine ganz kurze Frage: Wären Sie bereit, die
Straße, in der Sie wohnen, als Teststrecke einzubeziehen?
Verehrte Frau Kollegin Bulling-Schröter, niemand
will - das sagte ich gerade bereits -, dass Innenstadtstraßen von diesen Fahrzeugen befahren werden. Es
geht um den Transport von Logistikzentrum zu Logistikzentrum, von Industriegebiet zu Industriegebiet. Wenn
Sie sich zum Beispiel die Strecke von Emden zum VWWerk in Hannover, das in meinem Wahlkreis liegt, anschauen, dann stellen Sie fest, dass der Transport ausschließlich auf der Autobahn stattfindet. Da ich nicht an
einer Autobahn wohne, stellt sich diese Frage für mich
nicht.
({0})
Selbst diejenigen, die diese LKWs wollen, sagen:
Dieser Verkehr findet auf Bundesstraßen und Autobahnen und nicht in Innenstädten statt. Darüber sind sich
diejenigen, die diesen Feldversuch fordern, einig. Ich
kann nicht begreifen, dass man sich dagegen wehrt, zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen.
({1})
Einige Mitglieder des Verkehrsausschusses hatten die
große Freude, ein Land, das zugegebenermaßen weniger
dicht besiedelt ist als die Bundesrepublik Deutschland,
zu besichtigen.
({2})
Dort haben sie sich auch Informationen über 50 Meter
lange LKW, die 166 Tonnen schwer sind, geben lassen.
({3})
Keines dieser Modelle wird in Deutschland jemals eingeführt. Darüber sind wir uns völlig einig, lieber Kollege
Beckmeyer.
({4})
Dass man aber versucht, eine technische Innovation,
eine Antwort auf die vermehrten Gütertransporte in unserem Land von vornherein abzuwürgen, indem man flächendeckende Feldversuche ablehnt, ist aus meiner Sicht
völlig unbegreiflich. Deshalb werben wir, auch in der
Ausschussberatung, dafür, dass wir zumindest auf den
dafür infrage kommenden Strecken einen Feldversuch
durchführen.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Hubert Deittert von der CDU/CSU-Frak-
tion hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat als
nächste Rednerin die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter,
SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir reden heute über extra lange und extra
schwere LKWs. Die Bezeichnungen für diese Art neuer
Nutzfahrzeuge reichen von „Monstertrucks“ bis zu
„Eco-Kombis“.
({0})
Diese beiden Namen verdeutlichen die Bandbreite der
Befürchtungen und Verheißungen, die mit dem Einsatz
von 60-Tonnen-LKWs verbunden sind. Auf der einen
Seite stehen die Risiken für die Verkehrssicherheit und
die Verkehrsinfrastruktur, auf der anderen Seite Aspekte
des Umweltschutzes.
({1})
Wenn ein PKW-Fahrer auf der Autobahn einen
60-Tonner überholt, muss er an 25,25 Meter vorbei. Der
Überholvorgang dauert entsprechend länger. Unsicher
und langsam fahrende Fahrer würde die unerwartet lange
Dauer irritieren.
({2})
- Herr Döring, nicht alle fahren Porsche. - Was passiert,
wenn 60 Tonnen auf andere Autos auffahren, kann man
sich lebhaft vorstellen. Ob Leitplanken ein derartiges
Gewicht auffangen könnten, ist ungewiss. Welche Auswirkungen das Befahren von Brücken mit so genannten
Gigalinern auf Zustand und Stabilität hat, ist noch lange
nicht untersucht.
({3})
Dass die Autobahnauffahrten und Kreisverkehre umgebaut werden müssten, damit die XXL-Trucks überhaupt
um die Kurve kommen, ist sehr wahrscheinlich.
({4})
Im Bereich Verkehrssicherheit hat man gerade erst
versucht, die große Zahl an Opfern unter den Radfahrern
durch den toten Winkel der LKWs - wir haben diese
Woche im Ausschuss darüber gesprochen - durch eine
verbesserte Spiegeltechnik zu verringern.
1) Anlage 9
({5})
Mit noch größerer Abmessung der Fahrzeuge droht dieser Sicherheitsgewinn wieder verloren zu gehen.
({6})
Viele Fragen zum Einsatz von 60-Tonnen-LKWs sind
offen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung hat mehrere Untersuchungsaufträge
zu diesem Thema an die Bundesanstalt für Straßenwesen
erteilt.
In einem ersten Schritt wurden bislang die straßenund fahrzeugseitigen Auswirkungen dieser Fahrzeugkonzepte, welche durch die neue Geometrie in sicherheits- und verkehrstechnischer Hinsicht zu erwarten sind,
aufgezeigt und analysiert. Ebenso werden die Auswirkungen einer möglichen Erhöhung des Gesamtgewichts
auf 60 Tonnen geprüft.
In einem zweiten Schritt werden die möglichen Veränderungen bei der Verteilung der Güterverkehre - hören
Sie gut zu, Herr Döring - sowie die möglichen Auswirkungen auf den kombinierten Verkehr ermittelt.
Dass bei der Zulassung neuer Fahrzeugtypen das verkehrspolitische Ziel „Mehr Güter auf die Schiene“ - ich
habe immer gedacht, dass wir uns da einig sind ({7})
nicht aus den Augen gelassen werden darf, ist wohl
selbstverständlich.
({8})
Der Einsatz von Gigalinern führt aber genau zum Gegenteil, nämlich zu mehr Gütern auf der Straße.
({9})
Die Firma Kombiverkehr hat ein Gutachten in Auftrag
gegeben, das die Auswirkungen des Fahrzeugkonzepts
von Gigaliner-LKWs auf den kombinierten Verkehr
untersuchen sollte.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Döring?
Nein, es ist schon so spät.
Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass 56 Prozent des derzeitigen Transportaufkommens in Höhe von
etwa 50 Millionen Tonnen im kombinierten Verkehr in
Deutschland durch einen Gigalinereinsatz gefährdet wären. Dies bedeutet ein Rückverlagerungspotenzial von
1,3 Millionen LKW-Fahrten auf das Fernstraßennetz.
Der kombinierte Verkehr Schiene/Straße hätte mit Ladungsrückgängen von über einem Drittel zu rechnen.
Moderne Verkehrspolitik umfasst alle Arten von Verkehrsträgern: Straßen, Schienenwege, Wasserwege und
den Luftverkehr. Ziel der Bundesregierung ist es, dass
alle Verkehrsträger zusammen ein leistungsfähiges und
modernes Gesamtverkehrssystem bilden.
({0})
Investitionen im Schienenverkehr sind bedroht, wie
aus der Branche berichtet wird. Schon heute führt das
Vorpreschen der niedersächsischen Landesregierung zur
Verschiebung von Investitionsentscheidungen beim
kombinierten Verkehr, weil bei einer Nutzungsdauer der
Eisenbahnwaggons von mindestens 15 Jahren durch die
jetzt entstandene Planungsunsicherheit keine verlässlichen Geschäftsprognosen mehr möglich sind. Der Ausbau der LKW-Verladung auf die Schiene kommt also ins
Stocken. Da aber Einigkeit in der Verkehrspolitik besteht, das deutsche Straßennetz nicht noch weiter mit
LKWs zu belasten, muss dieser Irrweg beendet werden.
({1})
Ein Argument, das für die Einführung der Gigaliner angeführt wird, ist die Wachstumsprognose für den Güterverkehr. Der Güter- und übrigens auch der Personenverkehr sollen in den nächsten 15 Jahren um 45 bis
60 Prozent zunehmen. Um diese Perspektive zu bewältigen, bedarf es kreativer Lösungen,
({2})
die die Effizienz jedes Verkehrsträgers stärken.
Aber eine grundsätzliche Offenheit für Innovationen
im Nutzfahrzeugbereich bedeutet nicht, dass die Prüfung
der Auswirkungen und Risiken nicht in gebotener
Gründlichkeit durchgeführt wird. Das Bundesverkehrsministerium hat diesen Prüfauftrag angenommen und
wird die Ergebnisse, sobald sie vorliegen, an den Bundestag weiterleiten.
Nach Ansicht des Bundesverbandes des Deutschen
Groß- und Außenhandels ist es falsch, dass der Bund den
bundesweiten Test nur aufgrund haltloser Ängste ablehnt.
Der Euro-Kombi sei in den Niederlanden, Schweden und
Finnland sicher. Der Praxistest werde zeigen, dass er
auch in Deutschland sicher sei, meint Gerhard Riemann,
Vorsitzender des BGA-Verkehrsausschusses.
({3})
- Hören Sie gut zu.
Erfahrungen mit Gigalinern gibt es in Schweden und
Finnland.
({4})
In diesen beiden skandinavischen Ländern dürfen Nutzfahrzeugkombinationen, welche mit 16,50 Metern bei
Sattelschleppern und 18,75 Metern bei Gliederzügen die
europäischen Längenbegrenzungen überschreiten, bereits
seit längerem ohne Sondergenehmigungen auf öffentlichen Straßen bewegt werden. Das zulässige Zuggesamtgewicht darf nicht höher als 60 Tonnen sein. Bedingung
ist, dass diese Fahrzeugkombinationen mit speziellen Sicherheitstechniken wie ABS ausgerüstet sind.
Der Deutsche Städtetag vertritt meiner Meinung nach
zu Recht die Ansicht, dass die in diesen Ländern gemachten Erfahrungen allein aufgrund der geografischen
Gegebenheiten überhaupt nicht auf Deutschland übertragbar sind. Ebenso teile ich seine Auffassung, dass
deutsche Städte völlig anders als US-amerikanische
Städte, in denen auch Riesentrucks Durchfahrt finden,
aufgebaut und strukturiert sind.
({5})
- Genau.
({6})
Die Spitze der Längengigantomiebewegung sitzt
wohl in Australien.
({7})
Dass auch in den Niederlanden im Rahmen eines Großversuchs mit 300 Fahrzeugen Gigaliner getestet werden,
({8})
sieht die Europäische Kommission mit Skepsis.
({9})
Auch die EU-Kommission hat erkennen lassen, dass sie
dem niederländischen Wunsch nach einer Öffnung des
grenzüberschreitenden Verkehrs für Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von bis zu 60 Tonnen
nicht nachkommen will.
({10})
Angeblich freut sich die Transportwirtschaft schon,
durch die Umstellung auf 60-Tonnen-LKWs Mautkosten
zu sparen. Es wäre ja wohl der totale Hohn, wenn sich die
Transportunternehmen durch den Einsatz von Fahrzeugen, die unsere Infrastruktur in stärkerem Maße belasten,
teilweise vor der Nutzerfinanzierung der Autobahnen drücken könnten.
({11})
Die entsprechende gesetzliche Regelung wäre in logischer Konsequenz schnell zu ändern.
Mit einem Nutzfahrzeug mit einer Länge von
25,25 Metern und einem Gewicht von 60 Tonnen würde
man gegenüber einem 40-Tonnen-Nutzfahrzeug 15 Prozent Kraftstoff und Emissionen pro Tonnenkilometer
sparen - so die Berechnungen.
({12})
Dieser erfreuliche Umweltaspekt wäre allerdings dem
vom Kombiverkehr prognostizierten Rückverlagerungspotenzial von der Schiene auf die Straße gegenzurechnen.
Dass die Länder Baden-Württemberg und Niedersachsen unter dem Druck der Wirtschaft Sondergenehmigungen erteilt haben, halte ich für verantwortungslos.
({13})
Das Bundesverkehrsministerium hat die Länder aufgefordert, bereits erteilte rechtswidrige Ausnahmegenehmigungen zurückzunehmen.
({14})
Die gemeinsame Konferenz der Leiter der Abteilungen für Straßenbau und Verkehr sowie die Verkehrsministerkonferenz haben beschlossen, dass, bevor diese
Fahrzeugkombinationen zugelassen werden, die gegenwärtig laufenden Untersuchungen abgewartet werden.
Die nächste Verkehrsministerkonferenz findet im November dieses Jahres statt.
Die FDP-Fraktion hat die sofortige Durchführung eines
bundesweiten Feldversuchs über die Vor- und Nachteile
von 60-Tonnen-LKWs gefordert. Allerdings ist schon
bald mit einem neuen Antrag von Ihnen zu rechnen.
Nachdem Sie sich für ein Sonderprogramm „Kommunale
Brückenbauwerke“ eingesetzt haben, werden Sie sicherlich auch noch ein Bundesprogramm mit folgendem Titel
fordern: „Alle Brücken Deutschlands umbauen, damit
der Gigaliner darüber brettern kann.“ Die Frage, wie ein
Vorhaben finanziert werden kann, stellt sich die FDPFraktion sowieso nicht.
Der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen wiederum
trieft vor lauter Innovationsskeptizismus.
({15})
Wieso warten wir nicht die Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Gutachten ab
({16})
und wägen dann auf wissenschaftlicher Basis die Vorund Nachteile ab, bevor wir eine totale Nichtzulassung
beschließen oder gleich eine deutschlandweite Versuchsphase einläuten?
Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.
Ich bin sofort fertig.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
sage nur eines: Sie haben schnell geschossen, aber nicht
getroffen. Wenn ich die Ergebnisse der BASt-Studien in
den Händen halte, diskutiere ich gerne mit Ihnen weiter.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Dorothée Menzner für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Einsatz von 60-TonnenGigalinern soll der Wahnsinn wohl endgültig Vorfahrt
erhalten.
({0})
Gleich zu Beginn sage ich: Die Linke im Bundestag
lehnt den Vorschlag der FDP, einen Feldversuch mit solchen LKWs durchzuführen, ab.
({1})
Mit Ihrem Vorschlag verfolgen Sie nicht etwa das
Ziel, überlastete Bundesfernstraßen zu entlasten. Es geht
darum, Tulpen aus Amsterdam oder Zitronen aus Spanien zu transportieren. Diese Transporte, die auf unseren
Autobahnen schon heute für endlose LKW-Schlangen
verantwortlich sind, sollen billiger werden.
({2})
Es ist ziemlich egal, ob man 120 Tonnen in drei LKWs à
40 Tonnen oder in zwei LKWs à 60 Tonnen verteilt.
({3})
Summa summarum ist kaum ein Meter weniger Fahrzeug auf dem Asphalt.
Aber diese Monster von 25 Metern Länge werfen eine
Menge Probleme auf:
({4})
Wie fühlen Sie sich als Autofahrer, wenn Sie sich in einer Ausfahrt zwischen zwei solche LKWs quetschen
müssen? Wie wollen Sie so ein langes Gefährt gefahrlos
überholen, erst recht, wenn Sie ein nicht ganz so schnelles Auto fahren? Was passiert, wenn ein solcher LKW in
enge Stadtstraßen abbiegen muss, um vielleicht zu dem
Gewerbegebiet zu gelangen, wo er hin muss?
({5})
Wie will der Lenker Radfahrer oder Kinder im Blick behalten, wenn schon ein Erwachsener im Rückspiegel eines normalen LKW kaum auszumachen ist? Nicht zuletzt sind die Parkplätze auf unseren Raststätten nicht auf
25-Meter-Gespanne ausgelegt; gar nicht zu reden von
den 37 000 Brücken in unserem Land. Allein in Sachsen-Anhalt gilt jede fünfte Brücke als zu schwach für
diese 60-Tonner.
Auch mir ist bekannt, dass diese langen Lastzüge in
Finnland und Schweden mit Erfolg verkehren. Wir kennen auch die Roadtrains aus Australien. Aber diese dünn
besiedelten Länder kann man nicht mit dem dicht besiedelten Mitteleuropa vergleichen.
({6})
Wir haben keine endlosen, einsamen Landstraßen in
wüstenhaften Gegenden,
({7})
in denen kaum eine Menschenseele wohnt.
({8})
Uns fehlt es auch nicht an Schienensträngen. Im Gegenteil, wir haben ein engmaschiges Eisenbahnnetz. Und
das Ziel der Bahnreform, für die wir alle uns immer wieder ausgesprochen haben, war es, mehr Güter auf die
Schiene zu verlagern.
({9})
Im letzten Jahr schafften es die Bahnen,
95 Milliarden Tonnenkilometer auf die Schiene zu bringen. Die Straße erreichte kaum mehr das Dreifache:
310 Milliarden Tonnenkilometer. Wollen wir diese ersten, zaghaften Erfolge jetzt konterkarieren?
Nicht umsonst wird erwähnt, dass die 60-Tonner weniger Sprit verbrauchen. Doch dies rechtfertigt keine
schön klingenden Namen wie „Eco-Kombi“ oder „Ökolaster“. Denn ökologisch sind diese Monster-LKWs
nicht. Sie passen nämlich nicht auf unsere Straßen. Diese
60-Tonner sind große Sattelschlepper mit Anhänger; das
muss man sich bildlich vorstellen.
({10})
Sie schlagen vor, dass diese Lastzüge nur bis an die
Stadtgrenzen fahren und die Anhänger separat in die
Stadt gebracht werden. Ein zweiter Fahrer wird also nur
in der Stadt gebraucht, während auf der Autobahn ein
Fahrer genügt.
({11})
Die 60-Tonner sollen also die Personalkosten senken.
Ich sage: Sie sollen Arbeitsplätze vernichten.
({12})
Die Nutzfahrzeugindustrie ist im Übrigen auch nicht
begeistert: Sie befürchtet, weniger Zugmaschinen abzusetzen, sie befürchtet, sehr viel differenziertere Fahrzeuge anbieten zu müssen, und, nicht zuletzt, Arbeitsplätze abbauen zu müssen.
Kolleginnen und Kollegen, unsere Entscheidungen
müssen nachhaltig sein, nicht nur ökologisch, sondern
auch sozial. Deswegen sagen wir klar Nein zu diesen
LKWs.
Danke.
({13})
Nun hat das Wort der Kollege Winfried Hermann,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich dafür, dass ich heute das Schlusswort bekomme.
Ich freue mich, dass es heute eine neue Allianz gibt,
eine Allianz
({0})
gegen die Gigaliner, gegen die Monstertrucks auf der
Straße. Die FDP sagt: Lasst uns einen umfassenden
Feldversuch machen! Denen, die sagen, das brauchen
wir nicht, hält sie vor, nicht offen zu sein. Aber eigentlich sind auch Sie schon festgelegt; das haben Sie deutlich gemacht. Nichts gegen Versuche, aber wenn die Folgen bestimmter Maßnahmen schon offenkundig sind,
dann kann man sich den Versuch sparen.
({1})
Einige Folgen dieser Monstertrucks liegen so offenkundig auf der Hand,
({2})
dass man keine langen Versuche machen muss. Interessant ist ferner, wer solche Versuche machen will und wo
sie gemacht werden: Daimler hat in Stuttgart sein neues
Produkt Gigaliner einführt für den Verkehr zwischen
zwei Werken, auf einer Strecke, die mit Schienen bedient werden kann, zum Transport von Material, das sich
originär für den Schienentransport eignet. Da wird doch
klar, worum es geht: Dieser Versuch ist kein offener Versuch, sondern es geht darum, den ersten Schritt zu unternehmen, ein neues Produkt am Markt anzubringen.
({3})
Das ist der Grund, weshalb wir sagen: Nein, wir wollen
keine Monstertrucks auf deutschen Autobahnen.
Es gibt inzwischen auch längst Versuche dazu. Bei
der Einführung des 40-Tonners gab es in der Schweiz
eine sehr genaue Untersuchung, in der nachgewiesen
wurde - auch hier hätte man übrigens sehr ökologisch
argumentieren und sagen können, dass man durch die
Erhöhung von 28 auf 40 Tonnen einige LKWs einspart -,
({4})
dass als Folge davon deutlich mehr Verkehr auf die
Straße kam, wodurch der Schienenverkehr, der in der
Summe deutlich ökologischer ist, geschwächt wurde.
Nun sagen Sie, dass das doch ein ökologisches Argument ist. Dem will ich mich gerne stellen. Es ist schon
interessant - das will ich Ihnen jetzt nicht unterstellen -,
wenn ausgerechnet Leute aus der Automobilindustrie,
denen die Ökologie gemeinhin sozusagen irgendwo vorbeigeht, plötzlich ökologisch argumentieren. Dann werden wir natürlich hellhörig. Es ist einfach eine Rosstäuscherei, zu behaupten, durch die Umstellung auf größere
Trucks würde die Belastung um 50 Prozent verringert.
Auf dieses Ergebnis kommt man nur, wenn man ganz
einfach rechnet. Wenn am Schluss in der Summe aber
mehr LKWs fahren und weniger Verkehr auf die Schiene
geleitet wird, dann ist die gesamtökologische Bilanz natürlich erheblich schlechter.
({5})
Das wird durch Ihre einfache und billige Ökologierechnung nicht deutlich und damit blenden Sie sich selber.
({6})
Sie merken nicht, dass dies eigentlich ein neues Produkt ist, um die Fahrt zur nächsten Fabrik zu verbilligen.
Das bedeutet im Wesentlichen kein Einsparen von CO2Emissionen, sondern nur von Kosten, was zu einer Besserstellung des LKW-Verkehrs im Vergleich zum Schienenverkehr führt. Wir befürchten, dass es letztendlich
darum geht. Das ist der große Schaden.
Die anderen Probleme, die angesprochen worden
sind, will ich nur noch einmal kurz erwähnen, weil die
Rednerinnen und Redner vor mir das auch schon deutlich gesagt haben. Man kann jetzt natürlich sagen, dass
man mit den langen LKWs gar nicht in die Städte und
Zentren hinein will. Dahin werden sie auch nie kommen.
Natürlich werden sie aber auch nicht nur auf wenigen
Autobahnen fahren, sondern man wird die Industriegebiete einschließen. So kommen dann nach und nach
mehr Städte, die diese LKWs auch zulassen wollen.
Schließlich wird der Effekt erzielt, dass der Nutzen
weniger Transporteure, die mit größeren LKWs kostengünstiger transportieren können, von der Allgemeinheit
zu bezahlen ist, indem anschließend die Brücken nachgebaut, die Kreisverkehre vergrößert und die Straßen
deutlich häufiger saniert werden müssen. Ich sage: Hier
wird privater Nutzen am Schluss durch die Allgemeinheit bezahlt.
Ich komme zum Schluss, weil die Lampe am Pult
leuchtet: Wir sind klar und eindeutig gegen die Einführung dieser Monstertrucks. Das wird zulasten der
Schiene und letztlich auch zulasten der Umwelt gehen.
Die Argumente, die Sie bringen, sind pseudoökologisch.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne sind für deutlich mehr
und längere Lastzüge, aber bitte schön auf der Schiene.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/2683 und 16/2990 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/2683 zu Tagesordnungspunkt 20 soll zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 12:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze
bei innergemeinschaftlichen Verstößen
- Drucksache 16/2930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Julia Klöckner, Elvira
Drobinski-Weiß, Hans-Michael Goldmann, Dr. Kirsten
Tackmann und Ulrike Höfken haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich eine Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Markus Kurth, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 10
Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes
- Drucksache 16/1171 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jürgen Gehb,
Dr. Carl-Christian Dressel, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Ulla Jelpke und Volker Beck haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Damit verzichten wir
auf die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 16/1171 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Doha-Runde wieder beleben - WTO-Generaldirektor als Schlichter einsetzen
- Drucksache 16/2658 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kolleginnen und Kollegen Erich Fritz, Dr. Ditmar
Staffelt, Gudrun Kopp, Ulla Lötzer und Margareta Wolf
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2658 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Oktober 2006,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.