Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
sehr herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen.
Es gibt ein paar wenige Hinweise, bevor wir in die
Tagesordnung eintreten können. Der Kollege Ralf Göbel
hat sein Amt als Schriftführer niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen
Hermann-Josef Scharf vor. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind. - Das scheint der Fall zu sein.
Dann ist der Kollege Scharf zum Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Die aktuelle Lage der Menschenrechte in Simbabwe
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 12
und 13 auf Drucksache 16/4802 ({0})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich,
Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Energieeinsparung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen
- Drucksache 16/4787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster,
Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Katastrophe in Simbabwe verhindern
- Drucksache 16/4859 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({4})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
- Drucksache 16/4866 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 202 zu Petitionen
- Drucksache 16/4867 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 203 zu Petitionen
- Drucksache 16/4868 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 204 zu Petitionen
- Drucksache 16/4869 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 205 zu Petitionen
- Drucksache 16/4870 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 206 zu Petitionen
- Drucksache 16/4871 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 207 zu Petitionen
- Drucksache 16/4872 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 208 zu Petitionen
- Drucksache 16/4873 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 209 zu Petitionen
- Drucksache 16/4874 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Dr.
Gerhard Schick, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeitsplätze
- Drucksache 16/4855 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Konsequenzen der Bundesregierung aus den UN-Berichten des Sonderberichterstatters, Vernor Muñoz, zum deutschen Bildungssystem
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 26 c und 33 b werden abgesetzt.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 82. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({15}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Trendwende beim Klimaschutz im Verkehr Nachhaltige Mobilität für alle ermöglichen
- Drucksache 16/4416 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
({17}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Dr. Karl
Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/4735 überwiesen:
Rechtsausschuss ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Auch das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3:
Vereinbarte Debatte
Patientenverfügungen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache drei Stunden vorgesehen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich darauf verständigt, dass aufgrund der großen Anzahl der Redewünsche
und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für
die Aussprache die Reden derjenigen Kolleginnen und
Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Ich
nehme an, dass es auch dazu Einverständnis gibt. - Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Joachim Stünker für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum debattieren wir heute über die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen? Wir debattieren
darüber, weil circa 7 bis 8 Millionen Menschen in
Deutschland eine Patientenverfügung gemacht haben
und darauf vertrauen, dass ihre dort getroffenen Bestimmungen auch beachtet und befolgt werden. Sie wehren
sich damit gegen die, wie sie es nennen, Apparatemedizin, gegen das Diktat des medizinisch Machbaren, gegen
die Verlängerung eines Lebens, das für sie nicht mehr lebenswert ist.
Zwar ist der in der Patientenverfügung geäußerte
Wille schon heute grundsätzlich verbindlich und Grundlage ärztlichen Handelns. Der Bundesgerichtshof hat
dies trotz des Fehlens einer gesetzlichen Regelung wiederholt entschieden. Aber über genau die Frage, was im
Einzelfall unter „grundsätzlich verbindlich“ zu verstehen
ist, wird ganz unterschiedlich diskutiert. Ich denke, die
heutige Debatte wird das breite Spektrum der Meinungen, die in diesem Hohen Hause vertreten werden, sehr
anschaulich zeigen.
Es kann einen Unterschied bedeuten, in welches
Krankenhaus oder zu welchem Arzt ich nach einem Verkehrsunfall im Zustand der Bewusstlosigkeit gebracht
werde, wenn ich mich nicht mehr selber äußern kann,
aber eine Patientenverfügung bei mir trage, in der ich
zum Beispiel für eine bestimmte Situation das Setzen einer Magensonde ausgeschlossen habe. Die einen erkennen dies als verbindlich an, die anderen nicht. Viele Anwälte, die tagtäglich im Medizinrecht tätig sind, können
hierzu beredt Beispiele benennen; bei mir sowie bei vielen Kolleginnen und Kollegen stapeln sich dazu die
Briefe.
Die Menschen wollen Rechtssicherheit. Ich meine,
sie haben einen Anspruch darauf, dass der Staat ihnen
hier Rechtssicherheit gibt.
({0})
Es handelt sich daher bei unserem Thema nicht, wie
gestern zu lesen war, um ein von der Politik künstlich
aufgebautes Thema, sondern, wie wir alle wissen, um
ein Thema, das die Menschen in diesem Lande zunehmend brennend beschäftigt. Jeder Politiker, der dazu
Veranstaltungen durchführt, weiß, dass bei einer solchen
Veranstaltung der Saal voll ist.
({1})
Darum die Frage: Bringt denn eine gesetzliche Neuregelung für die Zukunft Rechtssicherheit? Ich sage: Ja,
wenn es eine klar definierte materiellrechtliche Regelung zum zulässigen, verbindlichen Inhalt einer Patientenverfügung gibt. Nach dem Grundsatz der Einheit
der Rechtsordnung entfaltet eine Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch Gültigkeit in allen Lebensbereichen.
Die Frage der Rechtswidrigkeit eines medizinischen
Eingriffs wird im Strafrecht dadurch entschieden.
Ich sage aber genauso deutlich Nein zu einer Regelung, die quasi nur einen Katalog der Voraussetzungen
aufstellt, unter denen ein Mensch fordern kann, dass ein
medizinischer Eingriff an ihm nicht vorgenommen wird.
Das zum Beispiel wäre eine Regelung mit einer abgestuften Reichweitenbeschränkung. Dies würde nur neue
Rechtsunsicherheit bedeuten und, wie ich meine, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Vormundschaftsgerichte sein. Ich betone daher: Gar keine Regelung ist
besser als eine schlechte gesetzliche Neuregelung.
({2})
Wie müsste eine mich überzeugende Neuregelung
aussehen? Im Mittelpunkt müsste das uneingeschränkte
Selbstbestimmungsrecht des Patienten stehen. Art. 2
Abs. 2 Satz 1 und 2 unseres Grundgesetzes bestimmen:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Daraus folgt: Jeder Patient hat das Recht, sich für oder
gegen eine medizinische Behandlung zu entscheiden und
gegebenenfalls deren Umfang zu bestimmen. Dieser
Grundsatz gilt auch für den antizipierten Willen. Daraus
folgt, dass der sicher festgestellte Wille des Patienten unabhängig von Art oder Stadium einer Erkrankung zu beachten ist. Eine Regelung, wonach eine Patientenverfügung nur in dem Fall verbindlich ist, wenn das
Grundleiden des Betreuten nach ärztlicher Überzeugung
bereits unumkehrbar einen tödlichen Verlauf angenommen hat, genügt dem Selbstbestimmungsrecht nicht und
ist deshalb meiner Meinung nach mit Nachdruck abzulehnen.
({3})
Eine Patientenverfügung mit einer Reichweitenbeschränkung ist nach meiner Überzeugung mit unserer
Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung zu bringen.
Unsere Rechtsordnung hat den philosophischen Meinungsstreit zwischen Determinismus und Indeterminismus eindeutig entschieden. Unsere Rechtsordnung beruht darauf, dass der Mensch auf freie, verantwortliche,
sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden und sein Verhalten an den Normen des rechtlichen Sollens auszurichten. Daraus folgt zum Beispiel,
dass der Staat bei Überschreitung dieser Normen das
Recht zum Strafen hat. Das ist der tiefste Eingriff, den
ich in die Freiheitsrechte vornehmen kann.
Der Umkehrschluss ist aber genauso zwingend: Der
Staat hat es zu achten und darf sich nicht einmischen,
wenn sich das Individuum in seinem Verhalten an diesen
Normen des rechtlichen Sollens ausrichtet. Das Grundgesetz garantiert daher ein Recht auf Leben, es begründet aber keine Pflicht, zu leben.
({4})
Ansonsten müsste der Suizid strafbewehrt sein, was wir
alle nicht wollen. Der Staat darf das Leben nie gegen den
erklärten Patientenwillen schützen, wenn er denn frei
und von einer geschäftsfähigen Person bestimmt worden
ist.
Die Patientenverfügung findet nach dem Grundgesetz
ihre Grenze allein in der Verletzung der Rechte anderer
Menschen. Hierzu hat die höchstrichterliche Rechtsprechung, ebenfalls unter Berufung auf die Verfassung, festgestellt, dass ein Patient mit dem Verbot einer künstlichen
Lebensverlängerung niemals die Rechte von Ärzten, Pflegekräften oder Angehörigen verletzen kann. Vielmehr
verletzten diese sein Selbstbestimmungsrecht und seine
körperliche Integrität, wenn sie eine solche Lebensverlängerung gegen den Patientenwillen aus Gewissensgründen
durchführten.
({5})
Auch die Beurteilung der Pflicht des Staates zum
Lebensschutz führt zu keinem anderen Ergebnis. Diese
Pflicht bedeutet, dass eine Patientenverfügung so ausgestaltet sein muss, dass der Missbrauch dieser Patientenverfügung weitgehend ausgeschlossen werden kann.
Deshalb postuliert die heutige Rechtsprechung, auf die
ich bereits Bezug genommen habe, entgegen anderslautender Interpretationen nach herrschender Meinung
keine Reichweitenbeschränkung einer Patientenverfügung.
Rund um diesen Kernbereich, den ich zu skizzieren
versucht habe, bedarf es deshalb klarer Regelungen zur
Ermittlung des freien Willens des Patienten. Ich will
die Eckpunkte dieser Regelung kurz skizzieren: Der Betroffene muss vor Unterzeichnung der Patientenverfügung ein breites Beratungs- und Informationsangebot
zur Verfügung haben, er muss volljährig und geschäftsfähig sein, die Patientenverfügung muss immer den aktuellen oder aktuellsten Willen widerspiegeln, der Arzt
und der Betreuer oder der Bevollmächtigte haben in der
konkreten Krankheitssituation des Patienten festzustellen, ob die in der Patientenverfügung niedergelegten Voraussetzungen für die Einwilligung in einen ärztlichen
Eingriff oder eine ärztliche Heilbehandlung bzw. für deren Untersagung vorliegen, und nur bei Nichtverständi9122
gung, beim Dissens zwischen Arzt und Betreuer ist das
Vormundschaftsgericht einzuschalten.
Die Patientenverfügung muss zu ihrer Verbindlichkeit
schriftlich abgefasst sein. Anderenfalls ist von Arzt und
Betreuer der mutmaßliche Wille des Patienten zu ermitteln. Bei dieser Ermittlung sind insbesondere frühere
mündliche und schriftliche Äußerungen, seine ethischen
und religiösen Überzeugungen sowie persönliche Wertvorstellungen, die verbleibende Lebenserwartung und
das Maß der zu erleidenden Schmerzen zu berücksichtigen.
Die Patientenverfügung ist jederzeit formlos widerrufbar. Hierzu genügt die natürliche Willensbekundung - ich betone: natürliche -, nicht die rechtsfähige
Willensbekundung. Das heißt, auch ein Dementer kann
natürlichen Lebenswillen äußern.
Wir müssen klar zum Ausdruck bringen, dass die Fürsorgepflicht der Ärzte für ihre Patienten die Achtung des
Selbstbestimmungsrechts einschließt. Eine so skizzierte
und normierte Patientenverfügung entspricht im Übrigen
der Position der Bundesärztekammer; so habe jedenfalls
ich deren Papier verstanden, das uns allen in diesen Tagen zugegangen ist.
({6})
Die Rechtspolitiker der SPD-Fraktion haben zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz und Frau
Ministerin Zypries eine so skizzierte Patientenverfügung
in einem Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werben für diesen Entwurf. Mit Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen sind
wir im Gespräch. Ich bin sicher, dass wir Ihnen nach den
Gesprächen, nach der Osterpause hierzu einen gemeinsamen Gruppenantrag vorlegen werden. Wir werden
dann gemeinsam darüber diskutieren.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Anmerkung machen: In der öffentlichen Diskussion, aber auch
in der Diskussion in diesem Hohen Hause sollten wir
eine Verwechslung nicht vornehmen: Wenn wir über die
Rechtsverbindlichkeit einer Patientenverfügung diskutieren, reden wir nicht über aktive Sterbehilfe.
({7})
Die Tötung auf Verlangen nach § 216 des Strafgesetzbuches bleibt ausdrücklich strafbewehrt. Wir reden auch
nicht darüber, dass der Gesetzgeber, dass wir und damit
der Staat letzten Endes die Menschen massenhaft dazu
bringen wollen, Patientenverfügungen zu machen. Das
muss jeder Einzelne für sich entscheiden. All jenen Menschen, die keine Patientenverfügung machen, haben wir
nicht hineinzureden. Aber die, die für sich entscheiden,
eine zu machen, haben einen Anspruch darauf, dass ihr
verfassungsrechtlich garantiertes Selbstbestimmungsrecht
von uns und damit vom Staat beachtet wird.
Schönen Dank.
({8})
Herr Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag, verbunden mit allen guten Wünschen, nicht nur für das neue Lebensjahr.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fasziniert bewundern wir alle die beeindruckenden Fortschritte der modernen Medizin, den rasanten medizinisch-technischen Fortschritt, aber auch die großartige
Heilkunst der Ärztinnen und Ärzte. Die neuen, scheinbar
grenzenlosen Möglichkeiten der modernen Medizin können aber nicht nur das Leben verlängern, sondern auch
das Leiden und Sterben. Die Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen liegen hier nahe beieinander. Je
beeindruckender die medizinischen Möglichkeiten sind,
desto eher erfahren wir den Tod nicht mehr als schicksalhaft, sondern als das Ergebnis menschlicher Entscheidung.
Beim Thema Lebensende gab es immer Fragen, die
uns Menschen zu allen Zeiten begleitet haben. Werden
wir friedlich einschlafen? Werden wir lange leiden?
Werde ich den Tod annehmen können, oder versuche
ich, gegen ihn anzukämpfen? Mit neuen Behandlungsmöglichkeiten stellen sich auch immer neue Fragen.
Werde ich vielleicht selbst dann noch behandelt, wenn
jede Hoffnung auf ein bewusstes Leben vergeblich ist?
Wird mein Wille respektiert und können die Ärzte und
alle, die mir nahestehen, mir dabei helfen, in Würde zu
sterben? Der Staat kann keine Antworten auf alle Fragen
geben. Aber er hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschenwürdegarantie
unserer Verfassung im Leben wie auch im Sterben beachtet wird.
Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch dann zur Geltung
kommt, wenn er zu einer bewussten Entscheidung nicht
mehr in der Lage ist.
Der Gesetzgeber schuldet den Angehörigen, den Ärzten, den Pflegekräften und den rechtlichen Vertretern des
Patienten die Gewissheit, dass alle unter sicheren rechtlichen Rahmenbedingungen handeln und auf sicherer
Rechtsgrundlage Entscheidungen treffen. Bei Fragen
von Leben und Tod, um die es heute geht, darf es keine
rechtlichen Grauzonen geben.
Damit der Wille des Patienten auch dann noch beachtet wird, wenn er diesen krankheitsbedingt nicht mehr
äußern kann, haben viele Menschen in den letzten Jahren
Patientenverfügungen verfasst; die diesbezüglichen
Schätzungen schwanken zwischen mindestens 2 und
circa 8 Millionen. Parallel dazu gibt es eine Rechtsprechung, und zwar sowohl der Zivil- als auch der StrafgeWolfgang Bosbach
richte, die sich intensiv mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Lebensschutzpflicht des
Staates beschäftigt, die aber ganz unterschiedlich interpretiert wird.
Vor diesem Hintergrund diskutieren wir in Staat und
Gesellschaft seit vielen Jahren über die Notwendigkeit
der Schaffung einer klaren rechtlichen Regelung. Die
heutige Debatte soll das in Kürze beginnende Gesetzgebungsverfahren vorbereiten. Gemeinsam mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen haben René Röspel,
Josef Winkler, Otto Fricke und ich vor wenigen Tagen
einen eigenen Gruppenantrag vorgestellt. Es kann nicht
Aufgabe dieser Debatte sein, jede einzelne darin getroffene Regelung näher zu erläutern. Deshalb möchte ich
mich auf die Grundzüge konzentrieren.
In fast allen Gesprächen, die man mit Bürgern oder
Journalisten über dieses Thema führt, wird nach wenigen Sekunden die Frage gestellt: Sind Sie für das Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder für den Schutz des
Lebens auch gegen dessen Willen? Das hört sich an, als
seien Selbstbestimmung und Lebensschutz Gegensätze.
Das sind aber keine Gegensätze. Unser Gruppenantrag
will beiden Prinzipien Geltung verschaffen: das Selbstbestimmungsrecht des Patienten stärken und sein Wohl
schützen. Das sollte übrigens die Aufgabe von Staat und
Gesellschaft sein.
({0})
Wir schlagen im Hinblick auf die Wirksamkeit einer
Patientenverfügung zwar die Schriftform vor, verzichten aber auf weitere formelle Voraussetzungen. Natürlich
wären eine vorherige ärztliche Aufklärung und eine regelmäßige Aktualisierung sinnvoll - dafür sollten wir
auch im Parlament werben -, aber wir sollten beides
nicht zur rechtlichen Voraussetzung für die Wirksamkeit
einer Patientenverfügung machen. Jede weitere Hürde
oberhalb der Schriftform würde die Zahl der gewollten,
aber rechtlich nicht verbindlichen Patientenverfügungen
erhöhen. Der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht
des Einzelnen gebietet es, die Abfassung wirksamer Patientenverfügungen für jedermann so leicht wie möglich
zu machen.
Dass wir die Schriftform vorschlagen, bedeutet aber
nicht, dass man den einmal verfügten Willen nur schriftlich widerrufen kann. Wenn der Patient, aus welchen
Gründen auch immer, nicht mehr an seiner Verfügung
festhalten will, dann müssen auch eine mündliche Äußerung oder der durch Zeichen oder Gesten erkennbare Lebenswille ausreichend sein, um die vorherige schriftliche
Verfügung außer Kraft zu setzen. In einem solchen Fall
verdrängt der aktuelle Patientenwille, der immer Vorrang
vor vorherigen Festlegungen haben muss, jede frühere
Verfügung.
({1})
Darüber hinaus wollen wir sicherstellen, dass der
nicht mehr äußerungsfähige Patient bei einem erkennbaren Irrtum bei der Abfassung seiner Verfügung nicht an
ihrem Inhalt festgehalten wird. Wenn Grund zur Annahme besteht, dass sich der Patient in der Situation, in
der er sich im Moment befindet, anders entschieden
hätte, dann darf man ihn nicht an seine frühere Erklärung
binden. Die Beendigung eines Lebens darf man nie auf
Irrtum stützen.
({2})
In unserem Antrag wird deutlich gemacht, dass Inhalte einer Patientenverfügung, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen, zum Beispiel gegen das Verbot
der Tötung auf Verlangen, nicht wirksam sind. Das ist
keine unzulässige Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts.
({3})
Die Zivilrechtsordnung darf nicht das erlauben, was das
Strafrecht ausdrücklich verbietet.
Obwohl die Einzelfragen von großer Bedeutung sind,
dreht sich die öffentliche Debatte fast ausschließlich um
die Reichweitenbegrenzung. Man hat den Eindruck, als
seien wir aufgerufen, nur über diese eine Frage zu entscheiden. Eine Begrenzung der Reichweite einer Patientenverfügung ist nach unserer Überzeugung nicht nur
verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch zum Wohle
des Patienten erforderlich. Natürlich wissen wir, dass es
leicht ist, daran Kritik zu üben - das liegt schon in der
Natur der Sache -: Wer für Schrankenlosigkeit plädiert,
der muss nur, ohne dies begründen zu müssen, darauf
hinweisen, dass der Inhalt einer Patientenverfügung
Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Menschen
ist. Welcher Bürger würde nicht gerne seine eigenen Angelegenheiten selber regeln, ohne staatliche Bevormundung? Das klingt auf den ersten Blick ganz plausibel.
Aber nur auf den ersten Blick. Denn das ändert sich
schlagartig, wenn man die sich aus dieser Haltung
zwangsläufig ergebenden Risiken für die betroffenen Patienten genauer ansieht. Diese Risiken sind nämlich erheblich.
Bei der Patientenverfügung geht es nicht um den aktuellen Willen des Patienten in einer Krankheitssituation,
die er just in diesem Moment erfährt, erduldet, erleidet.
Der aktuelle - wohlgemerkt: der aktuelle - Wille des Patienten ist immer und unter allen Umständen zu beachten. Selbst wenn die Ärzte oder die Angehörigen der
Auffassung sind, dass der Patient sich objektiv unvernünftig, gegen sein Wohl entscheidet, ist die Entscheidung des Patienten verbindlich und muss von allen
respektiert werden, selbst dann hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten Vorrang vor dem Willen anderer. Das war immer so, und das wird sich auch durch unseren Entwurf nicht ändern.
Im vorliegenden Fall geht es aber um eine antizipierte, um eine vorweggenommene Entscheidung für
eine später vielleicht eintretende Erkrankung, mit der die
Betroffenen, jedenfalls in den meisten Fällen, noch keine
eigene, persönliche Erfahrung als Patienten gemacht
haben. Dann beruhen die Erklärungen auf Erwartungen
oder Befürchtungen, nicht auf persönlichen Erfahrungen. Misstrauen wir Erklärungen, hinter denen keine eigene, persönliche Erfahrung steht! Das ist bei den aktuellen Äußerungen eines Patienten anders: Er kann
aufgeklärt werden, der Arzt kann ihm sagen, welche Risiken sich bei einer Behandlung ergeben können, aber
auch, welche Heilungschancen er hat. Das alles ist bei
einer vorweggenommenen Erklärung nicht möglich: Er
kann nichts erfragen, er kann nichts erfahren, man würde
ihn an seiner vorherigen, schriftlichen Festlegung festbinden.
Deshalb darf auch die Rechtsordnung den aktuellen
Willen eines Patienten nicht gleichsetzen mit einer Verfügung, die er 15 Jahre zuvor einmal verfasst hat. Ich
verkenne nicht, dass der damalige Wille der aktuelle
Wille sein kann; das ist möglich. Aber es ist genauso gut
möglich, dass er nicht mehr der aktuelle Wille ist. Wir
wissen es nicht. Bei einem im Voraus erklärten Willen
weiß man nie mit letzter Sicherheit, ob er dem aktuellen
Willen des Betroffenen entspricht. Darum kann der antizipierte, der in einer Patientenverfügung vorweggenommene Wille nicht so behandelt werden wie der aktuelle
Wille eines Patienten, der ganz konkret eine Krankheit
hat und sich in Kenntnis aller Umstände für oder gegen
eine Behandlung entscheiden kann.
Es ist keine kühne Behauptung, es ist alltägliche Erfahrung, dass die aktuellen Wünsche eines Patienten
vom früher Geäußerten abweichen können. Menschen,
deren Leben entgegen einem früheren Entschluss gerettet wurde, sind mit ihrer Rettung im Nachhinein sehr oft
einverstanden. Jetzt bitte nicht sagen: „Dem Patienten
geschieht doch kein Leid; denn die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen beruht doch nur auf dem,
was er selber einmal vorher geschrieben hat“; denn dahinter steht, zumindest unausgesprochen, der Gedanke:
selber schuld - es muss ja niemand eine Patientenverfügung verfassen.
Wir hatten gestern Nachmittag ein Symposium bei
der Konrad-Adenauer-Stiftung. Da hat ein bekannter
Palliativmediziner uns gesagt: Ihr unterstellt immer, es
gibt den bewusstlosen Patienten und es gibt den Patienten, der äußerungsfähig ist. Es gibt aber auch den Patienten, der äußerungsfähig ist und eine Patientenverfügung
hat. Die Fälle, in denen ein äußerungsfähiger Patient so
behandelt werden wollte, wie er zuvor schriftlich festgelegt hatte, kann ich am Daumen einer einzigen Hand abzählen. - Er selber habe in seiner ärztlichen Praxis also
erst einen einzigen Fall gehabt, wo der Patient nach ärztlicher Beratung gesagt habe: Nein, es soll so bleiben, wie
ich zuvor schriftlich festgelegt habe. - Ein Kollege, der
neben ihm saß, hat sogar gesagt, er könne sich an keinen
einzigen solchen Fall erinnern. In den allermeisten Fällen hätten die Betroffenen von ihrer vorherigen Verfügung Abstand genommen und sich nach ärztlicher Beratung anders entschieden. Ebenso wenig, wie wir den
aktuellen und den vorweggenommenen Willen eines Patienten in Voraussetzung und Rechtsfolgen gleichsetzen
können, können wir irreversible Krankheiten mit tödlichem Verlauf bei infausten Prognosen gleichsetzen mit
heilbaren Erkrankungen. Im ersten Fall geht es um Hilfe
zum Sterben, um Verkürzung von Leiden. Im zweiten
Fall geht es streng genommen nicht um Sterbehilfe, sondern um die Lebensbeendigung von Erkrankten, die an
ihrer Erkrankung nicht sterben müssten.
Wenn Verfassungsgüter miteinander in Konkurrenz
treten, dann wird durch die Rechtsordnung nicht verlangt, dass das eine Verfassungsgut das andere verdrängt, sich also durchsetzt, sondern der Gesetzgeber ist
verpflichtet, nach einem schonenden Ausgleich zu suchen: hier zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des
Einzelnen und der Lebensschutzpflicht des Staates.
Der Gesetzgeber kann nicht alles im Leben regeln,
und niemand hat die Absicht, das Sterben zu normieren
oder gar den Ärzten ihre Verantwortung oder den Patienten ihre Selbstbestimmung zu nehmen. Das wollen auch
die Kolleginnen und Kollegen nicht, die diesen Gruppenentwurf gemeinsam vorstellen. Das Mögliche müssen wir aber schon regeln. Das schulden wir insbesondere den Schwachen und Hilflosen, die sich nicht selber
helfen können. Ihnen gebührt in erster Linie der Schutz
durch Staat und Gesellschaft.
Danke fürs Zuhören.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Michael Kauch für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschenwürdig leben bis zuletzt - das war das Leitmotiv
der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ in der letzten Wahlperiode, der ich angehören durfte.
Dieses Leitmotiv - Menschwürdig leben bis zuletzt muss auch Leitmotiv dieser Debatte sein; denn der Sterbeprozess ist Teil des Lebens. Es ist unser aller Aufgabe,
mit sterbenden Menschen Solidarität zu üben und sie
nicht alleinzulassen. Das gilt persönlich genauso wie politisch; denn sie gehören zu den Schwächsten in unserer
Gesellschaft.
({0})
Wir sprechen heute über mehr Selbstbestimmung
durch Patientenverfügungen. Dabei müssen wir erkennen, dass das ein Baustein einer Politik für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt ist, aber eben nur ein
Baustein. Wir brauchen mehr Qualität in der Pflege, wir
brauchen ein Gesundheitssystem, mit dem wir nicht sehenden Auges in die Rationierung laufen, wir brauchen
mehr menschliche Zuwendung für Sterbende, und wir
brauchen gerade auch für die Menschen, die zu Hause
sterben wollen, eine professionelle, leidmindernde Palliativmedizin nicht nur in wenigen Zentren, sondern in
der Fläche.
({1})
Mit der Finanzierung der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung ist ein Anfang gemacht. Jetzt
kommt es darauf an, dass wir auch in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegekräften hier Akzente
setzen. All diese Maßnahmen sind aber kein Gegensatz
zu einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides
gehört zusammen: das Angebot einer optimalen Versorgung an die Gesellschaft, aber eben auch die Freiheit des
Einzelnen, bestimmte Behandlungen, die er nicht
wünscht, auch ablehnen zu dürfen. Selbstbestimmung ist
nämlich untrennbarer Teil der Menschenwürde.
({2})
Eines möchte ich klarstellen - auch der Kollege
Stünker hat das bereits getan -: Wir reden hier nicht über
aktive Sterbehilfe.
({3})
Wir reden nicht über das gezielte Töten eines Menschen.
Es geht auch nicht um die Verweigerung indizierter medizinischer Maßnahmen. Es geht nicht um Töten, es geht
um Sterbenlassen.
({4})
Es geht darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der
Patient das wünscht.
({5})
Bereits 2004 und 2006 haben die Liberalen als bisher
einzige Fraktion einen Antrag zur Stärkung der Patientenautonomie und Patientenverfügungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Leitbild unseres Antrages
ist dabei das Bild eines Menschen, der über sein Leben
auch in existenziellen Fragen so weit wie möglich selbst
entscheiden kann. Mit diesem Menschenbild geben wir
der Selbstbestimmung Vorrang vor anderen Überlegungen, seien sie auch noch so fürsorglich motiviert. Das ist
die eigentliche Trennlinie zwischen den Lagern, die sich
hier in dieser Debatte abzeichnen. Die eine Seite nimmt
fürsorglichen Paternalismus mit Zwangsbehandlung in
Kauf, die andere Seite vertraut auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des einzelnen Menschen.
({6})
Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung von der Selbstbestimmung eines autonom handelnden Individuums. Natürlich ist der Mensch eingebunden in Beziehungen und auch in innere Zwänge.
Gerade bei Patientenverfügungen kommt ein anderer
Aspekt hinzu: Man verfügt etwas für die Zukunft, was
man nicht genau abschätzen kann. Der vorausverfügte
Wille ist immer schwächer als der aktuell verfügte.
Aber was ist die Alternative? Die Alternative zum vorausverfügten Willen unter Unsicherheit ist, dass ein
Dritter für einen selbst entscheidet. Die Alternative ist
die Fremdbestimmung des Menschen.
({7})
Bei aller Relativierung des autonom handelnden Menschen: Wir entscheiden uns deshalb für die Selbstbestimmung.
Die moderne Medizin hat viele Möglichkeiten geschaffen, die man sich vor 50 Jahren noch nicht vorstellen konnte. Für viele Menschen ist das ein Geschenk, für
viele ist es aber auch eine Qual. Ob es als Geschenk oder
Qual empfunden wird, kann nur jeder Einzelne für sich
selbst entscheiden und nicht der Deutsche Bundestag.
({8})
Jede medizinische Maßnahme, nicht aber der Verzicht
darauf, ist durch die Einwilligung des Patienten zu rechtfertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung,
die strafrechtlich bewehrt ist. Dies gilt im Grundsatz für
den nichteinwilligungsfähigen Menschen.
Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen. Jeder hat das Recht, auch existenzielle Entscheidungen
seinem gesetzlichen Vertreter zu überlassen. Doch wer
klar weiß, was er will und was er nicht will, dessen Verfügung muss geachtet werden.
({9})
Für die große Mehrheit der FDP-Abgeordneten
kommt deshalb eine Begrenzung der Reichweite von
Patientenverfügungen nicht infrage. Eine Begrenzung
der Reichweite auf irreversibel zum Tode führende Erkrankungen liefert Patientinnen und Patienten in bestimmten Fällen Zwangsbehandlungen gegen ihren erklärten Willen aus. Denn diese Rechtsfigur macht
Patientenrechte von einer ärztlichen Prognose abhängig,
deren Verlässlichkeit nicht in allen Fällen garantiert werden kann. Das gilt analog auch für die Erweiterung im
Entwurf von Herrn Bosbach auf Zustände der Bewusstlosigkeit, bei denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Bewusstsein nicht wiedererlangt werden kann. Wie machen Sie denn diese Sicherheit fest?
Der eine Arzt sagt 99 Prozent, der nächste 95 Prozent
und der dritte 90 Prozent.
({10})
Wann ist die Wahrscheinlichkeit groß genug, und wann
zwingen sie den Patienten trotz gegenteiliger Verfügung,
weiter künstlich am Leben gehalten zu werden?
Eine Reichweitenbegrenzung bedeutet auch, dass gegen den Willen der Patienten Magensonden gelegt, Sehnen zerschnitten und Antibiotika verabreicht werden.
Das hat mit Selbstbestimmung nichts, aber auch gar
nichts zu tun.
({11})
Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschränkungen setzen Sie sich hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas
verfügt, keine Bluttransfusionen zu wollen, weil das gegen seine religiöse Überzeugung verstößt, dann ist das
aktuell wirksam. Warum endet die Religionsfreiheit in
Ihrem Entwurf dann, wenn die Bewusstlosigkeit eintritt?
Das ist - auch bei einer christlichen Partei - nicht hinnehmbar.
Nehmen Sie als weiteres Beispiel einen 85-jährigen
Patienten, der nach einem Herzinfarkt schon einmal wiederbelebt wurde. Er weiß genau, dass bei einer weiteren
Wiederbelebung nach einem Herzinfarkt die Wahrscheinlichkeit hoch ist, einen Gehirnschaden zu erleiden.
Wollen Sie diesem Patienten, wenn er verfügt, keine
Wiederbelebung zu versuchen, weil er in seinen letzten
Jahren nicht dahinvegetieren will, wirklich sagen: „Das
darfst du nicht, weil wir das für falsch halten“? Das kann
nicht Inhalt eines Gesetzes sein, das wir zugunsten von
Patientenrechten verabschieden wollen.
({12})
Kernforderung unseres Antrags und zahlreicher Kollegen anderer Fraktionen ist es deshalb, Therapiewünsche, Therapiebegrenzungen und Therapieverbote durch
eine Patientenverfügung für jeden Zeitpunkt eines
Krankheitsverlaufes zuzulassen. Voraussetzung ist, dass
die Patientenverfügung hinreichend klar formuliert ist
und es keine offenkundigen - auch nonverbalen - Äußerungen des Patienten gibt, die dagegensprechen. Bei
manchen Formen der Demenz wird man daran Zweifel
haben müssen. Insofern ist es unser Anliegen, dass ein
Gesetzentwurf dies berücksichtigt. In Zweifelsfällen
muss dann pro vita entschieden werden.
Wir möchten, dass die Patientenverfügung schriftlich
verfasst wird, aber wir lehnen eine Pflicht zur regelmäßigen Aktualisierung nach dem Motto „Wenn seit der Unterschrift zwei Jahre vergangen sind, dann ist sie ungültig“ ab. Das entspricht nicht der Lebensrealität gerade
älterer Menschen. Wir können nicht sagen: Wenn du vergessen hast, die Patientenverfügung wieder zu unterschreiben, dann legen wir sie beiseite und beachten sie
nicht.
Auch eine generelle Beratungspflicht ist nicht praktikabel. Ich selbst habe diese einmal befürwortet, aber alle
Experten - von den Kirchen bis zu den sonstigen Beratungsstellen - sagen, dass man eine solche Pflicht nicht
ins Gesetz schreiben kann.
Wir müssen aber dafür werben, dass es in dieser Gesellschaft mehr Aufklärung gibt über die Möglichkeiten,
die die moderne Palliativmedizin und neue Behandlungsmethoden bieten. Denn je aufgeklärter ein Mensch
ist, desto selbstbestimmter kann er Entscheidungen treffen.
Darüber hinaus sprechen wir uns dafür aus, bei einer
schriftlichen Patientenverfügung die Zuständigkeit des
Vormundschaftsgerichtes einzuschränken. Nur im
Konfliktfall zwischen dem behandelnden Arzt und dem
gesetzlichen Vertreter soll das Vormundschaftsgericht
eingeschaltet werden. Dabei ist für uns in unserem Antrag wichtig, dass zuvor die Pflegekräfte und die nächsten Angehörigen zumindest angehört wurden. Wenn sie
dann mit einer Betreuerentscheidung nicht einverstanden
sind, können sie das Vormundschaftsgericht anrufen.
Damit gibt es eine zusätzliche Missbrauchskontrolle in
dem Verfahren.
Meine Damen und Herren, die Verbindlichkeit und
der Anwendungsbereich von Patientenverfügungen müssen endlich neu geregelt werden. Es herrscht verbreitete
Rechtsunsicherheit über die Auslegung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Erst gestern habe ich
es erlebt, dass eine Ärztin in einer Radiosendung angerufen hat, die gerade von einer Fortbildung über die rechtlichen Fragen in diesem Bereich kam. Mir standen die
wenigen Haare, die mir verblieben sind, wirklich zu
Berge. Was dort gesagt wurde, entsprach absolut nicht
dem, was der Bundesgerichtshof entschieden hat. Die
Rechtsunsicherheit, gerade unter den Ärzten, ist groß.
Umso mehr ist eine gesetzliche Regelung erforderlich,
um Klarheit in diesem Bereich zu schaffen.
({13})
Meine Damen und Herren, wir werden jetzt versuchen, die Anliegen, die wir in unserem Antrag formuliert
haben, mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen in einen Gesetzentwurf zu gießen. Unsere
Leitlinie ist dabei die Selbstbestimmung des Patienten.
Ich lade Sie ein, mit uns gemeinsam diesen Gesetzentwurf zu formulieren.
Vielen Dank.
({14})
Monika Knoche ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Wir brauchen diese Debatte, aber brauchen wir
auch ein Gesetz?
Es geht um das gute Sterben. Ist das Vertrauen in die
Medizin erschüttert? Ist die Gewissheit verloren gegangen, in schwersten Krankheitszuständen und in der Nähe
des Todes eine fürsorgende, angepasste medizinische
Behandlung zu bekommen? Oder ist gar das Gegenteil
der Fall? Treibt die Menschen die Angst um, übertherapiert nicht sterben zu dürfen? Wenn das der Fall wäre,
hätten wir in Deutschland einen schwerwiegenden Verlust des Humanen und eine Kulturlosigkeit des Sterbens
zu beklagen.
Das allerdings wäre mit keiner Form der Verrechtlichung der Selbstbestimmung zu beheben. Gäbe es einen
solchen Werteverfall, wäre die Propagierung von PatienMonika Knoche
tenverfügungen für Behandlungsunterlassung unmoralisch. Darum kann es nicht gehen.
Es gibt die Angst, bei einem Leben im Wachkoma, bei
fortgeschrittener Demenz die Würde, die Selbstachtung
und den Respekt anderer zu verlieren, und deshalb den
Wunsch, lieber sterben zu wollen. Trifft das alles zu?
Dann ist es die vordringlichste Aufgabe, über die Palliativmedizin, die medizinischen Behandlungsrichtlinien
und die großen Möglichkeiten der Gerontopsychiatrie
umfassend aufzuklären, um unbegründete Ängste zu nehmen.
Auch muss das Thema Pflege und Hospizarbeit zentralen Stellenwert in der Gesellschaftspolitik bekommen.
Ich weiß, Familien brauchen Hilfe und Zeit, wenn sie
mit schwerstkranken Angehörigen zusammenleben. Die
Debatte darüber steht noch aus.
({0})
Der Wunsch nach einem würdigen Leben bis zuletzt
ist mit einem abstrakten rechtsphilosophischen Diskurs
- wie weit reicht die Autonomie? - und mit einem Formular nicht zu beantworten.
Dennoch, wir sprechen über das Selbstbestimmungsrecht als den Kern des Menschenrechts - ein Grundrecht, das sich im Zustand der Hilfebedürftigkeit und
Abhängigkeit durch Krankheit bewähren muss. Daneben
geht es aber auch um die Schutzpflicht des Staates für
das Leben eines jeden und einer jeden - unabhängig davon, wie sich dieses Leben zeigt. Schon heute ist die
Einwilligung in eine medizinische Behandlung oder die
Ablehnung einer solchen auch und gerade dann, wenn
Patienten in das Endstadium einer tödlich verlaufenden
Krankheit eingetreten sind, möglich. Der Informed
Consent, die informierte Zustimmung, ist Voraussetzung für das ärztliche Tun. Deshalb ist die Angst, an
Schläuchen zu hängen oder nicht sterben zu dürfen, eigentlich nicht begründet; denn es gibt ärztliche Richtlinien zur Sterbebegleitung, die einzuhalten sind. Auch
die Angst, in Angst und Schmerz aus dem Leben zu
scheiden, sollte durch die Palliativmedizin gemindert
werden. Wir müssen also Sorge dafür tragen, dass diese
existenziellen Regeln in jedem Krankenhaus Anwendung finden und dass die Palliativmedizin stationär wie
ambulant zum Standard in Deutschland wird.
Ärzte helfen im Sterben, aber Ärzte töten nicht. Sie
töten nicht auf Verlangen, und sie assistieren nicht bei einem Suizid. Von diesem Einvernehmen gehe ich aus.
Die Bundesärztekammer hat in diesen Tagen Empfehlungen zum Umgang mit Patientenverfügungen herausgegeben. Sie sagt: Jede Behandlung hat unter Wahrung
der Menschenwürde, der Achtung der Persönlichkeit,
des Willens und der Rechte der Patienten zu erfolgen.
Sie verweist darauf, wie vielfältig die Fragen am Ende
des Lebens sind und dass hochkomplexe und sehr individuelle Situationen das Lebensende charakterisieren können und somit das Nichtwissen über das Kommende
nicht die Grundlage für eine rechtsverbindliche Verfügung sein kann.
Wenn aber ein schwerkranker Mensch über den absehbaren Verlauf seiner Krankheit weiß, muss er vorab
verfügen können: Sollte meine Krankheit in einen Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit münden, soll
meine Behandlung so oder so verlaufen. - Das ist eine
Garantie, die wir den Menschen geben müssen. Schon
heute ist das durch Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht möglich. Ich spreche also gegen eine Reichweitenbegrenzung in diesem Fall.
Ganz anders denke ich über schwere Demenz, tiefe
Depression, schizophrene oder manische Schübe und
über Wachkoma. Allesamt sind das schwere Krankheitsbilder, die oft zwingend einer Behandlung in dieser existenziellen Notlage bedürfen. Hier kann das Freiheitssubjekt nicht als Begründung für Behandlungsverzicht
greifen. Das möchte ich all den Damen und Herren des
Deutschen Juristentages sagen. Die Entscheidung zum
Suizid kann nicht als Form von Freiheit und Autonomie
qualifiziert werden. Das halte ich nachgerade für unverantwortlich.
Ohne Selbstbestimmung können wir uns als Individuen aber gar nicht denken. Die Selbstbestimmung
braucht gewissermaßen auch die Idee vom Ich. Dass
Krankheit die Identität und die Persönlichkeit ganz verändern kann oder dass man unter Umständen nie mehr
diejenige oder derjenige sein kann, als die oder der man
sich in gesunden Tagen denkt, löst tiefe Ängste aus. Gerade Menschen in unserer Kultur fürchten den Verlust
der kognitiven Fähigkeiten am meisten. Gerade deshalb
habe ich große Probleme, bei irreversiblem Bewusstseinsverlust den vorab geäußerten Willen mit Absolutheit durchzusetzen. Wenn der betreffende Mensch im
Moment der Anwendung seiner Verfügung nicht mehr
derselbe ist, dann glaube ich nicht, dass verfassungsrechtlich gesehen nichts anderes in Betracht kommt als
die Durchsetzung des vorab erklärten Willens.
Auch die Ermittlung des mutmaßlichen Willens durch
Dritte passt nicht zu meinem Verständnis von voller
Selbstbestimmung; denn es ist unerlässlicher Bestandteil
der Autonomie, sich in diesen letzten Dingen ganz zu
verschweigen. Was können Angehörige wirklich voneinander wissen? Letztlich müssen und sollen Ärzte die
Möglichkeit haben, nach Maßgabe ihrer Kunst und in
hoher ethischer Verantwortung das Richtige zu tun.
Meine Erwägungen münden bis jetzt in folgenden
Feststellungen: Wir brauchen keine bürokratische und
weitere Verrechtlichung der Situation. Wir brauchen
keine Reichweitenbegrenzung für Patientinnen und Patienten, die auf Grundlage eines Informed Consent Festlegungen treffen, wann und wie sie bei einer tödlich verlaufenden Krankheit einen Behandlungsabbruch oder
eine Änderung des Behandlungsziels wollen. Auszuschließen davon sind Patienten mit Wachkoma, Demenz
und psychischen Erkrankungen.
Diese Überlegungen finden sich derzeit in keinem der
bekannten Gesetzentwürfe wieder. Ich werbe also für einen weiteren Antrag, halte es aber für durchaus denkbar,
dass das Parlament nach ausgiebiger Beratung zu dem
Ergebnis kommt, dass es keines Gesetzentwurfes bedarf,
um die Selbstbestimmung des Menschen zu sichern.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Irmingard ScheweGerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Würde des Menschen ist unantastbar - so der Art. 1 unseres Grundgesetzes. Aber wie steht es um die Würde alter und kranker Menschen in unserem Lande? Viele können in Pflegeheimen nicht in Würde leben, andere in
Krankenhäusern nicht in Würde sterben. Eine halbe Million Menschen wird in Heimen dauerhaft künstlich ernährt, oft ohne medizinische Indikation oder gegen ihren
Willen.
({0})
In Krankenhäusern werden häufig Menschen durch die
Intensivmedizin am Sterben gehindert.
„Es hängt immer weniger von den Krankheiten selbst
ab, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärztlichen Maßnahmen“, sagt der Berliner Palliativmediziner Professor Christof Müller-Busch. So seien Sterben
und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, und
das Sterben in medizinischen Institutionen sei letztendlich immer nur dann möglich, wenn auf Maßnahmen
verzichtet werde, die zu einer - wenn auch begrenzten Lebensverlängerung beitragen könnten.
Aber gerade diese Verzichtentscheidung stellt an
alle hohe ethische Anforderungen. Solange ein einwilligungsfähiger Mensch sich äußern kann, kann er oder sie
jederzeit einen ärztlichen Eingriff ablehnen, selbst dann,
wenn als Folge der Ablehnung der Tod eintritt. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflicht anderer über sein Leben. Das heißt, niemand hat das Recht,
gegen den Willen eines Patienten oder einer Patientin
eine Behandlung durchzusetzen; ansonsten macht er sich
strafbar.
({1})
Das Selbstbestimmungsrecht bildet auch die Grundlage dafür, im Voraus Verfügungen über gewünschte
oder unerwünschte Behandlungen für den Fall einer Einwilligungsunfähigkeit festzulegen. Die Verbindlichkeit
solcher Verfügungen wurde vom Bundesgerichtshof im
Jahre 2003 ausdrücklich bestätigt. Ungefähr 8 Millionen
Menschen haben davon Gebrauch gemacht.
Trotzdem herrscht nicht nur in der Bevölkerung große
Unsicherheit. Es existiert auch viel Unkenntnis in der
Medizin und bei den Gerichten. Bei einer Umfrage hielten die Hälfte der Ärzte, aber auch ein Drittel der Vormundschaftsrichter die von einer Patientin gewollte Beendigung der künstlichen Beatmung für strafbare aktive
Sterbehilfe. Auch darum sind wir im Bundestag aufgefordert, die Patientenautonomie am Lebensende durch
gesetzliche Regelungen zu stärken und Rechtssicherheit
zu schaffen.
({2})
Meine Vorredner haben es gesagt: Das bedeutet nicht
den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Vergangenheit vielfach behauptet wurde. Es stimmt auch
nicht, dass jede Verfügung eins zu eins umgesetzt wird;
denn nur unter vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung überhaupt wirksam. Erstens. Die in der Verfügung beschriebene Situation stimmt mit der konkreten
Situation überein. Zweitens. Der Wille ist aktuell, und es
gibt keine Anzeichen einer Willensänderung. Drittens.
Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Verfügung unter Druck entstanden ist. Viertens. Es wird
keine aktive Sterbehilfe verlangt.
Anstelle einer lebensverlängernden Therapie muss
dann eine gute palliativmedizinische und pflegerische
Versorgung in den Vordergrund treten, wie sie auch in
vielen Hospizen geleistet wird. Ich habe den Eindruck,
bis dahin sind wir uns in diesem Hause einig.
Aber die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit
geführte Auseinandersetzung drehte sich doch darum, ob
eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültigkeit haben darf, dass das Leiden einen irreversibel tödlichen Verlauf haben wird, wie es auch der Vorschlag des
Kollegen Bosbach vorsieht. Genau wie vor kurzem drei
Viertel der Befragten in einer Forsa-Umfrage sage ich
dazu: Nein. Wenn ein einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille auch geachtet werden, wenn die gleiche Person
ihn im Voraus für eine bestimmte Situation festgelegt
hat, in der sie keine Einwilligung mehr geben kann.
({3})
Achtet man den Willen, der aus einer Patientenverfügung hervorgeht, nur im Falle eines tödlichen Verlaufs
des Leidens, dann bedeutet das für alle anderen eine unerlaubte Zwangsbehandlung. Eine Begrenzung der
Reichweite auf Personen mit einer irreversibel tödlichen
Krankheit lässt sich meines Erachtens nicht rechtfertigen. Sie wirft nicht nur große medizinische Probleme
auf, wie uns in den letzten Tagen die Bundesärztekammer deutlich gemacht hat; sie wäre meines Erachtens
auch ethisch ohne Begründung und verfassungsrechtlich
unhaltbar. Bevor wir ein solches Gesetz beschließen,
sollten wir wirklich ganz darauf verzichten;
({4})
denn unser Grundgesetz verbietet jede Beschränkung der
Selbstbestimmung, die nicht in der Verletzung anderer
begründet ist. Darum darf es keine Reichweitenbeschränkung geben. Ich erinnere, wie vorhin der Kollege
Kauch, an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2002 zu einem Angehörigen der Zeugen
Jehovas, der eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnte. Das gilt nicht nur in der aktuellen Situation, sonIrmingard Schewe-Gerigk
dern das gilt auch, wenn diese Person nicht mehr äußerungsfähig ist. Das wird akzeptiert, und ich frage Sie:
Warum soll ein religiös begründetes Behandlungsverbot
eines Zeugen Jehovas bedingungslos akzeptiert werden,
wenn man es für alle anderen Weltanschauungen unter
eine Bedingung stellt? Das ist doch wirklich nicht nachvollziehbar.
({5})
Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht wirkt
immer sehr formal. Fragt man die Menschen, wie sie
sich ihr Sterben vorstellen, so wünschen sich die meisten
einen Abschied vom Leben in Würde, ohne Schmerzen
und im Beisein nahestehender Menschen. Zur Würde
kann neben einer einfühlsamen Behandlung das Respektieren des Willens in einer Patientenverfügung beitragen.
Die Schmerzen können durch die Palliativmedizin weitgehend ausgeschaltet werden. Die Nähe von liebenden
Menschen aber bleibt ein Ziel.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin der Justiz,
Brigitte Zypries.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass ich in den letzten vier Jahren einmal so einer Meinung mit Ihnen, Frau Schewe-Gerigk, war wie heute.
Diese Orientierungsdebatte, die wir heute führen, ist
eine wichtige Debatte, und sie soll Aufschluss über das
geben, was Frau Schewe-Gerigk ganz zum Schluss gesagt hat, nämlich über die Frage, ob wir wirklich ein Gesetz brauchen oder nicht. Ich würde Ihnen und Herrn
Stünker, der das heute Morgen auch schon gesagt hat,
zustimmen: Ehe wir ein Gesetz machen, das eine Reichweitenbegrenzung vorsieht und damit, wie ich meine,
verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre, sollten wir besser kein Gesetz machen.
({0})
Die Erwartungen, die die Menschen in unsere Debatte
heute und überhaupt zu diesem Thema haben, sind sehr
hoch. Es gibt kein anderes Thema, das die Menschen so
bewegt und zu dem wir so viel Post bekommen. Wir haben 700 000 Exemplare unserer Broschüre zur Patientenverfügung in den letzten zweieinhalb Jahren in
Deutschland verschickt. Sie sehen, da besteht ein echter
Bedarf. Der Anlass dafür ist, wie Herr Bosbach heute
Morgen aufgezeigt hat - da sind wir uns im Befund einig -,
dass wir eine ausdifferenzierte Apparatemedizin haben,
die die Lebensverlängerung in einem hohen Maße erlaubt und die, so schön sie in einer Notfallsituation ist,
vielen Menschen am Ende ihres Lebens Angst macht.
Die Menschen haben Angst davor, dass das, was früher
üblich war, nicht mehr geschieht, nämlich dass man dem
Lebenslauf entsprechend friedlich aus dem Leben scheidet, dass ein Mensch, der alt ist und dessen Herz einen
Stillstand hat, nicht so, wie es früher war, stirbt, sondern
dass er im hohen Alter wiederbelebt und an Apparate angeschlossen wird. Diese Bedenken haben die Menschen.
Der Segen dieser Medizin macht gleichzeitig Angst.
({1})
Ich meine, es muss darum gehen, den Menschen diese
Angst zu nehmen und ihnen die Gewissheit zu geben,
dass ihr Selbstbestimmungsrecht auch in denjenigen Situationen gilt, in denen sie sich nicht mehr äußern können. Wir sind uns einig: Solange man reden kann, solange man durch Gesten bedeuten kann, was man will,
so lange darf niemand gegen seinen Willen behandelt
werden. Das ist Konsens hier im Haus. So viel ist klar.
({2})
Das ist im Übrigen Rechtsprechung und Rechtslage in
Deutschland, und es kann deshalb nur Konsens hier im
Hause sein.
Herr Bosbach, wenn ich es richtig verstanden habe,
sagen Sie: Wenn eine Krankheit ärztlicher Diagnose entsprechend einen irreversibel tödlichen Verlauf zu nehmen droht, dann soll man wieder entscheiden dürfen,
wie man behandelt bzw. wie man nicht behandelt werden will. Zu dem Zeitraum dazwischen sagen Sie: Das
ist eine Phase des Lebens, in der man im Zweifel nicht
entscheiden kann. Ich habe noch nicht verstanden, wie
Sie das legitimieren.
Sie haben in Ihrer Rede vorhin Folgendes gesagt - ich
habe mitgeschrieben -: Wir können den tödlichen Verlauf einer Krankheit nicht gleichsetzen mit heilbaren
Krankheiten. Dazu kann ich nur sagen: Selbstverständlich. Jeder Mensch, der eine heilbare Krankheit hat,
kann heute festlegen, dass er nicht geheilt, dass er nicht
behandelt werden will. Es gibt den Fall der Zeugen
Jehovas, die das aus religiösen Gründen nicht wollen,
und es gibt andere Menschen, die es aus anderen Gründen nicht wollen. Das ist vom Selbstbestimmungsrecht
des Menschen umfasst.
Sie sagen: Der Wille wurde zuvor festgeschrieben;
wir wissen aber nicht, ob das der aktuelle Wille ist; deshalb wollen wir uns vorsichtshalber einmal nicht danach
richten, sondern andere darüber entscheiden lassen. Ich
frage Sie: Was machen Sie denn, wenn es noch der aktuelle Wille ist und Sie gegen den Willen des Betroffenen
handeln?
({3})
Ich meine, dieser Ansatz kann nicht richtig sein.
Man sollte nicht davon ausgehen, dass man es selbst
- oder andere - in solchen Situationen, in solchen Phasen des Lebens, besser weiß
({4})
und dass man deshalb anstelle der Betroffenen entscheidet. Dazu sage ich Nein; das kann nicht sein. Nach
Art. 2 Grundgesetz usw. hat man das Recht, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wie man behandelt werden will. Das muss auch für den Moment gelten, in dem
man es nicht mehr selbst artikulieren kann, in dem aber
etwas Antizipiertes, etwas vorher Aufgeschriebenes vorliegt.
({5})
Wir können uns dann gern wieder darüber verständigen, welche Anforderungen an eine solche Patientenverfügung zu stellen sind. Was heißt das? Wir haben
festgestellt - das hat auch Herr Stünker in seinem Entwurf formuliert -: Sie muss schriftlich sein; sie kann jederzeit mündlich widerrufen werden; die Situation soll
nicht durch irgendwelche formalen Vorschriften erschwert werden. Auch wir sind der Auffassung, dass
man klarmachen muss, dass es sich in der Tat um den aktuellen Willen einer Person handelt. Schließlich muss
eine Patientenverfügung zur Überzeugung des Arztes
den Willen des Patienten dokumentieren, und dazu gehört eben, dass sie nachvollziehbar ist, dass die Willenserklärung aktuell ist. Deswegen wird empfohlen, dass sie
alle zwei Jahre neu unterschrieben wird.
Den Vorschlag zur Patientenverfügung in der Broschüre des Bundesministeriums der Justiz halte ich im
Übrigen für sehr gut. Vorgeschlagen wird, eine gewisse
Gesamtschau des Lebens vorzunehmen. Ob ein 85-Jähriger eventuell einen weiteren Herzinfarkt bekommt oder
ob jemand mit Anfang 50 für den Fall Vorsorge trifft,
seinen ersten Herzinfarkt zu bekommen, ist ein Unterschied. Die Lebenssituationen können ganz unterschiedlich sein. Die Position der Betroffenen dazu ist daher
eine andere.
Im Übrigen gilt: Es ist immer sinnvoll, einen Bevollmächtigten zu bestellen. Das sollte man schon heute
tun, unabhängig von diesem Gesetzgebungsvorhaben;
denn es ist keineswegs so, dass Ehepartner oder Kinder
automatisch entscheiden können. Sie können nur entscheiden, wenn sie bevollmächtigt sind. Deswegen sollte
eine Vorsorgevollmacht auf alle Fälle vorliegen. Der Bevollmächtigte kann dann zusammen mit dem behandelnden Arzt den Willen des Patienten deutlich machen,
wenn es um die Auslegung der Patientenverfügung geht.
Sie ist nämlich selbstverständlich - wie alle anderen
schriftlichen Willenserklärungen - im Zweifel auslegungsbedürftig und natürlich auch - um das ganz klar zu
sagen - auslegungsfähig.
Man kann sich also auch nicht auf den Standpunkt
stellen: Da ist ein Halbsatz nicht deutlich genug; deswegen gilt das alles nicht. - Man muss schon aus dem, was
zum Ausdruck kommt, am besten auch aus einer Gesamtschau des Lebens und der Situation, in der sich der
Patient befindet, heraus argumentieren und - im Zusammenwirken von Arzt und Bevollmächtigten - zu dem Ergebnis kommen: Das scheint plausibel zu sein; das ist
das, was der Patient gewollt hat.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Wolfgang Bosbach das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben mich direkt angesprochen.
Sie sagten, Sie verstünden die Argumentation nicht, Sie
verstünden nicht, warum wir in dem Gruppenantrag einen Unterschied machen, was den Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung angeht. Deswegen will ich
es noch einmal ganz kurz erläutern.
Selbstverständlich ist es ein Unterschied, ob jemand
an einer Krankheit leidet, die unaufhaltsam zum Tode
führt - es ist zwar nicht bekannt, wann der Tod eintreten
wird, aber man weiß: Trotz aller ärztlichen Kunst wird
der Patient nicht mehr zu heilen sein -, oder an einer
Krankheit, die man therapieren kann, an der er nicht sterben muss.
Wenn man sagt: „Wir machen keinen Unterschied
zwischen der vorweggenommenen Willenserklärung und
der akuten Willenserklärung“, dann muss man auch die
Haltung einnehmen: Es macht keinen Unterschied, ob
ein Patient sich für oder gegen eine Behandlung entscheidet in einer konkreten Krankheitssituation, die er
also kennt, die er persönlich erfährt, erleidet, in der er
vom Arzt über Chancen und Risiken aufgeklärt werden
kann, oder in einer Situation Jahre zuvor. - Darin sehen
die Verfasser des Gruppenantrags aber tatsächlich einen
Unterschied.
Wir wollen die ärztliche Aufklärung nicht zur Voraussetzung machen - der Auffassung sind wir übereinstimmend -, sondern - in Anführungszeichen - nur die
Schriftform. Wenn jemand in einer Situation, die er nicht
kennt, die er gar nicht kennen kann - jedenfalls ist das in
den allermeisten Fällen so -, in der es keine ärztliche
Aufklärung gibt - zu dem Zeitpunkt weiß er auch gar
nicht, ob es zum Zeitpunkt des Krankheitseintritts Heilungschancen, neue Therapiemöglichkeiten geben wird,
die jetzt noch unbekannt sind -, eine Erklärung abgegeben hat - es handelt sich um eine vorweggenommene Erklärung -, dann ist das anders zu bewerten, als wenn wir
es mit dem aktuellen Willen des Patienten zu tun haben,
der immer, unter allen Umständen beachtlich ist.
Ein Beispiel aus der Nachbarschaft, aus einem Krankenhaus in meinem Wahlkreis: Eine ältere Patientin wird
drei Tage künstlich beatmet. Die künstliche Beatmung
kann dann abgestellt werden, weil sie wieder selbstständig atmen kann. Sie macht dem Arzt - in Anführungszeichen - einen Vorwurf. Sie sagt, sie habe doch eine Patientenverfügung. Die hatte sie in ihrem Handgepäck mit
ins Krankenhaus gebracht. Sie war den Ärzten aber nicht
bekannt. Daraufhin hat der Arzt gefragt, ob er nun einen
Fehler gemacht habe. Die Patientin antwortete, nein, sie
sei heilfroh, dass man ihre Patientenverfügung nicht gefunden habe. Die Patientin ist aus dem Krankenhaus entWolfgang Bosbach
lassen worden. Sie hat noch zweieinhalb Jahre gelebt
und ihre Enkel weiter aufwachsen sehen. Sie ist dann
friedlich eingeschlafen.
Das Beispiel zeigt den Grund dafür, dass ich vorhin in
einem Halbsatz gesagt habe: Wir können doch nicht
blind darauf vertrauen, dass eine vorweggenommene Erklärung exakt dem Willen zum Zeitpunkt der Äußerungsunfähigkeit entspricht. Wohlgemerkt: Es kann sein,
Frau Zypries, dass es der aktuelle Wille ist; er muss es
aber nicht sein. Der aktuelle Wille kann ein anderer sein.
({0})
Deswegen sagen wir: im Zweifel für das Leben.
({1})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Zypries.
Herr Bosbach, ich glaube, es sind zwei verschiedene
Themen, die Sie ansprechen. Ihnen geht es zum einen
um die Frage: Wie alt darf eine Patientenverfügung sein,
oder wie aktuell muss sie sein? Sie heben darauf ab - das
habe ich hinsichtlich der Differenzen herausgehört -,
dass ein Wille geäußert wird und erst viele Jahre später
ein solcher Krankenhausaufenthalt folgt. Das war das,
worüber wir auch schon gesprochen haben. Es muss
schon ein möglichst aktueller Wille sein.
Auf die andere Frage bin ich in meiner Rede bereits
eingegangen. Sie sagen: Es kann sein, dass es der aktuelle
Wille ist; es muss aber nicht der aktuelle Wille sein. - Ich
frage Sie umgekehrt: Was machen Sie, wenn es der aktuelle Wille ist? Sie behandeln dann gegen den Willen des
Patienten.
({0})
Das ist das, was ich problematisch finde. Darüber kommen Sie auch nicht hinweg. Sie müssen dann schon sagen: Normalerweise respektiere ich den Willen, aber in
solchen Situationen eben nicht.
Da sage ich: Im Zweifel entscheidet jemand anders.
({1})
Sie können gar nicht wissen, was der Betroffene denkt
oder will; denn er kann sich ja nun gerade nicht äußern.
({2})
- Ich gehe davon aus, dass er eine solche Situation antizipiert hat, sich bei Ärzten Informationen geholt hat
- das empfehlen wir ja auch -, sich Gedanken darüber
gemacht und dann eine Festlegung getroffen hat. Ich
gebe zu, dass das keine einfache Situation ist; das habe
ich auch nie behauptet. Ich habe nie gesagt, dass es einfach ist, eine Patientenverfügung zu verfassen; im Gegenteil. Ich habe vor unserer Broschüre gesessen. Ich
habe Stunden gebraucht. Das ist nicht einfach. Das ist
so. Man muss sich wirklich mit Grenzsituationen beschäftigen. Aber wenn sich jemand dazu durchgerungen
hat, zu erklären: „Das ist das, was ich will“, dann, finde
ich, muss das von anderen respektiert werden, genauso,
wie wenn er sich noch äußern könnte.
({3})
Der Vorzug dieser Intervention und der Erwiderung
liegt vielleicht darin, dass das Abwägungsproblem noch
einmal verdeutlicht wurde, für das es eine rundum überzeugende Lösung vermutlich nicht gibt.
Nun hat das Wort der Kollege Wolfgang Zöller für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder Mensch hat seinen eigenen Glauben, seine eigenen
Überzeugungen und Wertvorstellungen, die wir respektieren und schützen müssen, vom Anfang bis zum Ende.
Unser Handeln muss dieser Vielfalt gerecht werden.
Erfreulicherweise ist in der Diskussion heute früh
festzustellen, dass wir uns in den Zielen einig sind, nämlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar vom Anfang bis zum Ende seines Lebens, und Sterben ist ein
Teil des Lebens. - Die Menschenwürde gebietet uns, die
Selbstbestimmung der Patienten vor unberechtigten
Eingriffen Dritter zu schützen und auch zu fragen: Wie
kann ich dem Patienten die Unsicherheit und die Ungewissheit nehmen bezüglich seiner Frage, was mit ihm
geschieht, wenn er nicht mehr entscheidungsfähig ist,
und wie kann ich ihm die Angst nehmen, dass er
zwangsbehandelt wird oder es in einer unwürdigen Behandlung oder Pflege endet? Dem Wunsch nach Zulassung der aktiven Sterbehilfe ist Einhalt zu gebieten;
zugleich ist auf die Verbesserungen der palliativmedizinischen und hospizlichen Versorgungsstrukturen hinzuweisen.
({0})
Es geht auch um die Frage: Welche gesetzlichen Vorgaben sind notwendig, um Rechtssicherheit zu gewährleisten?
Wie kann man diese Ziele am besten umsetzen? Ich
habe Bedenken, wenn man mit Einzelbeispielen versucht, seinen Standpunkt zu belegen.
({1})
Es gibt für die unterschiedlichsten Ansichten jeweils zutreffende Einzelbeispiele. Weil dies so ist, bin ich persönlich der Meinung, dass man diese Vielfalt nicht sauber gesetzlich regeln kann.
({2})
Das Handeln muss sich nämlich am Wohl des Patienten
ausrichten und darf nicht von der Angst vor der Staatsanwaltschaft bestimmt sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe,
ebenso wie der Bundesgerichtshof, einen Auftrag an den
Gesetzgeber im Zusammenhang mit Patientenverfügungen nur insoweit, als die Rolle der Vormundschaftsgerichte geklärt werden soll.
({3})
Für mich sind die Vormundschaftsgerichte immer dann
zuständig, wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen Arzt und Betreuer des Patienten über den Willen
des Patienten gibt. Das und nur das bedarf meiner Ansicht nach einer gesetzlichen Klarstellung.
({4})
Ich halte die Vorschläge der Bundesärztekammer und
deren Zentralen Ethikkommission für zielführend, die
eine besondere Bedeutung der Vorsorgevollmacht beimessen, mit der ein Patient eine Person seines Vertrauens zum Bevollmächtigten in Gesundheitsangelegenheiten erklärt. Ich darf zitieren:
Damit hat der Arzt einen Ansprechpartner, der den
Willen des Verfügenden zu vertreten hat und der bei
der Ermittlung des mutmaßlichen Willens mitwirkt.
Herr Stünker, da bin ich anderer Auffassung als Sie;
denn im zweiten Satz heißt es:
Die Praxis hat gezeigt, dass ein grundsätzlicher Unterschied besteht, ob Menschen in gesunden Tagen
und ohne die Erfahrung ernsthafter Erkrankung
eine Verfügung über die Behandlung in bestimmten
Situationen treffen oder ob sie in der existenziellen
Betroffenheit durch eine schwere, unheilbare
Krankheit gefordert sind, über eine Behandlung zu
entscheiden.
Deshalb halte ich eine Kombination aus Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung für ratsam; ich würde sie
einer Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht vorziehen.
Aus diesem Grund plädiere ich dafür, wirklich nur
das unbedingt Notwendigste gesetzlich zu regeln. In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die die
Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Menschen respektiert und fördert, verbietet sich jede Überregulierung. Wir sollten uns darauf beschränken, die
Rolle des Vormundschaftsgerichts zu klären und nicht
mehr.
Lassen Sie mich mit einer Bemerkung schließen. Ich
denke in diesem Zusammenhang oft an den verstorbenen
Papst Johannes Paul II. Laut einem offiziellen Bericht
des Vatikans sprach Johannes Paul II als letzte Worte am
2. April 2005 um 15.30 Uhr auf Polnisch: „Lasst mich
zum Haus des Vaters gehen“. Vier Stunden später fiel er
ins Koma, sechs Stunden später starb er im Alter von
84 Jahren in seinen Privaträumen. Einen erneuten Krankenhausaufenthalt und intensivmedizinische Behandlung hatte er abgelehnt. Dieser Wille ist respektiert worden - ohne das Vorliegen einer Patientenverfügung,
ohne vorhergehendes Konzil und ohne Anrufung eines
Vormundschaftsgerichts.
({5})
Die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist
die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Zöller, ich möchte gleich an Ihre
letzte Bemerkung anschließen: Der Papst hatte zwar
keine schriftliche Patientenverfügung verfasst; aber sein
Wille war bekannt. Er hatte mündlich gesagt, er wolle
nicht auf einer Intensivstation mit lebensverlängernden,
jedoch nicht heilenden Maßnahmen gequält werden.
Aber wenn genau darüber sich jeder Einzelne schon
vorher Gedanken macht und sich damit auseinandersetzt, nicht erst in dieser letzten Phase des Lebens, sondern sehr viel früher, dann ist es doch sehr wichtig und
gut, wenn er seinen Willen in einer Patientenverfügung
schriftlich niederlegt,
({0})
und zwar möglichst ausführlich. Denn viele Beispiele
- allein anhand von Beispielen kann man diese Debatte
allerdings nicht führen - zeigen, dass sich aus Patientenverfügungen nicht klar genug ergibt, was im Zustand des
vollen Bewusstseins tatsächlich verfügt worden ist, als
man sich mit diesen schwierigen Fragen beschäftigt hat:
mit Blick auf einen Unfall mit Bewusstseinsverlust,
schwersten Verletzungen, möglicherweise mit Komafolge oder auch mit Blick auf eine Erkrankung, die nicht
heilbar ist, aber vielleicht einen ganz unterschiedlichen
Verlauf nehmen kann.
Ich denke, dass unabhängig von jedweder rechtlichen
Regelung den Bürgerinnen und Bürgern gesagt werden
muss, dass sie sich, wenn sie eine Patientenverfügung
verfassen, sehr intensiv und gründlich mit den Fragen,
die wir hier ansprechen und die jetzt in vielen Zeitschriften und Medien teilweise ganz hervorragend dargelegt
werden, befassen müssen. Beim Abfassen einer Patientenverfügung gibt es kein Multiple-Choice-Verfahren,
sondern es sollte möglichst konkret das wiedergegeben
werden, was man selbst denkt, empfindet, meint und an
Wünschen und Erwartungen im Hinblick auf eine Situation hat, in der man nicht mehr einwilligungsfähig ist.
Deswegen spreche ich mich ganz deutlich dafür aus,
dass eine solche schriftlich abgefasste Patientenverfügung in ihrer Reichweite, ihrer Wirkung nicht beschränkt werden darf.
({1})
Denn welche Rolle soll eine solche Vorausverfügung
sonst spielen? Wenn das Niedergelegte im Ernstfall nicht
gilt, dann brauche ich diese Patientenverfügung, die
mein Selbstbestimmungsrecht konkretisiert und zum
Ausdruck bringt, wirklich nicht.
({2})
Ich glaube, darin liegt einer der Hauptunterschiede bei
der Bewertung der Bedeutung der Patientenverfügung.
Die vielen als Beispiele angeführten Fälle, in denen es
aus heutiger Sicht vielleicht doch richtig war, dass man
die Patientenverfügung nicht beachtet hat, machen deutlich, dass letztendlich immer Dritte über das entscheiden, was in dieser schwierigsten Phase mit einem selbst
passieren soll. Wenn man für Selbstbestimmung anstelle
von Fremdbestimmung eintritt und damit gegen eine
Zwangsbehandlung und gegen eine Lebensverlängerung
um jeden Preis ist, dann muss man sich für eine Patientenverfügung aussprechen, die diese inhaltliche Beschränkung nicht enthält.
({3})
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Daran kann man die
unterschiedlichen Positionen in dieser Debatte und auch
bei der anstehenden Beratung über - wahrscheinlich zwei unterschiedliche Gruppenanträge festmachen.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, den Sie, Herr
Zöller, und auch Sie, Frau Knoche, bereits angesprochen
haben. Ich bin der Meinung, dass wir eine gesetzliche
Regelung brauchen, die den wichtigen Punkt behandelt,
wie sich eine Patientenverfügung auswirken soll.
({4})
Es besteht Unsicherheit bei der Frage, wann das Vormundschaftsgericht angerufen werden soll; denn es gibt,
auf Einzelfällen beruhend, sehr unterschiedliche Entscheidungen unterer Instanzen, aber auch des Bundesgerichtshofs. Der Bundesgerichtshof selbst sagt, dass seine
Rechtsprechung etwas unübersichtlich ist. Wie sollen
denn Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige, die mit gutem Willen und den besten Absichten handeln wollen, in
einer konkreten Situation eine Entscheidung treffen können, die von einer Einzelfallentscheidung des Bundesgerichtshofs abgedeckt wird?
({5})
Ich will doch nicht einen Anwalt am Krankenbett haben.
Ich will doch nicht, dass die rechtliche Beratung im Vordergrund steht. Die Menschen dürfen nicht in rechtlicher
Unsicherheit handeln, weil sie Angst haben müssen, dass
es, auch wenn sie wohlmeinende Gründe für ihr Handeln
hatten, zu einem Verfahren vor einem Strafgericht kommen kann. Damit kann vielleicht sogar die Existenz eines Arztes vernichtet werden. Erst in zweiter und dritter
Instanz könnte dieses Unrecht gegebenenfalls korrigiert
werden.
({6})
Ich spreche mich daher ganz eindeutig für eine gesetzliche Regelung aus. Ich glaube, dass eine solche Regelung nicht überbürokratisch ist. Wir können uns auf
die wichtigsten Kernpunkte beschränken. Man muss
aber auch deutlich machen, von welchem Bild des Menschen, der über sich verfügt und seinen Willen formuliert, man bei einer solchen gesetzlichen Regelung ausgeht. Ich denke, dass das, was in unserem Antrag
formuliert ist und was aus einem früheren Gesetzentwurf
des Bundesjustizministeriums stammt - auch aus Ihren
Worten, Herr Stünker, ging dies hervor -, nach meiner
Einschätzung und nach Überzeugung der Liberalen die
Grundlage ist, auf der wir handeln und einen Vorschlag
für eine gesetzliche Regelung machen sollten.
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke ist die nächste Rednerin
Frau Dr. Jochimsen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich findet diese Debatte statt. Endlich holen wir das
große Thema „Tod und Sterben“ vom verdrängten Rand
in die Mitte unseres politischen Denkens und Handelns.
({0})
In alten Texten finden wir immer wieder den Satz: Er
fühlte seinen Tod nahen, rief die Seinen zusammen, regelte die weltlichen Dinge und nahm Abschied. - Wie
viel Würde enthält diese Beschreibung! Diese Würde haben wir in unserer den Tod und das Sterben aus dem Bewusstsein verdrängenden Gesellschaft weitgehend verloren, was es schwer macht, sie jetzt zurückzuholen - auch
weil die Situationen am Lebensende heute so komplex
und individuell sind, wie sie es noch nie zuvor waren.
Aber eine gesetzlich verbindliche, allen Menschen
bekannt gemachte und für alle verlässliche Regelung zu
selbst bestimmten Entscheidungen über medizinische
Behandlung am Lebensende eröffnet uns jetzt diese
Möglichkeit. Es geht um eine Kernfrage der durch das
Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Individuums: um das Recht auf Selbstbestimmung über den
eigenen Körper.
({1})
Seit Jahren kennen wir die grundsätzlich verbindliche
Patientenverfügung, in der schriftlich festgelegt ist, welche Therapie der Verfügende sich wünscht und welche er
ausschließt. Nun geht es darum, dass diese Patientenverfügung endlich gesetzlich geregelt wird. Ich halte diesen
Schritt für überfällig und folgende Einzelheiten für notwendig:
Erstens. Niemand darf dazu gedrängt werden, eine
Patientenverfügung zu verfassen.
({2})
Zweitens. Jede Person, die eine Verfügung verfasst
hat, muss sicher sein, dass diese Verfügung geachtet und
umgesetzt wird.
({3})
Drittens. Die Abfassung der Verfügung muss schriftlich erfolgen, und die Verfügung muss jederzeit - auch
mündlich - widerrufen werden können.
({4})
Insofern halte ich den Fall, der vorhin beschrieben
wurde, was nämlich Mediziner mit Patienten machen,
die bei Bewusstsein sind, eine Patientenverfügung dabeihaben, nun aber etwas anderes wollen, nicht für einen
Fall, der uns zu belasten hat.
({5})
Denn ein Wille ist vorhanden; er kann geäußert werden.
Der Wille steht dann natürlich über der vorhandenen Patientenverfügung.
Viertens. Die Verfügung sollte so konkret und aktuell
wie möglich sein: Will ich künstlich ernährt werden oder
nicht? Soll eine auftretende Lungenentzündung mit Antibiotika behandelt werden oder nicht? Soll mein jetziger
Wille auch gelten, wenn ich an Demenz erkranke, oder
nicht? - Wir fordern viel von Ärzten und Pflegern in den
Situationen zwischen Leben und Tod. Da haben sie ihrerseits das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten
wollen.
Es geht eben im Grundsatz darum - Frau
Leutheusser-Schnarrenberger hat das gesagt -, dass sich
jeder von uns in allen Lebensphasen damit auseinandersetzt, ob er sich, durch einen plötzlichen Unfall oder eine
tödliche Krankheit getroffen oder in schwerem Siechtum
gefangen, lebensverlängernden Maßnahmen unterziehen will oder nicht und, wenn ja, in welchem Umfang.
Jeder muss diese Auseinandersetzung vollziehen. Nur
wer sich dieser Auseinandersetzung stellt, kann auf seinem Selbstbestimmungsrecht bestehen.
Soll die Patientenverfügung eines 20-Jährigen auch
noch 60 Jahre später gelten? Diese Frage hätte ich gern
so beantwortet: Zum eigenen Schutz, zur eigenen Rechtfertigung und zur eigenen Klarstellung sollte jeder seine
Verfügung alle drei bis fünf Jahre erneuern.
({6})
Nennen wir das doch nicht eine Zumutung. Wenn es um
unsere Telefonverträge, unsere Versicherungspolicen
und die Fahrtüchtigkeit unserer Autos geht,
({7})
dann sind solche Aktualisierungen selbstverständlich.
Warum dann ausgerechnet nicht bei solch existenziellen
Fragen wie schwerster Krankheit und Sterben?
Die Verfügung soll jederzeit veränderbar sein, den
Phasen des individuellen Lebens angepasst. Sie sollte
auch - das wäre die fünfte Forderung - für jeden Zeitpunkt eines Krankheitsverlaufes verändert werden können. Es darf keine Zwangsbehandlung geben, auch nicht
bei Personen, die nicht einwilligungsfähig sind.
({8})
Sechstens. Liegt eine schriftliche Patientenverfügung
vor, die konkret auf die Behandlungssituation anwendbar ist, dann ist das kein Fall für das Vormundschaftsgericht.
({9})
Vormundschaftsgerichte sollten nur noch im Fall von
Konflikten zwischen Ärzten, Betreuern und Angehörigen angerufen werden.
Das wären aus meiner Sicht die wichtigsten Einzelheiten der gesetzlichen Regelung. Im Übrigen muss sie
aber auch unbedingt Teil einer großangelegten Aufklärungskampagne sein; da stimme ich dem FDP-Antrag
nachdrücklich zu. Die Grundsatzfragen von Sterben und
Tod waren in unserem Lande lange tabu; das liegt auch
an der mangelnden Auseinandersetzung mit den Todesapparaten der nationalsozialistischen Diktatur. Sie sind
immer noch tabu, weil die Gesellschaft sehr säkular und
materialistisch geworden ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat sich mit dem Thema Patientenverfügung
bisher nicht befasst. Viele Menschen haben ganz irrige
Vorstellungen und wenig Wissen.
Eine gesetzliche Regelung ist jetzt das Wichtigste,
genügt allein aber nicht. Diese Debatte heute könnte der
Anfang für eine Wende, einen neuen Umgang mit Alter,
Krankheit, Sterben und Tod unter dem Schild der freiheitlichen Selbstbestimmung und des sie schützenden
Rechts sein. Sie muss aber auch das Thema „Schmerztherapie für Sterbende“ neu aufgreifen. Immer noch
müssen Sterbende in unserem Land Schmerzen erleiden,
die medizinisch nicht sein müssten, wodurch ihnen das
Sterben oft schwer gemacht wird. In diesem Land die
Möglichkeit zu schaffen, selbstbestimmt und schmerzfrei zu sterben, ist eine Aufgabe für uns alle. Meine
Fraktion ist bereit, daran aktiv mitzuarbeiten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Josef Winkler für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe in meinem erlernten Beruf als Krankenpfleger in
den letzten fünf Jahren vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag in einer Abteilung gearbeitet, in der
sich sehr viele an Demenz, also an Krankheiten wie Alzheimer erkrankte Patienten befanden.
In diesen Jahren habe ich immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die im Anfangsstadium ihrer
Krankheit noch relativ geringe Ausfallerscheinungen
hatten, im weiteren Verlauf aber einen fast vollständigen
Gedächtnis-, häufig auch Bewusstseinsverlust erlitten.
Wenn später eine schwere Demenz eingetreten ist, waren
diese Patienten oft von einer sehr ausgeglichenen,
freundlichen, oft fröhlichen Lebensweise geprägt, was
sich Gesunde, die nicht mit Dementen zu tun haben, oft
überhaupt nicht vorstellen können.
({0})
Das gilt aber auch für andere Erkrankungen. Dass
Kranke anders denken als Gesunde, wurde heute schon
mehrfach gesagt.
In der Öffentlichkeit und in diesem Hause wird immer wieder die Forderung aufgestellt, man müsse bei
dieser oder anderen Erkrankungen die Möglichkeit
schaffen, mit einer Patientenverfügung die medizinische
Behandlung von Sekundärerkrankungen wie Lungenentzündung oder Ähnliches auszuschließen. Ich halte das
für eine absolut nicht unterstützenswerte Forderung.
({1})
Wenn ich mir die Fälle, die ich beurteilen kann, weil
ich sie selbst miterlebt habe - es handelt sich nicht nur
um Fälle, in denen Menschen an Demenz erkrankt sind -,
vor Augen führe, muss ich sagen, dass wohl sehr viele
dieser Patienten in der Anfangsphase ihrer Erkrankung
weitreichende Patientenverfügungen unterschrieben hätten, wenn dies damals üblicher gewesen wäre. Sie wären
sicherlich der festen Überzeugung gewesen, dass sie in
einem bestimmten, späteren Stadium ihrer Krankheit
nicht mehr am Leben erhalten werden wollten. Wir müssen uns aber immer vor Augen halten, was es heißt,
wenn man dieser Forderung folgen würde: Das Leben eines nicht mehr äußerungsfähigen Menschen würde aufgrund von Entscheidungen, die er zwar selbst getroffen,
an die er sich aber nicht mehr erinnern kann, die ihm
nicht mehr bewusst sind, vorzeitig beendet;
({2})
denn der wirklich aktuelle Wille, der nicht mehr geäußert werden kann, würde nach dem Willen mancher hinter der oft nicht mehr aktuellen Willensbekundung in einer Patientenverfügung zurückstehen müssen. Das wäre
aus meiner Sicht die Beendigung eines Lebens durch
Dritte und nicht die erwünschte Hilfe beim Sterben.
({3})
Deshalb will ich ganz offen bekennen, dass ich daran
zweifele, ob die Regelung, die die Kollegen Bosbach,
Röspel, Fricke, andere Kollegen und ich für die, wenn
man so sagen will, noch schlimmeren Fälle, für Wachkomapatienten und Schwerstdemente, die wohl endgültig ohne Bewusstsein, aber eben keine Sterbenden sind,
erarbeitet haben, ein wirklich gangbarer Kompromiss ist.
({4})
Zu den konkreten Vorschlägen, die sich auf tatsächlich Sterbende beziehen. Wir schlagen in diesem Zusammenhang vor, dass, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die eine Hilfe beim Sterben verlangt, und die
Krankheit nach ärztlicher Meinung vermutlich einen
irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat, von lebenserhaltenden Maßnahmen abzusehen ist. Es ist natürlich auch der Fall denkbar, dass zwar ein irreversibel
tödlicher Verlauf vorliegt, aber keine Patientenverfügung zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen abgefasst wurde. Wenn dieser Wunsch nach Meinung des
Betreuers vorliegt, sollte das - das schlagen wir vor - in
einem Konsil aus ärztlichem und Pflegepersonal gemeinsam mit dem Betreuer und den Angehörigen geklärt
werden. Falls danach der mutmaßliche Wille zwischen
Arzt und Betreuer einheitlich gesehen wird, sind die lebenserhaltenden Maßnahmen ebenfalls einzustellen, und
zwar ohne dass sich das Vormundschaftsgericht damit zu
befassen hat.
Den nach Meinung des Betreuers mutmaßlichen Willen des Patienten auf Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen aber auch dann gelten zu lassen, wenn keine
irreversibel tödliche Erkrankung vorliegt, würde meiner
Meinung nach das Gleichgewicht zwischen den mehrfach angesprochenen Verfassungswerten „Recht auf
Selbstbestimmung des Patienten“ auf der einen Seite und
„Verpflichtung zum Schutz des Lebens und der Würde
des Menschen“ auf der anderen Seite zerstören.
Deshalb muss meiner Meinung nach nicht nur die
Reichweite von Patientenverfügungen, sondern auch die
Reichweite des sogenannten mutmaßlichen Willens in
ihrer Wirkung eingeschränkt werden, wenn es nicht um
Krankheiten geht, die einen irreversibel tödlichen Verlauf genommen haben. Diese dürfen meiner Meinung
nach keinesfalls in unbeschränkter Form zulässig sein.
Dafür werde ich mit den anderen Kolleginnen und Kollegen, die sich in dieser Form äußern, im weiteren parlamentarischen Verfahren werben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Millionen
Menschen - auf die hohe Zahl ist schon hingewiesen
worden - haben eine Patientenverfügung unterschrieben.
Sie haben sich sorgfältig Gedanken darüber gemacht,
was mit ihnen geschehen soll, wenn sie nicht mehr einwilligungsfähig sind. Wir diskutieren hier heute darüber,
ob diese vielen Patientenverfügungen gelten sollen oder
nicht. Darum geht es in dieser Debatte, wenn wir über
Reichweitenbeschränkungen sprechen. Deshalb sollten
wir dieses Thema so ernst nehmen, wie es die Sache gebietet.
Eine solche Debatte wird bei uns Abgeordneten des
Bundestages genauso verlaufen wie bei jedem anderen
Menschen: Wir schließen von uns auf andere. Das ist bei
einer so wichtigen Angelegenheit mehr als angemessen.
Deshalb will ich nicht verheimlichen, dass ich selbst
eine Patientenverfügung unterschrieben habe und dass
ich in dieser Patientenverfügung Festlegungen getroffen
habe, die nach der möglichen Umsetzung einiger Gesetzesvorschläge, die heute anberaten werden, nicht mehr
wirksam sein würden. Insofern können Sie sich vorstellen, dass sich mit mir viele Hunderttausende - vielleicht
auch Millionen - Menschen Sorgen machen, dass etwas,
was sie sich gut überlegt haben, nicht mehr gelten soll,
weil andere, insbesondere der Deutsche Bundestag, es
besser wissen wollen.
({0})
Ich kann mich damit nicht abfinden - und bin mir übrigens sicher, dass viele andere das auch nicht tun werden
und dass sie, falls der Bundestag ihnen mit seiner Weisheit nicht hilft, das Bundesverfassungsgericht um Hilfe
bitten werden.
({1})
Da wiederum bin ich mir sicher, dass manche der hier
zur Beratung stehenden Gesetzesvorschläge mit unserer
Verfassung nicht vereinbar sind und deshalb vor Gericht
keinen Bestand haben würden.
({2})
Gestatten Sie mir, ganz kurz auf Aspekte einzugehen,
die in dieser Debatte eine Rolle spielen. Einer hat damit
zu tun, dass wir etwas aus meiner Sicht Unverantwortliches tun: Wir unterscheiden zwischen dem antizipierten
Willen und dem aktuellen Willen. Das klingt zwar zunächst einmal vernünftig, ist aber so selbstverständlich
nicht. Sehr oft in unserem täglichen Leben - etwa wenn
wir etwas unterschreiben - drücken wir unseren Willen
aus und sind auch völlig damit einverstanden, dass wir
hinterher daran gebunden sind. Insofern ist es aus meiner
Sicht Sophismus, eine solche Unterscheidung vorzunehmen, um sich als Gesetzgeber das Recht zu verschaffen,
in dem Fall, in dem der Mensch ganz hilflos und bewusstlos ist, über ihn zu verfügen, obwohl er genau das
mit seiner Patientenverfügung ausschließen wollte.
({3})
Als ein Argument werden die Schwierigkeiten bei der
Feststellung des Willens genannt. Rechtssoziologen sagen uns, dass der Interpret, der Bevollmächtige, das Gericht oder wer auch immer sich damit beschäftigt, sich
selbst als Person bei der Auslegung einbringt. Das wissen wir. Sogar wenn uns etwas ganz klar erscheint, spielt
die Auslegung bei der Ermittlung des Sachverhalts eine
Rolle. Trotzdem trauen wir uns das zu und halten es für
möglich. Das müssen wir auch. Denn wenn wir uns nicht
vorstellen könnten, dass wir uns auf die Auslegung eines
Willens verständigen können, dann könnten wir gar
nicht vernünftig zusammenleben. Deshalb ist es notwendig, dass wir so eine Entscheidung akzeptieren.
Der Verweis darauf, dass man sich bei der Auslegung
irren kann, rechtfertigt eine Ablehnung dennoch nicht;
denn das ist eigentlich nur ein Hinweis darauf, dass wir
uns unglaublich viel Mühe geben müssen. Selbstverständlich, wenn ein 20 Jahre alter Patientenwille vorliegt, dann muss sich derjenige, der darüber zu entscheiden hat, große Mühe geben, um herauszufinden, ob das
wirklich noch der aktuelle Wille ist.
({4})
- Das ist ganz einfach. Man kann zum Beispiel fragen,
ob der Patient seinen Willen mündlich oder auf irgendeine andere Weise widerrufen hat. Niemand in diesem Haus hat einen Zweifel daran, dass das möglich ist.
Daher sollte man das nicht zum Anlass für die Gesetzgebung nehmen.
({5})
Das gilt aus meiner Sicht - das will ich ausdrücklich
sagen - auch im Hinblick darauf, dass wir eine auf sorgfältige Weise getroffene Entscheidung akzeptieren müssen. Es hat also auch dann zu gelten, wenn ein Mensch
nicht mehr einwilligungs- und geschäftsfähig ist, er aber
noch eine Willensäußerung von sich geben kann, die
deutlich macht, was er will. Auch daran gibt es keinen
Zweifel. Das gilt in der Rechtsprechung, und das gilt insgesamt.
({6})
Meine Zeit ist kurz. Gestatten Sie mir deshalb nur
noch eine Bemerkung.
({7})
- Ja, meine Redezeit. Schönen Dank. Es beruhigt mich,
dass Sie das klarstellen.
Es liegen bisher auch keine Absichten einer anderen
gesetzlichen Regelung vor, Herr Kollege Scholz.
({0})
Auch das beruhigt mich.
Noch ein kurzer Hinweis: Es wird gesagt, man müsse
unterscheiden zwischen der Situation, in der jemand verfügt, so nicht sterben zu wollen, und der Situation, in der
jemand verfügt, so nicht leben zu wollen. Das ist sprachlich schön, aber nicht das Gegensatzpaar, um das es in
dieser Debatte geht.
({0})
Denn in der Patientenverfügung verfügt man sowohl für
den Fall, dass man bald stirbt, als auch für den Fall, dass
man noch lange lebt - eventuell aber ohne Bewusstsein -,
nur, so nicht am Leben erhalten werden zu wollen.
Wenn man begreift, dass es sich dabei nicht um zwei
unterschiedliche Zustände handelt, sondern dass das ein
und derselbe Zustand ist und dass diese Unterscheidung
künstlich herbeigeführt wird, um sich Gesetzgebungskompetenzen anzumaßen, die man sich besser nicht anmaßen sollte, dann kommt man zum Ergebnis, dass das
Selbstbestimmungsrecht im Vordergrund stehen sollte.
Schönen Dank.
({1})
Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte ist eine Debatte der leisen Töne. Es ist ein
außergewöhnliches Phänomen, dass die Ränge noch so
voll sind, und das, obwohl bereits sehr viele Reden gehalten worden sind und trotz der fortgeschrittenen Zeit.
Das zeigt, wie wichtig diese Debatte ist. Ich denke, die
Besucher auf der Tribüne und sogar die Zuschauer am
Fernseher können förmlich spüren, wie schwer man sich
mit diesem Thema tut.
Typischerweise gibt es in den Debatten im Deutschen
Bundestag eine geborene kontradiktorische Schlachtordnung zwischen Regierung und Opposition. Es fallen Begriffe wie „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“,
„schlecht“ und „dilettantisch“, es werden Zurufe gemacht, und es wird hart gefochten, manchmal auch unterhalb der Gürtellinie, weil man meint, seine besondere
Eloquenz für die Galerie unter Beweis stellen zu müssen.
({0})
Das ist heute anders. Die heutige Debatte ist - trotz
gelegentlich vorkommender spaßiger Einwände, zu denen auch der Präsident immer wieder beizutragen vermag - so ernst, dass man keine Meinung, die hier vertreten wird, auch wenn sie nicht der eigenen entspricht,
a priori für abwegig erklären würde. Das sollte man auch
nicht tun, schon gar nicht mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Denn vor diesem Hintergrund wären
auch Regelungen im Erbrecht - etwa, dass der Erblasser
aufgrund der Tatsache, dass es einen Pflichtteil gibt,
nicht uneingeschränkt bestimmen kann, was mit dem
Nachlass seines Vermögens geschieht - per se verfassungswidrig. Ich könnte also nicht einfach sagen - obwohl ich das gerne täte -: Mein gesamtes Vermögen vermache ich meinem Freund Volker Kauder.
({1})
Einen Teil des Vermögens - den ich ihnen natürlich auch
nicht vorenthalten möchte - würden demnach als
Pflichtteil meine Frau und meine Kinder bekommen. Sie
sehen: Der Gesetzgeber hat de lege lata durchaus Grenzen für die Selbstbestimmung gesetzt.
Wenn man sieht, dass jemand, der, aus welchen Gründen auch immer, selbstmordgeneigt ist, von einem Dach
springen will, dann geht man nicht teilnahmslos vorbei
und sagt sich, das ist nun einmal sein letzter Wille, und
das ist Selbstbestimmung, sondern dann versucht man,
ihn davon abzubringen, und es werden zum Beispiel
Sprungtücher aufgespannt. All das geschieht, obwohl
dieser Mensch das vielleicht gar nicht will.
Zur Frage der Kongruenz bzw. Inkongruenz von aktuellem Willen und sogenanntem antizipierten bzw. vorweggenommenen Willen möchte ich noch eine andere
Variante ansprechen. Wir haben eben von Herrn Zöller
gehört, dass Einzelbeispiele sicherlich nicht geeignet
sind, ein gesamtes Konzept zu Fall zu bringen: Je nachdem, vor welchem Publikum und mit welcher Verve Sie
etwas vorbringen, bekommen Sie vielleicht zunächst tosenden Beifall. Aber dann bringe ich ein anderes Beispiel, und es ist auch so.
Doch längst nicht alle, die eine Patientenverfügung
verfassen, sind in der Lage, die Begriffe zu verstehen.
({2})
Wir sind doch nicht alle Volljuristen. Nehmen wir an, ein
Modellathlet, der für die Olympischen Spiele vorgesehen ist, schreibt: Wenn ich morgen einen Motorradunfall
habe und das Bewusstsein verliere, möchte ich nicht,
dass die Beatmung weitergeführt wird. - Würden Sie das
machen wollen? Im „Spiegel“ von dieser Woche ist ein
Streitgespräch zwischen Herrn Borasio, einem Palliativmediziner, und Herrn Hoppe zu lesen, in dem Herr
Borasio gesagt hat: Zum bloßen Automaten, zum Vollstreckungsgehilfen von Patientenverfügungen möchte
ich auch nicht werden. Direkt die Weiterbeatmung einstellen, das würde ich nicht machen; das würde auch
dem hippokratischen Eid eines Arztes widersprechen.
Wenn er aber merke, dass dieser Patient das Bewusstsein
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht
wieder erlangt, dann stelle sich die Sache ganz anders
dar.
Heute Morgen ist eingewandt worden: Was heißt eigentlich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“? Das ist ein Begriff, den wir auch sonst im Beweisrecht kennen. Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff.
Herr Bosbach hat darauf hingewiesen, dass auf die
Frage: „Würden Sie jetzt auch noch so entscheiden, wie
Sie sich vor Jahren in Ihrer Patientenverfügung festgelegt haben?“ die Antwort sehr gut lauten kann: „Nein,
das würde ich nicht.“ - Die Frau Justizministerin wiederum argumentiert, es könne auch den umgekehrten
Fall geben.
Insofern sind wir wieder einmal in der Situation, dass
der Fall des Zweifels vom Gesetzgeber gesetzlich geregelt werden muss - wie auch sonst bei der Beweislastverteilung, die wir vom Zivilprozess kennen, eine non
liquet. Deshalb muss der Gesetzgeber entweder sagen
„In dubio pro vita“ oder „In dubio pro …“ - Nun fällt
mir der lateinische Begriff für „Selbstbestimmung“ nicht
direkt ein. Ganz ungewöhnlich, nicht wahr, meine Damen und Herren? - Diese Regelung müssen wir treffen.
Ein Letztes: Natürlich steht der Patient, steht das
Schicksal des Patienten im Vordergrund. Aber ich habe
es vor zwei Jahren in meiner eigenen Familie erfahren:
Vor zwei Jahren hat meine Mutter einen irreparablen medialen Hirnschlag erlitten. Sie ist gefunden worden von
einem Arzt, und dann war die PEG-Sonde dran. Nun
standen mein Bruder und ich vor der Situation: Sollen
wir einwilligen, dass weiterhin künstlich ernährt wird,
oder nicht? Ohne Anrufung des Vormundschaftsgerichts
wäre gerade ich als Politiker - sehr beliebt bei der heimischen Presse - Gefahr gelaufen, mit der Überschrift versehen zu werden: Bundestagsabgeordneter lässt seine
Mutter verhungern.
Das zeigt, dass nicht nur der Patient selber, sondern
das gesamte Konsil, die Hinterbliebenen, die Ärzte und
das Pflegepersonal, Rechtssicherheit haben müssen Ihre Entscheidung ist schwer genug. Wir sollten nicht so
anmaßend sein, zu glauben, ihnen diese Entscheidung
mit irgendeinem Gesetz abnehmen zu können. Aber wir
normieren nicht das Sterben, sondern wir normieren bestimmte Verhaltensweisen in kritischen Situationen. Ich
finde, da sollte jeder dem anderen zubilligen, dass er das
nach bestem Wissen und Gewissen und in der besten
Absicht macht. Deswegen werben wir in der nächsten
Zeit auch in diesem Hohen Hause um die Zustimmung
zu verschiedenen Anträgen. Ich finde es schön, dass die
Abstimmung völlig freigegeben ist und niemand mit
dem Stigma rechnen muss, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste
Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie viele Vorredner begrüße auch ich diese
Debatte, die wir aus meiner Sicht auch in der gebotenen
Breite führen, sehr. Es ist vorhin angesprochen worden,
dass es nicht nur darum geht, für Patienten in einer bestimmten Lebenssituation eine Regelung zu finden. Es
geht meiner Meinung nach auch ganz entscheidend darum, dass man Menschen vor dem Hintergrund der veränderten Situation in der Medizin und vor dem Hintergrund der veränderten Situation, in der sie häufig auch in
ihrem persönlichen Lebensumfeld stehen, das Trauma
des Sterbens und das Trauma des Leidens bis zum Tod
nimmt, dass wir uns intensiv beschäftigen mit Bereichen
der Hospizbewegung, der Hospizarbeit und der Palliativmedizin und dass wir endlich dazu beitragen, dass Ärzte
und Ärztinnen zur Verfügung stehen, die Patienten in
dieser Phase die richtige Hilfestellung geben.
({0})
Ich empfinde die Situation als schwierig und gleichzeitig
als sehr intensiv.
Ich will einen Aspekt einbringen, der gewissermaßen
aus meiner Aufgabe in unserer Fraktion als Sprecher für
Kirchen- und Religionsgemeinschaften erwächst. Ich
finde es interessant, dass sich, soweit ich weiß, in dieser
Diskussion kaum Menschen zu Gehör melden, die keine
christliche Glaubenshaltung haben. Die Äußerungen
der katholischen Kirche, des ZdK, sind mir sehr wohl
bekannt. Aber sind Ihnen Äußerungen der Muslime zu
dieser Thematik bekannt?
Fast jeder von Ihnen, wie auch ich, verfügt über sehr
persönliche Erfahrungen mit diesem Thema. Der Vater
brauchte lange, bis er verstarb, und die Mutter ist
92 Jahre alt. Da beschäftigt man sich mit solchen Dingen, und man versucht, seinen Standpunkt zu finden. Ich
finde das, was Kollege Scholz und auch der Kollege
Gehb eben gesagt haben, hervorragend, nämlich dass wir
uns alle in unserem Ringen um die beste Lösung angenommen fühlen sollten.
Ich frage mich - auch als praktizierender Katholik -,
was in diesem Bereich eigentlich Aufgabe des Staates
ist. Meine Mutter hat Angst davor, dass der Staat hier
etwas für sie regeln will. Durch Aufklärung und Information versuche ich, ihr diese Sorge zu nehmen und
klarzumachen, dass in der Ausgestaltung einer Patientenverfügung gerade auch für gläubige Menschen eigentlich eine große Chance besteht. Ich kann in diese Patientenverfügung hineinschreiben, wie ich mein Leben
beenden will, und ich meine, andere müssen sich daran
halten.
({1})
Die anderen haben nicht das Recht, dieser meiner persönlichen und glaubensbestimmten Haltung entgegenzuarbeiten. Ich finde, das ist eine große Chance. Ich bin der
Auffassung, dass die katholische Kirche in dieser Frage
nicht ganz auf dem richtigen Weg ist.
Ich bin dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger das
Recht haben, sehr substanzielle Patientenverfügungen
auszugestalten - detailliert, eigenverantwortlich und,
wie gesagt, glaubensorientiert -, weil ich möchte, dass
nicht andere dort hineinregieren. Das dürfen sie aus meiner Sicht zu keiner Zeit.
Vorhin ist - ich glaube, von Ihnen, Kollege Winkler die besondere Situation bei Demenzkranken angesprochen worden. Es ist richtig, dass es dort eine besondere
Problematik gibt. Wir machen aber doch auch Erfahrungen mit Demenzkranken. Wir könnten eine Patientenverfügung im Grunde genommen entsprechend ausgestalten, weil wir wissen, wie es um Menschen mit dieser
Krankheit bestellt ist.
({2})
Wir wissen auch, wie es um Menschen bestellt ist, die im
Koma liegen. Wir können zu ihnen hingehen und haben
Kontakt zu ihnen.
Der Erfahrungsschatz nimmt auch in diesen Bereichen insgesamt immer weiter zu. Deswegen glaube ich,
dass man zum Zeitpunkt des Abschließens einer Patientenverfügung sehr wohl darüber im Klaren sein kann,
wie sich diese Patientenverfügung in einer speziellen Situation - beim Ableben, im Alter - auswirkt. Ich plädiere daher nachdrücklich dafür, dass eine solche Patientenverfügung eine uneingeschränkte Reichweite hat.
({3})
Wir dürfen es nicht anderen überlassen, die individuelle,
die persönliche, die eigenverantwortliche Entscheidung
sozusagen wieder rückgängig zu machen. Das kann meiner Meinung nach nicht Aufgabe des Gesetzgebers und
damit auch nicht Inhalt einer Patientenverfügung sein.
Ich finde die Ausführungen von Herrn Andreas LobHüdepohl, des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe „Patientenverfügungen“ des ZdK, immer wieder großartig und
sehr lobenswert. In der letzten Sitzung des ZdK haben
wir einen ganzen Tag darüber diskutiert, liebe Julia
Klöckner. Ich denke aber, dass er mit seiner Kritik, die er
hinsichtlich der Wachkoma- und Demenzpatienten anbringt, wirklich falsch liegt. Ich befürchte nicht den
Dammbruch zur Tötung unwerten Lebens,
({4})
sondern ganz im Gegenteil: Ich plädiere für die Festschreibung, dass auch ein Demenzkranker und ein
Komapatient das Recht auf ein Weiterleben haben, wenn
sie in ihren Patientenverfügungen festgeschrieben haben, dass sie nicht möchten, dass jemand ihr Leben deswegen beendet.
({5})
In diesem Sinne, meine ich, sollten wir die Diskussion
intensiv weiterführen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
kann in Deutschland keine Debatte über den Wert und
den Schutz menschlichen Lebens und über die Würde
des Menschen und seine unantastbaren, garantierten
Menschenrechte geben, ohne den Blick zurück in die
Geschichte zu richten. Die Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur und ihre Menschenverachtung sind
deshalb auch Mahnung für unsere heutige Debatte über
das Selbstbestimmungsrecht bis in den Tod, über die
menschliche Würde im Sterben und über die Pflichten
der Gesellschaft und des Staates zum Schutz der Würde
und des Lebens von uns allen.
Es ist wichtig, dass wir dies im Verlauf dieser Debatte
und auch aller folgenden nicht vergessen. Für mich ist
das Kürzel „T 4“ das Stichwort: Es steht für eine Villa in
der Tiergartenstraße 4 in Berlin Mitte. Diese Villa gibt es
nicht mehr, nur noch eine Gedenktafel ist dort zu finden.
Dort wurde - in unüberbietbarem Zynismus als Gnadentod bezeichnet - die Entscheidung über die Vernichtung
von über 100 000 Kranken, Alten und Behinderten getroffen, denen ein Recht auf Leben und jedes Menschenrecht abgesprochen wurde.
Nicht zuletzt dieser Schrecken war es, der zu den für
uns unumstößlichen Prinzipien führte: Jeder hat das
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Jeder
hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Die Würde jedes Menschen ist unantastbar.
({0})
Nur dann, wenn wir das zur Grundlage unserer Überlegungen machen, wird es uns gelingen, die Vor- und
Nachteile der vorgestellten Gesetzesvorschläge sachlich
und respektvoll miteinander zu diskutieren.
Ich will die Punkte nennen, in denen wir uns einig
sind. Wir sind uns einig, dass das Selbstbestimmungsrecht jedes einwilligungsfähigen Patienten zu beachten
ist. Wir sind uns einig, dass die Patientenverfügung auf
eine eingetretene konkrete Situation zutreffen muss und
dass sie jederzeit, in jeder Form, auch formlos und ohne
Worte konkludent widerrufen werden kann. Wir sind uns
auch einig, dass eine Patientenverfügung nur dann wirksam sein kann, wenn sie schriftlich vorliegt, frei und
ohne Zwang verfasst wurde, nicht irrtümlich oder unter
Täuschung entstanden ist und nichts Gesetzwidriges verlangt.
Weitere Begrenzungen darüber hinaus - insbesondere in der Reichweite - halte ich nicht für richtig. Denn
wer verlangt, dass sie nur in Kenntnis der möglichen medizinischen Behandlungen und zukünftiger medizinischer Entwicklungen wirksam sein soll, der macht praktisch alle Patientenverfügungen wertlos.
({1})
Auch ihre Begrenzung auf Leiden, die einen unumkehrbar tödlichen Verlauf genommen haben, und auf Bewusstlose, die ihr Bewusstsein mit Sicherheit niemals
wiedererlangen werden, verbietet den Menschen, gerade
das zu regeln, was sie für ihr Lebensende verbindlich regeln wollen. Dahinter stehen verständliche Ängste und
Befürchtungen. Sie werden aber mit diesen Begrenzungen auf falsche Weise gelöst und bringen letztlich nicht
weniger, sondern mehr Leid und mehr Fremdbestimmung.
({2})
Zwei Grundsatzfragen müssen wir beantworten.
Erstens. Kann und darf man seinen Willen für die Zukunft binden? Darf der geäußerte und eindeutige Wille
des Patienten von Ärzten, Betreuern oder Gerichten in
Zweifel gezogen werden? Ich meine, nein. Es kann nicht
darum gehen, zu beweisen, dass der geäußerte Wille
weiter gilt - das ist nie möglich -; vielmehr tragen diejenigen, die ihn anzweifeln, die Beweislast, dass er sich
wirklich geändert hat.
({3})
Zweitens stellt sich die Frage nach unserem Selbstbestimmungsrecht, also unserem Recht, selbst zu bestimmen, wie wir leben wollen oder es nicht mehr wollen.
Dabei hat der Staat die Pflicht, Leben zu schützen und zu
erhalten. Steht in Fragen, die Menschen in einer Patientenverfügung verbindlich regeln wollten, die Pflicht des
Staates gegen das Recht der Menschen?
({4})
Darf der Staat lebenserhaltend gegen das Selbstbestimmungsrecht angehen und es in fremdbestimmte Schranken weisen? - Ich meine, nein.
({5})
Ich will mit einem Zitat der Vorsitzenden Richterin
des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, Frau
Dr. Hahne, enden. Sie hat die grundlegende Entscheidung getroffen, nach der Patientenverfügungen überhaupt Verbindlichkeit genießen. Ich zitiere:
Wünschenswert wäre eine gesetzgeberische Stärkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten
dergestalt, dass die Patientenverfügung, der geäußerte Patientenwille, absoluten Vorrang hat. Denn
nur der Patient ist es, der über sein Leben, aber auch
über die Art und Weise seines Todes - seines Weggehens aus diesem Leben - zu entscheiden hat. Niemand sonst hat darüber zu entscheiden, denn es ist
das Leben des Patienten. Der Patient hat zwar ein
Lebensrecht, aber er hat keine Lebenspflicht.
({6})
Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, dass wir
diese Worte beherzigen und danach ein bestmögliches
Gesetz zustande bringen.
Danke.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als ich mich vor vier Jahren zum ersten Mal mit
dem Thema Patientenverfügung befasste, war mir ziemlich schnell klar, welche Meinung ich dazu habe: Na
klar, ich will selbst entscheiden, wie ich einmal sterben
werde. Wer sonst soll denn das Recht dazu haben, über
mich und meinen Tod zu entscheiden?
Ich habe mich intensiver mit diesem Thema befasst,
Gespräche darüber geführt und irgendwann Menschen
kennengelernt, die froh waren, dass ihre Patientenverfügung nicht umgesetzt worden ist. Der Motorradfahrer,
der als 18-Jähriger ein Leben im Rollstuhl für unerträglich gehalten hat und nun nach einem Unfall im Koma
lag - wir wissen nicht, was er selbst entschieden hätte.
Hätte er den Tod herbeigesehnt oder nach dem Leben geschrien? Dritte haben für ihn entschieden. Die Ärzte haben sich entschieden, weiterzumachen. Heute lebt er im
Rollstuhl. Er führt ein anderes Leben, als er es sich als
18-Jähriger vorgestellt hat, aber er hat eine Perspektive.
Und er freut sich, wenn ihn seine Kinder besuchen. Es
gibt übrigens genug andere gute Gegenbeispiele, das ist
keine Frage.
Aber alle diese Erfahrungen haben in mir Zweifel
wachsen lassen: Können wir wirklich die Entscheidung
eines Gesunden, der sich nicht in einer Krankheitssituation befindet, mit der Entscheidung gleichsetzen, die er
in einer Situation als Kranker treffen würde? Folgenlos
bleibt übrigens ein Irrtum in einer solchen Entscheidung
immer nur dann, wenn es sich um eine tödlich verlaufende Krankheit handelt. Deswegen, glaube ich, ist eine
Reichweitenbegrenzung möglich und auch notwendig.
Warum wird in letzter Zeit so viel über Patientenverfügungen gesprochen? Viele Menschen haben Angst davor, einen einsamen Tod zu sterben. Viele Menschen haben Angst davor, einen schmerzhaften Tod zu sterben.
Viele Menschen haben Angst davor, bis ans Ende und
über das erträgliche und würdige Maß hinaus an Schläuchen zu hängen und der Apparatemedizin ausgeliefert zu
sein. Und viele äußern einfach den Wunsch, den Angehörigen nicht zur Last zu fallen: Ich will meinen Kindern
keine Last sein, also möchte ich nicht, dass diese oder
jene Maßnahme ergriffen wird.
({0})
Sind Patientenverfügungen die Lösungen dieser Probleme? Geben sie die richtigen Antworten auf die Fragen, die wir diskutieren müssen? Ist die Patientenverfügung geeignet, diese Ängste zu nehmen?
({1})
Wir sind uns sicherlich einig, dass die Lösungen auf
einer ganz anderen Ebene liegen - das ist vorhin schon
gesagt worden -: den Menschen helfen und garantieren
zu können, schmerzfrei in den Tod zu gehen, bessere
Palliativ- und Schmerzmedizin, Hospizarbeit, damit man
in diesem Land nicht einsam sterben muss. Wahrscheinlich ist es auch dringend notwendig, das Arzt-PatientenVerhältnis wieder ins Lot zu bringen, also die Abwägung
zwischen der Selbstbestimmung auf der einen Seite und
der Fürsorgepflicht des Arztes auf der anderen Seite
- auf beiden Elementen besteht die Ärzteschaft - vorzunehmen. Dies also muss ins Lot gebracht und ausbalanciert werden, weil das Misstrauen gegenüber moderner
Medizin und Ärzten in den letzten Jahren größer geworden ist und sicherlich auch dazu beiträgt, dass viele
Menschen solche Entscheidungen treffen wollen. Wenn
wir die Defizite in diesem Bereich beseitigen, brauchen
wir - davon bin ich fest überzeugt - weniger über Patientenverfügungen zu reden.
Wir sollten aber nicht nur darüber diskutieren, was
eine Patientenverfügung für den Einzelnen bedeutet. Wir
müssen vielmehr auch darüber diskutieren, was Patientenverfügungen für die Gesellschaft bedeuten. Viele
Menschen haben - das wurde vorhin angesprochen nicht unberechtigte Angst vor den Zuständen in den
Pflegeheimen sowie vor würdeloser und endloser Behandlung. Sie fürchten sich vor einer Magensonde. Es ist
immer wieder zu hören: Ich will auf keinen Fall eine
Magensonde. - Vor diesem Hintergrund müssen wir uns
fragen: Werden die Patientenverfügungen zu einem
„leichten Ausweg“ aus der Pflegemisere? Wird der Kostendruck die Umsetzung von Patientenverfügungen beschleunigen? Wird der gesellschaftliche Druck, anderen
nicht zur Last fallen zu wollen oder zu müssen, zunehmen? Egal was wir tun, welche Variante wir bevorzugen,
wir werden prüfen müssen, welche Auswirkungen die
von uns beschlossenen Gesetze auf die Situation in der
Pflege und den Umgang mit Pflegebedürftigen haben.
Ich meine, das haben wir noch nicht zu Ende gedacht.
Das müssen wir aber tun. Einig sollten wir uns aber zumindest in einem Punkt sein: Wenn es wirklich stimmt,
dass einige Pflegeheime die Aufnahme davon abhängig
machen, dass man eine Patientenverfügung abschließt,
in der bestimmte kostenträchtige Maßnahmen ausgeschlossen sind, dann sollten wir alle gemeinsam darauf
hinwirken, dass das verboten wird.
({2})
Wenn jemand sagt: „Ich will so nicht sterben“, dann
sollten wir das akzeptieren und dem Tod nichts in den
Weg stellen. Ich glaube, das ist ein Unterschied. Wenn
jemand sagt: „Ich will so nicht leben“, dann steht der
Tod noch nicht vor der Tür; das ist etwas anderes. Dann
hat die Gesellschaft die Pflicht, die richtige Lösung für
seine Verzweiflung anzubieten. Vor vier Jahren habe ich
gefragt, wer denn außer mir die Entscheidung in einer
Krankheitssituation treffen soll. Heute weiß ich die Antwort: Ich.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Hans Georg
Faust für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Wohl des Patienten ist oberstes Gebot. Nach diesem
Leitsatz handeln Ärzte seit der Antike. Der Wille des Patienten ist oberstes Gesetz, sagen uns Ärzten die Juristen
in einer modernen Gesellschaft. Gut, wenn beides Hand
in Hand geht, wie es die Berufsordnung der Ärzte vorgibt. Dafür ist aber, auch wenn es vielstimmig gefordert
wird, nach meiner festen Überzeugung eine umfassende,
neue gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung nicht
notwendig.
Die Patientenverfügung war schon bisher Richtschnur ärztlichen Handelns. Sie soll jetzt zum gesetzlichen Gebot erhoben werden. Auch den Befürwortern einer mehr oder weniger weitgehenden Bindungswirkung
für das ärztliche Handeln ist dabei klar, dass es sich eben
nicht um einen vollwertigen Ersatz einer aktuellen freien
Willensäußerung des Patienten handelt. Wie anders wären die Diskussionen über eine Reichweitenbegrenzung
zu verstehen? Wie anders wären die Diskussionen darüber zu erklären, dass Vorschläge zur Form der Patientenverfügung, zur Aktualisierung und insbesondere zur
Interpretation von Befundkonstellationen gemacht werden? Das ist eine der entscheidenden Fragen: Stimmt die
Krankheitssituation mit dem überein, was der Patient in
seiner Patientenverfügung vorgesehen hat und für das er
ein Behandlungsgebot oder ein Behandlungsverbot festgelegt hat?
Der Arzt, der auf der einen Seite dem Leben verpflichtet ist, der die Gesundheit schützt und wiederherstellen will, der auf der anderen Seite Leiden lindert und
den Sterbenden bis zum Tod begleitet, fragt sich, ob mit
den zur Diskussion stehenden Änderungen Rechtsklarheit geschaffen wird. Er fragt sich, ob nicht bestenfalls
die Abläufe nur komplizierter werden, schlimmstenfalls
er aber als Arzt in Gewissensnot kommen kann, wenn
objektiv unvernünftige, dem Wohl des Patienten zuwi9142
derlaufende Anweisungen aus der Patientenverfügung
umgesetzt werden müssen.
({0})
Die Probleme liegen doch nicht auf der Intensivstation, wo die Menschen, wie man so häufig sagt, „an
Schläuchen hängen“. Dieses Wortbild ist die Sicht des
Außenstehenden, es ist nicht die Sicht des Patienten auf
der Intensivstation. Ich habe in über 30 Jahren intensivmedizinischer Erfahrung in den seltensten Fällen Probleme gehabt, die sich mit den jetzt angedachten Neuregelungen zur Patientenverfügung hätten besser lösen
lassen. Nein, meine Damen und Herren - Herr Röspel hat
es angesprochen -, es geht darum, dass in deutschen Pflegeheimen bei nicht vom Tode bedrohten Patienten mit
oder ohne Demenz zur Erleichterung der Nahrungsaufnahme Magensonden - sogenannte PEG-Sonden - in
großem Umfang gelegt werden und damit eine Lebensentwicklung über Jahre hinweg vorprogrammiert wird, in
die dann alle anderen Maßnahmen zur Lebensverlängerung zwangsläufig einmünden. Hier liegt aus meiner
Sicht das Problem, und hierüber sollten wir uns Gedanken machen.
Nach meiner Auffassung soll der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille eines Patienten wie bisher
grundsätzlich verbindlich bleiben. Dennoch entstehen
Behandlungssituationen, die wichtige Fragen zu dem in
der Patientenverfügung genannten Willen offenlassen.
Hier ist es sehr hilfreich, wenn von dem Patienten eine
Vorsorgevollmacht ausgestellt wurde und man die darin
genannte Vertrauensperson zurate ziehen kann. Im Übrigen ist es selbstverständlich, dass die Angehörigen, die
man als Arzt immer umfassend informiert und einbezieht, zur Interpretation des Willens beitragen. Am Ende
steht dann nach meiner Erfahrung in den allermeisten
Fällen eine für alle Beteiligten mit ruhigem Gewissen zu
tragende Entscheidung über Behandlung oder Behandlungsabbruch, die der Sorge um das Wohl des Patienten
Rechnung trägt und seinem mutmaßlichen Willen entspricht. Dem steht nicht entgegen, dass wir als Parlament
für auch in Zukunft auftretende Konfliktfälle die Rolle
des Vormundschaftsgerichtes weiter präzisieren und
klarstellen.
Das Wohl des Patienten und sein Wille sind in der Regel keine Gegensätze. Das Bild vom Arzt als Verfechter
einer seelenlosen Apparatemedizin, der um jeden Preis
menschliches Leben verlängern will, und das Bild vom
Juristen, der ihm mit Vorschriften und Gesetzen bewaffnet in den Arm fallen muss: Beide sind falsch. Noch haben Patienten, Ärzte und Angehörige eine Vertrauensbeziehung, in der die bisherige Patientenverfügung und
weitere behutsame gesetzliche Regelungen entscheidende Hilfen für Lebensentscheidungen sein können.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundestag hat es sich nicht leicht gemacht. Über
Jahre haben wir in Enquete-Kommissionen, in denen ich
für die FDP mitarbeiten durfte, über Möglichkeiten und
Grenzen der Autonomie am Lebensende nachgedacht.
Wir müssen bald den Mut zur Entscheidung haben.
Mitmenschlichkeit ist gefragt, Vertrauen und Respekt
vor dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. So
viel bei der geltenden Rechtslage möglich ist, so wenig
Rechtssicherheit ist für alle Beteiligten gegeben, im
Krankenhaus, aber mehr noch bei der ambulanten und
stationären Pflege. Das müssen wir ändern, zum Beispiel
durch mehr Beratung und Schulung von Ärztinnen und
Ärzten, Heimleitung und Pflegekräften sowie durch
mehr Wissensvermittlung über Palliativmedizin und
Hospizbetreuung.
({0})
Unsere Diskussion ist eingebettet in eine immer
sprachloser werdende Gesellschaft. Manche Eltern und
Kinder finden über Gespräche nicht nahe genug zueinander. Manche reden viel, aber zu wenig miteinander.
Dabei werden gerade die Probleme des Alters verdrängt
und die Unausweichlichkeit des Sterbens ausgeblendet.
Das beste gegenseitige Verständnis und die höchste Entscheidungssicherheit bringen aber Gespräch und Beratung mit dem Ziel einer umfassenden Vorsorge, zum einen in der Familie, zum anderen auch mit dem
Geistlichen oder aber auf eigene Initiative auch mit dem
Arzt. Durch unsere hochtechnisierte Medizin werden wir
immer mehr Zeit für Kommunikation brauchen und auch
die Bereitschaft - nicht nur des Arztes -, uns diesen elementaren Fragen zu stellen. Eine Patientenverfügung
muss also mehr sein als das Ausfüllen eines Formulares
im stillen Kämmerlein.
({1})
Sie sollte im Ergebnis eine Übereinkunft sich nahestehender Menschen sein, die einander ohne Wenn und
Aber vertrauen und sich aufeinander verlassen können.
Diese Verlässlichkeit muss auch der Staat garantieren.
Dabei ist es eine Illusion, einen Ausgleich zwischen dem
Grundrecht auf Selbstbestimmung und dem Grundrecht
auf Lebensschutz finden zu können. Wer einer Reichweitenbegrenzung das Wort redet, sorgt eben für diese
Verlässlichkeit nicht.
({2})
Wir leben in einer freien Gesellschaft. Wir müssen
den Vorrang der Selbstbestimmung respektieren. Ich
stimme dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Professor Hoppe, ausdrücklich zu: Eine Lebensverlängerung um jeden Preis ist abzulehnen. Natürlich wollen wir
kein Gesetz, das bei den Ärzten einen Automatismus in
Gang setzt, jeder Verfügung uneingeschränkt Folge leisten zu müssen. Ein Konsilium, in dem vor einer Entscheidung über den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen Angehörige und Pflegekräfte bei Nichtvorliegen
einer Patientenverfügung gehört werden, ist die richtige
Grundlage für einen Dialog, der unverzichtbar ist.
Ich wünschte mir, dass ich keine Patientenverfügung
brauchte. Ich wünschte mir, wenn ich nicht mehr selber
entscheiden kann, Menschen um mich zu haben, die
nach bestem Wissen und Gewissen für meine Belange
eintreten. Wenn dies aber nicht möglich ist und keine
Vertrauensperson meine Wünsche vertreten kann, soll
mein erklärter Wille auf eindeutiger, rechtssicherer
Grundlage nicht nur ernst genommen, sondern auch umgesetzt werden. Ich möchte nicht zum Spielball ideologischer, religiöser oder moralischer Wertvorstellungen anderer werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nun hat der Kollege Dr. Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Debatte hier wird
so geführt, dass man manchmal das Gefühl hat, als ob
die freie Selbstbestimmung von staatlicher Bevormundung bedroht sei. Ich sehe diesen Konflikt eigentlich
nicht. Wir haben die Situation in diesem Lande, dass
Zehntausende von Menschen gegen ihren Willen in Pflegeheimen mit Magensonden und ähnlichen „pflegeerleichternden Maßnahmen“ versorgt werden. Was sie
nicht wollen, was sie nicht brauchen und was auch nicht
gut ist. Wir tun hier so, als ob eine Patientenverfügung,
mit der jemand entscheidet, dass er nicht an Schläuchen
oder Drähten liegen will, am Lebensende die Rechtssicherheit schaffen würde, die man brauchte. Ich glaube
dieses Märchen nicht. Je länger ich der Diskussion hier
zuhöre, desto eher tendiere ich dazu, lieber keine Regelung zu treffen als eine schlechte. Ich bin also einer von
denjenigen, die noch nicht entschieden haben, wie sie
am Ende abstimmen werden, wenn hier entsprechende
Anträge vorliegen.
Ich möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Herrn
Kollegen Montag sehr dankbar dafür bin, dass er die geschichtliche Dimension eingebracht hat. Ich kann es mir
jetzt sparen, das zu wiederholen. Wir leben nun einmal
mit der Geschichte der Euthanasie. Wir können nicht so
tun, als ob es sie nicht gäbe. So schlimm es ist und so
heftig alle beteuern, dass es nie wieder so sein wird, wissen wir doch: Die Gefahr, dass so etwas wiederkommt
und eines Tages wieder welche kommen und sagen:
„Wir tun doch nur das Beste für euch, wenn wir euch
umbringen“, ist nicht von der Hand zu weisen.
({0})
- Das ist ein hartes Wort, ich weiß. Ich sage es auch gar
nicht gern.
Ich bin nun einmal sehr tief in der Behindertenbewegung verwurzelt. Es ist kein Zufall, dass der Verband,
dessen Gründungspräsident ich war, schon in seinem
Namen die Worte „Selbstbestimmung und Würde“ trägt.
Ich halte diese Begriffe sehr hoch. Selbstbestimmung
aber so hehr darzustellen, als wäre sie ein unumstößliches Faktum, vor allen Dingen so, als würde sie wirklich
jeden Tag praktiziert, ist mit dem realen Leben doch
nicht vereinbar. Wir erleben jeden Tag etwas anderes.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr halte ich
es in diesem Punkte mit einem Satz unserer ehemaligen
Kollegin Margot von Renesse, die in der 14. Wahlperiode Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht
und Ethik der modernen Medizin“ war. Mit Frau von
Renesse stimmte ich in vielen Punkten nicht überein.
Aber: Sie sagte immer wieder, insbesondere in den Pausen: Das Arzt/Patient-Verhältnis lässt sich nicht verrechtlichen; es beruht am Ende auf Vertrauen oder auf
Nichtvertrauen; wenn wir es nicht zustande bringen,
dass zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient ein Vertrauensverhältnis besteht, dann nützen alle rechtlichen
Zusagen nichts, weil das Verhältnis zwischen beiden
Parteien eben nicht gleichberechtigt ist. Das kann es
auch überhaupt nicht sein, weil der Patient gar nicht das
Wissen des Arztes hat.
Ich bin ein sehr großer Verfechter des Informed Consent; das ist gar keine Frage. Ob aber ein Patient wirklich
kluge Entscheidungen fällen kann, hängt von vielem ab,
unter anderem von der Vorbildung, aber auch davon, wie
viele Schmerzen - sie beeinträchtigen unter Umständen
die Wahrnehmung und die Entscheidungsfähigkeit eine Krankheit bereitet.
Vielleicht brauchen wir weniger Patientenverfügungen als vielmehr eine gesetzliche Regelung des Arzt/Patient-Verhältnisses, durch die der Arzt nicht als jemand
Paternalistisches, nicht als ein allwissender Gott in Weiß
dargestellt wird, aber auch nicht als ein Bösewicht, gegen den man nur mit seinem Rechtsanwalt ankommt.
Ich hatte im vergangenen Monat das zweifelhafte Vergnügen, eine Weile im Krankenhaus zu sein. In den
14 Tagen, die ich dort war, wurde mir von Ärzten oder
auch vom Pflegepersonal ungefähr 17-mal gesagt: Dieses und jenes müssen wir aus rechtlichen Gründen so
und so machen. Ich weiß nicht, wie viele Papiere ich unterschreiben musste, um diesem oder jenem zuzustimmen.
Es ist ja schon jetzt fast so, dass die Ärztin ihrerseits
oder der Arzt seinerseits mit dem Rechtsanwalt drohen
muss und dass der Patient seinerseits mit seinem Rechtsanwalt drohen muss, bevor entschieden werden kann, ob
eine Spritze gegeben werden darf oder nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns lieber das
vernünftig regeln als eine Situation, die in der Wirklichkeit immer anders ist als antizipiert.
Eine Vorsorgevollmacht - das heißt unter anderem,
man legt fest, zu wem man Vertrauen hat - ist eine einfache Sache. Mit dem anderen richten wir aber womöglich
mehr Schaden an, als wir Nutzen stiften.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über ein Thema, dem wir uns alle
nur sehr zögerlich nähern wollen, vor dem wir uns auch
allzu gerne drücken: Wir sprechen über das Sterben, vor
allem über das Sterben unter schwierigen Bedingungen.
Wir sind unser ganzes Leben lang auf andere Menschen angewiesen, die uns wohlgesonnen sind. Angewiesen sind wir auf sie aber nie so sehr wie am Beginn
und am Ende des Lebens. In diesen Phasen sind wir noch
nicht oder nicht mehr das, was man heute gemeinhin als
„vollautonom“ bezeichnet.
Sofern wir uns mit diesem Thema überhaupt beschäftigen, haben wir eine Idealvorstellung, wie es sein
sollte, wenn wir selber einmal sterben: möglichst nach
einem langen, prallen Leben, mit kurzer Leidenszeit,
möglichst bei vollem Bewusstsein und im Kreise unserer
Liebsten. Viele wünschen sich auch religiöse Rituale.
Das wurde ehedem als Ars Moriendi, als Kunst des Sterbens, beschrieben. Vielleicht ist es auch so, dass wir als
moderne Gesellschaft diese Kunst oder - sagen wir besser: - Kultur ein wenig verlernt haben und dass es durchaus an der Zeit ist, sie wieder zu entdecken.
Aber wir alle wissen, dass es so, wie wir es uns wünschen, leider, muss man sagen, oft nicht geschieht. Trotz
und wegen des technischen Fortschritts in der Medizin
sind die Fragen zum Lebensende komplizierter geworden. Es wimmelt gewissermaßen nur so von Ambivalenzen aller Art. Einerseits genießen wir natürlich die
Errungenschaften der medizinischen Kunst, die uns länger leben lassen, andererseits graut uns aber bei der Vorstellung, wir endeten gegen unseren Willen an Schläuchen und Maschinen, die uns nicht sterben lassen,
obwohl wir es doch wollen. Auch von selbstherrlichen
Ärzten - das wurde gerade schon gesagt - ist gelegentlich die Rede.
In diese Ambivalenz fällt auch die Debatte, die wir
heute führen. Ich bin, ehrlich gesagt, sehr froh darüber,
dass sie nicht nach dem Muster verläuft: hier der Lebensschutz, da die Selbstbestimmung. Das wäre eine
völlig falsche Polarisierung; denn natürlich haben beide
Rechtsgüter, die Selbstbestimmung und der staatlich garantierte Lebensschutz, bei uns einen sehr hohen Rang,
und zwar zu Recht.
({0})
Die Frage, vor der wir jetzt stehen, lautet: Brauchen
wir eine explizite gesetzliche Regelung über die rechtliche Bindungswirkung von Patientenverfügungen? Dabei
rankt sich der Streit in ganz besonderer Weise um die
Frage der Reichweite der Patientenverfügung: Soll sie
unter allen Umständen gelten, oder soll es Fälle geben,
in denen von ihr abgewichen werden kann, wenn nämlich eine Differenz zwischen dem in der Patientenverfügung ehemals geäußerten Willen und dem aktuellen Willen vermutet wird?
Ich glaube nicht, dass das die entscheidenden Fragen
sind. Ähnlich wie mein Vorredner bin auch ich von der
Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung noch nicht
überzeugt. Ich sehe nicht, dass nur zwei Vorschläge im
Korb sind, nämlich der von Stünker et al. und der von
Bosbach et al. Wir müssen ernsthaft auch eine dritte Variante in unsere Überlegungen einbeziehen, nämlich die,
die Patientenverfügung bis auf Verfahrensfragen nicht
rechtlich zu normieren und stattdessen alles dafür zu tun,
dass die Informationslage verbessert wird und vor allem
dass die Kommunikation zwischen allen Beteiligten, die
einen Menschen beim Sterben begleiten und seinem
vorab verfügten Willen entsprechen wollen, verbessert
wird.
({1})
Das sind die Angehörigen und, sofern vorhanden, Vorsorgebevollmächtigten auf der einen Seite und die Betreuer, Pfleger und Ärzte auf der anderen Seite.
Auf diesen Zusammenhang hat Oliver Tolmein, Hamburger Rechtsanwalt, in seinem wirklich sehr lesenswerten Buch mit dem schönen Titel „Keiner stirbt für sich
allein“ zu Recht hingewiesen. Seine These lautet in etwa
so: In der letzten Lebensphase sind nicht Rechtsfragen
entscheidend, sondern eine gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten. - Das scheint mir plausibel zu
sein.
({2})
Ich muss mich ein bisschen sputen, damit ich mit meiner Zeit auskomme. - Wir haben in den letzten Tagen
zahlreiche Positionspapiere erhalten. In allen Positionspapieren, so unterschiedlich sie auch sind, wird betont,
dass eine verbesserte palliativmedizinische Versorgung und eine verbesserte Hospizversorgung essenziell
für humanes Sterben in diesem Land sind. Das will ich
ausdrücklich noch einmal unterstreichen. Wir sollten alle
diejenigen, die in diesem Bereich ehrenamtlich arbeiten,
ermutigen, ihnen helfen und gleichzeitig die Krankenkassen zu mehr Kooperation auffordern. Das scheint mir
sehr wichtig zu sein.
Zur Frage nach der rechtlichen Bindungswirkung
von Patientenverfügungen haben wir aus der GeDr. Reinhard Loske
sellschaft allerdings keine einheitlichen Antworten bekommen. Die Hospizstiftung ist für eine gesetzliche
Regelung. Die Behindertenverbände und die Bundesärztekammer halten eine solche nicht für erforderlich und
sind dagegen. Ich habe diese Positionspapiere bzw. die
Handreichung der Bundesärztekammer sehr intensiv studiert. Ganz unabhängig davon, welcher Position man zuneigt, kann man ohne Weiteres sagen: Wenn das, was die
Bundesärztekammer in Bezug auf Vorsorgevollmachten
und Patientenverfügungen vorgestern vorgelegt hat, in
den Krankenhäusern und Pflegeheimen zum Standard
würde, dann wären wir schon einen großen Schritt vorangekommen.
({3})
Zu den Anträgen will ich mich im Detail nicht äußern.
Nur so viel: Meine Vorbehalte gegenüber dem Antrag
Stünker et al. beziehen sich vor allem darauf, dass das
ein sehr individualistisches Konzept ist und nach meinem Empfinden eine gewisse Rationalisierung des Sterbeprozesses bedeutet. Die Beteiligten in diesem Prozess
werden zu wenig berücksichtigt. Die Reichweitenbeschränkung im Antrag Bosbach et al. ist ethisch gut gemeint, aber juristisch, glaube ich, schwierig und nicht
handhabbar; sie wirft mehr Rechtsprobleme auf, als sie
löst.
({4})
Auch den Vorschlag zur Behandlung von Wachkomapatienten halte ich für sehr problematisch, weil hier eine
Stufung in der Wertigkeit von Leben vorgenommen
wird, die wir bis jetzt nicht gehabt haben.
({5})
Da könnte ich - muss ich sagen - auf keinen Fall mitgehen.
Bei diesem ernsten Thema darf man natürlich keine
Witze machen. Aber eine Sache will ich Ihnen zum
Schluss doch nicht vorenthalten, weil uns das, glaube
ich, doch zeigt, was uns hier verbindet und wo wir nicht
hinwollen. Vor wenigen Tagen war im „Spiegel“ in einem Artikel unter der Überschrift „Medizinethik - Computer errät Patientenwillen“ nachzulesen:
Forscher der National Institutes of Health in den
USA haben ein Computerprogramm entwickelt, das
den mutmaßlichen Patientenwillen angeblich genauso gut ermitteln kann wie die nächsten Angehörigen. Beide lagen in verschiedenen Tests mit fiktiven medizinischen Fällen … in etwa 78 Prozent
der Fälle richtig.
Bei den 22 Prozent will man nicht sein. Aber man
kann ganz sicher auch sagen: Das ist eine Entwicklung,
die wir alle nicht wollen, und das eint uns.
Schönen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fragen, um die es heute geht, wühlen auf. Wenn wir
ehrlich sind, wühlen sie nicht nur die Menschen auf, mit
denen wir reden - darüber ist heute viel berichtet worden -, sondern jeden von uns. Das ist auch sehr begreiflich; denn Sterben oder Leiden anzunehmen, ist extrem
schwer, wenn es überhaupt möglich ist.
Ich glaube, deswegen ist es vernünftig, dass wir miteinander reden - wenn es irgendwie geht -, ohne dass
der eine oder andere meint, er hätte in dieser oder jener
Form immer Recht. Es gibt Annäherungen, die wir als
Gesetzgeber sehen müssen und die wir berücksichtigen
müssen, wenn wir überhaupt Gesetze machen.
Frage Nummer eins ist ja: Wie ist es denn eigentlich
mit der Selbstbestimmung des Menschen? Da ist heute
und in der Zukunft völlig klar: Wenn ich klaren Kopfes
bestimme, was mit mir sein soll, wenn ich also eine medizinische Behandlung nicht will, dann ist dies völlig
eindeutig. Das kann unvernünftig sein. Aber wenn ich
informiert und aufgeklärt bin, dann ist das völlig eindeutig. Heute gilt im Prinzip auch das - wenn ich es selber
nicht mehr sagen kann -, was ich niederschreibe. Das
heißt, wir können heute nicht so tun, als gäbe es keine
Patientenverfügungen bzw. als seien sie nicht rechtsverbindlich, wenn sie den Willen des Patienten, des Leidenden oder Sterbenden deutlich machen. Das gilt heute.
({0})
Wir haben auch die Vorsorgevollmacht, die ebenfalls,
und zwar in der Kommunikation mit Ärzten, Angehörigen und Betreuern, Gott sei Dank - das will ich jetzt einmal mit großem Dank an die Beteiligten sagen - in den
allermeisten Fällen hilft.
({1})
Dies haben wir. Das Problem sind, glaube ich, andere
Bereiche. Das Problem ist, dass wir unglaublich viel
Unsicherheit darüber haben, was heute eigentlich gilt.
Diese Unsicherheit muss behoben werden. Diese Unsicherheit muss bei den Beteiligten, bei den Ärzten, bei
den Angehörigen, in den Kliniken und beim Pflegepersonal behoben werden. Dazu ist - das will ich auch noch
einmal unterstreichen - das Entscheidende, dass wir Informationen haben, dass wir Handreichungen, Klarstellungen und Empfehlungen in allen Bereichen geben. Das
brauchen wir mit einer ebenso großen Klarheit und
Deutlichkeit wie eine flächendeckende hospizliche Versorgung. Auch das ist erwähnt worden. Ich will das nur
noch einmal im Namen der etwa 150 000 Frauen und
Männer, die sich auf diesem Gebiet engagieren, hervorheben.
({2})
Jetzt stellt sich aber die Frage, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Brauchen wir eigentlich eine neue gesetzliche
Regelung? Ich bin der Auffassung: Wir brauchen sie eigentlich nicht. Wir brauchen sie zwar - da hat Herr
Zöller Recht -, weil die technische Veränderung hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit erforderlich ist.
Aber ich neige sehr stark dazu, dem zu folgen, was die
Ärzte dazu sagen oder was ich als Schirmherrin der Hospizbewegung höre, weil die neuen gesetzlichen Regelungen die Probleme, die es heute in der Praxis aufgrund der
Unsicherheit gibt, möglicherweise gar nicht lösen können und weil wir durch eine gesetzliche Regelung möglicherweise nur die Illusion verstärken würden, die praktischen Probleme würden gelöst.
({3})
Vor dieser Illusion sollten wir uns hüten. Deswegen
lassen Sie mich sozusagen - wir Juristen sagen immer: höchst vorsorglich Folgendes fragen: Was müssen wir
denn eigentlich bedenken, wenn wir ein Gesetz machen?
Wenn wir ein Gesetz machen, müssen wir bedenken,
dass eine schriftliche Patientenverfügung im eintretenden Fall durchaus von dem aktuellen Willen abweichen
kann, der immer vorgehen muss; denn die Patientenverfügung rechtfertigt sich nur dadurch, dass sie den Willen
des Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung deutlich machen soll.
({4})
Das bedeutet - das hätte ich jetzt gern dem Kollegen
Scholz gesagt, wenn er noch da wäre -, dass es keine gesetzgeberische Arroganz ist, wenn wir feststellen, dass
wir diese Unterschiede berücksichtigen müssen. Es ist
eine Lehre aus der Erfahrung von Ärzten oder, wie wir
gerade vom Kollegen Winkler gehört haben, von Sterbebegleitern - das begegnet auch mir ständig -, dass wir
prüfen müssen, und zwar in jedem Fall, ob eine Kongruenz, eine Übereinstimmung, besteht.
Diese Prüfung und Bewertung in jedem Fall - das
bitte ich zu bedenken, lieber Kollege Stünker - liegt immer in der Hand eines Dritten: der Angehörigen, der
Ärzte, der Betreuer. Deswegen ist Kommunikation notwendig, und deswegen darf man nicht die Illusion verbreiten, die Patientenverfügung könne dieses Problem
lösen; denn das kann sie nicht.
({5})
Jetzt stellt sich die Frage: Wie wirkt ein Gesetz, das das
nicht berücksichtigt? Deswegen bitte ich, noch einmal zu
überdenken, wie sich Ihre Formulierung auswirkt. Eine
klare - sozusagen automatisch geltende - Gleichstellung
dessen, was in einer Patientenverfügung niedergeschrieben worden ist, mit dem aktuellen Willen ist annäherungsweise am ehesten in den Fällen möglich, die Herr
Bosbach und Herr Röspel so definiert haben, dass die
Krankheit einen irreversibel tödlichen Verlauf nimmt.
Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Wille deckungsgleich ist, am größten. Dann kann Sterbenlassen
unter der Formulierung auf jeden Fall so gesehen werden.
Ich bin der Auffassung: Wenn ein Gesetz, dann ist seine
Idee eines Gesetzes richtiger; es vermeidet große Fehler.
({6})
Ich will Ihnen als Letztes sagen, welche Sorge ich
habe, wenn wir ein Gesetz machen, das falsche Gleichsetzungen automatisiert. Sorge Nummer eins ist, dass die
praktischen Probleme nicht gelöst werden und die Menschen Steine statt Brot haben. Davor sollten wir uns hüten, gerade im Hinblick auf Informationskampagnen und
Handreichungen in der Öffentlichkeit. Die zweite Sorge
angesichts eines Automatismus bei einer falschen
Gleichsetzung bezieht sich nicht auf aktuellen Missbrauch oder gar auf den bösen Willen des einen oder anderen Kollegen hier bzw. der Ärzteschaft oder der Pfleger, sondern darauf, dass die Auswirkung eines solchen
Gesetzes sein kann, dass in Zweifelsfällen eben nicht für
das Leben entschieden wird, sondern in der Richtung,
dass Alte, Schwerstkranke, Leidende oder Sterbende
nicht optimal betreut und versorgt werden.
Das ist meine Sorge. Deshalb ist die Tatsache, dass
wir uns, wenn wir denn ein Gesetz machen, mit einer
Gesetzesformulierung unglaublich viel Mühe geben, gerechtfertigt.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel,
CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Alten
Testament, der hebräischen Bibel, dem gemeinsamen
Buch von Juden und Christen, steht beim Prediger
Salomo, bei Kohelet:
Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine
Zeit.
Für uns Christen liegen Leben und Sterben in Gottes
Hand. Wir wissen und spüren, dass im Versuch einer gesetzlichen Regelung immer auch ein Stück Hilflosigkeit
liegt. Denn ein Mensch ist letztlich immer hilflos, wenn
es um seinen Tod geht. In der letzten Lebensphase haben
unsere Wünsche ein besonderes Gewicht. In diesem Moment wird die Patientenverfügung wichtig. Sie dient der
Achtung der Menschenwürde, indem sie ein Instrument
bereitstellt, mit dem wir unsere Selbstbestimmung auch
dann zur Geltung bringen können, wenn wir zu einer bewussten Willensäußerung nicht mehr in der Lage sind.
Die Wertschätzung der Patientenverfügung wird auch
dadurch deutlich, dass die beiden Kirchen seit über sieben Jahren ein eigenes Patientenverfügungsformular mit
einer Handreichung anbieten und davon bereits mehr als
1,5 Millionen Exemplare abgegeben haben. Patienten,
Angehörige, Ärzte und Betreuer sind verunsichert. Sie
brauchen aber mehr Rechtssicherheit bei den EntscheiThomas Rachel
dungen am Lebensende. Deshalb sollten die Verbindlichkeit und Stellung der Patientenverfügung gestärkt
werden, indem sie gesetzlich geregelt wird.
Aber kann man alles Denkbare in einer solchen Verfügung festlegen? Befürworter einer unbeschränkten Patientenverfügung führen meistens an, es könne nicht
sein, dass jemand gegen seinen Willen einer medizinischen Maßnahme unterzogen wird. Das ist richtig. Aber
gilt dieser Satz auch für die Patientenverfügung? Müssten wir den Satz nicht anders formulieren: Niemand darf
gegen seinen früheren Willen behandelt werden? Damit
sind wir mitten im Problem. Es geht um eine Entscheidung für die Zukunft.
Es ist möglich, dass sich das Empfinden und die Maßstäbe, an denen Freud und Leid gemessen werden, und
auch die Wertvorstellungen des Patienten in der Zwischenzeit grundlegend ändern. Dies zeigen auch die Erfahrungen von Ärzten, wenn sie interveniert haben.
Manche Patienten sind froh gewesen, dass ihre Patientenverfügung nicht befolgt wurde.
Ein Leben, das mit erheblichen Einschränkungen verbunden ist, schätzen gesunde Menschen vielfach geringer ein als davon betroffene Menschen. Wir müssen den
Unterschied zwischen vorausverfügtem Willen und aktuellem Willen beachten. Je gravierender die Folgen eines Behandlungsverzichts sind, desto mehr Vorsicht ist
geboten. Wir müssen versuchen, Selbstbestimmung des
Patienten und Fürsorge für ihn in einen schonenden Ausgleich zu bringen.
Der Lösungsweg, der maßgeblich von Wolfgang
Bosbach initiiert wurde und der die Fälle unumkehrbar
tödlicher Krankheitsverläufe oder irreversiblen Bewusstseinsverlustes umfasst, ist ein guter und gangbarer Weg.
Denn gerade bei den unumkehrbar tödlichen Krankheitsverläufen ist die Trennlinie klar: Es geht deutlich erkennbar um das Sterbenlassen.
({0})
Wenn von anderer Seite die unbegrenzte Möglichkeit
zum Abbruch lebenserhaltender Behandlungen angestrebt wird, dann geht es dort um Lebensbeendigung von
Erkrankten, die an dieser Erkrankung aber nicht sterben
müssten. Genau hier liegt der entscheidende Unterschied.
Aber auch für Situationen, in denen Betroffene ohne
Bewusstsein sind und nach ärztlicher Überzeugung mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Bewusstsein niemals wiedererlangen werden, muss es
möglich sein, in einer Patientenverfügung das Unterlassen einer Behandlung festzulegen.
In einer aussichtslosen Situation, zum Beispiel im
Fall eines langfristig stabilen Wachkomas, sollte der
staatliche Lebensschutz hinter den erklärten Willen des
Betroffenen zurücktreten, wenn dies in der Patientenverfügung ausdrücklich verlangt wurde. Meines Erachtens kann der Staat einen Patienten nicht zwingen, über
Jahre in schwerstem Wachkoma zu bleiben, wenn der
Patient in einer Patientenverfügung ausdrücklich und
klar medizinische Maßnahmen abgelehnt hat.
Auch das grundlegende Papier der Evangelischen
Kirche in Deutschland geht genau diesen Weg, indem es
besagt, dass wir zum Besten des Patienten handeln müssen, was einschließt, dass man seine Sicht und seinen
Willen soweit wie möglich achtet. In diesen schwierigen
Fällen darf das Unterlassen einer lebenserhaltenden
Maßnahme aber nicht auf einen mutmaßlichen Willen,
sondern nur auf eine konkrete Patientenverfügung gestützt werden. Außerdem sollte das Vormundschaftsgericht auf jeden Fall einbezogen werden.
({1})
Eine Basisversorgung sollte in allen Fällen durchgeführt werden. Dazu zählt beispielsweise das Stillen des
Gefühls von Durst und Hunger. Eine Magensonde wird
jedoch oft als ein Eingriff in die eigene körperliche Integrität wahrgenommen. Der Patient muss deshalb die
Möglichkeit haben, im Wege der Patientenverfügung auf
eine künstliche Ernährung verzichten zu können.
Nach christlicher Überzeugung gilt, dass Gott allen
Dingen ihre Zeit bestimmt. Der Mensch steht letztlich
vor der Aufgabe, zu erkennen, wann was an der Zeit ist.
Dazu kann eben die Erkenntnis gehören, dass auch dem
Sterben seine Zeit gesetzt ist, es also darauf ankommt,
den Tod zuzulassen und seinem Kommen nichts mehr
entgegenzusetzen. Es gibt also keine Pflicht zur Leidensverlängerung um jeden Preis. Wir sollten uns also um
eine gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung,
den Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung und
der Hospizdienste kümmern und uns gemeinsam bemühen, die Bedürfnisse der Ältesten und Schwerstkranken
wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der medizinisch-technische Fortschritt hat
dazu geführt, dass Leben in einem wesentlich größeren
Umfang als früher gerettet und auch verlängert werden
kann.
Wie so häufig hat eine im Grunde positive und erfreuliche Entwicklung auch eine Kehrseite. Heute haben
viele Menschen Angst vor Schmerzen und vor Leiden
am Lebensende. Die Vorstellung, nicht mehr äußerungsfähig zu sein und somit nicht selbst über medizinische
Maßnahmen entscheiden zu können, ist für viele beängstigend.
Genau hier setzt die Patientenverfügung an, über deren
gesetzliche Verankerung wir heute debattieren und für die
ich mich ausdrücklich ausspreche. Denn ich glaube nicht,
dass der bloße Aufruf zu mehr Kommunikation, zu mehr
Information und zu mehr Kooperation ausreicht. Wir
wollen mit der Patientenverfügung die Patientenautonomie stärken und eine selbstbestimmte Entscheidung am
Lebensende ermöglichen. Wie viele andere Unterstützer
des sogenannten Stünker-Entwurfs bin ich der Auffassung, dass die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
nicht davon abhängen darf, dass das Grundleiden irreversibel und trotz medizinischer Behandlung zum Tode führen wird.
({0})
Fragen wir uns doch einmal, warum Millionen von
Menschen Patientenverfügungen verfassen. Das Abfassen einer Patientenverfügung, vor allem einer Ablehnungsverfügung - das sind die allermeisten -, ist in fast
allen Fällen dadurch motiviert, dass jemand, auch wenn
er nicht mehr äußerungsfähig ist, selbst über seine Weiterbehandlung bestimmen und dies eben nicht den Ärzten und damit dem überlassen will, was sie in dieser Situation für richtig halten.
({1})
Wenn man aber die Verbindlichkeit der Patientenäußerung auf Situationen begrenzt, in denen ich nicht äußerungsfähig bin und an einer irreversibel zum Tode führenden Grunderkrankung leide, lege ich diese Entscheidung
doch wieder in die Hände von Dritten, in die Hände von
Medizinern und Ärzten. Dies ist eine Entscheidung, mit
der sich im Übrigen auch die Ärzte schwertun werden,
zumal diese Beurteilung in vielen Fällen nicht eindeutig
zu treffen ist und den Ärzten - das kommt hinzu - im
Falle einer Fehleinschätzung Sanktionen drohen können.
({2})
Vor diesem Hintergrund ist abzusehen, dass Ärzte behandlungsablehnende Patientenverfügungen nicht beachten werden und der in der Verfügung festgehaltene
Wille des Patienten letztlich unberücksichtigt bleibt.
Darüber hinaus vertrete ich die Auffassung, dass die
Reichweitenbeschränkung - darauf haben die Juristen
schon hingewiesen - das Recht jedes Einzelnen auf
Selbstbestimmung zu stark beschneidet. Bei aller gebotenen und notwendigen Fürsorge des Staates darf der
Gesetzgeber meiner Ansicht nach die Freiheit des Einzelnen, der ja für sich persönlich eine informierte Entscheidung trifft und eine solche auch treffen will - das
alles ist freiwillig -, nicht in diesem Ausmaß begrenzen.
({3})
Wir erwarten, dass jeder, der eine Patientenverfügung
abfasst, damit für sich eine individuelle, informierte und
reflektierte Entscheidung trifft; auf die Problematik der
Vorausverfügung ist heute Morgen schon hingewiesen
worden. Deshalb bin ich dafür, dass eine Patientenverfügung ohne Einschränkung der Reichweite verbindlich
ist, wenn bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Dazu zählen für mich neben der Schriftlichkeit
die ärztliche Beratung und Information vor der Abfassung einer Patientenverfügung und eine regelmäßige
Aktualisierung. Ich will sagen, warum. Die ärztliche Beratung dient dazu, über Krankheiten, denkbare Krankheitsverläufe, über medizinische Möglichkeiten und
Behandlungsalternativen wirklich informiert zu sein.
Mögliche Fehlvorstellungen, Fehleinschätzungen auch
durch Unwissenheit und Ängste können so reduziert und
die Folgen eines Behandlungsverzichts deutlich gemacht
werden.
Mein Eindruck ist auch, dass viele, die schon heute
Patientenverfügungen verfasst haben, im Vorfeld einer
solchen Patientenverfügung das Gespräch mit ihrem
Arzt gesucht haben. Auch die Aktualisierung der Patientenverfügung sollte mit einer erneuten Beratung einhergehen, damit die Verfasser einer Patientenverfügung
- gegebenenfalls vor dem Hintergrund einer eigenen
fortschreitenden Erkrankung - auf diese Weise regelmäßig über medizinisch-technische Fortschritte, neue
Behandlungsmöglichkeiten und Entwicklungen in der
Palliativmedizin informiert werden, die mit in die Entscheidung einfließen.
Durch die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen
wird meiner Ansicht nach sichergestellt, dass der Einzelne eine informierte und reflektierte Entscheidung
trifft. Unter diesen Umständen ist eine uneingeschränkte
Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen bei aller Fürsorgepflicht des Staates vertretbar. Ich
finde es wichtig, dass jeder auf der Basis einer selbstgetroffenen und gut informierten Entscheidung ein menschenwürdiges und bis zuletzt selbstbestimmtes Leben
führen kann. Die Koppelung der Reichweite und der
Verbindlichkeit an diese Wirksamkeitsvoraussetzungen
ist meiner Meinung nach der beste Weg, dieses Ziel zu
erreichen und die Patientenautonomie auch am Lebensende zu stärken.
Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich eine Vorsorgevollmacht in Ergänzung zur Patientenverfügung für
mehr als empfehlenswert halte; das ist heute schon
mehrfach angeklungen.
Ich danke für das Zuhören.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Hüppe, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je länger ich mich mit dem Thema Patientenverfügung auseinandersetze, umso unsicherer bin ich - das hat sich auch
durch die heutigen Debattenbeiträge bestätigt -, ob es
wirklich Sinn macht, zu diesem Thema ein Gesetz zu
machen. Ich frage mich, ob es richtig ist, zu glauben, der
Gesetzgeber könne alles regeln, bis in den Tod hinein.
Ich glaube, wir übernehmen uns damit.
Inzwischen hört man auch von den Betroffenen, die
an vorderster Front arbeiten - die Ärztekammer ist schon
häufiger zitiert worden -, dass die Erwartungen, die an
die Patientenverfügung geknüpft werden, viel zu hoch
sind. Die Frage ist: Können Patientenverfügungen die
Selbstbestimmung so absichern, wie sich das viele wünschen? Es ist etwas anderes, wenn ich einwilligungsfähig bin. Dann kommt der Arzt, erklärt mir die Diagnose
und sagt, welche Behandlung im Vordergrund stehen
wird. Er wägt mit mir die Chancen und Risiken ab. Gemeinsam werden wir berücksichtigen, welche Erfolgsaussichten bestehen. Wenn ein Arzt der inneren Medizin
eine neurologische Erkrankung erkennt, dann wird er
diese Entscheidung über die Behandlung nicht mit mir
allein treffen, sondern einen Neurologen hinzuziehen.
All das kann man durch eine Patientenverfügung, die
man möglicherweise Jahre zuvor verfasst hat, nicht abdecken. Selbst wenn man sich alle Mühe gibt, wenn man
sich vorher ärztlichen Rat einholt, wird man nicht für
jede mögliche Situation vorsorgen können. Deswegen
muss man, denke ich, mit dem, was man sagt, sehr vorsichtig sein. Man könnte sonst nämlich den Eindruck erwecken, dass man die Selbstbestimmung durch eine Patientenverfügung wirklich durchsetzen kann und die
Situation dadurch für diejenigen, die am Bett sitzen, einfacher wird.
Man muss einmal in Länder schauen, in denen es gesetzliche Regelungen zur Patientenverfügung bereits
gibt. In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es
seit ungefähr 16 Jahren eine Regelung zur Patientenverfügung. Überall, in jeder Einrichtung, in jedem Krankenhaus und in jeder Pflegeeinrichtung, wird dafür Werbung
gemacht. Trotzdem haben dort nur 18 Prozent aller Menschen eine Patientenverfügung.
({0})
Interessant ist, dass die Patientenverfügung in sehr wenigen Fällen, in denen eine Entscheidung erforderlich ist,
angewandt wird, weil die Patientenverfügung entweder
gar nicht verfügbar ist, nicht aufgefunden wird, oder
weil sie - das ist häufiger der Fall - gar nicht auf die Situation passt.
Herr Kollege Stünker, deswegen habe ich ein bisschen Angst vor der Regelung, die Sie vorschlagen. Sie
betrifft nämlich auch die 97 Prozent der Fälle, in denen
entweder keine Patientenverfügung vorliegt, oder eine,
die nicht genau zu der Situation passt. Sie wollen eine
Regelung für die Fälle schaffen - das sieht Ihr Entwurf,
wenn er denn noch so steht, vor -, in denen keine Patientenverfügung vorliegt. Dann sollen zwei Personen, nämlich der behandelnde Arzt und der Betreuer - ich sage in
Klammern: möglicherweise nur der Berufsbetreuer -, allein entscheiden, ob eine lebensnotwendige Maßnahme
durchgeführt wird oder nicht. Das ist nicht Selbstbestimmung. Da entscheiden zwei andere.
({1})
- Es sei denn, Sie haben es geändert. Sie machen das
ohne das Vormundschaftsgericht.
({2})
- Ich habe Ihren Vorschlag natürlich gelesen. Er enthält
viel Gutes, in diesem Punkt halte ich ihn aber für gefährlich; Sie wollen das Vormundschaftsgericht nicht einbeziehen.
In diesem Zusammenhang muss ich sagen: Auf der
einen Seite wollen Sie in § 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Regelung beibehalten, dass man das Vormundschaftsgericht befragen muss, wenn es um einen
Eingriff geht, der für den Menschen zwar lebensgefährlich ist, der sein Leben aber retten soll. Auf der anderen
Seite soll das Vormundschaftsgericht aber nicht entscheiden, wenn eine Behandlung abgebrochen bzw.
überhaupt nicht durchgeführt werden soll, was zwangsläufig den Tod nach sich ziehen würde. Das halte ich für
falsch; diese Regelung sollten wir nicht treffen.
Zum Schluss möchte ich betonen - hier teile ich, was
andere bereits gesagt haben -: Es trifft nicht hauptsächlich für Fälle auf der Intensivstation zu. Manchmal wird
so getan, als ob Hunderttausende von Menschen auf der
Intensivstation sterben. Das Problem liegt tatsächlich in
den Pflegeheimen. Ich sage Ihnen: Wenn es wirklich so
ist - ich will nicht die Pflegeheime als solche insgesamt
desavouieren -, dass Menschen dort nur aus Zeitgründen
eine Magensonde gelegt wird, weil das Geben der Nahrung zu viel Zeit beanspruchen würde, dann ist da bereits
die Menschenwürde verletzt, dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir diesen Zustand ändern.
({3})
Es wurde bemängelt, dass es eine Grauzone gibt.
Aber ich glaube, als Abgeordnete müssen wir uns damit
abfinden, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von uns haben hier aus einem christlichen Selbstverständnis heraus gesprochen. Auch ich will das tun;
ich spreche hier als evangelische Christin. Ich spreche
auch als Kirchenbeauftragte meiner Fraktion. Ich will
ausdrücklich sagen, dass ich glaube, dass es niemanden
gibt, der für sich in Anspruch nehmen kann, dass er oder
sie allein eine christliche Position vertritt. Ich bin mir sicher: Auch die Christenmenschen in diesem Parlament
werden sich am Ende für verschiedene Anträge entscheiden. Wir müssen uns gegenseitig darüber Auskunft geben, was unser Werthorizont ist und warum wir uns wie
entscheiden.
Ich will mich in diesem Zusammenhang ganz herzlich
bedanken. Gemeinsam mit der Kollegin Fischbach und
den Kollegen Goldmann, Ramelow und Winkler hatten
wir die evangelische und katholische Kirche zu einem
fraktionsoffenen Nachmittag zum Thema Patientenverfügung eingeladen, der, glaube ich, für viele von uns erkenntnisreich war. Wir haben dort eine gute Form der
Zusammenarbeit und der Diskussion gestartet.
({0})
Es ist schon erwähnt worden: Auch die Kirchen geben christliche Patientenverfügungen heraus, seit 1999
über 2,5 Millionen. Es gibt eine große Nachfrage. Die
zweite Auflage wurde bezüglich der Reichweite erweitert, nämlich um zusätzliche Verfügungen für Situationen außerhalb der eigentlichen Sterbephase. Das heißt,
das Bedürfnis danach ist anscheinend vorhanden und
sehr groß.
Mir ist ganz wichtig festzuhalten, dass wir uns darüber einig sein müssen, dass es niemals so etwas wie
eine Pflicht zu einer Patientenverfügung geben darf.
Niemals darf es so sein, dass ein Pflege- oder Altersheim
verlangt, dass jemand, der dort aufgenommen wird, eine
Patientenverfügung hat. Ich denke, das muss klar sein
und dagegen müssen sich alle äußern.
({1})
- Aber es ist nicht anständig, wenn es gang und gäbe ist.
Das darf nicht sein. Auch das muss man sagen dürfen.
({2})
- Es ist sogar rechtlich nicht zulässig.
Mein zweiter Punkt. Leben und Sterben haben ihre
Zeit. Leben und Sterben liegen nach christlichem Selbstverständnis in Gottes Hand. Aber dennoch dürfen und
müssen wir Menschen darüber nachdenken, wie wir sterben wollen. Deshalb ist die Hospizarbeit, die hier schon
vielfach erwähnt wurde, so wichtig. Die Schriftstellerin
Hilde Domin hat einmal vom „kostbarsten Unterricht am
Sterbebett“ gesprochen. Wenn wir diese Arbeit machen
und wenn wir damit in Kontakt kommen, belehrt uns das
über uns selbst. Ich bin froh, dass wir endlich begonnen
haben, die Palliativmedizin und Hospizarbeit stärker zu
unterstützen.
Wichtig ist mir: Wir leben nicht allein, wir sterben
auch nicht allein. Zum Sterben gehören pflegende Angehörige, Freundinnen und Freunde, Ärztinnen und Ärzte,
Seelsorgerinnen und Seelsorger. Ich glaube, wir sollten
Selbstbestimmung und Fürsorge nicht gegeneinandersetzen. Das dürfen keine Gegensätze sein. Gerade am
Ende des Lebens gehören Selbstbestimmung und Fürsorge zusammen. Krankheit, Sterben und Tod eines
Menschen können nicht ohne seine soziale Einbettung,
ohne die Fürsorge anderer Menschen verstanden werden.
Ich will die Kammer für Öffentliche Verantwortung
der Evangelischen Kirche in Deutschland zitieren, die
unter dem Titel „Sterben hat seine Zeit“ ein interessantes
Papier vorgelegt hat. Dort heißt es:
Der Respekt vor der Selbstbestimmung der Patienten ist … geradezu eine Implikation der Fürsorge.
({3})
Das heißt, Fürsorge und Selbstbestimmung gehören
zusammen. Es gehört gerade zur Fürsorgepflicht der
Ärzte, dass sie die Selbstbestimmung achten, dass sie
Leben erhalten und Sterben nicht verlängern. Zum Leben gehört das Sterben. Patientenverfügungen sollen
dazu beitragen, dass Ärzte diese Fürsorgepflicht wahrnehmen.
Ich glaube, dass wir in der Frage der Verbindlichkeit
und Gültigkeit sehr eindeutige Regelungen für Patientenverfügungen brauchen. Ich glaube, man kann meinem
Kollegen Stünker nicht unterstellen, dass er in seinem
Entwurf einen Automatismus befürwortet. Selbstverständlich muss eine Patientenverfügung immer interpretiert werden. Es muss immer die Möglichkeit bestehen,
dass auch mündliche Äußerungen, körperliche Regungen oder Zeichen eines Patienten in die Interpretation
der Patientenverfügung einfließen. Brigitte Zypries hat
das vorhin die „Gesamtschau des Lebens“ genannt. Niemand wird sagen können, dass es einen absoluten Automatismus gibt.
({4})
Auch die, die sich für die Regelung einer Patientenverfügung aussprechen, werden, wie ich hoffe - zumindest ist
das mein Eindruck aus dieser Diskussion -, sagen: Wir
müssen darauf achten, wie und wo sie zutrifft.
Ich möchte noch einmal aus dem Papier der EKD zitieren:
Wenn ein urteilsfähiger Patient angesichts von
schwerster Krankheit und Leiden Nahrung verweigert, verbietet es der Respekt vor dessen Selbstbestimmung, ihn in diesem Fall zwangsweise zu ernähren. Wenn wir aber in dieser Weise den Willen
und die Selbstbestimmung des urteilsfähigen Patienten respektieren, muss dies prinzipiell auch für
den Fall seiner Urteilsunfähigkeit gelten.
({5})
Das macht deutlich, dass Respekt vor dem Patienten
und Fürsorge wichtig sind. Der aktuelle Wille hängt nun
einmal sehr stark mit dem zusammen, was man vorher
als Willen aufgeschrieben hat. Aber es kommen weitere
Aspekte hinzu. Auch das muss ein verantwortlicher, fürsorglicher Arzt, ein Bevollmächtigter oder ein Betreuer
klären.
Ich will kurz auf die Bestimmung der Reichweite eingehen. Dieser Punkt, der der ethisch schwierigste Aspekt
in dieser Debatte ist, macht mir persönlich - ich sage das
ganz ehrlich - die meisten Probleme; da ich dieser Diskussion bereits seit 9 Uhr folge, kann ich sagen, dass sie
eine der interessantesten ist, die wir je geführt haben.
({6})
Ich glaube, dass ich in eine Patientenverfügung schreiben würde, dass sie für tödlich verlaufende Krankheiten
gelten soll. Aber ich kann nicht zu der Entscheidung
kommen, das allen anderen Menschen so vorzuschreiben.
({7})
Hier müssen wir genau unterscheiden.
Ich habe auch ein Problem damit, dass Demenz und
Wachkoma in einigen Diskussionen gleichgesetzt werden. Ich bin der Meinung, dass es einen großen Unterschied zwischen Demenz und Wachkoma gibt und dass
man damit unterschiedlich umgehen sollte.
({8})
Mein letzter Punkt - ich spreche diesen Aspekt nur
ganz kurz an, weil die Kolleginnen Reimann und
Volkmer dazu bereits Vorschläge gemacht haben -: Ich
glaube, wir brauchen unbedingt die Festlegung auf die
Schriftform, die Pflicht zur Aktualisierung und die Möglichkeit der Beratung. All das ist notwendig, um deutlich
zu machen, dass die Würde und der Wille der Schwerstkranken unsere obersten Prinzipien sind, damit bei der
Abfassung einer Patientenverfügung nicht die Angst vor
Fremdbestimmung oder Apparatemedizin die Feder
führt. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens bis zum Ende, also bis zum Sterben, das zum Leben
gehört, ist eine Aufgabe, die weit über die Patientenverfügung hinausreicht. Ich hoffe, dass wir auch bei anderen Themen, bei denen wir uns mit solchen Fragen beschäftigen müssen, gute Lösungen finden werden.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat das Wort die Kollegin Julia Klöckner, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte, die wir nun schon seit fast drei Stunden
führen, hat mich sehr nachdenklich gemacht, und ich
denke, auch Sie. Es sind Aspekte und Akzentuierungen
zur Sprache gekommen, die auch diejenigen, die in dieser Frage eine feste Meinung haben, doch noch einmal
zum Reflektieren bringen. Ich finde, wir sollten diese
Debatte zum Anlass nehmen, uns innerhalb der Fraktionen erneut mit diesem Thema zu beschäftigen.
Vorweg zu meiner persönlichen Positionierung: Ich
unterstütze den Antrag der Kollegen Bosbach, Winkler,
Fricke und Röspel. Für mich ist die Frage von Bedeutung, welche Alternativen wir im politischen Prozess haben. Wenn man die beste Entscheidung nicht erreicht,
dann sollte man überlegen, welche Entscheidung die
zweitbeste ist, um sozusagen - das sage ich aus meiner
Sicht; damit möchte ich andere Meinungen nicht abqualifizieren - etwas Schlimmeres zu verhindern.
Dass wir alle sterben werden, ist unausweichlich.
Wenn allerdings danach gefragt wird, wie jemand sterben möchte - das hat eine Umfrage der Deutschen Hospiz-Stiftung ergeben -, dann antworten die meisten Menschen: erst im hohen Alter, man möchte geistig und
körperlich fit sein, alle Lieben um sich versammelt haben, in Frieden vereint sein und irgendwann einfach zu
Hause einschlafen. - Das ist eine wunderbare Vorstellung. Doch nur ein ganz geringer Prozentsatz wird das so
erleben. Denn die Patientenverfügung hat einen ganz
klaren Gegner: die Realität. Wir möchten mit Blick auf
die letzte Lebensphase für Sicherheit sorgen, aber das
einzige, was sicher ist, ist die Unsicherheit.
Es ist nicht gerade erheiternd für die nachmittägliche
Runde in der Familie, über Patientenverfügungen oder
über den letzten Lebensabschnitt zu reden. Aber wir
brauchen Kommunikation. Kommunikation leisten wir
heute auch mit dieser Debatte. Deshalb auch Dank an die
Vorsitzenden und an die Geschäftsführer aller Fraktionen, dass wir in der Kernzeit drei Stunden lang und ohne
gewissermaßen Schaum vor dem Mund zu haben darüber debattieren.
Auch wenn wir ein Gesetz machen, können wir damit
nicht alle Klarheiten schaffen, die wir uns wünschen und
von denen heute auch geredet wurde, bzw. die Unklarheiten ausräumen, die heute bemängelt wurden. Aber
was wir schaffen können und sollten, ist Klarheit für die
am Prozess Beteiligten, auch für diejenigen, die eine solche Patientenverfügung umsetzen müssen. Heute früh
bekam ich einen Anruf von dem Chefarzt eines Krankenhauses in meinem Wahlkreis. Er hat mir erzählt, dass
eine Klage von einem Sohn anhängig ist, der sich dadurch, dass der Arzt nicht die Patientenverfügung umgesetzt hat, wodurch es zu erhöhten Pflegekosten kam, um
sein Erbe betrogen fühlt. Wir brauchen Rechtssicherheit
für die Ärztinnen und Ärzte.
Ich möchte auch sagen: Ich bin für eine Reichweitenbegrenzung, um Missbrauch zu verhindern. Ich gebe zu,
dass ich Bauchschmerzen habe angesichts dessen, dass
das Wachkoma laut Entwurf in die Reichweitenbegrenzung einbezogen werden soll. Denn ich habe ein Wachkomazentrum besichtigt. Kollege Hüppe ebenfalls; er
hat in seinem Wahlkreis auch eines.
({0})
- Viele andere auch. Herr Kauch, ich freue mich, dass
auch Sie in einem waren.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass Wachkomapatienten
nicht zwingend Sterbende sind, sondern dass das Wachkoma auch ein Zustand der Behinderung sein kann. Wir
müssen uns also fragen: Was bedeutet es, wenn wir diese
Reichweite noch vergrößern oder ganz wegfallen ließen?
Wie gehen wir um mit Behinderung in unserer Gesellschaft?
({1})
Wir müssen aufpassen, dass wir die Autonomie nicht
konterkarieren. Ich habe gestern Abend im Taxi den
Fahrer gefragt, ob er sich schon einmal über das Thema
Patientenverfügung Gedanken gemacht habe. Er antwortete mir: Ja, abschalten. Das war schwierig, und unser
Gespräch zog sich dann etwas länger hin. Allein dass jemand so schnell eine Antwort finden zu können meint,
macht mir schon Sorge. Die Frage ist: Muten wir den
Bürgerinnen und Bürgern, die keine medizinische, keine
juristische Ausbildung haben, bei dieser Entscheidung
nicht zu viel zu? Auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes heißt es: Beim Haustürgeschäft gilt ein 14-tägiges
Widerrufsrecht, weil man sich irren kann. Wenn hingegen eine solche Patientenverfügung umgesetzt wird, das
heißt lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden,
ist irren zwar menschlich, aber unumkehrbar. Ohne
Reichweitenbeschränkung, meine ich, werden wir gerade das Gegenteil bekommen.
Abschließend möchte ich auf den Freiburger Appell
hinweisen, unterzeichnet von Professor Dr. Thomas Klie
und Professor Dr. Christoph Student. Beide haben, finde
ich, etwas Wichtiges festgehalten: dass es nicht sein
kann, dass der Tod das kleinere Übel ist, um unzureichende Lebensbedingungen zu beenden, und dass es
nicht sein kann, dass diejenigen, die keine Patientenverfügung verfassen, das Gefühl haben müssen, dass nicht
in ihrem Sinne entschieden wird. Ich bin der Meinung,
wir müssen uns zusammensetzen, wir müssen schauen,
wie wir Rechtsklarheit schaffen, aber im Zweifel für das
Leben plädieren. Sicherheit, Selbstbestimmung - aber
für das Leben.
Besten Dank.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird
keine Not entstehen, wenn wir uns Zeit lassen mit diesem Gesetz zu Patientenverfügungen. Die Patientenverfügung ist ein kleiner, juristischer Baustein in einem größeren Problemfeld. In diesem großen Problemfeld um
das Sterben in Deutschland gibt es in der Tat viel zu tun,
auch für den Gesetzgeber. Wir haben schon einiges getan: Wir haben die Bedingungen für Hospize verbessert.
Wir hoffen, dass die Krankenkassen jetzt etwas mehr als
bisher für die Palliativversorgung tun. Es ist nicht leicht
für die Kassen, das zu tun; denn die Sterbenden sind
häufig die teuersten Versicherten. Eine Kasse, die sich
dort anstrengt, muss das auch zahlen. Im Wettbewerb der
Kassen wird das manchmal schwierig. Das mag ein
Grund dafür sein, dass es bisher so wenig Palliativversorgung gibt.
Wenn wir uns die tägliche Not ansehen - die es in der
Tat gibt -, dann stellen wir fest, dass es zum einen die
Not derjenigen gibt, die krank sind, dass es zum anderen
aber auch die Not derjenigen gibt, die den Kranken gegenüberstehen. Ich bin lange Stationsarzt auf einer Intensivstation gewesen. Ich habe Menschen reanimiert
und mir hinterher Vorwürfe gemacht, dass ich sie reanimiert habe. Ich habe Apparate ausschalten und Menschen sterben lassen müssen. Ich habe versucht, Angehörige zu erreichen, was ich nicht immer geschafft habe.
Das Ganze geschah im Schichtdienst und unter großem
zeitlichem Druck. Das ist seit der Zeit, in der ich im
Krankenhaus gearbeitet habe, noch schlimmer geworden.
Es besteht Personalknappheit. Durch die Arbeitskapazität, die für die Bedienung der vielen tollen technischen Möglichkeiten erforderlich ist, und die administrativen Vorgänge wird die Zeit des Personals, der
Pflegekräfte und Ärzte, aufgefressen, die diese eigentlich bräuchten, um solche Gespräche zu führen, wie wir
sie uns vorstellen.
({0})
Hier liegt nicht nur möglicherweise ein Versagen juristischer Apparate, sondern auch ein Organisationsversagen
in den Einrichtungen vor, in denen Menschen in
Deutschland sterben. Hier müssen wir etwas tun.
({1})
Ich sagte es bereits: Wir haben damit angefangen, etwas zu tun. Wie sieht es aber in den Pflegeheimen aus?
Mir ist von Ärzten eines Krankenhauses von einem Fall
berichtet worden, über den sie dort lange diskutiert haben: Aus einem Pflegeheim wurde eine Frau eingewiesen, der eine Magensonde gelegt werden sollte. Das
Pflegeheim sagte: Wir können das nicht, wir können sie
nicht mehr ernähren. Die Ärzte im Krankenhaus haben
ihre eigenen Pflegekräfte angeordnet: Nein, versucht
einmal, sie zu füttern und ihr etwas zu trinken zu geben.
Das hat geklappt. Diese Patientin wurde wieder zurück
ins Pflegeheim verlegt. Die Ärzte haben dann herausbekommen, dass sie eine Woche später in das Nachbarkrankenhaus eingeliefert wurde. Dort hat man die Sonde
sofort gelegt.
Ich glaube, es wird klar, was das bedeutet und wie
wichtig schon die Indikationsentscheidung ist. Wenn Sie
sich anschauen, dass im Wettbewerb die Ausgaben für
das Personal gesenkt werden, wie wenig Zeit auch für
das Pflegepersonal vorhanden ist, um Gespräche zu führen, und welche Not in den Pflegeheimen herrscht, dann
wird klar, dass es nicht die Pflegekräfte sind, die unverantwortlich handeln. Sie haben gar keine Zeit für das geduldige Füttern und für Gespräche!
({2})
Wir müssen uns fragen, weshalb 80 Prozent der Menschen sagen: Um Gottes willen, ich will nicht ins Heim,
ich will zu Hause bleiben, wenn es mir schlecht geht.
Das wissen wir ganz eindeutig. Trotzdem landen die
meisten dort. Hier gilt es, etwas zu tun.
Wir werden über die Pflegeversicherung beraten.
Dann wird wirklich etwas entschieden, weil wir dort
nämlich etwas tun und dafür sorgen können, dass die
Menschen zu Hause bleiben können, dass sie dort nicht
allein gelassen werden
({3})
und dass der Hausarzt jederzeit jemanden heranziehen
kann, der sich mit der Schmerztherapie auskennt. Das
Wesentliche ist, dass wir solche Gesetze vernünftig gestalten.
Das, was wir jetzt tun, ist ein juristisches Ablassgeschäft. Von daher denke ich, dass wir uns konzentrieren
sollten. Wir verlieren nichts, wenn wir hierüber ruhig
diskutieren. Mit dieser Debatte ist der große Vorteil verbunden, dass wir die Chance haben, uns die ganze Problematik wirklich in Ruhe und in all ihren vielen Dimensionen anzusehen.
Wenn ich die juristischen Perspektiven betrachte,
dann erkenne ich, dass das meiste geregelt ist. Die Sorgfaltspflicht derjenigen, die als Arzt, als Pflegekraft und
als Betreuer Verantwortung tragen, besteht bereits. Jeder
muss sich danach erkundigen und müsste nachforschen,
was der wirkliche Wille des Patienten ist. Es wäre schön,
wenn wir auch die notwendige Zeit dafür zur Verfügung
stellen könnten und es ermöglichen würden, dass das
dann auch geschieht.
Viele sagen, die Vorsorgevollmacht sei eigentlich die
bessere Lösung. Dabei wird jemand bestimmt, der mich
kennt und für mich entscheidet, weil er weiß, wie ich
jetzt entscheiden würde. Das ist ohne Zweifel besser als
eine Patientenverfügung. Das Problem ist nur:
60 Prozent der Haushalte in Berlin und in anderen Städten sind Einpersonenhaushalte.
({4})
Was kann man da also machen? Man muss dafür sorgen,
dass sich die Leute treffen. Wir müssen Möglichkeiten
dafür schaffen, dass man über diese Dinge diskutiert.
Warum soll nicht jeder Hausarzt eine Möglichkeit anbieten, sich zu treffen, zu diskutieren und jemanden zu finden, mit dem man sich verabredet?
All diese Punkte können vermittelt werden. Wir können sehr viel dafür tun. Deshalb bitte ich darum, dass wir
uns bei dieser Gelegenheit vornehmen, noch viel mehr
zu tun, als nur diese rechtliche Regelung zur Patientenverfügung zu schaffen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Christ kann ich sagen: Ich weiß mein Leben in Gottes Hand. Dieses Wissen gibt vielen Menschen auch mit
Blick auf das Ende des Lebens Gelassenheit. Deswegen
werden viele im Vertrauen auf gute Ärzte, Pfleger und
liebe Angehörige, die sie am Ende ihres Lebens begleiten, auch in Zukunft darauf verzichten, eine Patientenverfügung zu verfassen.
Aber je mehr sich die Möglichkeiten der modernen
Medizin und Technik weiterentwickeln, desto stärker
kann der Eintritt des Todes durch menschliches Handeln
beschleunigt oder verzögert werden. Deswegen werden
mit Sicherheit immer mehr Menschen hinsichtlich dieses
menschlichen Handelns in einer Patientenverfügung
Vorsorge treffen wollen.
Das eigentliche Problem der Patientenverfügung liegt
darin, dass man zu einem frühen Zeitpunkt bei vollem
Bewusstsein etwas niederschreibt, das man im Falle der
Nichteinwilligungsfähigkeit nicht mehr korrigieren
kann. Deswegen verstehe ich die Polemik gegen die im
Bosbach-Entwurf vorgeschlagene Reichweitenbegrenzung einer Patientenverfügung nicht.
({0})
Denn was die Behauptung angeht, durch die Reichweitenbegrenzung würde das Selbstbestimmungsrecht des
Einzelnen ausgehebelt, meine ich, dass das Gegenteil der
Fall ist. Ich meine, dass die Reichweitenbegrenzung
Ausdruck von Hochachtung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht ist; denn aufgrund unserer Lebenserfahrung wissen wir, dass der aktuelle Wille von dem Willen
differieren kann, den man vor vielen Jahren in schriftlicher Form verfügt hat.
({1})
- Er kann differieren. Aber das ist ein wichtiger Punkt.
Ich kann auch den Hinweis auf andere Verträge nicht
nachvollziehen. Jeden Vertrag können wir wie alles, was
wir tun, zu korrigieren versuchen. Aber die Entscheidung über Leben und Tod ist endgültig; sie ist nicht korrigierbar. Deswegen haben wir, glaube ich, so große
Schwierigkeiten, diese Entscheidung gesetzlich zu regeln.
Ich glaube auch nicht, dass man den Abgeordneten
des Parlaments vorwerfen kann, sie würden sich als Besserwisser gegenüber denjenigen aufführen, die in einer
Patientenverfügung eine Festlegung getroffen haben. Ich
glaube vielmehr, dass wir Abgeordneten, die über das
Gesetz entscheiden, die Lebenserfahrung berücksichtigen müssen, dass ein einmal verfügter Wille nicht immer
auch dem aktuellen Willen entspricht. Deswegen plädiere ich für die Reichweitenbegrenzung.
Für mich und, wie ich weiß, etliche andere Kollegen
ist eine der schwierigsten Fragen, wie im Falle schwerster Demenz und eines seit langem anhaltenden Wachkomas mit einer Patientenverfügung umzugehen ist. Die
Entscheidungsfindung in dieser Frage wird auch nicht
dadurch leichter, dass vonseiten der wissenschaftlichen
Ethik und der christlichen Kirchen dazu differenzierte
Empfehlungen gegeben werden. Dass es dabei nicht um
Sterbende, sondern um Schwerstkranke geht, ist klar; es
sind allerdings Schwerstkranke, die nach ärztlicher Erkenntnis das Bewusstsein niemals wiedererlangen
Peter Weiß ({2})
werden und die in ihrer Patientenverfügung eine Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen angeordnet haben.
Ich glaube, dass für diesen Fall besonders strenge Voraussetzungen definiert werden müssen, um einer Patientenverfügung Geltung zu verschaffen. Dazu gehört,
dass der Betroffene selber lebenserhaltende Maßnahmen
für diesen konkreten Fall in einer Patientenverfügung
wirksam ausgeschlossen hat, dass er ohne Bewusstsein
ist und nach ärztlicher Erkenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischer Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wiedererlangen wird und dass das Vormundschaftsgericht
dies überprüft und genehmigt hat. Keinesfalls darf eine
Basisversorgung unterbleiben, und keinesfalls darf ein
nur mutmaßlicher Wille ausschlaggebend sein.
Ich glaube, dass mit diesen hohen Anforderungen der
Pflicht, einen verhältnismäßigen Ausgleich herbeizuführen zwischen den verfassungsrechtlichen Geboten der
Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen
und der staatlichen Schutzpflicht für das Leben, Genüge
getan werden kann.
Nun wird in dieser Debatte - und erst recht von außerhalb des Parlaments - geraten, gesetzlich eher nichts
zu regeln. Ich bin aber der Auffassung: Wenn wir für die
Menschen, die uns fragen, was ihre Patientenverfügung
wert ist und was sie wirklich bedeutet, und für diejenigen, die als Ärzte, Bevollmächtigte, Betreuer oder Pfleger mit einer Patientenverfügung umgehen, mit einem
Gesetz mehr Klarheit schaffen können, dann sollten wir
vor dieser Aufgabe nicht kneifen, sondern eine entsprechende gesetzliche Regelung treffen.
Vielen Dank.
({3})
Nun hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von der
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir uns mit dem Thema Patientenverfügung befassen, dann sprechen wir gleichzeitig über unsere innersten Überzeugungen, über den Umgang mit Leben
und Sterben. Das sieht bei jedem Menschen anders aus.
Jeder Mensch hat ganz eigene Vorstellungen davon, was
für ihn eine unzumutbare Belastung ist oder was er als
würdelos empfindet. Das haben wir zu akzeptieren.
Patienten schreiben Verfügungen, um ihrem Willen
dann Geltung zu verschaffen, wenn sie sich nicht mehr
selbst äußern können. Aber mit der Begründung der notwendigen Fürsorge werden immer wieder Patientenverfügungen missachtet, und zwar deswegen, weil die Meinungen darüber, welche Rechtsqualität und Bindung
eine Patientenverfügung für Ärzte hat, weit auseinandergehen. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damit
Rechtssicherheit herrscht.
({0})
Wir brauchen in diesem Bereich eine gesetzliche Regelung, auch wenn es gleichzeitig notwendig ist, die Palliativmedizin und das Hospizwesen zu stärken und die
Organisationsstrukturen im Krankenhaus und im Pflegeheim zu ändern.
Die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung kann
nicht davon abhängen, dass das Leiden einen irreversibel
tödlichen Verlauf genommen oder der Patient einen endgültigen Bewusstseinsverlust erlitten hat. Abgesehen davon, dass eine solche Einschränkung medizinisch unsinnig ist, ist sie auch ethisch nicht tragbar. Sie widerspricht
der Selbstbestimmung der Menschen und würde in der
Konsequenz zu Zwangsbehandlungen führen.
({1})
Die Zulässigkeit einer Behandlung muss in jedem
Fall - unabhängig vom Krankheitsstadium - vom tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten abhängen.
Es ist zweifellos richtig, dass eine Patientenverfügung
für eine im Voraus nur schwer vorhersehbare Situation
getroffen wird. Deshalb ist es meiner Meinung nach
wichtig, die verbindliche Patientenverfügung, die Arzt
und Vorsorgebevollmächtigten bzw. Betreuer bindet
- diese müssen die Verfügung ja umsetzen -, an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen, nämlich die dokumentierte ärztliche Beratung und die Aktualisierung.
Ich möchte das kurz begründen. Es ist notwendig, den
Dialog über die Behandlung, der ja mit dem äußerungsunfähigen Patienten nicht mehr geführt werden kann,
vor Abfassung der Patientenverfügung mit dem Arzt des
Vertrauens zu führen. Es geht darum, möglichst genau zu
beschreiben, welche Maßnahmen in welcher Situation
durchgeführt oder unterlassen werden sollen. Das kann
ein Patient in der Regel nicht allein. Er braucht hierzu
eine professionelle Beratung. Eine Patientenverfügung
ist ein Dokument, bei dem es letztlich um Leben und
Tod geht. Auch darüber muss sich der Patient im Klaren
sein.
Eine Aktualisierung der Patientenverfügung - zum
Beispiel alle fünf Jahre - ist erforderlich, weil sich die
Medizin schnell weiterentwickelt und schon nach fünf
Jahren im Lichte neuer Behandlungsmethoden oder Erkenntnisse möglicherweise durch den Patienten eine andere Entscheidung getroffen wird.
Patientenverfügungen, die diese Voraussetzungen nicht
erfüllen, sind unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung als starkes Indiz für den Patientenwillen zu beachten und natürlich zu befolgen. Aber hier erfolgt die
Umsetzung eben nicht unmittelbar durch den Vorsorgebevollmächtigten oder den Betreuer. Hier muss dann der gesetzliche Vertreter - natürlich immer in enger Beratung
mit dem Behandlungsteam - über das weitere Vorgehen
nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten entscheiden.
Der Respekt vor der Patientenautonomie und die gesetzliche Regelung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sind nach meiner Überzeugung wesentliche
Voraussetzungen, damit das Verbot der aktiven Sterbehilfe auch in Zukunft in Deutschland eine breite gesellschaftliche Akzeptanz findet.
({2})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Raab,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer wünscht sich nicht für sein späteres Ableben, sanft
einzuschlafen? Leider sieht die Realität in den meisten
Fällen anders aus. Gerade der medizinische Fortschritt
hat dazu geführt, dass nicht nur das Leben, sondern auch
das Leiden verlängert werden kann. Deshalb stellt sich
für immer mehr Menschen die Frage: Wie kann ich mich
und meine Angehörigen darauf vorbereiten, und wie
kann ich meinen Willen bzw. den meiner Angehörigen
durchsetzen oder durchsetzen lassen, wenn ich selbst
bzw. meine Angehörigen dazu nicht mehr in der Lage
sind? Obwohl sich aus der bisherigen Rechtslage eine
Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ableiten lässt
und obwohl wir eine gute Rechtsprechung haben, stellen
immer mehr Menschen fest, dass trotz Vorliegens einer
eindeutigen Patientenverfügung diese oft unterschiedlich
interpretiert wird. Deswegen sehe ich genauso wie viele
meiner Kollegen - darin sind wir uns einig - gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Was wollen wir? Wir wollen in der Tat eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung, um gerade
Rechts- und Verhaltensunsicherheiten in einer Situation
zu beseitigen, die an sich schon zu sensibel und zu
schwierig ist, um sie noch mit zusätzlichen Unsicherheiten zu belasten. Deshalb sieht der Bosbach-Entwurf, zu
dem ich mich eindeutig bekenne, eine einfache äußerliche Form, die Schriftform, vor. Wir wollen keine notarielle Beurkundung. Wir wollen keine Pflichtberatung
im Vorfeld. Wir können diese nur empfehlen. Natürlich
würde sie Sinn machen. Wir wollen sie aber nicht gesetzlich vorschreiben. Unser Petitum ist klar: möglichst
niedrige Hürden für die Patientenverfügung.
Wir wollen - wir haben darüber lange diskutiert und
waren uns nicht immer ganz einig - kein Verfallsdatum
für eine Patientenverfügung. Sie wird niedergelegt und
gilt, solange sie nicht - in welcher Form auch immer widerrufen wurde.
Wir wollen zudem eine in ihrer Reichweite beschränkte Patientenverfügung; dazu wurde schon vieles
gesagt. Es ist juristisch argumentiert worden. Aber man
muss hier auch zutiefst menschlich argumentieren. Ich
stelle die Frage, die mich bewegt - Herr Stünker, ich
habe mich mit Ihrem Entwurf sehr intensiv auseinandergesetzt und habe gut zugehört, weil ich mich noch immer überzeugen lasse; aber bisher hat Ihre Argumentation nicht gegriffen -: Können wir immer mit absoluter
Sicherheit sagen, dass der Patient in der eingetretenen
Krankheitssituation, in einer Situation, in der er nicht
mehr bei Bewusstsein ist, genauso entscheiden würde,
wie er es Jahre zuvor verfügt hat? Ist es tatsächlich noch
sein aktueller Wille, den er im Voraus verfügt hat? Man
muss sich das einmal praktisch vorstellen: Allein die
persönliche Lebenssituation kann sich zwischen Niederlegung der Patientenverfügung und Auftreten einer
Krankheit verändert haben.
Nehmen Sie folgenden Fall als Beispiel - vorhin
wurde gesagt, wir sollten keine Beispielsfälle anführen;
aber wir brauchen solche Beispiele, um es plausibel zu
machen -: Ein junger Mann verfasst eine Patientenverfügung, in der sinngemäß steht, eine Querschnittslähmung
sei für ihn das Allerschlimmste, was ihm passieren
könne.
({0})
- Ich sagte „sinngemäß“; ich möchte hier jetzt keine Patientenverfügung ausformulieren. - Er schreibt hinein sinngemäß -: Wenn ihm etwas passiert, er bewusstlos ist
und ihm eine Querschnittslähmung droht, dann möchte
er auf gar keinen Fall weiter behandelt werden. Mittlerweile sind nach dieser Verfügung zehn Jahre vergangen,
der junge Mann ist Familienvater geworden und hat sich
mit dem Gedanken an seine Patientenverfügung nicht
weiter beschäftigt; auch das soll vorkommen, auch das
ist zutiefst menschlich. Er wird jetzt Opfer eines schweren Autounfalls, fällt in die Bewusstlosigkeit und kommt
ins Krankenhaus.
Die Patientenverfügung liegt auf dem Tisch. Was tun
wir nun? Wollen wir ernsthaft ihm und - das bitte ich
nicht zu vergessen - seinen Angehörigen sowie den Ärzten nun zumuten, die Geräte abzuschalten?
({1})
Ich sage Nein. Für uns gilt immer noch die Unterscheidung - das haben wir auch im Entwurf klar niedergelegt -: Lassen wir einen Sterbenden sterben, oder beenden wir das Leben eines noch Lebensfähigen, dessen
Gesundung nicht ausgeschlossen ist? Deswegen plädiere ich für eine klare Reichweitenbeschränkung.
Ich habe allergrößten Respekt, Herr Stünker und
auch Kollege Bosbach, vor dem Vorhaben, überhaupt
eine gesetzliche Regelung zu treffen; denn Sie haben
sich hier - wie auch viele Kollegen - mit einem äußerst
sensiblen Thema befasst, um das man sich gerne drücken möchte. Ich plädiere wirklich dafür, dass wir uns
intern schon darüber auseinandersetzen, was wir wollen und was nicht, was unsere Grundüberzeugungen
sind und was nicht, ohne dass jemand in die eine oder
andere Ecke gestellt wird. Ich persönlich kann Sie nur
bitten, unseren Weg - wenn ich das so sagen darf - mitzugehen und damit für Selbstbestimmung und Lebensschutz zu entscheiden.
Vielen Dank.
({2})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Rolf Stöckel,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte war gut - ich bin ja der vorletzte Redner und wage
das insofern zu beurteilen -, sie war vor allen Dingen
wichtig - das haben viele Kollegen hier deutlich gemacht -, und sie war von Respekt vor den jeweils anderen Auffassungen getragen.
Ich glaube, dass wir gemeinsam Ja sagen zu einer
neuen Lebens- und Behandlungsqualität im Sterbeprozess, die im Palliativ- und Hospizbereich, aber ebenso
im Pflegebereich auszubauen ist. Wir sagen aber Nein zu
einem Lebensverlängerungs- und Behandlungszwang,
der rein gar nichts mit ärztlicher Fürsorge zu tun hat.
Weil das in den bisher 29 Reden nicht vorgekommen ist,
sage ich an dieser Stelle, dass eine Patientenverfügung
natürlich auch bewirken kann, dass alle medizinisch indizierten und möglichen lebensverlängernden Maßnahmen eingefordert werden.
({0})
Heute garantiert die moderne Medizin ein immer längeres Leben und eine fast unbeschränkte Erhaltung körperlicher Funktionen - auch bei Krankheitszuständen,
welche die Betroffenen selbst für sich nicht mehr als verlängerungswürdig empfinden. Da kann wohl niemand
mehr glaubwürdig darstellen, Leben und Sterben lägen
in „Gottes Hand“ oder entsprächen noch einem natürlichen Lauf der Dinge.
Ich empfinde es im Übrigen als großen Fortschritt,
dass viele engagierte Menschen berufs-, partei- und
weltanschauungsübergreifend mitgeholfen haben, dass
in dieser Debatte mittlerweile nicht mehr bedenkenlose
Euthanasiebefürworter oder paternalistische Kreuzritter
den Ton angeben, sondern engagierte Mediziner und Juristen überall in Deutschland, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ambulanten wie stationären Pflege- und
Palliativteams sowie Patientenberatungs- und Hospizdiensten genauso wie Theologen und Medizinethiker.
Ich sage auch ganz klar, dass mir diese Entwicklung zu
einer bürgerschaftlichen und professionellen Praxis für ein
menschenwürdiges, selbstbestimmtes Sterben noch wichtiger ist als eine Gesetzgebung, die oft dem Einzelfall gar
nicht gerecht werden kann. Die Gesetzgebung kann und
muss meiner Meinung nach aber einen klarstellenden
Rahmen im Betreuungsrecht für die Praxis vorgeben;
denn sonst werden die Rufe nach einer Regelung für aktive Sterbehilfe wie der niederländischen - das Beispiel
des Taxifahrers haben wir gerade gehört - nicht nur nicht
verstummen, sondern lauter werden. Dann werden uns die
Menschen fragen: Ist die Politik nicht in der Lage, einen
wesentlichen Lebensbereich, nämlich den Sterbeprozess,
rechtlich in einer Rahmenregelung niederzulegen?
Was ich wie viele Experten für verwirrend und nicht
umsetzbar halte, ist der Vorschlag im Entwurf des Kollegen Bosbach, nämlich die Reichweitenbeschränkung,
auf die schon eingegangen worden ist. Diese Beschränkung im Bosbach-Antrag ist ein Rückschritt hinter die
bestehende Rechtsprechung. Ich meine, dass sie nicht
nur praxisfern, sondern auch mit der aktuellen Rechtsprechung und den Verfassungsgrundsätzen unvereinbar
ist. Das würde nämlich Millionen von Patientenverfügungen, die schon existieren - das ist hier oft gesagt
worden -, wertlos machen.
Es muss uns doch zu denken geben, dass sich höchst
unterschiedliche Persönlichkeiten und Organisationen
mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und Wertvorstellungen in einem entscheidenden Punkt einig sind
- die Bundesärztekammer hat es uns allen vorgestern
noch einmal geschrieben -: keine Reichweitenbeschränkung. Diese Ansicht vertreten in der Öffentlichkeit namhafte Palliativmediziner, der Präsident der Bundesärztekammer, der im aktuellen „Spiegel“ warnt - ich zitiere -:
„Die Reichweitenbeschränkung führt praktisch zu einer
Lebensverlängerung um jeden Preis. Das lehnt die Ärzteschaft ganz klar ab.“ Die „Aktion Gemeinsinn“, deren
Schirmherr Bundespräsident Horst Köhler ist, warnt vor
Bestrebungen - ich zitiere -:
die Verpflichtung zur Befolgung des Patientenwillens aufzuweichen, sie auf die Todesnähe zu beschränken oder grundsätzlich die Prüfung durch ein
Vormundschaftsgericht vorzusehen.
({1})
Das ist ein Zitat aus dem Aufruf „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Ebenfalls gegen eine Reichweitenbeschränkung ausgesprochen haben sich der Vormundschaftsgerichtstag,
der Deutsche Juristentag 2006, namhafte Bundesrichter,
unter anderem Klaus Kutzer, und Organisationen, die
Patienten, zum Beispiel auch Psychiatriebetroffene, vertreten oder sich für humanes Sterben in Würde einsetzen. Aktuell waren es die Bundesärztekammer, die ich
zitiert habe, und ihre zentrale Ethikkommission. Ich
kann nur davor warnen, dass wir als Abgeordnete des
Deutschen Bundestages uns so weit von der Lebenswelt
und der Erfahrungspraxis in unserem Land entfernen,
eine Reichweitenbeschränkung zu beschließen - ein
Konstrukt, das übrigens in Ländern mit vergleichbaren
Regelungen unbekannt ist.
Ich bin zutiefst überzeugt: Wir brauchen einfache,
rechtspolitisch klare und verantwortbare Regeln für die
Patientenverfügung, eine qualitative Verbesserung der
Palliativmedizin und der Hospizversorgung, aber keinen
Behandlungs- und Lebenszwang mit einer Reichweitenbeschränkung. Kranke und gesunde Menschen haben
sich innerhalb von Familien und zusammen mit ihren
Ärzten oder anderen kompetenten Beraterinnen und Beratern ernsthafte Gedanken gemacht. Das hat nichts mit
überzogener Autonomie, sehr wohl aber mit Verantwortung und persönlichem Gewissen zu tun. Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sollten uns nicht anmaßen, in Details unsere eigenen Vorstellungen anderen
mündigen Bürgerinnen und Bürgern aufzuzwingen,
({2})
zumal an deren Eigenverantwortung sonst doch so gern
und oft in diesem Hause appelliert wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Als letzter Redner kann ich feststellen: Es ist gut, dass
wir heute diese ausführliche Orientierungsdebatte geführt haben. Wir haben jahrelang in verschiedenen Kommissionen beraten. Es wäre gut, wenn wir nun eine Regelung schaffen würden. Der heutige § 1904 BGB hat
die schwierigsten Fragen eigentlich ausgeklammert. Er
regelt im Grunde die harmloseren Fragen. Wenn eine
ärztliche Untersuchung oder Heilbehandlung eingeleitet
wird, die der Heilung dient und die mit Risiken verbunden ist, dann braucht man die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung. Aber die viel schwierigere Frage,
was geschieht, wenn die Behandlung abgebrochen oder
erst gar nicht aufgenommen wird, ist in § 1904 nicht geregelt. Diese Lücke hat der Gesetzgeber beim ersten Betreuungsrechtsänderungsgesetz durchaus gesehen, aber
er hat sie offengelassen. Wenn der Bundestag bewusst
keine Regelung beschließt, dann kommen wir an die
Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Dann muss
der Bundestag handeln, und wir können uns nicht auf die
Rechtsprechung verlassen.
({0})
Ich halte die aktuelle Rechtsprechung in Teilen auch
für widersprüchlich. Keiner von uns weiß, wie sich die
Rechtsprechung in Zukunft entwickelt. Auch darum
brauchen wir eine gesetzliche Regelung, die die Reichweite, die Verbindlichkeit und das Verfahren regelt.
Heute haben alle Redner nur vom Zivilrecht gesprochen. Das Zivilrecht liefert die Rechtfertigung für die
Behandlung oder Nichtbehandlung und schlägt so auch
auf das Strafrecht durch. Eine Änderung des Strafrechts
würde den Anschein erwecken, wir würden tragende
Grundsätze insbesondere beim Verbot des Tötens auf
Verlangen aufweichen. Darum ist es gut, dass keiner das
Strafrecht ändern will.
Um welche Fragen geht es heute ganz besonders? Es
geht entscheidend um die Frage, ob der aktuelle und
der vorausverfügte Wille gleich sind. Das ist nach meiner Meinung nicht der Fall. Gefragt wäre ein ausführliches Gespräch zwischen Arzt und Patient. Im Fall der Patientenverfügung hat der Arzt ein Blatt Papier auf dem
Tisch mit einer Unterschrift. Der Arzt kann nicht nachfragen, der Patient kann seine Erklärungen nicht interpretieren, und er kann Missverständnisse nicht aufklären.
Der Arzt weiß regelmäßig auch nicht, woher der Patient die Patientenverfügung hat. Es gibt in Deutschland
mehr als 200 gängige Muster. Frau Ministerin Zypries
hat zuvor geschildert, wie schwer sie sich selber getan
hat, aus den vielen Bausteinen des Bundesjustizministeriums eine Patientenverfügung auszuwählen. Der Arzt
kann häufig auch nicht feststellen, ob die Unterschrift
echt ist und ob der Unterzeichner bei der Unterschrift
einwilligungsfähig war. Eine Patientenverfügung mit
unbeschränkter Reichweite wäre so auch eine scharfe
Waffe, die ein Mensch gegen sich selber oder die ein anderer gegen ihn richten könnte.
({1})
Wie ich bereits sagte, tut sich der Arzt schwer, die Urheberschaft der Patientenverfügung und die Einwilligungsfähigkeit zur Zeit der Abfassung sicher zu klären. Mehrere Untersuchungen zeigen uns auch, dass junge und
dass gesunde Menschen eine andere Einstellung als
Kranke, Behinderte und Pflegebedürftige haben. Kranke
Menschen haben einen viel größeren Lebenswillen, als
sie in gesunden Tagen meinen. Das können wir bei der
Bewertung des vorausverfügten Willens nicht unberücksichtigt lassen. Die Unterschiede bei aktuellem und vorausverfügtem Willen haben Folgen für die Fragen der
Reichweite und der Verbindlichkeit einer Patientenverfügung.
Die Diskussion in den vergangenen Monaten hat mir
aber auch gezeigt: Viele Menschen haben Sorgen vor einer Übertherapie im Krankenhaus. Darum darf ich daran
erinnern, dass Voraussetzung für die Fragen der Patientenverfügung ist, dass der Arzt eine Behandlung überhaupt anbietet. Wo eine kurative, also heilende Behandlung nicht mehr angezeigt ist, darf sich die Frage nach
einer Patientenverfügung überhaupt nicht mehr stellen.
({2})
Hier ändert sich das Therapieziel hin zur palliativen
Versorgung. Dies wäre ein wichtiges Feld für die Ausund Fortbildung der Ärzte.
({3})
Im Grenzfall kann eine Patientenverfügung aber eine Ergänzung sein und dem Arzt die Entscheidung erleichtern.
Ich habe schließlich die Sorge, dass die Gesellschaft
Druck auf Patienten, insbesondere auf ältere Menschen, ausübt oder dass ältere, kranke und behinderte
Menschen nur den Eindruck haben, sie fielen der Gesellschaft oder ihrer Familie zur Last und könnten diese Last
durch eine weitreichende Patientenverfügung nehmen.
Selbstbestimmung ist wichtig; wichtig ist aber auch
der Schutz des Lebens. Beides sind gleichwertige Verfassungsgüter. Die Verfassung verlangt von uns einen
schonenden Ausgleich zwischen Selbstbestimmung und
Lebensschutz. Dieser Ausgleich ist nach meiner Meinung im Gruppenantrag, den der Kollege Bosbach vorgestellt hat, am besten gelungen. Dieser Antrag bildet
auch am ehesten die heutige Rechtsprechung ab.
Wer die Selbstbestimmung absolut setzt, landet aus
meiner Sicht früher oder später bei der aktiven Sterbehilfe, weil es hier keine denktechnische Grenze gibt. Die
aktive Sterbehilfe ist im Grunde die Höchstform der
Selbstbestimmung. Der aktiven Sterbehilfe hat hier keiner das Wort geredet, und das war gut so. Aber die
Frage, die ich stellen möchte, ist: Wo ist die Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, und worin besteht der Unterschied? Was die praktische Tätigkeit angeht, gibt es keinen Unterschied; denn auch das Beenden
einer Maßnahme kann durchaus aktiv sein.
({4})
Die Antwort einer menschlichen Gesellschaft auf
diese Fragen sind nicht Sterbehilfe, sondern Palliativmedizin und Hospizarbeit. Ich bin froh, dass es uns bei der
aktuellen Gesundheitsreform gelungen ist, hier deutliche
Verbesserungen zu erreichen. Neben einer Klärung der
rechtlichen Fragen sollte man darum auf dem Weg weitergehen, die palliativmedizinische Versorgung und die
Hospizarbeit in Deutschland zu verbessern. Auch daran
müssen wir arbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Wie zu Beginn der Debatte vereinbart, haben eine
ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen ihre Reden
zu Protokoll gegeben1). Insgesamt haben dies neun Ab-
geordnete - sie kommen aus allen Fraktionen - getan.
Dieses Thema wird uns in diesem Haus in den nächs-
ten Monaten noch mehrfach beschäftigen.
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 p sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
32 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 16/1036 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Dezember 2003 über Politischen Dialog und Zusammenarbeit zwischen
der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik
Costa Rica, der Republik El Salvador, der Republik Guatemala, der Republik Honduras,
der Republik Nicaragua und der Republik Panama andererseits
- Drucksache 16/4716 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
1) Anlage 2
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz
vor Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch das Verbreiten von
hochwertigen Erdfernerkundungsdaten ({2})
- Drucksache 16/4763 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft
- Drucksache 16/4764 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Dorothée
Menzner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes
- Drucksache 16/4858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Peter Hettlich, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zügig Grundsteuerreform auf den Weg bringen
- Drucksache 16/1147 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Margareta Wolf ({7}) und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reformpartnerschaften mit Afrika intensivieren - Afrika muss auf die Tagesordnung des
G-8-Gipfels in Deutschland 2007
- Drucksache 16/2651 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und
Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung
- Drucksache 16/4454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Alexander Ulrich, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus
dem Europäischen Entwicklungsfonds
- Drucksache 16/4490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lothar Bisky, Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia
Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts verhindern
- Drucksache 16/4625 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Dr. Thea Dückert, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds Migrantinnen und Migranten sowie Personen
fördern, die Asyl bzw. internationalen Schutz
erhalten oder beantragt haben
- Drucksache 16/4772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Birgit Homburger, Markus Löning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bürokratie abbauen - Zeitumstellung abschaffen und Sommerzeit permanent einführen
- Drucksache 16/4773 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche
({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Christoph Pries, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz der Wale sicherstellen
- Drucksache 16/4843 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
n) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2004
- Drucksache 15/5205 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
o) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Versorgungsbericht der Bundesregierung
- Drucksache 15/5821 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
p) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Durchführung des Stammzellgesetzes ({18})
- Drucksache 16/4050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Energieeinsparung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen
- Drucksache 16/4787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Katastrophe in Simbabwe verhindern
- Drucksache 16/4859 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({21})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4773 zu
Tagesordnungspunkt 32 l soll abweichend von der Tagesordnung zur federführenden Beratung an den Innenausschuss überwiesen werden. - Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe: Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe dann die Tagesordnungspunkte 33 a, 33 c bis
33 l sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 i auf. Es handelt sich
dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 33 a:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu der Akte vom 29. November
2000 zur Revision des Übereinkommens vom
5. Oktober 1973 über die Erteilung europäischer Patente ({22})
- Drucksache 16/4375 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Akte vom 29. November
2000 zur Revision des Übereinkommens über
die Erteilung europäischer Patente
- Drucksache 16/4382 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23})
- Drucksache 16/4877 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Dirk Manzewski
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4877, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4375
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4877, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4382
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({24}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für starke und handlungsfähige Kommunen
- Drucksachen 16/371, 16/2501 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Kerstin Andreae
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2501, den Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/371
abzulehnen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Gegenstimmen der
Fraktion der Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige
Arzneimittel
- Drucksachen 16/3013, 16/3164 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3164, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/3013 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Enthaltung auch bei den Grünen? - Ich muss die Abstimmung wiederholen, weil das
offensichtlich nicht eindeutig war.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Jetzt ist es eindeutig. Die
Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP sowie bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander
Bonde, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Waffen unter Kontrolle - Für eine umfassende
Begrenzung und Kontrolle des Handels mit
Kleinwaffen und Munition
- Drucksachen 16/1967, 16/3875 Berichterstattung:
Abgeordnete Carl-Eduard von Bismarck
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck ({2})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3875, den Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1967
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({3})
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({5}),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Beleuchtete Dachwerbeträger auf Taxen zulassen
- Drucksachen 16/3050, 16/4597 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4597, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/3050 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkte 33 g bis l sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 i. Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
- Drucksache 16/4751 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 195 ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
- Drucksache 16/4752 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 196 ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
- Drucksache 16/4753 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 197 ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
- Drucksache 16/4754 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 198 ist bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
- Drucksache 16/4755 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 199 ist bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 200 zu Petitionen
- Drucksache 16/4756 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
- Drucksache 16/4866 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 201 ist damit mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 202 zu Petitionen
- Drucksache 16/4867 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Stimmenthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 202 ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 203 zu Petitionen
- Drucksache 16/4868 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 203 ist damit bei
Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 204 zu Petitionen
- Drucksache 16/4869 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 204 ist damit mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 205 zu Petitionen
- Drucksache 16/4870 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 205 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 206 zu Petitionen
- Drucksache 16/4871 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 206 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 207 zu Petitionen
- Drucksache 16/4872 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 207 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 208 zu Petitionen
- Drucksache 16/4873 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 208 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion der FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 209 zu Petitionen
- Drucksache 16/4874 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 209 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Die aktuelle Lage der Menschenrechte in Simbabwe
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.
({12})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist natürlich nicht ganz einfach, nach der vorangegangenen Debatte über die grundlegenden Werte unserer
Gesellschaft in eine bittere Realität auf dieser Welt einzutauchen. Es ist aber aller Ehren wert und richtig, dass
sich der Deutsche Bundestag heute auch mit der sehr
dramatischen, schlimmen Menschenrechtssituation in
Simbabwe beschäftigt. Die Menschen dort haben es verdient, dass wir uns mit ihnen solidarisieren und ihnen im
Kampf ums Überleben in diesem Land Unterstützung
geben.
({0})
Das Land - wir wissen es - droht im Chaos zu versinken. Präsident Mugabe, vor fast 30 Jahren - damals, wie
ich finde, zu Recht - als Befreier und Reformer der früheren britischen Kolonie Rhodesien gefeiert, richtet sein
Handeln vollständig und mittlerweile auch gegen Widerstände in seiner eigenen Partei, ZANU-PF, ausschließlich auf ein Ziel aus: den Machterhalt auch über 2008
hinaus, koste es, was es wolle.
Das zeigte zuletzt wieder die Inhaftierung, Folterung
und brutale Misshandlung von Angehörigen der Opposition, insbesondere der Repräsentanten der unterschiedlichen Gruppen der MDC, des Movement for Democratic
Change, wie Morgan Tsvangirai oder Arthur Mutambara.
Gestern Nachmittag hat uns die Nachricht erreicht, dass
Tsvangirai und weitere Oppositionelle erneut verhaftet
worden sind. Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat auf seiner gestrigen Sitzung konsequent, wie ich finde, und mit den Stimmen aller Fraktionen in einer Erklärung die sofortige Freilassung und
Garantien für die körperliche Unversehrtheit der Gefangenen gefordert. Ich denke, das stößt hier auf Zustimmung im ganzen Hause.
({1})
Menschenrechtsverletzungen, politisch motivierte
Gewalt und Missachtung von Recht und Gesetz sind in
Simbabwe leider an der Tagesordnung. Die Rechtsstaatlichkeit ist erheblich eingeschränkt, insbesondere durch
selektive Anwendung geltenden Rechts, Nichtbeachtung
von Gerichtsurteilen und Eingriffe in die richterliche
Unabhängigkeit. Vor allem repressive Gesetzesvorhaben
wie unter anderem das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung, das Wahlrechtsänderungsgesetz, das
neue Pressegesetz und das Gesetz über die Arbeit von
Nichtregierungsorganisationen führen seit Anfang 2002
zu immer neuen schweren Rückschlägen für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Diese repressiven Gesetze dienen dem Regime vor allem zur Anwendung gegen regimekritische Kräfte in Politik,
Gewerkschaften, Medien und Zivilgesellschaft.
In der Regierungsführung von Präsident Mugabe vereinigt sich zudem politische Repression zur Erhaltung
der Macht mit der absoluten Unfähigkeit, die wirtschaftliche Misere des Landes in den Griff zu bekommen.
Vielmehr verstärken sich beide Aspekte mit fatalen Folgen für die Menschen. Aufgrund von Zwangsräumungen
im Rahmen der Operation „Murambatsvina“ - übersetzt:
Abfallbeseitigung - verloren nach Angaben der Vereinten Nationen circa 700 000 Menschen ihr Zuhause;
2 Millionen Menschen waren von den Folgen indirekt
betroffen. Auch die sich daraufhin ergebende Operation
„Garikai“, die angeblich dazu diente, den obdachlos gewordenen Menschen ein neues Zuhause zu verschaffen,
kam in den meisten Fällen Parteigängern des Präsidenten
Mugabe zugute. Auch damit ist dieses Land auf dem
Weg in eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung
weiter zurückgefallen.
80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Die Inflation - man mag es kaum glauben; ich greife einen mittleren Wert heraus, weil die Zahlen variieren - ist mit
1 700 Prozent die höchste weltweit. Jeder Zweite hat
nicht genug zu essen. Die medizinische Versorgung ist
vielerorts zusammengebrochen. Ein Drittel der Bevölkerung ist mit dem HI-Virus infiziert. Mehr als 900 000
Kinder haben mindestens ein Elternteil durch Aids verloren. Die Lebenserwartung in Simbabwe liegt für
Frauen bei 34 Jahren und für Männer bei 37 Jahren. Das
ist die geringste Lebenserwartung weltweit.
Dieses wirtschaftliche, soziale und humanitäre Desaster in Simbabwe schmerzt umso mehr, als Simbabwe
nach Erkämpfung seiner Unabhängigkeit wie nur wenige
andere Staaten in Afrika aufgrund seiner Ressourcen eigentlich den Weg in eine gute Zukunft hätte einschlagen
können. All das, was nun passiert ist, ist auf die autoritäre und diktatorische Herrschaft von Präsident Mugabe
zurückzuführen. Das sollten wir in den zukünftigen Verhandlungen im Menschenrechtsrat, in dem die Bundesrepublik für die westlichen Staaten eine führende Rolle
innehat, aber auch im Rahmen des Internationalen Strafgerichtshofes ganz deutlich zur Sprache bringen.
({2})
Die EU hat die Sanktionen gegen Simbabwe wegen
massiver Verletzung wesentlicher Elemente erweitert.
Das ist richtig. Aber ich denke - damit will ich schließen -,
der Schlüssel für die Lösung der Probleme liegt in der
Tat im südlichen Afrika. Ich finde es bemerkenswert und
unterstützenswert, dass sowohl der südafrikanische Präsident Mbeki als auch insbesondere der zukünftige Präsident Sambias klar erkannt haben, dass die Spirale des
Schweigens durchbrochen werden muss. Die Verhältnisse werden sich nicht allein von innen reformieren lassen.
Ich hoffe und wünsche, dass die Europäer gemeinsam
mit der Weltgemeinschaft, also auch mit den Staaten in
der südlichen Region Afrikas, dafür sorgen, dass die
Menschen in Simbabwe eine lebenswerte Zukunft haben, die dem entspricht, was sie sich von ihrem Leben
erträumen.
Danke schön.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Strässer hat es schon angesprochen: Die
derzeitige Lage in Simbabwe ist ausgesprochen ernst.
Dass der dortige Machthaber Robert Mugabe ein fürchterliches und rücksichtsloses Regiment führt, ist schon
seit langem bekannt. Wir haben seit fast 20 Jahren etwa
die Diskriminierung, die Verfolgung und die Vertreibung
von weißen Farmern auf dem Land. Wir stellen fest, dass
Simbabwe eines der Länder ist, wo es am wenigsten Ansätze einer freien Presse gibt. Wir stellen außerdem fest,
dass Andersdenkende jeder Richtung verfolgt und verhaftet werden oder dass sie schlicht und ergreifend spurlos verschwinden. Das alles ist leider seit längerem bekannt.
Doch aktuell hat sich die Lage in Simbabwe dramatisch zugespitzt. Äußerlich ist das an der Festnahme und
Misshandlung des Oppositionsführers Tsvangirai Mitte
des Monats erkennbar. Gestern haben wir zur Kenntnis
nehmen müssen, dass Herr Tsvangirai und weitere Oppositionelle in Simbabwe erneut festgenommen worden
sind. Wir verurteilen dies und verlangen, dass Herr
Tsvangirai und die anderen Oppositionspolitiker sofort
freigelassen werden.
({0})
Die jüngste Zuspitzung der Lage hat jedoch tiefere
Ursachen. Es wird immer mehr erkennbar, dass sich
Robert Mugabe und die Seinen die Taschen vollgestopft
haben, während die Bevölkerung in einer verzweifelten
und immer schlimmer werdenden Lage verharrt. Kein
afrikanischer Staatspräsident residiert in einem so großen und prächtigen Palast wie Mugabe. Gleichzeitig ist
aber die Lebenserwartung in Simbabwe in nur zehn Jahren von 55 auf knapp über 35 Jahre zurückgegangen. Ich
glaube, plastischer als mit der Gegenüberstellung dieser
beiden Entwicklungen kann man die Widersinnigkeit,
wenn nicht sogar die Perversion dieses Regimes von
Mugabe kaum illustrieren und schildern.
({1})
Es ist allerdings unverkennbar, dass in jüngerer Zeit
die Machtbasis von Mugabe bröckelt, auch in der eigenen Partei. Deshalb ist Europa jetzt und in den kommenden Monaten gefragt, darauf eine Antwort zu finden. Ich
finde es gut und richtig, dass die heutige Aktuelle Stunde
auf die jüngsten Entwicklungen in Simbabwe eingeht;
denn sie gehen über das hinaus, was wir seit vielen Jahren aus diesem Land erfahren müssen.
Es hat mich gefreut, dass die deutsche Ratspräsidentschaft umgehend und entschlossen auf die Verhaftung
von Tsvangirai Mitte März reagiert hat. Das darf aber
kein Ausreißer bleiben. Vielmehr muss Europa jetzt eine
Strategie entwickeln, wie es mit der sich verändernden
Situation in Simbabwe umgeht. Denn freiwillig - das
können wir dieser Tage erkennen - wird Robert Mugabe
das Feld nicht räumen.
Deshalb muss nun die portugiesische Regierung, die
ab Juli dieses Jahres die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, ganz eng eingebunden werden; denn sie muss das,
was Europa jetzt entwickelt, später fortsetzen. Das Regime Mugabe muss - und kann - weiter international isoliert werden. Gerade die afrikanischen Nachbarstaaten
Simbabwes sind an dieser Stelle gefragt. Der Regierungschef von Sambia hat bereits harsche, deutliche Worte zur
Situation in Simbabwe gefunden und sie mit der Situation
auf der „Titanic“ kurz vor ihrem Untergang verglichen.
Derartige Worte und einen stärkeren Druck würde ich mir
in Zukunft auch von Südafrikas Präsidenten Thabo Mbeki
wünschen.
({2})
Doch auch die Europäische Union kann selbstverständlich mehr tun, damit es in Simbabwe zu einer guten
Entwicklung kommt. Es gibt bereits Reisebeschränkungen gegen zahlreiche Angehörige der Regierung. Doch
es gibt weiterhin prominente und wichtige Teile des Apparats, die von diesen Reisebeschränkungen nicht betroffen sind. Ich möchte stellvertretend nur den Zentralbankchef Gideon Gono nennen. Er ist einer derjenigen,
die bisher noch nicht unter die Reisebeschränkungen fallen. Ich glaube, die EU sollte schnellstens darüber diskutieren, ob man die Reisebeschränkungen nicht auch auf
ihn und andere ausweiten kann.
Nicht zuletzt gibt es eine Initiative Großbritanniens,
Australiens und Neuseelands. Diese Länder verlangen,
dass man Mugabe sowie seine Regierungsmitglieder und
engsten Helfer vor den Internationalen Strafgerichtshof
in Den Haag bringt. Auch Kollege Strässer hat gefordert,
dass man den Komplex Simbabwe vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Sprache bringt - was auch imFlorian Toncar
mer das bedeutet. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung sich der Forderung Großbritanniens,
Australiens und Neuseelands anschließt. Mugabe muss
sich meines Erachtens in Den Haag verantworten. Nicht
zuletzt für solche Fälle ist dieses Gericht eingerichtet
worden.
({3})
Doch neben allem Druck auf das Umfeld Mugabes
muss natürlich auch für diejenigen eine Perspektive entwickelt werden, die dieses Land hoffentlich bald nach
ihm regieren. Simbabwe könnte ein Land sein, in dem
die Menschen sehr auskömmlich leben können. Die geografischen und klimatischen Voraussetzungen dafür sind
vorhanden. Aber die Menschen werden, sollten sie sich
Mugabes entledigen, auf unsere Hilfe im medizinischen
Bereich ebenso wie bei der Lebensmittelversorgung und
der Infrastruktur angewiesen sein. Darauf müssen wir
uns vorbereiten - und dies schon heute.
Die Bundesregierung muss daher Simbabwe über die
Ratspräsidentschaft und die aktuellen Ereignisse hinaus
auf der Agenda behalten. Ich glaube, dass in Simbabwe
eine Zeit angebrochen ist, in der sich entscheiden wird,
ob sich die Dinge zum Besseren wenden, ob sich das
Volk von Simbabwe dieses unsäglichen Tyrannen entledigen kann oder nicht. In dieser für Simbabwe kritischen, aber wichtigen Zeit sollte Europa abseits von den
aktuellen Anlässen, die zu verurteilen sind, eine gemeinsame Strategie entwickeln, wie man diejenigen stärken
kann, die sich für Simbabwe eine andere Lage als die gegenwärtige katastrophale vorstellen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer das Land Simbabwe kennt, weiß: Es ist eines der schönsten, interessantesten und liebenswertesten
Länder Afrikas.
({0})
Wer sich eine Perspektive für Afrika vorstellt und die Infrastruktur von Simbabwe sieht, kommt sofort zu der
Aussage: „So müsste es eigentlich auch in anderen Ländern Afrikas aussehen“; so gut ist beispielsweise die Infrastruktur in diesem Land.
Nun findet dort seit sieben Jahren ein Prozess des stetigen Verfalls statt, wie man ihn sich eigentlich kaum
vorstellen kann. Simbabwe unterscheidet sich von anderen afrikanischen Ländern dadurch, dass es auf einem
hohen Niveau begonnen hat und Jahr für Jahr und Stück
für Stück in eine desolate Lage verfallen ist und schließlich jetzt an einem Punkt angekommen ist, an dem man
sagen muss: Die selbstverständlichsten Rahmenbedingungen für das Überleben der Menschen sind dort nicht
mehr gewährleistet.
Deshalb halte ich es für dringend erforderlich, dass
wir von Europa und anderen Teilen der Welt aus alle
Möglichkeiten, diesen Verfall, diesen freien Fall des
Staats Simbabwe aufzuhalten, nutzen.
Alles hat, so glaube ich, mit einer Fehleinschätzung
Robert Mugabes begonnen. Weil Robert Mugabe kein
Mann Moskaus war, hat der Westen in der Zeit der
Blockkonfrontation, des Kalten Krieges, gedacht, er
könnte vielleicht ein Verbündeter sein. Wir hätten aber
schon sehr früh feststellen können, um wen es sich bei
dieser Person wirklich handelt. Um seinen politischen
Gegner Joshua Nkomo auszuschalten, hat er sich nämlich bereits in den frühen 80er-Jahren der sogenannten
Fünften Brigade bedient - das ist eine Armeeeinheit, die
von nordkoreanischen Offizieren geführt wurde - und
im Matabeleland ein Massaker angerichtet, dem eine
fünfstellige Anzahl von Menschen zum Opfer gefallen
ist. Dieser Mann erfüllt die Kriterien für einen Massenmörder. Aus diesem Grunde müssen wir alles unternehmen, um ihn daran zu hindern, sein Land weiter zu zerstören.
({1})
In Simbabwe wurde eine sogenannte Landreform
durchgeführt. Niemand in diesem Saal wird bestreiten,
dass es notwendig war, in Simbabwe eine Landreform
durchzuführen; nicht nötig war aber diese Landreform,
die die Vertreibung von nahezu 90 Prozent der Farmer
und eine Reduzierung der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft auf etwa 30 Prozent des ehemaligen Niveaus
zur Folge hatte. Das Land Simbabwe, das die umliegenden Länder früher mit Landwirtschaftsprodukten versorgt und Landwirtschaftsprodukte exportiert hat, muss
jetzt selbst durch das World Food Programme ernährt
werden. Dieser Zustand ist indiskutabel. Ich glaube,
auch darüber sollten wir reden.
Im Bereich der Entwicklungshilfe ist grundsätzlich
die Frage zu stellen, ob es richtig ist, dass wir einem
Land erst mit über 1,3 Milliarden Euro helfen, Entwicklungsnachteile aufzuholen, und dann nach sieben Jahren
tatenlos zuschauen müssen, wie all das, was mit unserer
Hilfe dort entstanden ist, nach und nach zerstört wird,
und zwar irreversibel. Die Bauern, die das Land verlassen haben, leben jetzt in Mosambik und haben dort neu
angefangen. Fragt man sie: „Würdet ihr denn zurückgehen, wenn sich die Rahmenbedingungen in Simbabwe
ändern?“, dann lautet die Antwort: Nein, wir können in
unserem Leben nicht mehrmals bei null anfangen. - Das
heißt: Insbesondere der Zerfall der Landwirtschaft ist in
Simbabwe bis auf Weiteres irreversibel. Das ist die Realität.
Ich glaube, diese Angelegenheit ist ein afrikanisches
Problem, und wir müssen stärker darauf drängen - ich
kann nur dazu aufrufen -, dass die anderen Länder Afrikas, die SADC-Länder, ihre Verantwortung für Simbabwe erkennen und Simbabwe stärker drängen, diesen
Weg aufzugeben. Ich bin nicht der Meinung, dass wir
mit dem, was Thabo Mbeki in diesem Zusammenhang
bisher geleistet hat, zufrieden sein können.
({2})
Er ist einer der wichtigsten Verteidiger von Robert
Mugabe.
({3})
Es ist nicht zu viel, wenn wir von diesem Land, das demnächst die Fußballweltmeisterschaft ausrichten wird,
verlangen, wenigstens die aktive Unterstützung des Diktators von Simbabwe einzustellen. Genau das sollten wir
verlangen. Ich hoffe, unser Drängen führt letzten Endes
dazu.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort hat der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit brutaler Gewalt versucht das Regime in Simbabwe, die
Kontrolle über das Land zu behalten. Die andauernden
Übergriffe gegen die Opposition sind nur die Spitze des
Eisbergs. Bereits im September 2006 wurden 15 Gewerkschafter in der Haft so schwer misshandelt, dass sie
in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Vor zwei
Wochen stürmte die Polizei die Gewerkschaftszentrale
in Harare. Sie beschlagnahmten Plakate und Flugblätter,
die zum Streik am 3. und 4. April aufrufen.
Das Regime hat Angst vor der Wut in der Bevölkerung. Im Armenviertel Highfield in Harare vergeht kaum
ein Tag ohne Proteste gegen die Lebensmittelknappheit.
Es herrscht eine Inflation, die an Weimarer Zeiten erinnert. Vorgestern wurden über Nacht die Preise für die
Benutzung wichtiger Zugverbindungen verdoppelt. Das
heißt, Arme sind nicht mehr mobil.
Deshalb kämpfen die Gewerkschaften in Simbabwe
für einen an die Inflation gekoppelten Mindestlohn. Das
mögen die Unternehmer nicht, weder in Simbabwe noch
in Deutschland. Das mag auch Mugabe nicht. Je schwächer seine Position wird, desto mehr spitzt das Regime
die Situation zu. Der Innenminister hat in dieser Woche
der Polizei einen Freibrief für den Einsatz scharfer Munition erteilt. Doch alle Waffengewalt wird Mugabe
nichts nützen, wenn die Opposition endlich ihre Spaltung überwindet. Der Streik am 3. und 4. April, den die
Gewerkschaften organisieren, kann auch zum Mobilisierungspunkt für die Masse der Arbeitlosen werden.
So wie in Guinea. Dort zwang ein von den Gewerkschaften organisierter Generalstreik vor einem Monat
den korrupten Präsidenten Conté, einen Teil seiner absoluten Herrschaft abzugeben. Das ist eine Botschaft an
alle Regierungen dieser Erde. Es muss ein Recht auf politischen Streik geben, damit sich das Volk wehren kann.
Erzbischof Pius Ncube aus Simbabwe hat diese Woche gesagt:
Ich bin bereit, mich an die Spitze einer gewaltlosen
Massendemonstration zu setzen, denn dieser Diktator muss verschwinden …
Dieser Meinung bin auch ich.
Die Entschlossenheit der Opposition ist bewundernswert. Nicht so bewundernswert sind die Reaktionen
mancher Nachbarstaaten. Die südafrikanische Staatengemeinschaft SADC hat aus meiner Sicht versagt. Die
ANC-Regierung in Südafrika äußert bislang keine offene Kritik an Mugabe. Angolas Innenminister Ramos
Monteiro hat der simbabwischen Regierung die Entsendung von rund 2 500 Sondereinsatzkräften zugesagt. Sie
sollen zwei Tage vor dem bevorstehenden Streik zur
Verfügung stehen. Das ist ein skandalöser Vorgang. Ich
erwarte von der Bundesregierung ein deutliches Wort
der Kritik an Angolas Regierung.
({0})
Internationale Solidarität erfährt das simbabwische
Volk von anderer Seite. Bischof Tutu hat das Stillschweigen der Regierung in Pretoria verurteilt. Der südafrikanische Gewerkschaftsdachverband Cosatu hat angekündigt, am Tag des Streiks in Simbabwe einen
Solidaritätsmarsch in Johannisburg zu organisieren. Die
Solidarität im südlichen Afrika kommt von unten, von
den Gewerkschaften, von den Aktivisten und Aktivistinnen.
Wir, die Abgeordneten von der Linksfraktion, unterstützen sie dabei. Lassen Sie mich das hervorheben. Als
Gewerkschafter wünsche ich den Kollegen und Kolleginnen vom Gewerkschaftsdachverband Simbabwes für
den Streik am 3. und 4. April viel Erfolg. Wir, Die
Linke, unterstützen die Forderungen nach einer neuen
Verfassung und nach fairen Neuwahlen in Simbabwe.
Das polizeiliche Versammlungsverbot muss ganz aufgehoben werden.
Das alles wird mit Mugabe nicht zu machen sein.
Doch der Wechsel darf nicht auf eine Palastrevolte beschränkt bleiben. Dass führende Politiker der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien erkennen lassen,
dass sie sich gegebenenfalls auch mit dem Austausch einiger Köpfe zufriedengeben würden, ist zynisch. In Simbabwe geht es nicht um die Interessen Blairs oder Europas, sondern es geht um die Interessen des
simbabwischen Volkes.
({1})
Wir, Die Linke, sind an der Seite derer, die für die
Rechte der Menschen kämpfen.
Eine letzte kurze Anmerkung. Auch wir, die Fraktion
Die Linke, haben gestern dem interfraktionellen Antrag
im Ausschuss für Menschenrechte zugestimmt. Aber
langsam müssen Sie damit aufhören, Die Linke immer
wieder auszugrenzen. Auch das ist nicht demokratisch.
({2})
Ich hoffe, Sie werden Ihr kindisches Verhalten irgendwann ablegen.
({3})
Nächster Redner ist der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Ereignisse der letzten Wochen haben in dramatischer Weise unterstrichen, dass die seit langem schwelende Krise in Simbabwe eskaliert. Die brutale Behandlung friedlicher Demonstranten und oppositioneller
Politiker, aber auch die Drohungen gegenüber westlichen Botschaftern zeigen ein Regime, das die Maske der
Rechtsstaatlichkeit endgültig fallengelassen hat.
Präsident Mugabe kämpft mit allen Mitteln um den
Erhalt seiner Macht. Zugleich wendet sich die Stimmung
in Simbabwe angesichts der desolaten Wirtschaftslage
und der zunehmenden Repressionen immer offener gegen ihn, nicht nur in der Bevölkerung allgemein, sondern
auch in seiner Partei, der ZANU-PF. Wir schauen mit Interesse auf die morgigen Beratungen im Zentralkomitee
der ZANU-PF, die auch darüber entscheiden wird, ob es
Mugabe gelingen wird, seine Macht im Jahr 2008 zu behalten.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat in den vergangenen Wochen zu den Ereignissen in Simbabwe eindeutig Stellung bezogen. In zwei Erklärungen, vom
12. März und vom 14. März dieses Jahres, haben wir die
Kriminalisierung der friedlichen Gebetsversammlung,
des Prayers Meeting, in Harare am 11. März verurteilt
und die Freilassung der Verhafteten sowie die Gewährung rechtlichen und medizinischen Beistands gefordert.
Die Deutsche Botschaft in Harare hat am 13. März 2007
im Namen aller EU-Partner in einer Note die simbabwische Regierung nachdrücklich zur Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien aufgefordert.
({0})
Die EU-Botschafter vor Ort haben in enger Abstimmung
untereinander gegenüber der Regierung zum Ausdruck
gebracht, dass sie jederzeit bereit sind, sich persönlich
um die von der Regierung Verhafteten und Verletzten zu
kümmern; das haben sie auch getan.
Am Wochenende des 17./18. März dieses Jahres kam
es erneut zu Festnahmen mit Misshandlungen von Oppositionellen. Zwei bei den Übergriffen am 11. März
schwerverletzte weibliche Oppositionelle wurden zudem
durch Passentzug an der Ausreise nach Südafrika gehindert, wo sie sich medizinisch behandeln lassen wollten.
Die deutsche EU-Präsidentschaft hat diese Maßnahme
am 18. März in einer weiteren Erklärung auf das
Schärfste verurteilt. Die verletzten Oppositionellen
konnten inzwischen nach Südafrika ausfliegen, und die
meisten der am 11. März verhafteten Oppositionellen
sind wieder auf freiem Fuß. Das Versammlungs- und
Demonstrationsverbot ist inzwischen bis auf einige Teile
in Harare aufgehoben worden.
Wie schon erwähnt wurde, gab es gestern erneut
Übergriffe gegen die Opposition. Das Hauptquartier des
MDC, des Movement for Democratic Change, das Harvest House, wurde von der Polizei umstellt, und Morgan
Tsvangirai sowie 20 seiner Mitstreiter wurden verhaftet.
Ich kann Ihnen aber die positive Botschaft übermitteln,
dass Herr Tsvangirai und die meisten seiner Mitstreiter
inzwischen wieder freigelassen worden sind. Allerdings
war das natürlich ein weiterer Versuch der Einschüchterung der Opposition.
All das findet vor dem Hintergrund einer dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Simbabwe statt. Die dortige Wirtschaft verzeichnet fast jedes
Jahr ein Negativwachstum in der Größenordnung von
etwa 5 Prozent. Seit 1998 ist das Bruttosozialprodukt um
ein Drittel gesunken.
Auf die dramatische Inflationsrate hat der Kollege
Strässer bereits hingewiesen. Das Haushaltsdefizit liegt
im Moment bei 24 Prozent. Es gibt eine Krise der Landwirtschaft. Die Maisproduktion ist seit 1996 um
40 Prozent zurückgegangen. Der Kollege Vaatz hat darauf aufmerksam gemacht, dass inzwischen 4 Millionen
Menschen, das heißt ein Drittel der Bevölkerung, von
Nahrungsmittelhilfen des Welternährungsprogramms
abhängig sind. 80 Prozent der Bevölkerung haben - das
entspricht unseren Armutskriterien - weniger als
2 Dollar pro Tag zur Verfügung, 50 Prozent sogar weniger als 1 Dollar. 35 Prozent der Bevölkerung gelten als
unterernährt.
Hinzu kommt eine erhebliche und ernsthafte Aidsdurchseuchung: In der Altersgruppe der 25- bis 45-Jährigen sind davon etwa 25 Prozent betroffen. Rund 1,2 Millionen der 1,6 Millionen Waisenkinder, die es in diesem
Land gibt, haben ihre Eltern aufgrund einer Aidserkrankung verloren.
Inzwischen hat das zu einem Flüchtlings- und Emigrantenstrom von mehr als 3,5 Millionen Simbabwern
geführt. Man sieht, das ist nicht mehr nur ein Problem
Simbabwes, sondern das ist zu einem Problem der ganzen Region geworden.
Präsident Mugabe entwickelt in dieser Situation zunehmend eine Bunkermentalität. Doch seit den Ereignissen vom 11. März rückt das Ende seines Regimes nach
unserer Analyse zusehends näher. In der EU hat deswegen neben der Diskussion über die aktuellen Entwicklungen ein Nachdenken über mögliche Szenarien von
Veränderungen in Simbabwe begonnen. Wir haben für
den 4. April eine Sondersitzung der auch für Simbabwe
zuständigen Afrika-Arbeitsgruppe der EU anberaumt.
Zusätzlich soll es am 18. April eine umfassende Diskussion der EU-Afrikadirektoren geben. Wir streben außerdem an, dass der Rat der Außenminister am 23. April die
Krise in Simbabwe erörtert und Schlussfolgerungen verabschiedet.
Wir beobachten sehr aufmerksam die Reaktionen der
Nachbarn Simbabwes; das ist hier praktisch von allen
Rednern angesprochen worden. Unsere Botschaften in
der Region stehen mit den Regierungen ihrer Gastländer
in einem intensiven politischen Dialog. Parallel hierzu
hat die Afrikabeauftragte des Auswärtigen Amts vor
zwei Wochen am Sitz der Afrikanischen Union in Addis
Abeba zahlreiche Gespräche über die Simbabwekrise
geführt.
Es verdichten sich die Anzeichen, dass in der gesamten Region - nicht zuletzt unter dem Druck der Zivilgesellschaft - die Solidarität mit dem Mugabe-Regime bröckelt. Hoffnung macht insbesondere, dass jetzt auch
unsere afrikanischen Partner erstmals offen zeigen, dass
die Lösung der Simbabwekrise ihnen ein zentrales Anliegen ist.
({1})
Sambias Staatspräsident Mwanawasa hat Simbabwe mit
der sinkenden „Titanic“ verglichen. Das südafrikanische
Kabinett hat am 22. März Besorgnis über die Situation in
Simbabwe geäußert. Die Troika der SADC hat sich am
22. März mit Simbabwe befasst, und seit gestern tagt ein
Sondergipfel der afrikanischen Staats- und Regierungschefs der Region in Tansania, in Daressalam, übrigens
im Beisein von Mugabe. Das zeigt, dass in der Region
die Sorge wächst und allmählich konkrete Aktivitäten
ergriffen werden.
Angesichts der eskalierenden Gewalt und zunehmender Menschenrechtsverletzungen mehren sich die Stimmen, die eine Ausweitung der geltenden EU-Visasanktionen gegenüber Simbabwe auf die Mitarbeiter der an
den Übergriffen vom 11. März beteiligten Sicherheitsorgane fordern. Wir wollen darüber am 4. April mit unseren EU-Partnern in Brüssel beraten.
Es besteht Einvernehmen unter den EU-Partnern, dass
eine Lösung der Krise in Simbabwe nur mit afrikanischer Unterstützung gelingen kann. Unsere afrikanischen Partner machen deutlich, dass sie nach den Ereignissen vom 11. März nicht länger bereit sind,
wegzuschauen. Die Präsidenten Kikwete und Mbeki haben eine Initiative vereinbart, die auf einen Dialog zwischen Regierung und Opposition in Simbabwe abzielt.
Wir sollten das stärker werdende afrikanische Engagement als Chance begreifen, auch mit Blick auf den für
Dezember dieses Jahres geplanten zweiten EU-Afrikagipfel in Lissabon, für den wir uns eine breite und hochrangige Beteiligung aus Afrika wünschen. Es gilt für die
EU, weiterhin mit dem nötigen Nachdruck auf die Ereignisse in Simbabwe zu reagieren. Die EU kann und wird
zu Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen.
({2})
Zugleich sollten wir aber verhindern, dass Präsident
Mugabe erneut einen Keil zwischen die EU und die afrikanischen Nachbarn Simbabwes treibt. Behutsam und
mit viel Fingerspitzengefühl müssen wir versuchen, falsche Reflexe, sich mit Präsident Mugabe zu solidarisieren, weiter zu verhindern. Es gibt in dieser Situation nur
eine unterstützenswerte Solidarität: Das ist die Solidarität mit dem simbabwischen Volk und mit den mutigen
und auch zum Eigenrisiko bereiten Oppositionellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass
gestern Abend die verhafteten Oppositionellen freigekommen sind, ist sicher auch der internationalen Aufmerksamkeit hinsichtlich der gegenwärtigen Vorgänge
in Simbabwe zu verdanken. Deshalb ist es wichtig, dass
wir diese Aktuelle Stunde hier durchführen, um zu signalisieren, dass der Deutsche Bundestag einheitlich die
Freilassung aller Oppositionellen verlangt und die Rückkehr zu einem Regime erwartet, in dem Menschenrechte
und Rechtstaatlichkeit gewahrt werden, einem Regime,
das Simbabwe schon so lange begehrt und entbehrt. Wir
sind uns darin einig und senden damit ein klares Signal.
Nach dieser Aktuellen Stunde dürfen wir nicht nachlassen, uns die Vorgänge genau anzuschauen und auch öffentlich Stellung dazu zu nehmen.
Das Regime von Mugabe kämpft gegenwärtig um
sein Überleben. Es gibt absehbare Entscheidungen: Es
stellt sich die Frage, ob im Jahre 2008 die Amtszeit von
Mugabe ausläuft. Wird die Verfassung geändert, um sie
zu verlängern? Gibt es Wahlen, bei denen er erneut antritt? Das Regime ist in einer starken Krise, weil
Mugabe, der zunächst das Land befreit hat, es danach
gründlichst zugrunde gerichtet hat. Ökonomisch, sozial
und menschenrechtlich liegt Simbabwe am Boden.
Schauen wir uns an, was in den letzten Jahren passiert
ist: Er hat eine allumfassende Diktatur errichtet, die nur
auf ihn zugeschnitten ist, er hat eine Kommandowirtschaft eingeführt, durch die die Ökonomie zugrunde gerichtet wurde, und Versäumnisse bei der Landreform
haben dazu geführt, dass viele vorher abhängige Landarbeiter heute arbeitslos sind. 80 Prozent Arbeitslose und
1 200 Prozent Inflation ({0})
diese ökonomischen Daten und die Misswirtschaft haben
in einem Land, das eine reiche Landwirtschaft haben
könnte, natürlich zu einer Situation geführt, in der ein
Großteil der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen ist. Die HIV-Krise mit den hohen Infektionsraten
kommt hinzu. All dies zusammen führt dazu, dass die
Bevölkerung auf eine Verbesserung ihrer Lage drängt.
({1})
Volker Beck ({2})
Ich glaube, wir müssen unseren britischen Freunden,
die vorhin so gelobt wurden, auch sagen: Wenn sie die
Zusage eingehalten hätten, der simbabwischen Regierung bei der Landreform stärker zu helfen, wäre die Situation heute natürlich eine andere, weil dies auch eines der
Probleme ist, die zur jetzigen Lage geführt haben.
Wenn wir jetzt über eine Lösung reden, dann müssen
wir dabei auch ein klares Signal setzen, dass wir hier
nicht tatenlos zuschauen. Wir müssen darüber reden, ob
wir die schon vorhandenen Sanktionen erweitern und auf
weitere verantwortliche Kreise ausweiten, damit deutlich wird, dass wir eine klare Linie verfolgen und unseren Worten auch Taten folgen lassen.
Morgan Tsvangirai fordert, dass wir das Regime von
Simbabwe isolieren. Darin müssen wir die demokratische Opposition unterstützen, und bei den Initiativen, die
jetzt aus Tansania kommen, müssen wir auch mit der
SADC zusammenarbeiten, damit es nicht wieder bei
Wortgeplänkeln bleibt
({3})
und Südafrika diese Fortschritte danach wieder mit seiner Politik der stillen Diplomatie blockiert.
Ich glaube, wir müssen ein offenes Wort auch mit
Südafrika reden. Es gibt in Südafrika eine innenpolitische Diskussion darüber, wie man mit Simbabwe umgeht. Robert Mugabe ist heute eben nicht ein Freiheitsführer und nicht mehr der Freund des ANC - das war er
früher -, sondern ein fürchterlicher Diktator. Deshalb
dürfen alte Freundschaften nicht zu falschen Rücksichtnahmen führen.
Ich verstehe nicht, dass gerade die Regierung von
Südafrika, das selbst erlebt hat, dass der Sturz des Apartheidregimes letztendlich durch die internationale Solidarität und die Sanktionen gegen Südafrika mit herbeigeführt wurde, nicht verstehen will, dass jetzt Druck auf
Simbabwe notwendig ist, damit diese Zustände endlich
beseitigt werden.
({4})
Ich glaube, gerade wir Deutsche - andere sind dafür
vielleicht weniger geeignet - können aufgrund unserer
Geschichte in der Solidaritätsbewegung deutlicher mit
dem ANC sprechen als die Briten, die eine koloniale
Vergangenheit haben und gleichzeitig immer auch eine
Belastung darstellen, wenn sie politische Initiativen in
Afrika ergreifen. Wir sollten hier eine aktive Rolle einnehmen, damit die SADC die Unterstützung Südafrikas
erhält, wenn sie Druck auf Simbabwe ausübt, sodass es
hier endlich zu anderen Zuständen kommt.
Wir haben gestern im Menschenrechtsausschuss eine
gemeinsame Resolution verabschiedet. Wir haben viele
Appelle formuliert und die Bundesregierung zu Recht
für ihre Taten gelobt.
({5})
Wenn das Lob berechtigt ist, dann habe ich kein Problem
damit.
Wir haben an Südafrika und die SADC-Staaten wie
auch an die Regierung in Simbabwe appelliert. Wir müssen aber, glaube ich, auch klarmachen, dass wir unsere
politischen Beziehungen und Initiativen in diesem Bereich an diesen Fragen ausrichten werden. Wir haben
deshalb der Bundesregierung vorgeschlagen - leider hat
unser Vorschlag keine Mehrheit gefunden -, vor dem
EU-Afrikagipfel zu bewerten, ob die Teilnahme Simbabwe wirklich sinnvoll ist, wenn es nicht zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage in Simbabwe kommt.
({6})
Wenn man es damit ernst meint, dann muss man auch
Konsequenzen ziehen. Deshalb müssen wir über entsprechende Maßnahmen reden und klarmachen, dass es
hinsichtlich des Afrikagipfels am Ende dieses Jahres
Konsequenzen haben wird, wenn es nicht zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage in Simbabwe kommt.
Herr Kollege Beck!
Dafür möchte ich an dieser Stelle werben. Dass dieser
kluge Vorschlag im Ausschuss keine Mehrheit gefunden
hat, heißt schließlich nicht, dass ihn sich die Bundesregierung nicht zu eigen machen und ihn auf europäischer
Ebene vortragen kann.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von 1970 bis 1980 hat in Simbabwe - dem damaligen
Rhodesien - unter der Beteiligung von Mugabe ein Befreiungskampf stattgefunden, der 1980 mit dem Erreichen der Unabhängigkeit endete. Bei der Wahl 1980 errang Mugabe mit seiner ZANU-Partei 57 von 100 Sitzen
und wurde zum Präsidenten gewählt. Es ging eine große
Hoffnung durch das Land, dass er der richtige Führer
sein würde. Ich glaube sogar, dass er zu dem Zeitpunkt
der richtige Führer war. Er wurde anerkannt und hat in
den ersten Jahren seiner Regierungszeit viel für die Infrastruktur, das Bildungswesen und das Gesundheitswesen geleistet. Dann kam es zum Verfall auch der politischen Sitten in diesem Land.
Bei den Wahlen 1995 gewann die Partei Mugabes unter eigenartigen Umständen 118 von 120 Sitzen. Es begann ein grundlegender Wechsel der politischen Strategie und des politischen Umgangs in Simbabwe. Das war
der Anfang vom Ende einer Entwicklung, die von
Hartwig Fischer ({0})
Europa und der internationalen Staatengemeinschaft
einst als positive Entwicklung von der Kolonialzeit in
eine Transitionszeit gesehen wurde.
Aber dann wurde das Recht gebrochen. Die rechtsstaatlichen Strukturen wurden aufgegeben, und die Pressefreiheit wurde eingeschränkt. 2002 kam es zu weiteren
Einschränkungen der Pressefreiheit. Die Opposition
wurde bis zum heutigen Tage drangsaliert, sowohl durch
Verhaftungen wie gestern Abend, als auch durch die Zerstörung der Parteistrukturen ebenso wie der familiären
Strukturen und der Stammesstrukturen.
Seit der Hungerrevolution 2003 in Bulawayo und
Chitungwiza sind über 100 000 Menschen durch Gewalt
oder Hunger ums Leben gekommen. Wir haben erhebliche Flüchtlingsströme nach Botswana und Südafrika erleben müssen. Die Wanderarbeiter, die nach Mosambik
gegangen sind, haben keine Perspektiven mehr, wie eben
bereits ausgeführt wurde.
Ich will wiederholen, was die Kollegen Strässer und
Erler gesagt haben. 80 Prozent der Bevölkerung von
Simbabwe leben unter der Armutsgrenze. Die Lebenserwartung ist weltweit am niedrigsten; sie beträgt bei
Frauen 34 Jahre und bei Männern 37 Jahre. Das heißt,
dass bereits eine ganze Generation um die Zukunft und
um das Leben betrogen wurde. Simbabwe hat die weltweit höchste Kindersterblichkeit und die höchste Anzahl
an Waisen.
Die gestrigen Verhaftungen und Misshandlungen haben gezeigt, dass Mugabe nicht mehr lernfähig ist und
dass er ein Diktator ist, der ohne Rücksicht auf sein Volk
vorgeht.
Die Zermürbungstaktik, die er gegenüber Oppositionellen und Journalisten anwendet, hat dazu geführt, dass
immer weniger Menschen im Lande bereit sind, sich zu
bekennen. Durch die Art und Weise, wie zum Beispiel
Lebensmittel verteilt wurden - nämlich nur gegen Vorlage des Parteiausweises von ZANU-PF; auch dagegen
musste die Weltgemeinschaft einschreiten -, hat er den
Menschen jegliche Chance genommen und mit dazu beigetragen, dass der Stamm der Matabele zu weiten Teilen
ausgerottet worden ist.
Ich persönlich sehe jetzt zum ersten Mal Bewegung
auch in den südafrikanischen Ländern. Der Staatspräsident von Botswana war in den vergangenen zwei oder
drei Jahren der einsame Rufer in der Wüste, der zu der
Situation, die sich auch auf die Nachbarländer ausgewirkt hat, offen Stellung bezogen hat. Jetzt hat auch der
Vorsitzende der Afrikanischen Union Stellung genommen. Die Debatte gestern im Parlament in Südafrika
zeigt auf, dass nicht nur die Opposition, sondern auch
die Regierung - wenn auch unter gewissem öffentlichen
Druck - scheinbar zum Handeln bereit ist.
Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass
Frau Dr. Merkel für die Bundesregierung am Sonntag
das Thema in ihrer Rede noch einmal deutlich angesprochen hat und bereit ist, Sanktionen anzustreben, wenn
die UN selbst nicht dazu in der Lage ist, Sanktionen einzuleiten.
Ich bin sehr froh, dass Herr Kufuor, der Vorsitzende
der Afrikanischen Union, deutliche Worte gefunden hat.
Ich bin auch sehr glücklich darüber, dass der Bundestag
dieses Thema nicht zum ersten Mal behandelt, sondern
dass wir schon in der Vergangenheit Druck ausgeübt haben. Diejenigen, die bei der letzten Debatte über Simbabwe mitdiskutiert haben, haben allerdings auch die Ignoranz der Botschafterin aus Simbabwe erlebt, die sich
nach der Debatte in Protestnoten darüber beklagt hat,
dass wir die Situation in ihrem Land falsch darstellen
würden.
Ich bin großer Hoffnung, dass es jetzt ein gemeinsames Handeln der internationalen Gemeinschaft und der
Europäischen Union gibt, und habe keine Zweifel daran,
dass die Bundesregierung entsprechend verfährt.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der afrikanische Kontinent präsentiert sich
derzeit mit unterschiedlichen Gesichtern. Einerseits hat
sich in den letzten 15 Jahren der Grad politischer und
bürgerlicher Freiheit erheblich verbessert. Andererseits
erleben wir - wie zum Beispiel jetzt in Simbabwe - eine
deutliche Rückwärtsbewegung hin zu autokratischen
Strukturen.
Das diktatorische Mugabe-System ist nur am Machterhalt interessiert. Dies ist heute schon von mehreren
Kollegen geäußert worden. Die Kernaufgaben des Staates, nämlich die Bereitstellung sozialer und ökonomischer Grunddienstleistungen, werden nicht erfüllt. Die
letzten sieben Jahre von den insgesamt fast 27 Jahren
mit Mugabe als Ministerpräsident sind gekennzeichnet
durch Armut, Hunger, eine galoppierende Inflation und
wirtschaftliche Rezession.
Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Lebenserwartung
- wie heute schon mehrfach geäußert - deutlich gesunken. Mehr als 12 Prozent der Kinder sterben, bevor sie
das fünfte Lebensjahr erreichen. Simbabwe ist unfähig,
die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte zu achten, zu gewährleisten und zu schützen.
Mit den politischen Menschenrechten verhält es sich
ebenso. Die Pressemeldungen zu den Misshandlungen
von Morgan Tsvangirai gingen um die Welt. Gestern ist
er abermals verhaftet worden, aber - wie wir wissen aufgrund der internationalen Bemühungen und auch der
Bemühungen der Bundesregierung am Abend wieder
freigelassen worden.
Der Druck auf Mugabe wächst. Sein Einfluss, auch
auf die verschiedenen Gruppierungen innerhalb seiner
eigenen Partei, nimmt ab. 2008 stehen Präsidentschaftswahlen an, und niemand kann sich so recht vorstellen,
dass der dann 85 Jahre alte Mugabe für weitere sechs
Jahre das Land regiert und ruiniert. Sein Versuch, die
Präsidentschaftswahlen auf 2010 zu verschieben, wird
aller Voraussicht nach scheitern. Ein Hoffnungszeichen
ist, dass ihn selbst seine regierende ZANU-PF-Partei
nicht zu einer erneuten Kandidatur aufgefordert hat.
Die Lösung könnte ein neuer gesellschaftlicher Pakt
sein. Tsvangirai selbst sagte in einem Interview in der
heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau“:
Der einzige Weg zur Lösung der Krise ist ein nationaler Dialog, der zu einer neuen Verfassung und
schließlich zu freien und fairen Wahlen führt.
Die regierende ZANU-Partei und die oppositionelle
Bewegung für den demokratischen Wandel müssen sich
möglichst schnell an einen Tisch setzen und eine politische Strategie für die Zeit nach Mugabe entwickeln.
Erste Kontakte mit den Parteileuten von Salomon
Mujuru soll es schon gegeben haben. Südafrika und die
SADC-Staaten, aber auch die Afrikanische Union sollten
diesen Prozess nach Kräften unterstützen und damit ein
Zeichen für das neue Afrika setzen. Nichteinmischung in
die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaates reicht
als Ausrede nicht mehr aus. Jetzt geht es darum, eine
weitere Eskalation zu verhindern und die Loyalität des
Mugabe-Apparates zu brechen. Mit dem SADC-Sondergipfel, der momentan tagt, könnte endlich etwas in Gang
kommen.
Eines ist klar: Selbst wenn ein Neuanfang gelingt,
wird es noch lange dauern, bis sich das Land vom wirtschaftlichen Desaster erholen wird. Über 90 Prozent Arbeitslosigkeit, Versorgungsausfälle bei Strom und Wasser sowie Inflationsraten von bis 1 700 Prozent sind kein
gutes Startkapital. Aber es ist Mugabe trotz aller Gewalt
nicht gelungen, die Opposition auszuschalten. Damit
dieser Einsatz nicht umsonst war, braucht Simbabwe
jetzt internationale Unterstützung. Ich wiederhole mich
an dieser Stelle: Südafrika muss hier eine führende Rolle
übernehmen.
Übrigens berichten CNN und BBC derzeit fast täglich
über diverse afrikanische Staaten und die Ereignisse
dort, sei es mit Nachrichten oder Reportagen. Ich würde
es sehr begrüßen, wenn auch bei uns sowohl die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten als auch die privaten
Sender hier nachziehen würden. Wenn wir wollen, dass
Afrika mehr ins Bewusstsein rückt, dann sollte eine entsprechende Berichterstattung die logische Konsequenz
sein. Auch die mediale Öffentlichkeit kann den Menschen vor Ort helfen und ihnen Hoffnung für eine bessere Zukunft geben.
({0})
Die Situation in Simbabwe ist besorgniserregend.
Wenn es gelänge, die bröckelnde Unterstützung
Mugabes in seiner eigenen Partei zu befördern, bestünde
Hoffnung, dass trotz allen Leidens der Bevölkerung
Licht am Ende des Tunnels erkennbar wird. Wir müssen
unsere südafrikanischen Partner im Sinne von NEPAD
von der Notwendigkeit eines politischen Wechsels in
Simbabwe überzeugen. Die Zeiten von Herrschern wie
Mugabe sollten endgültig vorbei sein.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Tragödie Robert Mugabes droht zur Tragödie seines eigenen Landes, Simbabwes, zu werden. Die
Diskussion, die wir jetzt im Deutschen Bundestag führen, kann nur ein Ziel haben: Wir müssen mithelfen, dass
diese Tragödie nicht stattfindet.
({0})
Welche teilweise bizarren Formen das Leben in Simbabwe zurzeit annimmt, möchte ich einmal illustrieren.
Ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin aus einem
Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“:
Eines der vielen Anzeichen dafür, dass Zimbabwe
ins Chaos abgleitet, wird nur selten bewusst wahrgenommen: Die Leichenhäuser werden voller. Das
liegt nicht nur daran, dass mehr Menschen sterben.
Sondern auch daran, dass die Angehörigen vieler
Todgeweihter die Arztrechnungen nicht mehr bezahlen können. Deshalb lassen sie die Kranken unter falschen Namen registrieren. Wenn diese dann
sterben, gibt es niemanden, der Anspruch auf die
Leichen erhebt.
So weit ist diese Gesellschaft bereits gekommen.
Wenn wir zum Beispiel über 1 700 Prozent Inflation
reden, dann ist das erst einmal eine sehr theoretische
Zahl. Wenn es aber heißt, dass die Fahrt zur Arbeit mit
dem Bus teurer ist als das, was man mit der Arbeit verdienen kann, dann ist das eine wirklich lebensbedrohliche Situation. Hier haben nicht nur wir und die Afrikanische Union, sondern hier hat vor allem die Regierung
Simbabwes eine echte Aufgabe; diese muss sie erfüllen.
({1})
Nicht einmal mehr die Regierung selbst bestreitet,
dass sich das Land in einer schwierigen Situation befindet. Der Zentralbankchef verkündet vor dem Parlament,
dass er nur noch Geld für Elektrizität habe. Ich zitiere
noch einmal aus dem Artikel:
Es gebe kein Geld, um die Flugzeuge der Luftwaffe
einzusetzen oder Polizeiautos zu reparieren.
300 000 Menschen müssten auf Pässe warten, weil
es kein Papier und keine Tinte gebe, um sie auszustellen. Lebensmittel- und Ölgroßhändler, die staat9172
liche Fluglinie und die Eisenbahngesellschaften, so
der Zentralbankchef weiter, flehten ihn ständig an,
sie bräuchten ausländische Währungen - die aber
fehlen, weil die Tabakexporte, einst Zimbabwes
Hauptquelle für amerikanische Dollars, nur noch
ein Fünftel dessen einbringen, was sie vor der Vertreibung der weißen Farmer einbrachten. Die
zweite wichtige Einnahmequelle, der Tourismus, ist
ebenfalls versiegt.
Insofern befindet sich dieses Land in einer wirklich
katastrophalen Situation. Es ist zu fragen, wie eigentlich
aus Robert Mugabe, dieser Lichtgestalt der afrikanischen Schwarzenbewegung, ein solcher Diktator, ein
solch autokratischer Herrscher werden konnte.
Bartholomäus Grill hat es in der „Zeit“ im Jahre 2005
wie folgt ausgedrückt:
Der einstige Befreiungsheld wird nicht viel mehr
hinterlassen als einen Leitfaden für Diktatoren. Mit
folgenden sieben Programmpunkten: Zentralisiere
alle Macht … Führe die Kommandowirtschaft wieder ein … Säubere den Justizapparat … Schränke
die Grundrechte ein … Schalte die Medien
gleich … Erzeuge ein Klima der Angst … Manipuliere die Wahlen, aber lass dir niemals in die Karten
schauen.
Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist das
traurige Ergebnis, das wir heute vor uns haben. Es stellt
sich natürlich die Frage, wie wir damit weiter umgehen.
Wir müssen - ich glaube, das ist schon deutlich geworden - unsere Verantwortung in der Europäischen Union
- insbesondere während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft - wahrnehmen. Angesichts der Reaktionen,
die wir direkt nach den Verhaftungen - zum Beispiel von
Herrn Tsvangirai - erlebt haben, habe ich den Eindruck,
dass die Bereitschaft und die Erkenntnis da sind. Dafür
will ich der Bundesregierung an dieser Stelle einmal
ganz herzlich danken.
({2})
Unsere Reaktion - auch das ist heute schon angeklungen - darf aber nicht auf heute oder auf morgen begrenzt
sein. Wir müssen das Thema weiterhin in der Öffentlichkeit halten und weiterhin entsprechende Schritte unternehmen. Das bedeutet auch, dass wir versuchen sollten,
unsere afrikanischen Freunde davon zu überzeugen, dass
sie von der Politik der stillen Diplomatie, die gescheitert
ist - ich glaube, das kann man heute feststellen -, Abstand nehmen müssen. Es wäre auch richtig, wenn wir
das Thema einmal im Menschenrechtsrat in Genf einbringen würden. Wir kritisieren dieses Gremium so oft,
aber bei diesem Thema hätte es eine wirkliche Chance
und eine wirkliche Aufgabe. Vielleicht wäre das eine
Initiative, die Deutschland und die Europäische Union
ergreifen sollten.
({3})
Natürlich will niemand, dass Afrika seine eigene Verantwortung nicht wahrnehmen kann. Wir legen auf das,
was neuhochdeutsch „African Ownership“ heißt, also
darauf, dass die Länder ihre Verantwortung selbst in die
Hand nehmen, sehr großen Wert. Sie werden sie aber
nicht selbst in die Hand nehmen können, wenn wir nicht
bereit sind, unseren Teil dazu beizutragen und zu helfen.
Ich glaube, dass Hilfe an dieser Stelle willkommen ist.
Ich will nur darauf hinweisen - es ist schon darüber
gesprochen worden -, dass es Hoffnung gibt, dass gerade im südlichen Afrika inzwischen ein anderes Verständnis und eine andere Einstellung zu Herrn Mugabe
existiert. Bei einer Sondersitzung des südafrikanischen
Parlaments hat ein Vertreter der Opposition, und zwar
ein Sprecher der Inkatha Freedom Party, erklärt:
Wir rufen heute dem tyrannischen Regime in Simbabwe zu: Die Zeit ist abgelaufen. In Gottes Namen: Geh!
Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.
Danke sehr.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele
Groneberg, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum? Warum eigentlich? Warum, fragt man sich,
entwickelt sich ein Mensch, der sich im Freiheitskampf
gegen die britischen Kolonialherren anerkannte Verdienste erworben hat, zu einem skrupellosen Despoten?
Warum, fragt man sich, entwickelt sich ein Mensch, der
zu Beginn seiner Regierungszeit als ein Mann der Versöhnung gegolten hat, zu einem hemmungslosen Diktator? Warum wirtschaftet ein Regierungschef sein Land
von einem blühenden Vorzeigeland in Afrika, von einem Musterknaben, herunter auf das Niveau eines
Schmuddelkindes? Warum bloß?
Wir können eine Menge Vermutungen anstellen und
uns das trotzdem nicht schlüssig erklären. Wo war eigentlich der Punkt, wo es gekippt ist? So richtig hat das
anscheinend keiner von uns wahrgenommen. Das war
eine schleichende Entwicklung, bis es dann 2000 durch
die mangelnde Zustimmung der Bevölkerung zur Wahl
Mugabes richtig deutlich wurde und es danach stetig
bergab ging. Zuerst waren die weißen Farmer das Ziel
seiner aggressiven Politik. Landreform hat man das genannt. Jetzt konzentriert er sich auf die Opposition, auf
kritische Stimmen in der eigenen Bevölkerung. Übergriffe am laufenden Band und gewaltsames Vorgehen
der Sicherheitskräfte Mugabes sind an der Tagesordnung.
Schauen wir zu? Sicher nicht. Wiederholt haben sich
Menschen und Regierungen aus der ganzen Welt gegen
den Diktator Mugabe ausgesprochen, und es sind Sanktionen gegen Simbabwe verhängt worden. Aber was uns
fehlt - das muss man auch ganz deutlich sagen; es ist
von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen worGabriele Groneberg
den -, ist, dass die Regierungen in Afrika über Jahre diesem Treiben unwidersprochen zugeschaut haben. Wir erwarten auch von ihnen ein deutliches Wort. Immerhin,
die kritischen Stimmen auch in Afrika mehren sich. Dass
die Southern African Development Community, die Entwicklungsgemeinschaft für das südliche Afrika, die Zustände in Simbabwe auf die Tagesordnung gesetzt hat,
ist der richtige Schritt. Es ist durchaus richtig, Herr
Haibach, dass wir den Afrikanern Unterstützung geben
müssen, damit sie die Verantwortung für ihr eigenes
Land wahrnehmen können. So ist es zu begrüßen, dass
der Präsident von Botswana und jetzt auch der Präsident
von Sambia sich deutlich zu dem System Mugabe geäußert haben. Aber das alles reicht nicht. Wir erwarten
ganz speziell vom Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki,
dass er deutliche Worte spricht und auch deutlich handelt.
({0})
Wenn man weiß, dass Südafrika rund 25 Prozent des
Stromes, den Simbabwe benötigt, liefert, und wenn man
weiß, dass Südafrika das zentrale Durchgangsland für
den Handel von und nach Simbabwe ist, dann weiß man
auch, dass da ein Ansatzpunkt besteht, den man benutzen muss, um Druck auf dieses Regime auszuüben. Das
erwarten wir auch von der Regierung Südafrikas.
Herr Vaatz hat die Aufbauarbeit, die wir mitfinanziert haben, bereits skizziert. Mugabes Regime hat hemmungslos alles wieder zerstört. Die eigene Bevölkerung
benutzt er als Geisel. Sie leidet. Hunger ist an der Tagesordnung. Die Lebenserwartung der Menschen ist
niedriger als die im ebenfalls krisengeschüttelten Sudan
- und das heißt schon etwas -, in Nordkorea und in Afghanistan. Frauen haben eine Lebenserwartung von
34 Jahren, Männer von 37. Die Menschen sterben im
Stillen, jede Woche rund 3 500, und zwar an Aids, an
Armut und an Unterernährung. Der Einsatz von Nahrungsmitteln - auch das ist hier bereits beschrieben worden - wird als politische Waffe gegen die eigene Bevölkerung benutzt. Rund 3 Millionen illegale Flüchtlinge
alleine in Südafrika leben unterhalb des Existenzminimums. Ich bin dankbar, dass sich die Bundeskanzlerin
bereits Mitte Februar beim französischen Afrikagipfel
in Cannes deutlich gegen die Verletzung der Menschenrechte ausgesprochen hat und dass sich Bundesministerin Wieczorek-Zeul zu Übergriffen, die in den letzten
Wochen speziell gegen die Opposition erfolgt sind, geäußert hat.
({1})
Wir müssen das immer wieder deutlich benennen. Wir
können auf europäischer und internationaler Ebene dazu
nicht schweigen. Aller Druck, der ausgeübt werden
kann, muss benutzt werden.
Ich will einen Punkt erwähnen, der in dieser Debatte
noch nicht angesprochen worden ist. Ich finde, es ist äußerst kritisch zu bewerten, dass Angola dem Diktator
Polizisten zur Verfügung stellt, um sein Regime abzusichern. Die Sicherheitsvereinbarung, die zwischen Angola und Simbabwe geschlossen worden ist, beinhaltet
die Entsendung von 2 500 Elitepolizisten - Ninjas genannt - ab dem 1. April dieses Jahres.
({2})
Wenn der angolanische Innenminister sagt - das ist im
staatlichen angolanischen Rundfunk tatsächlich geschehen -, Angola werde dem westlichen Imperialismus
nicht erlauben, Simbabwe zu übernehmen, dann habe ich
dafür kein Verständnis mehr. Es tut mir leid.
({3})
Ich denke, wir sind in unserem Unverständnis nicht alleine. Wir hier im Bundestag sind uns mit Sicherheit in
dieser Einschätzung der Lage einig. Wir hoffen darauf,
dass sich in Simbabwe möglicherweise ein friedlicher
Umsturz abzeichnet. Wenn es diesen friedlichen Umsturz gibt, dann sind wir die Ersten, die ihn unterstützen
werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen und liebe Kolleginnen! Wir sprechen heute
hier über die aktuellen Ereignisse in Simbabwe. Die
Härte, mit der vom Mugabe-Regime gegen die Opposition vorgegangen wird, ist ein gefährliches Zeichen.
Afrika im 21. Jahrhundert ist ein Kontinent, auf dem
überall positive Aufbrüche hin zu Demokratie und
Rechtstaatlichkeit zu verzeichnen sind.
Wenn wir auf die Entwicklung Simbabwes schauen,
sehen wir Schatten und große Rückschläge. Seit 1980 ist
dort Präsident Mugabe an der Macht. Die letzten Jahre
sind ein Beispiel für den Niedergang eines ehemals florierenden Landes. Wichtige Themen, die auch andere
Länder Afrikas beschäftigen - etwa die Notwendigkeit
einer Landreform -, wurden unter der Regierung
Mugabe zu einem Instrument der illegalen Enteignung,
der Vertreibung und der Bereicherung weniger im Staat.
Sind die letzten Ereignisse in Simbabwe, die Niederschlagung der Opposition, die Lebensgefahr, der sich die
Opposition in Simbabwe ausgesetzt sieht, ein Zeichen
des unaufhaltsamen Niedergangs des Regimes? Das fragen wir uns heute.
Unsere, die deutsche Politik in Abstimmung mit unseren europäischen Verbündeten muss eine geschlossene
Linie verfolgen. Es stellt sich die Frage, ob die Sanktionen gegenüber Simbabwe ausreichen. Dies sage ich auch
im Hinblick auf Eigeninteressen, die noch bei einigen
wenigen europäischen Nachbarstaaten bestehen.
Anke Eymer ({0})
Die Situation in Simbabwe, die ständigen Verletzungen der Menschenrechte sind nicht länger hinzunehmen.
Die internationale Gemeinschaft, auch unsere deutsche
Politik sind gefordert, zusammen mit unseren afrikanischen Partnern schnell dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte in Simbabwe wieder eingehalten werden
und der Weg zur Demokratie freigemacht wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Herta Däubler-Gmelin,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als letzte Rednerin in einer Aktuellen Stunde kann man
eigentlich nur noch bekräftigen, was andere gesagt haben. Das will ich tun. Die Lage in Simbabwe ist verzweifelt. Willkür, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen
sind an der Tagesordnung. Es ist nicht nur schrecklich,
sondern nahezu tragisch, wie sehr sich an Präsident
Mugabe und seiner Regierung bewahrheitet, was kluge
Leute schon immer gesagt haben: Macht korrumpiert,
lang dauernde totale Macht korrumpiert total.
Es ist schrecklich, den Niedergang dieses Landes - es
hat sich nicht nur gegen die Kolonialisierung kräftig gewehrt, sondern es hat sich auch im Antiapartheidkampf
wirkliche Verdienste erworben - zu verfolgen; es befindet sich im freien Fall. Herr Kollege Vaatz, ich stimme
Ihnen zu: Wer in diesem Land einmal oder mehrfach
war, der ist nicht nur von der Schönheit, seiner unglaublich langen Geschichte und seiner uralten Kultur überwältigt, sondern auch von der Freundlichkeit seiner
Menschen und - lassen Sie mich das hinzufügen - der
hinreißenden Schönheit seiner Musik. Wenn man sieht,
wie die Menschen dort hungern und leiden und wie sehr
das alles auf Kosten und zulasten der Frauen geht, dann
wird einem ganz schlecht.
({0})
Auf der anderen Seite wissen wir ganz genau - das
finden wir auch gut -, dass es in Afrika längst Bewegung
gibt, die innerafrikanischen Probleme afrikanisch zu lösen. Das sollten wir unterstützen. Das ist einer derjenigen Grundsätze, auf die auch wir setzen sollten. Dieser
Grundsatz wird über Fraktionsgrenzen hinweg geteilt. Er
befindet sich auch in der Charta der Afrikanischen
Union. Der Beauftragte für Frieden und Sicherheit, Said
Djinnit, von dem der Staatsminister eben gesprochen
hat, hat etwas, wie ich finde, Richtiges, Vernünftiges und
allgemein Verständliches gesagt: Für Afrika gilt jetzt das
Ende des Verbots der Einmischung, also End of Interference; jetzt gilt der Grundsatz „End of Indifference“,
also wir Afrikaner hören endlich damit auf, gleichgültig
zuzusehen, was Grauenvolles in den einzelnen Staaten
passiert; vielmehr sind wir der Meinung, dass wir dafür
mitverantwortlich sind.
({1})
Ein Problem ist, dass heute das in Bezug auf einige
Länder Afrikas, auch des südlichen Afrikas, zwar sehr
wohl klar ist, dass das aber für andere noch nicht gilt.
Dazu gehört völlig eindeutig Simbabwe.
Es hätte zur Kritik viele Anlässe gegeben. Ich darf daran erinnern: Auch wir haben die Wahlrechtsrichtlinien
der SADC begrüßt, die für freie und faire Wahlen eintritt. Auch wir haben begrüßt, dass diese Wahlgrundsätze
in den letzten Jahren eigentlich in allen SADC-Ländern
eingehalten wurden, aber eben nicht in Simbabwe. Wir
alle haben uns darüber geärgert, dass die SADC-Wahlkommission, die Kritik geübt hat, von den Nachbarländern Simbabwes nicht genügend oder gar nicht unterstützt wurde. Das war damals ein Riesenproblem, und
das ist noch immer eines.
Heute sehen wir: Es gibt Hunderttausende von Flüchtlingen, die Wirtschaft Simbabwes bricht zusammen, das
Leiden nimmt zu. Deswegen rührt sich natürlich Widerstand in Südafrika, aber auch in anderen Ländern - Sambia und Botswana seien da besonders hervorgehoben -,
deshalb tritt man jetzt endlich dafür ein, mit der bisherigen stillen Diplomatie, die man aus persönlicher Rücksicht gegenüber Mugabe ständig propagiert hat, endlich
Schluss zu machen.
Es ist richtig, dass wir zu allem ermutigen müssen,
was diese Haltung fördert, was den Neuanfang in Simbabwe, und zwar den friedlichen Neuanfang, befördert.
Natürlich gehört auch die Befassung des Menschenrechtsrats der UN dazu; da stimme ich dem Kollegen
Haibach völlig zu.
Aber was können wir eigentlich noch tun? Wir müssen an dieser Stelle klarmachen, dass wir die Arbeit der
Stiftungen im südlichen Afrika, auch in Simbabwe, unterstützen und insofern Ermutigung betreiben.
({2})
Wir müssen das auch deutlich sagen, weil wir ganz genau wissen, dass nicht nur Journalisten unter Druck stehen, die den Mund aufmachen, sondern auch Stiftungsleute oder Kirchenvertreter. Die bedürfen ebenfalls
unserer Unterstützung und unseres Schutzes.
Der Herr Staatsminister hat völlig recht, wenn er sagt:
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehr
darauf achten, dass die Überlegungen, Simbabwe auf den
Weg der Menschenrechte und in die Richtung einer vernünftigen Politik für die Bevölkerung zurückzuführen,
vonseiten der Europäischen Union und der Bundesregierung mitgetragen werden. - Das wird auch Unterstützung
kosten. Peacebuilding ist aber eine Maßnahme, die sich
langfristig immer lohnt. Hilfsmaßnahmen werden wir
nicht nur für den Notfall jetzt brauchen, wo die Bevölkerung verhungert, sondern auch in Zukunft, wenn es daDr. Herta Däubler-Gmelin
rum geht, den Neuanfang wirklich zu unterstützen. Das
ist die Bitte, die ich an dieser Stelle noch habe.
Herzlichen Dank.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle Laurischk,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial
und verantwortungsbewusst den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen
- Drucksachen 16/891, 16/4860 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die FDP-Fraktion hat nach § 62 Abs. 2 der
Geschäftsordnung des Bundestages eine Debatte zum
Unterhaltsrecht beantragt. Es geht natürlich nicht nur um
unseren Antrag. Dieser Antrag ist eine Beratungsgrundlage für die Reform des Unterhaltsrechts - zusammen
mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Ich darf einmal aus der Koalitionsvereinbarung zitieren, was man als Opposition nicht immer tut.
({0})
Darin heißt es:
Wir
- die Koalitionsfraktionen wollen die Situation von Familien mit Kindern weiter verbessern. Deshalb wird das Unterhaltsrecht reformiert. Kinder sollen beim Unterhalt an erster
Stelle stehen. Die Eigenverantwortung nach der
Ehe soll gestärkt werden. Eine Harmonisierung der
steuer- und sozialrechtlichen Bestimmungen wird
angestrebt.
Ein richtiges Ziel! Wir haben das unterstützt. Wir brauchen diese Reform des Unterhaltsrechts. Jetzt ist sie aber
anscheinend ein bisschen unter die Kinderkrippen geraten.
({1})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion halten es für ganz
wichtig, anderthalb Jahre nach dem Koalitionsvertrag,
nach der Vorlage des Gesetzentwurfs, nach der ersten
Lesung im letzten Jahr im Bundestag, nach der Anhörung im Oktober mit vielen Sachverständigen, die alle
die Notwendigkeit der Reform betont haben, zu hören,
wie es jetzt mit dieser wirklich sehr wichtigen und notwendigen Reform weitergeht.
Noch am 16. Oktober 2006 habe ich in einer Pressemitteilung von Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion lesen können - das war nach der Anhörung -: Es ist davon auszugehen, dass das Gesetzgebungsverfahren nun rasch abgeschlossen wird. - Seitdem
geht nichts weiter, jedenfalls nicht hier im Parlament.
({2})
Wir sind jetzt im Parlamentsverfahren. Die Regierung
selbst kann ihren Gesetzentwurf nicht mehr abändern.
Jetzt möchten wir mehr wissen, als einigen Mitteilungen
in der Presse zu entnehmen ist.
({3})
Der Presse haben wir entnehmen können, dass man sich,
nachdem der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD
gemeinsam beschlossen worden ist, auch im Kabinett
- ich denke, in Anwesenheit auch der Minister der CDU/
CSU - auf wichtige Änderungen verständigt hat, die wir
als Parlamentarier allerdings noch nicht kennen.
({4})
Ich weiß nur, dass etwas geändert werden soll. Aber das,
was ich lese, stimmt mich nicht besonders froh.
({5})
Ein Kernpunkt der Unterhaltsrechtsreform ist natürlich die Besserstellung der Kinder.
({6})
Es ist ein unter allen Fraktionen unstreitiger Punkt, dass
alle Kinder - egal, ob ehelich oder nicht ehelich -, was
ihre Unterhaltsansprüche angeht, im ersten Rang verbleiben werden. Dies ist eine gute Nachricht, aber eine,
die wir schon seit Jahren verkünden.
Wie ist es jedoch mit den Elternteilen, mit der geschiedenen Ehefrau, die Kinder betreut, und mit der nicht verheirateten Mutter, die Kinder betreut? Wie ist ihre Stellung? Wir alle wissen, dass das Kindeswohl, also die
Tatsache, wie es dem Kind geht, nicht allein davon abhängig ist, ob ein erster Rang im Unterhaltsrecht besteht.
Vielmehr kommt es darauf an, wie es den betreuenden
Elternteilen geht. Der Unterhalt für die betreuenden
Elternteile - ob verheiratet oder nicht - spielt bei der Situation der Kinder eine ganz entscheidende Rolle.
({7})
Deshalb kann die Koalitionsvereinbarung in dem Sinne,
dass Kinder auch nichtjuristisch den ersten Rang haben
sollen, nur umgesetzt werden, wenn auch in diesem Bereich Klarheit besteht.
Wir als FDP-Fraktion - das ergibt sich aus unserem
Antrag - haben den Gesetzentwurf der Bundesregierung
in dem Punkt unterstützt, dass Geschiedene - Mutter
oder Vater -, die ein Kind betreuen, und nicht Verheiratete, die ein Kind betreuen, den gleichen Rang haben sollen, was ihre Unterhaltsansprüche bei der Betreuung angeht,
({8})
gerade weil es sich unmittelbar auf die Situation der Kinder auswirkt.
Da scheint jetzt innerhalb der Koalitionsfraktionen
eine Kehrtwendung stattzufinden. Darüber sollten wir
die Bürgerinnen und Bürger informieren.
({9})
Sie sollten wissen, was jetzt Gegenstand der Reform ist
und ob das Herzstück dieser Reform - so hat es die Bundesjustizministerin immer genannt -, die Gleichrangigkeit der betreuenden Mütter, egal in welchem Status sie
leben, tatsächlich kommen wird oder ob es eher eine
Verschlechterung der Situation der nicht verheirateten
betreuenden Mutter geben wird.
({10})
Das alles wird noch verwirrender, wenn ich Herrn
Röttgen höre,
({11})
der sagt: Es wird alles viel besser; denn wir werden hinsichtlich der Anzahl der Jahre der Unterhaltsansprüche jetzt die geschiedene Ehefrau mit der betreuenden
nicht verheirateten Mutter gleichstellen. Alle sollen zehn
Jahre lang Unterhaltsansprüche bekommen. - Wir alle
wissen, wie die derzeitige Situation ist. Es wäre wunderbar, wenn es zu einer Verbesserung käme. Aber das heißt
natürlich, dass die Ansprüche sowohl für die nicht verheiratete betreuende Mutter, deren Anspruch bisher drei
Jahre beträgt - es sei denn, es wäre grob unbillig, wenn
sie nicht länger Unterhalt bekommt -, als auch für die
geschiedene betreuende Mutter, deren Anspruch bislang
im Schnitt zehn Jahre - acht bis zehn Jahre - beträgt, auf
zehn Jahre angehoben würden. Ich lese das nur. Ich weiß
nicht, was ist. Die interessierte Öffentlichkeit möchte
gerne wissen, was aus dieser wirklich wichtigen Reform
wird.
({12})
Deshalb möchten wir Ihnen jetzt die Gelegenheit geben,
uns hier im Plenum, wo es hingehört, darüber zu informieren, wie es inhaltlich weitergeht.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Ute Granold, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie
haben natürlich einen Anspruch auf Information; aber
ich denke, das Wesentliche wissen Sie, wenn nicht aus
dem Parlament, so doch aus der Presse. Insofern sind Sie
nicht ganz unwissend.
Wir führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte.
Deshalb möchte ich einiges zu dem sagen, was Sie hier
vorgetragen haben. Sie haben sicherlich recht, wenn Sie
anmahnen, dass die Unterhaltsreform, was den Inhalt angeht, abgeschlossen werden soll. Auch hinsichtlich der
Zeit ist Reformbedarf dringend vonnöten; da kann ich
Ihnen nur recht geben. Aber Sie wissen sehr gut, dass
wir den Gesetzentwurf, der schon in der letzten Legislaturperiode als Referentenentwurf mit den Verbänden eng
abgestimmt wurde, aufgrund der Diskontinuität neu einbringen und beraten mussten. Die erste Lesung hat im
letzten Jahr stattgefunden. Danach gab es eine umfassende Anhörung im Rechtsausschuss. Insofern sind wir
völlig d’accord. Ich denke, das bisherige Verfahren ist
bis dahin in Ordnung gewesen.
Reformbedarf besteht auch aufgrund der Veränderungen im Gesellschaftsbild. Die Werte haben sich zum
Teil gewandelt. Es hat eine Wandlung von der reinen
Hausfrauenehe über die Zuverdienerehe bis zur Doppelverdienerehe stattgefunden; Ehen mit Kindern, ohne
Kinder, nichteheliche Lebensgemeinschaften, die hohe
Zahl der Scheidungen, die große Zahl der Alleinerziehenden, eine steigende Zahl von Zweitehen und von
nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern und
ohne Kinder erfordern, dass wir als Gesetzgeber uns der
Realität stellen und auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren. Wir haben eine gewisse Ordnungsfunktion, und die Bevölkerung erwartet von uns, dass wir
Gesetze machen, die von ihr akzeptiert werden.
({0})
Insoweit sind wir, denke ich, alle einer Meinung.
Der Bundestag hat bereits 2000 einstimmig beschlossen, das Unterhaltsrecht zu überprüfen und Vorschläge
für eine Neuregelung zu machen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat das angemahnt. Darüber besteht sicher ebenfalls Konsens. Aber da wir eine Geschäftsordnungsdebatte führen, sollten wir noch zwei, drei Dinge
zur Genese sagen.
Die FDP hat schon vor langer Zeit in Anfragen und
Anträgen die Reform des Unterhaltsrechts angemahnt
und Vorschläge für eine Neuordnung gemacht. Dann gab
es den Referentenentwurf, den ich eingangs angesprochen habe, aus dem BMJ. Ich möchte an dieser Stelle
nicht noch einmal unsere Koalitionsvereinbarung zitieren; Sie haben das gerade sehr schön gemacht. Der Kern
dessen ist jetzt im Entwurf umgesetzt. Das entspricht
dem, was in diesem Hause Konsens ist.
({1})
Lassen Sie mich aus unserer sehr hochwertigen Anhörung - Sie waren ja dabei - mit Topsachverständigen Professor Willutzki, den Ehrenvorsitzenden des Deutschen
Familiengerichtstages, zitieren, der wörtlich gesagt hat:
Erfreulich ist, dass der Gesetzgeber keine umfassende
Reform des Unterhaltsrechts an Haupt und Gliedern vornehmen will, sondern sich darauf beschränkt, einerseits
das Recht den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen, zum anderen aber die Gelegenheit nutzt,
Schwachstellen bei der Umsetzung des Rechts in der gerichtlichen Praxis auszumerzen. Auch das ist erforderlich.
Das Konzept zur Umsetzung dieser Zielsetzung haben wir schon in der ersten Lesung ausführlich diskutiert: Stärkung des Kindeswohls, Betonung der Eigenverantwortlichkeit nach der Ehe und die Vereinfachung
des Unterhaltsrechts.
Die Reform sollte ursprünglich - dazu gibt es draußen
verschiedene Meinungen - zum 1. April dieses Jahres in
Kraft treten; das war damals unsere Intention. Aber die
Anhörung hat ergeben, dass die Praxis Zeit zur Umstellung braucht. Die Leitlinien müssen umgeschrieben werden, und die Jugendämter müssen sich darauf einstellen.
Deshalb haben die Sachverständigen gesagt, der 1. Juli
sei der richtige Zeitpunkt. Ich bin zuversichtlich, dass
das Gesetz - das ist Konsens in der Union, und da gibt es
gar keine Diskussion - zum 1. Juli in Kraft treten wird.
Da Sie die Diskussion innerhalb der Koalition bzw.
der Union angesprochen haben, möchte ich dazu das
eine oder andere sagen. Das Unterhaltsrecht ist ein
Rechtsgebiet, das sehr komplex und kompliziert ist, in
dem teilweise auch Juristen, die nicht aus diesem Fachgebiet sind, ihre Schwierigkeiten haben - die Laien
umso mehr -, von dem viele Menschen betroffen sind
und in dem sehr emotional und teilweise ein bisschen
unsachlich diskutiert wird. Das sollten wir auch bei der
Diskussion, die jetzt noch vor uns liegt, bedenken.
Aufgrund der Historie sollten wir auch bedenken,
dass es hier nicht um eine isolierte Unterhaltsrechtsreform geht. 1977 hatten wir eine Eherechtsreform, Mitte
der 80er-Jahre hatten wir eine Reform des Unterhaltsrechts; außerdem gab es eine Kindschaftsrechtsreform.
All das müssen wir als Folge dessen sehen, dass sich unsere Gesellschaft schon vor langer Zeit gewandelt hat.
Wir müssen bei dieser Reform darauf achten, dass das
Kind - darüber sind wir uns alle einig - als schwächstes
Glied im Zentrum steht und dass das Kindeswohl in jeder Weise gestärkt wird.
({2})
Bei aller Sorge um das Wohl der Kinder gilt es aber
auch, die Institution der Ehe - ihr Verfassungsrang
wurde bereits angesprochen - zu schützen und zu stärken. In Art. 6 des Grundgesetzes steht:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutz der staatlichen Ordnung.
Man sollte deshalb das eine nicht gegen das andere ausspielen, sondern man sollte versuchen, in diesem Werteverhältnis eine Regelung zu finden, die allen Interessen
gerecht wird.
({3})
Professor Schwab von der Universität Regensburg,
einer der Sachverständigen aus der Anhörung, hat in Abwandlung eines bekannten Spruchs die provokative
These aufgestellt, das Kindschaftsrecht sei dem Eherecht
sein Tod.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben im Rahmen der ersten Lesung - ich habe sie noch
einmal nachgelesen - die Entwicklung der Ehe in den
letzten Jahren nachgezeichnet: von der Versorgungsgemeinschaft in früherer Zeit bis zum heutigen Stand. Sie
haben dann bemerkt, die Union hänge noch dem alten
Bild von der Ehe nach.
({4})
Das ist nicht der Fall. Wir haben schon ein sehr modernes Bild von der Ehe. Auch wir wissen, dass es verschiedene Möglichkeiten des Zusammenlebens gibt. Eine davon ist die Ehe, aber es gibt auch andere Möglichkeiten.
Für die Union ist es sehr wichtig, festzustellen, dass
die Ehe mehr ist als nur ein Zusammenleben oder gar ein
Zusammenleben auf Zeit. Die Ehe ist - verfassungsrechtlich geschützt - eine auf Dauer angelegte Solidargemeinschaft, in der man füreinander einsteht. Das muss
im Gesetzentwurf an der richtigen Stelle zum Ausdruck
kommen. Ich denke, dass wir darüber in der zweiten Lesung reden sollten. Ich werde gleich noch darauf eingehen, welcher Kompromiss hier ausgehandelt wurde.
Sie haben in Ihrem Antrag eine Reihe von Punkten
aufgeführt, die auch Inhalt unseres Gesetzentwurfs sind.
Wir werden sie umsetzen, weil sie richtig und gut sind.
Dazu gehören der Vorrang des Kindesunterhaltsanspruchs gegenüber allen anderen Unterhaltsansprüchen
- ich denke, darüber herrscht in diesem Haus Konsens und die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit im Falle
von nachehelichen Unterhaltsansprüchen. Ich denke,
auch das ist kein strittiges Thema. Ich nenne ferner die
Befristung des Unterhalts nach Zeit und Höhe. Diese
Regelung steht heute schon im Gesetz, sie wird aber
nicht angewandt. Deshalb wird sie richtigerweise noch
einmal an exponierter Stelle aufgeführt. Die Anwendung
in der Praxis muss sozusagen angeschoben werden. Es
gibt eine Annäherung der Unterhaltsansprüche der geschiedenen Elternteile an die der nicht verheirateten Elternteile.
Wir haben eine gesetzliche Regelung des Mindestunterhaltes und eine Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, weil die Regelunterhaltsverordnung
durch die Regelung des Mindestunterhalts aufgehoben
wird. Sie haben das Unterhaltsvorschussgesetz in Ihrem
Antrag aufgeführt. Ich möchte dazu sagen, dass Reformbedarf im materiellen Recht besteht. Darüber sind wir
uns einig. Wir sollten uns aber an dieser Stelle nicht unnötig lange aufhalten.
Wir sind mit einer Vereinfachung und Beschleunigung der gerichtlichen Unterhaltsdurchsetzung und einer
Förderung von Unterhaltsvereinbarungen nach dem
Cochemer Modell einverstanden. Über eine andere Baustelle, nämlich über die FGG-Reform, wird derzeit intensiv beraten. Wir tragen also Ihren Anliegen Rechnung.
({5})
Die Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit dem
Steuer- und Sozialrecht möchten wir dem Grunde nach
ebenfalls. Das bedarf aber einer gründlichen Vorbereitung, und es bedarf ausreichend Zeit. Eine Harmonisierung ist aber nicht uneingeschränkt möglich, weil die
Zielrichtungen im Unterhalts-, Steuer- und Sozialrecht
teilweise verschieden sind. Deshalb sollten wir versuchen, das auf den Weg zu bringen, was möglich ist.
Ich denke, wir haben schon einige wichtige Entscheidungen getroffen. Ich hatte schon die Regelung des Mindestunterhalts angesprochen. Wir haben aber auch das
Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum
und Beschäftigung auf den Weg gebracht. Damit wurde
die Möglichkeit geschaffen, Kosten, die aufgrund der
Erwerbstätigkeit der Eltern für die Betreuung der Kinder
anfallen, von der Steuer abzusetzen. Auch Unterhaltszahlungen können von der Steuer verstärkt abgesetzt
werden.
Wir diskutieren aktuell die Weiterentwicklung des
Ehegattensplittings in Richtung Familiensplitting. Wir
sind für alle Modelle offen.
({6})
Unser aller Ziel ist es, dass eine Weiterentwicklung den
Zielgruppen, also den Kindern und Familien, zugute
kommt. Ich möchte die Diskussion über die Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zum Familiensplitting
oder die Ergänzung des Ehegattensplittings um das Familiensplitting nicht weiter vertiefen. Sie sehen, dass wir
darüber diskutieren; das ist gut so. Wir sollten dafür sorgen, dass wir zu einer sinnvollen Regelung kommen.
({7})
Sie haben vorhin angesprochen, dass die Menschen
gar nicht wissen, über was wir eigentlich diskutieren.
({8})
Nach der Anhörung im Rechtsausschuss waren wir der
Auffassung, dass das Vorhaben auf einem guten Weg ist.
Die Mehrheit der Sachverständigen hat gemeint, die Reform sei ein richtiger Ansatz. Insofern erinnern Sie völlig zu Recht daran, dass wir deutlich machen müssen,
worum es geht.
Auf der Agenda steht, dass wir die Beratungen nach
Ostern abschließen und dass im Mai der Gesetzentwurf
dem Bundesrat vorgelegt wird, sodass er am 1. Juli 2007
in Kraft treten kann.
Nun gab es auf der Zielgeraden, auf der wir gerade
sind, einen kleinen Sturm. Wir in der Union haben ein
bisschen diskutiert; als großer Volkspartei steht uns das
auch zu.
({9})
Wir müssen und sollten auf der einen Seite die Stärkung
des Kindeswohls vor Augen haben. Das Wohl des Kindes ist ja nur dann gesichert, wenn die Elternteile, die
das Kind betreuen, ihr Auskommen haben. Insofern ist
es legitim, aus der Sicht des Kindes zu sagen: Allen Elternteilen, die Kinder betreuen, ist der zweite Rang einzuräumen, wenn es um die Befriedigung von Unterhaltsansprüchen geht. Der erste Rang gebührt den ehelichen
und den nichtehelichen Kindern, und im zweiten Rang
sind alle Elternteile gleichgestellt; denn wir sagen: Ein
Kind kann nichts dafür, ob es ehelich oder nichtehelich
geboren ist. Insofern erfolgt hier eine Gleichstellung;
denn der Betreuungsunterhalt knüpft am Kind an.
Nun gibt es auf der anderen Seite den Schutz der
Ehe. Beim zweiten Rang ist ja auch die Ehe von langer
Dauer ein Kriterium. Wir haben konkret beschrieben,
was eine Ehe von langer Dauer ist. Das sind nicht nur
acht, zehn oder zwölf Jahre.
({10})
Es gibt weitere Komponenten, die dazu führen, dass ein
Anspruch dem Kriterium einer Ehe von langer Dauer angeglichen wird.
In dem Spannungsfeld zwischen Kindeswohl auf der
einen Seite und Schutz der Ehe auf der anderen Seite
- ich hatte vorhin Art. 6 des Grundgesetzes angesprochen - haben wir einen Kompromiss vorgelegt, über den
natürlich noch entschieden werden muss. Wir haben gesagt: Der zweite Rang ist den ehelichen Elternteilen, wobei die Kinderbetreuung und das Kriterium der Langzeitehe hinzukommen, einzuräumen und der dritte Rang
den nichtehelichen Elternteilen.
Die eine Seite des Kompromisses ist, dass der Rang
verändert wurde. Aber dafür haben wir eine weitere Annäherung der Unterhaltsansprüche der ehelichen Elternteile auf der einen Seite - ob geschieden oder getrennt - und der nichtehelichen auf der anderen Seite
erreicht. Das heißt, die Erwerbsobliegenheit besteht ab
dem gleichen Zeitpunkt, und auch die Zahlung des Unterhalts über den Zeitraum ist gleichgestellt. Das ist eine
quasi Eins-zu-eins-Annäherung und eine gute Regelung
für die nichtehelichen Elternteile.
Wir haben in diesem Kompromiss weiter klargestellt,
dass für kein Elternteil unterhalb eines Alters der Kinder
von drei Jahren Erwerbsobliegenheit besteht. Das ist
Konsens; das ist auch völlig in Ordnung.
({11})
Wir haben beschlossen - das ist nicht neu; das wurde nur
klargestellt und war schon im Entwurf festgelegt gewesen; darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen -, dass
die Erwerbsobliegenheit der betreuenden Elternteile
nach dem dritten Lebensjahr des Kindes nur dann besteht, wenn die Belange des Kindes nicht beeinträchtigt
sind und überhaupt Möglichkeiten einer Kinderbetreuung gegeben sind. Das ist uns ganz wichtig. Das stand
im Gesetzentwurf und ist auch Teil des Kompromisses.
Das ist der aktuelle Stand. Hierüber werden wir schon
in der nächsten Sitzungswoche nach der Osterpause diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir das Unterhaltsrecht mit
diesem Kompromiss auf den Weg bringen können. Es
sind aber noch weitere Punkte zu klären; ich hatte die
FGG-Reform angesprochen. Aber auch im Unterhaltsrecht gibt es noch vieles, was man auf den Weg bringen
kann, aber nicht so drängt wie das, was jetzt auf der Tagesordnung steht.
Mit diesem Kompromiss kann man in Anbetracht des
Spannungsverhältnisses, das hier besteht, leben. Deshalb
sollten wir ihn auf den Weg bringen. Ich würde mich
freuen, wenn wir das zusammen fertigbringen würden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zum
Unterhaltsgesetz lief bis zum Sommer letzten Jahres, bis
zur ersten Lesung im Juli, noch alles glatt. Dann kam im
Oktober die Anhörung. Danach wurde die Beratung vertagt, und seitdem herrscht Schweigen im Walde. Gegenwärtig wird der Gesetzentwurf nicht beraten. Auch der
damals in gleicher Lesung mitberatene Antrag zum Unterhaltsvorschussgesetz liegt im Ausschuss auf Halde.
Offensichtlich hat die Regierungskoalition kein Interesse an parlamentarischer Beratung. Warum, muss man
sich fragen. Nach der Anhörung im Oktober letzten Jahres wurden die Unzulänglichkeiten des Gesetzentwurfs
auch bei der Koalition reflektiert. Dann ging es nach der
inzwischen schon fast gewohnten Praxis weiter: Es wird
nicht im Ausschuss beraten. Argumente und Gegenargumente, verschiedene Positionen werden nicht wahrgenommen; sie sind ja nicht einmal gefragt. Es wird wieder
hinter verschlossener Tür gekungelt und das Ergebnis
anschließend durch das Parlament gepeitscht; die Mehrheitsverhältnisse machen es ja möglich.
({0})
Nach fast einem Jahr seit Kabinettsbeschluss ist weder in einem der federführenden Ausschüsse in der Sache abschließend beraten worden, noch liegen entsprechende Votenanforderungen bei den mitberatenden
Ausschüssen vor. Das zeigt wieder, dass Gesetzentwürfe
erarbeitet werden, die nicht stimmig sind und die dann
im Rahmen von Kompromissbeschlüssen der Koalition
so weit revidiert werden, dass am Ende nichts Gescheites übrig bleibt. „Gut Ding will Weile haben“, heißt es.
Wenn das Ding dann wenigstens gut wäre!
Über die Inhalte der Vorlagen, die dem Parlament
wahrscheinlich wieder wenige Stunden vor der abschließenden Beratung zugehen werden, kann man ja nur mutmaßen, dank einiger Pressemitteilungen. Dass die CSU
- laut Pressemitteilung von Herrn Singhammer vom
heutigen Tag - die Verantwortung von Eltern, die ihre
Kinder ohne Trauschein erziehen möchten, geringer
schätzt als die von Eltern mit Trauschein, verwundert
mich inzwischen nicht mehr. Die CSU hinkt der Realität
halt hinterher.
Die Armutsgrenze, der Familienstand oder ein Trauschein können doch nicht der Maßstab für den Unterhalt
sein. Der Unterhalt hat sich vielmehr am Kindeswohl zu
orientieren. In der Anhörung im Oktober hieß es schon
- ich zitiere -:
Für 95 Prozent der rund 2,2 Millionen Kinder von
Alleinerziehenden bringt der Entwurf zur Änderung
des Unterhaltsrechts erhebliche finanzielle Nachteile.
Wenn die Stärkung des Kindeswohls das Ziel der Reform sein soll, dann müssen doch alle Kinder, egal ob
ehelich oder nichtehelich, ein Recht auf Gleichbehandlung haben.
({1})
Nun kann man ja sagen, dass wir das haben, weil jetzt
alle Kinder im ersten Rang stehen. Das klingt gut, aber
nur auf den ersten Blick; denn die Realität sieht ein bisschen anders aus: In gewohnter Weise werden soziale Ungerechtigkeiten und Armutsrisiken von Kindern und Alleinerziehenden verfestigt; denn die Lebensentwürfe von
Elternteilen orientieren sich zum Großteil nicht mehr an
einer lebenslangen Ehe. Kinder wachsen vermehrt mit
einer Person allein, in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, in einer Lebenspartnerschaft oder in anderen
denkbaren Konstellationen auf.
Ziel der Reform muss doch sein, dass sich die Ausgestaltung der Rechtsmaterie an der geänderten Lebenswirklichkeit orientiert. Insbesondere die Lebenswirklichkeit vieler Frauen wird durch unhaltbare Zustände
bestimmt: Alleinerziehende - das sind überwiegend
Frauen - werden vor die unlösbare Aufgabe gestellt, bei
geringen Löhnen ihren Unterhalt zu erarbeiten und zugleich die Kinderbetreuung und -erziehung zu gewährleisten.
An die Union gerichtet - schade, dass Herr
Singhammer schon weg ist - kann ich in diesem Zusammenhang nur sagen: Sie haben sich bei dieser Reform
des Unterhaltsrechts mit einem Frauenbild durchgesetzt,
welches aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und
weit weg ist von Fortschritt und Moderne.
({2})
Sie wollen immer noch die Ehe als finanzielle Absicherung der Frau; Ehefrauen sollen gegenüber unverheirateten Müttern bei der Rangfolge im Unterhaltsrecht privilegiert werden.
Die Fraktion Die Linke fürchtet, dass als Ergebnis
dieses Kompromisses drohen: weniger Mindestunterhalt
für Kinder, ein Unterhalt, der sich an der Armutsgrenze
orientiert, weniger oder kein Geld für den erziehenden
Elternteil, eine größere Erwerbsobliegenheit für Frauen,
was aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen im Grunde unmöglich zu erfüllen ist. Wenn man dann noch berücksichtigt,
dass die Möglichkeit, den Betreuungsunterhalt steuerlich
abzusetzen, die es im Augenblick gibt, nach der Reform
wegfällt, weil zunächst diejenigen bedient werden müssen, denen der erste Rang eingeräumt worden ist, dann
kann im Mangelfall - im Osten ist er inzwischen der
Normalfall geworden - nur festgestellt werden, dass für
die Unterhaltsberechtigten weniger Geld übrig bleibt,
zum Vorteil der Unterhaltsvorschusskassen.
({3})
Angesichts dessen frage ich mich: Wer soll mit dieser
Reform des Unterhaltsrechts gefördert werden: die Kinder oder die Landesfinanzminister?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine
Lambrecht, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau LeutheusserSchnarrenberger, ich kann Ihre Unruhe und Aufregung
darüber verstehen, dass sich im Unterhaltsrecht noch
nicht mehr getan hat, als bisher auf dem Tisch liegt. Ich
gebe in diesem Zusammenhang aber zu bedenken, dass
diese Materie nicht ganz einfach zu regeln ist, weil ganz
viel damit zusammenhängt.
Das momentan geltende Gesetz hat seine Ursprünge
in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Wenn wir
das Unterhaltsrecht jetzt ändern, sollten wir es nicht in
drei, vier oder fünf Jahren wieder verändern müssen: Es
sollte Bestand haben. Die Fachleute an den Gerichten
und die Fachanwälte würden sich die Haare raufen,
wenn wir in drei Jahren ein völlig neues Konzept vorlegen würden. Deshalb ist es geboten, dass wir über dieses
Thema in dieser Ausführlichkeit sprechen.
({0})
Sie haben es angesprochen. Deswegen bin ich über den
Vorwurf, es sei nichts passiert, etwas verwundert.
Ende 2005 haben wir unsere Leitlinien in die Koalitionsvereinbarung geschrieben. Im April 2006 gab es
dazu einen Entwurf der Bundesregierung. Ich finde, das
ist nicht übermäßig lange; da kenne ich Regierungsentwürfe, die mehr Zeit in Anspruch genommen haben.
Dann gab es hier im Plenum eine Debatte über dieses
Thema, wir haben im Ausschuss darüber geredet, und es
gab im Oktober letzten Jahres eine Anhörung. Jetzt ist
gleich April 2007. So wie Sie reden, könnte man denken,
das Ganze hätte zehn Jahre auf Eis gelegen.
({1})
Ich glaube also, wir haben in dieser Frage recht zügig
beraten. Es gab einen Regierungsentwurf, der im Kabinett einstimmig beschlossen wurde. Wir hatten eine ausführliche Beratung in der Anhörung,
({2})
in der viele Fragen geklärt werden konnten. Die Fachpolitiker, insbesondere die Rechtspolitiker, in der Koalition
waren sich einig. Nach der Anhörung gab es noch einige
Veränderungen. Dann hätte man eigentlich zum Zuge
kommen können.
({3})
Aber dann wurden, das muss ich jetzt so deutlich sagen, einige Damen und Herren in der Union - ich hoffe
jedenfalls, dass es nur wenige waren; vielleicht wurden
sie auch von entsprechender Seite beeinflusst ({4})
wach und haben weitgreifende Veränderungen gefordert.
An uns jedenfalls lag es nicht. Auch ich bin über dieses
Vorgehen verwundert, dass man trotz eines Kabinettsbeschlusses, der einstimmig gefasst wurde, und gegen den
ausdrücklichen Willen der Fachpolitiker sagt, dass man
das Ganze noch einmal auf den Kopf stellen möchte.
({5})
Das ist verwunderlich und in einer Koalition nicht üblich.
Jetzt muss man sich anschauen, warum das alles verändert werden soll. Um was geht es? Im Endeffekt geht
es, glaube ich, um eine ideologische Auseinandersetzung. Wir haben im Unterhaltsrecht mutig die Formel
„Kinder zuerst“ geprägt. Bei all den Debatten, die wir in
diesem Zusammenhang führen, geht es um die Kinder.
Die Kinder sollen im Vordergrund stehen, weil sie in der
Regel keinen Einfluss darauf haben, ob ihre Eltern verChristine Lambrecht
heiratet sind oder nicht, ob sie zusammenleben oder
nicht, ob sie sich trennen. Da sie darauf keinen Einfluss
haben, sollen sie auch nicht darunter leiden. Das war die
Prämisse.
({6})
Aus diesem Grund sollten alle Kinder in den ersten
Rang kommen, egal ob ehelich oder nichtehelich. Das,
was verteilt werden kann, sollten sie mit niemandem teilen müssen. Diese Regelung konnten wir retten. Das ist
weiterhin der Fall.
Jetzt haben verschiedene Beratungen stattgefunden.
Das Ergebnis möchte ich nicht Kompromiss nennen,
weil das voraussetzen würde, dass alle damit einverstanden sind. Ich kann Ihnen sagen: In der SPD-Fraktion gibt
es zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die zumindest
mit dem, was öffentlich transportiert wird, keineswegs
einverstanden sind. Deswegen möchte ich das nicht
Kompromiss nennen.
({7})
Um was geht es? Es geht darum, dass dann, wenn
noch Geld zu verteilen ist, die Exehefrau im zweiten
Rang steht, und zwar nicht nur die erste Exehefrau, sondern alle Exehefrauen. Es wäre ja noch nachvollziehbar,
dass man dann, wenn man ideologisch an das Thema herangeht, sagt: einmal verheiratet, einmal vertraut! Alle
anderen müssen hintenanstehen, sie müssen quasi mit
der Altlast leben, dass der Partner schon einmal verheiratet war. - Aber nein, alle Exehefrauen kommen in den
zweiten Rang. Die Frauen, die Kinder erziehen, aber auf
den Trauschein nicht gepocht oder ihn nicht erreicht haben - das kommt auf die jeweilige Beziehung an -, kommen nicht in den zweiten Rang. Da fängt es an, unschlüssig, unlogisch zu werden.
({8})
Wenn ich will, dass die Kinder im Vorteil sind, dann
muss ich die Regelung unabhängig vom Familienstand
des erziehenden Partners ausgestalten. Es muss egal
sein, ob man verheiratet war oder nicht. Ein Kind zu betreuen, ist ein Wert in unserer Gesellschaft. Das wollen
wir bekunden.
({9})
Deswegen wäre es richtig gewesen, so wie in der Ursprungsfassung zu sagen: Jeder, der ein Kind erzieht,
wird von der Gesellschaft geachtet, und das drückt sich
auch im Unterhaltsrecht aus. Darüber hinaus gibt es
selbstverständlich einen Vertrauensschutz für Ehefrauen,
nämlich für solche, die lange verheiratet waren. Genau
sie haben in diesem Punkt Vertrauen verdient. Deswegen
waren Exehefrauen, die aus einer langen Ehe kamen,
auch wenn sie keine Kinder erzogen haben bzw. aktuell
keine Kinder mehr erziehen, im zweiten Rang. Denn wir
haben gesagt: Das ist gleichwert mit einer aktuellen Erziehungsleistung.
Erst dann kamen im dritten Rang die Exehefrauen
aus Ehen von kurzer Dauer. Frauen, die drei, vier Jahre
verheiratet waren und keine Kinder erzogen haben,
mussten sich hintenanstellen.
Davon sollen wir jetzt abweichen? Jetzt sollen wir sagen: Entscheidend ist, ob ein Trauschein erreicht wurde
oder nicht; Hauptsache, ihr wart irgendwann einmal verheiratet, ob in zweiter, dritter oder vierter Ehe, ist völlig
egal; dann steht ihr in unserer Achtung auf jeden Fall höher als diejenigen, die ein Kind erziehen? Das kann es
doch nicht sein. So etwas ist zumindest mit mir nicht zu
machen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die
ebenfalls der Meinung sind, dass es nicht aufgrund einer
Privilegierung im Hinblick auf den Unterhalt zu einer Inflation von Trauscheinen kommen darf.
({10})
Darüber - Frau Granold, Sie haben das angesprochen werden wir noch diskutieren müssen. Wenn wir jetzt eine
Reform des Unterhaltsrechts, die 20 oder 30 Jahre lang
Geltung haben soll - eher sollten wir es vernünftigerweise
nicht ändern -, auf den Weg bringen, müssen wir uns
überlegen, ob wir das an der Lebensrealität der Menschen
vorbei machen oder ob wir sagen: Wir schreiben den
Menschen nicht vor, wie sie zu leben haben, und daher
werden wir keine Regelung treffen, die einen Anreiz darstellt, Trauscheine in beliebiger Anzahl zu erwerben.
Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen. Ich
weiß, dass sie nicht ganz einfach sein werden. Aber ich
glaube, bei diesem Thema lohnt es sich wirklich, zu
kämpfen, und zwar nach dem Motto: die Kinder zuerst!
({11})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/
Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Reform des
Unterhaltsrechts ist nicht nur längst überfällig, sondern
sie wurde auch schon vor langer Zeit eingebracht. Dieses
Vorhaben war nicht nur im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung enthalten, sondern die rot-grüne Koalition hatte bereits Eckpunkte für eine Reform des Unterhaltsrechts vorgelegt und war dabei, die geplanten
Änderungen auf den Weg zu bringen. Umso erfreulicher
ist, dass Sie diese Vorschläge übernommen und wir sie
beraten haben, sodass ein zeitgemäßer Gesetzentwurf
vorgelegt werden konnte.
Das Beste daran war, dass alle Kolleginnen und Kollegen mit den erwähnten Eckpunkten einverstanden waren oder zu sein schienen. Aber dann kam doch alles
ganz anders als erwartet. Das familienpolitische Hin und
Her der Großen Koalition darf uns eigentlich nicht ver9182
wundern. Denn wer die Rede, die Sie, Frau Lambrecht,
heute gehalten haben, gehört hat, der muss das Gefühl
haben, dass es eigentlich keinen einzigen Bereich der
Familienpolitik mehr gibt, in dem sich die Große Koalition noch einig ist.
({0})
Die Debatte, die Sie führen, ist eine reine Ideologiedebatte, nichts anderes. Ich gehe davon aus, dass es einen Grund gibt, warum dieser Gesetzentwurf, der schon
lange in der Diskussion ist, bei seiner Einbringung weder im Kabinett noch im Parlament von den Kollegen
der CDU/CSU in irgendeiner Form kritisiert wurde - übrigens auch in der Anhörung nicht und sogar Monate
nach der Anhörung nicht -, dass er aber jetzt plötzlich
auf die Tagesordnung gesetzt wurde und sich nun manche berufen fühlen, die Ehe zu retten. Der Grund dafür
ist ganz einfach: Die Verhandlungen zum Thema Kinderbetreuung stehen an, und dass es in der CDU/CSU
plötzlich zu Ansätzen familienpolitischer Modernisierung kommt, gefällt manch einem in der Union nicht.
({1})
Ihr Problem ist, dass die Koalition gezwungen ist, einen Gegenpunkt zu setzen. Deshalb das taktische Zugeständnis an die Konservativen, an die Traditionalisten in
Ihrer Partei. Es geht darum, Ihr überholtes Familienbild
festzuschreiben.
({2})
Nun mag sich die Koalition die Frage stellen, ob sie ihre
Justizministerin brüskiert oder nicht.
({3})
Die Leidtragenden sind allerdings die nicht verheirateten
Erziehenden. Das muss man festhalten.
Worum geht es? Natürlich geht es uns allen um die
Förderung des Kindeswohls. Meine Kollegin von der
FDP hat zu Recht gesagt: Wir alle sind einverstanden,
dass die Kinder an erster Stelle stehen. Der Punkt, um
den es jetzt geht, ist aber: Wenn es darüber hinaus noch
etwas an Unterhalt zu verteilen gibt, dann sollten die Eltern, die Kinder erziehen, an zweiter Stelle stehen.
({4})
Sie allerdings bestätigen uns eines: dass Ihnen der Trauschein wichtiger ist als die Leistung der Kindererziehung.
({5})
Sie bestätigen noch etwas: dass der Trauschein Vorrang
vor Kindern unverheirateter Paare hat.
De facto ist es so, dass Mütter und Kinder aus einem
Topf wirtschaften, egal ob die Mütter vorher verheiratet
waren oder nicht. Daher ist es auch so, dass diejenigen,
die vorher nicht verheiratet waren, diejenigen sind, die
meist leer ausgehen. 80 Prozent dieser Fälle sind nämlich Mangelfälle. Das heißt, die Betroffenen werden einfach kein Geld mehr bekommen. Wenn das Ihr Verständnis von der Förderung des Kindeswohls ist, dann haben
Sie irgendetwas falsch verstanden. Darüber sollten Sie
schleunigst noch einmal nachdenken. All das ist zwar
Balsam für die konservative Seele, hat aber nichts mit
der Förderung des Wohls der Kinder in diesem Land zu
tun.
({6})
Sie wollen noch etwas: Sie wollen Familien zum
Trauschein zwingen. Sie wollen die Leute dazu bringen,
aus finanziellen Erwägungen zu heiraten. Was ist das für
eine Politik?! Die Menschen entscheiden selber, sie haben die Wahlfreiheit, sie möchten nicht von der Politik
vorgegeben bekommen, wie sie zu leben haben. Im Gegenteil, wir müssen auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren. Das haben Sie sogar selber gesagt.
Dann muss man aber die gesellschaftlichen Realitäten
anerkennen.
({7})
Jetzt gibt es noch den Fall, dass Partner lange miteinander verheiratet waren. Ja, auch wir Grünen glauben,
dass man dann einen Vertrauensschutz wahren muss
({8})
und für diesen eine Regelung finden muss. Das aber war
ein Ergebnis, auf das wir uns gemeinsam verständigt
hatten - in dieser Diskussion ging es gar nicht um den
Trauschein -, und wir waren dieser Meinung von Anfang an. Übrigens betrifft das nicht nur die Verheirateten: Was ist denn mit den Unverheirateten, die lange zusammen waren?
An diesem Punkt möchte ich etwas zu dem Antrag
der FDP sagen: Ich glaube, dass Ihr Modell, wonach
nicht die Gerichte im Einzelfall über Vertrauenstatbestände entscheiden sollen, sondern die Ehe mindestens
15 Jahre bestanden haben muss, dem Anspruch nicht genügt. Die Richter müssen an diesem Punkt mehr Entscheidungsspielraum bekommen. Nur dann können sie
die Hintergründe beleuchten und dem Einzelfall gerecht
werden. Insofern müssen wir endlich auch über die Zumutbarkeit von Arbeit reden. Auch da ist es an der Zeit,
zu handeln und nicht wegzuschauen.
Ein Ziel des Ganzen ist, klare Verteilungsregeln aufzustellen. So bitter das auch sein mag: Auch wenn alle in
der Mitte der Schlange stehen, wird das zu verteilende
Geld nicht mehr. Unser Prinzip lautet: Kindeswohl vor
Trauschein.
({9})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau
Deligöz, genau dem, was Sie zuletzt gesagt haben, werden wir nachkommen.
({0})
Das ist in dem Entwurf, der demnächst in die Beratung
kommt, vorgesehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, verehrte
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, dass Sie darauf
bestanden haben, dass wir heute über den Antrag nach
§ 62 GO debattieren; da können wir nämlich ein paar
Dinge klarstellen.
Ich sage zu den Grünen nur eines: Wir waren sieben
Jahre in einer Koalition. Ich als Rechtspolitiker habe bei
mehr Gesetzentwürfen wegen Ihrer Kollegen zurückstecken müssen, als wir das bisher gemacht haben.
({1})
Ein Wort zur FDP: Sie waren 23 Jahre in der Regierung, und das Problem ist nicht erst seit gestern bekannt.
({2})
- Aber nicht das, was Sie jetzt wollen. - Wir hätten uns
nach der intensiven Anhörung im Rechtsausschuss im
vergangenen Oktober natürlich gewünscht,
({3})
dass wir bei dem Gesetz etwas schneller vorankommen,
selbstverständlich.
({4})
Wir waren uns hier einig. Aber es ist nun einmal so, dass
auf der Zielgeraden - darüber bin auch ich nicht glücklich - in der Union einige bei dem, was verabredet war,
ich sage es einmal ganz platt, kalte Füße bekommen haben.
({5})
- Herr Haibach, das ist nun einmal so. Ich beklage es gar
nicht, ich sage nur, wie es gewesen ist. - Wichtig für
mich ist, dass wir es schaffen - und das wird diese Koalition -, dieses Gesetz zum 1. Juli in Kraft treten zu lassen, weil das wichtige Weichenstellungen sind. Ich
glaube, wir erfüllen damit auch die Erwartungen vieler
Bürgerinnen und Bürger. Wir könnten uns wünschen,
dass wir das gemeinsam machen.
Das Unterhaltsrecht - lassen Sie mich einmal ein bisschen philosophisch werden, liebe Kolleginnen und Kollegen - entscheidet in der Tat darüber, welches Maß an
finanzieller Solidarität Familienangehörige voneinander erwarten können. Es regelt einen zentralen Aspekt
familiärer Verantwortung. Trennung, Scheidung, Unterhaltspflichten bringen viele Familien in eine schwierige
Lage. Das gilt ganz besonders für die Familien, bei denen sich Partner gefunden haben, deren vorige Ehe gescheitert ist. Ich halte es deshalb für richtig, dass die
Unterhaltsansprüche derjenigen, die in zweiter Ehe verheiratet sind und Kinder betreuen, künftig nicht mehr
hinter den Unterhaltsansprüchen, die es aus erster Ehe
gibt, zurückstehen.
({6})
Das ist ein wichtiges Signal für diese Familien. Der Unterhaltsverpflichtete befindet sich heute häufig in der Situation, dass, wenn man abzieht, was er für seine gescheiterte Ehe zahlt, für seine neue Familie nicht genug
übrig bleibt.
Deshalb sollten die Ansprüche der Verheirateten
und der Geschiedenen, wenn sie Kinder betreuen,
künftig im gleichen Rang stehen. Damit erhält auch die
neue Familie die Chance, die sie wie jede andere Familie
auch verdient.
({7})
Ich hätte mir darüber hinaus gewünscht, dass alle Eltern, die minderjährige Kinder betreuen, mit ihren Ansprüchen in den zweiten Rang kommen, egal, ob sie verheiratet sind oder nicht. Ich mache keinen Hehl aus
meiner Meinung: Allein dieser Ansatz wäre zum Wohle
des Kindes konsequent gewesen.
({8})
Um deren Betreuung geht es nämlich.
Ich meine, dass die Reform zu wichtig ist, als dass wir
es uns leisten könnten, sie allein an dieser Frage scheitern zu lassen oder sie bis auf Weiteres zu vertagen und
vielleicht sogar irgendwohin in den Orkus verschwinden
zu lassen. Wenn wir diesen Punkt heute auch zurückstellen müssen, so erreichen wir doch wesentliche Ziele der
Reform, nämlich, dass alle Kinder als Unterhaltsberechtigte in den ersten Rang kommen. Herr Wunderlich, das,
was Sie eben gesagt haben, finde ich schon ein bisschen
wunderlich.
({9})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, an einer anderen
Stelle werden wir die Situation nicht verheirateter Eltern, die erziehen, zusätzlich verbessern. Der Anspruch
einer nicht verheirateten Mutter soll nicht mehr grundsätzlich schon nach drei Jahren enden. Ihr Anspruch soll
künftig für mindestens drei Jahre bestehen. Damit verabschieden wir uns vom bisherigen Regel-Ausnahme-Verhältnis. Es wird nur noch geprüft, ob die Fortdauer des
Unterhaltsanspruchs der Billigkeit entspricht. Dabei
kann auch berücksichtigt werden, ob ein Kind in einer
dauerhaft gefestigten Lebensgemeinschaft geboren
wurde. In diesen Fällen erreichen wir eine weitgehende
Annäherung an die Dauer des Betreuungsunterhalts bei
verheirateten Eltern. Ich denke, dass unsere Familiengerichte in der Lage sein werden, dies richtig zu entscheiden.
Mir ist klar, dass diese Regelung in Mangelfällen
nicht besonders viel bringt, weil es dann auf die Rangfolge ankommt und die Unterhaltsansprüche zwar länger
bestehen, deren Durchsetzung jedoch an der fehlenden
Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners scheitert.
({10})
Ich habe bei der Debatte manchmal das Gefühl gehabt, dass wir uns hier sehr akademisch über diese Dinge
gestritten haben, die praktisch so nie eintreten werden.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lambrecht?
Natürlich, wenn es uns weiterhilft, Christine.
({0})
Ich versuche einmal, mit der Praxis zu argumentieren.
Wir haben eben gehört, dass sich der grundsätzliche Anspruch der nicht verheirateten Frauen zeitlich verlängert.
Die Frage ist aber natürlich, ob sie in einem entsprechenden Rang landen, das heißt, in der Gruppe, in der sie
überhaupt etwas bekommen.
({0})
Was nützt es ihnen nämlich, wenn sie zwar theoretisch
länger Geld bekommen, praktisch aber nichts erhalten?
Deswegen habe ich einmal eine ganz praktische Frage
an Sie. Wenn sich ein Mann mit einem Nettoeinkommen
von 2 400 Euro, der verheiratet war und aus dessen Ehe
zwei Kinder hervorgegangen sind, einer neuen Partnerin
zugewandt und mit ihr ein Kind hat, dann sah die Verteilung bisher wie folgt aus - das geht übrigens aus einer
Tabelle hervor, welche das Bundesministerium der Justiz
veröffentlicht -: Die Exehefrau bekam 668 Euro und die
neue Partnerin 0 Euro. Nach dem angeblichen Kompromiss, der ausgehandelt wurde, bekommt die Exehefrau
jetzt 716 Euro - also knapp 50 Euro mehr - und die neue
Partnerin weiterhin 0 Euro. Können Sie mir erklären, wo
hier die Verbesserung für nicht verheiratete Lebenspartner liegt, die Kinder erziehen? Sehen Sie darin eine Verbesserung?
({1})
Liebe Kollegin Lambrecht, ich glaube, ich habe eben
deutlich gemacht, dass wir hier in vielen Fällen akademisch streiten.
({0})
- Frau Deligöz, Sie können gleich ja auch eine Frage
stellen, wenn Sie möchten. Ich freue mich über solche
Zwischenfragen.
({1})
Ich habe eben gesagt, dass wir hier in aller Regel akademisch diskutieren. Das gilt auch für die Frage, ob die
nicht verheiratete alleinerziehende Mutter im zweiten
Rang wäre. Denn in aller Regel geht es hier um Mangelfälle. Aber im Fall derjenigen, wo der Unterhaltsverpflichtete ein deutlich höheres Einkommen hat, als zum
Beispiel ein Facharbeiter im Durchschnitt verdient - es
soll etwa gut verdienende Beamtinnen und Beamte oder
auch Rechtsanwälte und -anwältinnen geben -, kann bei
einer Verlängerung der Dauer der Unterhaltsleistungen
unter dem Strich durchaus etwas übrig bleiben. Von daher sind wir auf dem richtigen Weg. Um Ihre Frage zu
beantworten: Es kommt sicherlich nicht zu einer Verschlechterung.
({2})
Ich darf nun mit meinen Ausführungen fortfahren. Ich
setze an der Stelle fort, an der Frau Lambrecht mich unterbrochen hatte. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die
Regelung in Mangelfällen nicht besonders viel bringt,
weil es auf die Rangfolge ankommt und der Unterhaltsanspruch zwar länger besteht, deren Durchsetzung jedoch an der fehlenden Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners scheitert. Diesen Satz hätten Sie noch
abwarten sollen; dann wäre Ihre Frage beantwortet gewesen.
Ich denke, wir gehen einen Schritt in die richtige
Richtung. In den vergangenen Tagen wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ab wann von Eltern eine
Erwerbstätigkeit erwartet werden kann.
({3})
Bereits der Regierungsentwurf geht davon aus, dass kein
Elternteil einen Krippenplatz gegen seinen Wunsch nutzen muss, wenn das Kind unter drei Jahren ist. Das werden wir ausdrücklich in den Gesetzentwurf aufnehmen.
Bei älteren Kindern wird neben dem Kindeswohl stets zu
berücksichtigen sein, ob die Betreuung in einer Betreuungseinrichtung - in einer Kinderkrippe oder in einem
Kindergarten - möglich ist. Ich möchte an dieser Stelle
betonen, dass in Deutschland nach wie vor keine angemessene Betreuungslandschaft vorhanden ist. Insofern
sind Verbesserungen notwendig.
Wir haben gut 90 Prozent des Regierungsentwurfs
umgesetzt. Auch ich hätte mir gewünscht, dass wir ihn
zu 100 Prozent umgesetzt hätten, weil wir dann den von
uns gewollten Paradigmenwechsel im Unterhaltsrecht
tatsächlich erreicht hätten. Aber bei allen Regierungen,
denen ich angehört habe und die ich erlebt habe, hat es
Gesetzesvorhaben gegeben, deren Umsetzung viel
schlechter verlaufen ist. Deswegen bitte ich sehr höflich:
Lasst uns gemeinsam für das Ergebnis streiten.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Grütters, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Den Hochschulpakt erfolgreich umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({1}) und der Fraktion der LINKEN
Hochschulpakt 2020 - Kapazitätsausbau
und soziale Öffnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Priska Hinz ({2}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen Studienplätze bedarfsgerecht und zügig ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth,
Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Qualität der Hochschullehre sichern den Hochschulpakt 2020 erfolgreich abschließen und weiterentwickeln
- Drucksachen 16/4563, 16/3278, 16/3281, 16/3290,
16/4875 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Uwe Barth
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Hochschulen in Deutschland stehen in den nächsten Jahren vor großen Herausforderungen. Die Reform der Studienstruktur - ich verweise in diesem Zusammenhang
auf den Bolognaprozess, den internationalen Wettbewerb um eine leistungsfähige universitäre Forschung
und nicht zuletzt auf den absehbaren Anstieg der Studienbewerberzahlen - erfordert vielfältige Anstrengungen. Zugleich sind mit den genannten Entwicklungen
aber auch große Chancen für die Zukunft der jungen
Menschen, für unser Wissenschaftssystem und die Innovationskraft unseres Landes verbunden.
({0})
Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass wir
auch die in den kommenden Jahren steigende Zahl der
Studienanfänger nicht etwa als Belastung, sondern als
Chance begreifen. Denn während im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels der Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften kontinuierlich steigt, droht zugleich infolge der demografischen Entwicklung ein
massiver Fachkräftemangel.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan hat die
Herausforderung der steigenden Studierendenzahlen angenommen und bereits im vergangenen Jahr die Initiative für einen Hochschulpakt 2020 ergriffen. Das in den
Verhandlungen mit den Ländern erreichte Ergebnis ist
ein gelungenes Beispiel dafür, wie Bund und Länder innerhalb der Möglichkeiten, die sich nach der Föderalismusreform für sie ergeben, ihre politische Verantwortung für die Hochschulen und die junge Generation
gemeinsam wahrnehmen.
Im November 2006 haben sich die Wissenschaftsminister von Bund und Ländern auf Eckpunkte für die Ausgestaltung des Hochschulpaktes geeinigt, denen anschließend die Regierungschefs von Bund und Ländern
im Dezember zugestimmt haben. Derzeit werden diese
Eckpunkte in eine konkrete Fördervereinbarung umgesetzt, die bei der nächsten Konferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern am 14. Juni dieses Jahres
zur Unterzeichnung vorgelegt werden soll.
Dieser Hochschulpakt wird auf zwei Säulen beruhen:
zum einen auf einem Programm zur Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger, denen insbesondere durch die
Schaffung zusätzlicher Stellen im Bereich der Lehre ein
qualitativ hochwertiges Hochschulstudium ermöglicht
werden soll; zum anderen auf einem Forschungselement,
auf einer Programmkostenpauschale für erfolgreiche
Hochschulforschung, die sich im Wettbewerb um Fördermittel der DFG durchsetzt.
Bei der ersten Säule für die Lehre geht es um eine
langfristig angelegte Grundsatzverpflichtung von
Bund und Ländern zur Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger. Im Vergleich zum Basisjahr 2005 rechnen wir auf der Basis der mit der KMK abgestimmten
Prognose für die Jahre von 2007 bis 2010 zunächst einmal mit rund 90 000 zusätzlichen Studienanfängern. In
den Jahren des Spitzenbedarfs 2011 bis 2013 kommen
jährlich etwa 40 000 zusätzliche Studienanfänger hinzu.
Der Bund wird sich an den Kosten für diese zusätzlichen
Studienanfänger alleine im Zeitraum von 2007 bis 2010
mit insgesamt 565 Millionen Euro beteiligen.
({1})
Mit dieser massiven Beteiligung des Bundes wird es den
Ländern möglich sein, die Gesamtfinanzierung sicherzustellen.
Für diese Gewährung der Bundesfinanzierung ist eine
klare Erfolgskontrolle vereinbart, die sich nach den tatsächlich aufgenommenen zusätzlichen Studienanfängern
richtet. Ein Problem war in diesem Zusammenhang, dass
wir in den einzelnen Teilen unseres Landes vor sehr unterschiedlichen Entwicklungen stehen, und zwar einerseits vor einem deutlichen Aufwuchs der Studierendenzahlen in den alten Ländern und andererseits - wenn
nicht gegengesteuert wird - vor einem deutlichen Einbruch der Studierendenzahlen in den neuen Ländern.
Auch dieser Situation wollen wir begegnen. Deshalb gilt
es zu vermeiden, dass vorhandene Studienkapazitäten in
den neuen Ländern abgebaut werden, während an anderer Stelle ein umso höherer Ausbau erforderlich wäre.
({2})
Das ist im Hochschulpakt berücksichtigt worden, indem für die neuen Länder ein Anteil von 15 Prozent der
Bundesmittel reserviert ist, wenn sie sich dazu verpflichten, die Studienanfängerzahlen auf der Basis des
Jahres 2005 bis zum Jahr 2010 zu halten. Unter der gleichen Voraussetzung - das ist sozusagen der zweite Sonderbereich, die Stadtstaaten - erhalten Bremen und
Hamburg zusammen 3,5 Prozent der Bundesmittel. Das
Land Berlin erhält eine Pauschale von 4 Prozent - verbunden mit der Verpflichtung, in den nächsten Jahren
eine jährliche Studienanfängerzahl von 19 500 zu halten.
Neben dieser Gesamtvorgabe - das ist sehr wichtig ist es uns vor allen Dingen gelungen, das Hauptziel der
Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger mit wichtigen
strukturpolitischen Zielsetzungen zu verbinden. So verpflichten sich die Länder, bei der Verwendung der Fördermittel Schwerpunkte in der Schaffung zusätzlicher
Stellen an Hochschulen zu setzen, zum Beispiel durch
vorgezogene Berufungen auf Lehrstühle, die Einrichtung
zusätzlicher Juniorprofessuren oder etwa die Einführung
neuer, lehrbezogener Personalkategorien nach dem Modell des angelsächsischen Lecturers. Die Länder sind in
den nächsten Tagen gefordert, ihre Vorschläge dazu vorzulegen.
({3})
Zudem werden die Länder den zusätzlichen Ausbau der
Hochschulen dazu nutzen, den Anteil der Studienanfängerplätze an Fachhochschulen zu erhöhen.
({4})
Ein weiteres Ziel in diesem Zusammenhang ist es, den
Anteil von Frauen bei der Besetzung von Professuren
und sonstigen Stellen im Bereich der Lehre auszubauen.
({5})
Meine Damen und Herren, mit der zweiten Säule des
Hochschulpaktes wollen wir im Bereich der Forschungsförderung einen schrittweisen Einstieg in die Vollfinanzierung von Forschungsprojekten durch Programmpauschalen - sogenannte Overheads - erreichen.
({6})
Dies ist ein Projekt, das auf internationaler Ebene in vielen Ländern schon gang und gäbe ist, auch im Rahmen
der EU-Förderung.
Dieses Instrument leistet einen wichtigen Beitrag
dazu, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen zu sichern und auszubauen. Die Forschungsförderung an den Hochschulen wird so von der
Grundfinanzierung unabhängiger gemacht und effektiver
gestaltet. Dies ist neben dem Ausbau der Forschungsförderung an Fachhochschulen - die Mittel hierfür haben
wir seit 2005 bereits verdreifacht - und der zu Jahresbeginn gestarteten Forschungsprämie ein weiterer wichtiger Baustein zur Stärkung der Forschung an den Hochschulen, der seine Wirkung in der Breite entfalten kann.
Diese Programmpauschalen in Höhe von 20 Prozent werden von diesem Jahr an sukzessive für von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsvorhaben eingeführt. Hierfür übernimmt der Bund bis zum Jahr
2010 eine 100-prozentige Finanzierung in Höhe von insgesamt rund 700 Millionen Euro.
({7})
Ich freue mich, dass - bei aller Kritik an einzelnen
Punkten - die Ausschussberatungen gezeigt haben, dass
die meisten Vertreter der Oppositionsfraktionen den
Hochschulpakt im Grundsatz unterstützen.
({8})
Bund und Länder unternehmen gemeinsam erhebliche
Anstrengungen. Alleine der Bund stellt bis zum Jahr
2010 1,27 Milliarden Euro für den Hochschulpakt zur
Verfügung.
Lassen Sie mich abschließend aber auch darauf hinweisen: Der Hochschulpakt entlässt die Länder nicht aus
ihrer primären Verantwortung für die Hochschulen.
({9})
Er ist kein Allheilmittel für sämtliche hochschulpolitischen Herausforderungen. Insbesondere für die UmsetParl. Staatssekretär Andreas Storm
zung der Bolognareformen werden zusätzliche Anstrengungen erforderlich sein.
({10})
Aber lassen Sie uns mit dieser Debatte den Hochschulen
und den Studierenden in unserem Lande ein klares Signal
geben. Mit dem Hochschulpakt eröffnen wir neue Chancen. Wir brauchen die jungen Menschen, die sich für ein
Hochschulstudium entscheiden. Wir brauchen ihre Begabungen. Wir werden ihnen alle Chancen für eine qualifizierte Hochschulausbildung geben.
({11})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Uwe Barth
für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute im Zusammenhang mit dem
Hochschulpakt über die Grundlage einer gemeinsamen
Hochschulpolitik für die nächsten 14 Jahre, die wesentlichen Einfluss auf die qualifizierte Ausbildung des wissenschaftlichen und akademischen Nachwuchses in unserem Land haben wird.
({0})
Letztlich muss dieser Pakt dazu führen, dass wir den Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräften und Fachkräften in unserer Wirtschaft, aber auch in unserer Verwaltung und insbesondere in Forschung und Lehre decken
und so auf lange Sicht unsere Innovationskraft nicht nur
erhalten, sondern wieder stärken; das ist dringend nötig.
({1})
Die Chancen sind gut; denn bis 2020 wird die Anzahl
der Studienberechtigten aufgrund der demografischen
Entwicklung letztmalig erheblich ansteigen. Schon heute
klagt die deutsche Wirtschaft über das Fehlen von
1,6 Millionen Fachkräften, wie wir es in der letzten Woche in der „Financial Times Deutschland“ lesen konnten.
Das macht deutlich, wo das Problem liegt. Diese Zahl
wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft bestätigt,
das die bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten
über 400 000 offenen Stellen hochgerechnet hat.
({2})
Der VDI geht davon aus, dass derzeit 22 000 Ingenieurstellen in Deutschland nicht besetzt werden können. Angesichts dieser Entwicklung handelt es sich tatsächlich
um so etwas wie eine letzte Chance.
Mit dem Hochschulpakt, der im Sommer geschlossen
werden soll, können wir entscheidende Weichenstellungen vornehmen. Bund und Länder gehen davon aus - der
Staatssekretär hat es bereits gesagt; das ist kein Geheimnis -, dass 90 000 zusätzliche Studienanfänger auf die
Universitäten zukommen. Es geht aber um den Bedarf
an neuen Studienplätzen, Herr Staatssekretär.
({3})
Es reicht nicht aus, einfach mehr Stühle in die ohnehin
überfüllten Hörsäle zu stellen. Zu neuen Studienplätzen
gehören erweiterte Angebote, von der Betreuung über
die Hörsäle bis zu den Laborkapazitäten. - Das geht natürlich genauso an die Länder, in denen wir mitregieren,
Herr Tauss, aber auch an die Länder, in denen Sie mitregieren.
({4})
Bei aller Unterstützung des Hochschulpaktes ist die
Wortspielerei zwischen Studienanfängern und zusätzlichen Studienplätzen, die auch der Staatssekretär bemüht hat, kein gutes Zeichen, ebenso wie die bei diesem
Thema für meine Begriffe etwas zu leere Bundesratsbank. Da hätte ich mir auch ein größeres Interesse vorstellen können.
({5})
Wir wissen aber auch, dass sich diese Entwicklung in
Deutschland nicht gleichmäßig vollzieht. Der Osten erwartet einen Rückgang, während wir im Westen einen
Aufwuchs erwarten. Auch auf diese divergierende Entwicklung müssen wir natürlich reagieren. Ich freue
mich, dass es im Hochschulpakt - wenn er denn unterschrieben ist - auch zu einer formalen Verständigung zu
dieser Problematik kommen wird. Die Studienplätze in
den neuen Ländern und in Berlin sollten also gehalten
werden; denn auch die ostdeutschen Hochschulen müssen einen Beitrag dazu leisten, den prognostizierten
Fachkräftemangel aufzuhalten.
Dabei kann es nicht bei einer gemeinsamen Marketingstrategie bleiben. So richtig, wichtig und notwendig
eine solche Marketingstrategie - die sich, durch die historischen Gegebenheiten bedingt, insbesondere auch
nach Mittel- und Osteuropa wenden kann und muss auch ist, gehören dazu neben bunten Prospekten auch
ganz konkrete Taten. Ich denke hierbei insbesondere daran, dass ins Ausland gehende Absolventen über ganz
konkrete Forschungsaufträge und eine damit verbundene
entsprechende Betreuung langfristig und durchaus auch
strategisch an die Heimathochschule gebunden werden
können. Das ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Ergänzung dieser Marketingstrategie.
({6})
Auch wenn Bund und Länder jetzt 22 000 Euro in jeden zusätzlichen Platz investieren wollen: Eine angemessene Besetzung der Hochschullehrerstellen ist ein
Punkt, den wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Ich
warne deshalb davor, in der kurzfristigen Besetzung solcher Stellen durch Lecturer und Lehrprofessuren die allein seligmachende Lösung zu sehen.
({7})
Die deutschen Universitäten funktionieren so nicht; das
ist nicht das Selbstverständnis der deutschen Universitä9188
ten. Wir wissen, dass wir über 8 000 Lehrstühle an Universitäten und Fachhochschulen haben, die wir bereits
jetzt schrittweise mit jungen Fachleuten, mit jungen Professoren nachbesetzen müssen. Auch hier gilt: Die Möglichkeit der Emeritierung mit 67 - so richtig sie ist - ist
alles andere als die strategische Antwort auf dieses Problem. Vielmehr müssen diese Stellen bereits jetzt sozusagen parallel besetzt werden. Im Ergebnis müssen die
Hochschulen die Entwicklungen der nächsten Jahre als
einmalige Chance betrachten, ihr Profil zu schärfen, sich
zukunftsfähig zu machen und den jungen Forschern die
Erkenntnis zu vermitteln, dass ihre strategische Chance
auch hier in Deutschland liegt.
({8})
Den über 300 000 Studienanfängern, die wir in jedem
Jahr haben, stehen nur etwas mehr als 200 000 Absolventen gegenüber. Das heißt, jedes Jahr bleiben 100 000
junge Menschen auf der Strecke; im Schnitt erreichen
nur 66 Prozent aller Anfänger in Deutschland einen Abschluss. Der Hochschulpakt soll nun zusammen mit der
Einführung der neuen Studienabschlüsse Bachelor und
Master einen wirksamen Beitrag zur Senkung der Abbrecherquoten unserer Studenten und auch des mit
28 Jahren sehr hohen Altersdurchschnitts unserer
Hochschulabsolventen leisten.
Eine persönliche Anmerkung sei mir zum Schluss
aber gestattet: Der Weg, dem erwarteten Studierendenberg mit einer Verkürzung der Studienzeiten die Spitze
nehmen zu wollen, darf nicht zu einer dauerhaften Senkung des Niveaus unserer Hochschulabschlüsse und des
Bildungsniveaus unserer Absolventen führen. Der Bachelor muss deshalb, wenn er zum Zukunftsmodell
avancieren will, dem Anspruch gerecht werden, wirklich
ein berufsqualifizierender Abschluss zu sein.
Vielen Dank.
({9})
Ernst Dieter Rossmann kommt jetzt zu Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass wir nach dem langen Vorlauf, den dieser
Hochschulpakt hat, heute gemeinsam eine gute Zwischenbilanz ziehen können; denn das wirkliche Ereignis,
die Unterzeichnung des Paktes, steht noch aus. Im Rückblick darf man daran erinnern, wie es zu diesem Hochschulpakt kommen konnte. Wir haben sicherlich finanzielle Spielräume dadurch neu gewonnen, dass die
Eigenheimzulage abgeschafft wurde und die eingesparten Mittel den Studienanfängern zugute kommen. Das ist
entschieden dynamischer und zukunftsorientierter. Wir
haben im Rahmen der Föderalismusreform durch die
Veränderung des Art. 91 b des Grundgesetzes den
Spielraum für den Abschluss eines qualitativen Hochschulpaktes gewonnen. Wir sind froh, dass der Spielraum so gut genutzt worden ist,
({0})
ohne irgendwie - Frau Aigner, wir könnten zusammen
frohlocken - nachkarten zu wollen. Schließlich gibt es
einen Sichtwechsel. Es gibt den Sichtwechsel - der
Staatssekretär hat es positiv angesprochen -, dass mehr
Studienanfänger eine Chance sind, sowohl individuell
als auch für Deutschland insgesamt. Weiterhin gibt es
den Sichtwechsel, dass wir mehr Studienanfänger, mehr
erfolgreiche Studienabsolventen und mehr Menschen
brauchen, die sich an der Hochschule begeistert engagieren. Das können wir mit diesem Hochschulpakt erreichen.
({1})
Rückfragen ergeben sich in dreierlei Hinsicht. Die
erste Frage lautet: Was tun wir denn, um diese Quantität
wirksam werden zu lassen? Denn der Hochschulpakt ist
mit nicht unbescheidenen 1,25 Milliarden Euro für mehrere Jahre gut ausgestattet.
({2})
Die zweite Frage ist: Was tun wir, damit das Studium
auch ein gutes Studium ist? Nicht nur gute Arbeit, auch
eine gute Lehre und ein gutes Studium müssen ein Markenzeichen sein. Die dritte Frage ist - das darf man von
Sozialdemokraten erwarten -, wie sich der soziale Ausgleich bzw. die soziale Unterstützung gestaltet.
Ich möchte zunächst etwas zur Quantität sagen. Ich
will nicht im Detail ausführen, was die Unterschiede
zwischen Studienanfängern und Studienplätzen sind,
aber ich will Ihnen, Herr Staatssekretär, und auch dem
Parlament sagen: Wenn die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz ein Monitoring ankündigt, in dessen
Rahmen man genau nachvollziehen will, was sich in den
einzelnen Hochschulen tut und wie die einzelnen Bundesländer mit der Chance umgehen, die ihnen jetzt mit
viel Geld ermöglicht werden soll, dann darf der Bundestag nicht hinter diesem Monitoring der Hochschulrektorenkonferenz zurückstehen. Wir als Bundestag müssen
das genauso ernst nehmen und kontinuierlich begleiten,
wie jetzt der Hochschulpakt in den Ländern, die sich engagieren, mit mehr Geld und mit mehr Studienplatzkapazitäten umgesetzt wird.
Wir sollten das insbesondere in Bezug auf das tun,
was ich hier heute exemplarisch ansprechen möchte. Es
geht um die Frage: Wie verhält es sich eigentlich mit
dem Ost-West-Ausgleich? Mir als jemandem, der aus
der Gegend von Hamburg kommt, ist die Dramatik gar
nicht so klar gewesen, nämlich dass gerade einmal
3 Prozent aller westdeutschen Studienberechtigten in die
neuen Bundesländer gehen, um dort zu studieren, während 25 Prozent aller Studienberechtigten aus den neuen
Bundesländern in die westdeutschen Bundesländer gehen, um dort zu studieren. Um es in absoluten Zahlen zu
sagen: Wir haben 356 000 Studienanfänger, davon immerhin 71 000 in den neuen Bundesländern. Darin steckt
doch ein ungeheures Potenzial, vor allen Dingen da absehbar ist, dass aufgrund des demografischen Wandels
die Zahl der jungen Leute in den neuen Bundesländern
von jetzt 285 000 auf nur noch 100 000 sinken wird.
Was das für die Kapazität, die an den Hochschulen in
den neuen Bundesländern vorhanden ist, bedeutet, muss
man - vielleicht wissen es schon alle - publik machen.
Deshalb möchte ich eine Botschaft von hier aussenden: Junge Leute, ihr bekommt gute Studienbedingungen in den neuen Bundesländern. Richtet euren Blick
nicht nur nach Bayern, nach Baden-Württemberg, nach
NRW und nach Hessen, sondern schaut genauso nach
Sachsen, nach Thüringen, nach Berlin, nach Brandenburg, nach Mecklenburg-Vorpommern und nach Sachsen-Anhalt! Dort sind Hochschulen,
({3})
die jetzt schon exzellent sind.
({4})
Exzellente Hochschulen gibt es in Dresden, in Berlin
und anderswo. Es gibt nicht nur exzellente Hochschulen,
sondern, was besonders wichtig ist, es entsteht auch ein
Umfeld. Man kann nicht nur einen Studienabschluss erwerben, sondern auch Arbeit in der Forschung finden. Es
entstehen Arbeitsplätze durch den Wissenstransfer, und
es gibt Chancen, im universitären Umfeld den Schritt in
die Selbstständigkeit zu tun. Jüngst ist die Prognos-Studie erschienen, die die Entwicklung der einzelnen Regionen Deutschlands in Bezug auf die Städte und Kreise
anhand von 439 solcher Körperschaften untersucht hat.
Es kann uns doch nur freuen, dass es nicht nur Dresden,
Potsdam oder Jena, sondern genauso Greifswald, Leipzig, Magdeburg, Eisenach oder Cottbus sind, die gewaltige Sprünge nach vorne machen.
({5})
Man kann dort gut studieren, und man findet dort gute
Voraussetzungen für ein erfolgreiches Berufsleben.
Diese Chance sollten wir gemeinsam nutzen. Das wäre
gut für die deutsche Einheit und für die Perspektiven der
jungen Leute.
Von Vorteil wäre auch, wenn wir die dort bereits vorhandenen materiellen Reserven wirklich ausschöpften.
Das Centrum für Hochschulentwicklung, CHE, hat Folgendes ermittelt: Wenn wir diese Reserven nicht ausschöpfen, setzen wir über 3 Milliarden Euro in den Sand.
Diese Mittel wären schon jetzt nutzbar, wenn genügend
junge Leute die sich dort bietenden Möglichkeiten in
Anspruch nähmen.
Offen bleibt, ob in diesem Bereich schon genügend
getan wird. Ich will ergänzen: Auch in Bezug auf die übrigen Studienorte muss die Frage gestellt werden, ob der
Lehre schon hinreichend Priorität eingeräumt wird.
Wir wünschen uns, dass der Exzellenzansatz in der Forschung mit einem Bemühen um qualitativ hochwertige
Lehre in der Breite einhergeht. Die Hochschulen sollten
dies im Interesse der Studierenden ausgesprochen ernst
nehmen.
({6})
Ich möchte einen Kritikpunkt nennen. Der Deutsche
Hochschullehrerverband glaubt, die Einheit von Forschung und Lehre werde dadurch gefährdet, dass Professoren in Zukunft unter Umständen Lehrverpflichtungen in einem Umfang von zwölf statt bisher acht
Stunden erfüllen sollen. Sowenig wie die Einheit von
Forschung und Lehre dadurch gefährdet wird, dass die
Lehrverpflichtungen von acht auf vier Stunden reduziert
werden, so wenig wird sie dadurch gefährdet, dass sie
von acht auf zwölf Stunden aufgestockt werden.
({7})
Diese Schwerpunktsetzung muss doch möglich sein.
Auch deshalb bitte ich den Deutschen Hochschullehrerverband, die mit Differenzierung und Verbindung von
Forschung und Lehre verbundene Chance zu nutzen.
Wie erklären wir es uns eigentlich, dass wir mit dem
Hochschulpakt zwar viele Chancen eröffnen wollen,
gleichzeitig aber den Rückgang der Studienanfängerzahlen erleben? Hängt das vielleicht mit den Studiengebühren zusammen?
({8})
Ich bin heute so koalitionsloyal, dass ich in meiner Frage
ein „vielleicht“ benutzt habe. Vielleicht ist es ein Problem der Organisation von Studienplätzen: Serviceeinrichtungen, Studienvermittlungen müssten vielleicht
besser ausgestaltet werden. Es geht sicherlich auch darum - das ist ein materielles Problem -, ob und wie wir
es schaffen, das BAföG weiterzuentwickeln.
Sozialdemokraten formulieren dieses „ceterum censeo“ in dieser Legislaturperiode immer am Schluss ihrer
Rede. Daher möchte auch ich es zum Ausdruck bringen:
Lassen Sie uns die Chance ergreifen, die vorhandenen finanziellen Spielräume beim BAföG dafür zu nutzen,
dass viel mehr junge Leute aus den Mittelschichten und
vor allen Dingen junge Leute mit Eltern, die materiell
nicht so gut ausgestattet sind, studieren können.
({9})
Die Sozialdemokratie ({10})
- regiert mit -, und sie kämpft, und das sogar erfolgreich. Wir sind uns fast sicher: Andere werden bald mitkämpfen. Das ist doch ein gutes Zeichen für die Hochschulen.
Danke.
({11})
Ich erteile jetzt Cornelia Hirsch das Wort für Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Storm, Sie haben eben behauptet,
dass Bund und Länder mit dem Hochschulpakt ihrer Verantwortung für die junge Generation gerecht werden.
Für Die Linke möchte ich sagen, dass wir diese Behauptung wirklich deutlich zurückweisen. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass wir den Hochschulpakt, den
Sie hier vorgelegt haben und den Sie jetzt auch umsetzen
wollen, im Ausschuss jemals begrüßt hätten. Wir sind
für einen grundsätzlich anderen Hochschulpakt eingetreten.
Das wird sehr deutlich, wenn man den heute von den
Koalitionsfraktionen vorgelegten Antrag mit dem von
uns, von der Fraktion Die Linke, schon im letzten November eingebrachten Antrag vergleicht.
({0})
Ich möchte drei zentrale Forderungen unseres Antrags
aufgreifen, Herr Tauss, die Sie in Ihrem Antrag „Den
Hochschulpakt erfolgreich umsetzen“ vollständig außen
vor lassen.
Erstens. Wenn man die Hochschulen wirklich öffnen
will, wenn man wirklich mehr jungen Menschen einen
Zugang zu den Hochschulen ermöglichen will, dann
muss man der Frage nachgehen, wie viel Geld für einen
Hochschulpakt zur Verfügung gestellt wird. Man kann
sagen: 1,25 Milliarden Euro, das klingt nach schrecklich
viel Geld.
({1})
Alle Zuhörerinnen und Zuhörer werden dazu erst einmal
sagen: Wow! Das ist ja wirklich eine große Menge. Man
muss aber überlegen: Was wird damit eigentlich finanziert? Darauf möchte ich ganz konkret eingehen.
Herr Storm hat gesagt: Wir haben jetzt den Bolognaprozess, in dem die Studiengänge umgestellt werden sollen. - Da ist einfach noch mehr Geld vonnöten.
({2})
Dies beziehen Sie in Ihre Berechnung für mehr Studienanfängerinnen und -anfänger kein bisschen ein. Das halten wir für falsch.
Man muss anmerken, dass im Rahmen der Föderalismusreform Gelder weggefallen sind. Die Gelder, die
mit dem Hochschulpakt hineinkommen, sind teilweise
nur Kompensationsmittel, sodass es nicht viel Geld ist,
was am Ende für die Hochschulen faktisch übrig bleibt.
Im Prinzip hat diese Kritik, die wir hier üben, nämlich
dass das Geld nicht ausreicht, auch Herr Rossmann in
seiner Rede gerade zum Ausdruck gebracht. Er hat gezeigt, dass im Antrag durchgängig nur von Studienanfängerinnen und -anfängern die Rede ist, aber gerade
nicht von Studienplätzen. Wenn es wirklich um eine gute
Ausfinanzierung gehen soll - für mehr Studierende an
den Hochschulen -, müsste sichergestellt sein, dass für
diesen Hochschulpakt mehr Geld zur Verfügung gestellt
wird. Deshalb halten wir das so für falsch.
({3})
Zweiter Punkt. Das war noch verlogener, Herr Storm.
Sie haben gesagt, es sei Ihnen gelungen, strukturelle
Vorgaben zu machen und die dann auch entsprechend
umzusetzen. Mit Verlaub: Wenn man sich diesen Antrag
anschaut, findet man nur Formulierungen wie: Sie wollen darauf drängen. Sie wollen dafür Sorge tragen. Sie
wollen darauf hinwirken. Sie wollen bestimmte Dinge
zu nutzen versuchen. - Das ist wirklich nicht das, was
wir unter verbindlichen Vorgaben verstehen.
Das beste Beispiel ist das Frauenförderprogramm. Sie
haben hier gesagt: Die Länder werden das tun. Sie werden dafür sorgen, dass mehr Frauen auf Stellen für Professorinnen und Professoren kommen. - Im Antrag steht
aber, dass man auf die Länder einwirken möchte, dass
sie sich bitte darum kümmern mögen. Darüber, ob das
funktioniert, können wir uns vielleicht im nächsten Jahr
noch einmal unterhalten, aber für uns ist relativ klar,
dass man mit einer solchen Politik sicherlich keinen qualitativen Umbau an den Hochschulen hinbekommen
wird.
Noch ein Punkt zur Qualität. Auch das war einmal
wieder sehr eindeutig. Qualität heißt immer auch, dass
die Beschäftigten in der Wissenschaft gute Rechte und
gute Arbeitsbedingungen haben müssen. Sie begrüßen
- das müssen wir hier lesen -, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz durchgesetzt wurde.
({4})
Damit sind aber gerade schlechtere Arbeitsbedingungen
für die Beschäftigten in der Wissenschaft verbunden.
({5})
Das halten wir dann wirklich für eine komplette Heuchelei und weiß Gott nicht für einen qualitativ hochwertigen
Hochschulpakt.
Dritter und letzter Punkt. Ich fand es sehr nett, dass
auch Herr Rossmann das an die letzte Stelle gesetzt hat.
Es geht um die Frage: Wie geht man mit der sozialen
Öffnung der Hochschulen um, und wie bekommt man
das hin? Im Zusammenhang mit dem Hochschulpakt haben wir im Ausschuss darüber diskutiert. Wir haben eingefordert, dass das zum Thema gemacht wird. Da bekamen wir von der Bundesregierung zur Antwort: Man
wird sich schon irgendwann einmal darum kümmern;
wenn man das jetzt noch in den Hochschulpakt einbezieht, besteht das große Problem, dass dann vermutlich
sogar der ganze Pakt scheitert, was man in keinem Fall
will.
Dazu sagen wir: Wann geht man das Problem, dass
nur rund 10 Prozent der Studierenden aus einkommensschwachen Schichten kommen, denn sonst an, wenn
nicht bei einem Pakt, bei dem es gerade darum geht, die
Hochschulen zu öffnen und mehr Studierende in die
Hochschulen zu holen? Wenn man bei der Gelegenheit
nicht sagt: „Wir wollen diese Entwicklung nutzen, um
gleichzeitig soziale Ungleichheit abzubauen“, dann ist
das aus unserer Sicht kein guter Pakt und kein Pakt, dem
wir in dieser Form zustimmen können.
({6})
Allerletzter Punkt. Herr Rossmann, Sie haben eben
angesprochen, dass sich Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten für eine BAföG-Erhöhung einsetzen.
Ich hätte es deutlich glaubwürdiger gefunden, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das nicht erst
jetzt machen würden,
({7})
sondern schon unter Rot-Grün versucht hätten,
({8})
sich dafür einzusetzen, dass nicht sechs Jahre nacheinander die BAföG-Erhöhung verschleppt wird. Es ist wirklich eine verlogene Politik, wenn Sie sich jetzt als die
großen Retterinnen und Retter des BAföG aufführen.
Ich komme zu dem Punkt zurück, den ich am Anfang
gesagt habe: Der besonderen Verantwortung für die
junge Generation wird man damit nicht gerecht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Jetzt spricht Kai Gehring für das Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
ein kurzer Hinweis vorab: Durch die rot-grüne BAföG-Reform ist die Zahl der Geförderten um 50 Prozent gestiegen.
({0})
Das war die größte BAföG-Reform, die es in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt gegeben hat. Ich
kann nur hoffen, dass die Große Koalition diese Dimension auch nur annähernd erreicht.
({1})
Ich habe da große Zweifel; denn noch steht eine BAföGNullrunde an. Ich wünsche uns gute Beratungen dazu,
auch in der Anhörung.
({2})
Versetzen wir uns jetzt aber erst einmal ein Jahr zurück!
Damals begrüßte Bundesbildungsministerin Schavan tagein, tagaus, dass der Bund durch die Föderalismusreform
in der Bildungs- und Hochschulpolitik praktisch nichts
mehr zu sagen habe. Der Bundesanteil im Hochschulpakt
sollte ihr zufolge einzig der Forschungsförderung dienen.
Für die ausreichende Anzahl an Studienplätzen würden
dann die Bundesländer schon selber sorgen. Aus heutiger
Perspektive ist das erschreckend naiv.
({3})
Wir haben uns als Grüne bereits damals klar gegen
diesen Murks eingesetzt. Wären wir dabei auch gemeinsam mit den Bildungspolitikerinnen und -politikern aus
den anderen Oppositionsfraktionen nicht erfolgreich gewesen, dann würde sich heute jede Debatte über einen
gesamtstaatlichen Ausbau von Studienplätzen völlig erübrigen, und wir könnten uns die Diskussion heute im
Plenum auch sparen.
({4})
Wir haben es geschafft, die klugen Kräfte der Koalition bei der Föderalismusreform zu unterstützen.
({5})
Allein darüber bleibt ein Fenster für ein gemeinsames
hochschulpolitisches Handeln von Bund und Ländern
offen.
Trotzdem ist klar: Hochschulpolitik ist durch die Föderalismusreform keinesfalls einfacher geworden; denn
Bundesinitiativen für mehr Studienplätze können nur
bei Einstimmigkeit aller Länder beschlossen werden.
Da wird jedem noch so absurden Sonderwunsch eines
Landes oder Ministerpräsidenten Tür und Tor geöffnet,
oder, um es klar zu sagen: Ein Koch allein kann den Brei
schon verderben.
({6})
Wir Grüne haben bereits im Februar 2006 unseren
ersten Antrag mit klaren politischen Leitlinien für einen
Hochschulpakt 2020 vorgelegt. Bei der Koalition hat das
bis März 2007 gedauert. Offenbar hat Rot-Schwarz erst
eine hochschulpolitische Sommerpause und dann einen
tiefen Winterschlaf gebraucht.
({7})
Man könnte meinen, dass bei einer so langen Bedenkzeit wenigstens ein großer Wurf entsteht. Leider nein!
Beim Lesen Ihres Antrags zeigt sich die ganze Frühjahrsmüdigkeit der Koalition in der Hochschulpolitik.
Sie fordern darin von den Ländern, dass diese eine Kampagne für ein Studium im Osten auflegen mögen, dass
sie neue Personalstellen für die Lehre schaffen mögen
und dass sie doch bitte die Frauenförderung in der Wissenschaft nicht vergessen mögen. Das ist alles richtig.
Aber ich frage mich: Warum haben Sie diese Forderungen nicht als klare Bedingungen im Hochschulpakt vereinbart?
({8})
Immerhin legt der Bund im Rahmen des Paktes
565 Millionen Euro als Zuschuss für die Länder auf den
Tisch. Da können, ja, da müssen doch verbindliche Qualitätskriterien dafür formuliert werden, wie diese
Summe genau ausgegeben wird. Wir brauchen einen
Hochschulpakt für Qualität und nicht nur für fleischlose
Quantität.
({9})
Der von Ihnen verhandelte Hochschulpakt hat zentrale Konstruktionsfehler; darauf haben wir immer hingewiesen. Er ist erstens unterfinanziert. 22 000 Euro pro
Studierenden reichen weder für ein Bachelor-Studium
noch für einen anschließenden Master-Abschluss.
Zweitens. Ihr Pakt ist zu kurz gesprungen. Dreieinhalb Jahre nach Verabschiedung des Hochschulpakts
laufen die Mittel bereits wieder aus. Wie es in den
Spitzenjahren 2011 bis 2013 weitergeht, wird erst dann
feststehen.
({10})
Diese Kurzsichtigkeit wird kaum zu einem stetigen
und nachhaltigen Aufbau führen. So kann kein Hochschulkanzler langfristig planen, weder finanziell noch
personell.
({11})
Das darf so nicht bleiben. Wir Grüne fordern ganz klar
eine langfristige Planungssicherheit statt Kurzsichtigkeit.
Drittens. Der Hochschulpakt droht auch, eine Mogelpackung zu werden. Auf den Unterschied von Studienplätzen und Studienanfänger ist ja hier hinlänglich eingegangen worden. Ob den jungen Menschen, die dann
als Studienanfänger an die Hochschulen kommen, entsprechend mehr Seminarplätze, mehr Lehrbücher und
Professoren, eine bessere soziale Infrastruktur und bessere Lern- und Studienbedingungen zur Verfügung stehen, ist zurzeit mehr als fraglich.
Das Schlimmste ist aber: Der Hochschulpakt droht
sein eigentliches Ziel klar zu verfehlen. Die Zahl von
90 000 zusätzlichen Studienplätzen bis 2010 wird wohl
nicht erreicht. Darauf deuten unsere Anfragen in den
Bundesländern hin. Wir befürchten, dass die Länder
deutlich weniger Geld auf den Tisch legen als der Bund.
({12})
Dies hätte Billigstudienplätze zur Folge, die niemandem
helfen, am wenigsten den Studierenden. Dies müssen
wir verhindern.
({13})
Ich bin gespannt darauf, welche Zusicherungen die
Länder bis übermorgen vorlegen; vor allem bin ich gespannt darauf, wie belastbar sich diese dann in der Realität erweisen. Da haben wir leider noch erhebliche Zweifel. Sie müssen in der Koalition verhindern, dass der
Pakt scheitert, indem Sie klare Zielvorgaben für die
Zahl ausfinanzierter Studienplätze und auch die Höhe
der Gegenfinanzierung durch die Länder machen, indem
Sie im Hochschulpakt auch wirklich echte Anreizstrukturen zum Aufbau von Studienplätzen schaffen und indem Sie die Länder wirklich belohnen, die bislang über
den Eigenbedarf hinaus Studierende ausgebildet haben
und dies auch in Zukunft tun werden.
Es muss für ein Land teurer sein, keine neuen Studienplätze einzurichten, als neue zu schaffen. Dies gelingt
in einem intelligenten Verteilungs- und Ausgleichsmechanismus nach dem Motto „Geld folgt Studierenden“.
({14})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Ende.
Ich fordere die Koalition auf: Korrigieren Sie bitte die
Webfehler in diesem Hochschulpakt, bevor es zu spät ist im Interesse der Wirtschaft, die dringend mehr Fachkräfte benötigt, aber vor allen Dingen im Interesse aller
jungen Menschen, die jetzt und künftig an die Hochschulen drängen.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt Frau Professorin Monika Grütters für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im vergangenen Oktober - das zum Thema Winterschlaf, Herr
Gehring - haben wir über den Hochschulpakt zuletzt diskutiert. Damals meinte die Opposition, uns alle mahnen
zu müssen, dass wir noch ein bisschen schneller und ein
bisschen besser an diesem Werk arbeiten und Bund und
Länder möglichst einstimmig auf eine Melodie verpflichten.
Dass das schwierig ist, weil es in der KMK der Länderkammer - nicht etwa hier - das Einstimmigkeitsprinzip gibt, weshalb es übrigens das Bonmot gibt, die Kultusministerkonferenz sei der letzte Hort der Reaktion,
wissen wir. Aber immerhin: Keine fünf Monate später
können wir ein, wie ich meine - ich mache seit 13 Jahren
Wissenschaftspolitik, unter anderem in Berlin -, beispielloses, innovatives Reformwerk, den Hochschulpakt 2020, abschließend zur Abstimmung stellen. Weil
das so ist, bin ich enttäuscht von der kleinlichen Kritik,
die in erster Linie aus der Opposition kam, Herr Barth
und Frau Hirsch. Es ist natürlich immer so, dass es noch
ein bisschen besser sein könnte. Natürlich hätte auch
dieser Hochschulpakt anders ausfallen können; das wissen wir. Aber es ist doch mindestens eine Erleichterung
und auch eine große Anerkennung wert, dass erstmals in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine
verbindliche Vereinbarung zwischen dem Bund und allen Ländern zum Thema Wissenschaftspolitik zustande
gekommen ist.
({0})
Zum ersten Mal gibt es einen regelrechten Vertrag,
der für beide Seiten rechtlich bindend ist und in dem der
aktuellen Situation an den deutschen Hochschulen buchstäblich Rechnung getragen wird. Dadurch dokumentieren wir doch, dass wir alle - da beziehe ich auch die Opposition mit ein - die ungeheuren Chancen für die
Republik wahrnehmen, die für uns eine große Anzahl
Studierender bedeuten - das haben Sie gesagt -, dass wir
aber auch anerkennen müssen, dass das eine Anstrengung aller ist, nicht nur der Bundesländer, die immer auf
ihrer hoheitlichen Aufgabe beharren.
({1})
Wir dokumentieren ebenso, dass wir anerkennen, dass
das unser aller Geld kostet, auch das Geld des Bundes,
und dass nicht allein den Ländern überlassen werden
kann, was sie aufgrund ihrer Bildungshoheit zwar immer
tun wollen, aber nicht tun; sie finanzieren die Hochschulen schließlich seit Jahren nicht richtig mit. Das ist nicht
die Schuld des Bundes. Deshalb geht Ihre Kritik an den
falschen Adressaten.
({2})
Richten Sie sie an diejenigen in den Bundesländern und
der Wissenschaftspolitik, zu denen Sie noch Zugang haben.
({3})
Der gesamtgesellschaftliche Nutzen wird auch gesamtgesellschaftlich begleitet werden müssen. Es ist
wirklich schade, dass bei solch einer Debatte, wo es zum
ersten Mal um eine verbindliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf diesem Zukunftsfeld geht,
die Länderpräsenz so gering ist.
({4})
Nicht erst seit der - ich will sagen: leidigen - Föderalismusreform ist das ein Meilenstein in der bundesrepublikanischen Bildungspolitik.
({5})
Die Opposition beklagt, dass nur 565 Millionen Euro
investiert würden. Wie viel haben Sie denn in Ihrer Regierungszeit zur Verfügung gestellt: 1 Milliarde Euro, 2 Milliarden Euro, 5 Milliarden Euro? Es sind immerhin 565 Millionen Euro.
({6})
Insgesamt ist es ein Paket von 1,27 Milliarden Euro, das
der Bund den Hochschulen, die in der Zuständigkeit der
Länder sind, zusätzlich zur Verfügung stellt. Mit den Gegenfinanzierungen durch die Länder sind es
2 Milliarden Euro.
Hinzu kommt, dass Frau Schavan sich vom ersten Tag
ihrer Amtszeit an diesem Thema verpflichtet hat. Jetzt
wird das Ganze zu einem Ende gebracht.
({7})
- Ja, nur zum Teil.
Herr Rossmann, ein Teil der Kritik gilt auch Ihnen.
Bei allem Respekt davor, dass jeder von uns die eigene
Leistung in der Großen Koalition herausstellen will: Das
Ergebnis des Hochschulpaktes 2020 ist begrüßenswert
und wäre natürlich nicht ohne Nachverhandlungen bei
der Föderalismusreformdebatte zustande gekommen.
Auch Sie, Herr Rossmann, wissen ganz genau, dass viele
Bildungspolitiker auf unserer Seite dieses Interesse teilen.
Ich möchte jetzt nicht auf Kritik eingehen, sondern
betonen, dass wir seitens der Koalitionsfraktionen wichtige Eckpunkte in diesem Antrag formuliert haben. Es
gibt beispielsweise eine unterschiedliche Berücksichtigung der künftigen Entwicklung in den Ost- und in den
Westbundesländern. Die Tatsache, dass es eine größere
Mobilität zwischen den Bundesländern gibt, ist ein Lob
wert. Man sollte also nicht ausschließlich kritisieren,
was wir nicht aufgenommen haben.
Dies hat es vorher noch nie gegeben, dass in einem
Vertragswerk Wanderungen der Studierenden festgeschrieben werden. Außerdem wird die besondere Situation der Stadtstaaten berücksichtigt.
({8})
Die Stadtstaaten sind zwar aufgrund der hohen Studierendenzahlen glücklich, aber aufgrund ihrer relativ niedrigen Einwohnerzahl können sie sich diese nicht leisten.
Dieser Punkt ist, wie gesagt, berücksichtigt worden.
({9})
Man sollte nicht immer nur gegen die Unterfinanzierung
polemisieren.
Dass die Bedeutung der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer berücksichtigt wurde, wissen Sie.
Ihren Appell, dass die Wirtschaft Fachleute braucht,
kennen wir bereits. Die Kontrolle der tatsächlichen Verwendung der Mittel für den Hochschulbau und die Sorge
für eine angemessene Betreuung der Studierenden sind
von uns ebenfalls berücksichtigt worden, Herr Gehring.
Dass die Evaluation der Umsetzung des jetzigen Paktes
die Verlängerung bis 2020 ermöglichen soll, ist ebenfalls
niedergeschrieben worden.
Ich nenne als weitere Stichpunkte die Frauenförderung, die Vorzüge neuer Personalkategorien und die Bedeutung der Fachhochschulen. Das sind Ansätze aus der
Opposition, die wir in unserem Antrag aufgenommen
haben.
({10})
Wir haben ganz bewusst den Antrag mit Aufforderungen an die Bundesregierung, aber auch mit Erwartungen
an die Bundesländer versehen. Herr Gehring und Frau
Hirsch, ich muss schon sagen: Vorgaben zu machen,
mag Ihr Stil sein. Demokratischer ist es aber, die Zuständigkeiten und die Verteilung der hoheitlichen Aufgaben
zu respektieren.
({11})
Ich kann Ihnen nur eines mit auf den Weg geben: In
Berlin hat Ihre Partei, Frau Hirsch, das Vergnügen, an
der Regierung zu sein und die Wissenschaftspolitik - ich
muss sagen: leider - mit zu beeinflussen. Machen Sie
dort den Verantwortlichen doch einmal Vorgaben, ein
bisschen mehr für die Hochschulen zu tun.
({12})
Sieben von zehn Studienanfängern werden in dem Bundesland wieder nach Hause geschickt, in dem Sie die
Verantwortung für die Hochschulpolitik tragen. Es wäre
schön, Sie würden dort die Vorgaben, die Sie uns hier
machen, umsetzen.
({13})
Ich komme zum Schluss. Wir haben nur Appelle an
die Hochschulen aufgenommen, weil wir Respekt vor
der Hochschulautonomie haben, für die wir jahrelang
eingetreten sind. Bei Beginn der Verhandlungen zum
Hochschulpakt hat die „FAZ“ von „haltlosen Länderegoismen“ geschrieben, denen man begegnen müsse. Ich
glaube, wir haben es geschafft. Wir haben 90 000 neue
Plätze für Studienanfänger ermöglicht. Zum Pakt gehört
die neue Mobilität zwischen den Ländern, und dazu gehören auch fast 2 Milliarden Euro, mit denen der Unterfinanzierung der Hochschulen begegnet wird. Der Hochschulpakt 2020 ist ein zuversichtlich stimmendes Signal.
Ich hoffe - das sind wir allen jungen Menschen schuldig -, dass nach der Ministerpräsidentenkonferenz im
Juni dieser Pakt in Kraft treten kann.
Vielen Dank.
({14})
Zum Abschluss der Debatte hat der Kollege Klaus
Hagemann für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland kann froh und dankbar sein, dass
die Studierendenzahlen in den nächsten Jahren steigen
werden. Ich hoffe, dass viele von den Jugendlichen, die
heute unsere Gäste sind, darunter sein werden. Herzlich
willkommen, liebe Jugendlichen, im Deutschen Bundestag!
({0})
Wir werden einen Anstieg von zurzeit 2 Millionen
Studierenden auf etwa 2,7 Millionen bekommen. Da
Deutschland ein Land ohne nennenswerte Rohstoffvorkommen ist, brauchen wir gut ausgebildete Menschen.
Mit diesem Hochschulpakt, über den wir heute diskutieren, wollen wir dazu beitragen.
Wir kennen die Klagen der Wirtschaft; Herr Kollege
Barth hat sie angesprochen. Aber auch die Wirtschaft
könnte sich ein bisschen stärker in diesem Bereich beteiligen:
({1})
in der Ausbildung, aber beispielsweise auch bei der Finanzierung von Lehrstühlen.
({2})
Das ist in Amerika gang und gäbe und sei an dieser
Stelle noch einmal gefordert.
Wir wissen aber, dass nicht erst in der Zukunft Studierendenplätze fehlen, sondern auch jetzt schon. Von 9 000
Studiengängen in der Bundesrepublik Deutschland sind
nach den Erkenntnissen des Centrums für Hochschulentwicklung 57 Prozent zulassungsbeschränkt. Das heißt,
sie haben einen Numerus clausus.
Frau Kollegin Flach, Nordrhein-Westfalen ist ein gutes
Beispiel. Unser geschätzter ehemaliger Kollege Pinkwart
({3})
hat einen Anstieg des Anteils der zulassungsbeschränkten Fächer von 38 Prozent auf 45 Prozent zu verantworten, Herr Kollege Barth. Das ist praktisch ein Wegfall
von Studierendenplätzen. Frau Flach, bitte nehmen Sie
das mit und sagen Sie das Ihrem Kollegen Pinkwart, damit das wieder ins Lot kommt.
({4})
Aber auch Bayern sei erwähnt. Hier ist ein extremer
Nachholbedarf festzustellen.
({5})
Das Centrum für Hochschulentwicklung sagt, dass
29 000 Plätze fehlen. Frau Professor Grütters, eines
möchte ich Ihnen zurufen: Berlin hat natürlich eine
große Überlast, die es hier schon übernimmt.
({6})
Auch mein Heimatland Rheinland-Pfalz hat sich sehr
stark für Studienplätze engagiert.
({7})
- Ja, vorbildlich.
Wir wissen, dass die steigenden Studierendenzahlen
eine Herausforderung für den Gesamtstaat, für Bund und
Länder, sind. Deswegen muss sich der Bund hier engagieren. Wir sollten keine großartigen Diskussionen über
Finanzzuständigkeiten führen, sondern handeln und die
entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
Verehrter Kollege Gehring, ich bin froh und dankbar,
dass die Union im Hinblick auf Art. 91 b Grundgesetz
doch noch den Dreh bekommen hat und ihm zustimmen
konnte. Es gab ja heftigen Widerstand seitens einiger
Länder dahin gehend, dass dem Bund mehr Zuständigkeiten im Hochschulbereich zugestanden werden sollten.
Ich möchte lobend anerkennen, dass sich die Bildungspolitiker hier durchgesetzt haben.
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in meiner
restlichen Redezeit die Situation aus Sicht eines Haushälters, als der ich hier rede, darstellen. Wenn wir die
veröffentlichte Meinung beobachten, so ist festzustellen,
dass dort dargestellt wird, wir in der Bundesrepublik
Deutschland würden im Geld schwimmen und die Einnahmen sich überschlagen. Aber die Realitäten sehen etwas anders aus. Denn etwa 10 Milliarden Euro der Ausgaben, die im Entwurf des Haushaltsplans für 2008
vorgesehen sind, sind - das können wir schon jetzt vor
der Steuerschätzung im Mai sagen - noch nicht gedeckt.
Auch weiterhin ist im Interesse der jungen Generation,
der jungen Menschen, die hier unsere Gäste sind, Konsolidierungsbedarf notwendig.
({9})
Denn wir haben noch zu hohe Schulden und eine zu
hohe Nettokreditaufnahme. Die Nettokreditaufnahme
muss zurückgeführt werden.
Deswegen bitte ich darum, verehrte Frau Hirsch, in
Ihre Rede auf der einen Seite realistische Überlegungen
und auf der anderen Seite die verfassungsrechtlichen Bedingungen mit einzubeziehen. Auch darauf sollten Sie
hinweisen, Frau Hirsch, und nicht Forderungen stellen,
die nicht mit der Realität zu vereinbaren sind, sondern
aus dem Wolkenkuckucksheim stammen, obwohl sie
vielleicht unter inhaltlichen Aspekten richtig wären.
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
sind der Meinung, dass Bildungsinvestitionen Investitionen in die Zukunft sind.
({10})
Deswegen müssen wir trotz der Einsparungsnotwendigkeiten entsprechende Mittel zur Verfügung stellen; da
sind sich die Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss einig.
Herr Kollege, ich will Ihren Schwung nicht stoppen;
aber die Kollegin Flach würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
({0})
- Die Kollegin Hirsch auch.
Das ist nett. Darauf habe ich gewartet.
Möchten Sie beide zulassen? - Ja.
Frau Flach, bitte schön.
Lieber Kollege Hagemann, wir sind uns ja immer an
vielen Stellen einig.
Richtig.
Jetzt haben Sie gerade sehr erbittert auf den Linken
herumgehauen; auch da sind wir uns oft einig.
({0})
Aber wir alle haben ja in den letzten Tagen gemeinsam
die Zeitung gelesen.
({1})
Da sprangen mir natürlich die Titelseiten entgegen, auf
denen stand, dass angesichts der steigenden Steuereinnahmen und des steigenden BIPs sowohl Frau Schavan
als auch Herr Glos als Erste den Finger gehoben und gesagt haben: Wir wollen deutlich mehr Geld haben.
Wir werden darüber im Herbst diskutieren, Herr
Hagemann. Aber mich interessiert angesichts der Worte,
die Sie eben gefunden haben, natürlich schon Ihre Meinung. Halten Sie das für positiv? Sind Sie als Haushälter
der SPD bereit, den beiden entgegenzukommen, oder
nicht?
Frau Flach, zunächst einmal gebe ich das Kompliment zurück: Wir arbeiten in diesem Bereich gut im
Haushaltsausschuss zusammen.
({0})
Aber ich habe nicht auf der Linken herumgehauen, wie
Sie gesagt haben, sondern nur für ein bisschen Realitätssinn und die Verfassungslage geworben. Ich schätze
Frau Hirsch viel zu sehr als Fachfrau, als dass ich auf ihr
herumhauen würde. Das möchte ich hier unterstreichen.
Frau Flach, natürlich freuen wir uns darüber, dass die
Steuereinnahmen steigen. Es ist aber nicht so - ich habe
das deutlich gemacht -, dass die Kasse überläuft. Wichtig ist, dass wir gerade im Bildungs- und im Forschungsbereich die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen.
Das ist nämlich eine Investition in die Zukunft; das
möchte ich hier doch noch einmal unterstreichen.
({1})
Wir werden in diesem Jahr die ersten Schritte unternehmen, wenn wir den Haushalt für das Jahr 2008 aufstellen. Zum BAföG - der Kollege Rossmann hat das angesprochen - liegen entsprechende Beschlüsse meiner
Fraktion vor.
({2})
Auch den Hochschulpakt werden wir, so denke ich,
zum großen Teil finanzieren können. Herr Staatssekretär
Storm, rund 265 Millionen Euro der 1,3 Milliarden Euro,
die für den Hochschulpakt eingeplant sind, sind bisher
noch nicht gegenfinanziert. Hierfür muss und wird die
Koalition eine Lösung finden. Ich hoffe, dass wir auf
diesem Gebiet kreativ arbeiten können.
({3})
Frau Hirsch, bitte.
Es ist schön, dass Sie als Fachmann für Finanz- und
Haushaltsfragen in der Bildungsdebatte sprechen.
({0})
Das finde ich wirklich gut.
Vielleicht können wir einen kleinen Disput klären,
den wir in der gestrigen Fragestunde mit dem Kollegen
Tauss hatten, als wir gefragt haben, wie bestimmte Finanzierungen aussehen. Ich habe vorgeschlagen - ich
sage das, da Sie uns mangelnden Realitätssinn vorgeworfen haben -, dass wir uns das anschauen, was wir am
Freitag im Bundestag beschließen sollen, nämlich die
sogenannte Unternehmensteuerreform. Nach Berechnungen des Ministeriums, aber auch nach Berechnungen
anderer Stellen, gehen dadurch rund 10 Milliarden Euro
verloren.
({1})
Wie können Sie uns vorwerfen, in einem Wolkenkuckucksheim zu leben, wenn Sie gleichzeitig so eine Reform mit auf den Weg bringen und nicht ganz massiv dagegenreden? Wenn es Ihnen so wichtig ist, für die junge
Generation etwas zu tun, dafür zu sorgen, dass viele Jugendliche an die Hochschulen kommen können, warum
stellen Sie für BAföG und Hochschulpakt dann nicht
mehr Mittel zur Verfügung, was möglich wäre, wenn Sie
ein Projekt wie die Unternehmensteuerreform nicht mitbeschließen würden?
({2})
Frau Kollegin Hirsch, ich darf antworten: 10 Milliarden
Euro für die Unternehmensteuerreform, das ist völlig unrealistisch. Für die Endstufe sind 5 Milliarden Euro nicht
gegenfinanziert, am Anfang sind es 6 Milliarden Euro.
({0})
Das wird sich nach und nach einpendeln. Da die Betriebe ihre Einnahmen hier im Land versteuern sollen, ist
die Unternehmensteuerreform dringend notwendig. Deshalb muss gehandelt werden. Nach einer gewissen Zeit
wird wieder mehr Geld eingehen; das ist deutlich geworden. Der Selbstfinanzierungseffekt ist noch gar nicht berücksichtigt. Dieser Schritt ist, so meine ich, notwendig
und richtig. Dazu möchte ich jetzt keine weiteren Fragen
beantworten.
({1})
Lassen Sie mich auf die 1,3 Milliarden Euro zurückkommen, die der Bund in der nächsten Zeit für beide
Säulen zur Verfügung stellen wird. Herr Storm, ich habe
bereits angesprochen, dass wir kreativ sein müssen, um
entsprechende Mittel zur Verfügung stellen zu können.
Wir müssen die Länder in die Pflicht nehmen.
({2})
Die zusätzlich notwendigen Mittel müssen tatsächlich
zusätzlich zur Verfügung gestellt werden und dürfen
nicht in anderen Bereichen eingespart werden. Darauf
legen wir großen Wert. Wir wollen das Ziel, die Forschung mit 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu fördern, erreichen. Sowohl die Wirtschaft als auch die Länder müssen ihren Einfluss nutzen, damit dieses Geld
auch wirklich da ankommt, wo es ankommen soll.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Für den
Hochschulpakt stellen wir 1,3 Milliarden Euro als freiwillige Investition des Bundes zur Verfügung. Der
Hochschulpakt ist genauso wie das Ganztagsschulprogramm, das Rot-Grün vor wenigen Jahren auf den Weg
gebracht hat, wegweisend; denn dadurch hat sich die
Denkweise verändert.
({4})
Wir befinden uns auf einem guten Weg. Dieses Geld
muss aber auch verausgabt werden. Die Länder rufen
das Geld für das Ganztagsschulprogramm Gott sei Dank
ab. Von den 4 Milliarden Euro wurden 2 Milliarden Euro
abgerufen. Sogar Bayern und Hessen rufen die Gelder
ab, obwohl sich die CDU/CSU-Länder am Anfang besonders gewehrt haben.
({5})
Wir befinden uns, wie gesagt, auf einem guten Weg. Ich
hoffe, dass wir der jungen Generation den richtigen Weg
aufzeigen können.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/4563 mit dem Titel „Den
Hochschulpakt erfolgreich umsetzen“. Wer stimmt für
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Großen Koalition gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke, der FDP und
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3278
mit dem Titel „Hochschulpakt 2020 - Kapazitätsausbau
und soziale Öffnung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen mit den
Stimmen der Großen Koalition und der FDP gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3281 mit dem Titel „Hochschulpakt
2020 zum Erfolg bringen - Studienplätze bedarfsgerecht
und zügig ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion der FDP.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3290 mit dem Titel „Die Qualität der Hochschullehre sichern - den Hochschulpakt 2020 erfolgreich
abschließen und weiterentwickeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls angenommen mit den Stimmen der Großen Koalition und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der
FDP bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für
Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission ({0})
- Drucksachen 16/4028, 16/4037 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksachen 16/4883, 16/4899 Berichterstattung:
Abgeordnete Georg Fahrenschon
Frank Schäffler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes erteile ich das
Wort in der Aussprache der Kollegin Nina Hauer für die
SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute abschließend die Umsetzung der EURichtlinie über Märkte für Finanzinstrumente. Es geht
darum, welche Regeln in Zukunft europaweit beim Kauf
und Verkauf von Wertpapieren gelten. Die Richtlinie hat
das zentrale Anliegen, den Anlegerschutz bei Wertpapiergeschäften zu stärken und europaweit ein gleiches
Niveau zu bilden. Sie bietet für den Anleger mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und mehr Schutz vor falscher
Beratung.
Wenn jemand sein Vermögen von jemandem, der ein
solches Portfolio verwalten kann, verwalten lassen will,
kann er in Zukunft davon ausgehen, dass er umfassend
und transparent beraten wird. Er muss dann im Umkehrschluss seine Vermögens- und Lebenslage offenlegen. Wir in den Koalitionsfraktionen haben gesagt:
Wenn es von demjenigen, der sich beraten lassen
möchte, keine Offenlegung gibt, kann die Beratung nicht
stattfinden. Denn wer Wertpapiergeschäfte solide betreiben will, muss auch so beraten können, dass derjenige,
der auf der anderen Seite des Tisches sitzt, weiß, wie
hoch das Risiko bei bestimmten Anlagen sein kann
({0})
und was das unter Umständen für die eigene Vermögenslage bedeuten kann.
Das bedeutet: keine Beratungen ohne Offenlegung.
Das heißt für den Kleinanleger, beispielsweise für den
Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin mit ganz normalem Einkommen, der bzw. die für die Altersvorsorge
Geld investieren will: Wenn er bzw. sie in Zukunft zu einem Bankberater oder zu einem unabhängigen Finanzberater geht, dann kann er bzw. sie darauf vertrauen,
dass größeres Augenmerk auf die individuelle Situation
gerichtet wird. Man muss selbst deutlich machen, in welcher finanziellen Lage man ist. Auf der anderen Seite
des Tisches wiederum muss dargelegt werden, welche
Konsequenzen das hat, wie hoch die Provision ist und
welche Interessenlage aufseiten der Bank bzw. des Finanzdienstleisters vorhanden ist.
Das heißt, dass man leichter nachvollziehen kann,
welches Produkt warum empfohlen wird. Ich denke, das
ist ein wesentlicher Punkt, der gerade bei ganz normalen
Leuten mit ganz normalem Einkommen eine große Rolle
spielt. Denn oft ist nicht klar: Was ist das Besondere an
diesem Produkt? Kann ich mir das leisten? Warum wird
mir ausgerechnet dieses Produkt verkauft? Dann kann es
vorkommen, dass die Überraschung hinterher sehr groß
ist. Das kann in finanzieller Hinsicht unter Umständen
sehr unangenehm werden.
In Zukunft gibt es größere Klarheit über die Interessenlage bei der Beratung, und Geschäftsvorgänge werden dokumentiert, sodass sie nachvollziehbar sind. Man
kann sich darauf verlassen, dass leichter nachzuvollziehen ist, was von wem versprochen wurde. Bei ganz normalen Bankkunden ist es nämlich oft der Fall, dass sie
sich hinterher nicht mehr erinnern können, warum ihnen
was gesagt wurde.
Es gibt immer mehr Menschen, die ihre privaten
Geldgeschäfte abends, nach Feierabend im Internet erledigen. Das Onlinebroking hatte bisher einen zweifelhaften Ruf. Ich denke, dass es diesen Ruf nicht unbedingt verdient hat. In Zukunft wird auch der Anleger, der
im Rahmen des Onlinebroking investiert, informiert.
Aber er muss auch selber angeben, wie seine Vermögenslage und seine Risikosituation sind. Dann wird er
unter Umständen gewarnt. Auch das Onlinebroking
kann also nicht dazu verführen, ein Derivat oder ein ähnliches Produkt zu kaufen, das eine hohe Risikostruktur
aufweist, vielleicht auch eine hohe Gewinnchance bietet,
für den einzelnen Anleger aber überhaupt nicht geeignet
ist. Zumindest wird der Anleger vor dem Kauf solcher
Produkte gewarnt. Solche Geschäfte können nicht verhindert werden. Aber man kann dafür sorgen, dass diejenigen, die vor ihrem Computer sitzen, ausreichende Informationen erhalten.
Für alle Aufträge gilt in Zukunft, dass derjenige, der
anbietet, das günstigste und beste Produkt aussuchen
muss. Es gibt keinen Verkauf aufgrund der eigenen Geschäftslage und aufgrund des eigenen Geschäftsinteresses mehr, sondern es gibt nur einen Verkauf nach dem
besten Preis. Auch das ist neu und gilt europaweit.
Wir haben in den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf beschlossen, dass wir die Investmentfonds von
dieser Regelung ausnehmen wollen. Diese Produkte sind
hoch standardisiert. Sie haben einen speziellen Mechanismus bei der Preisbildung und einen eigenen Vertriebsweg. Unserer Einschätzung nach passen sie weder fachlich, noch gehören sie von der Verkaufsstrategie her in
diesen Gesetzentwurf. Ich denke, das wird einleuchten,
wenn man berücksichtigt, dass das Risiko in diesem Bereich extrem niedrig ist, weil es sich um ein standardisiertes Produkt handelt. Das heißt nicht, dass es in diesem Bereich nicht auch Produkte mit hohem Risiko gibt.
Aber man kann diese Produkte leichter einordnen, weil
sie in der Regel standardisiert sind.
Wir haben lange darüber diskutiert, wie wir die
geschlossenen Fonds behandeln. Wir haben beschlossen, dass wir uns in naher Zukunft mit den Vertriebswegen und mit der Nachfrage nach ihnen auseinandersetzen
werden. Dabei muss man bedenken, dass manche Kunden vielleicht denken, dass ein geschlossener Fonds etwas Ähnliches wie ein Wertpapier ist. Da das aber nicht
der Fall ist und geschlossene Fonds keine Wertpapiere
sind und auch nicht wie solche gehandelt werden, haben
wir sie von dieser Richtlinie ausgenommen. Das ist mit
der Richtlinie insgesamt vereinbar, und das ergibt sich
aus dem Sachzusammenhang. Trotzdem bedeutet das,
dass wir uns genau ansehen müssen, wer was an wen
verkauft. Denn es gibt einige Hinweise darauf, dass es
durchaus Kunden bzw. Kundinnen gibt, die falsche Vorstellungen von den Gewinnchancen eines Investments in
einen solchen Fonds haben.
Wir haben in unseren Gesetzentwurf die Definition
einer Handelsplattform aufgenommen. Diese Definition umfasst nicht nur die Börse, sondern dazu gehören
auch die multilateralen Handelssysteme und die sogenannten systematischen Internalisierer. Da herrscht mehr
Transparenz. Weil wir dafür sorgen wollen, dass sich
alle, die da kaufen und verkaufen, darauf verlassen können, dass für sie Regeln gelten, wollen wir im Gegensatz
zum Regierungsentwurf die aktienvertretenden Zertifikate in den Geltungsbereich des Gesetzes einbeziehen.
Es soll also nicht möglich sein - das könnte nämlich passieren -, eine Plattform zu bilden, über die nur solche
Produkte gehandelt werden. Dieses Risiko erscheint uns
zu hoch. Denn bei diesen Produkten, die auf den Märkten - nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika sehr verbreitet sind, handelt es sich eindeutig um Wertpapiere. Dadurch, dass wir sie in Deutschland einbeziehen - alle Regeln dieses Gesetzes sollen auch für diese
Produkte gelten -, sorgen wir für mehr Klarheit, wer mit
was handeln darf.
Wir haben insgesamt klarere Spielregeln, wir haben
eine ordentliche Beratung. Ich denke, dass dieses Gesetz
den unterschiedlichen Erwartungen, die wir an den Finanzmarkt Deutschland haben, gerecht wird. Wir wollen
einen Finanzmarkt, auf dem sich die Unternehmen Geld
beschaffen können, um ihre Ideen umzusetzen. Aber
auch ganz normale Leute, die ihr Einkommen in ihre Altersversorgung oder Vermögensbildung - und sei dieses
Vermögen auch klein - stecken wollen, sollen einschätzen können, welches Risiko sie eingehen. Sie sollen gut
über die Risikostruktur beraten werden und sich gegen
Geschäftspraktiken wehren können, die dazu führen,
dass sie ein hohes Risiko haben und, im schlimmsten
Fall, auch einen hohen Verlust. Ich denke, dem wird unsere nationale Umsetzung dieser europäischen Richtlinie
gerecht.
Ich möchte mich für die Zusammenarbeit bedanken,
auch bei den Berichterstattern der Oppositionsfraktionen, ebenso beim Bundesfinanzministerium. Ich bedanke mich für die gute Arbeit in den Beratungen. Im
Hinblick auf manche Fragen bedanke ich mich auch
herzlich für die Geduld. Ich denke, wir haben hier eine
gute Umsetzung erreicht, die unseren Finanzmarkt nach
vorne bringt.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Frank
Schäffler für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was hat der größte Anlegerbetrugsskandal der
deutschen Nachkriegsgeschichte mit der Umsetzung der
MiFID-Richtlinie in deutsches Recht zu tun?
({0})
Bei Phoenix geht es in den nächsten Wochen um die Entschädigung von knapp 30 000 Anlegern durch die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen, in der 750 Unternehmen als Zwangsmitglieder
zusammengeschlossen sind. Die Unternehmen müssen
bis zu 180 Millionen Euro nachschießen. Das bringt
viele dieser Unternehmen an den Rand ihrer Existenz.
Viele verlassen inzwischen unser Land oder beschreiten
den Klageweg.
Mit dem Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz
regeln wir die Bedingungen für den Wertpapierhandel in
Deutschland. Der vorliegende Gesetzentwurf orientiert
sich weitestgehend am Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung. Endlich; oft genug hat sich diese Koalition nicht
an dieses Prinzip gehalten.
({1})
- Da können wir viele Beispiele nennen, zum Beispiel
die Umsetzung von Basel II.
Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über
Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission ist nicht nur vom Namen her
ein Ungetüm. Auch die Umsetzung in die Praxis bedeutet eine gewaltige Belastung für die Finanzwirtschaft.
Wichtig war uns bei diesem Gesetz, die Finanzwirtschaft
nicht zu überfordern und den Anwendungsbereich nicht
über den von der Richtlinie vorgegebenen Rahmen auszudehnen. Das Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz dient dem Ziel, gleiche Wettbewerbsbedingungen in
Europa zu schaffen.
Beide Sachverhalte - MiFID-Umsetzung und Phoenix haben einen engen Zeithorizont: Die Banken müssen die
Vorschriften dieses Gesetzes bis zum 1. November umsetzen. Das erfordert erhebliche Anstrengungen der Branche. Wir hätten uns gewünscht, es wäre der Bundesregierung gelungen, diese Frist zu verlängern. Bei Phoenix
wird der Insolvenzverwalter im April die Schadensumme
nennen. Dann hat die Entschädigungseinrichtung drei
Monate Zeit, die Anleger zu entschädigen.
Wir wollten im Rahmen des vorliegenden Gesetzgebungsverfahrens die Lösung des Anlegerbetrugsskandals
Phoenix voranbringen und die 750 Unternehmen entlasten. Diese meist mittelständischen Unternehmen haben
nichts mit dem Phoenix-Skandal zu tun. Viele der betroffenen Zwangsmitglieder können nicht einmal einen
Entschädigungsfall auslösen. Sie sind mehr oder weniger willkürlich der Entschädigungseinrichtung zugeordnet worden und jetzt in ihrer Existenz gefährdet.
({2})
Eigentlich müsste der Gesetzgeber alles dafür tun, um
den Schaden für diese Unternehmen zu minimieren.
({3})
Diese Chance lassen Sie von der Großen Koalition heute
aber verstreichen. Die EdW darf zwar Anleger entschädigen, deren Ansprüche gegenüber Dritten werden derzeit aber nicht automatisch auf die EdW übertragen.
Diese Gesetzeslücke haben wir als Gesetzgeber zu verantworten. Dies könnte durch eine kleine, aber wichtige
Änderung beseitigt werden.
Natürlich müssen wir uns auch grundsätzlich über die
Entschädigungseinrichtung EdW unterhalten. Das hilft
den Zwangsmitgliedern im Fall von Phoenix aber nicht
mehr. Gerade nach aktuellen Medienberichten ist das
aber umso wichtiger. Durch die Geltendmachung solcher
Ansprüche durch die EdW könnte die Entschädigungssumme erheblich verringert werden. Dass die Summe
nicht weiter reduziert werden kann, müssen Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, den Unternehmen
einmal erklären.
Erst werden die Unternehmen in einen Zwangsverband gepresst, und nun lassen Sie sie im Regen stehen.
Wir haben im internationalen Vergleich ohnehin nur eine
sehr geringe Zahl von Vermögensverwaltern. Wenn wir
hier nicht entschieden einschreiten, droht der Markt weiter Schaden zu nehmen.
({4})
Sie haben ja auch keine Sachargumente dafür. Ihr eigenes Finanzministerium hat den Weg als gangbar bezeichnet.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie das Gesetz
nicht mit anderen Regeln überfrachten wollen.
({5})
Das war schon ein hilfloses Argument, zumal Sie Regelungen der Basel-II-Umsetzung oder zur Geldwäschebekämpfung in das Gesetz eingeführt haben. Grund für
Ihre Ablehnung scheint allein eine gekränkte Eitelkeit zu
sein nach dem Motto: Warum ist uns das nicht eingefallen?
({6})
Meine Damen und Herren von der Koalition, hier
geht es nicht um einen parteipolitischen Streit, sondern
es geht um die Existenz von 750 Unternehmen und ihrer
Mitarbeiter.
({7})
Sie haben immerhin zugestanden, dass das Thema in der
nächsten Sitzungswoche erneut auf der Tagesordnung
stehen soll. Ich hoffe nur, dass es dann nicht spät sein
wird.
Vielen Dank.
({8})
Als Nächster spricht der Kollege Georg Fahrenschon
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Am vergangenen Wochenende haben wir hier in
Berlin und in ganz Europa den 50. Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert.
({0})
Das war schon ein besonderes Signal.
Die Europäische Union ist ein Erfolg. Wir müssen
uns aber auch damit auseinandersetzen, an welchen Stellen wir besonders darauf achtgeben müssen, dass sie
auch in Zukunft erfolgreich sein kann. Damit sind wir
unmittelbar bei der Frage, wie in Europa gewirtschaftet
wird.
Wenn wir uns mit den Rahmenbedingungen der Wirtschaft in Europa auseinandersetzen, dann muss uns klar
sein, dass die Finanzmärkte für eine Volkswirtschaft
von zentraler Bedeutung sind. Mehr Wachstum, mehr
Beschäftigung und auch die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme können nur funktionieren, wenn
die Finanzmärkte stabil sind, wenn sie Geld aber auch
möglichst preiswert zur Verfügung stellen. Je höher der
Grad der Integration ist, desto effizienter gestalten sich
die Verteilung von Kapital und langfristig auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.
Vor dem Hintergrund muss uns klar sein: Wenn wir
die Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte in Europa
setzen, dann positionieren wir uns auch im direkten
Wettbewerb mit anderen großen Märkten, wie zum Beispiel dem der Vereinigten Staaten. Deutschland hat innerhalb Europas natürlich ein ganz besonderes Interesse
daran, weil die größte Volkswirtschaft allein durch die
Rahmenbedingungen, die die Finanzmärkte für sie darstellen, mittendrin statt nur dabei ist.
({1})
Durch drei Zahlen soll das untermauert werden: Zum
Ersten trägt der Finanzdienstleistungssektor mit einer
Bruttowertschöpfung von rund 86 Milliarden Euro maßgeblich zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Zum
Zweiten arbeiten in der Finanzbranche rund 1,4 Millionen hochqualifizierte Beschäftigte. Zum Dritten ist der
deutsche Finanzmarkt mit über 80 Millionen Privatkunden der größte Markt für Finanzdienstleistungen in Europa.
Das vorliegende Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz ist der zentrale Bestandteil zur Vollendung
des Binnenmarktes. Denn mit diesem Gesetzesvorhaben
ist die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Finanzdienstleistungen in deutsches Recht für den kompletten
Wertpapierbereich abgeschlossen. Deshalb gilt an dieser
Stelle mein besonderer Dank dem BMF für die sachliche
und hochqualifizierte Begleitung des Verfahrens und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzausschusses unter der Führung des Vorsitzenden Eduard Oswald,
die in der vergangenen Nacht bis 2 Uhr am Bericht gearbeitet haben, damit wir den Gesetzentwurf heute beraten
und darüber abstimmen können.
({2})
Ich will auch den Berichterstattern herzlich danken - damit schließe ich mich der Kollegin Hauer an -, die sich
meines Erachtens tief in jede Sachfrage eingearbeitet haben und mit denen wir gut und konzentriert zusammengearbeitet haben.
({3})
Mit dem Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz
wird die europäische Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente umgesetzt. Im Vergleich zu ihrer Vorgängerin - der Wertpapierrichtlinie - erweitert die sogenannte
MiFID das Spektrum der betroffenen Finanzdienstleistungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden
neben den bekannten Kreditinstituten, Banken, Wertpapierfirmen und Börsen in Zukunft auch die Anlageberater, die Betreiber sogenannter multilateraler Handelssysteme, die Vermögensverwalter und die vertraglich
gebundenen Vermittler von dieser Richtlinie erfasst.
Zum anderen werden auch die betroffenen Instrumente
erweitert. Über das klassische Wertpapier und die uns
bekannten Derivate hinaus werden in Zukunft auch Kreditderivate, Derivatkontrakte sowie finanzielle Differenzgeschäfte durch die staatliche Gesetzgebung organisiert, kontrolliert und beaufsichtigt.
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen haben
wir zudem die aktienvertretenden Zertifikate mit aufgenommen. Die Kollegin Hauer hat unsere Argumente bereits dargestellt.
Wir haben uns auch mit einer großen Anzahl von
Petita des Bundesrates auseinandergesetzt und sind auf
viele Wünsche eingegangen. Wir haben die Anwendbarkeit der Vorgaben des Investment- und des Wertpapierprospektgesetzes für die Werbung mit aufgenommen.
Wir haben die Kennzeichnungspflicht von allgemeinen
Empfehlungen als Werbung konkretisiert. Wir haben
eine Übergangsregelung zur Kundeneinstufung geschaffen und ein Paket zum Bürokratieabbau im Zusammenhang mit der Arbeit des Börsenrates und dem Institut des
Skontroführers bei den Börsen geschnürt.
In Bezug auf die vorgeschlagene Definition von Warenbörsen sind wir ebenfalls auf den Bundesrat eingegangen. In Zukunft werden nicht nur Emissionszertifikate und hierauf bezogene Termingeschäfte, sondern
auch andere, warenbezogene Wirtschaftsgüter und
volkswirtschaftlich bedeutsame Variablen wie etwa
Frachtsätze oder Klimavariablen entsprechend der europäischen Vorgabe ausdrücklich zugelassen.
Hinsichtlich des neuen dritten Weges neben den Banken und Börsen - den MTFs, den sogenannten multilateralen Handelsplattformen - konnten wir dem Wunsch
des Bundesrates, die Kontrolle bei der Börsenaufsicht
der Länder zu lassen, leider nicht entsprechen. Für die
Unionsfraktion möchte ich jedoch ausdrücklich festhalten, dass mit dieser Entscheidung keine Vorfestlegung
im Hinblick auf die anstehenden Verhandlungen der Föderalismuskommission II getroffen wurde. Das Thema
Börsenaufsicht wird von dieser Kommission noch einmal behandelt. Das haben wir auch in Abstimmung mit
unserem Koalitionspartner mit einer entsprechenden
Passage im Bericht des Finanzausschusses festgehalten.
Lieber Herr Kollege Schäffler, ich gebe unumwunden
zu, dass uns Ihr Vorschlag, durch einen Antrag noch eine
Änderung in dem Verfahren der Einlagensicherung für
die Wertpapierdienstleister auf den Weg zu bringen, zu
intensiven Beratungen veranlasst hat
({4})
und dass es auch einen gewissen Charme hat, im laufenden Verfahren nachzusteuern. Wir müssen uns aber auch
darüber im Klaren sein, lieber Herr Kollege, dass die betrügerischen Vorgänge bzw. die kriminellen Energien,
die bei Phoenix gewirkt haben, nicht dadurch besser
werden, dass Sie im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens hopphopp eine Änderung einschieben.
({5})
Lassen Sie sich doch überzeugen, dass wir zu einer
stabileren und wirkungsvollen Handlungsweise kommen, wenn wir erst Sachaufklärung betreiben
({6})
und dann gemeinsam mit den Betroffenen und allen Akteuren auf dem Finanzmarkt auf der Basis der geltenden
Rechtslage handeln,
({7})
statt einfach zwischen der fünften und sechsten Zeile
eine Änderung einzuschieben.
Wir sind hochinteressiert daran, dass der Finanzmarkt
in diesem Zusammenhang keinen Schaden nimmt. Wir
wollen sauber arbeiten; denn wenn etwas mit heißer Nadel gestrickt ist, ist es nicht unbedingt besser.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die MiFID
- oder auf Deutsch das FRUG; man könnte über die Abkürzungen in der Finanzmarktregulierung einen gesonderten Vortrag halten ({9})
ist für die Wertpapierdienstleister das, was Basel II für
die Bankenbranche und Solvency II für die Versicherungsbranche ist. Es ist daher meines Erachtens nicht
übertrieben, zu sagen, dass die MiFID nach der Einführung des Euro eines der größten und wesentlichsten Projekte im europäischen Finanzmarkt darstellt.
In diesem Sinn beschreiten wir mit dem heutigen Abschluss der MiFID einen weiteren maßgeblichen Schritt
hin zu einem integrierten, zukunftsfesten und wettbewerbsfähigen Finanzmarkt in Europa. Wir bitten um Ihre
Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({10})
Jetzt hat Axel Troost das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Kriterium der Beurteilung des vorliegenden
Gesetzes lässt sich aus meiner Sicht ganz eindeutig benennen: Bringt es eine Verbesserung des Verbraucherschutzes für die Kleinanleger? Wenn man, wie es die Regierungspolitik in beklagenswerter Kontinuität tut, die
Beschäftigten durch reale Rentenkürzungen in die private Altersvorsorge treibt, ist dieses Beurteilungskriterium nur konsequent. Denn dann kann und muss man erwarten, dass die sogenannten kleinen Leute vor den
schwarzen Schafen der Finanzmärkte geschützt werden.
({0})
Die gute Nachricht ist, dass das vorliegende Gesetz
hierbei in der Tat einen ganz erheblichen Fortschritt gegenüber dem Status quo bringt; denn es bringt mehr
Schutz für die Verbraucher.
Aber die Frage ist: Reichen die vorgelegten Regelungen aus? Wir meinen, trotz stimmiger Gesamtrichtung
werden durch Ausnahmetatbestände und Unterlassungen
einige Chancen vertan.
Ich will einige Punkte nennen: erstens die geschlossenen Fonds, die aus den verbraucherfreundlichen Anforderungen der Richtlinie herausgenommen worden sind.
Sie haben es damit zum einen versäumt, den schwarzen
Schafen auf diesem Markt das Handwerk zu legen und
ihn mit unter die Aufsicht der BaFin zu stellen. Zum anderen widerspricht dieses Vorgehen dem europäischen
Recht. Es ist daher zu befürchten, dass geschädigte Anleger zu Recht Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend machen. Ich frage mich, ob Sie wissen, was Sie sich damit eingehandelt haben.
Ein weiterer Punkt ist der Ausschluss der freien
Fondsvermittler aus dem verbraucherfreundlichen Anwendungsbereich des Gesetzes. Die Verbraucher werden
nicht erkennen, dass ein und dasselbe Produkt je nach
Vertriebsweg unterschiedlichen Schutzniveaus unterliegt.
Auch die Umsetzung der so wichtigen Warnpflicht
gegenüber den Verbrauchern ist aus unserer Sicht unzureichend ausgefallen. Das zeigt sich bereits terminologisch. Wir haben darauf gedrängt, den Terminus „warnen“ ins Gesetz aufzunehmen. Stattdessen heißt es im
Gesetz nur relativ harmlos: „hinweisen“.
Aber es kommt noch schlimmer: Im Internet gilt
keine Erkundigungspflicht, keine Angemessenheitsprüfung und keine Warnpflicht. Das ist an sich schon problematisch. Sie haben diesen Ausnahmetatbestand für
das Internet aber so weit gefasst, dass ihn auch ganz normale Banken faktisch zum Schaden der Kunden nutzen
können. Ein Ärgernis!
Die Verbraucher im Vorfeld zu warnen, ist das eine.
Das andere, aber genauso Wichtige ist, sie im eingetretenen Schadensfall zu schützen. Es ist sehr unbefriedigend, dass geschädigte Anleger die Fehler bei der Anlageberatung nach wie vor selbst beweisen müssen. Man
kann sich vorstellen, dass gerade Kleinanleger damit
überfordert sind. Leider ist es versäumt worden, die Position der Verbraucher durch eine Beweislastumkehr zu
stärken. Hierbei muss aus unserer Sicht für die Zukunft
Abhilfe geschaffen werden.
Zuletzt - dieser Punkt ist auch sehr wichtig - haben
Sie es unterlassen, die Verjährungsfristen bei fehlerhafter Beratung zu verlängern. Verbraucher merken aber
häufig erst sehr spät, zum Beispiel wenn sie ihre Altersvorsorge in Anspruch nehmen wollen, dass sie falsch beraten worden sind. Hier muss ebenfalls Abhilfe geschaffen werden. Hier ist aus unserer Sicht eine deutliche
Verlängerung der Verjährungsfristen notwendig.
Das Angesprochene ändert nichts daran, dass wir
zwar die Grundrichtung unterstützen, weil es sich in der
Tat um eine Verbesserung des Verbraucherschutzes handelt, dass wir uns aber in der Abstimmung enthalten
werden, weil die aufgezeigten Mängel aus unserer Sicht
nicht behoben wurden.
Danke schön.
({1})
Jetzt spricht als Letzter in dieser Debatte der Kollege
Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes findet bei uns Grünen überwiegend Zustimmung. Deswegen stimmen wir ihm zu.
Wir haben in den Ausschussberatungen deutlich gemacht, dass es zwei, drei kleinere Punkte gibt, die wir
für verbesserungswürdig halten. Ich möchte als Beispiel
die Frage nach den Warnhinweisen ansprechen, die
Kollege Troost gerade gestellt hat. Häufig ist davon die
Rede, dass wir ein Gold Plating machen, dass wir sozusagen auf europäische Richtlinien noch etwas draufsatteln. Aber in diesem Fall ist es nach unserer Meinung
umgekehrt. Außen kommt nicht eine goldene Lackschicht drauf. Vielmehr wird von dem, was die MiFID
vorsieht, etwas abgekratzt.
Wenn beispielsweise subjektiv ungeeignete Anlagewünsche außerhalb der Anlageberatung geäußert werden, sollte nicht nur ein Hinweis oder eine Information,
sondern ein Warnhinweis erfolgen; das hat Brüssel eindeutig signalisiert. Das ist ein qualitativer Unterschied
und nach unserer Meinung ein Beispiel dafür, dass es
sinnvoll gewesen wäre, unseren Änderungsantrag anzunehmen. Statt einer Eins-zu-eins-Umsetzung haben wir
in diesem Fall eine 1-zu-0,9-Umsetzung. Wir hätten uns
besser an die Vorlage aus Brüssel gehalten.
Obwohl wir dem Gesetzentwurf zustimmen, fordern
wir Sie in unserem Entschließungsantrag auf, nicht stehen zu bleiben. Es gibt eine Reihe von Punkten, die wir
noch aufgreifen sollten. In bestimmten Fragen konnten
wir im Ausschuss gemeinsames Verständnis herstellen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Beispiele
nennen.
Das eine Beispiel ist das große Thema Verjährungsfrist. Eine Reihe von Regelungen, die wir nun bei der
Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie treffen, betrifft die
Frage, wie sich der Anleger, wenn er nicht gut bzw.
falsch beraten wurde, zur Wehr setzen und Schadenersatz fordern kann. 1998 wurde vor einem anderen
Rechtshintergrund eine Sonderregelung für den Wertpapierbereich eingeführt, damit die Wertpapierunternehmen nicht der 30-jährigen Verjährungsfrist unterliegen.
Da diese aber im Jahr 2001 abgeschafft wurde, wäre nun
im Rahmen der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie
eine gute Gelegenheit gewesen, diese nicht mehr notwendige Sondernorm in § 37 a des Wertpapierhandelsgesetzes zu streichen. Ich hoffe, dass es uns in weiteren
Beratungen gelingt, diese Sondernorm abzuschaffen.
Nach unserer Meinung gibt es ganze Regelungsbereiche, in denen es noch viel zu tun gibt. Der Bereich der
geschlossenen Fonds wurde bereits angesprochen. Das
ist der Bereich des Kapitalmarktes, in dem es die meisten Fälle von schlechter Beratung und Betrug gibt und in
dem Unklarheit herrscht. Hier sollten wir unbedingt aktiv werden. Das gilt auch für den Bereich der Zertifikate, einen Markt, der bei insgesamt geringer Anlage in
Fonds und Aktien in den letzten Jahren massiv zugenommen hat und der extrem intransparent ist, weil die
Standards des Anlegerschutzes noch nicht in gewünschtem Maße gelten. Diesen Markt sollten wir uns unbedingt vornehmen. Wir werden Vorschläge dazu vorlegen.
Ein weiteres Beispiel ist die Strombörse. Sie alle
haben sicherlich die Nachrichten mitbekommen. Wir
müssen hier ebenfalls für Transparenz sorgen, wenn das
ein zukunftsfähiger Markt sein soll.
Wir sind der Meinung, alle diese Bereiche, die ihre eigenen Strukturen haben, nicht im Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz zu berücksichtigen, sondern sie
gesondert zu regeln.
Wir fordern Sie auf: Lassen Sie uns im Stil der Gemeinsamkeit, in dem wir über den vorliegenden Gesetzentwurf beraten haben - herzlichen Dank an alle Berichterstatter für die Zusammenarbeit -, die noch
offenen Punkte angehen, um in den nächsten Monaten
einen deutlichen Schritt im Interesse der Anlegerinnen
und Anleger voranzukommen.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Finanzmarkt-
Richtlinie-Umsetzungsgesetzes. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4883, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 16/4028 und 16/4037 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/4884. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustim-
mung der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und
Die Linke und Gegenstimmen der übrigen Fraktionen
abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungspraxis in Deutschland
- Drucksache 16/3537 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Omid Nouripour, Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Humanitäre Standards bei Rückführungen achten
- Drucksache 16/4851 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
Die Fraktion Die Linke soll dabei fünf Minuten erhalten. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen
Initiative Berlin berichtet für die Jahre 1993 bis 2006
von 50 Flüchtlingen, die in deutschen Abschiebehaftanstalten starben. 399 Häftlinge hätten sich bei dem Versuch, sich umzubringen, infolge von Hungerstreiks oder
aus Protest gegen ihre drohende Abschiebung selbst zum
Teil schwer verletzt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
So heißt es in Art. 1 Grundgesetz. Der Eingriff in die
Freiheit der Person ist im demokratischen Rechtsstaat einer der massivsten staatlichen Eingriffe in die Menschenrechte, der nur unter sehr begrenzten Bedingungen
überhaupt statthaft ist.
({0})
Doch im Umgang mit Flüchtlingen wurde und wird in
der Bundesrepublik etwas ganz anderes deutlich. Da
werden Grundrechte und einige wesentliche, von der
Bundesrepublik unterzeichnete und anerkannte Menschen- und Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht
gewährleistet bzw. nicht umgesetzt.
({1})
Die Würde von Flüchtlingen in Deutschland ist antastbar, ihre Freiheit ist verletzlich und ihre Gleichheit ist
anfechtbar. Das ganze gegenwärtige System der Abschiebehaft und der Abschiebepraxis - Freiheitsentzug
ohne Straftatbestand, Strafe ohne Rechtsgrund und ohne
Rechtsschutz - ist in einem sich demokratisch nennenden Staat das eklatanteste Beispiel eines staatlichen Rassismus.
({2})
Die Linke lehnt die Inhaftierung von Menschen, die
ausschließlich zur Sicherung einer Verwaltungshandlung
erfolgt, grundsätzlich ab und fordert, die Abschiebehaft
als Mittel zur Durchsetzung von Abschiebungen abzuschaffen.
({3})
Abschiebehaft ist unverhältnismäßig und stempelt Migrantinnen und Migranten zu Kriminellen ab.
({4})
- Das stimmt einfach nicht. Das, was Sie hier behaupten,
ist falsch und unwahr.
Aber nicht nur das: Abschiebehäftlinge, die sich weder einer Straftat schuldig gemacht haben noch einer solchen verdächtigt werden, werden schlechter gestellt
({5})
- das ist keine Straftat 9204
({6})
und behandelt als verurteilte Straftäterinnen und Straftäter. - Herr Grindel, Sie sollten sich erst einmal im Strafrecht kundig machen. - Dies kritisierte das Antifolterkomitee des Europarates schon im Jahr 2000. Daran hat
sich bis zum letzten Besuch Ende 2005 nichts
geändert. Nach wie vor bleibt die Kritik bestehen. Keine
der besuchten Anstalten verfüge - ich zitiere - „über die
personelle oder materielle Ausstattung zur Schaffung
von Haftbedingungen, wie sie dem rechtlichen Status
von Abschiebehäftlingen angemessen“ wären, etwa in
Bezug auf Besuchsrechte, den Hofgang, den Zugang zu
Medien und auch die Beschäftigungsmöglichkeiten.
Leider sind wir heute nicht hier, um über die Abschaffung der Abschiebehaft zu diskutieren. Dazu fehlt es in
diesem Haus - wie jetzt von der CDU/CSU noch einmal
demonstriert - offenkundig an einer humanistisch gesonnen Mehrheit.
({7})
Die Damen und Herren der Großen Koalition wollen
Asylsuchende in Zurückweisungshaft nehmen, was eine
klare Verletzung internationaler Standards ist. Flüchtlinge dürfen während des Asylverfahrens generell nicht
inhaftiert werden. Auch die von der Regierungskoalition
gestern beschlossene Durchbeförderung ist glatter
Rechtsbruch. Eine Inhaftierung ohne richterliche Anordnung ist mit Art. 104 Grundgesetz - da sollten Sie einmal bei Gelegenheit hineinschauen - unvereinbar.
({8})
Auch wenn ich es sonst mit Che Guevaras Leitsatz
halte „Seien wir realistisch, versuchen wir das
Unmögliche“ - in Ihrem Falle halte ich menschenrechtlich Hopfen und Malz für verloren. Was Sie im Rahmen
der Umsetzung der aufenthalts- und asylrechtlichen
EU-Richtlinien gestern vorgestellt haben, ist nichts anderes als „demokratisch abgesicherte Barbarei“,
({9})
wie es Heiko Kauffmann, Vorstandsmitglied von Pro
Asyl, bezogen auf die Abschiebungshaft sagte.
({10})
- Frau Präsidentin, ich kann so nicht weitermachen.
({11})
Könnten Sie vielleicht für Ruhe sorgen? Umso erfreulicher ist es, dass am 1. September 2006
der Aachener Friedenspreis an den Verein „Hilfe für
Menschen in Abschiebehaft Büren e. V.“ verliehen
wurde. Ziel der Auszeichnung war es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ebendiese immer rigoroser
und unmenschlicher werdende Abschiebungspolitik zu
lenken, der die Abwehr von Flüchtlingen wichtiger ist
als der Schutz bedrohter Menschen in diesem Land.
Laudator Günter Wallraff kritisierte die deutschen
Abschiebegefängnisse als „Institutionen der Unmenschlichkeit“. Damit steht er nicht allein.
({12})
Darum geht es auch in unserem Antrag. Es geht um
die Wahrung von Mindeststandards in der Inhaftierungspraxis. Es ist aus menschenrechtlicher Sicht einfach unzumutbar, wenn Minderjährige, traumatisierte
und alte Menschen, Schwangere sowie Menschen mit
Behinderungen inhaftiert werden. Es ist unzumutbar,
dass die medizinische und psychologische Betreuung
nur rudimentär besteht. Es ist auch unzumutbar, viel zu
häufig, zu leichtsinnig und auch viel zu lange - in einigen Fällen bis zu 18 Monaten - in Abschiebungshaft genommen zu werden, ohne dass die Abschiebung unmittelbar bevorsteht. Das ist untragbar. Bei Ihnen ist die
Abschiebungshaft eben nicht Ultima Ratio zur Durchsetzung einer Ausreiseverpflichtung. Wenigstens daran
möchten wir Sie erinnern, und das erwarten wir von Ihnen.
Danke sehr.
({13})
Der Kollege Helmut Brandt hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Wir behandeln in dieser Stunde zwei
Anträge, einmal den gerade von der Kollegin Dağdelen
vorgetragenen Antrag wegen der Abschiebungshaft, zum
anderen einen Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen. Die Fraktion Die Linke lehnt die Möglichkeit der Abschiebehaft grundsätzlich ab und fordert die
Bundesregierung auf, die bestehenden gesetzlichen
Grundlagen aufzuheben und auf das Instrument der Abschiebehaft zu verzichten.
({0})
- Am Schluss meiner Rede haben Sie Gelegenheit, mir
zu applaudieren. Warten Sie noch einen Moment!
({1})
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen beschäftigt sich demgegenüber in ihrem Antrag mit Standards
der Abschiebung im Rahmen einer europäischen
Rechtsangleichung in Form einer Richtlinie. Das sind
also zwei völlig unterschiedliche Ansätze, wobei anzuerkennen ist, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen die in § 62 Aufenthaltsgesetz enthaltene Möglichkeit einer Anordnung und Durchführung von Abschiebungshaft nicht infrage stellt.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
({2})
Ich hatte zumindest gehofft, Frau Dağdelen, dass Sie
das, was Sie in Ihrem Antrag schriftlich formuliert haben, hier nicht mündlich wiederholen. Sie haben es dennoch getan. Um es deutlich zu machen: Da ist die Rede
von „menschenunwürdiger Praxis“, von „heruntergekommenen Haftbedingungen“, von „Inhaftierung im
Dienst einer rigorosen Asyl-, Abschottungs- und Ausweisungspolitik“. Schließlich zitieren Sie aus einem vertraulichen Bericht des Antifolterkomitees des Europarates, der bislang weder veröffentlicht wurde noch sonst
vollständig bekannt ist. Offensichtlich stammen diese
bruchstückhaften Zitate aus in Tageszeitungen wie der
„Frankfurter Rundschau“ und der „taz“ veröffentlichten
Artikeln. Ich bezeichne diese Vorgehensweise als unseriös.
({3})
Die provokante und unerträgliche Formulierung muss
ich entschieden zurückweisen. Es handelt sich ganz offensichtlich um einen Antrag, von dem man sich eine gewisse Außenwirkung auf die eigene Gefolgschaft verspricht. Sie selber glauben Ihren eigenen Formulierungen
sicherlich nicht; denn sonst hätten Sie nicht unter
Ziffer I.5. Ihres Antrags zur Glaubhaftmachung sogar
den - man höre und staune - Heiligen Stuhl bemüht. Es
hat mich wirklich in Erstaunen versetzt, dass Kommunisten im Deutschen Bundestag darauf verweisen.
Trotz dieser völlig unqualifizierten und - gerade nach
Ihren Ausführungen eben muss ich das sagen - des Parlaments nicht würdigen Vorgehensweise möchte ich
mich dennoch mit der Frage der Abschiebungshaft und
der Abschiebung von sich in Deutschland illegal aufhaltenden Ausländern auseinandersetzen. Drei Fragen stellen sich: Erstens. Brauchen wir die Vorbereitungs- und
Abschiebungshaft? Zweitens. Wie wird die Abschiebungshaft gestaltet? Drittens. Wie wird die Abschiebung
des Betroffenen in sein Heimatland durchgeführt?
Zur Notwendigkeit der Abschiebungshaft könnte
man - machte man es sich einfach - auf das Gesetz verweisen. Nur der vollziehbar Ausreisepflichtige, der sich
seiner Abschiebung entzieht, nicht freiwillig ausreist
oder sich der Abschiebung entziehen will, kann durch
richterlichen Beschluss in Abschiebungshaft genommen
werden. Dabei ist sowohl der Vorbehalt der richterlichen Entscheidung über die freiheitsentziehende Maßnahme gewährleistet als auch der dem Betroffenen zustehende Rechtsbehelf der sofortigen Beschwerde.
Macht der Betroffene dabei glaubhaft, dass er sich der
Abschiebung nicht entziehen will, dass er freiwillig ausreisen will, so ist er auch nicht in Abschiebungshaft zu
nehmen - und wird auch nicht in Abschiebungshaft genommen. Das ist wohl die Mindestvoraussetzung, deren
Einhaltung man verlangen kann.
({4})
Das ist nach unserer Auffassung in keiner Weise zu
beanstanden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in
einem Verfahren aus dem Jahre 1994 keinerlei Anlass
gesehen, an der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift
zu zweifeln.
({5})
Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluss
vielmehr die Gerichte aufgefordert, von ihrer Möglichkeit der Auslegung des Gesetzes in der von mir eben zitierten Weise Gebrauch zu machen, was auch geschieht.
Sollen wir wirklich ohnmächtig mit ansehen, dass
Ausländer nach illegaler Einreise - ein Straftatbestand untertauchen und sich auf unabsehbare Zeit ({6})
- hören Sie doch bitte zu; Sie haben doch eben gesagt,
Sie wollten lernen - illegal in Deutschland aufhalten und
der Ausweisung entziehen?
({7})
- Dazu können Sie sich ja einmal bekennen. Das würde
die Verhältnisse im Deutschen Bundestag deutlicher
machen. - Dies ist weder unserem Staat noch den Bürgern zuzumuten. Erst recht ist es nicht den vielen ausländischen Mitbürgern zuzumuten, die sich in Deutschland
redlich und legal aufhalten und unsere Gesetze respektieren.
({8})
Jetzt kommen wir zu den Haftbedingungen. Das,
was Sie behaupten, lässt sich durch nichts nachweisen
und entspricht auch nicht der Realität. Stammtischniveau ist, etwas, was man nicht belegen kann, in den
Raum zu stellen und der Öffentlichkeit zu präsentieren,
nur weil es einmal behauptet worden ist.
({9})
Über die Haftbedingungen und die durchschnittliche
Haftdauer existieren nach meiner Kenntnis keine bundesweiten Erhebungen. Die im Bericht des Antifolterkomitees des Europarates beklagten Zustände betreffen im
Übrigen nach den bisherigen Pressemeldungen nur eine
einzige Haftanstalt in Hamburg, in der sich zum Zeitpunkt der Untersuchung fünf bis sieben Abschiebungshäftlinge aufgehalten haben.
In Nordrhein-Westfalen liegen die Zahlen für den
Stichtag 28. Februar 2007 vor. Am 28. Februar dieses Jahres befanden sich 222 Personen und damit 106 Personen
weniger als noch vor einem Jahr in Abschiebehaft.
({10})
Die durchschnittliche Haftdauer beträgt nach Auskunft
der Behörden in Nordrhein-Westfalen 30 bis 40 Tage. Im
Übrigen: Wer die zentrale Haftanstalt in Büren in Nord9206
rhein-Westfalen kennt, wird die leichtfertigen Vorwürfe - heruntergekommene Haftanstalten - guten Gewissens nicht aufrechterhalten können, auch wenn Sie das
wohl wollen.
({11})
Bei diesen Fakten fragt man sich wirklich: Wo liegt
das Problem? Die Zahlen, die Fakten sprechen für sich
und damit eindeutig gegen die bösartigen Unterstellungen im Antrag der Fraktion Die Linke.
({12})
Festzuhalten bleibt: Wir brauchen die Abschiebehaft
({13})
zur Durchsetzung rechtmäßiger Ausweisungen. Die
nach unserem Grundgesetz für die Durchführung ausschließlich zuständigen Länder sind Garanten dafür, dass
diese auch ordnungsgemäß und nach rechtsstaatlichen
Grundsätzen durchgeführt werden.
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts an. Ich verweise nur darauf, dass es
selbst bei Anordnung von Untersuchungshaft - dabei
geht man von einem Straftatbestand aus - regelmäßig
keinen Anspruch auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gibt. Ein solcher Anspruch besteht nach dem Gesetz
ohnehin erst nach dreimonatiger Untersuchungshaft.
Diese Dauer wird bei der Abschiebehaft regelmäßig
nicht erreicht.
Abschließend - ich komme sonst mit der Zeit nicht
zurecht ({14})
möchte ich noch zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Stellung nehmen. Die von Ihnen an
die Bundesregierung gerichtete Forderung, bei den Verhandlungen um die Rückführungsrichtlinie der EU bestimmte, von Ihnen formulierte Grundsätze zu beachten,
halten wir - Josef Winkler, ich muss es deutlich sagen für überflüssig. Alles das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach
unserer Auffassung Standard, Gegenstand des geltenden
Rechts oder wird bei der jetzt vom Kabinett beschlossenen Gesetzesinitiative umgesetzt.
({15})
Dass mithin die Bundesregierung darauf hinwirken wird,
dass unsere Standards auch europaweit umgesetzt werden, halten wir für selbstverständlich.
Betrachtet man die vielfältigen Möglichkeiten des
Ausländerrechts sowie die Rechtsbehelfe, so kommt
man zu dem Schluss: Die Bundesrepublik Deutschland
beachtet alle notwendigen Standards bei Rückführungen.
Aus Fehlern, die in der Vergangenheit begangen wurden,
sind die notwendigen Konsequenzen gezogen worden.
Damit wird die Bundesregierung im Rat der Europäischen Union auch auf eine Richtlinie drängen, die den
notwendigen und in Deutschland üblichen Standards
entspricht.
Ich danke Ihnen.
({16})
Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländerrechts, mit dem man sich seriös beschäftigen sollte, Frau
Dağdelen, und nicht in der Form, wie Sie das hier gemacht haben.
({0})
Meiner Ansicht nach ist es kein vernünftiger Umgang
damit, wenn in dieser Art und Weise Behauptungen aufgestellt werden.
Der Umgang mit illegal sich in Deutschland aufhaltenden Menschen betrifft durchaus auch das Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragen der Durchsetzung der rechtsstaatlichen
Ordnung. Die vorliegenden Anträge kommen entsprechend mit humanitärer Absicht daher, erfassen aber die
Thematik nur rudimentär und verschweigen - das gilt für
beide Anträge - konsequent ihre Folgen für die deutsche
Zuwanderungspolitik.
({1})
In entlarvender Weise fordern Die Linken die Aufgabe der staatlichen Durchsetzungsmöglichkeit und damit quasi die Einstellung jeglicher Abschiebung aus
Deutschland. So einfach kann man sich das nicht machen; tut mir leid, wenn ich das so sagen muss.
Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosen
Leistungen, die Herr Brandt eben zu Recht ansprach, sind
unverhältnismäßig. Die Privilegierung illegal oder zumindest ohne Rechtsgrundlage eingewanderter Menschen gegenüber legal eingewanderten Menschen und gegenüber allen deutschen Staatsbürgern ist fragwürdig. Zu
Ende gedacht, ruft die Linkspartei unter dem Vorwand der
Menschenrechte zur weitgehenden Abschaffung vieler
Migrationssteuerungsinstrumente auf. Gleichzeitig aber
schimpft sie über Integrationsmängel, Schwarzarbeit, die
Spannungen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen
Sicherungssystemen. Das ist - tut mir leid, wenn ich auch
das so sagen muss - unlogisch und unrealistisch.
Hartfrid Wolff ({2})
({3})
Ein weitgehender Verzicht auf Abschiebungen, wie
der Antrag der Linkspartei ihn impliziert, stellt letztlich
einen massiven Anreiz zur illegalen Zuwanderung dar.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Vertretern der Linken eine naive Freude an unkontrollierter,
nicht steuerbarer Zuwanderung besteht. Dies ist gerade
auch für die Betroffenen unverantwortlich.
({4})
Es ist eben auch notwendig, illegale Migration zu unterbinden und keine falschen Hoffnungen zu schüren. Hier
müssen auch hemmende Maßnahmen, wie sie von der
EU vorgelegt worden sind, greifen.
Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht einen Verstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist,
gelinde gesagt, erheblich überzogen.
({5})
Wer die in Abschiebehaft Genommenen nur als arme Opfer darstellt, die sich in ihrem gesamten Leben niemals etwas zuschulden kommen lassen - wörtliches Zitat -, muss
sich nach seinem Rechtsverständnis fragen lassen. Jeder
Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendes Aufenthalts- und Zuwanderungsrecht zugrunde.
({6})
Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall ja angebracht sein mag: Die pauschale Herabsetzung rechtsstaatlichen Handelns, die Die Linke vornimmt, ist unangemessen.
({7})
Grundsätzlich halten wir Abschiebehaft jedoch für
durchaus gerechtfertigt und in einigen Fällen auch für
notwendig. Insofern können wir dem sehr viel detaillierteren und deutlich ausgewogeneren Antrag der Grünen
eher positive Seiten abgewinnen, weil die Grünen konkrete Probleme benennen und auch Lösungsvorschläge
aufzeigen. Aber, lieber Josef Winkler, ihr hattet 1998 unterschrieben, dass ihr euch mit der Abschiebehaft beschäftigen wollt. Dazwischen ist nichts passiert. Deswegen fand ich es etwas überraschend, jetzt die einzelnen
Punkte wieder zu lesen.
({8})
Wir stimmen den Grünen aber zu, wenn sie in ihrer
Antragsbegründung auf die drei essenziellen Aspekte
hinweisen, die die EU-Kommission beschlossen hat.
Demnach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr
gestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.
({9})
Eine individuelle Betreuung bzw. Bewertung jeder
einzelnen Lage ist notwendig. Aber institutionalisierte
und automatisierte Nachsicht mit denen, die sich nicht
an unsere Rechtsordnung halten, kann das Ansehen aller
Zuwanderer beeinträchtigen und die Rechtstreue im Alltag aushöhlen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Auch deswegen - letzter Satz - bleibt die Abschiebehaft ein letztes, aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen.
({0})
Es spricht jetzt der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat vor kurzem Flüchtlinge als Botschafter der weltweiten Ungerechtigkeit bezeichnet. Fast 70 Konfliktherde weltweit
führen derzeit dazu, dass sich laut UNHCR rund
40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen,
Menschenrechtsverletzungen und Armut befinden. Dass
Europa von ihnen lediglich 1 Prozent aufnimmt, ist allerdings ein Skandal.
({0})
Statt Schutz zu erhalten, werden Flüchtlinge an der
Einreise nach Europa gehindert. Diejenigen, die es trotzdem schaffen, werden massiv kriminalisiert. Hierzulande gelten Flüchtlinge per se als verdächtig, deutsches
Recht zu missbrauchen.
Von dieser Leitlinie ist auch die gestern beschlossene
Zuwanderungsnovelle geprägt. Bundesinnenminister
Schäuble legitimierte die aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen damit, dass man den Missbrauch von
Rechten verhindern müsste. Das heißt im Klartext:
({1})
Man setzt internationale Standards des Flüchtlingsrechts
nicht um, um zu verhindern, dass Flüchtlinge diese
Rechte missbrauchen. Diese Logik ist absurd und perfide.
Die deutsche Politik der Zuwanderungsbegrenzung,
die, statt sich um die Aufnahme von Flüchtlingen zu
kümmern, lediglich versucht, sie so schnell wie möglich
wieder loszuwerden, benötigt die Abschiebungshaft, um
Abschiebungen durchzusetzen. Was aus der Sicht der
Behörden als Verwaltungsakt daherkommt, bedeutet jedoch für Flüchtlinge einen massiven Eingriff in ihre
Freiheit; denn inhaftiert werden Menschen, die kein Verbrechen begangen haben. Ihr einziges Vergehen besteht
darin, nicht die richtigen Papiere zu besitzen.
Deutschland ist mit einer gesetzlich möglichen Inhaftierungsdauer von 18 Monaten Spitzenreiter der Abschreckung in Europa. Nirgendwo sonst in Europa können Menschen so lange in Haft genommen werden wie
hier. Deutschland ist eine treibende Kraft, Abschie9208
bungshaft als Mittel der Abschreckung in Europa zu
stärken.
({2})
In den Verhandlungen um die EU-Richtlinie für gemeinsame Normen der Mitgliedstaaten bei Abschiebungen
hatte sich gerade der deutsche Berichterstatter als
Scharfmacher hervorgetan. Er forderte, in der Richtlinie
eine Höchstdauer der Abschiebehaft von einem Jahr
festzuschreiben.
Meine Damen und Herren, in Berlin traten im
Frühjahr 2003 mehr als 60 Abschiebungshäftlinge in den
Hungerstreik. Circa 40 Menschen verletzten sich selbst
oder versuchten sogar, sich umzubringen. Ein paar Monate später protestierten in Schleswig-Holstein 33 Insassen ebenfalls gegen ihre schlechten Haftbedingungen.
Diese Liste könnte ich beliebig fortsetzen.
Abschiebehaft schafft Räume der Entrechtung und
der Erniedrigung. Abschiebehaft ist ein derart massiver
Eingriff in die Freiheit und Integrität von Flüchtlingen,
dass sie ersatzlos abgeschafft werden muss.
({3})
Bis dahin ist das Mindeste, was ein demokratischer
Rechtsstaat leisten muss, bestimmte Mindeststandards
einzuhalten und die Haft so kurz wie möglich zu halten.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt spricht Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir Menschen zwingen müssen, unser Land gegen
ihren Willen zu verlassen, dann ist das fast immer mit
menschlichen Tragödien verbunden. Das gilt umso
mehr, wenn sie sich schon viele Jahre in Deutschland
aufgehalten haben. Das wühlt viele von uns, die das sehen, vor allen Dingen dann auf, wenn es dabei um Familien mit Kindern geht, die in Deutschland aufgewachsen
oder sogar hier geboren sind.
Das beginnt im Übrigen nicht erst dann, wenn die Betreffenden unter Anwendung unmittelbaren Zwangs ins
Flugzeug gesetzt oder in Abschiebegewahrsam genommen werden, sondern es beginnt schon mit den vorausgegangenen Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteilen, mit denen ihnen mitgeteilt wird, sie müssten
Deutschland verlassen, obwohl sie vielleicht glaubten,
hier bei uns eine neue Heimat gefunden zu haben; denn
nunmehr erwartet sie ein ungewisses Schicksal oder
vielleicht Gefahr in ihren Herkunftsländern.
Andererseits kann der Staat auf die notfalls zwangsweise Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung nicht
verzichten. Denn würde sich unter den vielen Hundert
Millionen Menschen in der Welt, die in Armut und
Elend leben, oder bei den zig Millionen bereits auf der
Flucht befindlichen Menschen herumsprechen, dass, wer
immer deutschen Boden erreicht, auch hier bleiben kann,
würden wir einen - womöglich noch durch professionelle Schleuserbanden organisierten - Zustrom erzeugen, den wir niemals bewältigen könnten. Dies ist nun
einmal das vielfach traurige und auch unter humanitären
Gesichtspunkten oftmals nur schwer zu bewältigende
Spannungsfeld, in dem wir uns, ebenso wie die beiden
Anträge, um die es heute geht, bewegen.
Gerade deswegen war es - wenn ich das an dieser
Stelle einmal sagen darf - uns Sozialdemokraten wichtig, im Rahmen des jetzt auf uns zukommenden Gesetzgebungsverfahrens zur Umsetzung der elf EU-Richtlinien eine gesetzliche Bleiberechtsregelung für die
Menschen mit aufzunehmen, die bereits seit langer Zeit
in Deutschland leben und hier gut integriert sind. Ich
füge allerdings hinzu: Weit genug geht diese Bleiberechtsregelung eigentlich nicht, wenn man dieses Problem auf Dauer lösen will.
({0})
Es ist trotzdem eine wichtige Perspektive für die Menschen, deren Zahl ich jetzt gar nicht benennen will, die
davon potenziell betroffen sind, vor allen Dingen die
Kinder und Jugendlichen.
({1})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen zulassen?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben zwar gesagt,
dass Sie hier keine Zahlen nennen wollen; aber Sie haben doch besonders aufgrund Ihrer Verhandlungen auch
mit Ihrem Koalitionspartner einen Einblick in die Sachlage gehabt und können sicher eine ungefähre Einschätzung geben, wie viele Menschen von dieser Regelung
werden profitieren können.
({0})
Der Kreis der potenziell Begünstigten mag, wenn
man jetzt nur an die Fristen von sechs oder acht Jahren
denkt, vielleicht sogar an die 100 000 gehen. Wenn Sie
aber die sonstigen Kriterien, die Bestandteil der gesetzlichen Bleiberechtsregelungen sind, heranziehen, dann
werden Sie im Ergebnis feststellen müssen, dass sich der
Kreis der potenziell Begünstigten bei - so meine persönliche Einschätzung - maximal 60 000 bewegen wird,
was im Klartext heißt, es werden weiterhin immer noch
rund 120 000 Menschen im Zustand der Kettenduldung bei uns in Deutschland leben.
Aber, Frau Kollegin, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, ich sage das einmal in ganz persönlicher Bewertung: Wenn man diesen Menschen - sie bilden einen
Personenkreis von der Größe einer Mittelstadt, und die
Kinder und Jugendlichen machen vielleicht eine Kleinstadt aus - wenigstens eine konkrete Perspektive vermitteln könnte - mehr können wir in den nächsten zweieinhalb Jahren politisch wohl nicht erreichen -, dann wäre
das ein triftiger Grund, an anderer Stelle - das werden
wir im Gesetzgebungsverfahren dann auch tun - den
Wünschen unseres Koalitionspartners entgegenzukommen. Manche könnten sagen - wir werden darüber noch
debattieren -, der Preis sei zu hoch. Meine persönliche
Bewertung ist: Da es hier um eine Hilfeleistung für eine
Vielzahl von Menschen geht, ist es gerechtfertigt, sich so
zu verhalten.
Herr Kollege Veit, auch Herr Grindel möchten Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Grindel.
Herr Kollege Veit, stimmen Sie mir zu, dass die Bewertung der Bleiberechtsregelung nicht von der Zahl
derjenigen abhängen kann, die sich am Ende darauf berufen können? Wir geben nämlich denjenigen ein Bleiberecht, bei denen es humanitär nicht verantwortlich
wäre, sie in ihr Heimatland zurückzuschicken, weil sie
hier verwurzelt sind, weil insbesondere ihre Kinder hier
eine gute Perspektive haben und weil es im Interesse unseres Staates liegt, dass diese Menschen bei uns bleiben,
ohne dass es Verwerfungen gibt. Es kommt also mehr
auf den menschlichen und sozialen Hintergrund der ausländischen Mitbürger und nicht auf die Zahl der Betroffenen an, um die Bleiberechtsregelung hinsichtlich ihrer
Richtigkeit zu bewerten.
Herr Kollege Grindel, ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu. Sie haben eine ausgezeichnete Begründung
dafür geliefert, warum - das ist auch meine persönliche
Überzeugung - der Kreis der potenziell Begünstigten
hätte gesetzlich wesentlich weiter gefasst werden können. Ich bedanke mich für Ihre Frage.
({0})
Herr Kollege, Frau Dağdelen möchte eine weitere
Zwischenfrage stellen.
({0})
- Gut. Bitte schön, Herr Veit.
Ich darf nun zu dem hier zur Debatte stehenden Antrag der Linken kommen. Sie verlangen in erster Linie,
die Abschiebehaft gänzlich abzuschaffen. Was ich dazu
vom Grundsatz her zu bemerken hatte, habe ich getan.
Sie sind dabei nicht ganz konsequent. Denn in Ihrem
Antrag schlagen Sie eine Modifikation des gesamten
Rechtskomplexes vor, die völlig konträr zu der Forderung steht, die Abschiebehaft gänzlich abzuschaffen.
({0})
Auf dem Weg dorthin verlangen Sie unter anderem
auch die Streichung des § 62 Abs. 3 des Aufenthaltgesetzes und übersehen dabei, dass in dieser Vorschrift die
Regelung enthalten ist, dass die Abschiebehaft in der
Regel maximal nur sechs Monate dauern kann. Das
heißt, diese zeitliche Begrenzung gibt es nicht mehr,
wenn Sie die Vorschrift ersatzlos abschaffen. Sie erlauben, dass ich an dieser Stelle meine Bedenken anmelde,
ob Ihr Antrag hinreichend durchdacht ist.
Ich will auch dazu etwas sagen, warum ich nicht der
Meinung bin, dass es sinnvoll wäre, die Anordnung der
Abschiebehaft den Verwaltungsgerichten zu übertragen.
Zum einen haben Haftrichter bei den Amtsgerichten
sehr viel mehr Erfahrung hinsichtlich der Haft; sie wissen auch sehr viel genauer, wohin sie die Leute schicken
müssen. Zum anderen sind Amtsrichter in der Regel sowohl zeitlich - Stichwort Bereitschaftsdienst, 24 Stunden jeden Tag - als auch räumlich sehr viel besser erreichbar als Richter an Verwaltungsgerichten.
Aus meiner Erfahrung kann ich aber vor allem sagen,
dass es ausgerechnet die Richter in den Oberlandesgerichtsbezirken Frankfurt und München sind, die im Interesse der Betroffenen - das ärgert manchmal die Ausländerbehörden - eine eher liberale Rechtsprechungspraxis
an den Tag legen, wenn es um die Anordnung oder Verlängerung der Abschiebehaft geht. Also geht auch diese
Forderung nicht in die richtige Richtung.
Sie kritisieren zudem, dass in dem jetzt in Rede stehenden Gesetzentwurf zusätzliche Sanktionen im Bereich der Abschiebehaft enthalten sind. Dazu will ich Ihnen Folgendes sagen:
Zum einen ist es so, dass wir mit einer Neufassung
des § 62 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes klarstellen, unter welchen dann engeren Voraussetzungen als bisher
Verwaltungsbehörden, Ausländerbehörden Menschen
vorübergehend in Haft nehmen können, bis sie dann dem
Richter vorgeführt werden müssen, und zwar, wie der
vorgesehene Wortlaut besagt, unverzüglich.
Zum anderen ist es so, dass wir uns im Bereich des
Transitgewahrsams auf Drängen der SPD mit unserem
Koalitionspartner haben darauf verständigen können,
dass nach längstens 30 Tagen ein Richter das Verbleiben
in der Flughafenunterkunft bestätigen muss. Das ist
deswegen wichtig und keineswegs selbstverständlich,
weil sehr viele der Betroffenen aufgrund von sogenannten, wie ich immer fand, sehr fragwürdigen Freiwilligkeitserklärungen erklären, sie würden lieber in der Flughafenunterkunft bleiben, als in Abschiebehaft zu gehen.
Ich glaube, das ist durchaus ein richtiger Schritt in die
richtige Richtung.
Was nun den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen angeht: Sie beziehen sich in der Begründung
- ich nehme an, auch in dem, was Sie jetzt mündlich
vortragen werden - in der Tendenz zu Recht auf den
Vorschlag einer Richtlinie der EU-Kommission vom
5. September 2005 und weisen ebenso zu Recht darauf
hin, dass die Beratungen darüber leider ins Stocken geraten sind, übrigens schon in der Arbeitsgruppe „Migration und Rückführung“, also noch nicht einmal im
Ministerrat selber. Es gab dann unter der finnischen Präsidentschaft mit Datum vom 6. Oktober und 13. November 2006 noch Änderungen an diesem Vorschlag, die ich
inhaltlich als Rückzieher gegenüber den ursprünglichen,
wie ich glaube, sehr vernünftigen und abgewogenen
Vorstellungen bezeichnen möchte.
Nunmehr hat der Rat der Europäischen Union am
28. Februar 2007 unter deutschem Vorsitz nur noch eine
Umsetzung der Richtlinie in Teilschritten vorgesehen
und den Rest eher auf die lange Bank geschoben, was
ich bedauern würde. Gerade was die Frage der Ingewahrsamnahme und der Sicherung der Abschiebung angeht, bezieht sie sich im Wesentlichen auf das nationale,
deutsche Recht und ist in dieser Hinsicht, gemessen am
Maßstab der ursprünglichen Richtlinie und des Vorschlages, zu weitgehend.
({1})
Es ist das unbestreitbare Verdienst des Antrags des
Bündnisses 90/Die Grünen, darauf hinzuweisen, dass
auf europäischer Ebene ein wichtiger Gesetzgebungsprozess - das ist er nämlich - im Gange ist, auf den wir
als nationales Parlament antworten und in den wir uns
einschalten müssen, anstatt uns immer nur hinterher,
wenn eine Richtlinie vorliegt, Gedanken zu machen, wie
wir das jetzt in nationales Recht umsetzen. Dies ist umso
wichtiger, als wir diese Richtlinie bereits am 8. März
2006, wie mir meine Mitarbeiter herausgesucht haben,
auf der Tagesordnung des Innenausschusses hatten, das
dann aber ohne nähere Begründung vertagt haben. Ich
begrüße es, dass wir diese Problematik vor dem Hintergrund Ihres Antrages jetzt wieder im Innenausschuss
aufrufen.
Lassen Sie mich eine nicht ganz bierernst gemeinte
Schlussbemerkung politischer Art machen. Wir hatten
1998 in der Koalitionsvereinbarung zwischen Rot-Grün
den Satz festgelegt - darauf ist zu Recht hingewiesen
worden -: Wir wollen die Abschiebungshaft und das
Flughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeit
überprüfen.
({2})
In der alten Koalition haben wir dann zumindest erreicht,
dass durch die Einrichtung einer neuen Unterkunft am
Frankfurter Flughafen sowohl für die betroffenen Menschen als auch die dort tätigen Bediensteten recht vernünftige, humanitär erträgliche Bedingungen geschaffen
worden sind. Damit ist ein Großteil der schwierigen Diskussion in der Praxis erledigt worden. Aber mehr - das
muss man klar und deutlich sagen - haben wir nicht erreicht.
In den Koalitionsverhandlungen 2005 mit unserem
neuen Koalitionspartner, der CDU/CSU, hatten wir - ich
darf das sagen, ohne Betriebsgeheimnisse preiszugeben schon verschiedentlich unsere Last, sie zu bitten, auf die
Aufnahme weiterer Abschiebungshaftgründe in das Gesetz zu verzichten. Das ist uns gelungen. Ich habe vorhin
gesagt, es gebe einen Richtervorbehalt. Auch bei Transitgewahrsam muss jetzt nach 30 Tagen ein Richter eingeschaltet werden. Ich denke, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Zusammengenommen - das gilt für die rot-grüne Regierungszeit genauso wie für das, was wir bisher in Umsetzung der Koalitionsvereinbarung gemacht haben - ist
das vielleicht nicht unbedingt als glorreich zu bezeichnen. Es wäre erfreulicher, eine Reform des nationalen
Rechtes nach Maßgabe des EU-Richtlinienvorschlages
vorzunehmen. Ich würde mir wünschen, dass der deutsche Ratsvorsitz in dieser Hinsicht mutig, offensiv, klar,
eindeutig und geradlinig voranschreitet.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef
Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Fraktion setzt sich seit langem dafür ein, die Anordnungsdauer von Abschiebehaft auf ein
Mindestmaß zu begrenzen. Wir vertreten die Position,
dass Abschiebehaft lediglich der Sicherung einer Abschiebung dienen darf. Das heißt, nur dann, wenn sich
jemand der Abschiebung erkennbar entziehen will, darf
Abschiebehaft verhängt werden. Wenn das in dieser Art
und Weise durchgeführt würde, könnte, nebenbei bemerkt, eine große Anzahl der in Deutschland befindlichen Abschiebehaftanstalten geschlossen werden.
Des Weiteren setzen wir uns seit langem dafür ein,
dass Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen; denn
die schwerwiegenden psychischen Folgen, die Haft besonders auf Kinder und Jugendliche haben kann, sind offensichtlich und bedürfen, glaube ich, keiner weiteren
Erläuterung.
Dass die Abschiebehaft auf den Prüfstand gehört
- zumindest in der Art und Weise, wie sie im Moment
durchgeführt wird -, ist inzwischen durch zahlreiche
Dokumentationen und Berichte belegt. Auf die hohe Anzahl von Suiziden wurde bereits hingewiesen. Leider
Gottes ist der Befund des Vorsitzenden Richters am Hessischen Verwaltungsgerichtshof, von Herrn GöbelZimmermann, aus dem Jahre 1996 noch immer aktuell.
Er sagte:
Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zu
oft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzogen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mit
gerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfehlern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belastet, sodass es zu einer nicht unerheblichen Zahl fehlerhafter Entscheidungen kommt.
Die hohe Anzahl an Menschen, die entlassen wird - es
sind 30 bis 40 Prozent -, zeigt, dass das nicht ganz falsch
ist.
({0})
Nach Auffassung meiner Fraktion hätte die Bundesregierung schon lange die Konsequenzen aus der Diskussion über mildere Mittel, die sich stärker am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientieren, ziehen müssen. Das
Problem ist in dem Gesetzentwurf, der eben angesprochen wurde, in diesem großen Paket, nicht befriedigend
gelöst worden.
Wir sagen, dass § 62 Aufenthaltsgesetz so geändert
werden sollte, dass dieser schwerwiegende Eingriff in
die Freiheitsrechte des Einzelnen auf absolute Ausnahmefälle beschränkt wird. Wir orientieren uns dabei an
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Im
Jahr 2000 hat es entschieden, dass die bisher übliche
Haftdauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nicht
verhältnismäßig ist.
Die EU-Richtlinie, die unter anderem von dem Kollegen Veit schon angesprochen wurde, sieht eine maximale Dauer der Abschiebehaft von sechs Monaten vor,
zumindest war das im September 2005 noch der Fall.
({1})
- Der Kollege sagt: „Acht.“ - Inzwischen hat sich das
geändert; darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen.
Herr Kollege Brandt, die Vorgehensweise der Bundesregierung war bisher nicht so rühmlich, wie Sie behauptet
haben. In unserem Antrag haben wir den aktuellen Stand
der Verhandlungen ausführlich geschildert. Das, was Sie
dargestellt haben, deckt sich nicht mit unserer Kenntnis
über die Vorgehensweise der Bundesregierung.
({2})
Das können Sie gerne noch einmal nachlesen. Aus den
Reihen Ihrer Koalition wurde unser Antrag ja ausdrücklich gelobt. Vielleicht stellen Sie, wenn Sie sich unseren
Antrag durchlesen, ja fest, dass Sie sich ihm anschließen
können.
Unser Antrag betont im Gegensatz zu dem der Linksfraktion die europäische Dimension. Das ist wichtig,
weil die Verhandlungen der Bundesregierung auf europäischer Ebene zurzeit darauf hinauslaufen, dass man
sich hinsichtlich der humanitären Aspekte, die in dieser
Richtlinie festgelegt werden, auf einen Minimalkonsens
einigt und es den Mitgliedstaaten überlässt, wie repressiv sie vorgehen wollen.
({3})
Unsere Kriterien, die wir an eine faire Richtlinie stellen, lauten - das sage ich in aller Kürze -: Schutzbedürftige sollten nicht abgeschoben werden; Familien dürfen
nicht getrennt werden; Rechtsmittelzugang muss gewährleistet sein; soweit wie möglich soll Abschiebehaft
das letzte Mittel sein; die humanitären Standards bei den
Flugabschiebungen müssen verbessert werden und dürfen auf keinen Fall hinter den innerhalb der Bundesrepublik Deutschland bereits geltenden Bestimmungen über
die Rückführung ausländischer Staatsangehöriger auf
dem Luftweg zurückfallen.
({4})
Diese waren als Reaktion darauf erlassen worden, dass
der sudanesische Staatsangehörige Amir Ageeb im
Mai 1999 bei einer Abschiebung durch den Bundesgrenzschutz zu Tode gekommen ist.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass über diese EU-Richtlinie von der Bundesregierung besser verhandelt wird,
({5})
also von denen, die jetzt nicht mehr anwesend sind, aber
bis eben noch anwesend waren.
Herr Kollege, bitte.
Wir hoffen, dass die Bundesregierung dabei von den
Kollegen aus dem Parlament, denen sie vielleicht zuhört,
im Innenausschuss unterstützt wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3537 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 16/4851 soll zur federführenden Beratung
an den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sowie
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
- Drucksache 16/4664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2007
({2})
- Drucksache 16/4376 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3})
- Drucksache 16/4881 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Schauerte.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute den Entwurf des ERPWirtschaftsförderungsneuordnungsgesetzes. Jetzt beginnt
die parlamentarische Beratung. Die Eingeweihten haben
schon viele Beratungen zur Vorbereitung des Gesetzentwurfs hinter sich. Sie wissen, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass das ERP-Vermögen neu geordnet wird. Das ist jetzt auf der Agenda.
Verabredet war, dass 2 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt werden - das ist im Entwurf des Gesetzes
vorgesehen - und dass Forderungen und Verbindlichkeiten in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro, die bisher dem
ERP-Sondervermögen zugeordnet waren, mit Aktiva
und Passiva, so wie sie sind, in die Zuständigkeit des Finanzministers übertragen werden. Es gab an der Stelle
immer wieder die Forderung des Haushaltsausschusses,
solche Forderungen und Verbindlichkeiten aus Nebenhaushalten herauszunehmen und in die Gesamtverantwortung des Finanzministers zu überstellen. Auch dem
wird Rechnung getragen.
Es ging in diesem Zusammenhang um drei wesentliche Aspekte: um den Substanzerhalt, um das Fördervolumen und um die Mitwirkung der Amerikaner. Über
diese drei Komplexe müssen wir diskutieren.
Zunächst zum Substanzerhalt. 2 Milliarden Euro gehen in den Haushalt; 2 Milliarden Euro fließen aus
Rückstellungen und Rücklagenbildung in der Vergangenheit zurück. Deshalb kommen wir zu dem Fazit: Die
Substanz des Sondervermögens bleibt erhalten. Es wird
sich auf die alte, bewährte Höhe jenseits von 12 Milliarden Euro belaufen. Die Risiken bei den Rückstellungen
- soweit welche angefallen sind - übernimmt der Finanzminister. Die Rücklagen werden vom Finanzminister auf das ERP-Sondervermögen beim BMWi übertragen. Insoweit glaube ich, dass wir der Verpflichtung, die
Substanz zu erhalten, nachgekommen sind.
Was ist mit den Erträgen? Zunächst einmal besteht im
gesamten Parlament der Wunsch, dass wir sie zusammenhalten und dass Wirtschaftsförderung und Mittelstandsförderung ungeschmälert und nachhaltig gewährleistet
werden. Ich gehe davon aus, dass wir das mit den jetzigen Annahmen erreichen können.
Durch eine andere Anlage der Erträge erhöhen wir
die Effizienz und stärken die Sicherheit. Die Gelder sind
bisher zu einem kleinen Teil in der KfW und zum Teil im
Markt angelegt und haben Erträge erzielt, die etwa zwischen 4,5 und 5 Prozent liegen. Das sind grobe Zahlen;
ich will das hier in der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen
vortragen. Die Anlageentscheidung ist zum Teil über die
KfW, zum Teil über das ERP-Sondervermögen und das
BMWi getroffen worden. Ausgegeben haben wir immer
nur die Erträge. Wir haben sogar Rückstellungen gebildet, um die Substanz weiterzuentwickeln.
Jetzt sagen wir, dass die Hälfte dieser frei angelegten
Beträge in Höhe von 9,3 Milliarden Euro, also 4,65 Milliarden Euro, als Eigenkapital und weitere 3,1 Milliarden
Euro als Nachrangkapital in der KfW angelegt werden
sollen. Ein Vermögensbestandteil in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, mit dem wir zum Beispiel bisher bei Airbus begleitend tätig waren, bleibt außerhalb dieser neuen
Anlageentscheidung. Was auch immer in der Zukunft
daraus wird - zurzeit wird an der Stelle nichts verändert.
Diese Anlageform ist nachhaltig. Sie ist sicherer als
die bisherigen Anlagen und ertragreich. Der Ertrag, den
wir dadurch erzielen, ist mindestens so hoch wie der, den
wir bisher erzielt haben. Wie haben in den Verträgen und
in den Regelungen, die wir getroffen haben, festgelegt,
dass wir pro Jahr Erträge von mindestens 590 Millionen
Euro zu erwirtschaften und abzuliefern haben. Sie sind
dann, nachdem Rückstellungen für den Substanzerhalt in
der Zukunft gebildet worden sind, wie bisher für die Förderung der Wirtschaft und des Mittelstands einzusetzen.
Damit das für alle Zweifler ganz klar ist: Wir legen
das ERP-Vermögen jetzt im Wesentlichen bei der KfWBank an. Wir bleiben also Eigentümer. Wir hätten dieses
Vermögen auch anders anlegen können. Dann würden
wir möglicherweise höhere Erträge erwirtschaften,
müssten aber auch größere Risiken eingehen. Es wurde
die Grundentscheidung getroffen, dass wir das ERP-Vermögen auf diese Weise anlegen.
Dazu möchte ich noch eine Bemerkung machen: Die
politischen Entscheidungen im Hinblick auf dieses Vermögen trifft nach wie vor der Bund. Bei allem Abstand
ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau immer noch eine
Bank des Bundes. Wir geben dieses Geld also nicht in
eine fremde Struktur, sondern in unsere eigene Struktur.
Insoweit sei gerade denjenigen, die wollen, dass das Parlament entscheidungsbefugt bleibt, gesagt: Die Befugnis
des Parlaments, über das ERP-Vermögen zu entscheiden,
ist bei dieser Form der Anlage mindestens so groß, wie
es bei einer anderen Anlageform der Fall gewesen wäre.
Die Erträge sind vorrangig sicherzustellen. Das haben
wir durch das Gesetz und durch den Vertrag zwischen
dem ERP-Sondervermögen und der Kreditanstalt für
Wiederaufbau geregelt, den wir dem Parlament ebenfalls
zur Beratung vorgelegt haben. Dem Parlament ist also
bereits im Rahmen der ersten Beratung eine Befassung
mit dem untergesetzlichen Regelwerk angeboten worden. Das ist, wie ich meine, eine faire Art und Weise des
Umgangs miteinander. Das ERP-Sondervermögen bleibt
Eigentümer des nun weitgehend in der KfW gebundenen
Kapitals.
Nun komme ich zum zweiten wichtigen Punkt: Die
Erträge sind gesichert. Wer entscheidet über die Erträge?
Wir sagen: Das machen, wie auch bisher, das BMWi und
das Parlament. Das BMWi stellt, wie auch in der Vergangenheit, gemeinsam mit der KfW die Haushaltspläne
und den Jahreswirtschaftsbericht über diese Erträgnisse
auf, und das Parlament berät und entscheidet darüber.
Sollte bei der Durchsicht des Vertrages der Eindruck
entstehen, dass die Rechte des Parlaments an dieser
Stelle nicht hinreichend klar formuliert sind, dann bleibt
es dem parlamentarischen Verfahren überlassen, ob an
dieser Stelle noch nachgebessert werden kann, um etwaige Unklarheiten zu beseitigen. Ich kann nur sagen: Wir
als vorlegendes Haus wollen, dass das Parlament in vollem Umfang entscheiden kann, wie die Erträge zur Förderung des Mittelstandes geplant, bewirtschaftet und
eingesetzt werden.
({0})
Sollte zu irgendeinem Zeitpunkt ein Veto der Kreditanstalt für Wiederaufbau drohen, dann ist das nicht beabsichtigt. Darüber können wir im Beratungsverfahren
miteinander reden. Das kann ich, ohne irgendeiner Verhandlung vorzugreifen, sagen.
Nun möchte ich noch ein paar Bemerkungen zur Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika machen; denn dieses Thema wird momentan besonders in
den Mittelpunkt gerückt. Ich kann nur in aller Klarheit
sagen: Wir haben uns exakt an die Informationen und
Vorgehensweisen gehalten, die wir mit den Amerikanern
vereinbart haben; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Zunächst einmal äußerten die Amerikaner die Bitte - das
ist auch vernünftig -, erst dann informiert zu werden,
wenn wir unsere Entscheidung einigermaßen abgeschlossen haben. Den Gesetzentwurf, den wir dem Kabinett zur Beratung vorlegen wollten, haben wir vorher der
amerikanischen Seite übersandt. Wir haben den Vereinigten Staaten auch bereits vor der ersten Lesung das untergesetzliche Regelwerk, nämlich den Vertrag, übergeben.
Der Vorsitzende des Unterausschusses, Hans
Michelbach, weiß ganz genau, dass wir uns schon zu
einem sehr frühen Zeitpunkt in einer nichtöffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses
({1})
- da hören alle sofort spitz zu -, des Unterausschusses
dafür ausgesprochen haben, dass die amerikanische
Seite an dieser Sitzung teilnehmen sollte. Bei aller Bereitschaft, zu streiten, möchte ich daher darauf aufmerksam machen: An dieser Stelle sind wir weiter gegangen,
als es, was die internationalen Gepflogenheiten angeht,
üblich ist.
({2})
In einer nichtöffentlichen Sitzung, also bevor das Parlament informiert wird, eine befreundete Macht an der Beratung zu beteiligen, war nur gerechtfertigt, weil wir besonderen Respekt vor der Situation hatten, in der das
ERP-Vermögen nach dem Kriege im Rahmen des Marshallplans entstanden ist.
({3})
Sonst hätte man es nicht verantworten können. Ich bitte
alle, aus dieser Situation jetzt aber keinen Nebenkriegsschauplatz werden zu lassen, auf dem wir uns am Ende
mehr Ärger einhandeln als Freude. Wir werden mit den
Amerikanern weiterverhandeln. Sie haben angekündigt,
eine Delegation zu schicken - es ist ja besser zu reden
als Schriftstücke auszutauschen -, die in der ersten oder
zweiten Woche nach Ostern hierher nach Berlin kommen wird. Wir werden das weitere Vorgehen und die Bewertung dieser Vorgehensweise mit den Amerikanern
freundschaftlich erörtern.
Dass ausgerechnet am Tag vor der Veranstaltung der
G 8 in Heiligendamm der 60. Geburtstag des Marshallplans zu begehen ist, ist eine besondere Tücke oder
- wenn Sie so wollen - ein gewisser Charme der Geschichte. Wir haben einen Brief der amerikanischen
Seite bekommen. Den werden wir jetzt prüfen, und wir
werden ihn ordnungsgemäß beantworten.
Aber ich sage Ihnen: Nach der Vorbereitung erwarte
ich konstruktive Beratungen im Parlament. Ich freue
mich insbesondere auf die Gespräche mit der amerikanischen Seite, die wir nach Ostern ausführlich und an der
Sache orientiert führen werden. Ich glaube, das, was wir
hier vorlegen, ist ganz ordentlich.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Zeil, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wilhelm Busch hat einst gereimt:
Das Gute - dieser Satz steht fest - ist stets das
Böse, was man läßt!
Die FDP-Fraktion hat die Regierungen in den letzten
acht Jahren immer vor der bösen Tat gewarnt. Bis zum
Regierungswechsel hatten wir unsere Freunde von der
Union dabei an unserer Seite.
({0})
Für uns ist festzuhalten: Das ERP-Vermögen eignet
sich aus vielerlei Gründen nicht als Steinbruch für den
Bundeshaushalt und auch nicht als Kapitalspritze für
staatliche Großbankträumereien.
({1})
Der Mittelstand in Deutschland ist mit der umsichtigen
Verwaltung dieses Treuhandvermögens und mit der klugen, von allen Regierungen getragenen Förderpolitik
jahrzehntelang sehr gut gefahren. Es gibt nicht den geringsten Grund, hieran irgendetwas zu ändern.
({2})
Sie wollen heute mit dem Gesetz zur Neuordnung der
ERP-Wirtschaftsförderung einzig und allein die Begehrlichkeiten Ihres Finanzministers bedienen.
({3})
Dabei verwickeln Sie sich zusehends in Widersprüche:
Zunächst mussten die 2 Milliarden herhalten, um zu sagen, Deutschland muss das Maastrichtkriterium endlich
wieder einhalten. Nun, nach der größten Steuererhöhung
in der deutschen Geschichte, ist Ihnen dieses Argument
aus der Hand geschlagen. Jetzt rücken die Großbankfantasien wieder in den Vordergrund: 9,3 Milliarden Euro
aus dem Treuhandvermögen des Mittelstandes sollen
die zweitgrößte deutsche Bank außerhalb der Bankenaufsicht entstehen lassen. Ordnungspolitisch, aber auch
wettbewerbspolitisch ist das ein Sündenfall ersten Ranges. Hier wäre eigentlich der Wirtschaftsminister gefordert. Aber er schweigt - wieder einmal.
Hätte man es nur darauf angelegt - wofür ja viel
spricht -, Effizienzsteigerungen in dem ERP-Vermögen
zu erzielen, so hätte die Anlage in einem sauberen Verfahren öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Auch
die vorgesehene Zinsregelung ist weder marktgerecht
noch auf Dauer ausreichend für den Substanzerhalt.
Und, Herr Schauerte - Sie haben das zwar etwas verkleistert -: Erst nach Ablauf des Förderjahres ist künftig
eine Berichterstattung des Ministeriums gegenüber dem
Bundestag im Gesetz vorgesehen. Damit wird der Bundestag einer wichtigen Mitwirkungsmöglichkeit beraubt.
({4})
Lassen Sie uns trotz aller Winkelzüge und kosmetischer Bemühungen festhalten: Die Selbstständigkeit und
Unantastbarkeit des ERP-Vermögens in seiner Substanz
wird auf dem Altar Ihrer Koalitionsabsprache geopfert.
({5})
Sie können noch so viele Parlamentsvorbehalte und
schöne Absichtserklärungen in das Gesetz hineinschreiben - an der Verfügungsgewalt des KfW-Vorstandes, an
der Entmachtung des Parlaments ändert dies alles nichts.
Und das schlechte Gewissen, meine Damen und Herren von der Koalition, dringt Ihnen ja schon aus den Poren. Es ist ja anders nicht zu erklären, dass uns versprochene Unterlagen entweder viel zu spät oder gar nicht
erreichen. Dieses Gesetz soll so schnell wie möglich
durch das Parlament gepeitscht werden als willfähriger
Erfüllungsgehilfe des Finanzministers.
({6})
Und wie das so ist mit den bösen Taten, Frau Kollegin
Berg: Es schleichen sich auch gravierende Fehler ein.
({7})
Die jüngste Reaktion der USA - Sie lachen: aber ich
finde das, ehrlich gesagt, gar nicht zum Lachen -, von
der wir übrigens erst aus der Zeitung erfahren mussten,
obwohl der Brief von Mitte März datiert, spricht Bände.
Die Vereinigten Staaten haben sich unverblümt zum Verfahren, zum Stil und zum Inhalt geäußert.
({8})
Und wir haben immer davor gewarnt, Frau Kollegin,
ausgerechnet in dieser Frage kleinkariert auf Rechtsstandpunkten zu beharren. Es verbietet sich unseres Erachtens, dem amerikanischen Volk als dem großherzigen
Geldgeber ausgerechnet kurz vor dem 60. Geburtstag
mit dieser unsensiblen Tollpatschigkeit zu begegnen,
meine Damen und Herren.
({9})
„Geschichtsvergessen“ nannte dies gestern die „Financial Times“.
({10})
Und ich füge hinzu: Selbst die größte Haushaltsnot
würde es nicht rechtfertigen, die Grenzen der Peinlichkeit in dieser Weise zu überschreiten.
({11})
Tätige Reue, meine Damen und Herren von der Koalition, reinigt bekanntlich von den Sünden. Beschreiten
Sie die im Schreiben der USA vom 16. März gebaute
goldene Brücke und nehmen Sie Ihren Gesetzentwurf
zurück oder setzen Sie wenigstens das Verfahren aus!
({12})
Wir sollten den freundlich formulierten Vorschlag der
Amerikaner aufgreifen und den 60. Jahrestag nutzen, um
- ich zitiere wörtlich - „gemeinsam über innovative
Wege zur Nutzung der Gelder in Übereinstimmung mit
den ursprünglichen Zielen des Marschall-Plans zu sprechen“.
({13})
Die FDP-Fraktion würde einen solchen Weg konstruktiv begleiten.
({14})
Eine Plünderung und Zweckentfremdung des ERP-Vermögens aber, wie Sie dies mit Ihrem Gesetz machen,
wird weiterhin auf unseren entschiedenen Widerstand
stoßen.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Zeil, den Vertrag und das Gesetz
durch das Parlament peitschen? Wir können Parlamentsvorbehalte beschließen, wie wir das wollen. Herr Zeil,
meine Damen und Herren von der FDP, sagen Sie doch
einfach, dass Sie das Ganze ablehnen wollen.
({0})
Das wäre doch ehrlicher, als wenn Sie das jetzt hier mit
diesen Dingen bemänteln.
({1})
In der Tat findet heute die erste Lesung von zwei
Gesetzen statt; sie werden eingebracht. Zum einen ist
dies der Regierungsentwurf zum ERP-Wirtschaftsplangesetz 2007 - darüber hat noch niemand ein Wort
verloren -, zum anderen ist dies das Gesetz zur Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung. Gestatten Sie
mir, zumindest ein Wort zum ERP-Wirtschaftsplangesetz 2007 zu sagen; denn wir haben es zumindest im
Unterausschuss immerhin einstimmig beschlossen.
({2})
Diejenigen, die uns zuhören, sollten das vielleicht auch
einmal wissen.
Für Existenzgründungen und Wachstumsfinanzierungen sind 1,1 Milliarden Euro, für Innovationsförderungen 850 Millionen Euro, für Vorhaben in regionalen Fördergebieten 650 Millionen Euro und für mittelständische
Bürgschaftsbanken sowie die Refinanzierung privater
Kapitalbeteiligungsgesellschaften und Beteiligungsfonds 350 Millionen Euro vorgesehen. Insbesondere aus
unseren Reihen haben viele Wert darauf gelegt, dass es
darüber hinaus auch jede Menge Stipendienprogramme
gibt. Auch die Mittelabflüsse sind gestiegen. Das muss
man an dieser Stelle vielleicht auch einmal sagen.
Wenn wir uns die Zahlen der Mittelzusagen anschauen und sie vergleichen, dann stellen wir fest, dass
es im Jahre 2006 gegenüber 2005 einen Zuwachs von
70 Prozent gab. Es lohnt sich an dieser Stelle also, für
diese Mittelstandsfinanzierung zu streiten. Das sollte
man vielleicht auch einmal erwähnen, damit verstanden
wird, warum wir hinsichtlich des ERP-Wirtschaftsplangesetzes eine solche Neuordnung vornehmen wollen und
was unser eigentliches Herzblut dahinter ist.
Herr Schauerte, Sie haben den Koalitionsvertrag bereits erwähnt - unter anderem auch den Mittelabfluss in
Höhe von 2 Milliarden Euro. Wir haben aber auch ganz
klar gesagt, dass wir die Substanz erhalten wollen. Dazu
hat Ihr Haus ja auch ein Gutachten in Auftrag gegeben.
Dabei kamen zwei Ergebnisse heraus: Erstens. Der dauerhafte Erhalt der ERP-Wirtschaftsförderung ist nur
möglich, wenn neben der laufenden Förderung auch der
Substanzerhalt gewährleistet ist.
Zweitens werden für Förderung und Substanzerhalt
jährlich mindestens 590 Millionen Euro benötigt, und
zwar 300 Millionen Euro zur Finanzierung neuer Förderleistungen und 290 Millionen Euro, um den Substanzerhalt sicherzustellen.
Neben dem Substanzerhalt des Sondervermögens war
uns bei der Entscheidung auch die Beteiligung des Parlaments wichtig. Das haben wir im Unterausschuss einvernehmlich beschlossen.
Der Vertrag ist uns - darin will ich der Bundesregierung zur Seite springen - vor der ersten Beratung versprochen worden. Das war so vereinbart; das können Sie
dem Protokoll entnehmen.
({3})
Insofern bitte ich Sie im Rahmen unseres fairen Miteinanders, das wir um der guten Sache willen in der Vergangenheit gepflegt haben, dazu zu stehen, statt den Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung würde etwas
vorenthalten. Das ist nicht der Fall.
({4})
Insbesondere der Vertrag, der zwischen der KfW und
dem Bund im Rahmen der Neuordnung auszuhandeln
war, erfüllt die Vorgaben mit Leben. Das Bundeswirtschaftsministerium bleibt - das ist ein wichtiges Kriterium - Verwalter des ERP-Sondervermögens und setzt
den Wirtschaftsplan zusammen mit der KfW um. Das ist
nicht nur im Gesetzentwurf, sondern auch im Vertrag
eindeutig festgelegt.
Das Fördervolumen und die Förderintensität der
ERP-Wirtschaftsförderung bleiben uneingeschränkt erhalten. Das neu in der KfW angelegte Kapital des Sondervermögens bleibt weiterhin ausdrücklich der Wirtschaftsförderung gewidmet. Die Maßnahmen dienen
insbesondere der Effizienzsteigerung.
Jetzt stellt sich die Frage, wie das Parlament ins Spiel
kam. Herr Staatssekretär, Sie haben festgestellt, dass es
Christian Lange ({5})
Ihres Erachtens ausreichend gewürdigt wurde. Im Text
wird das Parlament allerdings nicht direkt erwähnt. Wir
werden uns damit zu befassen haben - wir werden dazu
eine Anhörung durchführen, die wir voraussichtlich
morgen im Wirtschaftsausschuss beschließen werden -,
wie das Parlament noch besser beteiligt werden kann.
Ob das im Gesetz oder im Vertrag geschieht, wird sich in
der Anhörung zeigen. Insofern gilt auch hier: gemach,
gemach! Wir haben uns darauf verständigt, und die Koalitionsfraktionen haben es fest im Blick.
({6})
Der nächste Punkt ist die Wettbewerbsverzerrung.
Die Bundesregierung hat die Frage einer möglichen
Wettbewerbsverzerrung durch die Kapitalverstärkung
der KfW auch im Hinblick auf das EU-Beihilferecht prüfen lassen. Wie Sie wissen, kam man zu dem Ergebnis,
dass keine aus EU-beihilferechtlicher Sicht bedenkliche
Maßnahme ergriffen worden ist. Dennoch will ich darauf
hinweisen, dass das in die KfW eingebrachte Kapital
vollständig zweckgebunden ist - Sie haben das Thema
Großbank bzw. Staatsbank angesprochen -; es darf nur
zur Mittelstandsförderung eingesetzt werden. Volumen
und Intensität der Förderung bleiben auf bisherigem Niveau. Die KfW gewinnt hierdurch weder neue Geschäftsfelder noch neue Kundengruppen. Kurzum, es
können mit dem Kapital keine Industriebeteiligungen
der KfW oder Ähnliches finanziert werden.
Ich weiß, dass es diffuse Sorgen gibt, die aber keinen
realen Hintergrund haben. Der Gesetzentwurf und der
Vertrag sind an dieser Stelle eindeutig. Deshalb meine
ich, dass man diese Sorgen nicht schüren sollte. Man
sollte vielmehr darauf verweisen, dass es nicht möglich
wird, neue Kundengruppen zu akquirieren oder die Mittel für andere Zwecke als die Mittelstandsförderung einzusetzen.
Wie ich weiß, wird dies nicht nur von Ihnen, sondern
auch vonseiten der USA mit Skepsis betrachtet. Dabei
spielen aber - da müssen wir ehrlich sein - häufig auch
handelspolitische Fragen eine gewisse Rolle. Insofern
sollten wir auch hier die Kirche im Dorf lassen. Schließlich wollen wir am Hausbankenprinzip nichts ändern,
ganz im Gegenteil. Das hat auch die gestrige Beratung
im Ausschuss noch einmal deutlich gemacht. Am Hausbankenprinzip wird festgehalten. Deshalb meine ich,
dass nicht von einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber
anderen Banken in der Bundesrepublik die Rede sein
kann.
Erlauben Sie mir abschließend eine Bemerkung zu
den Vereinigten Staaten von Amerika. Es freut mich außerordentlich, dass die Opposition so sehr um die Außenpolitik bemüht und besorgt ist. Aber als Mitglied der
Legislative sage ich deutlich: Es geht hierbei eindeutig
um eine Aufgabe der Exekutive. Wir haben aber schon
großes Entgegenkommen gezeigt - Sie haben darauf
hingewiesen, Herr Schauerte -, indem wir einen Vertreter der Botschaft an unseren nichtöffentlichen Beratungen in unserem Unterausschuss haben teilnehmen lassen. Das hat zwar nicht allen gefallen, aber mit
Rücksicht auf unsere amerikanischen Freunde haben wir
das hingenommen.
Aber dass die Vereinigten Staaten keine Ahnung gehabt haben, was wir machen, kann nicht vonseiten des
Parlaments behauptet werden. Denn damit würden Sie
den Amerikanern unterstellen, dass die Kommunikation
zwischen Botschaft und State Department nicht funktioniert. Das wäre die einzige logische Erklärung für Ihren
Vorwurf. Deshalb meine ich: Überlassen wir diesen Teil
der Regierung. Konzentrieren wir uns auf das, was wir
im Parlament zu tun haben, insbesondere, was die Wahrung unserer eigenen Rechte anbelangt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die ERP-Förderung auch für die kommenden 50 Jahre auf einem guten
Weg ist und dass sowohl die Vereinigten Staaten als die
Gründerväter des Sondervermögens als auch die Mittelständler, die darauf bauen, dass wir das ERP-Vermögen
in Deutschland erhalten, in der Tat sicher sein können:
Das ERP-Vermögen wird ihnen auch in den nächsten
50 bis 60 Jahren zur Verfügung stehen. Das muss unser
Ziel sein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Herbert Schui von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines ist
bei den Beratungen des Unterausschusses deutlich geworden: Es geht nicht nur um zusätzliche Mittel für den
Bundeshaushalt. Die Fraktion Die Linke war nicht die
einzige, die Bedenken bezüglich des Einflusses des Parlamentes bei der Gestaltung und Geschäftspolitik von öffentlichen Krediteinrichtungen hatte.
Zunächst aber zum Stichwort Bundeshaushalt: 2 Milliarden Euro sollen abgeführt werden. Weiterhin sieht
das Gesetz vor, dass der Bund Forderungen und Verbindlichkeiten in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro übernimmt. Wenn nun die Verbindlichkeiten weiter beim
Bund bleiben, er sich aber entschließen sollte, die Forderungen zu verbriefen und zu liquidieren, dann ständen
ihm nicht nur 2 Milliarden Euro, sondern 16 Milliarden
Euro zur Verfügung.
Das ist nicht meine Vermutung, sondern ich habe das
in der Stellungnahme der kreditwirtschaftlichen Verbände gelesen. Nun ist das Problem des Staatsdefizits
nicht mein Thema. Aber warum nehmen denn die Regierung und die Koalitionsfraktionen zu dieser Vermutung
nicht Stellung? Sie könnten ja sagen, dass das eine Erfindung ist und dass die Informationen, auf die sich die kreditwirtschaftlichen Verbände berufen, aus der Luft gegriffen sind. In Ordnung. Aber dass man sich gar nicht
dazu äußert, ist nicht nachzuvollziehen. Man sollte zumindest die Position, die man einnimmt, in irgendeiner
Art und Weise verdeutlichen.
Wenn die Informationen richtig wären, dann entstünde sicherlich ein Schattenhaushalt, zusätzliche KreDr. Herbert Schui
ditierungsmöglichkeiten und damit ein bisschen Luft Stichwort Maastricht. Aber dazu möchte ich hier nicht
weiter sprechen.
Die Konsolidierungsschwüre der Bundesregierung
wären allerdings etwas fragwürdig, wenn die kreditwirtschaftlichen Verbände Recht hätten. Damit sind wir
beim Umgang mit dem Parlament: Warum bezieht die
Regierung nicht Stellung? Sie hätte das unaufgefordert
tun sollen. Wie ist es mit dem bereits oft zitierten Brief
des Herrn Bellinger an das Auswärtige Amt? Immerhin
ist Herr Bellinger der oberste Rechtsberater des US-Außenministeriums. Mein Problem ist nicht, dass ein deutsches Parlament oder eine deutsche Regierung in bestimmten Fragen im Gegensatz zu den USA stehen
könnten. Aber ich empfinde es als außerordentlich merkwürdig, dass die „Wirtschaftswoche“ den Brief am
24. März veröffentlicht hat und uns der Brief erst nach
dreimaliger Nachfrage am 27. März im Unterausschuss
vorgelegt worden ist.
Ich glaube nicht, dass hier gezielt Informationen zurückgehalten werden sollten. Dafür ist das alles nicht bedeutend genug. Aber ich vermute, dass es dem beteiligten Ministerium offensichtlich gar nicht in den Sinn
gekommen ist, dass ein solcher Brief den Mitgliedern
des Parlaments weitergeleitet werden müsste. Da stimmt
wohl etwas nicht bei der Einschätzung.
Des Weiteren haben wir auf die Verwaltungsvereinbarung gewartet, die uns über die Qualität des Gesetzes
intensiver informiert. Diese Verwaltungsvereinbarung
wird in der Stellungnahme der kreditwirtschaftlichen
Verbände erwähnt. Diese Stellungnahme wurde uns im
Ausschuss auch unaufgefordert vorgelegt. Nun mussten
wir, nachdem wir gelesen hatten, dass die Kreditwirtschaft über solche Informationen verfügt, nachfragen, ob
wir sie nicht auch bekommen können. Ich finde, das ist
ein unangemessener Umgang des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Parlament.
Es stellen sich jetzt folgende Fragen: Warum ist das
alles so eilig? Haben wir nicht noch ein bisschen Zeit?
Oder hätte man - entsprechende Festlegungen zur Neuordnung des ERP-Vermögens gab es ja bereits in der
Koalitionsvereinbarung - das rascher auf den Weg bringen können? Jetzt geht das ja sehr zügig. Herr Schauerte,
angesichts dessen fällt mir nur die Frage ein, ob Ihnen
als Repräsentant des Wirtschaftsministeriums vielleicht
die Opposition, ja sogar das ganze Parlament in irgendeiner Weise lästig ist und ob Sie lieber keine parlamentarische Beteiligung möchten. § 12 des Vertrages
widerlegt das nicht.
Mein letzter Punkt: Wie sollte man die Dinge betreffend das ERP-Sondervermögen und die Kreditanstalt für
Wiederaufbau regeln? Halten wir einfach fest, dass die
KfW Bestandteil eines notwendigen öffentlichen Sektors
in einem gemischt-wirtschaftlichen System sein muss.
Herr Kollege, das müsste wirklich Ihr letzter Punkt
sein.
Ich bin sofort fertig. - Wenn das so ist, hat die KfW
drei Aufgaben zu erledigen: Sie hat dann tätig zu werden, wenn Marktversagen vorliegt; so etwas gibt es. Davon redet auch die Kreditwirtschaft. Sie hat des Weiteren
den Wettbewerb dort zu intensivieren, wo es die private
Wirtschaft nicht tut.
Herr Kollege!
Sie hat vor allem im Auftrag des Parlamentes Industriepolitik zu betreiben. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Parlament hat über Jahrzehnte das ERPSondervermögen als das wichtigste Instrument der Mittelstandsförderung demokratisch legitimiert. Der Bundestag entschied immer über den ERP-Wirtschaftsplan,
genauso wie heute über den von 2007. Herr Kollege
Lange hat ihn dargelegt. Zudem hat der ERP-Unterausschuss über Jahrzehnte fraktionsübergreifend das ERPSondervermögen gegen sämtliche Begehrlichkeiten einmütig verteidigt.
Seit dieser Woche ist dies nun anders. Jetzt will die
Große Koalition gegen den Willen der Opposition ein
Verfahren beschließen, das die Übertragung des ERPSondervermögens auf die KfW beschleunigt. Die SPD
kann das Vermögen gar nicht schnell genug der KfW hinüberschieben, und die Union macht einfach mit. Dabei
interessiert es die Große Koalition offensichtlich nicht,
dass die USA erst vor wenigen Tagen darum gebeten haben, dass kein Verfahren stattfindet, bevor ein Konsultationsverfahren mit einem gemeinsamen Ergebnis durchlaufen ist. Bedauerlich daran ist, dass die Mitglieder des
Unterausschusses darüber aus der Zeitung erfahren müssen und nicht einmal von der Regierung informiert werden. Lieber verzichtet die Regierung auf eine 60-JahrFeier zu den Marshallplanhilfen im Juni, als diesen Deal
zu verhindern.
({0})
Worum geht es? Die Große Koalition will
4,65 Milliarden Euro des ERP-Sondervermögens der
KfW übertragen. Dabei ist unumstritten, dass die Verfügungsgewalt des Bundes über dieses Kapital vollständig
an die KfW verloren geht. Mehr noch: Auch über die Erträge aus diesem Eigenkapital verfügt die KfW. Die
KfW denkt nicht daran, die Erträge auf ein Konto auszu9218
schütten. Nur mit Zustimmung der KfW darf über die
Ertragsverwendung entschieden werden. Zwar behauptet
die Bundesregierung, dass das Geld bei der KfW besonders sicher sei. Aber sie sagt nicht, warum die KfW nur
dann Erträge zahlen will, wenn sie Gewinne macht. Der
Bundestag hat zukünftig nur noch das Recht, das zu verabschieden, was ihm von der KfW zugestanden wurde.
Mehr lässt die Rechtslage dann nicht zu, auch wenn uns
die Bundesregierung weiter vorzumachen versucht, die
Rechte des Bundestages blieben ungeschmälert.
Handelt es sich wenigstens um eine gute Verzinsung?
Die Bundesregierung hat sich bis heute geweigert, Alternativangebote einzuholen. Es stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung nie versucht hat, ein besseres
Angebot als das der KfW einzuholen.
Wir befinden uns in einer absurden Situation. Die
KfW soll unbedingt das ERP-Sondervermögen erhalten,
obwohl die KfW immer behauptet hat, dass sie es nicht
benötige und die Übertragung nicht ihre Idee sei. Die
Große Koalition zwingt den Bundestag dazu, sich selbst
zu entmachten, betreibt eine fragwürdige Wirtschaftspolitik und provoziert dabei ohne Grund die USA.
Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie
hier über Staatsvermögen in Milliardenhöhe entscheiden, noch Folgendes mitgeben: Kein vernünftiger
Mensch gäbe sein Geld einer Bank, die das Geld für sich
behält, deren Zinsen zu niedrig sind, die überhaupt nur
Zinsen zahlen will, wenn sie Gewinn erzielt, einer Bank,
die nur zulässt, die Zinserträge innerhalb der Bank zu
verwenden, und dann noch vorgibt, wofür das Geld verwendet werden darf. Mit der Übertragung des ERP-Sondervermögens auf die KfW verhält es sich aber genau so.
Es kann doch nicht sein, dass sich das Parlament
freiwillig selbst entmachtet und die Kontrolle über das
ERP-Sondervermögen aufgibt;
({1})
denn nach KfW-Gesetz hat nur die KfW die Verfügungsgewalt über das Eigenkapital, nicht das Parlament. Ein
Parlamentsvorbehalt bei der Aufstellung des zukünftigen
Wirtschaftsplanes gibt es auch im Entwurf des ERPNeuordnungsgesetzes nicht. Somit ist der Entwurf
gleichbedeutend mit der Entmachtung des Parlamentes.
Wir werden dies nicht mittragen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4664 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2007. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4881, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4376
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit geht vor - Besonders terroranfällige Atomreaktoren abschalten
- Drucksache 16/3960 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard
Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schnelle Einführung innovativer erneuerbarer
Energien nur mit Atomausstieg - Ablehnung
der Laufzeitverlängerung für Biblis A ein
richtiger Schritt
- Drucksache 16/4770 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über Atomkraft reden. Es ist notwendig, dass der Bundestag immer wieder einmal über
Atomkraft redet, wenn ein Gesetz - das Atomausstiegsgesetz, das von Regierung und Energiekonzernen gemeinsam ausgehandelt wurde - von einer Seite der Vertragspartner immer wieder so ungeniert zu hintertreiben
versucht wird.
Ich meine, dass der Bundestag Umweltminister
Gabriel Respekt erweisen sollte
({0})
für die klare Ablehnung des Antrags auf Laufzeitverlängerung für Biblis A. Eigentlich könnte man meinen, dass
das Handeln nach Recht und Gesetz für einen Minister
nicht mehr und nicht weniger als eine Selbstverständlichkeit ist. Aber als wie wenig selbstverständlich das
mancherorts angesehen wird, zeigt sich an der angekündigten Klage von RWE gegen des Ministers Ablehnung.
Ich will nicht darüber räsonieren, mit welcher Zielrichtung RWE damals den Atomkonsens unterschrieben
hat. Aber ich frage mich schon, wie man zu einer solchen Dreistigkeit kommt, einen Reaktor, der bauliche
Defizite hat und dem die vorgeschriebene Notstandswarte fehlt, der seit Monaten vom Netz und stattdessen
wegen seiner falsch montierten Dübel in den Medien ist,
als genauso sicher wie die allerneuesten zu bezeichnen.
Wenn das so wäre, dann wäre die logische Konsequenz,
alle Reaktoren abzuschalten;
({1})
denn ein Ausstiegsgesetz bedeutet keinen Sicherheitsrabatt für die Restlaufzeit.
Das nicht wegzuredende Risiko der Atomkraft hat
die Bundesrepublik Deutschland zu dem Beschluss bewogen, aus der Atomkraft auszusteigen. Es ist ein Beschluss, der gemeinsam mit dem EEG zum Boom der erneuerbaren Energien geführt hat und anderen Ländern
den Weg zeigt, wie die Chancen einer zukünftigen Energieversorgung zu nutzen sind.
Kommen Sie jetzt nicht wieder mit der Mär von der
Renaissance der Atomkraft in der Welt oder gar in
Europa. Bei einer faktisch abnehmenden Zahl von AKW
müssten in den nächsten zehn Jahren 80, in dem darauffolgenden Jahrzehnt 200 AKW gebaut werden, nur um
den Stand zu halten. Die Fachzeitschrift „Nuclear
Engineering International“ schreibt dazu, es werde praktisch unmöglich sein, die Zahl der Atomkraftwerke in
den nächsten 20 Jahren zu halten. Also gibt es diese Renaissance nicht. Es gibt lediglich bei Ihnen auf der rechten Seite des Parlaments den Versuch einer Renaissance
der Argumente.
({2})
An der Begründung des Atomausstiegs hat sich nichts
geändert, am Risiko der Atomkraft hat sich nichts verringert, ganz im Gegenteil. Der 11. September 2001 hat
sich als ein Datum, das die Welt verändert hat, eingeprägt. Die Sicherheitskultur der westlichen Länder passt
sich an eine neue, latente Bedrohung an. Wir spüren das
im Alltag an vielen Stellen: beim Pass, beim Datenschutz, beim Einchecken am Flughafen. Das gefällt uns
nicht immer, aber wir zahlen diesen Preis für eine veränderte Bedrohungslage. Damit bin ich beim Kern unseres
Antrags zu besonders terroranfälligen Atomkraftwerken.
Für mich ist die Diskrepanz zwischen den tatkräftigen
Anstrengungen, potenzielle Terroristen ausfindig zu machen, und der Laschheit beim Schutz potenzieller, besonders angriffsgefährdeter Terrorziele nicht nachvollziehbar. Auf eine Anfrage hat uns die Bundesregierung
geantwortet:
Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden des
Bundes zum islamistischen Terrorismus ist seit den
Anschlägen des 11. September 2001 davon auszugehen, dass Täter aus diesem Bereich nicht nur eine
symbolische Wirkung ihrer Taten anstreben, sondern insbesondere versuchen, größtmögliche Personenschäden zu erzielen. Ein Anschlag auf kerntechnische Einrichtungen muss daher als mögliche
Option angesehen und kann nicht völlig ausgeschlossen werden.
Des Weiteren ist von katastrophalen Folgen eines erfolgreichen Angriffs die Rede.
Was sind nun die Fakten? Die GRS hat festgestellt,
dass Atomkraftwerke grundsätzlich getroffen werden
können. Sie hat festgestellt, dass einige AKW nicht einmal gegen den Absturz kleinerer Militärflugzeuge
ausgelegt sind. Als Schutzstrategie haben die AKW-Betreiber bis heute nichts anderes als ein Vernebelungskonzept vorgelegt, das darauf fußt, das bedrohte AKW
so lange unsichtbar zu machen, bis Hilfe da ist. Das
Bundesverfassungsgericht hat am 12. Februar 2006 beschieden, dass es nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, ein mit unbeteiligten Menschen besetztes Flugzeug abzuschießen. Damit ist das Schutzkonzept der
Vernebelung endgültig gescheitert.
({3})
Ich erspare mir an dieser Stelle die sich eigentlich
aufdrängenden Bemerkungen über die Vernebelungsidee, weil es uns um die ernste Seite der Sache geht. Wir
fordern den Bundestag auf, von den Verantwortlichen
für die Atomkraftwerke wenigstens im Ansatz das einzufordern, was jedem Bürger angesichts der veränderten
Sicherheitslage zugemutet wird. Wir fordern, mehr als
fünf Jahre nach dem 11. September 2001 endlich ernsthafte Schutzmaßnahmen vorzulegen und die anfälligsten
AKW im Sinne des Atomkonsenses stillzulegen;
({4})
denn Strommengenübertragungen sind im Atomgesetz
dazu gedacht, Sicherheit zu erhöhen und nicht, wie beim
Antrag auf Laufzeitverlängerung von Biblis, Unsicherheit zu verlängern.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Klimawandel gehört sicherlich zu den zentralen Herausforderungen
unseres Jahrhunderts und ist deshalb als prioritär anzusehen. Ich glaube, auch heute wird niemand ernsthaft
bestreiten, dass die Erderwärmung im Wesentlichen vom
Menschen verursacht worden ist. Umso wichtiger ist es,
dem dringend notwendigen Handlungsbedarf gerecht zu
werden. Das tun wir, wie wir es hier in den vergangenen
Wochen mit zahlreichen Debatten zum Thema Klimawandel gezeigt haben.
({0})
- Herr Kollege Kelber, Sie und Ihre Fraktion wissen genauso gut wie ich, dass wir schon mit dem, was wir auf
der Konferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs unter Führung unserer Bundeskanzlerin Angela
Merkel beschlossen haben, auf dem richtigen Weg sind.
Das reicht mit Sicherheit nicht aus, aber wir werden uns
weiter anstrengen. Ich glaube, das war ein großer Erfolg,
auf den sowohl die SPD als auch die CDU/CSU zu
Recht stolz sein können.
({1})
- Ja, das werden wir auch tun. Herr Kelber, nach zwei
Minuten sind Sie schon auf zwei Zwischenrufe gekommen. Die von Ihnen angekündigten elf werden Sie sicherlich schaffen.
Allerdings erwarte ich gerade von den Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, sich mit dieser Frage in
ihren Anträgen mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie wir
zu beschäftigen. Zu Ihren Anträgen möchte ich an dieser
Stelle sagen: Beziehen Sie sich doch einfach einmal auf
das, was die in Ihrer Regierungszeit von Ihnen benannten
Experten Ihnen gesagt haben - wir sollten einfach einmal
zurückblicken -: Der Vorstandsvorsitzende des Windradherstellers Repower Systems AG, Fritz Vahrenholt, hat
als Mitglied des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung schon vor zwei Jahren gesagt, dass die
Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sinnvoll ist.
({2})
Ihre These, dass gerade die Laufzeitverlängerung dem
Ausbau regenerativer Energieträger im Wege steht, ist
einfach falsch. Das möchte ich gleich an mehreren Beispielen deutlich machen. Ich glaube, dass Sie sich mit
dieser Frage ernsthafter auseinandersetzen sollten, als es
bisher der Fall war.
({3})
Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass - das hat einfach physikalische Gründe - die Nutzung von Kernkraft
CO2-Ausstoß vermeidet.
({4})
Das räumen selbst erklärte Gegner der Atomenergie ein.
({5})
Vor wenigen Wochen hat sich selbst das Öko-Institut,
das wirklich dafür bekannt ist, gegen Kernkraft zu sein,
dazu ganz deutlich geäußert und verschiedene Alternativen genannt. Der CO2-Ausstoß eines Kernkraftwerkes
liegt bei 32 Gramm pro Kilowattstunde Strom. Ich
glaube, dass wirklich niemand in Abrede stellen kann,
dass Atomkraft klimafreundlicher ist als zum Beispiel
Kohlekraft.
({6})
- Ja, natürlich. Ich äußere mich zu dem, was in Ihrem
Antrag steht.
Es ist wichtig, die Frage der regenerativen Energieträger im Gesamtzusammenhang eines geschlossenen
Energiekonzepts zu sehen. Nur regenerative Energieträger zu fordern, ohne zu sagen, dass die Abschaltung der
Kernkraftwerke ohne Ersatz letztendlich gar nicht möglich sein wird, reicht aus meiner Sicht nicht aus. Würde
man Ihrem Vorschlag folgen, würde die Energieabhängigkeit von anderen Ländern auf Dauer nämlich erhöht.
Wir wollen weder wieder stärker von fossilen Energieträgern abhängig werden, noch wollen wir stärker vom
Ausland abhängig sein. Wenn Sie Vorschläge zur Abschaltung der Kernkraftwerke machen, müssen Sie sagen, wie Sie die Kernenergie auf Dauer ersetzen wollen.
({7})
Wie wir sehen, weisen viele momentan getroffene
Unternehmensentscheidungen - auch auf Basis des Koalitionsvertrages -, in absehbarer Zeit Kernkraftwerke
abzuschalten, eher in eine andere Richtung als in die von
Ihnen befürwortete, nämlich regenerative Energien auszubauen. Überall, wo Atomkraft in Zukunft nicht mehr
verwendet werden soll, werden Unternehmensentscheidungen vorbereitet, die auf Kohlekraftwerke setzen. Das
hat mit Klimafreundlichkeit überhaupt nichts zu tun.
({8})
Ich teile Ihre Kritik an der Industrie in vieler Hinsicht.
Aber man muss doch sehen, wie sich die Entwicklung
vollzieht. Wenn man aus der Kernenergie aussteigt, dann
kommt es doch nicht automatisch zu einem höheren Anteil der regenerativen Energien. Vielmehr wird dadurch
der Anteil der fossilen Energieträger gestärkt, und das ist
klimaunfreundlich. Das wollen wir hier in diesem Hause
nicht.
({9})
Sie betreiben in Ihrem Antrag verschiedene Zahlenspiele. Basis der Zahlenspielereien in Ihrem Antrag
sollte aber die Realität sein. Ein Beispiel: In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass die Kernkraft in Deutschland nur
6 Prozent der gesamten Energieerzeugung abdecke.
Aussagekräftiger ist allerdings - das muss ich hier wirklich feststellen - der Anteil der Kernenergie an der
Stromerzeugung: Daran hat die Kernenergie im Vergleich zu allen anderen Energieträgern mit 27 Prozent
den größten Anteil, und das ist der eigentliche Maßstab.
Würden Sie Ihren Ansatz auf die Fotovoltaik anwenden
- dort legen Sie ganz andere Zahlen zugrunde -, dann
würden Sie bei Ergebnissen im Promillebereich landen.
Deshalb sage ich Ihnen: Versuchen Sie nicht, die Debatte
durch unterschiedliche Berechnungen, wie Sie sie in Ihrem Antrag angestellt haben, unnötig zu erschweren.
Ich glaube, dass Sie sich damit keinen Gefallen getan
haben, weil Ihr Antrag in der Frage „Regenerative Energien und Kernenergie“ nicht so konsistent ist wie Ihre
Argumentation vielleicht an anderen Stellen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Ja, sehr gern.
Herr Mißfelder, Sie haben Ihren Beitrag mit einem
ausführlichen Bezug auf den Klimawandel eingeleitet.
Stimmen Sie mit mir darin überein, dass wir dann, wenn
wir vom Klimawandel und von der Notwendigkeit sprechen, Energie einzusparen, nicht allein vom Strom reden
dürfen, sondern immer alle Bereiche, in denen wir Energie brauchen, betrachten müssen, dass insofern durchaus
auch relevant ist, was eine bestimmte Energieerzeugungsart für den gesamten Energieverbrauch bedeutet?
Ja, da stimme ich mit Ihnen überein.
({0})
Das habe ich aber auch gar nicht in Abrede gestellt. Ich
bin nur der Meinung: Bei verschiedensten Gradmessern,
die Sie zugrunde legen, und bei allen Formulierungen
sollten Sie darauf achten, dass Sie an die Kernenergie
letztlich den gleichen Maßstab anlegen wie an die Fotovoltaik oder andere regenerative Energieträger. Das ist
das, was ich Ihnen vorgeworfen habe. In der Sache
stimme ich Ihnen da zu. Ich glaube, dass wir den Anteil
der regenerativen Energien auf Dauer erhöhen müssen;
das ist auch bei uns nicht umstritten. Trotzdem muss
man realistisch bleiben.
Zu diesem Realismus gehört aus meiner Sicht: Wir
müssen sehen, dass der technische Stand der regenerativen Energien noch gar nicht so weit ist, wie Sie das in
Ihren Anträgen voraussetzen. Das Entscheidende beim
Ersatz der Kernenergie ist doch: Was ist überhaupt
grundlastfähig? Darüber müssen wir reden.
Die Grundlastfähigkeit der regenerativen Energieträger ist eben nicht gegeben. Es grenzte an ein physikalisches Wunder, wenn man die Kernenergie, die grundlastfähig ist, ohne Weiteres durch regenerative Energieträger,
die eben nicht grundlastfähig sind, ersetzen könnte. Das
setzen Sie aber voraus. Deshalb müssen wir bei der Energieversorgung in Deutschland darauf achten, dass wir die
Debatte doch eher in einer anderen Richtung führen. Wir
müssen fragen: Was ist realistisch? Wo können wir mehr
für regenerative Energien tun? - Ich glaube, dass Geothermie, Wasserkraft, Biomasse in Zukunft eine viel größere Rolle spielen werden, als das momentan der Fall ist.
Dazu hat die Union auch Vorschläge gemacht. Wir
bieten ausdrücklich an: Wenn die Laufzeitverlängerung
kommt, treffen wir mit der Industrie eine neue Vereinbarung, und zwar dahin gehend, dass das, was an zusätzlichen Gewinnen dadurch zu erwarten ist, in die regenerativen Energien investiert wird.
({1})
Das Ganze ist letztlich eine Finanzierungsfrage. Die Finanzmittel, die dafür notwendig sind, muss man mobilisieren.
({2})
Davon sind Sie weit entfernt.
({3})
Ich möchte mich auch Ihrem zweiten Antrag widmen.
Sie haben in Ihrem Antrag zur Sicherheit von Kraftwerken in Deutschland in Bezug auf terroristische Anschläge aus meiner Sicht ein falsches Zitat verwandt.
Zunächst einmal muss ich sagen, dass Sie bei den Anfragen, die Sie zitieren, auch die Drucksachennummer angeben sollten, damit man überprüfen kann, auf welche
Anfrage Sie sich letztlich beziehen. Es ist zwar eigentlich kein Problem, das herauszufinden; trotzdem war es
an dieser Stelle besonders schwierig, weil Sie in der Tat
nicht vollständig zitiert haben.
In der Drucksache 16/1249 - das ist die Antwort auf
die Kleine Anfrage der Abgeordneten Fell, Loske,
Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter - steht als Antwort auf Ihre Frage 12 folgender Satz:
Hinweise und Einschätzungen internationaler Organisationen werden bei der Gefährdungsbewertung
der Situation Deutschlands berücksichtigt. Aktuell
liegen aber keine Hinweise vor, aus denen sich eine
unmittelbare Gefährdung von Kernkraftwerken
oder die beabsichtigte Verwendung einer schmutzigen Bombe in Deutschland herleiten ließen.
({4})
Ich schließe nicht aus, dass es zu solchen Bedrohungen kommt. Diese Antwort beruht aber doch offenbar
auf einer umfassenden Sicherheitsanalyse. Dann einfach
zu schreiben, dass diese realistische Bedrohung automatisch vor der Tür stehen würde, halte ich dann doch
schon für fahrlässig. Das muss ich Ihnen an dieser Stelle
vorwerfen. Stützen Sie sich doch auch auf die Sicherheitserkenntnisse, die vorhanden sind, die es weiterhin
gibt, und auf die Auskünfte an dieser Stelle, ohne Panik
zu machen!
Abschließend: Sie haben den 11. September 2001 angesprochen. Damals haben Sie regiert.
({5})
Wenn die terroristische Gefahr so unmittelbar gewesen
wäre, dann hätten Sie auch damals schon reagieren können.
({6})
Heute aus der Opposition heraus solche Anträge zu stellen, ist utopisch. Sehr viel Fantasie steckt dahinter, aber
nun wirklich wenig Realitätssinn.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
soll ja mit großen Worten sparsam umgehen. Aber, liebe
Kollegen von den Grünen, mit dem, was Sie heute bringen, schießen Sie wirklich den Vogel ab.
({0})
Wir lehnen Ihre Anträge nicht nur deshalb ab, weil sie
inhaltlich falsch sind und weil wir Ihre Ziele nicht teilen,
sondern auch, weil sie offensichtlich falsch und wirklich
unverantwortlich sind. Ich will Ihnen ganz klar sagen:
Ich halte die beiden Anträge für einen moralischen Fehltritt.
({1})
- Ich weiß, Sie lassen sich das nicht gerne sagen. Aber
ich werde es begründen. Ihre Proteste prallen an mir ab.
Ich will Sie einmal fragen: Für wie doof halten Sie die
Leute eigentlich? Sie stellen sich hier heute im Parlament hin, Frau Kotting-Uhl, und behaupten, einige
Kernkraftwerke müssten sofort abgeschaltet werden,
weil sie ein sehr bedrohliches Ziel für Terroranschläge
mit großen Flugzeugen seien. Wenn das wirklich so ist,
warum beantragen Sie dann heute im Parlament das, was
Sie damals hätten tun können? Der 11. September 2001
fiel in Ihre Regierungszeit.
({2})
Sie hatten danach noch vier volle Jahre Zeit. Da hätten
Sie einiges auf den Weg bringen können. Es ist doch
wirklich scheinheilig, was Sie hier tun.
({3})
Sie wissen ganz genau, dass ein sofortiges Abschalten
der Kernkraftwerke nicht machbar ist und auch gar
nichts für die Sicherheit der Bevölkerung bringen würde.
({4})
Das wäre auch rechtlich gar nicht möglich; auch das wissen Sie.
({5})
Ich denke, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um
Ihre heilige Kuh. Es geht um den Ausstieg aus der Kernenergie. Sie verlieren da jedes Maß. Ihnen ist da jedes
Mittel recht. Ich denke, Sie machen wider besseres Wissen ein politisches Geschäft mit der irrationalen Angst
der Menschen. Sie versuchen, die Menschen und ihre
Ängste zu instrumentalisieren. Sie lenken die Terrorangst, die gegeben ist und die ich durchaus sehe, auf
die Mühlen Ihrer Antikernkraftideologie. So ist das. Ich
denke, das muss man hier einmal offen ansprechen.
({6}) - Sylvia Kotting-Uhl
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte,
wir hätten eine parlamentarische und keine
psychologische Beratung! Wenn ich einen
Psychiater brauche, komme ich zu Ihnen, Frau
Brunkhorst!)
Sie haben recht: Terroristen wollen Anschläge auf
Ziele verursachen, die möglichst viele Menschen treffen
und vielleicht sogar töten. Genau das haben uns ja die
Anschläge auf das World Trade Center sowie die Anschläge in London und auch in Madrid auf grausame
Weise gezeigt. Aber warum haben Terroristen bislang
zum Beispiel, was Sie hier ja so hervorheben, Orte des
öffentlichen Lebens gewählt und nicht Kernkraftwerke?
Ich will es Ihnen sagen - ich nehme da Bezug auf ein
Gutachten, aus dem ich gleich noch zitieren werde -:
Kernkraftwerke sind zu gut geschützt.
({7})
Sie bieten eine schlechte Angriffsfläche. Sie haben keine
gute Angriffsfläche; das wissen Sie.
({8})
Ich erlaube mir, aus einem Gutachten der Schweizer
Atomaufsicht, HSK, zu zitieren. In dem Gutachten wird
als Resultat der Untersuchung festgestellt, dass
ein zielgenauer Anflug mit einem Großflugzeug auf
die sicherheitsrelevanten Strukturen der Kernkraftwerke aus fliegerischen, flugtechnischen und topographischen Gründen … kaum machbar ist.
({9})
So ist es: Kernkraftwerke sind keine attraktiven Ziele
für terroristische Anschläge. - Wir werden Ihnen diese
ideologische Süppchenkocherei nicht durchgehen lassen. Abgesehen davon haben wir vollstes Vertrauen in
die Deutsche Flugsicherung. Sie verdient unser Vertrauen, und sie genießt auch das Vertrauen; das denke ich
schon. Wenn wir hier so offen über irgendwelche terroranfälligen Kernkraftwerke reden, dann frage ich Sie:
Wollen wir denn noch Koordinaten liefern, oder wie soll
das in Zukunft gehen?
({10})
Ich denke, im internationalen Vergleich steht Deutschland in der Forschung zur Kernsicherheit und auch im
Grundschutz von Kernkraftwerken gegen Flugzeugangriffe am besten da.
({11})
- Ich weiß nicht, ob Sie dem widersprechen wollen.
({12})
Ich will zum Schluss noch auf die Behauptung in Ihrem Antrag kommen, das Konzept der Vernebelungsanlagen - ganz gleich, wie man dazu steht - sei generell
gescheitert. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass das
Kernkraftwerk Grohnde im Moment eine Pilotanlage im
Bau hat
({13})
und dass während einer Pilotphase keine anderen Anlagen gebaut werden.
Zuletzt möchte ich zusammenfassen: Angst ist ein
schlechter Ratgeber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen.
({14})
Es gibt schon genug reale Bedrohungen, sodass wir nicht
noch welche heraufbeschwören müssen, die es gar nicht
gibt. Ihre Anträge sind aus Sicht der FDP eine Farce; tut
mir leid.
({15})
Das Wort hat der Kollege Marco Bülow, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Mißfelder, es ist ein interessanter Gedanke, einen
neuen Vertrag mit der Atomenergie zu schließen, in den
hineingeschrieben wird, dass wir ein bisschen für erneuerbare Energien ausgeben.
({0})
Wenn wir wieder einen neuen Vertrag schließen, wer garantiert uns, dass die Atomenergie ihn nicht wieder brechen will? Jetzt ruft sie ja dazu auf, den Vertrag zu brechen. Also kann man sich auch nicht auf das verlassen,
was in neuen Verträgen stehen würde. Deshalb würde
ich keine neuen Verträge eingehen.
({1})
Genauso interessant finde ich den Gedanken, von
Atomenergie nur noch als Übergangstechnologie zu
sprechen, weil wir die ganzen Probleme kennen. So
sagte zum Beispiel Herr Kauch hier im Bundestag. Das
gleichzeitige Argument, die erneuerbaren Energien
bräuchten noch Zeit, kann ich allerdings nicht mehr hören. Die erneuerbaren Energien brauchen deshalb noch
Zeit, weil man seit mehreren Jahrzehnten sehr viel Geld
in die falschen Energiestrukturen gesteckt hat.
({2})
Aber selbst auf dem heutigen Stand der Technik können wir den Bereich der erneuerbaren Energien ganz
schnell ausbauen und die Effizienz so steigern, dass wir
keine Atomenergie mehr brauchen und trotzdem die
40 Prozent CO2 einsparen können, wenn wir bei den einzelnen Beschlüssen zu KWK, Wärmegesetz usw. nur
mutig genug sind. Wir laden die Union herzlich dazu
ein, mit uns die geeigneten Beschlüsse zu finden.
({3})
Jetzt zum Klimaschutz und zu dem angeblich so klimaneutralen Instrument der Atomenergie. Wenn man
sich die Untersuchungen vom Öko-Institut anschaut,
stellt man fest, dass Atomkraftwerke so CO2-frei gar
nicht sind: Uran wird gefördert, muss transportiert werden, wird eingesetzt, die Atomanlagen werden gebaut
usw. Dabei sind noch nicht einmal die Endlager aufgeführt. - Dann schauen wir uns einmal die Bilanz am
Ende an: Ein neues GuD-Heizkraftwerk ist schon ganz
nah an der CO2-Emission eines AKWs dran. Mit KWK
gekoppelt ist es sogar deutlich darunter. Eine Biogasanlage gekoppelt mit KWK liegt deutlich unter dem, was
Atomkraft zu bieten hat. Bei Wind ist es genauso. Darüber sollten wir diskutieren, wenn wir über die Studie
und über Klimafreundlichkeit reden.
({4})
Das Gegenteil ist der Fall. Solange wir eine Technologie
wie die Atomkraft in diesem Land aufrechterhalten, so
lange verhindern wir die notwendigen Investitionen, die
wir brauchen, um eine wirklich nachhaltige, klimafreundliche Energiepolitik zu produzieren.
({5})
Ein Satz zu den angeblich so klimafreundlichen
AKW-Betreibern, die meinen, ihre Atomkraftwerke aufgrund des Klimawandels doch ein bisschen länger offenhalten zu müssen. Wenn die gleichen Betreiber weiterhin
so stark auf Braunkohle setzen und weiterhin so stark die
erneuerbaren Energien bekämpfen, dann frage ich mich
natürlich, ob das Argument ernst gemeint ist. Ich kann
jeden Betreiber verstehen, der weiter auf Atomenergie
setzt, weil er damit Geld verdient; aber dann soll er das
bitte auch so sagen, statt zu behaupten, er mache das,
weil er so klimafreundlich geworden sei. Das zumindest
glaubt hier keiner mehr.
({6})
Im Zusammenhang mit der Wertschöpfungskette
- ich bin gerade schon kurz darauf eingegangen - möchte
ich eine Zahl vorrechnen, die man meiner Meinung nach
berechnen muss. In dem Antrag finden sich auch ein paar
Zahlen wieder, die ich teilen kann. Es gibt 435 Atomkraftwerke auf der Welt. 16 Prozent des Stroms - ich erwähne
extra den Strom - produzieren diese Anlagen; 3 Prozent
des gesamten Energiebedarfs auf der Welt werden damit
gestillt. Ich weiß nicht, ob das so ein großer Beitrag zum
Klimaschutz ist. Wenn wir nur 12 Prozent des Gesamtenergiebedarfs auf der Welt mit Atomenergie decken wollten, müssten wir 1 500 Atomkraftwerke bauen. Ich will
gar nicht davon reden, dass man dann auch die entsprechenden Netze und Anlagen ausbauen müsste. - Ich
möchte gerne wissen: Woher kommt das für den Bau weiterer Atomkraftwerke benötigte Uran? Wo in Deutschland
sollen diese Atomkraftwerke gebaut werden? Wenn wir
eine ehrliche Diskussion wollen, müssen die Standorte benannt werden. Danach können wir darüber reden, ob Klimaschutz und Atomkraft auf irgendeine Weise zusammenpassen.
({7})
Über all diese Punkte sollten wir demnächst nachdenken.
({8})
Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann mich noch genau daran erinnern, als Umweltminister Trittin von dieser Stelle aus über den sogenannten Atomkompromiss sprach. Er hat damals gesagt, der
Atomausstieg müsse unumkehrbar sein. Ob er wirklich
unumkehrbar ist, wird sich noch zeigen; denn die Atomlobby formiert sich.
Wir können jeden Tag hören - darin sind wir uns inzwischen einig -, dass es einen Klimawandel gibt. Vor
einigen Jahren war das noch ganz anders.
({0})
- Nein, bei Ihnen, bei den konservativen Parteien. - Jetzt
auf einmal sagt man, dass man aufgrund des Klimawandels die Atomkraft braucht. Ich denke, jeder, der eine
nachhaltige Politik in diesem Land will, muss den Atomausstieg forcieren und darf ihn nicht in die Länge ziehen.
({1})
An die Adresse der Bundesregierung sage ich: Wer
meint, man könne marode Atommeiler mit Nebelbomben vor Terrorangriffen schützen, handelt naiv und verantwortungslos.
({2})
Die Energiewirtschaft vernebelt die Wahrheit. Es gibt
keinen ausreichenden Schutz vor dem Absturz von Luftfahrzeugen. Wer ein Flugzeug navigieren kann, findet
sein Ziel auch mithilfe von Orientierungspunkten außerhalb möglicher Nebelschwaden. Das AKW Biblis zum
Beispiel kann man bei Google Earth in Ruhe aus der
Luftperspektive betrachten. Auf der Karte ist nichts geschwärzt.
Bei starkem Wind ist die Nebeltaktik sowieso hinfällig. Gefährlich wird es für die Bevölkerung, wenn Politikerinnen und Politiker derartigen Konzepten das Wort
reden. Es ist daher erschreckend, dass die Bundesregierung aufgefordert werden muss, sich von der Vernebelungsstrategie der Atomlobby zu distanzieren. Ich kann
nur an die Debatten in vergangenen Legislaturperioden
erinnern, als wir darüber diskutiert haben, ob um die
AKWs herum Boden-Luft-Raketen stationiert werden
sollen. Einige der hier Anwesenden werden sich noch
daran erinnern. Das war Unfug hoch drei.
({3})
Ich komme nun zum ersten Antrag der Grünen. Entscheidend ist nicht die Größe der Flugzeuge, die auf
Atomreaktoren stürzen könnten. Aufprallgeschwindigkeit und Masse der Flugzeuge sowie Drehzahl der Turbinen sind die entscheidenden Faktoren dafür, mit welcher
Energie die Flugzeuge aufprallen. Es ist also alles noch
viel schlimmer, als Sie es geschildert haben. Schnelle
Privatjets und Militärmaschinen sind in keiner Weise ungefährlicher als Passagierflieger.
Der zweite Antrag der Grünen weist im Titel darauf
hin, dass erneuerbare Energien nur ohne Atomanlagen
durchzusetzen sind. Ich sage Ihnen: Sie haben recht.
Nur: Wir hätten den Atomausstieg in der 13. Legislaturperiode wesentlich schneller haben können. Damals hätten Sie die Mehrheit für einen schnelleren Ausstieg gehabt; wir hätten Sie darin unterstützt. Schade, diese
Chance wurde vertan. Wir müssen nun gemeinsam weiter daran arbeiten.
Noch eine Zahl. Wir reden über Klimaschutz und
Atomkraft. Ab und zu sollte man auch über die Gewinne
der Energiekonzerne reden. Herr Mißfelder, Umweltverbände haben errechnet, dass ein altes AKW, das abgeschrieben ist und noch ein Jahr länger läuft, einen Reingewinn von 1 Milliarde Euro bringt.
({4})
Das muss die Bevölkerung wissen, um verstehen zu können, warum es entsprechende Forderungen seitens der
Energiewirtschaft gibt.
Wir sind uns einig, dass wir erneuerbare Energien
brauchen. Wir brauchen KWK-Anlagen, Anlagen auf
der Basis von Erdgas und Biogas. Überdenken Sie,
meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihren Entschluss noch einmal. Er ist rückwärts gewandt
und zeugt von völliger Ignoranz.
({5})
Die Bevölkerung in diesem Land will keine Atomkraft
mehr.
({6})
Sie will regenerative Energien.
Reden Sie nicht nur über Energieeffizienz. Tun Sie
endlich etwas! Im Rahmen der Diskussion über das TopRunner-Programm wird immer über Energieeffizienz gesprochen. Setzen Sie endlich entsprechende Maßnahmen
um! Die Mehrheit in diesem Land will eine andere Politik. Diese muss es endlich geben.
({7})
Noch einmal zur FDP. Sie zweifeln die Terrorgefahr
in Bezug auf AKWs an. Sie fragen: Was wäre gewesen,
wenn Terroristen ein AKW angegriffen hätten? Niemand
in diesem Land wagt, überhaupt daran zu denken, was
dann passiert. Das wäre ein Super-GAU. Wir müssen die
Bevölkerung schützen, und zwar wir alle miteinander.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Atomausstieg ist der richtige Weg aus einer Technologie mit immensen Risiken. An den Grundrisiken der
Atomtechnologie hat sich nichts geändert. Die Entsorgungssicherheit ist nach wie vor ungeklärt. Die Gefahr
der Proliferation steigt nach Ende des Kalten Krieges
eher. Die Gefahr durch menschliches oder technisches
Versagen besteht fort. Das Atomkraftwerk in Forsmark
war erst vor kurzem ein beredtes Beispiel dafür, dass wir
aufgrund des Versagens von zwei Systemen kurz vor
dem GAU standen.
Der Hinweis übrigens, die deutschen Kraftwerke
seien sehr viel sicherer, da ständig Nachbesserungsmaßnahmen vorgenommen würden - ich denke zum Beispiel
an die falsch montierten Dübel im AKW Biblis -, erinnert mich ein bisschen an den Versuch eines Automobilhändlers, die Tatsache, dass es bei der von ihm vertretenen Marke ständig Rückrufaktionen gibt und Autos
dieser Marke immer wieder zur Reparatur in die Autowerkstatt müssen, als besondere Qualität seiner Automobilmarke auszuweisen. Den würde jeder für verrückt erklären; aber bei den Atomkraftwerken versuchen es die
Betreiber.
({0})
Zu diesen Grundrisiken ist ein neues hinzugetreten:
der internationale Terrorismus. Natürlich waren Kraftwerke schon im Planungsvisier von Terroristen. Die Behauptung, Atomkraft sei seit dem Unfall in Tschernobyl
sicherer geworden, ist falsch. Sie ist seit dem 11. September 2001 unsicherer geworden.
({1})
Gerade die älteren AKWs, über die wir diskutieren, wie
zum Beispiel bei mir in der Nachbarschaft Biblis A, sind
gegen den Absturz eines Passagierflugzeuges nicht gesichert. Die Versuche, Atomkraftwerke vor einem Terrorschlag aus der Luft zu schützen, sind gescheitert, und
zwar nicht nur juristisch; denn das Bundesverfassungsgericht hat den Abschuss unschuldiger Passagiere untersagt. Sie sind bereits in der Erprobungsphase technisch
gescheitert; denn es ist richtig: Trotz Vernebelung kann
ein Pilot mithilfe von Navigationssystemen sein Ziel
treffen. Diese können wir im Umkreis von AKWs nicht
abschalten, gerade weil viele Atomanlagen in der Nähe
von Flughäfen liegen.
Das Gleiche gilt übrigens für den Abschuss von Flugzeugen durch die Bundeswehr. Das Atomkraftwerk Biblis ist 14 Kilometer Luftlinie vom Frankfurter Flughafen
entfernt, das Atomkraftwerk Neckarwestheim 40 Kilometer vom Stuttgarter und das Atomkraftwerk Brunsbüttel 60 Kilometer vom Hamburger Flughafen. Alle liegen
viel zu nahe an einem Flughafen, sodass ein militärisches Eingreifen nicht erfolgen kann. Die ganze Diskussion über den militärischen Abschuss dient einem einzigen Zweck: die falsche Vorstellung zu erwecken, wir
könnten Sicherheit herstellen, wenn wir nur wollten. Das
ist nicht so.
({2})
Terroranschläge aus der Luft sind übrigens nicht das
einzige Bedrohungsszenario. Die Ausschaltung der
Strom- und Notstromversorgung, der Totalausfall der
Steuerungstechnik, herbeigeführt durch Eingriffe von
außen, all das sind durchaus realistische Wege, einen
GAU herbeizuführen.
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat übrigens - Frau Kollegin Brunkhorst, Sie können in diesem Zusammenhang also mehrere Gutachten
lesen - eine lange Liste von erfolgreichen möglichen
Anschlagsszenarien auf Atomkraftwerke, die im Internet
zur Verfügung stehen, zusammengestellt. Natürlich stehen die Sicherheitspolitiker immer vor dem Problem und
dem Dilemma, genau das nicht widerlegen zu können,
was Sie eben dargestellt haben. Ich könnte es tun. Ich
schlage Ihnen vor: Gehen Sie in die Sicherheitsstelle und
lesen Sie die entsprechenden Gutachten, die der Bundesregierung vorliegen! Dann werden Sie merken, welchen
Unsinn Sie hier verbreiten. Aber darüber kann natürlich
nicht öffentlich diskutiert werden. Die Kraftwerkbetreiber wissen das. Sie nutzen nämlich die Tatsache, dass
wir über diese Szenarien nicht öffentlich diskutieren
können, weil wir natürlich nicht unfreiwillig Handlungsanleitungen für Terroranschläge bieten wollen. Sie insinuieren, es sei eine Sicherheit vorhanden. Diese ist aber
auf keinen Fall vorhanden.
({3})
Dieses Ausblenden von Terrorgefahren bei der Diskussion um die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken entspricht übrigens einer gewissen Sicherheitsbigotterie, die wir bei der inneren Sicherheit immer
wieder feststellen: Auf der einen Seite werden alle möglichen Überwachungsmaßnahmen und Gesetzesverschärfungen gefordert, sinnvolle und teilweise auch unsinnige - ich erinnere an die sogenannten Rail-Marshalls,
die in jedem Zug mitfahren sollten -, und auf der anderen
Seite ist man, wenn wirtschaftliche Interessen, wenn
Lobbyinteressen ins Spiel kommen, bereit, zusätzliche
Risiken in Kauf zu nehmen. Genau das ist hier der Fall.
Herr Kollege, darf ich Sie einmal unterbrechen?
Ja.
Der Kollege Meierhofer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Das ist gut, weil das die Redezeit verlängert. - Gerne,
Herr Kollege.
Herr Meierhofer, bitte.
Nachdem ich auch in der Rede des Herrn Bülow nicht
gehört habe, wie Ihre Fraktion abstimmen will, frage ich:
Sehe ich es richtig, dass die Gefahren, die Sie gerade geschildert haben, für Sie nur den Schluss zulassen, dem
Antrag der Grünen zuzustimmen?
Ich antworte Ihnen gerne auf Ihre Frage. - Wenn man
weiß, wie verwundbar diese Anlagen sind, dann weiß
man auch, dass sich die Diskussion über die Laufzeitverlängerung um nichts anderes dreht, als um die Maximierung von Risiken in zeitlicher Hinsicht. Ich begrüße diese
Sicherheitsdebatte über die Anträge der Grünen - die
SPD wird diese Debatte auch in Zukunft führen -, aber
mit Maximalforderungen führen wir die Debatte in die
Fatalität.
Ich sage: Der Ausstieg ist das Richtige. Wir setzen Ihrer Strategie der Maximierung von Sicherheitsrisiken
aufgrund ökonomischer Interessen eine Schritt für Schritt
erfolgende Minimierung der Sicherheitsrisiken bei einem
parallel erfolgenden Ausbau der regenerativen Energien
entgegen.
Wenn Sie die Frage stellen, wie die Stromlücke gefüllt
werden soll - ich habe das Beispiel Biblis genannt - ({0})
In der Tat war das nicht seine Frage, Herr Kollege.
Wenn Sie die Frage stellen, wie die Stromlücke gefüllt werden soll - ({0})
- Es ist okay. Sie dürfen sich ja wieder setzen.
Wenn Sie die Frage stellen - sie ist gestellt worden -,
wie die Stromlücke gefüllt werden soll,
({1})
antworte ich: Die hessische SPD hat einen ambitionierten, aber realistischen Vorschlag gemacht, wie die Stromlücke gefüllt werden kann. Mit dem Vorantreiben regenerativer Energien schaffen wir nicht nur Arbeitsplätze,
sondern können den Atomstrom beispielsweise in Hessen
ersetzen.
({2})
Sowohl für den Klimaschutz als auch für die Sicherheit gilt gleichermaßen: Mit Laufzeitverlängerungen maximieren wir das Sicherheitsrisiko, mit dem Atomausstieg minimieren wir es. Die SPD wird sich an einer
Sicherheitsbigotterie nicht beteiligen. Wir halten am
Ausstieg fest.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 9 a: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 16/3960 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4770 mit dem Titel „Schnelle Einfüh-
rung innovativer erneuerbarer Energien nur mit Atom-
ausstieg - Ablehnung der Laufzeitverlängerung für
Biblis A ein richtiger Schritt“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und
Linke abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette
Faße, Reinhold Hemker, Renate Gradistanac,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationale Naturlandschaften - Chancen für
Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und
nachhaltige Regionalentwicklung
- Drucksachen 16/3298, 16/4269 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Brähmig
Jens Ackermann
Undine Kurth ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ({4}), Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Naturparke - Chancen für Naturschutz und
Regionalentwicklung konsequent nutzen
- Drucksachen 16/3095, 16/4278 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Angelika Brunkhorst
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Hinsken.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute die Anträge der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der Grünen zu den Nationalen Naturlandschaften und Naturparks. Der Zeitpunkt
hierfür könnte nicht besser gewählt sein. Denn nicht erst
die Debatte über den Klimawandel zeigt: Natur und Tourismus sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Mit dem
Bewusstsein für die Gefährdung unserer natürlichen
Grundlagen steigt deren Wertschätzung.
Weltweit gibt es laut UN-Angaben inzwischen mehr
als 100 000 Naturschutzgebiete, genau gesagt: 102 102.
Sie nehmen mit knapp 19 Millionen Quadratkilometern
11,5 Prozent der Erdoberfläche ein, mehr als Indien und
China zusammen.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen betont deshalb
zu Recht die große Bedeutung der Nationalen Naturlandschaften für den Tourismus. Seit einem halben Jahr haben wir mit den Nationalen Naturlandschaften eine neue
Dachmarke der Großschutzgebiete. Wir vereinen darunter in Deutschland 14 Nationalparke, 14 Biosphärenreservate und 95 Naturparke. Sie nehmen zusammen
rund 25 Prozent der Landesfläche ein. Diese Landschaften sind nicht nur ein nationales Naturerbe, sondern tragen auch wesentlich zur Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland bei.
Allerdings ist mir wichtig, dass zum Beispiel bei Ausweitungen von Nationalparken, wie aktuell im Bayerischen Wald, nicht über die Köpfe der einheimischen Bevölkerung entschieden wird, sondern Bedenken ernst
genommen und die Betroffenen, die dort wohnen, beteiligt werden. Wenn sich die Menschen nicht mit den
Schutzmaßnahmen identifizieren, werden sie keine guten Gastgeber für die Nutzer der Naturangebote sein.
({6})
Urlaub in und mit der Natur ist ein Wachstumsmarkt.
Wandern, Radfahren und Wassertourismus sind nur einige wenige Stichworte, die die Vielfalt, die wir hier haben, beschreiben. Jetzt gilt es, die gemeinsame Dachmarke weiter zu vermarkten. Hierzu wurden im vorigen
Jahr bereits wichtige Schritte getan. Durch Veranstaltungen auf Bundes-, Länder- und Parkebene wurde für die
Nationalen Naturlandschaften nachhaltig geworben.
Nicht zu vergessen: Vor allen Dingen die politische
Unterstützung hat sich deutlich verbessert. Es hat mich
und sicherlich Sie alle sehr gefreut, dass der Bundespräsident und die Ministerpräsidenten der Länder im vergangenen Jahr die Schirmherrschaft für das Jahr der
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
Naturparke übernommen haben. Es ist ein riesiger Erfolg, dass sich von den 126 Großschutzgebieten bereits
123 an den gemeinsamen Auftritten beteiligen. Deshalb
ist es richtig, dass die Förderung der Dachmarke Nationale Naturlandschaften in den Jahren 2007 bis 2009 fortgesetzt werden soll.
Der Natururlaub ist ein fester Bestandteil des Tourismusmarketing in Deutschland. Die Deutsche Zentrale
für Tourismus bewirbt zu Recht umfassend die Nationalen Naturlandschaften. Sie bilden einen wichtigen Baustein des Basisthemas „Aktiv und Natur“. Dieses Thema
wird auch im Rahmen des Internetauftritts der DZT aufgegriffen. Unter der Rubrik „Natur, Aktiv, Erholung“
gibt es interessante und umfangreiche Informationen
rund um die Themen Natur und Nationalparke. Auch bei
den weiteren Aktivitäten der DZT spielen die Nationalen
Naturlandschaften eine wichtige Rolle.
Zu Recht wird mit diesen Edelsteinen, die wir hier haben, gewuchert. Die DZT wirbt weltweit mit ihnen, um
zu verkünden, dass einer der schönsten Natururlaube
auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland verbracht werden kann.
({7})
Ich begrüße deshalb, dass die DZT endlich mit den verschiedenen Verbänden des naturnahen Tourismus zusammenarbeitet. Hervorheben möchte ich insbesondere
die Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Naturparke.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der eine wesentliche
Rolle spielt und der mit wichtig ist: Die Großschutzgebiete spielen gerade für die regionale Entwicklung in den
strukturschwachen, naturnahen Gebieten eine entscheidenden Rolle. So kennen wir die ökonomische Bedeutung des Tourismus für die Naturparke Altmühltal und
Hoher Fläming sowie für den Müritz-Nationalpark. Im
Naturpark Altmühltal zum Beispiel wurden im Jahre
2004 Bruttoumsätze von 20,7 Millionen Euro, im Naturpark Hoher Fläming von 6,2 Millionen Euro und im Müritz-Nationalpark von rund 13,4 Millionen Euro durch
landschaftsbezogenen Tourismus erzielt. Damit war natürlich auch die Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden.
Eines ist damit klar: Touristische Investitionen in
Großschutzgebiete rechnen sich. Aber es gilt, das überzubringen, das notwendige Verständnis zu entwickeln
und dafür seitens des Bundes sowie der einzelnen Länder die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung
zu stellen, damit sie sich weiterentwickeln können. Ich
bin davon überzeugt, dass das Potenzial des Naturtourismus in unserem Land längst noch nicht ausgeschöpft ist.
({8})
Jährliche Erhebungen der Forschungsgemeinschaft
Urlaub und Reisen belegen: Das Naturerlebnis zählt seit
Jahren zu den wichtigen Urlaubsmotiven. Für circa
40 Prozent der Befragten ist es besonders wichtig. Dieser Prozentsatz ist - das ist sehr erfreulich - in den letzten Jahren sogar gestiegen. Auf diese eindeutige Nachfrage müssen wir mit einer klaren Positionierung unseres
Angebots und einer zielgruppenorientierten Ansprache
der Touristen reagieren.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich baue darauf,
dass die Strategie zur Vermarktung der Nationalen Naturlandschaften hier ansetzt. Aber ich möchte bei dieser
Gelegenheit auch darauf hinweisen, dass ich mich nicht
mit der Idee der Einführung sogenannter Naturtaxen
anfreunden kann, die Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, eingebracht haben. Dabei geht es
letztlich darum, Eintrittsgelder für das Naturerlebnis zu
verlangen. Das kann es wirklich nicht sein. Freuen wir
uns doch, dass wir schöne Naturschutzgebiete haben.
Stellen wir diese auch der Bevölkerung zur Verfügung,
damit sie sich regenerieren und sich insbesondere an den
Schönheiten in National- und Naturparken erbauen
kann.
({9})
Würde hier Eintritt verlangt, würde die Attraktivität der
Naturparke sicherlich leiden.
Dagegen begrüße ich die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen Forderungen an die Bundesregierung.
({10})
- Kollege Friedrich, wenn Sie, anstatt Zurufe zu machen, lieber eine Zwischenfrage stellen wollen, wäre ich
selbstverständlich gerne bereit, diese zuzulassen und zu
beantworten. ({11})
Sie dienen dem Ziel, die Nationalen Naturlandschaften auch weiterhin nachhaltig für den Tourismus zu nutzen. Die Bundesregierung ist bereit - diese Bemerkung
richte ich insbesondere an die Opposition -, die genannten Maßnahmen zu prüfen und sie, sofern sie zweckmäßig erscheinen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die
Tat umzusetzen. Das ist Aufgabe des Parlaments.
Die Bundesregierung wird sich diesem Problem ganz
besonders widmen und dafür Sorge tragen, dass sich unsere Naturparke, Nationalparke und Biosphärenreservate
im Rahmen solcher Maßnahmen und Vorgaben auch
weiterhin so großartig entwickeln können, wie es in der
Vergangenheit der Fall war.
Für Ihre Aufmerksamkeit darf ich mich herzlich bedanken.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere
Nationalen Naturlandschaften sind reizvolle UrlaubsJens Ackermann
ziele, und sie sind mehr als das: Sie sind für unsere Gesundheit und für unser Wohlbefinden notwendig. Sie
stellen, besonders für strukturschwache Regionen, das
Zukunftspotenzial dar. Hier wird deutlich, wie wichtig
die Natur als Wirtschaftsfaktor ist. Mit ausreichender
Wertschätzung durchgeführt, entsteht eine Win-win-Situation für alle: für die Natur und für die Menschen.
({0})
Das letzte Jahr war das Jahr der Naturparke und stand
unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Im
vorliegenden Antrag wird dies hervorgehoben. Lobende
Worte für Horst Köhler aus den Reihen der Union - in
letzter Zeit selten. Die FDP-Fraktion begrüßt dieses Lob
und unterstützt den Antrag der Koalition.
({1})
Deutschland hat viel zu bieten und wird als Urlaubsland immer beliebter.
({2})
Den gemeinsamen Dachverband Nationale Naturlandschaften zu schaffen, war gut und richtig. Die gemeinsame Präsentation von Naturparks, Biosphärenreservaten und Nationalparks ermöglicht eine effektive
Vermarktung. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien waren hier Vorbilder. Ich würde mir wünschen, dass
wir auch in anderen Politikfeldern öfter über den Tellerrand hinausschauen.
Dass wir eine schöne Heimat haben, ist der Gesellschaft bewusst. Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen:
den Harz, einen Nationalpark mitten in Deutschland,
eine Naturlandschaft, die Niedersachsen und SachsenAnhalt miteinander verbindet. Im ehemaligen Todesstreifen konnte sich eine ursprüngliche Tierwelt erhalten.
Die intakte Natur wird zu einem Hoffnungsträger für die
gesamte Region.
({3})
Von der Hauptstadt Berlin ist es nur ein Katzensprung in
den Harz, und er ist sehr leicht mit der Bahn zu erreichen. Die Region Harz, aber auch die Region Fläming
haben die Naturlandschaft als wichtigen Wirtschaftsfaktor erkannt. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass durch
Tourismus in Großschutzgebieten willkommene Einnahmen entstehen, die für die Region förderlich sind. Natur
und Tourismus können davon profitieren. Daher unterstützen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen.
Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Auch in
diesem Antrag steht Gutes und Richtiges. Es wird erkannt, dass Naturschutzgebiete für die regionale Entwicklung Positives leisten können. Die Einführung von
Naturtaxen sollte jedoch nur dort in Erwägung gezogen
werden, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse keine andere Möglichkeit lassen. In dem vorliegenden Fall ist so
etwas aber nicht notwendig. Außerdem sind öffentliche
Wälder bereits von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern
finanziert worden. Sie sind deshalb öffentlich zu halten;
eine zusätzliche Naturtaxe ist hier nicht zu rechtfertigen.
Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
({4})
Naturschutz mit den Menschen, dies ist eine langjährige Forderung der FDP. Auch die Initiative Nationale
Naturlandschaft fördert das Miteinander von Mensch
und Natur. Nur wer die Natur kennt, vermag ihren Wert
richtig zu schätzen. Das fehlende Bewusstsein für den
Wert des Naturerbes führt zu Missachtung und zu Zerstörung. Nur wer um den Wert der Natur weiß, kann verantwortlich handeln. Verbote und Regulierungen sind
lange nicht so effektiv und nachhaltig wie das Handeln
auf der Grundlage von Vernunft und Eigenverantwortung.
({5})
Naturschutz und Tourismus sind zwei Seiten einer Medaille.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Becker, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Beide Vorredner haben betont, dass Naturschutz und Tourismus zwei Seiten derselben Medaille
sind. Die SPD praktiziert das: indem ein Naturschutzpolitiker und ein Tourismuspolitiker zu diesem Thema reden werden.
Im Jahr 1921 wurde in der Lüneburger Heide der
erste Naturpark in Deutschland gegründet. Schon damals, bei den ersten Gründungen, waren sowohl der Naturschutzgedanke als auch die Bewahrung von großräumigen Landschaften für die Erholung der Menschen Ziel
und Aufgabe.
Wir haben von Herrn Hinsken bereits gehört, wie
viele Naturparke, Nationalparke und Biosphärenreservate es mittlerweile in Deutschland gibt, die sich nunmehr unter der Dachmarke Nationale Naturlandschaften
zusammengeschlossen haben und mit einheitlichem Erscheinungsbild sowie einheitlicher Kommunikation auf
politischer Ebene und in der öffentlichen Darstellung
auftreten. Insgesamt umfassen sie rund ein Viertel der
Fläche der Bundesrepublik Deutschland und sind
wesentlicher Bestandteil des Schutzgebietsnetzes
„Natura 2000“ sowie, soweit es um die Biosphärenreservate geht, des weltweiten Schutzgebietsnetzes der
UNESCO.
Jedes Schutzgebiet für sich ist ein einzigartiger
Schauplatz der Natur und gewährt - das haben wir von
Herrn Hinsken schon anschaulich gehört - faszinierende
Einblicke in die Genialität, die Bedeutung, die Schönheit, den Erholungswert und sicherlich auch die Verletzlichkeit der Natur. Schutzgebiete bedeuten also nicht nur
Naturschutz, sondern sie sind auch Erholungs- und
Erlebnisraum für die Menschen sowie ein wesentlicher
Faktor der Regionalentwicklung, also der regionalen
Wertschöpfung. Diese Bedeutung nimmt ständig zu.
({0})
Das wird durch einige Zahlen, die auch im Antrag
ausgeführt sind, deutlich. Ich will zwei Beispiele nennen: In der Müritz betrug der Bruttoumsatz durch Besuchereinnahmen 13,4 Millionen Euro. 630 Arbeitsplätze
wurden geschaffen. Im Altmühltal belief sich der Bruttoumsatz auf 20,7 Millionen Euro, 483 Arbeitsplätze
waren zu verzeichnen. Das beweist: Naturschutz ist auch
praktizierter Jobmotor und nicht Jobkiller.
({1})
Dies gilt jedoch nur so lange - das muss aus umweltpolitischer Sicht klar sein -, wie der Schutzaspekt der
Natur an erster Stelle steht. Negative Eingriffe in die
Natur haben immer auch negative Auswirkungen auf ihren touristischen Stellenwert.
Die Nationalen Naturlandschaften nehmen aber auch
eine besondere Bedeutung im Rahmen der nationalen
Biodiversitätsstrategie ein. Das findet sich so auch im
Koalitionsantrag wieder. Ich möchte beispielsweise das
Wattenmeer erwähnen, das mit seinen 278 000 Hektar
nach dem tropischen Regenwald das zweitproduktivste
Ökosystem der Welt und ein Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung ist.
({2})
4 000 Arten, die im Wattenmeer leben, hätten ohne den
Schutz des Wattenmeeres keine Überlebenschance gehabt. Auf andere Bereiche könnte man ebenso zu sprechen kommen. Ich denke aber, auch hierdurch wird
schon deutlich, welche Bedeutung die Nationalen Naturlandschaften für den Naturschutz insgesamt haben.
Ich bedaure jedoch - damit muss ich etwas aus meiner Herkunftsregion plaudern -, dass die Bedeutung
noch nicht in allen Regionen hinreichend deutlich geworden ist.
({3})
In der Diskussion über den Nationalpark Senne bzw.
das Biosphärenreservat Senne haben wir leider immer
wieder mit Widerständen zu kämpfen, zuletzt mit einigen Landräten, die die Bedeutung und die regionale Entwicklungschance immer noch nicht erkannt haben. Daran werden wir aber weiter arbeiten, um auch dort zu
größeren Erfolgen zu kommen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch den
Antrag der Koalitionsfraktionen wird die nachhaltige
Entwicklung bereits bestehender Gebiete gestärkt, die
Bedeutung und die Einbeziehung in die nationale Biodiversitätsstrategie unterstrichen, ein regionaler Entwicklungsanreiz für weitere Gebietsplanungen gesetzt
und damit auch ein Bezug zum Nationalpark bzw. Biosphärenreservat Senne hergestellt.
Dementsprechend darf ich Sie alle heute um Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen bitten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den
Tribünen! Im vergangenen Jahr hatten wir das Jahr der
Naturparke, und fast niemand hat es gemerkt. Das ist
sehr bedauerlich. Aber immerhin: Zumindest heute beschäftigt sich der Bundestag einmal damit.
Das haben wir Ihnen zu verdanken, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Bündnisgrünen. Sie haben den
ersten Antrag eingebracht. Die Koalition hat ihren Antrag nachgereicht.
({0})
Ich finde, dass beide Anträge sehr viel Positives enthalten. Wir werden ihnen übrigens zustimmen, liebe Kollegin. Das ist keine Frage: Vernünftige Vorhaben können
wir unterstützen. Ich muss sogar erstaunt feststellen,
dass der Antrag der Koalition besser ist als der der Grünen.
({1})
- Ehre, wem Ehre gebührt. Ihr habt ja auch ein bisschen
abgeschrieben.
Aber lassen Sie uns darüber reden, was noch zu tun
ist. Naturparke sind gut. Das ist schon von vielen Seiten
betont worden; ich will es nicht wiederholen. Reden wir
lieber darüber, wie wir sie noch besser nutzen können.
Ich mache drei Vorschläge.
Erstens wäre es sehr sinnvoll, wenn wir es erreichen
würden, dass alle Schulklassen in allen Schulen mehrmals im Jahr Schülerinnen- und Schülerreisen unternehmen könnten. Dann würden Ausflüge in die Naturparke - das können auch Tagesreisen sein - zur
Selbstverständlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler
insbesondere aus den Großstädten könnten sich daran
gewöhnen, sich in den Naturparken zu bewegen, mit Natur nachhaltig umzugehen und Naturerlebnisse zu genießen.
Zweitens fällt in den Naturparken jede Menge Arbeit
an. Dort sind aber relativ wenig Menschen beschäftigt,
weil Naturparke nicht profitorientiert und damit zumindest aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Geschäft
sind. Insofern ist dort sehr viel ehrenamtliches Engagement gefragt. Das ist positiv, und viele Menschen wollen
sich dort ehrenamtlich und unentgeltlich engagieren.
Gleichzeitig bieten die Naturparke eine hervorragende
Möglichkeit - eben weil sie nicht profitorientiert sind -,
einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zu
schaffen und dort nachhaltig und langfristig Arbeitsplätze nach tariflichen Löhnen zu schaffen, von denen
die Menschen aus der Umgebung tatsächlich leben können. Das wäre Wirtschaftsförderung für die gesamte Region in einem sehr positiven Sinn.
({2})
Lassen Sie uns darüber nachdenken, und legen Sie Ihre
Scheuklappen gegenüber einem öffentlich geförderten
Sektor ab!
Drittens sind Naturparke von Natur aus nicht barrierefrei. Das hat Natur nun einmal an sich. Aber gerade deshalb bieten sie hervorragende Möglichkeiten zu zeigen,
dass, gute und kluge Wege vorausgesetzt, Naturerlebnisse
für Menschen mit Behinderungen - für Blinde, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer und andere - geschaffen
werden können, die dann, wenn sie erst einmal installiert
sind, wiederum allen nützen. Wenn beispielsweise eine
Moorlandschaft mit Holzwegen begehbar bzw. berollbar
gemacht wird, dann sind diese Wege allen zugänglich.
Mit dem Baumkronenpfad im Nationalpark Hainich
in Thüringen zum Beispiel wurde etwas Tolles geschaffen. Bedauerlicherweise musste aber der Aufzug nachträglich von den Behindertenverbänden erkämpft werden. Das wurde extrem teuer und hat den Nachteil, dass
die behinderten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer
die Spitze des Turmes nicht erreichen können. Das ist
schade. Wenn der Fahrstuhl von Anfang an eingeplant
worden wäre, dann wäre auch dies möglich gewesen.
Das zeigt, was möglich ist, wenn man vernünftig plant.
Folgen Sie diesen Vorschlägen! Lassen Sie uns das,
was wir heute beschließen, weiterführen. Die Nationale
Koordinierungsstelle Tourismus für Alle - NatKo - hat
entsprechende Vorschläge unterbreitet und Publikationen herausgegeben, die ich Ihnen allen empfehlen kann.
Ich kann uns allen nur empfehlen, die Naturparke zu besuchen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! In einer
Pressekonferenz des Bundesumweltministers wurde gestern berichtet, wie stark gefährdet viele Biotope und
Landschaftsformen in Deutschland sind. Ein Problem ist
der zu hohe Flächenverbrauch. Ein weiteres Problem
ist die Übernutzung der Kulturlandschaft. Ein gutes
Instrument gegen diese Entwicklung ist, Landschaft in
verschiedener Form unter Schutz zu stellen, beispielsweise als Naturparke. Deswegen ist das letzte Jahr zum
Jahr der Naturparke erklärt worden. Alle haben dies bereits gelobt; wir alle waren damit einverstanden und fanden das richtig.
Es ist auch darauf hingewiesen worden, wie groß die
Wechselbeziehung zwischen intakter Natur und der
Möglichkeit, mit ihr im Tourismusbereich zu wirtschaften, ist. Das ist auch völlig richtig, Herr Hinsken hat davon berichtet. Man muss aber anmerken: Ihr Antrag trägt
die Überschrift „Nationale Naturlandschaften - Chancen
für Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwicklung“. Das Spektrum ist also
schon etwas breiter.
Es ist auch richtig, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen: Ein solches Jahr der Naturparke kann den Bekanntheitsgrad von Naturparken erhöhen und dafür sorgen, dass mehr Aufmerksamkeit für die Potenziale, die
darin stecken, erzeugt wird. Es kann auch dazu beitragen, das alte Vorurteil, Schutz hieße, man dürfe nicht
nutzen, abzubauen. Denn das ist völlig falsch.
({0})
Deshalb haben wir einen Antrag gestellt, in dem nicht
nur steht, was klasse und schön ist, sondern der darauf
abzielt zu prüfen, wie dieses Instrument der Naturparke
- wenn es so gut ist - besser genutzt werden kann und
welche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von
Naturparken dienen. Das ist das Entscheidende. Wir
müssen prüfen, was wir unternehmen können, damit ein
gut eingeschlagener Weg noch besser wird.
Uns ist von Ihnen, von der Koalition, vorgeworfen
worden, dass sich unser Antrag nur mit dem Thema Naturparke befasst. Wir glauben, dass es Naturparke durchaus verdient haben, einmal besonders herausgestellt werden, weil sie nämlich gerne übersehen werden, auch ihr
Potenzial für regionale Entwicklung. Deshalb meinen
wir, dass es angemessen ist, sich mit diesem Thema zu
befassen.
({1})
Wir wollen noch einmal darauf hinweisen, welchen starken Beitrag Naturparke für die Regionalentwicklung,
für den Erhalt der Vielfalt in der Natur leisten.
Wenn wir schon gegenseitig über unsere Anträge urteilen, dann wäre es wünschenswert, wenn wir sie auch
vorher gelesen hätten. Deshalb wundert es mich sehr,
dass Sie alle uns vorwerfen, wir wollten eine Taxe erheben. In unserem Antrag steht nur, man möge bitte prüfen, ob das Erheben einer Taxe ein richtiger Weg ist. Ich
meine, das ist ein ziemlich großer Unterschied.
Es ist auch richtigerweise gesagt worden, dass es in
Regionen wie der Müritz ganz erhebliche Wirtschaftseffekte gibt, dass dort mit Tourismus relativ viel Geld verdient wird. Trotzdem berichtet der Nationalparkleiter,
dass für die Ranger keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Vielleicht ist es also doch richtig zu überlegen, wie
man all die Gäste daran beteiligen kann, diese gute und
Undine Kurth ({2})
intakte Natur zu erhalten. Ich kann nicht verstehen, dass
man schon die Prüfung der Einführung einer solchen
Taxe ablehnt.
({3})
Wie gesagt: Es gibt viele Möglichkeiten der Unterstützung. Wir müssen prüfen, wie man etwas für Nationalparke und ihre Entwicklung tun kann. Herr Hinsken,
Sie meinten, es gebe keinen besseren Zeitpunkt, um
diese Anträge zu diskutieren. Ich hätte schon einen besseren gefunden, nämlich das letzte Jahr, das Jahr der Naturparke. Wir hängen mit der Diskussion ziemlich hinterher.
Es ist bereits gesagt worden: Wir haben zuerst einen
Antrag zu diesem Thema eingebracht. Wir finden es völlig in Ordnung, dass man in diesem Rahmen über verschiedene Anträge diskutiert. Wir werden Ihrem Antrag
zustimmen, weil nicht einzusehen ist, etwas nur aus
Prinzip abzulehnen. Wenn ein Vorschlag vernünftig ist,
dann müssten wir doch in der Lage sein, gemeinsam
richtige Schritte zu gehen. Deshalb bin ich sehr gespannt, Herr Hemker, wie Sie jetzt begründen werden,
dass man unserem Antrag nicht zustimmen kann, wo
doch in den Anträgen fast Identisches steht. Die Überprüfung der Einführung einer Taxe kann ja auch nicht
das Problem sein.
Ich kann nur sagen: Wir haben unseren Antrag deutlich früher eingebracht als Sie. Deshalb möchte ich abschließend Hans Kollhoff zitieren, einen unter Architekten bekannten Mann, der immer gesagt hat: „Wer mich
kopiert, vermeidet das Schlimmste.“
({4})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Reinhold Hemker von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Undine Kurth, wir werden sicherlich in absehbarer Zeit einen Bericht der Bundesregierung, vertreten durch Ernst Hinsken, erhalten, in dessen Rahmen wir
noch einmal über das Thema Gebühren - ich strapaziere
mal nicht den Begriff Naturtaxe - für die besondere Nutzung der drei Bereiche der Naturlandschaften diskutieren müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Es gibt im
Übrigen einige Bundesländer bzw. Regionen, die für die
Nutzung bestimmter naturnaher Gebiete schon solche
Gebühren erheben. Wir werden also sicherlich über diesen Punkt reden.
Ich will mich nicht darüber auslassen, wer anlässlich
des Jahres der Naturparke als Erster vorgeschlagen hat,
darüber im Parlament zu diskutieren; das lohnt sich
nicht. Wir werden sicherlich deutlich machen, dass alle,
die sich auf den Weg gemacht haben, gute Beiträge zu
dieser Diskussion geleistet haben. Das hat schon die
erste Beratung im Fachausschuss gezeigt. Mir geht es jedenfalls um das, was der Beauftragte der Bundesregierung für Tourismus, Ernst Hinsken, gesagt hat. Wir haben überall dort, wo Naturschutzgebiete ausgewiesen
sind, eine hohe Akzeptanz erreicht. Man hat Verträge
mit Landwirten gemacht. Man hat es geschafft, dass sich
ehrenamtlich tätige Naturschutzorganisationen wie
BUND und NABU sowie Jäger und Pfleger, die in den
Jagdgenossenschaften tätig sind - ich könnte noch viele
andere nennen -, schon heute engagieren, wenn es um
touristische Besucher in den betreffenden Regionen
geht. So wurden zum Beispiel - das hat Ilja Seifert vorhin angedeutet - wunderbare Naturlehrpfade angelegt.
({0})
Übrigens, Ilja, ich lade dich herzlich ein, einmal meinen Wahlkreis zu besuchen. Du hattest ja die in den
Mooren und Hochmooren angelegten Naturlehrpfade als
Beispiel genannt. Jeder von uns, der sich in diesem Bereich engagiert, möchte so etwas Wunderschönes zeigen.
Durch die genannten Maßnahmen nimmt die Akzeptanz zu. Davon haben nicht nur die Menschen, die dort
leben, sondern auch die Menschen, die dorthin kommen,
sowohl im ideellen als auch im immateriellen Bereich einen sehr großen Gewinn. In meinem Wahlkreis, der nahe
an der Grenze zu den Niederlanden liegt, sind das in
vielfältiger Hinsicht unsere Freunde und Gäste aus den
Niederlanden. Bei uns im Teutoburger Wald, wo sich die
von mir genannten Gruppen engagieren, wurden sehr
viele Angebote gemacht. - Lieber Daniel, du weißt als
Münsteraner natürlich, wie schön es bei uns ist. Genauso
gerne komme ich nach Münster, um die dortigen Angebote des Stadttourismus wahrzunehmen.
In den letzten Jahren gab es eine Fülle von Diplomarbeiten zu diesem Thema nicht nur in den Fachabteilungen für Tourismus an den Universitäten. Inzwischen gibt
es viel Literatur darüber. Auf der diesjährigen ITB
wurde mir noch einmal deutlich, dass die drei Bereiche
- Natur, Tourismus und Menschen - erst zusammen zum
Naturschutz führen. Wenn man Landschaften sich selbst
überlässt und sie nicht als Kulturlandschaften begreift,
egal ob es sich um Naturparke, Nationalparke oder Biosphärenreservate handelt, wenn man sie nicht erschließt
- ich verstehe das als Antwort auf meinen lieben Kollegen Ilja Seifert -, wenn Natur und Naturlandschaften
nicht zum Thema im Schulunterricht gemacht werden,
dann werden wir nicht weiterkommen, wenn es um die
Akzeptanz der Menschen geht, wie es der Beauftragte
der Bundesregierung für Tourismus formuliert hat.
Die Nähe zur Natur wird den Menschen nicht nur in
Deutschland in der Freizeit bzw. in den Ferien vermittelt.
Es ist sehr wichtig, dass die Menschen, die nicht wie ich
das Glück haben, naturnah zu wohnen, sondern in den
Ballungszentren leben, die Natur wieder neu begreifen.
Das ist zum Beispiel im Urlaub auf einem Bauernhof, in
der Nähe eines Naturschutzgebietes, auf einem Naturlehrpfad oder auf Fortbildungsveranstaltungen der eben
von mir genannten Naturschutzverbände möglich. Wenn
wir das schaffen, dann werden wir in den nächsten Jahren den Standort Deutschland und insbesondere die ländlichen Räume mit den genannten Gebieten bereichern.
Liebe Undine Kurth, ich freue mich darauf, dass wir
in absehbarer Zeit im Fachausschuss auch über die TheReinhold Hemker
men eures Antrags sprechen werden. Ich hätte mir für
heute einen fraktionsübergreifenden Antrag gewünscht.
Aber wie so oft haben wir es angesichts der Tagesordnung, der Geschäftsordnung und unseres Umgangs miteinander nicht geschafft, einen solchen Antrag vorzulegen. Wir finden zudem oft nicht die Zeit, uns
zusammenzusetzen und einen fraktionsübergreifenden
Antrag zu erarbeiten. Ich freue mich aber, dass der Koalitionsantrag gleich wahrscheinlich einstimmig angenommen wird. Es wäre sicherlich schön gewesen, den
Antrag der Grünen zu berücksichtigen. Aber, liebe
Undine, wir werden euren Antrag mit Hinweis auf die
Geschäftsordnung ablehnen. So ist nun einmal die „Kleiderordnung“.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Nationale Naturlandschaften - Chancen für
Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwicklung“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4269,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/3298 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Naturparke - Chancen für Naturschutz und
Regionalentwicklung konsequent nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4278, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3095 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel
Bahr ({1}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausgleich für neue Arbeitszeitmodelle in
Krankenhäusern vorziehen
- Drucksachen 16/670, 16/4596 Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Spieth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten einen Antrag der FDP-Fraktion, die wünscht,
dass die 700 Millionen Euro, die wir als Zusatzinitiative
zur Verfügung gestellt haben - wir und nicht Sie -, früher abgerufen werden können. Der Antrag hört sich zunächst einmal gut an, aber die Fragen sind doch erlaubt:
Wird dieses Geld tatsächlich benötigt? Wurden diese
Mittel in der Vergangenheit abgerufen? Und vor allen
Dingen: Ist das etwas, das die Krankenhäuser, die Probleme mit modernen Arbeitszeitmodellen haben, wirklich weiterbringt?
In der Anhörung mit Fachleuten, die wir zu diesem
Thema durchgeführt hatten, wurde gesagt, dass im Jahr
2006 für jedes Krankenhaus in Deutschland durchschnittlich 200 000 Euro für Personalmaßnahmen im
Zusammenhang mit der Einführung neuer Arbeitszeitmodelle zur Verfügung standen, diese Mittel aber überhaupt nicht ausgeschöpft wurden. Nur 79 Prozent dieser
Mittel wurden 2006 im Durchschnitt tatsächlich ausgeschöpft; im Jahr 2007 waren es durchschnittlich
83 Prozent. Das heißt, Sie beantragen, die Bereitstellung
dieser Mittel vorzuziehen - Sie tun also so, als sei Eile
vonnöten - und noch etwas draufzulegen, obwohl dies
bisher gar nicht nötig ist, weil die Mittel gar nicht ausgeschöpft wurden. Dabei müssten wir uns doch erst einmal
fragen: Warum werden zur Verfügung gestellte Mittel
nicht ausgeschöpft, und was können wir hier tun?
({0})
Schaut man genau hin, dann stellt man interessanterweise fest, dass es Bundesländer gibt, in denen die Mittel
zu 90 Prozent in Anspruch genommen werden - zum
Beispiel in Brandenburg, Bremen oder MecklenburgVorpommern -, dass es aber auch Länder gibt, in denen
die Inanspruchnahme unter 70 Prozent liegt - wie in
Berlin mit 49 Prozent oder in Hamburg mit 53 Prozent.
In der Anhörung teilte der Verband der AngestelltenKrankenkassen zudem mit, dass nach seinen Erkenntnissen nur 72 Prozent der Krankenhäuser mit bis zu
200 Betten die Mittel tatsächlich in Anspruch nehmen.
Wenn wir es mit diesem Vorgang ernst meinen und
den Krankenhäusern helfen wollen, moderne Arbeitszeitmodelle umzusetzen, dann müssen wir doch denjenigen helfen, die offensichtlich Schwierigkeiten haben, an
diese Mittel heranzukommen.
Deswegen geht der Antrag, zusätzliche Mittel vorzusehen, obwohl die, die schon vorhanden sind, gar nicht
ausgegeben werden, völlig ins Leere. Ihr Antrag springt
also zu kurz, er trifft die Falschen, und er löst die strukturellen Probleme, die wir in den Krankenhäusern haben,
nicht. Für uns ist der entscheidende Punkt, dass wir im
Dialog mit den Ländern - Sie wissen, dass diese für den
Bereich Krankenhäuser zuständig sind - dafür sorgen
wollen, dass gerade in den kleineren Krankenhäusern
diese Mittel noch stärker in Anspruch genommen werden. Hier können wir helfen, Strukturen zu erhalten.
Hier können wir helfen, indem wir darauf hinweisen,
dass diese Mittel vorhanden sind und fließen können.
Hier können wir wirklich etwas tun, um moderne Arbeitszeitmodelle umzusetzen.
Ihr Antrag springt wie immer zu kurz, er ist populistisch, und vor allen Dingen sagen Sie nicht, wie das Vorziehen des Finanzvolumens finanziert werden sollte. Die
Antwort auf diese Frage bleiben Sie uns wie immer
schuldig. Wir stehen dazu, dass den Krankenhäusern geholfen werden muss. Deswegen werden wir den kleinen
Krankenhäusern helfen, an die Mittel heranzukommen.
Es ist aber nicht notwendig, jetzt in Aktionismus zu verfallen, da ausreichend Mittel zur Verfügung stehen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin Caspers-Merk hat ausgeführt,
dass, obwohl seit 1. Januar dieses Jahres eine Regelung
in Kraft ist, dass Bereitschaftszeit als Arbeitszeit gilt,
noch nicht alle Krankenhäuser diese Regelung umgesetzt haben. Selbst die Zahlen, mit denen Sie sich rühmen, besagen, dass es immer noch eine stattliche Zahl
von Krankenhäusern gibt, die eben nicht in der Lage
sind, neue Arbeitszeitmodelle umzusetzen. Die Bundesregierung hat mehrfach die Frist zur Umsetzung dieser
Regelung hinausgezögert. Aber seit dem 1. Januar 2007
hätten diese Arbeitszeitmodelle umgesetzt werden müssen. Es steht außer Frage, dass es noch nicht alle Krankenhäuser gemacht haben. Deshalb stellt sich die Frage,
was die Politik tun kann, um die Krankenhäuser, die sich
noch nicht in der Lage fühlen, das umzusetzen, zu unterstützen.
Es sind gerade die kleineren und mittleren Krankenhäuser, wie wir in der Ausschussberatung und auch
in der Anhörung festgestellt haben, die nicht in der Lage
sind, neue Arbeitszeitmodelle umzusetzen. Nach einer
Erhebung nannten 32 Prozent der Krankenhäuser als
Grund, warum sie noch nicht eine neue Arbeitszeitregelung umgesetzt haben, Finanzierungsprobleme. Auch
geben schon heute 26 Prozent der Krankenhäuser an, die
Modelle deswegen nicht umzusetzen, weil sie den Mehrbedarf an Ärzten nicht decken könnten. Frau CaspersMerk, Sie sagen jetzt - das ist etwas Erfreuliches; denn
es war bisher nicht zu hören, dass Sie daran arbeiten -,
dass Sie Modelle unterstützen bzw. sich überlegen wollen, wie man kleinere Krankenhäuser unterstützt. Sie
wollen eine Debatte darüber, wie wir die kleineren und
mittleren Krankenhäuser unterstützen können. Allerdings muss ich Ihnen von der schwarz-roten Bundesregierung schon vorwerfen, dass Sie sich gar keine Gedanken darüber machen, wie Sie die kleinen und mittleren
Krankenhäuser unterstützen können.
({0})
Im Gegenteil: Sie erhöhen die Lasten für die kleineren
und mittleren Krankenhäuser.
Wie sieht denn die Realität aus? Durch die
Gesundheitsreform 2007 sind die Lasten der Krankenhäuser gestiegen. Sie haben die Krankenhäuser nicht
etwa bei der Umsetzung dieser neuen Arbeitszeitmodelle
unterstützt, sondern sie haben ihnen weitere Lasten auferlegt.
({1})
Ein Sparopfer von 250 Millionen Euro entzieht den
Häusern wichtige finanzielle Mittel. Das belastet gerade
die kleineren und mittleren Krankenhäuser und beeinträchtigt die qualitativ hochwertige, flächendeckende
Versorgung der Bevölkerung, da Finanzkürzungen
zwangsläufig mit Einsparungen im Leistungsbereich
einhergehen. Dazu kommt die Mehrwertsteuererhöhung
um 3 Prozentpunkte, die die Krankenhäuser in Deutschland insgesamt mit vermutlich etwa 500 Millionen Euro
belastet, und die Anschubfinanzierung für die integrierte
Finanzierung, die den Krankenhäusern zunächst finanzielle Mittel entzieht. Es bleibt die Frage offen, ob sie im
selben Umfang finanzielle Mittel zurückbekommen.
Nicht zuletzt sind die Tariferhöhungen zu erwähnen. Die
liegen nicht in Ihrer Verantwortung - das will ich nicht
sagen -, dafür ist nicht die schwarz-rote Bundesregierung verantwortlich. Aber wir müssen doch ehrlicherweise die Situation der Krankenhäuser sehen. Wir haben
doch alle gemeinsam ein Interesse daran, dass gerade die
kleineren und mittleren Krankenhäuser ihre Aufgabe der
flächendeckenden Versorgung bewältigen können. Nicht
zuletzt ist die Umstellung auf die neue Finanzierung mit
dem Fallpauschalensystem - wir befinden uns bis 2009
in der Konvergenzphase - zu erwähnen. Schließlich
kommt die Umsetzung der Arbeitszeitmodelle hinzu.
In diesem Umfeld belasten Sie die Krankenhäuser
weiter und geben ihnen eben nicht die Unterstützung, die
sie brauchen. Wir, alle Fraktionen hier im Deutschen
Bundestag, wollten gemeinschaftlich dafür sorgen, dass
Zustände beendet werden, die dadurch gekennzeichnet
sind, dass Ärzte nicht mehr mit voller Konzentration arbeiten können und überlastet sind. Ein übermüdeter
Arzt hat nach 24 Stunden Arbeit noch eine Reaktionsund Konzentrationsfähigkeit, als ob er ein Promille Alkohol im Blut hätte. Er dürfte nicht mehr Auto fahren.
Wäre er der Fahrer, würden wir nicht in sein Auto einsteigen; denn wir müssten Angst um unser Leben haben.
Die Situation in den Krankenhäusern ist so, dass Ärzte in
diesem Zustand noch operieren und versuchen, Leben zu
retten.
Ich kann den Frust vieler Ärzte verstehen. Wir spüren
diesen Frust. Gerade in den Krankenhäusern verschlechDaniel Bahr ({2})
tern sich die Arbeitsbedingungen zusehends. Immer
mehr junge Menschen gehen nach Abschluss ihres Medizinstudiums in Deutschland ins Ausland, um dort als
Arzt zu arbeiten. Ärztemangel wird die Folge sein, und
darunter werden die Patienten zu leiden haben. Also
müssen wir uns doch Gedanken darüber machen, wie
wir die Arbeitsbedingungen verbessern können.
Die FDP hat nichts anderes als Sie vorgeschlagen: dass
die zur Umsetzung solcher Arbeitszeitmodelle - Bereitschaftszeit soll als Arbeitszeit gelten - zur Verfügung gestellten Mittel bis ins Jahr 2009 aufwachsen. Wir sind für
eine Vorziehung der Bereitstellung dieser Mittel. Sie sollten nicht erst im Jahr 2009 in vollem Umfang zur Verfügung stehen, sondern jetzt. Das wäre gerade für die
Krankenhäuser ein Signal zur Umsetzung dieser Arbeitszeitmodelle. Die heutige gesetzliche Regelung sieht vor,
dass die Krankenhäuser diese Arbeitszeitmodelle umsetzen. Ich wiederhole: Es bringt den Krankenhäusern
nichts, dass diese Mittel erst im Jahr 2009 in vollem Umfang zur Verfügung stehen.
({3})
Stimmen Sie unserem Antrag also zu! Unterstützen
Sie die Krankenhäuser! Sorgen Sie dafür, dass diese
Mittel schon ab diesem Jahr in vollem Umfang von
700 Millionen Euro abgerufen werden können, damit die
Krankenhäuser diese Arbeitszeitmodelle schnellstmöglich umsetzen können!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Willi Zylajew von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben vom Antragsteller erfahren, welche Intention hinter diesem Antrag steckt. Die Staatssekretärin hat auf das
Zahlenwerk der letzten Jahre zurückgeschaut. Wir können feststellen, dass die Mittel nicht ausgeschöpft worden sind.
({0})
- Herr Lanfermann, bleiben Sie ruhig!
Wir haben im Jahre 2003 100 Millionen Euro bereitgestellt, im Jahre 2004 200 Millionen Euro, im Jahre 2005
300 Millionen Euro und in diesem Jahr 500 Millionen
Euro. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass in diesem Jahr
200 Millionen Euro mehr bereitgestellt werden. Das wären dann - wahrscheinlich haben Sie auch schon das
nächste Jahr im Auge - insgesamt 300 Millionen Euro
mehr. Lieber Daniel Bahr, es wäre sinnvoll, diese Mittel
im Gesundheitsbereich bereitzustellen, wenn sie abgerufen würden. Da dies nicht geschieht, macht dieser Antrag keinen Sinn.
Nicht wir können moderne Arbeitszeitmodelle in den
Krankenhäusern einführen; vielmehr müssen die Verbesserungen in den Krankenhäusern geschehen, was nicht
der Fall ist.
({1})
Ich wiederhole: In den Krankenhäusern muss das Entscheidende geschehen. In den Krankenhäusern müssen
die Dienste optimiert werden. In den Krankenhäusern
muss die Einstellung weiterer Ärztinnen und Ärzte erfolgen. Allein die Mittelbereitstellung hilft hier nicht.
({2})
Kollege Lanfermann, gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung: Es war so schön, Sie im Gesundheitsausschuss zu erleben. Als wir bei den Beratungen der
Gesundheitsreform in dem einen oder anderen Bereich
zusätzliche Leistungen und zusätzliche Ausgaben veranlasst haben, war es justament die FDP, die immer wieder
gesagt hat: Das ist zu teuer, das ist zu viel, das ist unvertretbar. Jetzt, da die Reform verabschiedet ist, stellen Sie
ausgabeträchtige Anträge und versuchen, uns sicherlich
noch ein Stück weit zu übertreffen. Das ist keine seriöse
Arbeit.
({3})
- Wenn Sie sich die Zahlen vor Augen halten, stellen Sie
fest, dass Sie es sind, die ablenken wollen.
Wir haben im Jahr 2003 76,5 Prozent der bereitgestellten Mittel benötigt. 2004 haben wir dann immerhin
79 Prozent der bereitgestellten Mittel benötigt. 2005
wurden 77 Prozent der bereitgestellten Mittel abgerufen.
Rund 80 Millionen Euro wurden nicht abgerufen, obwohl sie bereitgestellt waren. 2006 wurden 83 Prozent
- wahrscheinlich haben Ihre Mitarbeiter Ihnen diese Zahl
zur Vorbereitung auf diese Debatte genannt - der bereitgestellten Mittel abgerufen. Diese Zahl verschweigen
Sie. Das heißt, im letzten Jahr wurden nur 83 Prozent der
Mittel ausgeschöpft.
({4})
- Ich merke: Sie haben sich die Zahlen nicht gemerkt. Es
waren 76 Prozent, 79 Prozent, 77 Prozent und 83 Prozent.
({5})
Es geht rauf und runter.
({6})
- Wenn sie abgerufen würden! Sie werden aber nicht abgerufen. Die Summe steht zur Verfügung. Das ist nicht
Mathematik, das ist Rechnen.
({7})
- Das können wir, im Unterschied zu Ihnen.
Wer sich außerhalb des Plenarsaals umhört, der erfährt, warum diese Mittel nicht abgerufen werden. Ich
denke, auch Sie wissen das.
Herr Kollege Zylajew, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bahr?
Aber mit Vergnügen.
Herr Bahr.
Herr Kollege Zylajew, stimmen Sie mir zu, dass dann,
wenn jedes Jahr die zur Verfügung stehenden Mittel um
100 Millionen Euro steigen und der Anteil der abgerufenen Mittel immer ungefähr drei Viertel beträgt - 75 Prozent, 77 Prozent; am Ende waren es 83 Prozent - und
vor diesem Hintergrund statt 500 Millionen Euro in diesem Jahr 700 Millionen Euro zur Verfügung gestellt
würden, erwartungsgemäß die Quote erreicht würde, das
heißt, dass dann nicht die vollen 700 Millionen Euro,
aber möglicherweise 620 Millionen Euro abgerufen würden
({0})
und damit wesentlich mehr Krankenhäuser die Möglichkeit hätten, Arbeitszeitmodelle umzusetzen?
({1})
Herr Bahr, ich stimme Ihnen insoweit zu, dass 83 Prozent von 700 Millionen Euro mehr wären als 83 Prozent
von 500 Millionen Euro.
({0})
- Das war der erste Teil. Nun zum zweiten Teil der Antwort; Herr Kollege, wenn Sie noch die Disziplin aufbringen und sich auch das noch anhören würden!
Wenn wir im letzten Jahr 100 Millionen Euro draufgelegt hätten, wären nicht 83 Prozent abgeflossen, sondern 67 Prozent.
({1})
Wir orientieren uns aber nicht an den Prozentzahlen,
sondern an den abgerufenen Mitteln.
({2})
Das können Sie gern nachrechnen. Das stimmt. Auch
ohne Rechenmaschine sage ich Ihnen: Das sind 16 Prozentpunkte weniger.
({3})
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zwischenfrage,
({4})
weil das die Chance gab, noch einmal zu sehen, wo bei
Ihnen Gedankengänge falsch sind.
Ich würde jetzt gern zum Thema zurückkommen. Wer außerhalb des Plenarsaals mit Ärzten, Verwaltungsleitern, Betriebs- und Personalräten spricht, der erfährt,
dass es beispielsweise auch an der Akzeptanz fehlt. Sie
zitieren gern das Deutsche Krankenhausinstitut. Das haben Sie heute natürlich nicht gemacht. Das sagt nämlich:
Bei 40 Prozent der Ärzte ist keine Akzeptanz für die modernen, neuen Arbeitszeitmodelle vorhanden. - Daran
müssen wir arbeiten. Darum haben wir uns gemeinsam
wirklich ernsthaft zu kümmern. Auch wir sind daran interessiert, dass 100 Prozent abgerufen werden, auch
100 Prozent von 700 Millionen Euro abgerufen werden.
({5})
Wir müssen an diesen Dingen ein Stück weit arbeiten.
Die breite Öffentlichkeit muss zur Kenntnis nehmen:
2003, 2004, 2005, 2006 hat jedes, aber auch jedes Krankenhaus die Mittel erhalten, die es angefordert hat, um
moderne Arbeitszeitmodelle zu finanzieren.
({6})
Die Mittel sind ausgezahlt worden. Aus unserer Sicht ist
es relativ unwahrscheinlich, dass wir bei Bereitstellung
einer höheren Summe zu deutlich besseren Ergebnissen
kämen. Wir hoffen, dass die Mittel in diesem Jahr zumindest zu 90 Prozent ausgeschöpft werden. Wir stellen
auch mehr Mittel bereit.
Ich wiederhole: Kein Antrag auf zusätzlich 0,2 Prozent des Budgets wurde wegen fehlender Mittel abgelehnt. Insofern haben wir unseren Beitrag geleistet. Auch
wir wollen keine 24-Stunden-Dienste. Wir wollen keine
Ärzte, die ihren Dienst überlastet verrichten müssen. Wir
wollen die Mittel bereitstellen. Dies tun wir verlässlich.
Dies tun wir auch 2007, 2008 und 2009, wie das vereinbart war.
Wir würden uns freuen, wenn Sie, anstatt solche populistischen Anträge zu stellen, ein Stück weit gesellschaftlich mit darauf hinwirkten, dass Krankenhäuser,
Belegschaften neue Modelle entwickeln, fahren und umsetzen.
({7})
Das tut den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Krankenhäusern, aber ganz besonders auch den Patienten gut.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Frank Spieth von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! An der Fantasie der Planerfüllungsdiskussion und dem, was da an Tonnenideologie verborgen worden ist, ist die Wirtschaft der DDR gescheitert.
({0})
Ein Stück weit - so ist mein Eindruck nach Ihrem
Beitrag, Herr Zylajew - wird daran möglicherweise das
Unterfangen scheitern, moderne Arbeitszeiten in den
Kliniken zu realisieren.
({1})
Tatsache ist, dass die Kliniken in den zurückliegenden
Jahren schon eine Menge gemacht haben, um die über
die bereitgestellten Mittel möglichen Arbeitszeitregelungen und -bedingungen zu verbessern; dies kann aber
deutlich beschleunigt werden. Die bisherigen Anstrengungen reichen eindeutig nicht aus, um in den Kliniken
tatsächlich humane Arbeitsbedingungen für das medizinische Personal zu schaffen. Deshalb müssen nach unserer Auffassung - das wird entsprechend dem FDP-Antrag von der Fraktion der Linken voll unterstützt - sofort
jährlich die vollen 700 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt werden, um allen Kliniken, auch den kleinen, die
Chance einzuräumen, diese Regelung zu realisieren.
({2})
Das Bundesgesundheitsministerium vertritt die Auffassung, eine Erhöhung der Mittel sei überflüssig - sie
wird darin von der Großen Koalition unterstützt -, weil
die bisher bereitgestellten Mittel nicht abgerufen worden
seien. Damit aber liegen das Gesundheitsministerium
und Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, nach unserer Einschätzung absolut daneben.
({3})
Ich meine, dass die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes und der -regelungen ganz wesentlich von den Tarifabschlüssen des vergangenen Jahres abhängt. Die ärztlichen Tarife sind erst Mitte des Jahres 2006 festgelegt
worden. Seitdem - so die Deutsche Krankenhausgesellschaft - hat sich die Zahl der stationären Einrichtungen,
die eine konforme Arbeitszeitregelung gefunden haben,
wesentlich erhöht.
Des Weiteren möchte ich die Bundesregierung daran
erinnern, dass sie selbst es war - Sie, meine Damen und
Herren von der Großen Koalition -, die eine verzögerte
Umsetzung mit zu verantworten haben, da Sie die Frist
zur Umstellung der Arbeitszeitmodelle im vergangenen
Jahr vom 1. Januar 2006 auf den 1. Januar 2007 verschoben haben.
({4})
Hätte man den Druck auf die Krankenhausbetreiber
erhöht, statt ihn herauszunehmen, wären wir heute mit
Sicherheit einen großen Schritt weiter.
Darüber hinaus sind die aufsichtsrechtlichen Bemühungen der Länder mangelhaft, sodass eine Überprüfung der Arbeitszeiten in den Kliniken fast nie erfolgt
ist. Mit der im FDP-Antrag geforderten Aufstockung der
Mittel würde die Umstellung der Arbeitszeitregelungen
beschleunigt. Ich frage mich, ob sich das Ministerium
darüber klar ist, dass jedes Krankenhaus nur den Anteil
seines Budgets für sich zusätzlich aushandeln kann. Die
DKG beklagt seit langem, dass die Häuser mit einem zusätzlichen Bedarf dadurch ausgebremst und die bereitstehenden Mittel nicht abgefordert werden. Bei diesen
rigiden Vorgaben ist es kein Wunder, dass nur rund
83 Prozent der Mittel zugeteilt worden sind. Anstatt die
verbleibenden Mittel auf die antragstellenden Kliniken
zu verteilen, werden diese nicht verwandt. Es ist also
sachlich falsch, zu behaupten, weil die Mittel nicht voll
abgerufen worden sind, bestünde keine Not und keine
Notwendigkeit dazu. Das ist nach meiner Auffassung
formal und bürokratisch, vor allen Dingen aber praxisfern.
({5})
Wenn wir es ernst meinen mit der Verbesserung der
Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, ist das sofortige Vorziehen der Bereitstellung der Mittel von elementarer Bedeutung. Wir wollen die qualitativ hochwertige Versorgung in unseren Krankenhäusern erhalten.
Die Aufstockung des ärztlichen Personals darf dabei
aber nicht weiter zulasten der Pflegekräfte gehen. So ist
die Zahl der Pflegekräfte im stationären Bereich von
1995 bis 2005 um 14 Prozent gesunken.
({6})
Ebenso wie die ärztliche Versorgung ist die verantwortliche Pflege Bedingung für einen hohen Qualitätsstandard
und einen erfolgreichen Gesundungsprozess der Kranken.
Das Problem der überlangen Arbeitszeiten und der
Nichteinhaltung des Arbeitszeitgesetzes ist noch lange
nicht gelöst. Die Gewerkschaften beklagen, dass selbst
in den Kliniken, die gesetzeskonforme Arbeitszeitmodelle eingeführt haben, Ärzte angehalten werden, län9238
gere Dienste zu leisten. Ihnen werden Ruhezeiten und
sonstiger Ausgleich verspätet oder gar nicht gewährt.
Das hat etwas mit Finanzen zu tun. Diesem ausbeuterischen Treiben muss schnellstens ein Riegel vorgeschoben werden.
({7})
Diese Missstände können mit verschärften Kontrollen
der Aufsichtbehörden einerseits und der Bereitstellung
der Mittel andererseits bekämpft werden.
Herr Kollege Spieth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Mein Fazit: Kliniken unternehmen verstärkt Anstrengungen. Wir sollten sie dabei unterstützen und alles tun,
um das nicht auf dem Rücken des Personals zu betreiben. Deshalb stimmen wir für den Antrag der FDP.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Terpe von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Entstehung und Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes für das ärztliche Personal im Krankenhaussektor infolge der EU-Richtlinie ist eine Geschichte
aus Ignoranz, Verzögerung und Taktieren. Wurde zunächst das Problem der Überstunden mit der Gefahr der
Übermüdung ignoriert, gab es später mit exekutiver und
legislativer Billigung eine wiederholte Verzögerung der
Umsetzung. Ich habe das Gefühl, dass auch jetzt Taktieren und Verzögerung die Spielregel ist;
({0})
denn die geplante Gegenfinanzierung wird über den
Vollzugszeitpunkt des Arbeitszeitgesetzes, den 1. Januar
2007, hinaus gestreckt und verzögert.
Der Sachverhalt ist allgemein bekannt: Im Jahre 2003
wurde, durchaus plausibel - die Staatssekretärin hat gesagt, es waren wir und nicht die FDP; darauf will ich
jetzt gar nicht eingehen -, davon ausgegangen, dass das
Arbeitszeitgesetz einen zusätzlichen Personal- und damit auch Finanzbedarf erfordert.
({1})
Deshalb wurden, ebenfalls plausibel, für das damals angestrebte Jahr der Umsetzung, nämlich 2009, 700 Millionen Euro kalkuliert. Stellt man in Rechnung, dass die
Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes eine Reduzierung der
Arbeitszeit um 15 bis 20 Prozent erforderlich macht
bzw. machte, so sind etwa 10 Prozent zusätzliche Ärzteund Ärztinnenstellen, die sich aus 700 Millionen Euro finanzieren lassen, ein Gutteil der Lösung. Man muss betonen, dass es da auch um Personaleinstellungen geht.
({2})
Wo liegt für Sie, meine Damen und Herren aus der
Koalition, also das Problem, die, wie gesagt, plausibel
kalkulierten Mittel bereits 2007 einzustellen, wenn doch
die Vollzugsfrist 2007 abgelaufen ist? Da wird argumentiert - wir haben ja eine sehr launige Rede von Herrn
Zylajew
({3})
und auch von der Staatssekretärin gehört -, die Mittel
seien 2005 nur zu 77 Prozent ausgeschöpft worden. In
diesem Zusammenhang drängt sich mir das Gefühl auf,
dass - in Abwandlung des Sprichwortes „Papier ist geduldig“ - Zahlen durchaus geduldig sind. Ich kann mich
jedenfalls gut daran erinnern, dass in der Anhörung gesagt wurde, zwar habe ein höherer Prozentsatz von Kliniken versucht, das Arbeitszeitgesetz umzusetzen; aber
nur 23 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte seien erfasst.
Mit den Zahlen ist das immer so eine Sache; es kommt
immer darauf an, was man daraus lesen will.
({4})
Man muss das vor allen Dingen vor dem Hintergrund
sehen, dass das Gros der Krankenhäuser erst die letzten
Monate und Tage des Jahres 2006 genutzt hat, um überhaupt an die Umsetzung zu denken bzw. eine Neustrukturierung abzuschließen. Ein Teil - das betrifft vor allem
die kleinen Krankenhäuser - hat das noch nicht gemacht.
Wir werden darauf noch zurückkommen.
Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen,
dass es gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den Krankenhäusern sind und nicht die Politik, die dankenswerterweise die innovativen Konzepte entwickeln
und umsetzen, und das unter erheblichen finanziellen
Belastungen.
Zur Umsetzungsrealität gehört aber auch, dass der erhöhte Anforderungsdruck, nämlich in verkürzter Arbeitszeit den gleichen Arbeitsumfang zu realisieren, zu
einer Veränderung, wenn nicht gar zu einer Verschlechterung der Behandlungskontinuität für den Patienten
führt. Arbeit von Ärztinnen und Ärzten beispielsweise
im Schichtsystem birgt das Risiko, dass das System von
Patientenvisite, Diagnostik und Therapie aus einer Hand
verloren geht. Vertraute Bilateralität wird durch unpersönliche Multilateralität potenziell verdrängt. Da stellt
sich die Frage der Betreuungsqualität.
Auch die Argumentation, mehr Mittel zur Lösung des
Arbeitszeitproblems würden den Schuldenabbau behindern, ist meiner Ansicht nach eine unzulässige Problemvermischung. Denn das wäre ein Art Quersubventionierung. Natürlich sind auch wir der Meinung, dass die
Mittel zielgenau eingesetzt und die besonderen strukturellen Probleme kleinerer und mittlerer Krankenhäuser
berücksichtigt werden müssen. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen aus der Koalition, dies halte ich eher für
einen wesentlichen Grund, die Mittel jetzt bereitzustellen.
Nicht die billigste Umsetzungsvariante, sondern die
mit dem besten Effekt hinsichtlich der Behandlungsqualität sollte realisiert werden. Stimmen Sie deshalb mit
uns Grünen für den Antrag der FDP!
Vielen Dank.
({5})
Als letzter Redner hat der Kollege Eike Hovermann
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube nicht, dass wir allein mit der Fokussierung auf
das Thema „Beantragte und verausgabte Mittel“ das Problem im Kern treffen. Ich werde darauf, soweit dies in
fünf Minuten möglich ist, noch eingehen.
Ich darf zunächst einmal daran erinnern, dass Klagen
von spanischen und deutschen Ärzten den Europäischen Gerichtshof seinerzeit völlig zu Recht veranlasst
haben, den Bereitschaftsdienst komplett als Arbeitszeit
anzuerkennen. Das ist der Ausgangspunkt und nichts anderes. Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof seinen Beitrag dazu geleistet, unzumutbare Belastungen von Ärzten, die oft zulasten der Versorgungsqualität und damit
natürlich auch zulasten der Lebensqualität der Patienten
gegangen sind, zu beenden. Insofern war das Urteil gut
und richtig und auch sinnvoll hinsichtlich erster Schritte
zum Abbau von Frustrationen bei vielen Ärzten und von
oftmals teamfeindlichen hierarchischen Strukturen. Das
war alles Gegenstand der Urteils und der Untersuchungen des Europäischen Gerichtshofes.
Natürlich - jetzt komme ich zum Kern - bereitete und
bereitet die Umsetzung des Urteils Schwierigkeiten. Die
Kernprobleme waren überwiegend finanzieller Natur.
Um die Umsetzung der europäischen Arbeitszeitvorgaben in den Krankenhäusern zu unterstützen, stellt die
Bundesregierung, wie schon so oft gesagt, 700 Millionen
Euro bis 2009 in jährlichen Tranchen zur Verfügung. Die
FDP will nun, dass diese Gelder vorzeitig ausgeschüttet
werden. Diese Zielvorstellung lehnen wir ab. Die Gründe
für diese Ablehnung sind unter anderem folgende:
Die Anhörung zu unserem Arbeitszeitmodell - von
Ihnen beantragt; Sie erinnern sich - hat gezeigt, dass
auch unerwünschte Mitnahmeeffekte auftreten können,
sprich: ein zweckentfremdeter Einsatz von Mitteln. Unter dem finanziellen Druck, unter dem viele Kliniken
stehen, ist das so.
({0})
- Warten Sie es ab! Sonst stelle ich gleich genauso Rechnungen an wie Herr Zylajew.
Ein von der DKG in Auftrag gegebenes Gutachten hat
gezeigt, dass Forderungen oft überzogen waren und etwa
die Verkürzung des Bereitschaftsdienstes und die Einführung von zeitversetzten Diensten keine echten neuen
Arbeitszeitmodelle darstellen. Auch das ist eine Zweckentfremdung des Mitteleinsatzes.
Es gilt natürlich, Herr Bahr, bei der Verteilung von
Geldern zukünftig mehr als bisher auf die Auswirkungen auf größere und kleinere Kliniken zu achten
({1})
und damit auch auf die Sicherstellung der Versorgung im
ländlichen Raum im Vergleich zu den Ballungszentrum.
Aber, Herr Bahr, zu glauben, dass dieses durch eine frühzeitige Vergabe von Mitteln für neue Arbeitszeitmodelle
denn erreicht werden könnte, lässt die Augen vor den eigenen strukturellen Problemen verschließen, die wir vorhaben zu lösen.
({2})
Im Übrigen ist auch der FDP-Fraktion im Zusammenhang mit der Situation der Krankenhäuser doch bekannt,
dass es ein Wegbrechen der dualen Finanzierung und einen Investitionsstau gibt. Diese Probleme werden nicht
durch vorzeitiges Ausschütten von Geldern für Arbeitszeitmodelle gelöst. Die Krankenhäuser haben auch
Schwierigkeiten mit den Zusatzausgaben aufgrund der
Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das ist natürlich keine
Frage. Das hat aber mit dem, was Sie jetzt fordern, überhaupt nichts zu tun.
({3})
Ebenso ist sicherlich bekannt, dass die kommenden
Tarifabschlüsse zu Belastungen führen werden. Herr
Spieth, zusätzliche Ausgaben müssen aber im System erwirtschaftet werden können. Man kann jetzt nicht sagen:
Wenn wir die Vergabe der Gelder für die Arbeitszeitmodelle vorzögen, wäre das Problem sozusagen en passant
gelöst. Das glaube ich nicht; denn das entscheidende
Problem -
Herr Kollege Hovermann, ich möchte Sie ungern unterbrechen; aber der Kollege Terpe würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Darf ich meinen Gedanken noch zu Ende führen?
Bitte schön.
({0})
Neben den zu erwartenden Belastungen durch kommende Tarifabschlüsse ist vor allem das folgende entscheidende Problem bekannt - Herr Spieth, die vorzeitige Vergabe von Geldern hat nichts damit zu tun; sie löst
das Problem nicht -: die Schere zwischen dem Anstieg
der Grundlohnsumme auf der einen Seite, der im Jahre
2007 wahrscheinlich bei 0,2 bis 0,3 Prozent liegen wird,
und dem Anstieg der Kosten auf der anderen Seite, der
bei 3 bis 3,5 Prozent liegen wird. Das ist die eigentliche
Problematik,
({0})
angesichts deren die Umsetzung von Arbeitszeitmodellen
natürlich Schwierigkeiten bereitet, insbesondere - das ist
gar keine Frage - bei kleineren Krankenhäusern. Zu glauben, diese strukturellen, finanziellen Probleme könnten
gelöst werden, indem man jetzt abrupt Zahlungen vorzieht - ({1})
- Sie können mir eine Zwischenfrage stellen; dann kann
ich darauf antworten.
({2})
Herr Kollege Hovermann, der Kollege Terpe wollte
Ihnen ja eine Frage stellen.
Das darf er jetzt auch.
Bitte schön.
Ich habe noch neun Sekunden, Herr Terpe. - Zum
Abschluss wollte ich nur sagen: Qualität geht vor
Schnelligkeit; die FDP will sehr schnell sein, wir wollen
qualitätsbewusst arbeiten.
({0})
Ich weiß, dass nur der Präsident jetzt das Recht hätte,
zu sagen: Jetzt sind auch schon die neun Sekunden abgelaufen. Ich möchte Ihnen, Herr Hovermann, trotzdem
eine Frage stellen: Können Sie als Arzt meine Erfahrung
bestätigen, dass die Umstellung von Arbeitszeitmodellen
in kleineren und mittleren Krankenhäusern naturgemäß
schwieriger als in großen Krankenhäusern ist, die es einfacher haben, innovative Konzepte umzusetzen?
({0})
Können Sie auch bestätigen, dass zur Umsetzung der Arbeitszeitgesetzgebung in kleinen und mittleren Krankenhäusern vor allen Dingen personalintensive Maßnahmen
ergriffen werden müssen? Aus diesem Grund konnten
die kleinen und mittleren Krankenhäuser gar kein Geld
anfordern: Sie hatten gar nicht die Möglichkeit, das mit
ihrem Personal umzusetzen.
({1})
Zuerst möchte ich sagen: Ich bin kein Arzt; ich werde
aber andauernd in diese Berufsgruppe eingeordnet bzw.
promoviert. Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen.
Natürlich trifft die Erfahrung, die Sie gemacht haben,
zu. Wenn Sie generell von kleinen und mittleren Krankenhäusern sprechen, stimmt das nicht ganz - da muss
man schon sehr genau hinschauen -; denn es gibt
Spezialkrankenhäuser, die damit sehr gut zurechtkommen. Ich nehme aber Ihren Gedanken auf. Die Realität
bei der Versorgung sieht so aus, dass die kleineren Krankenhäuser überwiegend entweder schließen oder fusionieren. Es ist aber falsch, jetzt zu glauben, man könnte
ihnen helfen, wenn man die Vergabe von Geldern abrupt
vorzieht. Vielleicht wird versucht, mithilfe der Anträge
besser ins Gespräch zu kommen.
({0})
- Der Alternativvorschlag ist: Um Planungssicherheit zu
erlangen, sollte man die in Tranchen zur Verfügung gestellten Gelder in dem vereinbarten Zeitraum verausgaben und dann schauen, wo in den Krankenhäusern damit
neue Arbeitszeitmodelle umgesetzt worden sind und was
davon übertragbar ist. Dies kann man eben nicht durch
abruptes Vorziehen erreichen. Wenn die Krankenhäuser
jetzt nicht in der Lage sind, sind sie es auch in einem halben Jahr nicht, wenn ein Sack Geld auf ihrem Tisch
liegt.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Ausgleich für neue Arbeitszeitmodelle in Krankenhäusern vorziehen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4596, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/670 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz
Tätigkeitsbericht 2003 und 2004 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz
- 20. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 15/5252, 16/4882 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Klaus Uwe Benneter
Jan Korte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Beatrix Philipp von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ausschuss habe ich gesagt, dass mancher Wein dadurch besser wird, dass man ihn liegen lässt. Auf einen Datenschutzbericht, der sich auf die Jahre 2003 und 2004
bezieht, trifft das allerdings überhaupt nicht zu. Ich
möchte aber nicht verhehlen, dass unter dem Vorgänger
im Amt des Datenschutzbeauftragten, Herrn Dr. Jacob,
sehr viel mehr Ruhe und Sachlichkeit geherrscht haben
und manche Auseinandersetzung, die heute stattfindet,
nicht stattgefunden hat.
({0})
Das ist ja auch in Ordnung. Ich kritisiere das gar nicht;
ich stelle das nur fest.
Bevor ich dennoch auf Herrn Schaar eingehe, möchte
ich ein Zitat vorbringen, von dem ich meine, dass es gut
in diesen Zusammenhang passt:
Ein Kompromiss, das ist die Kunst, einen Kuchen
so zu teilen, dass jeder meint, er habe das größte
Stück bekommen.
Dieses Zitat wird Ludwig Erhard zugeschrieben. Ich
weiß nicht ganz genau, ob er die Große Koalition damit
gemeint hat. Er hätte damit aber auch die Ihnen vorliegende gemeinsame Erklärung zum 20. Datenschutzbericht gemeint haben können. Es ist nämlich gute Tradition, dass sich alle Fraktionen dieses Hauses in diesem
Bereich, der eigentlich immer sehr kontrovers diskutiert
wird, auf etwas Gemeinsames einigen und das der staunenden Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen.
({1})
- Herr Tauss, ich kann nicht gerade behaupten, dass ich
Sie die ganze Zeit vermisst hätte. Ich finde es aber toll,
dass Sie sich an dieser Debatte gleich zu Beginn durch
Begeisterungsbekundungen beteiligen,
({2})
obwohl Sie sich in den letzten Wochen und Monaten rargemacht haben und an der gemeinsamen Entschließung
überhaupt nicht beteiligt waren. Wir sind gespannt, wie
Sie sich zu dieser Sache, an der Sie nicht beteiligt waren,
gleich äußern werden. Wir sind, wie gesagt, ausgesprochen positiv gestimmt.
Ich möchte nicht versäumen, mich ausdrücklich bei
den Berichterstatterinnen und Berichterstattern, bei den
Damen und Herren aus den diversen Ministerien, die bei
der Formulierung sehr hilfreich waren, sowie bei dem
Datenschutzbeauftragten und seinen, aber auch unseren
eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns bei
der Erstellung dieser gemeinsamen Erklärung hilfreich
zur Seite standen und die in der Vorbereitung sehr aktiv
waren, zu bedanken.
Im Vergleich mit den anderen Grundrechten ist der
Schutz personenbezogener Daten als Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit seinen gut 24 Jahren
ein relativ junges Grundrecht. Nicht erst seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 ist der Datenschutz
stärker in das Bewusstsein und den Alltag der Bevölkerung gerückt.
Zahlreiche technologische Innovationen, zum Beispiel die Datenübertragung durch WLAN oder die zukunftsträchtige RFID-Technologie, haben erheblich zur
Sensibilisierung der Bevölkerung beigetragen. „Sensibilisierung“ heißt: Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes angerührt, von Beunruhigung bis hin zu Angst. An
diesen neuen Technologien werden aber auch große Erwartungen geknüpft.
Herr Bürsch, den wir freudig erregt in unserer Mitte
begrüßen, der als Berichterstatter dabei war, lenkt Herrn
Tauss leider vom Zuhören ab. Darum werden wir gleich
ein Problem haben, wenn Herr Tauss sich hier äußert.
Das ist jedenfalls zu erwarten.
({3})
- Ich kann Frau Piltz nur zustimmen: Männer können
nicht zwei Sachen gleichzeitig. Das wissen wir ja.
({4})
Da hier weniger Frauen als Männer vertreten sind, ist der
Beifall reduziert.
Aus der erhöhten Sensibilität ergeben sich Konsequenzen:
Erstens besteht die Notwendigkeit, den Datenschutz
zu modernisieren. Wir haben am 5. März dieses Jahres
gemeinsam eine richtig gute Anhörung durchgeführt.
({5})
In dieser Anhörung wurden insbesondere die eingeschränkten Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen
das Datenschutzrecht, fehlendes Unrechtsbewusstsein
bei vielen Unternehmen, aber auch Widersprüche hinsichtlich bußgeldbewehrter Tatbestände als Hauptdefizite des geltenden Rechts benannt. So stellt zum Beispiel
die unzulässige Speicherung von Daten zwar eine Ordnungswidrigkeit dar, das rechtswidrige Nutzen dieser
Daten jedoch nicht. Deswegen fand ich es ausgesprochen interessant - man muss der Sache sicherlich intensiver nachgehen -, dass der Sachverständige Professor
Abel bei der Anhörung klar zum Ausdruck gebracht hat,
dass eine Modernisierung des Datenschutzrechtes weder in einem großen Wurf noch durch eine Vielzahl einzelfallbezogener Regelungen und Rechtsvorschriften gelingen kann.
Aber er sieht insbesondere im Bereich des Zivilrechtes
Verbesserungsmöglichkeiten, etwa durch die Konkretisierung des Wettbewerbsrechts. So hat er ausgeführt - ich
darf das in Erinnerung rufen -: Datenschutzrechtliche
Verstöße und auch das Unterlassen datenschutzrechtlich
erforderlicher Maßnahmen würden dann als unlauterer
Vorsprung durch Rechtsbruch angesehen und mit dem
wettbewerbsrechtlichen Instrumentarium geahndet. Ich
glaube, dass diese Sichtweise sehr interessant ist. Wir
sollten etwas intensiver darüber nachdenken.
Zweitens. Eine weitere Forderung ist die nach einem
Datenschutzaudit nach § 9 a des Bundesdatenschutzgesetzes. Da stehen wir trotz heftiger Bedenken vor der
Beschlussfassung. Natürlich folgen wir der guten parlamentarischen Gepflogenheit, die Konsequenzen nach einem Beschluss mitzutragen.
({6})
Denn wir haben uns darauf geeinigt, dass es in jedem
Fall freiwillig sein wird. Es soll auch unbürokratisch
sein. Diese beiden Bedingungen waren für uns ausreichend, um dem Kompromiss zuzustimmen. Keinesfalls
darf es zu einer indirekten Benachteiligung von kleinen
und mittleren Unternehmen kommen. Natürlich darf es
auch nicht von der Finanzkraft eines Unternehmens abhängen. Hier wird es auf die Kreativität aller Beteiligten
ankommen.
Drittens. Ein gemeinsamer Standpunkt zum Thema
RFID. Hier gilt es, wie im Datenschutz insgesamt die
Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Deswegen haben wir in die Ihnen vorliegende gemeinsame Entschließung einige Bedingungen geschrieben.
Bei aller Gemeinsamkeit gibt es, wie bereits erwähnt,
nach wie vor gravierende Unterschiede beim Datenschutz, insbesondere in sicherheitspolitischen Fragen.
Ich nenne nur das Thema Biometrie. Diese Technologie
hat bereits in Deutschland Einzug gehalten und Anwendung gefunden. Ich denke zum Beispiel an Frankfurt,
aber auch an heute Morgen und die zurückliegenden
Diskussionen zwischen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der der SPD. Wir sind uns über die exakte Anwendung und Umsetzung noch nicht ganz einig. Aber
wir sind auf einem guten Weg und geben auch da die
Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung nicht auf. Das
Pilotprojekt am Frankfurter Flughafen - ich erwähne es
hier noch einmal - hat bei der Bevölkerung große Akzeptanz gefunden. Das darf man sicherlich sagen.
Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Fraktion steht
für einen aufgeklärten und vor allen Dingen pragmatischen Datenschutz, der nicht im luftleeren Raum steht,
sondern immer von Fall zu Fall hinter kollidierende
Rechtsgüter zurückzutreten hat, und zwar dann, wenn
die Abwägung so ausgeht, wie ich es eben beschrieben
habe. Gerade heute in Anbetracht unseres sicherheitspolitischen Umfeldes, in dem zwischen innerer und äußerer
Sicherheit nicht mehr eindeutig unterschieden werden
kann, darf Datenschutz nicht dazu instrumentalisiert
werden, sicherheitspolitisch notwendige Maßnahmen zu
blockieren.
({7})
Wir nehmen die Sorgen der Menschen in unserem
Land ernst. Wir warnen aber davor, so wie es gestern der
Berliner Datenschutzbeauftragte, Herr Dr. Dix, wieder
einmal bei der Vorstellung seines Jahresberichts getan
hat, davon zu sprechen, dass wir vor einer Überwachungs- und Präventionsgesellschaft stehen. Das ist sicherlich nicht hilfreich, wenn man einen sinnvollen Datenschutz will.
Ich hoffe für die Zukunft darauf, dass wir bei dem
neuen, eigentlich schon auf dem Tisch liegenden Datenschutzbericht für die beiden folgenden Jahre ebenfalls zu
einer sachlichen Diskussion über dieses Thema gelangen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungefähr alle zwei Jahre, wenn nicht gerade eine Neuwahl
des Bundestages dazwischenkommt, befassen wir uns
hier fraktionsübergreifend mit dem Datenschutz. Ich
finde es gut, dass es auch in diesem Jahr zu einer Fortsetzung der schon von Frau Philipp angesprochenen Tradition gekommen ist: Wir haben eine fraktionsübergreifende
Erklärung zum 20. Bericht des Datenschutzbeauftragten.
Ebenso wie Frau Philipp möchte ich mich zunächst
bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken, insbesondere bei Ihnen, Herr Bürsch. Dass Sie heute nicht zu
diesem Thema sprechen, finde ich schade, weil Sie Teil
des Ganzen waren;
({0})
auch das muss man einmal sagen. Ich möchte mich auch
bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie bei
denen der Ministerien bedanken, auch wenn sie manches, was wir gerne gehabt hätten, fleißig verhindert haben. Ganz besonders bedanke ich mich beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz,
({1})
der auf der Tribüne sitzt und uns zuhört, und bei seinen
Mitarbeitern. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit!
Am vorliegenden Beschluss wird deutlich, dass der
Datenschutz ein Thema ist, zu dem sich das Parlament
die Informationen, die es erhalten möchte, erkämpfen
muss. Wenn wir nur darauf warten, dass uns die Regierung etwas vorlegt, dauert das in der Regel lange.
({2})
Es wurden eine Menge positiver Aspekte erwähnt.
Von Bedeutung sind aber auch die Forderungen nach einem Datenschutzaudit und einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, die leider schon zum wiederholten Male
von uns erhoben werden mussten. Herr Tauss, zu der Bemerkung, die Sie eben gemacht haben, möchte ich Ihnen
sagen: Sie regieren jetzt schon in der dritten Legislaturperiode in Folge. Es ist wirklich ein Armutszeugnis, das
Sie das noch nicht hinbekommen haben; das habe ich
auch schon im Ausschuss gesagt. Die Grünen haben das
Datenschutzauditgesetz bestimmt nicht verhindert. Ich
hoffe, dass Sie sich jetzt einmal an das halten, was Sie
hier großspurig verkünden.
({3})
Wir haben zu SWIFT, zur Übermittlung von Fluggastdaten, zur Genomanalyse und zur Gesundheitskarte eine
Position gefunden. Mehr wäre sicherlich gut gewesen.
Aber das, was wir hier erreicht haben, ist für den Datenschutz besser als nichts.
Besonders hervorheben möchte ich folgende Punkte:
Wir fordern gemeinsam als Parlament, in der dritten
Säule der EU einen hohen und harmonisierten Datenschutzstandard zu verwirklichen. Darüber hinaus fordert das Parlament die Bundesregierung auf, dieses
Thema noch während ihrer EU-Ratspräsidentschaft zu
einem Ende zu bringen. Ich wünsche Ihnen viel Glück
dabei, über die - wie hieß es in einer Ihrer Vorlagen so
schön? - politische Orientierungsdebatte hinauszukommen und einen Beschluss zu fassen, der uns allen etwas
bringt.
({4})
Interessant ist auch, dass Sie es geschafft haben, die
RFID-Technologie zu erwähnen. Sie stellt nämlich eine
neue Dimension für den Datenschutz dar, weil sie es ermöglicht, aus diesem Chip Daten zu lesen, ohne dass
man davon etwas bemerkt. Es ist ein erfreulicher Fortschritt, dass die Regierungsfraktionen erkannt haben,
dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich kann mich erinnern, dass das, als ich Anfang 2004 eine diesbezügliche
Anfrage gestellt habe, noch ganz anders war. Daher
möchte ich loben, dass bei Ihnen ein Erkenntnisgewinn
erfolgt ist.
Ich freue mich vor allem darüber, dass wir offensichtlich auf dem richtigen Weg sind, wenn es darum geht,
den Datenschutz zu modernisieren. Aus meiner Sicht hat
eine wirklich eindrucksvolle Anhörung stattgefunden,
auf die Frau Kollegin Philipp bereits Bezug genommen
hat. Diese Anhörung hat gezeigt, dass wir von einem
maßnahmeorientierten zu einem zielorientierten Datenschutz kommen müssen. Das wird eine Aufgabe aller
Fraktionen sein. Ich nehme die Einladung, die Beatrix
Philipp im Ausschuss geäußert hat, ideologiefrei über
die Modernisierung des Datenschutzes zu diskutieren,
im Namen meiner Fraktion gerne an. Wir sind dazu in
der Lage. Wenn es etwas nützt, helfen wir gerne.
Leider gibt es aber auch Themen, die uns fehlen, zum
Beispiel das bereits angesprochene Thema Biometrie.
Wir wollten dafür sorgen, dass biometrische Daten nur
erhoben und verwendet werden, wenn dies erforderlich,
sinnvoll und verhältnismäßig ist und wenn Maßnahmen
zum Schutz vor Missbrauch getroffen werden. Das ist
bei der Gesetzgebung eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Der Text, den wir zu diesem Zweck formuliert haben, war relativ harmlos. Da Sie - vor allen Dingen auf
Druck des BMI - nicht einmal wollten, dass dieser Text
in unserem Beschluss enthalten ist, habe ich die Befürchtung, dass Sie, wenn es um die Einführung des
elektronischen Personalausweises geht, hinter diesen
Zielen zurückbleiben. Wir werden sehr genau verfolgen,
ob dem wirklich so ist.
Darüber hinaus fehlt uns eine gemeinsame Entschließung zur Kontenabfrage. In der letzten Entschließung
war dieses Thema noch enthalten. Es ist schade, dass wir
uns hier nicht einigen konnten. Das ist für den Datenschutz ein trauriges Kapitel.
({5})
Ursprünglich ging es einmal um Terrorbekämpfung.
Jetzt geht es darum, Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
Mir wurde erzählt - daran kann ich mich noch sehr genau erinnern -, dass die jetzige Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, als es im Vermittlungsausschuss
um das Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit ging,
gesagt hat, dass die Abfrage der Kontenstammdaten ab
dem Moment, in dem es eine Abgeltungsteuer gibt, entfällt. Meine Damen und Herren, an dieses Versprechen
werden wir Sie immer wieder erinnern. Das ist das
Schicksal, das viele Gesetze teilen: Sie werden für die
Terrorabwehr gemacht und treffen schließlich jeden. Das
ist etwas, was wir als Datenschützer immer im Blick haben müssen.
Es gibt beim Datenschutz noch viel zu tun. Wir werden uns daran beteiligen; denn der Datenschutz ist die
gemeinsame Aufgabe des Parlamentes.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Hochverehrte Kollegin Philipp, man
hat mir in unseren gemeinsamen Besprechungen immer
wieder signalisiert, es würde Sie eher irritieren, wenn ich
teilnähme. Dass Sie mich derart vermissen, hätte ich
nicht gedacht. Aber ich freue mich sehr darüber. Ich
werde das nächste Mal wieder verstärkt persönlich präsent sein und nicht nur in Gestalt meines Mitarbeiters daran mitwirken.
Dem lieben Kollegen Bürsch, der die Hauptarbeit gemacht hat, möchte ich dafür recht herzlich danken.
({0})
- Er ist hier Berichterstatter, selbstverständlich.
Ich koordiniere für meine Fraktion die unterschiedlichen Bereiche des Datenschutzes, übrigens auch den Gesundheitsdatenschutz. Wir haben viele Themen, an denen wir gemeinsam arbeiten.
({1})
Frau Kollegin Piltz, Sie kritisieren, dass wir in der
letzten Legislaturperiode und auch bis jetzt kein Datenschutzauditgesetz vorgelegt haben. Kollegin Stokar
und ich waren darüber nicht sehr glücklich. Doch wir
haben den Reformprozess auf drei Teile ausgelegt - in
dieser Kontinuität stehen wir - und gesagt: Als Erstes
muss - das ist völlig klar - die Datenschutzrichtlinie
umgesetzt werden. Da haben wir bewusst reingeschrieben - übrigens auch gegen manchen Widerstand -, dass
wir ein Datenschutzaudit wollen. Dann kam das Informationsfreiheitsgesetz. Wir haben uns damit Zeit gelassen, und es ist ein gutes Gesetz, ein gründliches Gesetz
geworden.
({2})
Die dritte Stufe kam dann nicht wegen der Bundestagswahl. Ich freue mich sehr, dass wir uns nach dem, was
die Kollegin Philipp hier vorgetragen hat, jetzt mit unserem neuen Koalitionspartner diesem Projekt zuwenden
können.
Auch ich begrüße sehr, dass wir uns in 13 - nicht nur
in wichtigen - Bereichen des Datenschutzes auf eine gemeinsame Position einigen konnten. Kollegin Piltz, ich
hätte mir ebenfalls an anderer Stelle eine deutliche Positionierung gewünscht. Sagen wir einmal so: Wenn Herr
Westerwelle Rot-Gelb-Grün nicht verhindert hätte, hätten wir in Fragen des Datenschutzes möglicherweise
eine noch fortschrittlichere Situation im Lande.
({3})
Aber jetzt haben wir einen neuen, liebenswerten Koalitionspartner, mit dem wir uns auch bemühen, zu entsprechenden Regelungen zu kommen.
({4})
- Ach was, überhaupt nicht. Die sind ganz happy, mit
uns zusammenarbeiten zu dürfen. Die Kollegin Philipp
ist ja ein lebender Beweis dafür. Was haben wir uns früher nicht immer gekabbelt! Heute klatsche ich für Sie
schon als Erster, noch bevor ihre eigenen Fraktionskolleginnen und -kollegen klatschen.
Also, ich bin zufrieden mit dieser Entschließung und
bedanke mich bei allen, die an ihrer Erarbeitung beteiligt
waren.
Ich will für die SPD-Fraktion feststellen, dass Datenschutz für uns unabdingbarer Grundrechtsschutz ist. Er
ist im Zeitalter der Informationsgesellschaft eine unverzichtbare Bedingung für das Funktionieren jeglichen demokratischen Gemeinwesens. Er ist kein lästiges Anhängsel, er ist keine überflüssige Bürokratie, er ist
Voraussetzung dafür, dass auch in der Informationsgesellschaft das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
- ein Grundrecht, wie uns das Bundesverfassungsgericht
in vielen Entscheidungen immer wieder ausdrücklich bestätigt hat; dafür sind wir an dieser Stelle außerordentlich dankbar - durchgesetzt werden kann.
({5})
Zu Recht hat Herr Schaar - Herr Schaar, ich freue
mich, dass Sie hier sind - die Gefährdungspotenziale
und Risiken, über die wir uns unterhalten müssen, konkret benannt: Die RFIDs, die Funkchips, die an verschiedenen Stellen zum Einsatz kommen, bieten natürlich
neue Möglichkeiten zur Erstellung personenbezogener
Verhaltens-, Nutzungs- oder gar Bewegungsprofile. Wir
können so etwas aber verhindern, wir können Technik
datenschutzrechtlich gestalten. Dafür brauchen wir allerdings gesellschaftspolitische Akzeptanz.
Das deutsche Datenschutzrecht - das hat auch die Anhörung vor einigen Wochen deutlich gemacht - hat Vorbildfunktion für viele Staaten der Welt. Aber es ist an
vielen Stellen in die Jahre gekommen: Wir kommen
kaum hinterher, die technischen Entwicklungen gesetzgeberisch aufzugreifen. Diese zunehmende Konvergenz
der Technik auch im Datenschutz muss uns herausfordern. Wir müssen das Datenschutzrecht modernisieren
und fortentwickeln und hierbei - da stimme ich Ihnen,
liebe Kollegin Philipp, völlig zu - zu unbürokratischen
und effizienten Instrumenten kommen.
Ein solches modernes und effizientes Datenschutzrecht ist ein wirtschaftlicher Standortvorteil. Es geht
hier nicht nur darum, dem Datenschutz gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern als Grundrecht zum Durchbruch zu verhelfen, sondern es ist, wie gesagt, als InstruJörg Tauss
ment auch ein Standortvorteil. Das ziert Deutschland
übrigens. Wir kritisieren ja oft, dass der Sicherheitsbegriff - Risikokapital und Ähnliches - bei uns etwas desavouiert ist. Die Sicherheit, die bei uns auch kulturell verankert und ein Grundbedürfnis der Bevölkerung ist, können wir auch zu einem Wettbewerbsvorteil
machen, nämlich über die IT-Sicherheit als der anderen
Seite der Medaille des Datenschutzes. Diese Chance
sollten wir auch ökonomisch nutzen. Ein Instrument dafür kann ein Datenschutzaudit sein, wie es in § 9 a des
Bundesdatenschutzgesetzes vorgesehen ist.
Herr Staatssekretär, wir haben kürzlich in einer Besprechung eine erste Runde veranstaltet. Liebe Kollegin
Piltz, insofern kann ich Sie beruhigen: Wir sind nicht nur
untereinander im Gespräch.
({6})
- Ich kann Sie jederzeit beruhigen, überhaupt kein Problem; fühlen Sie sich völlig entspannt. - Wir haben diese
Frage in einer sehr entspannten Sitzung mit dem Herrn
Staatssekretär erörtert. In der Tat haben wir gesagt, dass
wir jetzt die Gespräche mit der Wirtschaft und den Wirtschaftsverbänden führen wollen, um auszuloten, wo deren Interessen liegen.
({7})
Es ist völlig klar - ich kann es nur noch einmal
betonen -: Wir wollen ein auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhendes Datenschutzaudit. Sonst hätten wir ja
auch keinen Wettbewerbsvorteil. Es würde keinen Sinn
machen, wenn man das zu einer Zwangsmaßnahme machen würde. Wir wollen den Wettbewerb hier in den
Mittelpunkt stellen.
Dass es immer mehr Firmen gibt, die davon überzeugt
sind, zeigt das jüngste Beispiel, das mich sehr überrascht
hat. Ich habe hier oft genug auf Microsoft herumgehackt
und sogar einmal gesagt, der Deutsche Bundestag solle
eine Microsoft-freie Zone werden.
({8})
- Sie verwenden auch nicht in jedem Bezirk die richtige
Software; das ist jetzt aber nicht mein Punkt. - Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich die Firma Microsoft - um
einmal eine Firma zu nennen - diesem Auditierungsverfahren in Schleswig-Holstein unterzogen hat. Das ist eine
wirklich erfreuliche Entwicklung.
({9})
Wie gesagt: Das ist eine Chance für den Datenschutz
und für diese Fortentwicklung.
Lassen Sie mich dies als Forschungspolitiker sagen:
Es gibt natürlich auch noch eine Reihe anderer Punkte
beim technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt, die wir betrachten müssen. Ich spreche jetzt die
molekulargenetische Forschung an, die ja auch im Bericht des Datenschutzbeauftragten eine wichtige Rolle
spielt. Hier gibt es Chancen, aber auch Möglichkeiten
des Missbrauchs und Risiken, gerade auch bei genetischen Untersuchungen für medizinische Zwecke im Versicherungsbereich und im Arbeitsleben, Frau Kollegin.
Ich sage dies in aller Deutlichkeit: Ich war gegenüber
einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz immer skeptisch. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Datenschutz nicht immer mehr in Sonderbereiche zersplittert.
Darüber kann man aber in der Tat reden. Richtig ist allerdings die Feststellung, dass gerade genetische Untersuchungen für medizinische Zwecke zu erheblichen Problemen führen können. Dieses Thema sollte uns
beschäftigen. Wenn wir hier die Gemeinsamkeit so finden wie in dem anderen Bereich auch, finde ich das gut.
Die biometrischen Verfahren sind angesprochen worden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass die Biometrie
für mich keine Sache von Übel ist. Sie ist für mich aber
auch nicht so, wie das gelegentlich dargestellt wird:
Wenn wir die Biometrie in allen möglichen Ausweisen
haben, bricht ein - was weiß ich - sicherheitspolitisches
Paradies aus. Damit können auch erhebliche Probleme
verbunden sein. Spätestens dann, wenn es um den Personalausweis geht - ich glaube, auch beim Pass -, werden
wir darüber natürlich nochmals reden müssen. Die Biometrie muss Sinn machen und natürlich muss dabei
- wie bei anderen Dingen auch - der informationellen
Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger Rechnung getragen werden.
Das gilt übrigens auch für die Vorratsdatenspeicherung, der wir uns im Bundestag bereits mit einem Antrag zugewandt haben. Ich nehme das, was die Datenschutzbeauftragten hier vorgetragen haben, sehr ernst.
Es kommt natürlich darauf an, dass wir uns auch für diesen Bereich überlegen, wo möglicherweise ein zusätzliches Risiko für den Datenschutz entstehen kann, dem
kein Gewinn an innerer Sicherheit auch nur annähernd
entgegensteht.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion stellen uns selbstverständlich der Verantwortung für eine wirkungsvolle
Kriminalitätsbekämpfung. Das ist überhaupt gar keine
Frage. Gerade auch hier im parlamentarischen Verfahren
muss es aber zu einem sachgerechten Interessenausgleich zwischen den Freiheitsrechten der Bürgerinnen
und Bürger und dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung kommen.
Datenschutz ist kein Thema, das unter ferner liefen zu
behandeln ist. Er ist ein Bürgerrecht und stellt einen
Standortvorteil dar. Insofern sage ich denjenigen herzlichen Dank, die am Datenschutzbericht und an der Entschließung dazu mitgewirkt haben. Ich bin sicher, dass
gemeinsam mit dem Datenschutzbeauftragten auch von
diesem Parlament weitere Impulse für den Datenschutz
in Deutschland ausgehen werden, Herr Schaar.
Wenn dies fraktionsübergreifend und mit der Zustimmung der Kollegin Philipp, über die ich mich immer
freue, erfolgt, dann werden wir auch für die Bürgerrechte in diesem Bereich etwas bewirken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir von der Linksfraktion danken Peter Schaar und
seinem Team für den vorgelegten Bericht.
Problematisch ist, dass unsere Diskussion zwei Jahre
zu spät kommt. Denn wenn wir zum Beispiel die Auslassungen im Datenschutzbericht zum Thema Antiterrordatei und Trennung von Polizei und Geheimdiensten
ausführlich gelesen und bestenfalls logische Schlussfolgerungen gezogen hätten, dann hätten wir das Anti-Terror-Datei-Gesetz nicht in der geltenden Fassung verabschiedet. Das muss in Zukunft schneller gehen.
({0})
Umso erfreulicher ist - darin schließe ich mich dem
Dank und dem Lob an -, dass wir es geschafft haben,
heute mit allen Fraktionen gemeinsam eine Entschließung einzubringen, in der - das freut gerade die Linksfraktion - an vorderer Stelle der Arbeitnehmerdatenschutz eingefordert wird. Das ist gut und bedeutet vor
allem die politische Unterstützung der Arbeit des Datenschutzbeauftragten. Deshalb hält es meine Fraktion für
sinnvoll, diese Entschließung mitzutragen.
({1})
Spätestens seit dem Volkszählungsurteil ist das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein Grundrecht,
auf das sich der Datenschutzbeauftragte und viele andere, auch zivilgesellschaftliche, Organisationen in diesem Bereich berufen.
Wir müssen uns in der heutigen Debatte auch fragen,
in welcher gesellschaftspolitischen Situation wir über das
Thema diskutieren. Wir haben fast wöchentlich darüber
debattiert und können konstatieren, dass es offenbar einen
wachsenden Datenhunger von Staat und Wirtschaft gibt.
Ich nenne nur die Stichworte Onlinedurchsuchungen, Antiterrordatei und Vorratsdatenspeicherung. Der Datenschutz muss intensiver diskutiert werden. Er muss das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verteidigen und schützen.
Lassen Sie mich mit einem konkreten Beispiel verdeutlichen, was ich mit gesellschaftspolitischer Dimension
meine. In Stade - auch dazu finden Sie im Tätigkeitsbericht
des Datenschutzbeauftragten einiges - überwachen mittlerweile mehr als 300 Videokameras zwei Straßenzüge
und filmen mittlerweile bis in die Wohnzimmer hinein.
Das hat auch etwas mit der Alltagsarbeit von Datenschützern zu tun. Denn das hat auch Folgen für die Demokratie.
Wo Menschen ständig flächendeckend überwacht werden
- sei es mit Videokameras oder Onlinedurchsuchungen,
was auch immer -, sind sie nicht mehr souverän und können nicht mehr souverän entscheiden. Das gefährdet die
Substanz der Demokratie. Deswegen ist das ein wichtiges
Thema.
({2})
- Dass die Kriminellen woanders hingehen - wie man in
Großbritannien studieren kann -, kommt noch hinzu.
Viele Formulierungen in der Entschließung sind relativ vage gehalten. Dabei hat das BMI sehr großen Einfluss genommen; zwar nicht unbedingt zu ihrem Vorteil,
aber das ist nicht zu ändern. Trotzdem haben wir damit
eine tragfähige Basis.
Die Union hätte es vielleicht in der Tradition des
Merz’schen Steuerkonzepts lieber gesehen, das Vorhaben auf Bierdeckelgröße einzudampfen. Aber wir haben
gut gestritten, und dabei ist ein guter Kompromiss herausgekommen. Trotzdem glaube ich, dass wir uns zurzeit in der gesellschaftlichen Situation befinden, dass der
allwissende Staat langsam, aber sicher zur Realität wird
und dass es ein völlig unhaltbares Sicherheitsversprechen vonseiten der Bundesregierung und des Innenministeriums gibt, das nicht zu rechtfertigen und im Übrigen auch nicht haltbar ist.
Bei allen von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gibt
es Begehrlichkeiten, die sich eben nicht nur gegen Terrorismus oder organisierte Kriminalität richten. Kulturpolitiker der Union wollen mit der Vorratsdatenspeicherung
Teenager beim Musik-Download stellen. Mautdaten sollen für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zweckentfremdet werden. Mit der Bankkontenauskunft werden
nicht etwa mafiöse Strukturen bekämpft, wie sie zum Beispiel derzeit bei Siemens sichtbar werden; vielmehr soll
damit Studenten nachspioniert werden, die vielleicht
27 Euro BAföG zu viel kassiert haben. Das ist der falsche
Weg, und es macht die gesellschaftspolitische Dimension
deutlich.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Der Datenschutz hat auch eine soziale Dimension.
Denn wer von morgens bis abends damit beschäftigt
ist, über die Runden zu kommen, ist nicht mündig und
souverän, ein Recht wie auf Datenschutz und informationelle Selbstbestimmtheit in Anspruch zu nehmen.
Deswegen hat das Thema Datenschutz auch eine soziale
Komponente. Wir wollen mündige Bürger, die einen
aufrechten Gang gehen.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Gert
Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
ist erfreulich, dass sich die Fraktionen zumindest in einigen Punkten auf gemeinsame Forderungen zum Datenschutz verständigen konnten.
({0})
Aber selbstverständlich kommt sofort die Frage auf,
in welchen Punkten die Differenzen zu finden sind. Wir
haben hier in den letzten Monaten sehr oft über Themen
im Datenschutz gestritten. Da ließen sich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten entdecken.
Ich erinnere an die Debatte zur Antiterrordatei, von
der immer noch viele meinen, dass sie verfassungswidrig ist. Vermutlich wird es dem Gesetz zur zentralen
Antiterrordatei genauso ergehen wie dem Gesetz zum
großen Lauschangriff und dem Luftsicherheitsgesetz.
Ich erinnere auch an die Debatte zu den biometrischen Reisepässen. Obwohl Sicherheitsexperten, Computerfreaks und Bürgerrechtler schon im Vorfeld auf erhebliche Risiken hingewiesen hatten, wurden die ersten
Pässe im November 2005 ausgegeben. Die Warnung des
obersten Datenschützers dieses Landes, Peter Schaar,
der mahnte, Sorgfalt müsse vor Schnelligkeit gehen,
wurde nicht gehört. Nun haben sich die RFID-Chips in
den Pässen als keineswegs sicher erwiesen. Jetzt muss
dieser Schnellschussschaden im Nachhinein behoben
werden.
Um noch ein wenig bei der Biometrie zu bleiben: Im
Mainzer Hauptbahnhof wurde im Herbst letzten Jahres
ein Pilotprojekt zur Erprobung biometrischer Gesichtserkennung gestartet. Das sogenannte Mainzer Modell
ist noch ein Testversuch. Sollte es gelingen, dann werden
bald alle Personen, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten, vollständig kontrolliert werden können. Dabei ist die
Debatte über die Beschränkung von Biometrieeinsätzen
noch nicht einmal ansatzweise geführt.
({1})
- Noch nicht einmal ansatzweise in der Öffentlichkeit, Herr Tauss.
Vor kurzem ging es im Bundestag um die Weitergabe
von Fluggastdaten. Morgen reden wir über die Telekommunikationsüberwachung, und im Dezember haben wir
über die Onlinedurchsuchungen debattiert. Zwar hat der
Bundesgerichtshof inzwischen entschieden, dass diese
mit der Strafprozessordnung nicht vereinbar sind.
({2})
Aber der Bundesinnenminister bastelt bereits halböffentlich an einer gesetzlichen Grundlage für seine Bundestrojaner.
Die Aufzählung der datenschutzrelevanten Debatten
im Bundestag offenbart die stetig steigende staatliche
Datensammelwut. Der Drang zur Rundumbespitzelung
ist spürbar. Nur leider werden die Rufer in der Wüste
- wie es der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung ist - viel zu selten gehört.
Eigentlich hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil von 1983 die systematische,
maschinell gestützte Durchleuchtung der Bevölkerung
verboten. Nur will sich daran seit dem 11. September 2001 niemand mehr so recht erinnern. Im seither
herrschenden Sicherheitswahn bleiben die Bürgerrechte
zunehmend auf der Strecke. Auch deshalb möchte ich
noch einmal an das erinnern, was Peter Schaar in einem
Interview mit der „Berliner Zeitung“ im vergangenen
Jahr prophezeite:
Ich erkenne zwar keine bewusste Planung zur Einführung eines Überwachungsstaates. … Wir sind
aber auf dem Weg in eine Überwachungsgesellschaft.
Und genau dies gilt es zu verhindern.
Vielen Dank.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schön, dass sich alle Fraktionen erneut auf eine gemeinsame Entschließung zum Datenschutzbericht verständigt
haben. Das ist gute Tradition des Parlaments. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben. Mein
besonderer Dank geht an Peter Schaar und sein Haus.
({0})
Ich finde es allerdings weniger erfreulich, dass die gemeinsame Entschließung zum letzten Datenschutzbericht, die wir mit einstimmigem Votum des Parlaments
verabschiedet haben, nahezu folgenlos blieb. Es wäre
gut, wenn die Bundesregierung nicht nur auf ihrer Bank
säße und mitschriebe, sondern im Parlament einmal
deutlich machte, warum einstimmig gefasste Beschlüsse
missachtet werden. Ich mache mir die Arbeit mit dem
Datenschutz doch nicht umsonst. Wir haben uns nach
wochenlangen und intensiven Diskussionen auf Punkte
verständigt. Wir gehen davon aus, dass das, was wir an
die Bundesregierung weitergeben, von ihr nicht nur abgeheftet wird.
({1})
Wir müssen uns allerdings ein Stück weit an die eigene Nase fassen. Wir, das Parlament, sind schließlich
der Gesetzgeber. Wir haben oft genug die Erfahrung gemacht, dass jede Regierung ein Hemmnis für die Modernisierung des Datenschutzrechtes ist. Warum handeln
wir nicht? Die Antwort auf den passiven Widerstand der
Regierung kann doch nur das aktive Handeln des Parlamentes sein.
({2})
Wir haben erfolgreich das Informationsfreiheitsgesetz
gegen alle Widerstände aus den Ministerien auf den Weg
gebracht. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam einen vernünftigen Entwurf eines Datenschutzauditgesetzes erarbeiten
und nicht länger darauf warten, dass irgendwann einmal
ein Gesetzentwurf aus dem BMI kommt. Ich warte darauf bereits seit drei Jahren. Es ist genug Zeit vergangen.
({3})
Wir müssen allerdings erkennen, dass der Grundrechtsschutz im Parlament nicht immer in guten Händen
ist. Wir haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung
gemacht, dass es das Bundesverfassungsgericht ist, das
den Datenhunger der Innenministerien immer wieder
stoppt und die Grenzen setzt, die erforderlich sind, um
den Kernbereich des Privaten zu schützen. Die Bürgerinnen und Bürger haben jedenfalls das Vertrauen verloren
und glauben nicht, dass die Vorratsdatenspeicherung
im Parlament gestoppt wird. 10 000 Bürgerinnen und
Bürger bereiten eine Sammelklage vor. Ich habe mich
dieser Sammelklage angeschlossen und rufe dazu auf, an
der Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung
am 14. April in Frankfurt teilzunehmen. Wir haben hier
eine letzte Chance, deutlich zu machen, dass der Grundrechtsschutz vom Parlament ernst genommen wird. Wir
sind diejenigen, die verhindern können, dass die Onlinedurchsuchung, das Eindringen des Staates in unsere privaten Computer, das illegale Handeln der Geheimdienste
heutzutage, im Nachhinein eine gesetzliche Grundlage
findet.
({4})
Wir haben uns im Sicherheitsbereich nicht einigen
können. Mir geht die von Bundesinnenminister Schäuble
vorgestellte Antiterrordatei zu weit. Wir, die Grünen,
wollen verhindern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger
daran gewöhnen, an allen möglichen Stellen ihren Fingerabdruck zu geben. Wir lehnen den Fingerabdruck
als weiteres biometrisches Merkmal in Pass und Ausweis ab. Wir wollen zudem nicht, dass ein hoheitliches
Ausweisdokument privatwirtschaftlich genutzt wird. Die
Karte für alles ist in datenschutzrechtlicher Hinsicht
nicht vertretbar.
({5})
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,
dass nicht alles, was technisch möglich ist, zur Videoüberwachung eingesetzt werden darf. Die Videoüberwachung darf im öffentlichen Raum nur zielgerichtet
eingesetzt werden. Wir, die Grünen, bekennen uns dazu.
Der Datenschutz setzt der inneren Sicherheit Grenzen.
Es ist Aufgabe des Parlamentes, diese verfassungsrechtlichen Grenzen bei der Gesetzgebung zu beachten. Es
dürfen nicht ständig Gesetze, die mit großer Mehrheit
verabschiedet werden, anschließend vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden. Irgendwann sollten wir
daraus die Konsequenzen ziehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Unsere Aufgabe sind die Wahrung des Grundrechtsschutzes und die Achtung der Verfassung bei der Gesetzgebung.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Tätigkeitsbericht 2003 und 2004 des Bundesbeauftragten für den
Datenschutz. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4882, in Kenntnis des genannten Berichts auf Drucksache 15/5252 eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Innovative Arbeitsförderung ermöglichen Projektförderung nach § 10 SGB III zulassen
- Drucksache 16/3889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der Linken fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Katja Kipping von der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit wider Willen ist für alle, die davon betroffen sind,
ein enormes Problem. Schon deswegen sind wir in der
Pflicht, alles Sinnvolle zu unternehmen, um Arbeitslosigkeit wider Willen abzubauen. Dazu gibt es nicht die
eine Maßnahme, die das Problem in Gänze löst. Es
bedarf vielmehr eines breiten Mixes verschiedener Maßnahmen. Das geht von Arbeitszeitverkürzung über öffentliche Beschäftigung bis hin zu innovativen regionalen Projekten.
Ein solches Projekt hat es in Sachsen gegeben; die
Rede ist von „Teilzeit plus“. „Teilzeit plus“ funktionierte wie folgt: Drohten einem Handwerksunternehmen
wegen schlechter Auftragslage entweder Insolvenz oder
Entlassungen, so konnte es die Teilnahme an „Teilzeit
plus“ vereinbaren. Die Mitarbeiter gingen auf Teilzeit,
bekamen aber trotzdem weiterhin 80 Prozent des Lohnes. Das Unternehmen zahlte davon bloß 50 Prozent, die
Differenz wurde von der Bundesagentur übernommen.
In der freigestellten Zeit wurde sinnvolle, gesellschaftlich notwendige Arbeit bei gemeinnützigen Vereinen geleistet.
Nach zwei Jahren „Teilzeit plus“ wurde eine klare Bilanz gezogen: Dieses Projekt kennt nur Gewinner. Die
Handwerksunternehmen waren froh, dass sie, wenn sie
in eine schwierige Lage gerieten, ihre Leute nicht entlassen mussten. Die Vereine profitierten davon, dass sie
wirklich kompetente Leute bekamen. Den Mitarbeitern
selber blieb die Arbeitslosigkeit erspart, und sie haben
bei den Vereinen interessante Kontakte knüpfen können,
die sie später - etwa nach dem Eintritt in die Rente fortführen könnten. Die Bundesagentur zahlte den Zuschuss; aber dieser Zuschuss war für sie allemal preiswerter, als es die Finanzierung von Arbeitslosigkeit gewesen wäre.
Als ich zum ersten Mal von diesem Projekt hörte,
wollte ich selbst nicht so recht glauben, dass es wirklich
ein Projekt gibt, aus dem alle Beteiligten als Gewinner
hervorgehen. Deswegen habe ich gemeinsam mit der
Kreishandwerkerschaft, mit den Vereinen und mit der
sächsischen Bundesagentur für Arbeit einen internen
Workshop durchgeführt. Ich war erstaunt: Die breite Zustimmung - gerade auch von den beteiligten Handwerksunternehmen - war überwältigend. Selbst die sächsische
Bundesagentur hat unterstrichen, dass sie dieses Projekt
sehr gerne gefördert hat.
Mich hat vor allem nachdenklich gestimmt, dass mehrere Handwerksunternehmen Mitarbeiter entlassen
mussten, nachdem dieses Projekt eingestellt werden
musste; denn leider hat es 2003 eine interne Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit gegeben, von nun an
nur noch Einzelpersonen zu fördern und die Projektförderung zukünftig zu unterlassen. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Projekt, das von allen Beteiligten als
Gewinn angesehen wird und für das sogar das nötige
Geld vorhanden war, muss wegen bürokratischer Prinzipienreiterei eingestellt werden. Ich finde, das ist ein
Skandal.
({0})
Besonders bedauerlich finde ich, dass die Bundesregierung das bisherige Vorgehen der Bundesagentur teilt.
Herr Andres, ich habe in einer Kleinen Anfrage nachgefragt, und Sie haben sich in Ihrer Antwort die bisherige
Position der Bundesagentur zu eigen gemacht. Sie sagen,
der regionale Förderbedarf werde mit den bestehenden
Instrumenten befriedigt und sei abgedeckt. Ich persönlich habe da einen anderen Eindruck gewinnen können.
Zum Beispiel für Sachsen weiß ich sehr genau, dass innovative Projekte wie „Teilzeit plus“ das bestehende Instrumentarium wirksam ergänzen würden. Vor allen Dingen würden Projekte wie „Teilzeit plus“ so manche
drohende Arbeitslosigkeit verhindern und abwenden.
({1})
Der § 10 Abs. 3 des SGB III, der Projektförderung ermöglicht, besteht noch. Wir brauchten also noch nicht
einmal eine Gesetzesänderung, um Projektförderung
wieder möglich zu machen. Das Einzige, was wir
brauchten, ist, dass eine unternehmensinterne Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit revidiert und richtiggestellt wird. Wir, die Linke, meinen, es kann nicht Aufgabe der Bundesregierung und der Bundesagentur für
Arbeit sein, dass man innovative Projekte, die Arbeitslosigkeit verhindern, behindert. Im Gegenteil: Sie müssen
solche Projekte unterstützen. Deswegen fordern wir Sie,
meine Damen und Herren von der Bundesregierung, auf:
Nehmen Sie Ihren Einfluss auf die Bundesagentur für
Arbeit wahr, und lassen Sie die Förderung von solchen
innovativen Arbeitsmarktprojekten wie „Teilzeit plus“,
die von allen Beteiligten als Gewinn wahrgenommen
werden, wieder zu!
Besten Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Rauen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kipping hat eben das Projekt einer klassischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschrieben, das
in den Jahren 2002 bis 2004 in Dresden durchgeführt
wurde. Solche Maßnahmen bezahlt die Bundesagentur
für Arbeit heute Gott sei Dank nicht mehr. Wie richtig
das ist, beweist Ihre eigene Begründung in Ihrem Antrag. Es heißt da - ich darf zitieren -:
Mit diesem Projekt wurden zwar keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, aber immerhin die Beschäftigten in Handwerksbetrieben vor dem Schicksal
der Arbeitslosigkeit bewahrt.
Was wir brauchen, sind neue Arbeitsplätze und keine
sinnlosen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für die das
Geld der Beitragszahler verpulvert wird.
({0})
Ich empfehle Ihnen, Frau Kipping, den Arbeitsmarktreport des Bezirks Dresden von heute durchzulesen. Dort heißt es:
Die Nachfrage nach Arbeitskräften bewegte sich
weiterhin auf hohem Niveau. So wurden den Mitarbeitern des gemeinsamen Arbeitgeber-Services der
Agentur für Arbeit Dresden und der ARGE Dresden im Berichtsmonat 1.183 Arbeitsstellen zur
Besetzung auf dem 1. Arbeitsmarkt gemeldet …
Von Januar bis März dieses Jahres gab es 762 Stellenmeldungen mehr als im gleichen Zeitraum des
Jahres 2006.
Jetzt kommt es: Genau über diejenigen, die damals in
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren, steht hier:
Eine besonders starke Nachfrage nach Arbeitskräften war vor allem aus dem verarbeitenden Gewerbe, dem Baugewerbe, dem Gastgewerbe und
den unternehmensnahen Dienstleistungen festzustellen.
Wenn man sich dies vor Augen hält, dann ist eines
festzustellen: Am Arbeitsmarkt ist eine wichtige Trendwende erfolgt. Wir haben im März dieses Jahres - gestern wurde es gemeldet - 870 000 Arbeitslose weniger
als im Vorjahresmonat. Viel wichtiger aber ist aus meiner Sicht die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ich habe das einmal in einer
Grafik dargestellt. Wir hatten von September 2000 bis
einschließlich März 2006, also über 65 Monate, im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresmonat einen Rückgang
der Zahl der ordentlich Beschäftigten. Insgesamt waren
es 1,8 Millionen in diesen 65 Monaten. Wir haben im
zurückliegenden Jahr, zum ersten Mal im April beginnend, einen ständigen Aufwuchs bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, zuletzt im Januar - die
Meldung kommt immer zwei Monate später als die der
Arbeitslosenzahlen - ein Plus von 624 000.
({1})
Das ist das, was wir brauchen. Wenn wir weiterhin
mehr ordentliche Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland haben wollen, kommen wir an einer Voraussetzung
nicht vorbei: Die Senkung der Lohnzusatzkosten muss
weitergehen. Sie ist ohne Alternative. Arbeit muss wieder
bezahlbar werden, und die Menschen, die arbeiten, müssen netto wieder mehr in der Tasche haben.
({2})
Der Antrag der Linken aber zielt genau in die entgegengesetzte Richtung. Vordergründig suggeriert er einen
Weg zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Anhand der Umverteilung von Beitragsgeldern aus der Arbeitslosenversicherung sollen Arbeitsplätze flächendeckend subventioniert werden. Wege zur Schaffung von Arbeitsplätzen
aufzuzeigen, sieht der Antrag allerdings nicht vor. So
wird das Dresdener Vorzeigeprojekt der Linken bloßgestellt.
Der Antrag der Linken fordert die Bundesregierung
vielmehr auf, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Änderung ihrer Geschäftspolitik zu bewegen. Dabei handelt
es sich im Übrigen um eine Geschäftspolitik, die allein
mit Blick auf die Bilanzen und Vermittlungsquoten nur
als äußerst erfolgreich bezeichnet werden kann.
({3})
Die einzelnen Agenturen haben in kurzer Zeit erreicht,
Arbeitslose schneller wieder in Beschäftigung zu bringen.
Beispielsweise lag die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld
2004 im Durchschnitt bei 167 Tagen; im Jahr 2006 waren
es im Durchschnitt nur noch 153 Tage.
Herr Kollege Rauen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Kipping?
Ja, bitte schön.
Sehr geehrter Kollege, Sie haben die in Dresden und
anderenorts durchgeführten Projekte als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ diffamiert. Vielleicht liegt dies
daran, dass Ihre ideologischen Scheuklappen Sie daran
gehindert haben, sich mit diesem Projekt zu beschäftigen.
({0})
Wie erklären Sie sich, dass bei einer anonymisierten
Auswertung 100 Prozent der beteiligten Unternehmer
- sie stehen, was das Parteibuch angeht, Ihrer Partei
wahrscheinlich näher als meiner - dieses Projekt als positiv bis sehr positiv bewertet haben?
Frau Kipping, wir reden über ein Projekt, das 2002
bis 2004 stattgefunden hat. Ich habe eben deutlich gemacht, dass die Zahl der Beschäftigten in diesem Zeitraum kontinuierlich - von Monat zu Monat - zurückgegangen ist. Diesen Weg können wir nicht fortsetzen. Das
waren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Arbeitsbewirtschaftung, was überhaupt nicht weiterführt. Deshalb
habe ich aus dem aktuellen Arbeitsmarktreport des Bezirks Dresden zitiert. Daraus geht hervor, wie die Wirtschaft in ein und derselben Stadt wieder prosperiert. Die
Nachfrage des ersten Arbeitsmarkts nach Arbeitskräften
ist gestiegen. Nur wenn diese Nachfrage größer wird, besteht die Möglichkeit, aus dem arbeitsmarktpolitischen
Dilemma herauszukommen. Das ewiggestrige Bewirtschaften von Arbeit macht keinen Sinn.
({0})
Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
Ja, bitte schön.
Besten Dank, Herr Kollege. - Das Resümee Ihrer Argumentation wäre, sich klar gegen öffentliche Beschäftigung auszusprechen. Wie ist Ihr eindeutiges Plädoyer geKatja Kipping
gen öffentliche Beschäftigung vereinbar mit dem - auch
aus den Reihen Ihrer Fraktion - immer wiederholten Lob
für Projekte wie die in Bad Schmiedeberg?
Frau Kipping, Sie haben doch mitbekommen, dass
wir die individuelle Förderung vorangetrieben haben,
und zwar mit großem Erfolg.
({0})
Für Beschäftigung können Unternehmer sorgen und
nicht der Staat. Sämtliche Arbeitsplätze, die am Tropf
des Staates hängen, sind unsicher. Sie werden irgendwann nicht mehr da sein. Es wird so getan, als seien sie
wirtschaftlich. Es handelt sich aber um eine reine Arbeitsbewirtschaftung, die nicht zielführend ist. Einer der
größten Irrglauben der letzten Zeit war es, zu glauben,
die Arbeitslosigkeit mit immer mehr Arbeitsbewirtschaftung abbauen zu können. Dieser Irrglaube ist einfach
nicht zielführend. Auch wenn Sie diesem Irrglauben
noch anhängen, ist er für uns nicht zukunftsweisend.
({1})
Durch die Hintertür der Projektförderung im Rahmen
der freien Förderung nach § 10 SGB III - ich wiederhole, was Sie eben gesagt haben - soll nach Auffassung
der Linken die Arbeitslosigkeit auf regionaler Ebene bekämpft werden. Im Jahr 2003 hat die Bundesagentur für
Arbeit jedoch die Möglichkeit zu ebendieser Projektförderung ausgesetzt. Nach Auskunft der Bundesagentur
erfolgte die Aussetzung der freien Förderung vor dem
Hintergrund, dass im Rahmen der Maßnahmen Hartz I
bis Hartz III bereits zahlreiche neue Förderinstrumente
in das SGB III eingeführt wurden, die zuvor im Rahmen
der freien Förderung finanziert worden waren, zum Beispiel Eingliederungszuschüsse und die Förderung älterer
Arbeitnehmer.
Darüber hinaus ist die Projektförderung mit Blick auf
die zu erstellenden Förder- und Finanzpläne sowie die
Verwendungsnachweisprüfung sehr komplex. Zudem
hat es in der Vergangenheit durch die interne Revision
der BA und durch den Bundesrechnungshof massive Beanstandungen bei der freien Förderung gegeben.
Ich möchte es noch einmal betonen: Die Bundesagentur für Arbeit hat richtig und sinnvoll gehandelt. Sie hat
durch die Aussetzung der Projektförderung dem Missbrauch bei Eingliederungsgeldern einen Riegel vorgeschoben. Zum einen sind diese Eingliederungsmittel vor
allen Dingen für die Individualförderung vorgesehen.
Das heißt, persönliche Hemmnisse, die einer beruflichen
Eingliederung im Weg stehen, also ganz individueller
Art sind, dürfen auch mit unkonventionellen Mitteln beseitigt werden. Zum anderen sieht der § 10 SGB III in aller Deutlichkeit vor:
Bei Leistungen an Arbeitgeber ist darauf zu achten,
Wettbewerbsverfälschungen
- also Belastungen des ersten Arbeitsmarkts zu vermeiden.
Die BA hat vor allem deswegen absolut richtig gehandelt, weil sie verhindert hat, dass die Mitgliedsbeiträge der einzelnen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten für eine dauerhafte und zugleich unsinnige
Wirtschaftsförderung missbraucht werden. Wir wissen
es aus leidvoller Erfahrung: Arbeitsplätze, die am Tropf
fremder Gelder hängen, sind weder sicher noch dauerhaft. Sie gaukeln Wirtschaft lediglich vor; eine solche
Wirtschaft existiert aber nicht. Sie sind vor allem eines:
Sie sind nicht finanzierbar.
({2})
Um eine erhöhte Kaufkraft der Arbeitnehmer zu erreichen, ohne dabei Arbeitsplätze zu gefährden, müssen
zuerst die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Genau
dafür hat die Bundesagentur für Arbeit gesorgt, indem
sie mit den anvertrauten Beiträgen sparsam umgegangen
ist und durch den erwirtschafteten Überschuss die Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung
um 2,3 Prozentpunkte ermöglichte. Schließlich bringt
1 Prozent Beitragssatzsenkung beim lohnsteuerzahlenden Arbeitnehmer genauso viel an Kaufkraftzuwachs
wie eine 3-prozentige Lohnerhöhung.
({3})
Da durch den Anstieg der Zahl der Beschäftigten offenbar weitere Überschüsse bei der Bundesagentur für
Arbeit auflaufen, müssen diese ausschließlich zur weiteren Beitragssatzsenkung verwandt werden.
({4})
Alles andere wäre für den sich erholenden Arbeitsmarkt
kontraproduktiv.
Schauen wir auf die aktuellen Zahlen des Arbeitsmarkts, so stellen wir fest: Es gibt wenig Grund zum Unmut. Wir haben bei Umfragen in letzter Zeit gehört, dass
60 Prozent der Firmen ihre Lage positiv beurteilen und
dass über 45 Prozent, vor allen Dingen im Mittelstand,
daran denken, wieder neu einzustellen.
Nutzen wir jetzt also die geradezu historische Chance
des derzeitigen Aufschwungs, um zuerst die Lohnnebenkosten zu reduzieren, anstatt durch erneute Arbeitsmarktprogramme den noch zarten Aufschwung am Arbeitsmarkt wieder zu ersticken!
({5})
Es ist durchaus möglich, glaube ich, dass in absehbarer Zeit die Zahl der ordentlich Beschäftigten monatlich
stärker zunimmt, als die Arbeitslosigkeit abnimmt.
Wenn wir das erreicht haben, haben wir einen wichtigen
Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt erzielt. Ich halte ihn
für möglich - aber nicht mit den Konzepten von gestern,
sondern mit den modernen Konzepten der heutigen Koalitionsregierung.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken, um den es hier geht, enthält viele schöne Formulierungen.
({0})
Da ist die Rede von innovativen, von regional verankerten und von dezentralen Ansätzen. Das alles sind Vokabeln, die einem Liberalen wie mir gefallen.
Auch der Gedanke der Projektförderung nach § 10
SGB III ist richtig. Die Vorstellung, dass Erwerbslose
oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte in Zusammenarbeit
mit dem staatlichen Träger Projekte entwickeln, entspricht der meinen. Es ist richtig, den Menschen die
Möglichkeit an die Hand zu geben, sich eigenverantwortlich und unter Bezug auf die lokalen Verhältnisse ihrer Situation anzunehmen.
In dem Antrag heißt es aber auch:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Bundesagentur für Arbeit zu einer
Änderung ihrer Geschäftspolitik zu bewegen, um
zukünftig wieder Projektförderungen nach § 10
SGB III zu ermöglichen.
Die FDP hat besondere Probleme damit, überflüssiger
Bürokratie sowie unnützen Vorschriften und Regelungen
zuzustimmen. Wir wollten schon immer eine schlanke
Verwaltung.
({1})
Da werden Sie sicherlich verstehen, dass wir Ihren Antrag nicht unterstützen können, sondern uns der Stimme
enthalten.
Im Ernst: Der Gedanke Ihres Antrages, wie ich ihn
wiedergegeben habe, ist richtig. Es ist richtig, auf die lokalen Kräfte, auf die Arbeitsagenturen vor Ort zu setzen.
Wenn die FDP immer wieder sagt - das muss sie auch
tun -: „Die Bundesagentur für Arbeit muss aufgelöst
werden“, dann heißt das nicht, dass sie abgeschafft gehört.
({2})
Sie hat ihre Berechtigung. Wir wollen aber eine dezentrale Arbeitsvermittlung. Die Landkreise und Kommunen vor Ort können das besser. Das genau ist unser Ansatzpunkt.
({3})
Der Überbau der Verwaltung in Nürnberg ist nicht das
Ideale. Dabei sage ich ausdrücklich: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Nürnberg, bei den Landesarbeitsämtern und in den Arbeitsämtern vor Ort machen eine
gute Arbeit. Aber der Ansatz ist falsch. Das System
stimmt so nicht. Gestalten Sie es föderalistisch! Geben
Sie den Ländern und Kommunen die Arbeitsvermittlung
an die Hand!
({4})
Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt ist viel wichtiger. Wir wollen, dass
Arbeit vermittelt wird. Wir reden von Arbeitsvermittlung, von Förderprogrammen, von SGB II, SGB III und
sonst was. Wir müssen aber auch Arbeitsplätze schaffen.
Das kann die Arbeitsagentur nicht. Wir als Politiker haben die Rahmenbedingungen richtig zu gestalten.
({5})
Die Rahmenbedingungen sind eben nicht sehr optimal,
auch wenn die Große Koalition sich daran erfreut - auch
ich freue mich darüber -, dass es mehr Arbeitsplätze
gibt.
Wir machen aber einen grundlegenden Fehler: Wir
führen die Reformen, die erforderlich sind, um Nachhaltigkeit zu erreichen, nicht durch. Wir geben uns damit
zufrieden, dass mehr Arbeitsplätze, vor allem mehr versicherungspflichtige Arbeitsplätze, entstehen. Aber das
reicht nicht aus. Den Herausforderungen, die bei uns im
Lande durch die Globalisierung und durch Umstrukturierungen entstehen, müssen wir mit richtigen Reformen
begegnen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die so
gestaltet sind, dass nachhaltige Arbeitsplätze geschaffen
werden. Wir brauchen auch keinen dritten und vierten
Arbeitsmarkt, sondern gestärkte Firmen. Dazu gehören
Bürokratieabbau und eine richtige Unternehmensteuerreform. Dazu gehört auch, dass man die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass gerne eingestellt wird. Auch
der Kündigungsschutz ist in seiner jetzigen Form nicht
optimal; das muss man einfach so sagen.
({6})
Erst wenn wir das alles bewerkstelligen, wird es auch
mit den Arbeitsplätzen langfristig aufwärtsgehen; das
muss doch unser Ziel sein. Es werden genug Ausbildungsplätze da sein. Es gibt die Lissabonstrategie. Wir
müssen sie nur mit Leben erfüllen und dafür kämpfen,
dass in diesem Lande wieder Vollbeschäftigung einzieht,
dass jeder, der arbeiten möchte und kann, einen Arbeitsplatz hat. Spätestens dann, wenn jeder einen Arbeitsplatz
hat, brauchen wir - das werden Sie mir zugestehen keine Arbeitsvermittlung mehr. Dann brauchen wir
keine Arbeitsagentur in Nürnberg mehr. Das ist das richtige Ziel. Wir brauchen so viele Arbeitsplätze, dass es
keiner Arbeitslosenvermittlung mehr bedarf.
({7})
Ich denke, dies ist möglich und machbar. Dieses Ziel
muss man sich aber auch setzen, anstatt, wie es derzeit
geschieht, jede Woche über irgendein Problem der ArHeinz-Peter Haustein
beitslosigkeit zu sprechen und viel zu wenig über die
Förderung von Unternehmen. Die Gängelung von Unternehmen durch Statistik, Bürokratie und Bestimmungen,
die wir den Unternehmen auferlegen, muss aufhören.
Wenn es uns gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen,
dann brauchen wir auch keine Arbeitsagentur mehr. Das
muss der Kerngedanke sein.
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt
ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel vor:
„Innovative Arbeitsförderung ermöglichen - Projektförderung nach § 10 SGB III zulassen“. Wer - frage ich Sie kann schon gegen innovative Arbeitsförderung sein?
Wahrscheinlich haben auch Sie sich gesagt, dass das im
Prinzip gar nicht geht. Aber dieser Antrag macht es
möglich, dass man sich auch dagegen ausspricht. Warum
ist das so?
Die SPD-Fraktion, für die ich hier spreche, braucht
diesen Antrag in der Tat nicht,
({0})
zumal er wenig innovativ ist; denn die Bundestagsdrucksachen 16/2349 und 16/2406 aus dem August 2006 enthalten in der Tat alles, was zum heutigen Tagesordnungspunkt zu sagen ist.
Fragte die Linke doch vor einem Dreivierteljahr nach,
warum das Projekt „Teilzeit plus“, gefördert nach ebendiesem Paragrafen, 2004 eingestellt wurde und wer dies
entschieden habe; Frau Kipping, Sie haben das heute
Abend freundlicherweise erneut vorgetragen. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum
15. August übermittelt.
({1})
Aber offenkundig haben Sie sich mit den ausführlichen
Antworten nicht hinreichend auseinandergesetzt; sonst
wäre es wohl gar nicht zu dem Antrag gekommen.
({2})
Deshalb noch einmal zum Mithören für Sie und für
uns alle zum Verstehen die zwei wirklich ausschlaggebenden Gründe, warum das Instrument nur noch sehr
eingeschränkt angewandt wird. Herr Rauen hat einen
wesentlichen Punkt schon genannt: Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Handhabung beanstandet.
Er hat sogar die Streichung der Projektförderung gefordert.
({3})
- Hat er doch; aber Sie werden sicher darauf eingehen,
Frau Pothmer. Nicht immer haben Sie recht.
({4})
Zweitens betreffen die ab 2003 neu eingeführten Instrumente in erheblichem Umfang das Einsatzfeld der
freien Förderung. Von daher hat sich der Bedarf an Projektförderung deutlich reduziert. Auf das Projekt in
Dresden gehe ich gleich noch ein.
Meine Damen und Herren, eigentlich wissen wir das
alles schon. Liest man Ihren Antrag, könnte man allerdings auf die Idee kommen, nur die Mittel nach § 10
SGB III dürften für innovative, regional verankerte und
dezentrale Ansätze genutzt werden. Man bekommt den
Eindruck, nur in 10 Prozent der Fälle dürfe die Agentur
überhaupt auf diese Weise tätig werden; bei den übrigen
90 Prozent sei es verboten, innovativ zu sein, regional
verankerte Maßnahmen zu treffen oder gar dezentrale
Ansätze zu befördern.
Gerade Sie nehmen doch bei den Debatten im Fachausschuss und im Plenum immer wieder für sich in Anspruch, dass Sie ganz besonders, mehr als alle anderen
Abgeordneten, die Arbeit der Agenturen vor Ort kennen.
Wenn das auch nur zur Hälfte zuträfe, dann wüssten Sie,
wie viel innovative und regional verankerte Arbeit in
den Agenturen geleistet wird.
({5})
Aber wer halb leere Gläser sehen will, der blickt eben
nicht auf den vorhandenen guten Inhalt - schade eigentlich.
Vielleicht geht es ja auch um etwas ganz anderes.
({6})
- Wenn Sie mir zuhören würden, Frau Kipping, könnten
Sie gegebenenfalls etwas lernen; aber passen Sie auf, das
könnte gefährlich sein. - Denn wenn man die Begründung Ihres Antrages liest, wird deutlich, worum es geht.
Sie haben hier noch einmal ein Projekt dargelegt, das
meines Erachtens ein durchaus gutes war, allerdings ein
begrenztes und zeitlich befristetes, und zwar aus einem
guten Grund: Es sollte in einer konjunkturschwachen
Phase helfen, Beschäftigte in Handwerksbetrieben zu
halten. Die Bundesagentur hat neben diesem Projekt allerdings auch viele andere verschiedene innovative Instrumente entwickelt und genutzt. Was die Bundesagentur allerdings nicht in ihrem Aufgabenkatalog hat, ist das
Instrument der Wirtschaftsförderung. Wenn Sie jetzt
möchten, dass im Prinzip eine Entfristung solcher Projekte stattfindet, ist das kein Arbeitsmarktinstrument
mehr, sondern eine gezielte Maßnahme für sich beteiligende Betriebe.
Die brauchen wir aber nicht. Denn es hat eine andere
- sehr erfreuliche - Entwicklung gegeben, von der ich
berichten will; vielleicht hören Sie mir ja diesmal zu.
Wir haben mit milliardenschweren Investitionen
Schwung in den Arbeitsmarkt bringen können. Wir haben mit Reformen einen erfreulichen Rückgang der Zahl
der Arbeitslosen in unserem Land befördert. Wir haben
- ich will nur diese Beispiele nennen - durch energetische Gebäudesanierung und die Absetzbarkeit von
Handwerkerleistungen für jede Menge Innovation gesorgt. Das Resultat ist eine solide Perspektive des Aufschwungs.
({7})
Deshalb sind die Auftragsbücher im Handwerk voll.
Ich habe gerade in dieser Woche bei den Berliner Wirtschaftsgesprächen hören können, wie der Präsident der
Berliner Handwerkskammer genau diese Maßnahmen
lobte und sagte, dass er das höchst angenehme Problem
habe, dass er gar nicht alle Aufträge prompt erledigen
könne. Das hat mir als Rückmeldung gut gefallen.
Ich fasse also zusammen: Wir haben Grund, uns zu
freuen über eine kraftvolle wirtschaftliche Entwicklung,
über einen Arbeitsmarkt, der davon profitiert, und über
eine Agentur für Arbeit, die in der Lage ist, auch ohne
das von Ihnen Beantragte gute Arbeit zu leisten. Aber
auch da würden Sie wieder sagen, dass das Glas halb
leer ist.
Ich habe eingangs auf zwei Drucksachen verwiesen.
Aus der Anfrage wurde ein Antrag. Die Methode ist bekannt; innovativ ist das nicht. Aber seien wir ehrlich:
Haben wir das wirklich erwartet?
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Rauen, wenn man das, was Sie hier vorgetragen haben,
einmal konsequent zu Ende denkt, dann hieße das, dass
das Bundesministerium für Arbeit alle Maßnahmen im
Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik einstellt.
({0})
- Sie haben hier vorgetragen: Es gibt einen Aufschwung,
soundso viele Arbeitsplätze sind in dieser Zeit entstanden; deswegen brauchen wir das alles gar nicht mehr.
({1})
Ich will Ihnen, Herr Rauen, aber sagen, dass wir nach
wie vor einen sehr gespaltenen Arbeitsmarkt haben.
Nach wie vor profitieren von diesem Aufschwung im
Wesentlichen die Kurzzeitarbeitslosen und die qualifizierten Arbeitslosen. Alle Arbeitsmarktexperten warnen
uns davor, die Augen vor der Tatsache zu verschließen,
dass es seit vielen Jahren eine hohe Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland gibt. Wir müssen diesen Aufschwung jetzt nutzen, um mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik auch diesen Menschen eine Chance zu
geben.
({2})
Die Projektförderung kann tatsächlich ein geeignetes
Instrument sein - ich betone: ein Instrument -, um einen
Beitrag dazu zu leisten, diesen Menschen zu helfen.
Denn die Problemstellungen auf dem Arbeitsmarkt sind
in der Tat regional sehr unterschiedlich. Es kann absolut
sinnvoll sein - auch mit finanzieller Unterstützung der
Arbeitsagenturen -, Projekte zu entwickeln und aufzubauen, die präventiv wirken und damit einen Beitrag
dazu leisten, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst entsteht.
({3})
Frau Lösekrug-Möller, dieses Instrument hat RotGrün auf den Weg gebracht. Wir fanden es damals richtig. Angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen, darunter 2 Millionen Langzeitarbeitslose, kann man nicht
sagen, man brauche solche Instrumente nicht. Es geht
nicht um ein einzelnes Projekt. Es geht vielmehr darum,
ob das Instrument Projektförderung sinnvoll ist oder
nicht. Ich sage Ihnen: Es ist ein sinnvolles Instrument.
({4})
Insgesamt muss gelten: Der Vielfalt der Problemlagen
arbeitsloser Menschen muss eine ebenso große Vielfalt
von Angeboten an Förderinstrumenten entgegengestellt
werden.
({5})
Lassen Sie uns dieses Instrument doch vor Ort anbieten!
Keine Agentur wird gezwungen, dieses Instrument in
Anspruch zu nehmen. Nur diejenigen Agenturen werden
es in Anspruch nehmen, denen ein entsprechendes Angebot fehlt. Geben wir ihnen doch in Gottes Namen die
Möglichkeit, dieses Angebot zu entwickeln.
({6})
Es stimmt doch gar nicht, dass der Bundesrechnungshof gesagt hat, die Projektförderung an und für
sich sei schlecht und dürfe es auf keinen Fall mehr geben. Der Bundesrechnungshof hat die Bundesagentur für
Arbeit vielmehr dafür kritisiert, dass sie keine verbindlichen Rahmenbedingungen für diese Projektförderung
entwickelt hat. Er hat gesagt, dass die Bundesagentur für
Arbeit ihre Hausaufgaben machen muss, wenn sie dieses
Instrument weiter einsetzen möchte. Das hat die Bundesagentur aber nicht gemacht.
({7})
Die Bundesagentur hat dieses Instrument kurzerhand gestrichen. Da können wir als Parlamentarier, die wir dieses Instrument ausdrücklich wollen, doch nicht jubeln.
Wir müssen vielmehr verlangen, dass dieses Instrument
weiterhin zur Verfügung gestellt wird.
({8})
- Nein, Herr Rauen, es geht hier nicht um mehr Geld.
({9})
Es geht darum, den Instrumentenkasten weiterhin vielfältig zu gestalten.
({10})
Wir sind dafür. Es ist sinnvoll, dieses Instrument weiter
zur Verfügung zu stellen.
({11})
Die Tatsache, dass hier ein innovatives Instrument gestrichen wurde, ist aus meiner Sicht Ausdruck einer
Misstrauenskultur.
({12})
Es gibt eine Misstrauenskultur der Bundesagentur für
Arbeit, in Teilen der Bundesregierung aber auch den Akteuren vor Ort gegenüber.
Ich werbe dafür, diese Misstrauenskultur schleunigst
abzubauen;
({13})
denn wenn wir so weitermachen, dann ersticken wir die
Motivation und die Innovationsbereitschaft, die es in den
Argen nach wie vor gibt. Wenn wir eine individuelle
Förderung tatsächlich wollen - das wollen wir doch, das
ist doch unser Versprechen -, dann müssen wir die
Durchführung und Gestaltung auf regionaler Ebene ermöglichen und müssen wir die Handlungsfreiheit der
Argen stärken; darum bitte ich Sie.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3889 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und
des Holzabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 16/4692 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 16/4149 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/4876 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gustav Herzog
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Die Reden der Kollegen Mortler, Herzog, Goldmann,
Tackmann und Höfken sind zu Protokoll gegeben.1)
Damit kann ich die Aussprache schließen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzab-
satzfondsgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4876,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/4692 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4876 empfiehlt der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfonds-
1) Anlage 3
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
gesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes auf Drucksache 16/4149 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Indigene Völker - Ratifizierung des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation ({2}) Nr. 169 über Indigene und in
Stämmen lebende Völker in unabhängigen
Staaten
- Drucksachen 16/1971, 16/4838 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Walter Riester
Dr. Karl Addicks
Thilo Hoppe
Die Reden folgender Kollegen sind zu Protokoll ge-
geben: Kollege Bauer, Kollegin Riemann-Hanewinckel,
Kollege Addicks, Kollege Aydin und Kollege Hoppe.1)
({3})
- Entschuldigung.
Ich erteile Kollegen Hoppe das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
letzter Mohikaner ist in dieser Debatte übrig geblieben.
Ich möchte Ihnen zunächst erklären, warum ich darauf
bestanden habe, heute meine Rede zu dem Thema
„Rechte der indigenen Völker“ zu halten. Das liegt zum
einen an der langen Vorgeschichte dieses Sachverhalts,
zum anderen an einem hohen Besucher, der heute extra
wegen dieser Debatte in den Deutschen Bundestag gekommen ist - ich möchte ihn herzlich begrüßen -: Herrn
Rodolfo Stavenhagen aus Mexiko, UNO-Sonderberichterstatter für die Rechte der indigenen Völker.
Herzlich willkommen!
({0})
Nun zu der langen Vorgeschichte dieses Antrags.
Bereits im Dezember 2002 wurde hier in diesem Hause
ein großer Antrag zur Umsetzung der Menschenrechte
verabschiedet. Unter einem der vielen Spiegelstriche des
1) Anlage 4
Antrags wurde die Bundesregierung aufgefordert, die
ILO-Konvention Nr. 169 mit dem Ziel der Stärkung der
indigenen Völker zu ratifizieren.
Die ILO ist eine Organisation im System der Vereinten
Nationen. Diese Konvention wurde bereits 1989 verabschiedet. In Deutschland wirbt ein großes Bündnis aus
Franziskanern, Amnesty International, Gesellschaft für
bedrohte Völker, verschiedenen kirchlichen Hilfswerken
und vielen anderen Organisationen dafür, dass auch
Deutschland diese Konvention ratifiziert.
Offiziell prüft die Bundesregierung seit 1989.
({1})
Die Regierung Kohl und die Regierung Schröder haben
geprüft, auch die Regierung Merkel prüft. Vielleicht war
es naiv von mir, zu glauben, dass mit dem Beschluss des
Deutschen Bundestages vom Dezember 2002 der Durchbruch erzielt worden sei.
({2})
In verschiedenen Fachgesprächen ist mir klar geworden,
dass die einzelnen Ressorts in verschiedene Richtungen
drängen: Vom Auswärtigen Amt und vom Entwicklungshilfeministerium wurde stets eine Zustimmung zu
einer Ratifizierung signalisiert, was wir sehr begrüßt haben.
Das Verteidigungsministerium hat zunächst Bedenken
geäußert, weil man Angst um ein Tiefflugübungsgebiet
in Kanada hatte. Nachdem dieses Tieffluggebiet geschlossen wurde, wurden diese Bedenken aber zurückgestellt. Auf der Bremse standen damals wie heute
({3})
der Wirtschaftsminister und der Innenminister mit teils
absurden bis bizarren Argumenten. Zum Beispiel wurde
das Argument vorgebracht, dass Minderheiten in Deutschland, zum Beispiel die Roma - später wurden sogar die
Friesen genannt -,
({4})
auf die Idee kommen könnten, sich als indigenes und in
Stämmen lebendes Volk zu outen und auf Minderheitenrechte zu pochen. Da ich aus dem Wahlkreis AurichEmden komme, hätte ich das mit großer Heiterkeit aufgenommen, wenn es nicht so traurig wäre.
Diese Argumente sind natürlich vorgeschoben. Was
steht dahinter? Bei der ILO-Konvention 169 geht es darum,
die Rechte von indigenen Völkern, zum Beispiel der
Yanomami-Indianer in Brasilien, zu stärken. Diese
Rechte geraten immer dann unter Druck, wenn man in
den Stammesgebieten dieser Indianergemeinschaften
Bodenschätze entdeckt. Dann rücken die Bulldozer sehr
schnell heran. Dann kommen Investoren und halten den
Eingeborenen gekaufte, teilweise über Korruption erhaltene
Landtitel unter die Nase. Dann kommt es zur Vertreibung, zum Verlust des traditionellen Siedlungsgebietes.
Hätte Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifiziert,
wären Geschäfte wie das der Westdeutschen Landesbank, die Finanzierung einer Pipeline in Ecuador, die mit
starken Beeinträchtigungen für Indigene in Ecuador verbunden ist, zumindest erschwert worden.
Die Vereinten Nationen bitten uns um die Ratifizierung dieser Konvention.
({5})
Das gilt auch für die kirchlichen Hilfswerke und das
große Bündnis der NGOs.
({6})
Auch Länder, die auf ihrem eigenen Territorium keine
Indigenen haben, wie die Niederlande und Spanien, haben
diese Konvention ratifiziert. Es ist nun wirklich an der
Zeit, dass Deutschland sich einen Ruck gibt und ebenfalls der Ratifizierung zustimmt.
Ich bitte Sie, das Votum der Menschenrechtsorganisationen, der Kirchen und der Vereinten Nationen zu hören
und deshalb unserem Antrag zuzustimmen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel „Indigene Völker - Ratifizierung
des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation ({0}) Nr. 169 über Indigene und in Stämmen le-
bende Völker in unabhängigen Staaten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4838, den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1971 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der
politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR
- Drucksache 16/4842 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von Abgeordneten Volker
Schneider ({2}), Petra Pau, Dr. Gesine
Lötzsch und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für politisch Verfolgte im Beitrittsgebiet und zur Einführung einer Opferrente
({3})
- Drucksache 16/4846 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion, das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenstand unserer Debatte ist der Entwurf eines Dritten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes. Ich denke, wir sind uns alle
einig, wenn ich zu Beginn feststelle: Wiedergutmachen
lassen sich die Verbrechen, die von der SED-Diktatur,
die von Partei und Staat in der DDR begangen wurden,
durch eine finanzielle Regelung sicher nicht.
({0})
Daher erscheint es mir wichtig, diesen Diskurs ohne
populistische Anbiederungen zu führen. Denn gerade
dieses Thema sollte nicht missbraucht werden, um billigen
Beifall zu erheischen. Wir sind es den Opfern schuldig,
diese Diskussion mit Ernst und größtem Respekt zu führen.
Vor fast vier Wochen haben wir diese Debatte an
dieser Stelle schon einmal geführt, als wir am 1. März
die Eckpunkte verabschiedet haben. Ich verstehe bei
bestem Willen nicht, dass die PDS jetzt kurzfristig einen
Gesetzesentwurf vorlegt.
({1})
- Ja, hätten Sie doch bei der letzten Diskussion Herrn
Wieland zugehört. Er hat gesagt: Heute nennen Sie sich
Linkspartei; morgen können Sie sich anders nennen. Bis
vor kurzem hießen Sie noch SED/PDS; davor hießen Sie
SED. Vergessen wir das nicht.
({2})
Ich empfinde es hier als Hohn, wenn Sie sich als die
Opfervertreter, als Anwalt der Opfer darstellen, wenn
Sie hier so tun, als seien Sie die weißesten aller weißen
Schafe. Aber Ihr Weißwaschungsprogramm unterstütze
ich von dieser Stelle aus nicht. Sie sind die Partei der
Wölfe, egal ob sie nun Mischa heißen oder nicht. Das ist
mir letzte Woche erst wieder klargeworden, als Sie,
Kollegin Jelpke, oder die Kollegin Lötzsch die schönen
Zustände und die schöne Sportförderung in der DDR
wieder bis in den Himmel gelobt haben. Da fehlen mir
schlichtweg die Worte. Davon kann einem nur schlecht
werden.
({3})
Statt sich hier konstruktiv in den Prozess und die Diskussion einzubringen,
({4})
legen Sie wieder einmal einen populistischen Gesetzentwurf mit vielen schönen Formulierungen vor. Viele
Vorschläge sind ja durchaus bedenkenswert; man weiß
ja, dass sie nicht von Ihnen stammen. Hören Sie auf,
ungedeckte Schecks auszustellen. Kollege Wieland von
den Grünen hat Ihnen das letzte Mal zu Recht empfohlen:
Suchen Sie das, was Ihre Vorgänger rechtzeitig auf die
Seite geschafft haben, nämlich das SED-Parteivermögen.
Damit ließe sich sehr viel für viele Opfergruppen tun,
zum Beispiel für die Zwangsausgesiedelten, die auf brutalste Weise von Haus und Hof vertrieben wurden, nur
weil sie in der Sperrzone wohnten, oder für die Schüler,
denen die Zukunftsaussichten verbaut wurden. Ihr
Gesetzentwurf ist und bleibt ein starkes Stück.
({5})
Wir in diesem Hohen Hause haben seit 1990 einiges
zur Verbesserung der Situation der Opfer auf den Weg
gebracht. Insgesamt betrachtet sind die derzeitigen
Regelungen für die Opfer freilich unbefriedigend. Viele
Täter befinden sich jetzt im Alter in einer guten Situation, während die Opfer häufig noch traumatisiert und
materiell schlecht gestellt sind. Wir haben jetzt die Möglichkeit, einen großen Schritt zu tun, um die Situation
vieler Betroffener nachhaltig zu verbessern,
({6})
so wie wir es bereits im Koalitionsvertrag vereinbart und
am 1. März hier im Deutschen Bundestag beschlossen
haben. Dass Sie Ihre Textbausteine, die Sie in jeder Diskussion gebetsmühlenartig wiederholen, auch in dieser
Debatte anführen, das halte ich für eine Würdelosigkeit,
die ihresgleichen sucht.
({7})
Zur Sache. Am 31. Dezember 2007 laufen die Antragsfristen in den drei Rehabilitierungsgesetzen aus.
Obwohl diese Fristen bereits mehrfach verlängert worden sind, ist festzustellen, dass die Zahl der Anträge
seit der letzten Fristverlängerung nicht wesentlich zurückgegangen ist. Viele potenziell Berechtigte haben bis
jetzt noch keinen Antrag auf Rehabilitierung gestellt.
Diejenigen, die ihre Ansprüche erst jetzt geltend machen, sollen diese Möglichkeit auch weiterhin haben.
Dafür sorgen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf,
der drei Ansatzpunkte umfasst:
Erstens. Der Gesetzentwurf sieht die Einführung einer
Opferpension für die Menschen vor, die sechs Monate
und länger in Haft saßen und wirtschaftlich bedürftig
sind. Von der Summe in Höhe von 250 Euro pro Monat
werden nach unseren Berechnungen etwa 16 000 Menschen profitieren. Die Einführung einer Bedürftigkeitsgrenze, die freilich diskutabel ist, erscheint notwendig,
um ein einheitliches System der Entschädigung der Opfer der Diktaturen in Deutschland zu schaffen.
Zweitens. Die Antragsfristen werden, wie von mir bereits angesprochen, verlängert. Bis zum Ablauf der Fristen können die Ansprüche weiterhin geltend gemacht
werden. Ich hoffe, dass zahlreiche Opfer diese Möglichkeit noch wahrnehmen werden. Es ist klar, dass jemand,
der aufgrund von Verfolgung traumatisiert ist, nicht sofort „Hier!“ schreit, weil er dazu einfach nicht in der
Lage ist. Darauf muss jetzt jeder Betroffene aufmerksam
gemacht werden, um seine Rechte auch nach langer
Überlegung noch wahrnehmen zu können.
Drittens. Die Mittel für die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge werden von 1,6 Millionen Euro auf
3 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt.
Der Gesetzentwurf liegt nun vor. Im Rahmen unserer
Diskussion müssen wir Änderungswünsche, die es mit
Sicherheit gibt, mit der erforderlichen Sorgfalt und
Ernsthaftigkeit prüfen und dabei auch den Opfern und
ihren Verbänden sowie den Sachverständigen Gelegenheit zur Stellungnahme geben.
Ich möchte Sie alle bitten, das Ihrige zu tun, damit wir
zu einer raschen Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes
kommen.
({8})
Viele der Adressaten sind alt. Sie haben 17 Jahre nach
der Wiederherstellung der deutschen Einheit einen Anspruch darauf, nicht noch länger warten zu müssen. Alle
im Bundestag vertretenen Fraktionen sollten dazu ihren
Beitrag leisten. Eine besondere Verantwortung könnte
die PDS übernehmen, wenn sie sich dieser Verantwortung stellen und dieses Thema nicht nur für billigen Klamauk missbrauchen würde.
({9})
Ich danke Ihnen.
({10})
Als Nächste hat das Wort Kollegin Andrea Voßhoff,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Wenn zwei Mitglieder der beiden Regierungsfraktionen
gleich hintereinander reden, kann es sein, dass sich die
eine oder andere Aussage wiederholt; wir werden es sehen.
Der Kollege Dressel sagte bereits - wir wissen das -:
Am 1. März dieses Jahres haben wir in diesem Hause zuletzt über Änderungen des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes diskutiert. Anlass war das von CDU/CSU und
SPD eingebrachte Eckpunktepapier für die Erarbeitung
des Entwurfs eines Dritten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes. Heute, vier Wochen später, liegt der Gesetzentwurf vor. Es ist gut und zu begrüßen, dass dieser Gesetzentwurf den am 1. März dieses Jahres vorgestellten
Eckpunkten zügig gefolgt ist.
({0})
Ich darf an dieser Stelle dem Justizministerium für die
Hilfestellung bei der Formulierung ganz herzlich danken.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, bevor
ich auf die Inhalte des Gesetzentwurfes eingehe, eine
grundsätzliche Vorbemerkung: 17 Jahre nach dem Fall
der Mauer diskutieren wir erneut, wie schon häufig, über
Änderungen und damit Verbesserungen des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes. Ist das nach so langer Zeit
noch notwendig? Ich sage ein klares Ja. Lassen Sie mich
dazu zwei Bemerkungen machen: Zum einen ist es notwendig und richtig, die angemessene Würdigung der
Opfer der SED-Diktatur immer wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen.
({1})
In den 17 Jahren, die seit der Wiedervereinigung vergangen sind, gab es immer wieder ein Fortschreiten des Prozesses der Erkenntnis und der Aufarbeitung der SEDDiktatur und ihrer Folgen und damit auch genauere
Kenntnisse über Umfang und Ausmaß des Unrechts, das
so viele Betroffene erlitten haben. Aus diesem Erkenntnisprozess heraus haben wir die bestehenden Regelungen auch 17 Jahre nach der Wiedervereinigung immer
wieder auf den Prüfstand zu stellen. Die hier in Rede stehenden Opfer der SED-Diktatur waren die Ersten, die
der zweiten Diktatur auf deutschem Boden den Gehorsam verweigerten und für demokratische Rechte eingetreten sind.
({2})
Es sind die Menschen, die sich in der DDR für Freiheit
und gegen die Diktatur eingesetzt haben.
Der Umgang mit diesen Opfern ist immer auch ein
Gradmesser für den Zustand der Menschlichkeit und des
demokratischen Grundverständnisses in unserer Gesellschaft. Wir wissen, dass viele Betroffene Jahre gebraucht
haben - manche noch Jahre brauchen werden; der Kollege Dressel erwähnte es -, bis sie über das erlittene
Schicksal sprechen können und ihre daraus resultierenden Rechte in Anspruch nehmen. Die immer noch hohe
jährliche Zahl der Menschen, die Leistungen nach den
Rehabilitierungsgesetzen beantragen, zeigt, dass dieses
Kapitel des Rehabilitierungsrechtes noch nicht geschlossen werden darf. Wenn wir mit unserem Gesetzentwurf
die Ausschlussfristen für die Antragstellung erneut verlängern wollen, ist dies daher nur konsequent.
Zum anderen haben wir uns immer wieder die Frage
zu stellen, ob wir mit den Rehabilitierungsgesetzen und
den in den Folgejahren vorgenommenen Änderungen
nach unserem heutigen Kenntnisstand über Wirkungen
und Ergebnisse der bestehenden Entschädigungsregelungen das getan haben, was notwendig, geboten und dem
Schicksal der Opfer angemessen ist. Dabei haben wir
Entwicklungen der Rechtsprechung zu berücksichtigen,
die die bisherigen Regelungen in neuem Licht erscheinen lassen und die Notwendigkeit zur Folge haben, Leistungen zu verbessern und zielgenauer auszugestalten.
In diesem Zusammenhang will ich die Auswirkungen
der Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht
in den vergangenen Jahren gefällt hat, ansprechen: Das
Bundesverfassungsgericht hat die Kappung der Renten
der privilegierten, staatsnahen Personenkreise, die
der Gesetzgeber vorgenommen hatte, aufgehoben. Dies
führte für die genannten Personen zu erheblichen Verbesserungen im Versorgungs- und Rentenrecht. Für die
SED-Opfer stellt sich zwangsläufig die Frage - auch wir
haben sie uns zu stellen -, wie wir mit der dadurch entstandenen, immer wieder konstatierten moralischen Gerechtigkeitslücke umgehen. Die Opfer fragen konkret:
Wie geht der Rechtsstaat mit denen um, die im Dienste
des Unrechtsapparates SED wirkten, und wie behandelt
er die, die durch ihre Zivilcourage Opfer ebendieses Unrechtsapparates wurden?
Es ist heute schon gesagt worden: Wiedergutmachen
lässt sich das, was die Opfer der SED-Diktatur erfahren
haben, nicht.
({3})
Der Gesetzgeber hat mit den Rehabilitierungsgesetzen
seit der Wiedervereinigung nur versuchen können, die
Folgen für die Betroffenen abzumildern. So unbefriedigend die Debatten im Bundestag und vor allem ihre Ergebnisse für die Opfer waren und vielleicht auch noch
sind, weil sie aus ihrer Sicht nicht weit genug gehen - sie
waren immer ein Zeichen. Ich denke, ich spreche für die
Fraktionen, die, in unterschiedlicher Kombination, seit
der Wiedervereinigung die Bundesregierung gestellt haben, wenn ich sage: Wir waren stets um einen gangbaren
Weg bemüht, wir haben stets gerungen, wie wir mit den
speziellen Fragen der Entschädigung der SED-Opfer
umzugehen haben und was wir tun können. Die mehrfachen Änderungen der Rehabilitierungsgesetze haben im
Ergebnis immer dazu geführt, dass die Situation der Opfer, wenn auch manchmal in kleinen Schritten, verbessert wurde.
Ich sage auch selbstkritisch dazu, dass die Debatten,
die in diesem Hause darüber stattgefunden haben,
manchmal von gegenseitigen Vorhaltungen begleitet waren, je nachdem, wer in der Regierungsverantwortung
war - sei es Schwarz-Gelb oder Rot-Grün - und nach
Meinung der Opposition mehr hätte tun können. Auch
heute diskutieren wir wieder, welche Verbesserungen
wir im Bereich der SED-Unrechtsbereinigung auf den
Weg bringen können und wollen. Zum Kerngehalt dieses
Gesetzentwurfes gehört - das ist schon angesprochen
worden - die Schaffung einer Opferrente von monatlich
250 Euro für diejenigen, die unter der Diktatur der SED
besonders schwer gelitten haben: die ehemaligen politischen Häftlinge. Wir von der CDU/CSU haben uns in
den vergangenen Jahren nachhaltig für eine Entschädigung in Form einer Opferpension, also einen weiteren
Ausgleich für das Unrecht, das die betroffenen Personen
erlitten haben, eingesetzt.
({4})
Die SPD hat dankenswerterweise mitgezogen; wir konnten es im Koalitionsvertrag vereinbaren. Heute debattieren wir unter anderem über die inhaltliche Ausgestaltung
ebendieser Opferpension. Damit setzt die Große Koalition ein notwendiges Zeichen dafür, dass die Opfer der
SED-Diktatur eine weitere sichtbare und angemessene
Würdigung erfahren sollen und auch müssen.
Ja, ich räume ein: Der Erhalt der Opferrente ist an Bedingungen geknüpft, die nicht frei von Kritik sind. Ich
nenne insbesondere die Voraussetzungen zum Erhalt der
Renten, und zwar die Mindesthaftzeit und die wirtschaftliche Bedürftigkeit der Antragsteller.
({5})
Ich weiß, dass viele Betroffene ihr erlittenes Schicksal durch die jetzt vorgelegte und damit geplante Ausgestaltung der Opferpension nicht in ausreichendem Maße
gewürdigt sehen. Ich kenne die Argumentation der Kritiker dieses Entwurfs - insbesondere gegen diese Voraussetzung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit. Sie argumentieren damit, dass die materielle Anerkennung eines
erlittenen Unrechts nicht an die Einkommenssituation
des Opfers gekoppelt werden darf. Ich begrüße es daher
auch, dass wir bei der Erstellung des Gesetzentwurfs erreichen konnten, dass das Einkommen des Ehegatten
oder eines Partners, mit dem der Betroffene in einer Lebensgemeinschaft lebt, bei der Ermittlung der Einkommensgrenze außen vor bleiben soll.
({6})
Es kommt somit nur auf das Einkommen des Betroffenen an.
Ich habe sehr viel Verständnis für die Kritik, die an
dieser Bedürftigkeitsregelung geübt wird, und ich nehme
sie auch sehr ernst. Gleichwohl müssen wir die Ausgestaltung der Entschädigungen der Opfer nach 1945 auch
unter der Prämisse der Orientierung an den Entschädigungen für die Opfer von vor 1945 betrachten. Dies haben wir getan. Die Beratungen werden zeigen - darauf
hoffe ich -, ob und welche Spielräume es unter Berücksichtigung der vorgenannten Prämissen gibt. Ich denke,
in einer Anhörung, die wir dazu durchführen sollten,
wird es Gelegenheit geben, dies auch entsprechend zu
untersuchen. Trotz aller Kritik: Mit diesem Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD wird eine Opferpension
für den betroffenen Personenkreis erstmals Realität. Das
ist eine wichtige und notwendige Botschaft an die betroffenen Opfer.
({7})
Ich sagte es bereits: Weitere Inhalte des Gesetzentwurfs sind im Kern die Verlängerung der Antragsfristen
hinsichtlich der Ansprüche nach den Rehabilitierungsgesetzen sowie die geplante Aufstockung der Mittel für die
Stiftung für ehemalige politische Häftlinge.
Ich denke, wir sollten bei den anstehenden Beratungen intensiv dazu übergehen und die Zeit nutzen, die
Kritik der Opferverbände an einzelnen Punkten des Gesetzes sehr sorgsam zu prüfen sowie die Praktikabilität
einzelner Umsetzungsregelungen auch noch einmal zu
hinterfragen. Wir sind den SED-Opfern in besonderer
Weise verpflichtet. Das sollten wir auch zur Grundlage
unserer Beratungen machen.
Mir sei noch eine abschließende Bemerkung zum
heute auch vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke erlaubt. Ich habe Ihren Antrag aufmerksam gelesen. Neben Ihren inhaltlichen Forderungen ist mir vor allem Ihre Wortwahl aufgefallen - nicht in dem von Ihnen
vorgeschlagenen Gesetzestext, aber in dem Vorspann
und in der Begründung Ihres Entwurfs. Sie sprechen immer nur von den - ich zitiere - „politisch Verfolgten im
Beitrittsgebiet“. Sie schreiben - ich zitiere -:
Die betroffenen Personen aus dem Beitrittsgebiet
nahmen persönliche und soziale Nachteile hin, um
Gesellschaftskritik zu üben.
Was Sie mit „persönlichen und sozialen Nachteilen“
umschreiben, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
({8})
war oftmals Stasihaft mit psychischer Folter.
({9})
Was Sie mit „Gesellschaftskritik“ umschreiben, waren
das mutige Eintreten von Menschen für Demokratie und
Freiheit und der ebenso mutige Widerstand gegen die
SED-Diktatur, den es anzuerkennen und zu würdigen
gilt.
({10})
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sie dies in
Ihrem Gesetzentwurf auch klar zum Ausdruck gebracht
hätten. Vor allem hätte ich mir aber gewünscht, dass Sie
bei der Begründung Ihres Gesetzentwurfs einmal auch
konkret die genannt hätten, die für das Schicksal der
meisten Opfer verantwortlich sind, nämlich die SED.
({11})
Für die Glaubwürdigkeit Ihres Gesetzentwurfs wäre dies
sehr förderlich gewesen.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits anlässlich der Beratung der von der Regierungskoalition eingebrachten Eckpunkte für ein Drittes
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz habe ich für meine
Fraktion festgestellt, dass die Koalition die selbst gesetzten Ziele mit ihren Vorschlägen deutlich verfehlt. Leider
muss ich heute feststellen, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf noch hinter den Ankündigungen Ihrer Eckpunkte zurückbleiben.
Am 1. März 2007 strich Kollege Scholz heraus, dass
die Mittel für die Häftlingshilfestiftung aufgestockt werden. Die Umsetzung dieses Vorschlags hätte meine Fraktion begrüßt. In Ihrem Gesetzentwurf ist davon keine
Rede mehr.
({0})
Kollege Vaatz unterstellte der Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, dass sie bezüglich der Bedürftigkeitsprüfung einen falschen Zungenschlag in die Debatte gebracht hätte.
Ich darf Sie zitieren, Kollege Vaatz:
Nach meiner Auffassung kommt es dabei auf die
letzte Einkommensteuererklärung an. Das ist insofern ein völlig normaler technischer Vorgang, den
man nicht zu hoch bewerten sollte.
Dann erklären Sie uns doch, Herr Kollege Vaatz, warum Sie diese Erklärung nach dem vorliegenden Gesetzentwurf gleich zweimal im Jahr einsehen wollen. Welchen Grund gibt es, diese Prozedur alle sechs Monate zu
wiederholen?
({1})
Ich wiederhole, was ich in der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt habe: Wenn Sie wirklich eine Anerkennung durchlittenen Unrechts anstreben, dann können
Sie eine monatliche Zuwendung, wie Sie es nennen,
nicht vom Einkommensniveau der Bezugsberechtigten
abhängig machen.
Opfer wird man nicht dadurch, dass man heute bedürftig ist. Wenn Sie wirklich „die gesellschaftliche Bedeutung des mutigen Einsatzes für eine rechtsstaatliche
und freiheitliche Ordnung als beispielgebend herausstellen“ wollen, wie es der Bundesrat 2004 formulierte, ist
auch eine Beschränkung der Bezugsberechtigten auf
Haftopfer mit einer mindestens sechsmonatigen Haftdauer nicht nachvollziehbar.
({2})
Meine Fraktion fordert deshalb die Einbeziehung aller Verfolgtengruppen, die bisher von den gesetzlichen
Regelungen ausgeschlossen oder durch diese benachteiligt wurden, wie Zivildeportierte, verfolgte Schülerinnen
und Schüler und Opfer von Zersetzungsmaßnahmen. Nun
sind - damit haben Sie völlig recht, Kollege Dressel - nahezu alle von uns vorgelegten Vorschläge nicht neu. Sie
sind bereits von einigen anwesenden Kolleginnen und
Kollegen vorgebracht und von den hier vertretenen Parteien behandelt worden. Aber immer wieder ist die Umsetzung solcher Vorschläge an finanzpolitischen Erwägungen gescheitert. Das galt bereits für das von der
demokratisch gewählten zehnten Volkskammer der DDR
1990 einstimmig mit den Stimmen der PDS verabschiedete Rehabilitierungsgesetz.
Nun sprechen Sie mit großer Leidenschaft - das war
bei Herrn Dressel der Fall, und auch seine Nachfolgerin
hat sich ähnlich geäußert - und heftigen Emotionen meiner Fraktion das moralische Recht ab, uns an der Debatte
zu beteiligen. Kollege Wieland hatte in der letzten Debatte diesen Part übernommen. Damals hat er behauptet
- Kollege Dressel hat es heute wiederholt -, die PDS
habe systematisch Parteivermögen ins Ausland transferiert, statt sie für einen Täter-Opfer-Ausgleich zu verwenden.
({3})
Das ist falsch.
({4})
Kollege Wieland weiß das nur allzu genau. Ich darf
den ehemaligen CDU-Abgeordneten Dr. von
Hammerstein, der von 1998 bis 2006 Vorsitzender der
Unabhängigen Kommission Parteivermögen war und be9262
Volker Schneider ({5})
stimmt unverdächtig ist, PDS-freundlich eingestellt zu
sein, zitieren,
({6})
der in einem Interview mit der „Südthüringer Zeitung“
in Bezug auf solche Spekulationen erklärt hat:
1995 hat die Partei einen Vergleich mit uns geschlossen und notariell versichert, dass sie alles
mitgeteilt hätte, was sie wüsste. Und sie haben das
verbunden mit einer Vertragsstrafe. Das hieß: Hätten wir noch etwas gefunden und nachweisen können, dass die PDS-Führung von den Geldern gewusst hat, dann hätte sie noch mal das Doppelte an
Vertragsstrafe zahlen müssen.
Jetzt wird es interessant. Auf die Nachfrage „Kam es
dazu?“ erklärte er weiter:
Nein. Wir haben das der Partei nie nachweisen können.
({7})
Und die Parteiführung - das waren damals Gysi,
Bisky und Bartsch - konnte sich auf so eine Vertragsstrafe eigentlich nur eingelassen haben, wenn
sie uns die Wahrheit gesagt haben. Deshalb möchte
ich ihr da nichts unterstellen.
Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
({8})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet. Wenn Sie sie
verlängern wollen, können Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Herr Kollege Schneider, Sie zitieren aus einem Interview mit Herrn von Hammerstein. Darf ich Sie fragen,
ob Sie auch den Passus in dem Artikel kennen, der mit
folgender Frage an Herrn von Hammerstein beginnt:
„Was war die spektakulärste Entdeckung“? Ich zitiere
die Antwort von Herrn von Hammerstein:
Vielleicht der Fall Putnik im Spätherbst 1990. Es
ging um eine Moskauer Firma namens Putnik, die
Konten im Ausland hatte, vor allem in Norwegen.
Auf diese Konten hat die Partei Millionenbeträge
überwiesen. Damit habe sie Forderungen erfüllt, die
Putnik gegen die SED hätte, hieß es bei der Partei.
Aber wir haben nachgebohrt. Gysi ist sogar nach
Moskau geflogen. Doch in Moskau war man nicht
bereit, diese Legende aufrechtzuerhalten. Gysi
musste den Schwindel einräumen und die Partei die
Gelder herausgeben. Das war schon ziemlich spektakulär.
Ist Ihnen dieser Passus auch bekannt?
({0})
Wenn Sie sich wieder beruhigt haben, dann beantworte ich gerne Ihre Frage. Natürlich ist mir auch dieser
Teil des Interviews bekannt, wie Ihnen wahrscheinlich
ein weiterer Teil des Interviews bekannt ist, in dem davon die Rede ist, welche Gelder tatsächlich ins Ausland
transferiert wurden und dass es sich dabei wohl um Gelder gehandelt hat, die aus der Abteilung von SchalckGolodkowski und der Stasi transferiert wurden.
({0})
- Wenn Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen beruhigen
können, dann kann ich auch Ihre Frage beantworten.
Herr Kollege, Sie haben doch eine laute Stimme.
Soll ich noch lauter reden? Gut.
Weiter ist Ihnen bekannt - auch das geht aus dem Interview hervor -, dass die PDS an die Unabhängige
Kommission 1,6 Milliarden Euro abgeführt hat und dass
diese vorwiegend für gemeinnützige Zwecke im Osten
zur Verfügung gestellt wurden, insbesondere zum Beispiel auch für die Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur. Ist das richtig oder nicht?
({0})
Herr Präsident, ich möchte noch einen letzten Satz sagen.
({1})
Sagen Sie doch Ihren letzten Satz!
Das ist nicht ganz so einfach, Herr Präsident.
Wir haben konsequent an der Aufarbeitung unserer
Vergangenheit gearbeitet und werden das auch in der
neuen Partei tun. Genau deshalb streiten wir hier auch
im Bewusstsein unserer besonderen Verantwortung dafür, dass die Opfer politischer Verfolgung eine Würdigung und Wertschätzung erfahren, die ihrer historischen
Rolle entspricht.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland
von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
dachte, dass wir unsere Reden zu Protokoll geben können, aber nach dem, was Sie, Kollege Schneider, eben
gesagt haben, bin ich wirklich froh, noch etwas sagen zu
können.
Wenn Sie wirklich, so, wie Sie behaupten, Ihre Gelder
zur Verfügung gestellt hätten, dann hätten wir diese
Kommission gar nicht gebraucht,
({0})
die in ihrem Schlussbericht bedauert, dass sie - trotz
Einsatz von Detektiven, die weltweit gefahndet haben nur einen Bruchteil erreicht hat. Jahrelang wurde prozessiert, zum Beispiel vor dem Verwaltungsgericht und vor
dem Oberverwaltungsgericht Berlin, Stichwort Rote Fini
Österreich, weil Sie eben nichts herausgeben wollten,
({1})
weil man Sie zwingen musste. Es hat zur Wendezeit
rechtskräftige Verurteilungen Ihrer Kassenwarte gegeben. Sie sind rechtskräftig dafür verurteilt worden.
({2})
Nun machen Sie hier Geschichtsrevision und erklären
gleichzeitig: Wir arbeiten unsere Vergangenheit auf. Das tun Sie, indem Sie sie verfälschen, indem Sie lügen.
Das ist Ihre Art der Aufarbeitung.
({3})
Die zweite Masche ist: Sie schreiben einen Gesetzentwurf, als schrieben Sie über fremde Personen, als ginge
das SED-Unrecht - und darum geht es, um Ihr Unrecht Sie gar nichts an.
({4})
Sie stellen sich aber hier hin und fordern für Ihre Fraktion, dass die Mittel erhöht werden müssen. Die Steuerzahler zahlen schon jetzt 1,6 Milliarden Euro Zusatzrenten für Ihre Nomenklatur, die sich im Rentenalter
gut versorgen lässt. Das zahlen die Steuerzahler in Ost
und West.
({5})
Wenn sie jetzt auch noch - und sie werden es tun Ehrenpensionen zahlen, dann sind Sie die allerletzten,
die etwas zur Höhe der Beträge zu sagen haben. Das sei
einmal ganz deutlich vorneweggestellt.
({6})
Deswegen bleibe ich dabei: Sie sollten in dieser Debatte vom moralischen und politischen Standpunkt aus
betrachtet schweigen. Rechtlich gesehen können Sie hier
vortragen, das ist Ihr Recht.
({7})
Soweit waren wir eigentlich schon am 1. März, aber
Sie wollten und mussten es offenbar noch einmal hören.
({8})
Das wurde hier deutlich gesagt. Sie haben es angekündigt, es gibt Kritik daran, es gibt Kritik von den Betroffenen. Wir alle haben sie gehört. Ich habe es eben
sehr gerne gehört, dass Sie gesagt haben: Wir wollen
noch Spielraum in der Beratung schaffen.
({9})
Ich habe es gerne gehört, und das ist auch nötig.
Nach wie vor ist für uns der Hauptkritikpunkt, dass
Dinge wie Zersetzungsmaßnahmen auch gegenüber
Schülerinnen und Schülern ausgeblendet werden und gesagt wird: Eine Verfolgung beginnt erst ab einem halben
Jahr DDR-Haft. Das wird nicht gehen.
Ich habe zur Höhe der Summe schon beim letzten
Mal gesagt: Gerade Sie, die CDU, haben in der letzten
Legislaturperiode eine Summe von 500 Euro in die Anträge geschrieben. Sie haben diese Summe sozusagen in
die Welt gesetzt. Von daher ist es kein Wunder, dass
viele schockiert sind, dass es jetzt nur noch die Hälfte
sein soll, und dass das von vielen für unzureichend gehalten wird. Auch darüber muss noch einmal gesprochen
werden.
Es ist unlogisch, dass man einerseits von einer Anerkennungs- und Ehrenpension spricht und andererseits
bestimmt, diese Anerkennung und Ehrung bekommt nur
derjenige, der bedürftig ist.
({10})
Sind denn die anderen nicht zu ehren? Das ist doch ein
eklatanter Widerspruch. Dabei darf es meines Erachtens
nicht bleiben. Diese unsägliche Bedürftigkeitsklausel
muss fallen. Sonst haben wir im Ergebnis - es tut mir
leid, das sagen zu müssen - Opfer erster und zweiter
Klasse.
({11})
Die Fristen werden nun verlängert. Aber man sollte einmal darüber nachdenken, ob eine völlige Entfristung
nicht ein Weg in die Zukunft ist.
Abschließend: Hubertus Knabe hat im Zusammenhang mit dieser Debatte daran erinnert, dass derjenige,
der zehn Jahre im Zuchthaus Bautzen als Wärter Dienst
tat, heute mehr bekommt als derjenige, der dort 20 Jahre
in Haft saß. Das müssen wir ändern. Solange dies nicht
so befriedigend geregelt ist, dass auch die Opfer damit
leben können, so lange ist die innere Einheit unseres
Landes noch nicht hergestellt.
({12})
Ich schließe die Aussprache.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/4842 und 16/4846 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({0}), Paul K. Friedhoff, Heinz
Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Umlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung
im Krankheitsfall auf freiwillige Basis stellen
- Drucksache 16/2674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben: Max Straubinger, Jella Teuchner, Heinz Lanfermann,
Frank Spieth und Birgitt Bender.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter
Nachteile vorlegen ({2})
- Drucksache 16/3698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Die Kollegen Hubert Hüppe, Jörg Rohde, Ilja Seifert
und Markus Kurth sowie die Kollegin Silvia Schmidt ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3698 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 5
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({4}), Volker Beck ({5}),
Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen
- Drucksache 16/4852 Überweisungsvorschlag
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegen Manfred Grund, Johannes Pflug, Harald
Leibrecht, Hakki Keskin und die Kollegin Marieluise
Beck sowie Staatsminister Gernot Erler haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.4)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4852 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe,
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung sowie den Ausschuss für Angelegenheiten
der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundesländern nicht gefährden - Verkehrsflächenbereinigungsgesetz verlängern
- Drucksache 16/4856 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Die Kollegen Marco Wanderwitz, Peter Danckert und
Peter Hettlich sowie die Kolleginnen Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger und Heidrun Bluhm haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.5)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4856 zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu über-
weisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Dr. Gerhard Schick, Silke Stokar von
4) Anlage 8
5) Anlage 9
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
SWIFT-Fall aufklären - Datenschutz im internationalen Zahlungsverkehr wieder herstellen
- Drucksache 16/4066 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Volker Wissing, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen - Zugriff US-amerikanischer Stellen auf SWIFTDaten unverzüglich stoppen und Vorgang umfassend aufklären
- Drucksache 16/4184 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Kollegen Georg Fahrenschon, Lothar Binding,
Gisela Piltz, Dr. Axel Troost und Omid Nouripour haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4066 und 16/4184 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimitteln
für neuartige Therapien sicherstellen
- Drucksache 16/4853 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({10})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über Arzneimit-
tel für neuartige Therapien und zur Änderung
1) Anlage 10
der Richtlinie 2001/83/EG und der Verordnung
({12}) Nr. 726/2004 ({13}) ADD 1
KOM ({14}) 567 endg.; Ratsdok. 15023/05
- Drucksachen 16/419 Nr. 2.7, 16/2182 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Ackermann
Die Kollegen Hubert Hüppe, Dr. Marlies Volkmer,
Michael Kauch, Frank Spieth und Dr. Harald Terpe haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4853 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Arzneimittel für
neuartige Therapien. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2182, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Schließung des Forschungsendlagers
Asse II unter Atomrecht und eine schnelle
Rückholung der Abfälle
- Drucksache 16/4771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
({17})
2) Anlage 11
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion fordert mit dem vorliegenden Antrag die
Rückholung von Atommüll aus einem Endlager, in das
seit 20 Jahren Wasser eindringt, und die Unterstellung
dieses Atommülllagers unter das Atomrecht.
Das Atommülllager, für das wir unglaublicherweise
diese beiden Forderungen überhaupt stellen müssen, ist
die sogenannte Asse II bei Wolfenbüttel, vor 40 Jahren
als Forschungsendlager konzipiert. Die ersten Atommüllfässer wurden dort 1967 eingelagert; das war
20 Jahre vor Tschernobyl, und mit Atomkraft und mit
ihrem Müll ging man damals offenbar relativ lax um.
Die ersten Fässer wurden noch ordentlich gestapelt,
dann ging man aus Zeitgründen dazu über, die Fässer zu
verstürzen. Heute liegt der Großteil der 125 000 Fässer
kreuz und quer, beschädigt und mit Salzgranulat vermischt in den Kammern des Salzstocks. Diese relativ
wilde Einlagerung ist die Ursache für die immense
Höhe der berechneten Kosten einer Rückholung und der
Hauptgrund, warum eine Rückholung von den Verantwortlichen als nicht machbar betrachtet wird. Formal
sind es technische und sicherheitsrelevante Aspekte, die
gegen eine Rückholung des Mülls sprechen.
Die Betreibergesellschaft GSF hat sich ein Gutachten
erstellen lassen, in dem davon ausgegangen wird, dass
das Grubengebäude nur bis etwa 2014 stabil genug für
die Durchführung von Untertagearbeiten sein wird, die
Rückholung aber 25 Jahre dauern würde. Statt den Müll
rückzuholen, soll die Grube also stabilisiert und bergrechtsgemäß sicher abgeschlossen werden. Was aber
kann „sicher“ denn heißen bei einem Grubengebäude,
das in einem Berg liegt, der sich bewegt - konvergiert -,
dessen Deckgebirge bereits verstürzt, also eingebrochen
ist, das einen beständigen Wasserzufluss hat, von dem
man nicht weiß, woher er kommt, und das in direkter
Verbindung mit dem Trinkwasserzufluss einer nahe gelegenen Stadt steht?
Sicher abschließen unter Bergrecht heißt, das Grubengebäude mit Magnesiumchlorid zu stabilisieren, den
Zutritt der Flüssigkeit in die mit Atommüll gefüllten
Kammern mit Betonbarrieren zu verhindern zu versuchen
und dann die beiden Schächte zu schließen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
hat uns auf unsere Kleine Anfrage am 16. Oktober letzten
Jahres unter anderem geantwortet: „Der Zustand der eingelagerten Fässer wird nicht überwacht.“ Ich zitiere aus
der Broschüre der GSF „Asse - ein Bergwerk wird geschlossen“:
Nachdem die Schachtanlage Asse einmal wie vorgesehen gefüllt und abgedichtet ist, werden die Dokumente in mehrfacher Ausfertigung bei den zuständigen Genehmigungsbehörden hinterlegt, um sie für
künftige Generationen zu bewahren.
Es reizt mich, an dieser Stelle zu sagen: Dann kann den
zukünftigen Generationen nichts mehr passieren.
({0})
- Herr Tauss, das Ganze ist tatsächlich zu makaber für
Zynismus und auch für Ihren Spaß. - So kann es doch
wohl nicht gehen.
({1})
Wir diskutieren hier öfter in aller Ernsthaftigkeit, welche
Bedingungen ein Standort für die Endlagerung von
Atommüll erfüllen muss. Wir haben da durchaus divergierende Vorstellungen, aber unser gemeinsames
niedrigstes Level liegt doch wohl deutlich höher als das,
was der Bevölkerung um Wolfenbüttel hier zugemutet
wird. Glücklicherweise steht das Bergamt ClausthalZellerfeld hier nicht an der Seite der GSF und hat den
Antrag zur Flutung und zur Schließung der Asse jetzt
erst einmal abgelehnt, und zwar wegen des fehlenden
Sicherheitsnachweises. Das stärkt meinen Glauben an
deutsche Behörden.
Trotz dieses richtigen Entscheides ist das Bergamt
letztlich aber die falsche genehmigende Behörde. Der
Umgang mit dem Atommüll, die Frage, was dort wie zu
tun ist, um nicht nur die zukünftigen Generationen, sondern
auch die jetzt dort lebende vor Schäden, zum Beispiel
vor kontaminiertem Trinkwasser, zu schützen, und auch
der richtige Umgang mit den Ängsten und Sorgen der
Bevölkerung ist nur unter Atomrecht leistbar. Das einklagbare Recht beispielsweise zur Einsicht in Unterlagen
ist etwas völlig anderes als von der Betreibergesellschaft
gefilterte freiwillige Informationen.
Das niedersächsische Umweltministerium hat zwischenzeitlich Bundesminister Gabriel zugesichert, ihn über
den Stand der Prüfung der eingereichten Schließungsunterlagen auf dem Laufenden zu halten. Damit - so der
dortige Landrat Röhmann - sei sichergestellt, dass in allen
Phasen des Verfahrens atomrechtliche Fragestellungen
und Prüfkriterien einbezogen und berücksichtigt werden
können. Schön, aber warum nur die Möglichkeit eröffnen,
warum atomrechtliche Fragestellungen und Prüfkriterien
nicht zur Grundbedingung machen? Worum geht es hier
denn? Um Atommüll, meine Damen und Herren. Unsere
eindeutige Forderung ist, alle weiteren Maßnahmen nach
Atomrecht durchzuführen.
({2})
Wir haben es hier schon lange nicht mehr mit einem
Forschungsstandort zu tun, sondern mit einem handfesten
geologischen Endlagerproblem. Die Rückholung der
atomaren Abfälle aus dem unsicheren Endlager stellt
sich uns derzeit als einzig realistische Option für einen
angemessenen Umgang mit dem Atommüll und für den
Schutz der Bevölkerung dar. Sollten sich andere Verfahrensweisen in einem transparenten Vergleich mit einem
nicht höheren Gefahrenpotenzial als die Rückholung
darstellen, dann können wir über Alternativen reden.
Bisher sehen wir keine.
Das Forschungsziel der Asse II war übrigens, sichere
Endlagertechniken zu entwickeln. Dieses Ziel ist ganz
offensichtlich grandios verfehlt worden. Das tatsächliche
Forschungsergebnis ist die größtmögliche Unsicherheit
eines Endlagers. Auch wer Atomkraft befürwortet,
müsste von daher größtes Interesse daran haben, dieses
Forschungsergebnis so nicht stehen zu lassen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Axel Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Weltweit sind mehr als
440 Kernkraftwerke in Betrieb.
({0})
In den nächsten zehn Jahren werden 120 bis 140 neue
Kernkraftwerkprojekte realisiert.
({1})
Die Uranvorräte reichen für mehr als 1 000 Jahre, auch
wenn Sie das in Zwischenrufen bezweifeln mögen. Der
Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung beträgt
derzeit weltweit 16 Prozent.
({2})
China will in großem Stil fossile Brennstoffe durch
Kernenergie ersetzen und plant 30 neue Kernkraftwerke.
({3})
Auch wenn Ihnen das nicht gefallen mag: Finnland baut
derzeit sein fünftes Kernkraftwerk - auch mit deutscher
Technik, ein Glück; wir sind immer noch vorne mit dabei - und plant schon das nächste. Schweden ist 1997
- nach dem Ausstieg - wieder in die Kernkraft eingestiegen
und hat unbefristete Betriebsgenehmigungen für seine
Kernkraftwerke erteilt.
({4})
- Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege.
({5})
Warum erzähle ich das,
({6})
obwohl wir heute über einen Antrag zur Schließung der
Schachtanlage Asse debattieren? Der Grund ist einfach;
vielleicht werden auch Sie ihn nach meinen Ausführungen
verstehen. Auch wenn der Atomausstieg Deutschlands
besiegelt sein sollte, brauchen nicht nur wir, sondern
auch andere Länder Endlager. Der Kollege Krummacher
hat völlig recht - er betont es auch im Ausschuss immer
wieder -: Endlager sollen die letzte Ruhestätte für die radioaktiven Rückstände sein, die einer weiteren Verwertung
nicht mehr zugeführt werden können.
In Deutschland haben wir dank der Endlager und der
Sicherheitsforschung wertvolle Erkenntnisse und einen
hohen Wissensstand, was die Einlagerung von radioaktiven Abfällen angeht. Das gilt nicht nur für Karlsruhe,
sondern auch für viele andere Forschungseinrichtungen,
lieber Kollege Tauss. Hier spielt die Schachtanlage Asse
eine wichtige, hervorgehobene Rolle.
({7})
- Da stimmen Sie zu. Es freut mich sehr, dass vonseiten
der Grünen Zustimmung kommt. Ich bitte, das im Protokoll entsprechend zu vermerken.
Dort wurden über Jahrzehnte die Entwicklung und die
Erprobung von Methoden zur Einlagerung von wärmeerzeugenden, vor allem von hochradioaktiven Abfällen
erfolgreich erforscht und damit zusammenhängende sicherheitstechnische Fragen bearbeitet. Die Einlagerung der
Fässer mit leicht- und mittelradioaktiven Abfällen bis
1979, die Sie auch in Ihrem Antrag benennen, diente
dazu, unterschiedliche Einlagerungstechniken zu untersuchen. Art, Menge und Zusammensetzung der Abfälle
sind aus dieser Zeit bekannt. Wir haben Einlagerungen
in der Salzformation. Das Salzgestein wurde mit dem
Ziel einer Abschirmung gegen die Biosphäre beobachtet.
Es kam zu einem dauerhaften Einschluss und zur Erprobung verschiedener Einlagerungstechniken.
Als am 30. Juni 1995 das dortige Forschungsinstitut
nach 30 Jahren erfolgreicher Arbeit aufgelöst wurde,
begann eine neue Ära. Seither bereitet die GSF die
Schließung der Anlage nach Bundesberggesetz vor.
({8})
Asse ist das erste Bergwerk mit radioaktiven Abfällen,
das geschlossen wird.
({9})
Das ist ebenso wie die vormalige Erforschung der Endlagerung radioaktiver Abfälle eine Pionieraufgabe, der
wir uns als Mitglieder einer zukunftsoffenen und innovativen Gesellschaft gerne stellen. Dass im Fall der
Schließung dieses Bergwerks sichergestellt werden wird,
dass den Vorschriften nach Bergrecht, Atomrecht und
Wasserrecht Genüge getan wird, das ist für mich, für
meine Fraktion und, wie ich denke, auch für die Koalition eine Selbstverständlichkeit.
({10})
- Ich bin etwas überrascht, dass es bei der SPD-Fraktion
an Unterstützung für diese Aussagen fehlt. Die Dinge,
die ich angesprochen habe, müssten in der Koalition
wohl unstrittig sein.
({11})
Axel E. Fischer ({12})
So ist es auch vorgesehen, wenn ich mich nicht irre. Wir
wollen die eingelagerten radioaktiven Abfälle gefahrlos
von der Biosphäre fernhalten bzw. abschließen. Auch
das müsste von der SPD-Fraktion eigentlich mitgetragen
werden. Das unterscheidet uns von den Grünen.
Wenn ich den Antrag der Grünen richtig gelesen
habe, dann wollen Sie die radioaktiven Abfälle jetzt zurückholen,
({13})
umkonditionieren und dann wieder zwischenlagern, das
heißt zurückholen in die Biosphäre.
({14})
Dies soll geschehen, ohne überhaupt geprüft zu haben,
ob das derzeitige Schließungskonzept der Schachtanlage
geeignet ist.
Ich habe Ihren Antrag gut studiert: Sie behaupten zwar
gleich im ersten Absatz, die Sicherheit des Endlagers sei
„nicht mehr gewährleistet“, im Weiteren bleiben Sie jedoch
den Nachweis für Ihre Behauptung schuldig. Trotz der
fast drei Seiten Text gehen Sie nur äußerst oberflächlich
und auch einseitig auf das vorliegende Schließungskonzept
ein. Es geht bei weitem nicht nur um die Einbringung eines
Schutzfluids, das deutlich schwerer als Salzwasser ist,
sodass selbst bei Transportprozessen etwaige gelöste radioaktive Stoffe im Fluid unterhalb des Salzwassers Richtung Erdmitte verbleiben. Sie fordern in Ihrem Antrag
die Bundesregierung auf, alle notwendigen Schritte einzuleiten, um das Grubengelände zu stabilisieren. Gleichzeitig unterschlagen Sie aber,
({15})
dass die Einleitung des Schutzfluids genau die von Ihnen
geforderte Wirkung hat.
({16})
Sie unterschlagen auch, dass vielfältige weitere technische Maßnahmen vorgesehen sind, um die radioaktiven
Abfälle sicher zu lagern.
({17})
Dazu gehören zum Beispiel die Verfüllung von Resthohlräumen mit Salz, der Einbau von Magnesiumdepots
und der Bau von Strömungsbarrieren im Bereich der
Einlagerungskammern.
({18})
Hier sollten Sie offen und ehrlich argumentieren und
nicht durch Verschweigen und mit Berufung auf Dritte
unnötig Ängste und Schrecken erzeugen.
({19})
Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten im Rahmen
der Endlagerforschung, die sich mit Wassereinbrüchen
in Salzgestein beschäftigen, kommen zu Ergebnissen,
die Ihren Behauptungen diametral gegenüberstehen. Es
ist vielerorts gute bergbauliche Praxis, Probleme mit
wasserdurchlässigem Salzgestein auf diese Weise zu lösen.
({20})
Ob dies in Asse geht, wird derzeit, wenn ich mich nicht
irre, amtlich geprüft.
({21})
- Sie bestätigen das. - Über die Ergebnisse dieser Prüfung sollten wir uns dann unterhalten, wenn die Informationen vorliegen.
({22})
Als ich in Ihrem Antrag weiter unten von der Suche
nach dem bestmöglichen Standort gelesen habe, konnte
ich mich des Eindrucks nicht erwehren, Ihr Antrag ziele
weniger auf die Schachtanlage Asse als vielmehr auf den
Schacht Konrad.
({23})
Was Sie hier vorschlagen, ist - Sie müssen entschuldigen - wirklich grotesk. Wir haben mit Asse eine
Schachtanlage mit radioaktiven Abfällen, deren Eignung
im Hinblick auf die endgültige Schließung derzeit geprüft wird. Im Erfolgsfall wäre die Schachtanlage 2013
geschlossen, die Abfälle wären dauerhaft entsorgt; sozusagen: Klappe zu, Affe tot.
({24})
Ich bin der Überzeugung, dass wir ein solches sicheres
Endlager brauchen, um radioaktive Abfälle dauerhaft
sicher zu entsorgen. Wenn Asse sicher sein sollte, wenn
Asse geeignet ist, dann besteht aus meiner Sicht auch
kein vernünftiger Grund mehr, weitere Mittel und Energie aufzuwenden, um unter Umständen weitere Standorte zu finden, die gegebenenfalls auch geeignet oder
eventuell noch besser geeignet sind.
({25})
Eine solche Vorgehensweise mag vielleicht bei Paarungswettbewerben pubertierender Teenager weit verbreitet sein;
({26})
für die Auswahl von Endlagern halte ich diese für fragwürdig.
({27})
Axel E. Fischer ({28})
Ein Beispiel mag das deutlich machen: Eine Landebahn muss das Gewicht des landenden Flugzeugs aushalten. Wenn die Prüfung dann ergibt: „Jawohl, die
Tragfähigkeit reicht aus“, dann muss man doch nicht
nach einer anderen Landebahn Ausschau halten, die
noch schwerere Flugzeuge aufnehmen kann. Das ist widersinnig; das macht keinen Sinn.
({29})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Herr Präsident, das werde ich nach Ihrer Ermunterung
gern tun.
({0})
2014 wäre voraussichtlich der früheste Zeitpunkt, an
dem die Vorbereitungen abgeschlossen werden könnten,
um die Abfälle überhaupt wieder an die Oberfläche zu
holen. Das kann man keinesfalls übers Knie brechen,
und das geht deshalb nicht von heute auf morgen.
Was wollen wir gemeinsam machen? Es macht Sinn,
Ihren Antrag im Ausschuss zu diskutieren.
({1})
Das wäre der richtige Weg. Deswegen schlage ich vor,
diesen Antrag an den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung zur federführenden Beratung zu überweisen.
Danke schön.
({2})
Die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP, hat ihre
Rede zu Protokoll gegeben.1)
({0})
Deswegen erteile ich jetzt Kollegen Jörg Tauss, SPDFraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Fischer, bei der Flugzeuggeschichte ist
mir gerade das Beispiel der Hummel eingefallen. Die hat
1) Anlage 12
ein Gewicht von 1,2 Gramm und eine Flügelfläche von
0,75 Quadratzentimetern. Nach allen Regeln der Flugkunst - Frau Kollegin Aigner kann das bestätigen - kann
dieses Vieh nicht fliegen, und es fliegt trotzdem.
Frau Kotting-Uhl, mir ist wirklich nicht nach Spaß
zumute. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Annahme gekommen sind. Wir sollten hier und heute Abend seriös
darüber diskutieren. Es gibt besorgniserregende Zustände im sogenannten Forschungsendlager Asse.
Die Bundesregierung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium für
Umwelt und Naturschutz, auch die örtlichen Behörden
müssen dieses Thema selbstverständlich ernst nehmen.
Sie nehmen es auch ernst; das ist doch überhaupt keine
Frage.
Wir wollen in der Tat sehr sorgfältig prüfen, ob diese
Frage nach Atomrecht und nicht nach Bergrecht geklärt
werden muss. Eines aber muss auch klar sein: Es hilft
nichts, wenn wir für die Klärung dieser Frage Jahre
bräuchten, während die Ängste der Menschen in dieser
Zeit zunehmen und wir weiterhin Probleme in diesem
Bereich haben.
Herr Kollege Fischer, Sie haben die Kernkraft und deren positives Wirken angesprochen. Am liebsten hätte
ich Ihnen empfohlen: Gehen Sie einmal hin und baden
Sie darin!
({0})
Lieber Koalitionspartner, wir wissen ja, dass wir da unterschiedliche Auffassungen haben. Aber wenn es noch
eines Beweises bedurft hätte, wie fahrlässig - übrigens
auch heute noch - in weiten Teilen der Welt mit radioaktivem Müll, mit Kernkraft umgegangen wird, dann ist
Asse II ein zentraler Beleg für den sorglosen Umgang
mit den Risiken der Atomenergie. Da gibt es auch
nichts zu beschönigen.
({1})
- Natürlich informiere ich mich über das Thema; sonst
würde ich, Kollege Fischer, diese Rede gar nicht halten
können. Voraussetzung dafür, eine Rede halten zu können, ist bei uns, dass man sich vorher informiert. Das ist
ein Grundsatz.
({2})
Wir haben 125 000 Fässer.
({3})
- Stellen Sie doch einmal eine Zwischenfrage. - Damals,
Kollege Fischer, gab es die feste Überzeugung, dass Trockenheit und Standortsicherheit gewährleistet sind.
({4})
- Ich weiß gar nicht, warum mein Wahlkreiskollege,
mein lieber Koalitionspartner, so herumrandaliert.
({5})
- Das ist ja richtig gut heute Abend.
Seit Ende der 80er-Jahre, Kollege Fischer, haben wir
einen permanenten Laugenzutritt von 12,5 Kubikmetern
Salzlösung pro Tag. Dieser Laugenzutritt verschärft das
Problem. Das ist der Punkt.
({6})
Aus diesem Grunde muss man sagen, dass die anstehende Schließung des Bergwerkes und die Zukunft der
dort lagernden Abfälle mit großer Aufmerksamkeit betrachtet werden müssen.
({7})
Kollege Fischer, da Sie das alles besser wissen, rege
ich an: Stellen Sie doch einmal einen Antrag im Ausschuss, dass das Bundesministerium für Bildung und
Forschung die Finanzierung der Forschungsarbeiten in
diesem Bereich einstellen möge. Dass wir daran forschen, zeigt, dass wir die Ängste der Bevölkerung ernst
nehmen, anstatt einen solchen Unfug zu erzählen, wie
Sie es heute Abend tun. Lassen Sie mich das einmal in
dieser Deutlichkeit sagen.
({8})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht es bei uns im
Wahlkreis immer zu. Wir sind ein munteres Völkchen da
in Baden. Aber deswegen brauchen sich die anderen dort
hinten nicht auch noch aufzuregen.
Wir müssen also gucken, wie der materiell-inhaltliche
Unterschied zwischen einem Verfahren nach Atomrecht
und einem Verfahren nach Bergrecht ist und ob es dadurch
zu Verzögerungen kommt, das heißt, ob eine sorgfältige
Prüfung die Maßnahmen zur Sicherung des Forschungsbergwerks Asse II möglicherweise eher verzögert denn
fördert. Wenn sich das nicht verzögert, würde ich sagen,
dass man darüber reden kann.
Ich habe das Forschungsprojekt angesprochen.
Schwerpunkt ist bei uns selbstverständlich die Prüfung,
wie das Grubengebäude gesichert werden kann; das ist
völlig klar. Wir müssen uns angucken, wie die 100 000
Kubikmeter radioaktive Abfälle - das ist mein Dissens
möglicherweise auch zu den Grünen - herausgeholt werden können oder ob es nicht tatsächlich besser wäre, sie
unten zu lassen
({9})
und nach einem entsprechenden Verfahren zu suchen.
Das sind in der Tat Punkte, über die man - auch wissenschaftlich - sprechen muss; denn auch das Öko-Institut
und andere haben durchaus Bedenken, den Abfall herauszuholen.
Last, but not least, auch wenn wir alle uns über die
Asse und das, was dort passiert, zu Recht aufregen: Die
Geschichte ist eine Lehre für den Umgang mit riskanten
Technologien. Sie beweist, dass Kernkraft nicht verantwortbar ist, auch nicht in naher Zukunft. Aus diesem
Grunde sollten wir an der Koalitionsvereinbarung, die
einen Ausstieg aus dieser riskanten, nicht zu verantwortenden Technologie vorsieht, wie es auch mit der Kanzlerin vereinbart ist, festhalten und im Übrigen nicht weiter Millionen von Euros für diesen alten Unfug
ausgeben. In Karlsruhe haben wir auch einen Beweis.
Gerade brauchen wir wieder 50 Millionen für den Abbruch unserer Wiederaufarbeitungsanlage. Nein, es ist
verantwortungslos. Die Zukunft liegt woanders. Trotzdem muss man sich selbstverständlich um die Asse kümmern und die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.
Herzlichen Dank.
({10})
- Jetzt haben Sie etwas gelernt; hervorragend.
({11})
Ich bin gespannt, ob es so temperamentvoll weitergeht. Deswegen erteile ich Kollegin Dorothée Menzner,
Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
20 Jahren bin ich Niedersächsin. Aufgewachsen bin ich
in Südhessen, in Sichtweite des AKW Biblis. Mich begleitet die Atomenergie also schon ein Leben lang.
Gerade in Niedersachsen kommen wir um die Frage
des Zwischenlagers und Endlagers nicht herum. Selbst
wenn wir sofort aus der Atomenergie aussteigen würden:
Wir haben riesige Mengen atomaren Mülls, und noch ist
nicht klar, wie wir diese sicher für Jahrtausende lagern
können. Nur, um einmal eine Vorstellung davon zu bekommen: Es ist gerade einmal 7 000 Jahre her, da liefen
unsere Vorfahren noch keulenschwingend durch die
Wälder.
({0}))
Asse II als einziges atomares Endlager der Bundesrepublik macht das ganze Dilemma deutlich. Es wurde anDorothée Menzner
gesprochen: 125 000 Fass schwachradioaktiver Müll sind
eingelagert, 1 300 Fass mittelradioaktiver, das Ganze als
Forschungsbergwerk deklariert, niemals atomrechtlich
genehmigt.
({1})
Auch für die Schließung wurde kein atomrechtliches
Verfahren eingeleitet, obwohl der Niedersächsische
Landtag 2006 die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens festgestellt hat. Weder - auch das muss ich jetzt einmal sagen - Herr Gabriel noch Herr Trittin hat sich da in
der Vergangenheit mit Ruhm bekleckert.
Was wir derzeit in Asse II erleben, ist der GAU eines
Atommülllagers. Es gab in Asse immer Probleme durch
Wasserzutritt; aber seit 1988 sind sie akut. Seitdem tritt
kontinuierlich Lauge aus. Zeugen, die im Bergwerk waren und sich das angesehen haben, sagen: Da tropft es
nicht, sondern da rauscht das Wasser aus dem Berg. Die Austrittsstelle nähert sich immer mehr den Lagerkammern an.
Zwar hat der Betreiber beteuert, das Lager sei sicher.
Aber jetzt muss er zugeben: So ganz sicher ist es wohl
nicht. Das, was uns immer als Langzeitsicherheit versprochen wurde, hat nicht einmal 20 Jahre gehalten. Da
stellt sich für mich schon die Frage, wie es mit der vielbeschworenen Langzeitsicherheit von Schacht Konrad
und Gorleben aussieht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen das
Thema Atomkraft, egal wie wir zur derzeitigen Nutzung
stehen, nicht weiter als Glaubensfrage betrachten. Wir
müssen gemeinsam erreichen, dass die Forderungen des
AK End umgesetzt werden und dass die sicherste Lösung Realität wird.
({2})
Maßgebend müssen wissenschaftliche Kriterien sein und
nicht die Frage der Kosten, der Durchsetzbarkeit oder ob
es der Atomlobby gefällt. In diesem Atommonopoly gilt
jetzt: Zurück auf Los, Kernkraft zügig abschalten - mir
wäre lieber, wenn das schneller geschehen würde, als es
bisher vereinbart ist - und vor allem nach wissenschaftlichen Kriterien die geeignetste Lagerstätte für die Abfälle, die nun einmal da sind, finden.
Dies bedeutet ganz konkret für Asse II: Erstens. Ob
Rückholung, teilweise Rückholung oder Verbleib des
Mülls, es muss schnellstens untersucht werden, wie die
Strahlenlast für die Bevölkerung, für die Anwohner
möglichst gering gehalten werden kann. Zweitens. Es
dürfen keine Fakten geschaffen werden, die eine Rückholung perspektivisch unmöglich machen. Drittens. Es
müssen zügig weitere Maßnahmen zur Stabilisierung des
rutschenden Berges ergriffen werden; auch das wurde
hier sehr anschaulich gezeigt. Viertens. Es muss endlich
- und vor allem schnell - ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren zur Schließung von Asse II eingeleitet werden.
({3})
Als Fazit bleibt mir nur zu sagen: Wir als Linke plädieren für die Schließung der Asse nach Atomrecht und
nicht nach Bergrecht. Dabei muss nach wissenschaftlichen Kriterien entschieden werden, was zu tun ist und
wie mit dem Atommüll umzugehen ist. Da muss ich leider in Richtung der Grünen sagen: Die Forderung nach
einer sofortigen Rückholung ohne genaue vorherige Prüfung kommt mir sehr wie Aktionismus vor.
({4})
Dies würde abermals bedeuten, das Thema Atom als
Glaubensfrage zu behandeln. Ich möchte, dass wir aufgrund konkreter wissenschaftlicher Untersuchungen gemeinsam entscheiden, was das Sicherste und Unschädlichste ist.
Danke.
({5})
Als letzter Redner hat Kollege Christoph Pries, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die sogenannte Einrichtung zur Versuchsendlagerung im ehemaligen Salzbergwerk Asse II ist ein
Problem. Im Versuchsendlager Asse II wurden zwischen
1967 und 1978 durch die Betreibergesellschaft GSF rund
125 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen eingelagert. Zum Zeitpunkt der Einlagerung hatte
die Betreibergesellschaft öffentlich erklärt, dass das Forschungsbergwerk sowohl langfristig trocken als auch
standsicher sei. Diese Aussagen haben sich inzwischen
als falsch erwiesen.
({0})
Seit 1988 gibt es in der Asse einen Salzlaugenzufluss
von 12,5 Kubikmetern pro Tag. Dies stellt nach Auffassung der Betreibergesellschaft ein unkalkulierbares Risiko für die Stabilität des Grubengebäudes dar. Mit Blick
auf die Geschichte der Asse und die Fehlprognosen der
vergangenen 40 Jahre ist sehr gut nachvollziehbar, dass
die Bevölkerung der umliegenden Gemeinden die
Schließung des Bergwerkes mit großer Aufmerksamkeit
und Sorge verfolgt.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion nimmt diese Sorgen und
Nöte der Bevölkerung sehr ernst.
({2})
Wir sind deshalb der Auffassung, dass unter den gegebenen schwierigen Bedingungen die beste Lösung zum
Wohle der betroffenen Menschen gefunden werden
muss.
({3})
Diese beste Lösung beinhaltet auch, dass die Praktikabilität einer Rückholung unter sicherheits- und
strahlenschutztechnischen Aspekten kritisch geprüft
werden muss. Zentrale Fragen, die in diesem Zusammenhang beantwortet werden müssen, sind:
Erstens. Wie ist die Standsicherheit des Grubengebäudes zu beurteilen? Zweitens. Gibt es Möglichkeiten, die
Stabilität des Grubengebäudes zu erhöhen, um Zeit für
eine mögliche Rückholung der radioaktiven Abfälle zu
gewinnen? Drittens. Wie hoch ist die Gefahr, dass ohne
eine sofortige Schließung des Grubengebäudes eine Verfüllung und ordnungsgemäße Schließung durch steigende Laugenzuflüsse verhindert wird? Viertens. In welcher Relation steht dieses Gefahrenpotenzial im
Vergleich zu den Langzeitrisiken der vorgesehenen
Schließung ohne Rückholung der Abfälle?
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
finanziert im Rahmen der Projektbegleitung eine Ausarbeitung zur Rückholbarkeit der eingelagerten radioaktiven Abfälle. Es erfüllt damit eine langjährige Forderung
der betroffenen Bevölkerung. Die Bundestagsfraktion
der SPD begrüßt dies ausdrücklich.
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Die Betreibergesellschaft hat inzwischen ein Langzeitsicherheitskonzept für die Schließung des Bergwerkes Asse II erstellt und den zuständigen Behörden zur
Prüfung zugeleitet. Unabhängig von der Frage, ob
Atomrecht oder Bergrecht gilt, dürfen die Prüfungsmaßstäbe des vorgesehenen bergrechtlichen Verfahrens nicht
hinter den atomrechtlichen zurückbleiben.
({5})
Gleiches gilt für die Transparenz des Verfahrens.
({6})
Dazu zählt meiner Meinung nach auch, dass nach der
vorgesehenen Schließung des Bergwerkes ohne Rückholung der eingelagerten Abfälle in jedem Fall eine regelmäßige Umgebungsüberwachung erfolgen muss.
({7})
Mögliche Gefahren für die Bevölkerung müssen
rechtzeitig erkannt werden. Hierzu hat mir die Bundesministerin für Bildung und Forschung im Juli 2006 Folgendes mitgeteilt: Die Betreibergesellschaft wird gemeinsam mit dem Bundesamt für Strahlenschutz die
Thematik der Umgebungsüberwachung erörtern. Ziel ist
es, ein einheitliches Vorgehen bei der Schließung der
Schachtanlage Asse und des Endlagers Morsleben abzustimmen. Das begrüße ich ausdrücklich.
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Abschließend möchte ich feststellen, dass uns gerade
die Probleme, die wir mit dem sogenannten Versuchsendlager Asse II haben, eine Mahnung sein sollen, eine
Mahnung, dass es bei der Endlagerung aller radioaktiven
Abfälle nicht in erster Linie um Schnelligkeit geht. Es
kommt vielmehr auf die richtige Auswahl an.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4771 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung; die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - also über eine
Überweisung an den Forschungsausschuss - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck ({0}), Volker
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Politische Lösungen sind Voraussetzung für
Frieden in Somalia
- Drucksache 16/4759 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegen Anke Eymer ({3}), Brunhilde Irber,
Marina Schuster, Norman Paech und Uschi Eid haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4759 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 13
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que-
rung - Fährkonzept verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein
ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver-
kehrskonzept
- Drucksachen 16/3668, 16/3798, 16/4630 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Die Kollegen Gero Storjohann, Hans-Joachim
Hacker, Patrick Döring, Lutz Heilmann und Rainder
Steenblock haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 14
Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/4630.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4630 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3668 mit dem Titel „Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung - Fährkonzept verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der
FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4630 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/3798 mit dem Titel „Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein ökologisch und finanziell
nachhaltiges Verkehrskonzept“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 30. März, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.