Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und einen erfolgreichen Tag.
Zum heutigen Girls Day gratuliere ich allen Kolleginnen besonders herzlich, natürlich auch den auf den
Zuschauertribünen und auf der Pressetribüne anwesenden Damen. Ich wünsche Ihnen nicht nur heute die bevorzugt freundliche Behandlung, die Sie ohnehin verdienen und die Sie in diesem Hause auch meistens erhalten.
Ich habe die große Freude, auf der Ehrentribüne eine
Delegation des australischen Parlaments mit dem
Parlamentspräsidenten, Herrn David Hawker, an ihrer Spitze begrüßen zu dürfen. Herzlich willkommen im
Deutschen Bundestag!
({0})
Wir freuen uns über Ihren Besuch. Wir hatten bei unserem Gespräch am vergangenen Dienstag bereits Gelegenheit, unser gemeinsames Interesse an einer weiteren
Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern festzuhalten. Ich habe keinen
Zweifel daran, dass Ihr Besuch dazu beitragen wird. Für
Ihren Aufenthalt und Ihr weiteres parlamentarisches
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Da wir gerade bei guten Wünschen und Gratulationen
sind: Der Kollege Wolfgang Börnsen feiert heute seinen
65. Geburtstag.
({1})
Dazu gratuliere ich ihm im Namen des ganzen Hauses
herzlich. Es gibt eigentlich keine angemessenere Möglichkeit, diesen Geburtstag zu feiern, als dass alle Mitglieder des Deutschen Bundestages zu einem solchen
Anlass zusammentreten.
({2})
Es hat seit unserer letzten Sitzung eine Reihe weiterer
runder Geburtstage gegeben: Ihren 60. Geburtstag feierten der Kollege Frank Spieth am 4. April,
({3})
die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel am
6. April und der Kollege Achim Großmann am
17. April. Auch Ihnen nachträglich herzliche Gratulation
und alle guten Wünsche!
({4})
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Stephan Hilsberg als stellvertretendes Mitglied aus dem
Vermittlungsausschuss und aus dem Gemeinsamen
Ausschuss nach Art. 53 a des Grundgesetzes ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Klaas
Hübner vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Hübner zum stellvertretenden Mitglied des Vermittlungsausschusses und des Gemeinsamen Ausschusses gewählt.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen teilt mit,
dass die Kollegin Undine Kurth auf die Mitgliedschaft
im Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur verzichtet. Als Nachfolger wird der Kollege Peter Hettlich
vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? Das scheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege
Hettlich hiermit zum Mitglied des Stiftungsrates der
Bundesstiftung Baukultur gewählt.
Zum Ablauf der heutigen Sitzung teile ich Ihnen mit,
dass interfraktionell vereinbart wurde, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Haltung der Bundesregierung zu den Absichten des Bundesministers des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, im Zusammenhang mit dem sogenannten Kampf gegen den Terrorismus ({5})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({6})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt und
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes
und anderer Vorschriften
- Drucksache 16/4696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm,
Undine Kurth ({8}), Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz
auf der IWC stärken
- Drucksache 16/5105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Eintreten für die Beendigung der von den USA auferlegten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba
- Drucksache 16/5115 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth
({11}), Volker Beck ({12}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Unterwasserlärm stoppen
- Drucksache 16/5117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in Russland in
Gefahr
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim
Dağdelen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Für Humanität und Menschenrechte statt wirtschaftlicher
Nützlichkeit als Grundprinzipien der Migrationspolitik
- Drucksache 16/5108 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
({15}), Christoph Waitz, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Kulturwirtschaft als Zukunfts- und Wachstumsbranche in Europa stärken
- Drucksache 16/5101 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({16})
Finanzausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz in Deutschland
- Drucksache 16/3099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel
Bahr ({18}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Nichtraucherschutz praktikabel und mit Augenmaß umsetzen
- Drucksache 16/5118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, CarlLudwig Thiele, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Sofortprogramm für mehr Kinderbetreuung
- Drucksache 16/5114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({20})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 27 b und 30 werden abge-
setzt. Können wir auch hierzu Einvernehmen feststellen? -
Das sieht so aus. Ich bedanke mich. Dann ist das so be-
schlossen.
Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 4 a
bis 4 h:
a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Klimapolitik der Bundesregierung nach den
Beschlüssen des Europäischen Rates
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Dr. Norbert Lammert
Solares Unternehmertum in Deutschland Herausforderungen annehmen, Chancen nutzen
- Drucksache 16/3355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({21})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Internationale und europäische Klimaschutzoffensive 2007
- Drucksache 16/4610 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stromeinsparung voranbringen
- Drucksache 16/4760 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({23})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Dagmar Enkelmann, HansKurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Nationales Sofortprogramm und verbindliche
Ziele für den Klimaschutz festlegen
- Drucksache 16/5129 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({25}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske,
Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für eine radikale und konsequente Klimapolitik
- Drucksachen 16/3283, 16/4766 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({26})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Klares Signal für die Kyoto-II-Verhandlungen
auf der UN-Klimakonferenz in Nairobi setzen
- Drucksachen 16/3026, 16/4767 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({28})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({29})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Dorothée
Menzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Trendwende beim Klimaschutz im Verkehr Nachhaltige Mobilität für alle ermöglichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Reinhard Loske, Peter Hettlich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Klimaschutzmaßnahmen im
Straßenverkehr ergreifen
- Drucksachen 16/4416, 16/4429, 16/5135 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
90 Minuten dauern. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({30})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Überschrift der heutigen Regierungserklärung der Bundesregierung lautet: Klimaagenda 2020.
Tatsächlich bedeutet die Umsetzung der europäischen
Klimaschutzziele nichts weniger als den grundlegenden
Umbau der Industriegesellschaft. Wenn wir für eine
von 6,5 Milliarden Menschen auf über 9 Milliarden
Menschen wachsende Weltbevölkerung bis zur Mitte
dieses Jahrhunderts Güter und Dienstleistungen mit der
halben Menge an Treibhausgasemissionen bereitstellen
wollen, dann erfordert das einen Quantensprung in der
Entwicklung der Industriegesellschaft. Wir müssen zum
Beispiel die Energieeffizienz unserer Volkswirtschaft in
Zukunft statt wie bisher um 1 Prozent jährlich um 3 Prozent pro Jahr steigern. Nur mit einer ambitionierten
Steigerung der Energieeffizienz und einem massiven
Ausbau der erneuerbaren Energien können wir die Klimaschutzziele erreichen.
({0})
Damit wird aber auch deutlich, dass es nicht um eine
defensive Strategie oder gar um eine Verzichtsmoral gehen kann. Große Teile der Weltbevölkerung leben in Armut. Ihnen eine Verzichtsethik der Reichen im Norden
zu empfehlen, würde dort als eine neue Form des Kolonialismus verstanden.
({1})
Wir müssen Forschung und Entwicklung vielmehr offensiver voranbringen, unsere Produktionsprozesse auf
den Prüfstand stellen, neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln und innovative Verkehrskonzepte erarbeiten. Hier sind wir in den letzten Jahren im internationalen Vergleich deutlich zurückgefallen. Während Japan
heute pro Kopf über 30 Dollar für die Energieforschung
einsetzt, liegen wir in Deutschland bei mageren
6,20 Dollar. Das muss sich ändern. Deshalb wird die
Bundesregierung den Schwerpunkt Energieforschung
weiter verstärken. Sie erwartet vor allen Dingen auch
von der Wirtschaft ein vergleichbares Engagement.
({2})
Ich freue mich daher, dass die Kollegin Ministerin
Schavan hier neue Schwerpunkte setzt und zudem ein
breit angelegtes Klimaforschungsprogramm auflegt.
Dafür stehen in den kommenden drei Jahren im Haushalt
des BMBF 255 Millionen Euro zur Verfügung.
({3})
Zu den neuen Schwerpunkten gehören insbesondere
die Abscheidung und Speicherung von CO2 bei Kohlekraftwerken. Nur so hat die Stromerzeugung aus Kohle
in Deutschland, in China und weltweit langfristig eine
Chance. Für diese Innovationsstrategien müssen wir
auch die Idee des technischen Fortschritts neu entdecken, durch den nicht blind, sondern orientiert am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ein entscheidender
Beitrag geleistet werden kann. Dieses Konzept ist also
das Gegenteil von Weiter so!. Es verkörpert den Wind
of Change, den unser Land zum Erreichen der Klimaschutzziele braucht.
Für diesen Umbau der Industriegesellschaft brauchen
wir vor allem die Menschen in unserem Land. Hier
meine ich vor allem die jungen Menschen. Sie müssen
wir wirklich begeistern. Auf ihre Talente, ihre Kreativität und ihr Engagement - das Engagement der jungen
Generation in Deutschland - müssen wir setzen. Unsere
Aufforderung muss deshalb lauten: Entwickelt neue
Ideen, Konzepte, Technologien, Produkte und Verfahren,
studiert Ingenieurwissenschaften, beteiligt euch an diesem Wettbewerb; denn euch gehört die Zukunft!
({4})
Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs haben unter Führung der Bundeskanzlerin einen
wirklich historischen Beschluss der EU über die zukünftige Klimapolitik gefasst. Mit diesem historischen
Beschluss wird mit der Integration von Energie- und Klimapolitik erstmals Ernst gemacht und werden ambitionierte Klimaschutzziele mit weitreichenden Maßnahmen
verknüpft.
Danach ist die Europäische Union bereit, die Treibhausgasemissionen bis 2020 im Vergleich zum Basisjahr
1990 um 30 Prozent zu vermindern, sofern andere Industrieländer zu vergleichbaren Minderungen bereit sind.
Im Vorgriff auf internationale Verhandlungen verpflichtet sich die Europäische Union schon jetzt, die Emissionen um mindestens 20 Prozent zu senken. In dem Beschluss der EU werden neben diesen beiden Zielen auch
die beiden wichtigsten Maßnahmen genannt: Bis 2020
soll die Energieeffizienz um 20 Prozent gesteigert werden, und der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch soll bis zu diesem Zeitpunkt auf
20 Prozent gesteigert werden. Das ist ein anspruchsvolles und rundes Paket, das weltweit seinesgleichen sucht.
({5})
Das ist die Messlatte, die die Europäische Union angelegt hat und an der auch wir in Deutschland uns messen lassen müssen. Die harten Fakten zeigen, wie weit
wir noch von diesen anspruchsvollen Zielen entfernt
sind. Wir liegen heute in der Klimabilanz im Bereich der
Treibhausgase gegenüber dem Basisjahr 1990 bei einem
Minus von 18 Prozent. Keine Frage, das ist beachtlich.
Kein anderes westliches Industrieland kann eine ähnlich
positive Bilanz vorweisen. Zur Wahrheit gehört aber
auch, dass wir im letzten Jahr um 0,7 Prozent zurückgefallen sind, statt uns weiter auf unser 21-Prozent-Ziel für
das Jahr 2012 zuzubewegen. Wir sind heute noch
3 Prozent von unserem Klimaschutzziel für die Periode
2008 bis 2012 entfernt. Es fehlen uns etwa 37 Millionen
Tonnen an eingesparten Treibhausgasen, um unseren
Beitrag zum Kiotoprotokoll zu erbringen.
Die Ursachen liegen klar auf der Hand. Weder hat die
deutsche Wirtschaft ihre Zusagen zum Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung erfüllt, noch war der Emissionshandel erfolgreich. Im Gegenteil: In der ersten
Handelsperiode wurden zu viele Emissionsrechte an
Energiewirtschaft und Industrie kostenlos verteilt, sodass der Zertifikatspreis heute bei ganzen 61 Cent liegt.
Von einem solchen Preis gehen wahrlich keine Impulse
zur Modernisierung der Stromversorgung und der industriellen Produktion aus.
({6})
Nun allerdings müssen wir mit unseren Beschlüssen
Ernst machen; denn die neuen Ziele des Europäischen
Rates weisen bereits weit über die Ziele des Kiotoprotokolls und das Jahr 2012 hinaus. Wenn die EU die Treibhausgase um 30 Prozent mindern will, muss Deutschland mehr erbringen. So steht es auch in der
Koalitionsvereinbarung von SPD und CDU/CSU. Der
Deutsche Bundestag hat deshalb zu Recht in seinem Beschluss vom November 2006 auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre verwiesen. Danach müsste Deutschland seine
Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Basisjahr 1990 bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent senken. Das
bedeutet: Bisher ging es um eine Minderung von
21 Prozent in 22 Jahren, nämlich von 1990 bis 2012. Anschließend geht es um eine Reduktion um weitere
19 Prozent in acht Jahren bis 2020. Da liegt die Latte, da
müssen wir hin.
Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr mit einem neuen Klimaschutzprogramm das Maßnahmenpaket auf den Weg bringen, mit dem die Beschlüsse der
Europäischen Union umgesetzt werden sollen. Um bis
2020 eine 30-prozentige Reduktion der Treibhausgase
zu erreichen, müssen die Emissionen im Vergleich zu
heute um 147 Millionen Tonnen reduziert werden. Das
reicht aber nicht. Eine Reduktion um 40 Prozent bedeutet dagegen eine Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen um 270 Millionen Tonnen gegenüber dem Niveau
von 2006.
Erste Ergebnisse von Studien im Auftrag der Bundesregierung zeigen, dass das machbar ist. Die 270 Millionen Tonnen könnten danach bis 2020 in acht Maßnahmenbereichen erbracht werden: erstens Reduktion des
Stromverbrauchs um 11 Prozent durch massive Steigerung der Energieeffizienz, das bringt eine Einsparung
von 40 Millionen Tonnen; zweitens Erneuerung des
Kraftwerkparks durch effiziente Kraftwerke: 30 Millionen Tonnen; drittens Steigerung des Anteils der Stromerzeugung durch erneuerbare Energien auf über 27 Prozent: 55 Millionen Tonnen; viertens Verdopplung der
effizienten Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung auf
25 Prozent: 20 Millionen Tonnen; fünftens Reduktion
des Energieverbrauchs durch Gebäudesanierung, effiziente Heizungsanlagen und Produktionsprozesse:
41 Millionen Tonnen; sechstens Steigerung des Anteils
der erneuerbaren Energien im Wärmesektor auf
14 Prozent: 14 Millionen Tonnen; siebtens Steigerung
der Effizienz im Verkehr und Steigerung des Anteils der
Biokraftstoffe auf einen Anteil von 17 Prozent:
30 Millionen Tonnen, und achtens Reduktion der Emission von anderen Treibhausgasen, wie zum Beispiel Methan: 40 Millionen Tonnen.
Kein Zweifel: Dieses Maßnahmenpaket ist außerordentlich ehrgeizig, aber es ist machbar. Zum ersten Mal
wird es bei der Umsetzung der Klimaschutzziele wirklich ernst. Meine Damen und Herren, wir müssen uns
entscheiden!
({7})
Heute ist der Jahrestag der Reaktorkatastrophe in
Tschernobyl. Sicher wird Ihnen nicht entgangen sein,
dass die Atomenergie in der Aufzählung der Maßnahmenpakete fehlt. Jeder weiß, dass es in der Koalition und
auch in der Bevölkerung unterschiedliche Auffassungen
zum Thema Kernenergie gibt. Ich bin mir aber mit EUKommissar Piebalgs, der im Gegensatz zu mir ein Befürworter der Kernenergie ist, einig, dass die zentralen
Handlungsfelder für Versorgungssicherheit und Klimaschutz Energieeffizienz und erneuerbare Energien sind.
Piebalgs erklärte dazu:
Atomkraft ist nicht die Antwort auf alle Fragen
etwa zum Schutz der Erdatmosphäre.
Wichtiger
sind verstärkte Anstrengungen, Energie einzusparen und erneuerbare Energien auszubauen.
Ich kann Herrn Piebalgs nur recht geben: Die Kernenergie zum archimedischen Punkt der Energiepolitik
und des Klimaschutzes zu machen, hat mit der Realität
nichts zu tun.
({8})
Natürlich werden wir darüber auch weiterhin lustvoll
streiten. Aber weit mehr als 90 Prozent dessen, was wir
zur Lösung der Probleme tun müssen, liegt jenseits der
mitunter recht lauten Pro-und-Kontra-Debatte zur Kernenergie.
Lassen Sie mich einen anderen neutralen Beobachter
der Szene, Horst Köhler, unseren Bundespräsidenten, zitieren:
Mir sind
keine ernstzunehmenden Stimmen bekannt, die ihr Eintreten für die Atomkraft damit begründen, darin liege das allumfassende Patentrezept
zur langfristigen Lösung des Klimaproblems. Aus
meiner Sicht brauchen wir einen ausgewogenen
Energiemix, und dazu brauchen wir vor allem eine
Strategie zum weiteren Ausbau der erneuerbaren
Energien und der massiven Verbesserung der Ener9480
gie-Effizienz. Und nicht zuletzt: Wir müssen sparsamer mit der vorhandenen Energie umgehen.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns in Zukunft
in diesem Bewusstsein konstruktiv über Energie und
Klima streiten, dann sind wir in unserem Land schon einen riesigen Schritt vorangekommen.
({9})
Eines sind die Maßnahmen jedenfalls nicht: zu teuer.
Im Gegenteil: Dieses Programm ist gut für Wirtschaft,
Umwelt und Beschäftigung. Es werden Jobs in den Zukunftsbranchen geschaffen. Unsere Wirtschaft wird für
den internationalen Wettbewerb um knappe Ressourcen
fit gemacht. Schon heute finden 214 000 Menschen Arbeit und Einkommen in der Branche der erneuerbaren
Energien. Vor wenigen Monaten haben wir mit dieser
Branche die Schaffung von 5 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in den kommenden zwei Jahren vereinbart.
Das ist eine echte deutsche Erfolgsstory.
({10})
Natürlich kostet der Klimaschutz Geld. Aber auch für
den Klimaschutz gilt: Die Investitionen von heute sind
die Arbeitsplätze von morgen. Vor allem aber bedeutet
Investition in den Klimaschutz Sicherheit vor den Zerstörungen des ungebremsten Klimawandels. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnete die
wirtschaftlichen Folgeschäden eines ungebremsten Klimawandels in Deutschland: Sie belaufen sich auf
137 Milliarden Euro bis zur Mitte dieses Jahrhunderts.
Demgegenüber schätzt das BMU die Mehrkosten im
Bundeshaushalt für diese Klimaschutzinvestitionen bis
zum Jahre 2010 auf rund 3 Milliarden Euro. Ich finde,
das ist vergleichsweise preiswert.
Ich kann und will den Entscheidungen zum Haushalt
nicht vorgreifen; aber sie müssen in diesem Jahr fallen.
So muss die Nutzung der Wärme aus erneuerbaren Energien massiv aufgestockt werden.
({11})
Eines ist klar: Wir stehen auch hier vor weitreichenden
Entscheidungen, wenn wir es mit dem Klimaschutz
wirklich ernst nehmen. So werden wir das Ordnungsrecht konsequent für den Klimaschutz einsetzen. Das
gilt beispielsweise für die Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden.
({12})
Das Ordnungsrecht stößt aber auch an Grenzen, etwa bei
der Sanierung von Altbauten, lieber Kollege, zum Beispiel bei Menschen, die nicht sehr viel Geld in der Tasche haben.
Deshalb brauchen wir sicher zusätzliche Haushaltsmittel. Allerdings gibt es auch Vorschläge zur Gegenfinanzierung: Ist es eigentlich sinnvoll und gerecht, dass
nach Recherchen der Deutschen Umwelthilfe inzwischen drei von vier der großen Geländefahrzeuge mit
sehr hohem Spritverbrauch als Dienstkraftfahrzeuge
vom Steuerzahler subventioniert werden? So viele Revierförster und Landwirte wird es unter den Käufern dieser CO2-Schleudern wohl kaum geben.
({13})
Wir haben uns darauf verständigt, dass wir diese Frage
in der Regierung prüfen wollen.
({14})
- Ich lese das vor, was wir in der Regierung vereinbart
haben, Herr Kollege. So ist das.
({15})
Der Schlüssel für einen erfolgreichen Klimaschutz
liegt in der Energiewirtschaft. Dafür nutzen wir den europäischen Emissionshandel. Der Emissionshandel ist
ein marktwirtschaftliches Instrument. Er gibt der Übernutzung der Umwelt einen Preis. Bislang werden die Gewinne aus dieser Übernutzung und Zerstörung privatisiert, die Kosten für die Beseitigung der Folgen von
Stürmen, Verwüstung und Überflutungen dagegen sozialisiert. Nun hat das Emissionszertifikat seinen Preis und
geht in die betriebswirtschaftliche Kalkulation ein.
Der Anteil der Energiewirtschaft an den gesamten
Treibhausgasemissionen in Deutschland beträgt 40 Prozent. Seit 1999 haben die Emissionen in diesem Sektor
um über 30 Millionen Tonnen zugenommen. Daran sieht
man, dass die bisher in diesem Sektor getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend wirksam waren. So hat der
erste Allokationsplan lediglich eine Senkung von 2 Millionen Tonnen CO2 zum Ziel gehabt.
Die Bundesregierung hat hier grundlegend umgesteuert. Mit dem vergangene Woche im Bundeskabinett beschlossenen Zuteilungsgesetz 2012 wird die verfügbare
Emissionsmenge der Kraftwerke drastisch um 57 Millionen Tonnen abgesenkt. Dabei räume ich freimütig ein,
dass wir auf diesem Weg in der Auseinandersetzung mit
der Europäischen Union gemeinsam eine gewaltige
Lernkurve hinter uns gebracht haben. Ich glaube, das gilt
für alle, die an diesem Prozess beteiligt sind.
({16})
Wir werden dabei nicht stehen bleiben. Nach 2012
wird Europa die Emissionsmenge weiter absenken, um
die gesteckten Ziele auch wirklich zu erreichen. Um
Windfall-Profits zu vermeiden, ist aber die Versteigerung der Emissionszertifikate das einzig Vernünftige. Ob
und wie weit wir bereits ab dem kommenden Jahr
10 Prozent versteigern werden, muss der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner Debatte um das Zuteilungsgesetz 2012 entscheiden. Gründe dafür gibt es viele;
noch viel größer ist der Finanzierungsbedarf im Klimaschutz.
({17})
Nun muss es darum gehen, den europäischen Emissionshandel zu einem wirklich europäischen Instrument
zu machen. Wir brauchen mehr Transparenz über die
Verfahren und die Festlegung der Emissionsbudgets. Die
Allokationsregeln müssen in den 27 Mitgliedstaaten harmonisiert werden, und der Flugverkehr soll in wettbewerbsneutraler Weise in den EU-Emissionshandel einbezogen werden.
Bei der Stromerzeugung ist der massive Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung die wichtigste Maßnahme.
Die kombinierte Erzeugung von Strom, Wärme und vielfach auch Kälte nutzt Energieträger am effizientesten.
Entscheidend kommt es darauf an, über Nah- und Fernwärmenetze anfallende Wärme zu nutzen. Deshalb müssen wir den Ausbau der Nah- und Fernwärmenetze stärker fördern. Unser Ziel ist es, den KWK-Anteil von
heute rund 10 Prozent bis 2020 in etwa zu verdoppeln.
Wenn wir die bisherige Förderung der Bestandsanlagen
auf neue und hocheffiziente Anlagen umschichten, erreichen wir dadurch bis 2020 eine Verminderung der CO2Emissionen um rund 20 Millionen Tonnen.
({18})
Aber machen wir uns nichts vor: Wir können bis auf
Weiteres nicht auf den Einsatz von Kohle für die Stromerzeugung verzichten. Bis Dezember 2012 werden drei
große Braunkohlekraftwerke, sechs Steinkohlekraftwerke und sieben Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von 12 000 Megawatt gebaut. Der Ersatz der ineffizienten Anlagen bringt eine massive Entlastung für den
Klimaschutz. Die neuen Kraftwerke haben einen so viel
höheren Wirkungsgrad, dass der Atmosphäre bis zu
42 Millionen Tonnen Kohlendioxid im Jahr erspart werden können.
({19})
Wer hier allein auf Gas setzt, fährt im Übrigen eine
Risikostrategie. Gas nutzen wir heute nur zu 10 Prozent
für die Stromerzeugung; Braunkohle und Steinkohle machen 50 Prozent unseres Strommarktes aus. Wollte man
Kohle durch Gas ersetzen - was gelegentlich auch hier
im Hause gefordert wird -, müsste der Gaseinsatz ungefähr verfünffacht werden. Das sind drei Viertel des gesamten Erdgaseinsatzes in Deutschland und entspricht
- um einen plakativen Vergleich zu wählen - dem Gasverbrauch eines Jahres von Italien.
({20})
So viel Gas ist am Markt nicht verfügbar, und es hätte
zudem erhebliche Auswirkungen auf den Strompreis.
({21})
Genauso klar sage ich aber auch, dass es unter den
Bedingungen des Emissionshandels für die Verstromung
von Braunkohle und Steinkohle klare Grenzen gibt. Dies
ergibt sich aus der fortschreitenden Verknappung der Emissionsrechte. Das Horrorgemälde von 29 oder 40 neuen
Kohlekraftwerken entbehrt jeder Grundlage.
({22})
Um die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen,
werden wir in der dritten Handelsperiode - also zwischen 2012 und 2020 - das Emissionsbudget für die
Energiewirtschaft gegenüber dem jetzigen Emissionsbudget nochmals deutlich absenken. Nach 2012 gibt es
für die neuen Kohlekraftwerke nur drei Alternativen:
Entweder wird CO2 abgeschieden und gespeichert - das
planen RWE und Vattenfall -, oder die EVU kaufen an
der Börse die benötigten CO2-Zertifikate, oder es werden über Klimaschutzprojekte im Ausland Emissionsrechte erworben.
({23})
Entsprechend dem Beschluss des Europäischen Rates
sind die drastische Steigerung der Energieeffizienz und
der massive Ausbau der erneuerbaren Energien die richtige Doppelstrategie. Auf diesem Weg machen wir in
Deutschland schon jetzt Fortschritte. In wenigen Jahren
haben wir den Anteil der erneuerbaren Energien in der
Stromerzeugung verdoppelt. Schon heute erzeugen sie in
Deutschland so viel Strom wie der Energieversorger
EnBW. In zehn Jahren werden sie Eon überrunden. Das
ist der Siegeszug der erneuerbaren Energien, der auch
nicht aufgehalten wird.
({24})
Das Ziel der Europäischen Union, bis 2020 den Anteil
der erneuerbaren Energien an der eingesetzten Primärenergie auf 20 Prozent zu steigern, bedeutet für Deutschland, dass wir den Anteil der erneuerbaren Energien
vervielfachen müssen. Das bisherige Ausbauziel Deutschlands unter der Vorgängerregierung lag übrigens bei
10 Prozent. Nun müsste auf Basis europäischer und
deutscher Gutachten der deutsche Anteil auf 16 Prozent
steigen, um den verabredeten durchschnittlichen Anteil
von 20 Prozent am Primärenergiebedarf Europas erreichen zu können.
Was heißt das für den Strombereich? Wir werden den
Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von heute 12 Prozent deutlich steigern. Die Leitstudie des BMU zeigt, dass wir bis 2020 einen Anteil
von 27 Prozent erreichen können. Bislang lag das Ziel
im Stromsektor bei nur 20 Prozent.
Der schlafende Riese der erneuerbaren Energien ist
der Wärmemarkt. Hier besteht der größte Nachholbedarf. Unser Ziel ist es, den Anteil der erneuerbaren Energien an der Erzeugung von Wärme und Kälte von heute
6 Prozent bis 2020 mindestens zu verdoppeln.
({25})
In einem Wärmegesetz werden wir festlegen, dass bei
Neubauten und der grundlegenden Sanierung von Altbauten ein bestimmter Anteil des Wärmebedarfs aus er9482
neuerbaren Energien erzeugt werden muss. Eine Gesetzesinitiative des Landes Baden-Württemberg verfolgt
einen vergleichbaren Weg und schlägt einen Anteil von
20 Prozent am Wärmebedarf aus erneuerbaren Energien
vor. Wir wollen dabei eine intelligente und kostengünstige Verknüpfung mit Maßnahmen zur Energieeffizienz
schaffen. Ferner brauchen wir für Altbauten eine massive und langfristig verlässliche Aufstockung der Fördermittel. Dazu wird die Bundesregierung noch 2007 die
notwendigen Entscheidungen treffen.
({26})
Mit der Klimaschutzstrategie der Bundesregierung
verbinden sich für unser Land enorme wirtschaftliche
Chancen, die viele leider noch gar nicht wahrnehmen.
Wir sollten uns das Ziel setzen, Deutschland zur energieeffizientesten Volkswirtschaft der Welt zu machen.
({27})
In Zukunft wird die Energieproduktivität eines Landes ganz maßgeblich die internationale Wettbewerbsfähigkeit bestimmen. Modernste Steuer-, Mess- und Regeltechniken, die die Energieeffizienz von Kraftwerken,
Maschinen, Heizungen und Autos steigern, bieten langfristig Beschäftigungsmöglichkeiten für Ingenieure und
Facharbeiter. Es liegt an uns, dass wir den Ordnungsrahmen und die wirtschaftlichen Anreize so setzen, dass die
mit einem aktiven Klimaschutz verbundenen wirtschaftlichen Chancen genutzt werden. Deutschland hat die
Chance, auf den Leitmärkten der Zukunft die führende
Rolle zu spielen. Wir wollen diese Chance nutzen.
({28})
Damit sich die Leitmärkte in diese Richtung entwickeln, brauchen wir klare Rahmenbedingungen. In einem funktionierenden europäischen Binnenmarkt ist es
die Aufgabe der Europäischen Union, anspruchsvolle
Standards zur Energieeffizienz zu setzen und Vorgaben dafür zu machen - bei den Elektrogeräten im Haushalt, bei elektrischen Antrieben in der Industrie und bei
der öffentlichen Straßenbeleuchtung ebenso wie im Automobilverkehr. Schon die Senkung des Stromverbrauchs um 11 Prozent durch effizientere Geräte sorgt
für Minderungen der CO2-Emissionen in Höhe von
40 Millionen Tonnen in unserem Land.
Die Bundesregierung wird sich in der Europäischen
Union dafür einsetzen, dass die Entscheidungsverfahren
beschleunigt werden und für alle Produktgruppen verbindliche Effizienzstandards zügig festgelegt werden.
Diese Standards müssen sich an den besten der am
Markt befindlichen Produkte orientieren. Aber auch
Bund, Länder und Gemeinden haben hier eine zentrale
Aufgabe. Die öffentliche Hand fragt jährlich Güter und
Dienstleistungen in Höhe von 250 Milliarden Euro nach.
Das sind 13 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Bundesregierung wird deshalb mit gutem Beispiel vorangehen und die Anforderungen an die Beschaffung energieeffizienter Produkte neu gestalten. Damit soll neben den
Anschaffungskosten der Energieverbrauch stärker berücksichtigt werden.
Trotz des heutigen Stands der Technik sind die meisten Gebäude energetisch gesehen löchrig wie ein
Schweizer Käse. Mit gut sanierten Gebäuden und moderner Heiztechnik können die Bundesbürger ihre Heizkosten im Durchschnitt mehr als halbieren. Wir wollen
die jährliche Sanierungsrate der Gebäude auf der Basis
anspruchsvoller Energieeffizienzstandards verdoppeln.
Die Bundesregierung wird mit der Änderung der Energieeinsparverordnung die Anforderungen an die Energieeffizienz von neuen und sanierten Gebäuden um
durchschnittlich 30 Prozent verschärfen. In einer zweiten Stufe werden die Anforderungen nochmals in der
gleichen Größenordnung angehoben.
Rund ein Viertel des Energieverbrauchs entfällt auf
den Verkehr. Die höchsten Zuwachsraten hat der Flugverkehr. Die Bundesregierung unterstützt deshalb die
wettbewerbsneutrale Einbeziehung des Flugverkehrs in
den europäischen Emissionshandel.
({29})
Die Senkung des Kraftstoffverbrauchs bei den Kraftfahrzeugen steht für die Bundesregierung ganz oben auf
der Tagesordnung.
({30})
- Ja, Frau Kollegin, das haben Sie hoffentlich gemerkt,
wenn Sie gelesen haben, was wir beschlossen haben. Sie
sollten nicht nur das, was Sie selber immer vorlesen,
wiederholen. Die Kfz-Steuer soll so geändert werden,
dass in Zukunft nicht der Hubraum, sondern die CO2Emissionen der Maßstab für die Steuern sind. Die
Schadstoffabhängigkeit bleibt im Übrigen erhalten.
Nun zu Frau Kollegin Künast und ihrem Zwischenruf: Auf europäischer Ebene betreibt die Bundesregierung aktiv die Diskussion um Obergrenzen für die
CO2-Emissionen von Kraftfahrzeugen voran.
({31})
Wir stehen zu dem Ziel der Kommission, Frau Kollegin,
bis zum Jahr 2012 im Durchschnitt der europäischen Kfz
nur noch 120 Gramm CO2 pro Kilometer zuzulassen.
({32})
Das Nichterreichen der Selbstverpflichtung der europäischen Autoindustrie darf nicht folgenlos bleiben. Den
Großteil dieser CO2-Verringerung wollen wir durch
Fahrzeug- und Motorentechnik erreichen, einen kleineren Anteil von bis zu 10 Gramm allerdings zusätzlich
durch die Verpflichtung, den Kraftstoffen Biokraftstoffe
beizumischen. Das, Frau Kollegin, dient vor allem dazu,
einen marktwirtschaftlichen Anreiz für Investitionen der
Automobilindustrie und der Mineralölindustrie in Bioraffinerien für synthetische Kraftstoffe zu schaffen. Nur
diese synthetischen Kraftstoffe werden uns langfristig
wirklich weg vom Öl bringen, ohne dass wir dadurch in
Konkurrenz zum Nahrungsmittelanbau treten würden.
Ihre Strategie, Frau Kollegin, liefe darauf hinaus, dass
das alles der Bundeshaushalt bezahlen soll. Das werden
wir nicht können. Wenn wir die Bioraffinerien durchsetzen wollen, brauchen wir einen marktwirtschaftlichen
Anreiz, und den schaffen wir mit dieser Strategie der Begrenzung auf 120 Gramm.
({33})
Die Bahn hat von allen Verkehrsträgern die beste Klimabilanz. Wer von Berlin nach München reist, verursacht mit einer Bahnfahrt 33 Kilogramm CO2, mit dem
Auto das Dreifache; mit dem Flugzeug entfachen wir auf
dieser Strecke eine Klimawirkung von fast dem Fünffachen. So stellt sich vor diesem Hintergrund natürlich
auch die Frage, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit der
Bahn zu den anderen Verkehrsträgern unter Klimagesichtspunkten verbessern können. Die Bekämpfung des
Klimawandels und der damit verbundene notwendige
Umbau der Industriegesellschaft können nur gelingen,
wenn die Bundesregierung insgesamt, aber auch Länder
und Kommunen sowie die Akteure in Wirtschaft und
Gesellschaft dafür ihren Teil der Verantwortung übernehmen.
Aber auch die Bürgerinnen und Bürger können mit ihrem Verhalten ganz maßgeblich zum Klimaschutz beitragen. Energiesparen ist so einfach und lohnt sich. Wenn
wir kurz und kräftig die Wohnung lüften, sparen wir
Heizenergie. Ziehen wir nachts den Stecker eines Gerätes, das nur eine Stand-by-Schaltung hat, sparen wir
Strom. Ganz entscheidend können wir den Stromverbrauch senken, wenn wir beim Kauf von Elektrogeräten
auf den Energieverbrauch achten.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist das größte
Industrieland in Europa. Im Ausland wird genau verfolgt, inwieweit es uns gelingt, einen ambitionierten Klimaschutz mit wirtschaftlichem Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung zu verknüpfen. Deshalb sollten
wir bei diesem Prozess Schrittmacher und Innovationstreiber sein.
({34})
Kein Industrie- und erst recht kein Schwellenland wird
bei einem neuen Klimaschutzabkommen mitmachen,
wenn dies Wohlstandsverzicht bedeuten würde. Umgekehrt: Wenn wir erfolgreich sind, bedeutet dies den maximalen Schub für die internationalen Verhandlungen
zum Klimaschutz. Dieser ist auch dringend notwendig.
Bei der Klimakonferenz im Dezember in Bali muss der
offizielle Startschuss für die umfassenden Verhandlungen erfolgen. Nur wenn diese Verhandlungen rechtzeitig
bis 2009 abgeschlossen werden können, kann das Folgeabkommen zum Kiotoprotokoll 2013 in Kraft treten.
Dafür kommt es entscheidend darauf an, dass die USA
und die anderen Industrieländer, aber auch die Schwellenländer mitmachen. Wenn es gelingt, die Blockade
zwischen den USA und einigen Industrieländern einerseits und den Schwellenländern andererseits aufzubrechen, stehen die Chancen dafür nicht schlecht. Ich bin
sehr optimistisch.
Schon heute verlassen viele Millionen Menschen ihre
Heimat auf der Suche nach Wasser und Weideland. Bewaffnete Konflikte um den Zugang zu Energie und Wasser bedrohen deshalb in nie da gewesener Weise den
Weltfrieden. Wir brauchen aus diesem Grund eine weltweite Sicherheitspartnerschaft, wie sie der deutsche
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf der
Münchener Sicherheitskonferenz gefordert hat.
({35})
Die Folge einer solchen Partnerschaft wird die Erhaltung
der natürlichen Lebensgrundlagen für die Kinder und
Enkelkinder aller heute auf der Welt lebenden Menschen
sein. Für viele Länder, die schon heute unter Trockenheit
und Wassermangel zu leiden haben oder vom Anstieg
des Meeresspiegels bedroht sind, geht es um die nackte
Existenz. Wenn wir den Entwicklungsländern bei der
Anpassung an den Klimawandel wirksam helfen, verhindern wir übrigens auch, dass Millionen Menschen auf
der Suche nach Wasser und Brot ganze Regionen destabilisieren. In diesem Zusammenhang werden wir innovative Finanzierungsinstrumente, wie sie in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden bereits
existieren, prüfen. Die Einnahmen können und müssen
dann für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern verwendet werden.
({36})
Die Bundesregierung hat für den bevorstehenden
G-8-Gipfel in Heiligendamm, zu dem auch die großen
Schwellenländer eingeladen sind, Klima und Energie zu
einem wichtigen Schwerpunkt gemacht. Lassen Sie
mich an dieser Stelle der Bundeskanzlerin ganz herzlich
dafür danken, dass sie es geschafft hat, das Thema Klimaschutz auf die internationale politische Agenda ganz
weit vorne zu platzieren.
({37})
Unsere gemeinsame Aufgabe - bei allem Streit über
das eine oder andere Instrument - wird es sein, sich dieser historischen Dimension der globalen Menschheitsherausforderung des Klimawandels bewusst zu sein und
jetzt konsequent zu handeln. Noch nie waren die Zeiten
für eine konsequente Klimaschutzpolitik so günstig wie
heute. Noch nie war die internationale Staatengemeinschaft so entschlossen und geschlossen für entschiedenes
Handeln. Noch nie waren die Menschen so bereit, mitzumachen; denn sie sehen die Vorteile für ihr Budget und
ihre Lebensqualität und haben Sorge um ihre Kinder und
Enkelkinder. Noch nie waren die wirtschaftlichen Chancen so günstig für eine exportorientierte Industrienation
wie Deutschland, deren Unternehmen auf den mit Klimaschutz orientierten Märkten bestens aufgestellt sind.
Diesen Schwung, diese Stimmung sollten wir nutzen
im Interesse unseres Landes und der Menschen, die hier
leben und arbeiten.
({38})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Minister, ich danke Ihnen sehr herzlich für das
sehr textsichere Verlesen der Regierungserklärung. Ich
finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie an keinem
Punkt von Ihrem Redemanuskript abgewichen sind, dessen Inhalt offensichtlich in mühsamer Kleinarbeit von
den Beamten der Regierung abgestimmt wurde. Das
zeigt, wie gering die Einigkeit in der Koalition in dieser
Frage ist.
({0})
Auch ansonsten bin ich etwas enttäuscht von dem,
was Sie hier vorgetragen haben. Es wurde angekündigt,
dass eine Roadmap für neue Maßnahmen von der Regierung vorgelegt würde. Das war ganz geheim; man
konnte von Ihrem Ministerium vorher keine Informationen dazu bekommen. Nach der Regierungserklärung
frage ich mich, was Sie hier eigentlich vorgetragen haben. Sie haben keine Maßnahmen, sondern nur Ziele erwähnt.
({1})
Keine einzige der in der Koalition strittigen Fragen
wurde an dieser Stelle beantwortet. Nichts Neues in diesem Bereich.
({2})
Ich nehme einmal das Beispiel Energieeffizienz. Sie
haben uns gesagt, Deutschland müsse das energieeffizienteste Land der Welt werden. Das steht schon im Indikatorenbericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie,
den Ihre Staatssekretärin uns gestern erklärt hat. Daraus
geht zum Beispiel hervor, dass wir im Bereich der Energieeffizienz so weit von den Zielen der Nachhaltigkeitsstrategie entfernt sind wie in keinem anderen Bereich.
Dazu kann ich nur sagen: Seit 1998 regiert die SPD mit
in diesem Land. Sie haben diese Politik offensichtlich
mit zu verantworten.
({3})
Es ist schon bemerkenswert, welche Punkte noch
nicht geklärt worden sind. Sie haben gesagt, Sie wollen
die KWK ausbauen und damit - ich glaube, Sie habe
diese Zahl genannt - 25 Millionen Tonnen CO2 jedes
Jahr einsparen. Wo ist denn der Entwurf der Koalition
für eine Anschlussregelung bei der Kraft-Wärme-Kopplung? Dazu haben Sie heute nichts gesagt. Für den Bereich der erneuerbaren Energie haben Sie Ziele genannt.
Aber was ist denn das Konzept der Koalition in diesem
Bereich? Auch dazu Fehlanzeige in dieser Regierungserklärung.
({4})
Ich will auf die Kernenergie an dieser Stelle nicht detailliert eingehen. Wir wissen, dass Sie in diesem Punkt
nicht einig sind.
All das würde uns als Opposition im Zweifel erfreuen, wenn es nur um die Koalition ginge. In dieser
Frage geht es aber um unser Land und unsere Erde. An
dieser Stelle muss die Koalition in einer Regierungserklärung schon mehr vorlegen als Überschriften für Ziele.
({5})
Dennoch bin ich froh, dass wir heute hier ausgiebig
über dieses Thema diskutieren werden; denn nach den
Berichten des IPCC haben wir eine Medienwelle erlebt,
in deren Rahmen sich manche Kollegen mit populistischen und völlig unsystematischen Vorschlägen geradezu überboten haben. Hier die Glühbirne, dort der Urlaubsflug nach Mallorca - jeden Tag hat man eine neue
Klimasau durchs Dorf gejagt und einen neuen Wettbewerb um neue Verbotsvorschläge eröffnet.
Meine Damen und Herren, wenn wir so Politik betreiben, wecken wir bei den Bürgern tatsächlich Zweifel an
der Problemlösungskompetenz der Politik.
({6})
Um keinen Zweifel zu lassen: Die FDP ist der Meinung, dass die sehr schnelle globale Erwärmung eine
Bedrohung für die Natur und für die Wirtschaft darstellt.
Deshalb muss jetzt gehandelt werden. Wir wollen mehr
Klimaschutz. Wir wollen ihn aber nicht vorrangig mit
Verboten, sondern mit Anreizen schaffen, und zwar
nicht durch die nationale Brille, sondern im globalen
Kontext. Die FDP steht für eine Klimapolitik, die auf
Technologie und Innovation setzt und nicht auf nationale
Verzichtsideologien.
({7})
Die einseitige Verpflichtung der Europäischen Union,
bis 2020 mindestens 20 Prozent CO2 einzusparen, war
ein Zwischenschritt. Das war kein historischer Beschluss, Herr Minister. Es ist aber ein wichtiger Zwischenschritt auf dem richtigen Weg.
Die eigentliche Bewährungsprobe für die Bundeskanzlerin kommt noch, nämlich auf dem G-8-Gipfel in
Heiligendamm. Nur wenn es gelingt, die USA, Indien
und China tatsächlich in Konzepte für den globalen Klimaschutz einzubinden, werden wir reale Fortschritte im
Kampf gegen den Klimawandel erreichen können.
({8})
Meine Damen und Herren, wir Liberale wollen einen
globalen Kohlenstoffmarkt in allen Ländern und in allen Sektoren. Das ist die Vision, auf die wir hinarbeiten.
Herzblut und Betroffenheit reichen in der Klimadebatte nicht mehr aus. Wir müssen endlich mehr wirtschaftlichen Sachverstand in die Debatte bringen. Pro
eingesetzten Euro muss so viel Treibhausgas wie möglich vermieden werden.
Wir sollten die Emissionshandelssysteme, die derzeit
in den USA entstehen, mit unserem europäischen Emissionshandel verbinden.
Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich mehr für
Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern zu tun. Die
Vorbehalte vieler Politiker - auch im Umweltausschuss gegen sogenannte CDM-Projekte müssen ein Ende haben.
Auch die vergleichsweise kostengünstige Aufforstung, die zur Bindung von CO2 in den Wäldern führt,
muss endlich zu einer Priorität der deutschen Klimapolitik werden.
Ich finde es höchst bedauerlich, dass die Koalition in
diesem Zusammenhang zwar schöne Worte für die
Forstwirtschaft findet, den Antrag der FDP, den deutschen Wald für den Klimaschutz zu nutzen, aber ohne
Alternativen ablehnt. Dasselbe geschah gestern im Zusammenhang mit dem internationalen Emissionshandel
im Bereich des Luftverkehrs. So können Sie Politik nicht
gestalten.
({9})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Innovationsoffensive in Deutschland und auf G-8-Ebene. Wir
müssen erneuerbare Energien vorantreiben. Wir müssen
Energieeffizienz vorantreiben. Wir brauchen aber auch
ökologisch und ökonomisch tragfähige Übergangstechnologien.
Deshalb muss die Bundesregierung endlich ein Konzept vorlegen und darf sich nicht darauf beschränken,
hier anzukündigen, wie sie denn beispielsweise die
CO2-Abscheidung für Kohlekraftwerke tatsächlich voranbringen will.
Auf keine einzige Anfrage der FDP-Fraktion gibt es
hier eine Antwort. Vor dem Hintergrund, dass in China
alle zehn Tage ein Kohlekraftwerk gebaut wird, wäre es
aber fahrlässig, in Deutschland die Entwicklung moderner Technologien zu verschlafen; denn die Kohle, die in
Chinas Erde liegt, wird verbrannt werden. Die Frage ist,
mit welcher Technologie das geschehen wird. Ich
möchte, dass es mit deutscher Technologie geschieht,
damit wir an dieser Stelle zu sauberen Ergebnissen kommen.
({10})
Meine Damen und Herren, auch in einem weiteren
Punkt brauchen wir Realismus. Langfristig ist der Ausstieg aus der Kernenergie möglich. Mittelfristig schadet ein solcher Ausstieg dem Klima. Eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke wäre deshalb sinnvoll.
Wir brauchen die Kernenergie so lange, wie erneuerbare
Energien oder CO2-freie Kohlekraftwerke eben nicht in
ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.
({11})
Meine Damen und Herren, es stellt sich auch immer
wieder die Frage, inwieweit die Bundesregierung eigentlich die Ziele, die sie uns hier vorträgt, ernst nimmt.
Nehmen wir uns einmal das Thema Emissionshandel
vor. Hierzu hat der Minister gesagt: Ja, im Rahmen des
Nationalen Allokationsplans I hatten wir zu viele Zertifikate ausgegeben, und deshalb liegt der Preis für diese
jetzt im Centbereich. Herr Minister, Sie mögen ja vergleichsweise neu im Amt sein, aber es ist doch auch hier
vor dem Hintergrund, dass die SPD seit 1998 regiert, zunächst zusammen mit den Grünen, die Frage zu stellen,
wer denn dafür verantwortlich ist, dass der Nationale Allokationsplan in dieser Art und Weise aufgelegt wurde.
Wer hat denn zu verantworten, dass der Markt am
Schluss zusammengebrochen ist?
({12})
Es ist Ihre Partei gewesen, die hierfür die Verantwortung
trägt.
({13})
Wenn man sich vor Augen führt, was die Bundesregierung mit dem aktuellen Emissionshandelsplan vorhatte, dann kann man nur sagen: Gut, dass es die Europäische Kommission gibt. Sie hat nämlich verhindert,
dass wir dieses Spiel mit zu vielen Zertifikaten noch ein
weiteres Mal erleben. Nur die Europäische Kommission
hat hier eine Veränderung bewirkt, nicht die Bundesregierung.
({14})
Angesichts dessen, dass der Minister es jetzt als großen Erfolg feiert, dass er sich gegen den Wirtschaftsminister durchgesetzt habe und es keine Sonderbenchmark
für die Braunkohlekraftwerke gibt, sollte man sich auch
einmal das Kleingedruckte anschauen. Sie haben eine
Hintertür vorgesehen: Über die Stundenzahl, die für die
Kraftwerke angerechnet wird, werden den Braunkohlekraftwerken weiterhin mehr Emissionszertifikate geschenkt als den Steinkohlekraftwerken.
({15})
Sie legen uns hier eine Mogelpackung vor. Genauso ist
es eine Mogelpackung, wenn Sie uns einen Plan vorlegen, nach dem Kohlekraftwerke mehr als die doppelte
Anzahl an Zertifikaten als Gaskraftwerke geschenkt bekommen. Das hat nichts mit Markt und freiem Handel zu
tun, sondern ausschließlich mit Lobbyarbeit, die bei der
SPD in dieser Frage ganz besonders erfolgreich war.
({16})
Ich finde es erfreulich, aber auch bemerkenswert,
wenn der Minister, der uns in diesem Parlament noch vor
wenigen Monaten auf unsere penetranten Nachfragen erklärte, eine Versteigerung von 10 Prozent der Zertifi9486
kate sei schlecht für die Verbraucher und auch sonst von
Übel, und uns demzufolge auch einen Allokationsplan
vorlegte, in dem wiederum keine Versteigerung vorgesehen war, heute aber kurz vor der Debatte in der Zeit
verlautbaren lässt: Er hofft auf die Parlamentarier der
Koalition, dass sie jetzt die Versteigerungsmöglichkeit
durchsetzen. Herr Minister, warum können Sie sich denn
nicht im Kabinett durchsetzen, wenn Sie das inzwischen
für richtig halten? Das zeugt doch von einer ziemlich
schwachen politischen Position.
({17})
Der Ball liegt jetzt bei Ihnen, liebe Abgeordnete von der
Koalition. Sie haben es in der Hand. Sie können jetzt
eine Teilversteigerung der Zertifikate beschließen. Ich
hoffe, dass Sie das auch tun werden und dass Sie den Erlös für die Senkung der Stromsteuer verwenden und damit nicht, wie es der Minister gerade andeutete, neue
Einnahmen für Herrn Steinbrück generieren.
({18})
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Debatte auch noch eine Reihe von Anträgen zu beraten, auf
die ich hier jetzt nur kursorisch eingehen kann. Ich
möchte es aber doch an einer Stelle tun. Am Samstag
startet bundesweit die Woche der Sonne. Die FDP hat
schon vor vielen Monaten, also nicht erst zu dieser Aktionswoche, einen Antrag zum solaren Unternehmertum
in Deutschland vorgelegt, den wir heute hier auch debattieren. Damit wollen wir deutlich machen, welche Potenziale für die Solarindustrie in Deutschland bestehen
und in welchen Bereichen wir eine Technologieführerschaft besitzen. Wir fokussieren die Förderung, die es
hierfür gibt, seit Jahren auf in Deutschland erzeugten
Strom aus Solarenergie, wohl wissend, dass das KostenNutzen-Verhältnis bei einem Einsatz in anderen Ländern
viel besser wäre. Deshalb fordern wir, endlich die Auslandsmärkte in den Blick zu nehmen. Nur so können wir
die Technologieführerschaft in der Solarenergie behalten
und zugleich noch etwas für den Klimaschutz tun.
({19})
- Die Solarunternehmen wurden in die Erarbeitung dieses Antrags einbezogen.
Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung
beispielsweise im Bereich der Exportförderung für diese
Branche unternimmt, dann stellt man fest, dass hier
nichts abgestimmt ist und kein Konzept vorhanden ist. In
der Wüste in Afrika laufen Dieselgeneratoren, während
wir schöne Programme für Deutschland auflegen.
({20})
Das ist keine rationale Umweltpolitik. Wir wollen hier
die Alternative aufzeigen.
Vielen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katherina Reiche
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kauch, Ihre Rede klang schon fast ein bisschen beleidigt.
({0})
Dass die Bundeskanzlerin so vehement für den Klimaschutz kämpft, national und international, zeugt von
Überzeugungskraft und Führungskraft - das Gegenteil
dessen, was Sie gerade präsentiert haben.
({1})
In der vergangenen Woche fand mit der HannoverMesse eine der weltweit wichtigsten Technologiemessen
statt. In diesem Jahr war der Klimaschutz das Thema auf
der Hannover-Messe. Die Wirtschaftswoche schrieb
hierzu: Industrie entdeckt Klimaschutz für sich. Die
Financial Times Deutschland titelte: Klimaschutz als
Verkaufshilfe.
Die Hannover-Messe gibt ein gutes Bild über die Diskussion zum Klimawandel. Sie macht vor allem drei
Dinge deutlich:
Zum Ersten. Der Klimawandel ist eine Herausforderung, der wir uns jetzt stellen müssen. Es drohen weltweit erhebliche Veränderungen, nicht nur der Umwelt;
es drohen auch soziale und ökonomische Verwerfungen.
Die meisten Unternehmen haben das längst erkannt.
Zum Zweiten. Das Klimaproblem ist lösbar; denn wir
verfügen über verschiedene Technologien, mit denen der
Ausstoß von Treibhausgasen deutlich reduziert werden
kann. Durch Forschung und Entwicklung werden diese
Technologien in Bezug auf ihre Wirkung und auf die
Kosten verbessert.
Zum Dritten ist Klimaschutz ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Weltweit wächst der Markt für Klimaschutztechnologien rasant.
Die Folgen des Klimawandels und die Konsequenzen
für den Fall, dass nicht gehandelt wird, liegen auf dem
Tisch - ebenso wie die Chancen für Wachstum und Innovation, die in seiner Bewältigung liegen. Der Stern-Report, die Klimaberichte der Vereinten Nationen, aber
auch verschiedene wissenschaftliche Studien von nationalen Instituten und Unternehmen haben dies immer
wieder eindrucksvoll dargestellt.
Der Klimawandel ist also eine globale Aufgabe. Deshalb brauchen wir auch eine globale Lösung. Deutschland und die Europäische Union werden den Klimawandel nicht allein bewältigen können. Wir haben einen
Anteil von 15 Prozent an den weltweiten CO2-EmissoKatherina Reiche ({2})
nen. Dennoch müssen wir eine Vorreiterrolle übernehmen, wenn es um Klimaschutz geht; denn uns kommt
eine Schlüsselrolle im Klimaschutz zu.
Viele Länder, vor allem die Entwicklungsländer und
die Schwellenländer, schauen auf uns. Sie achten genau
darauf, was wir im Klimaschutz tun, wo wir investieren
und welche Erfolge wir damit erreichen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel im März unter der Präsidentschaft von Angela Merkel die Vorreiterrolle Europas
im Klimaschutz gestärkt haben. Durch die Festlegung
verbindlicher Klimaziele - dreimal 20; der Umweltminister hat sie bereits genannt - haben wir in Europa deutlich gemacht, dass wir im Klimaschutz weiter voranschreiten werden.
Ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, dass wir
uns durchaus auf einem guten Weg befinden. Dort drängen Unternehmen wie General Electric oder auch
DuPont die Regierung dazu, verbindliche Vorgaben für
den Klimaschutz festzulegen. Das zeigt, wie wichtig der
Klimaschutz für Innovationsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit auch der dortigen Unternehmen ist.
({3})
Auch bei den politischen Entscheidungsträgern in den
USA setzt sich das Bewusstsein für den Klimaschutz immer mehr durch. Am vergangenen Wochenende hat der
Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, einen sehr ambitionierten Umweltplan vorgelegt.
Vom G-8-Gipfel, bei dem der Klimaschutz ganz oben
auf der Agenda steht, muss ein wichtiges Signal für die
Klimakonferenz der Vereinten Nationen in diesem Jahr
in Indonesien ausgehen. Dort müssen dringend die Weichen für ein Kiotonachfolgeabkommen gestellt werden.
Wenn die führenden Industrieländer der Welt zeigen,
dass es ihnen mit dem Klimaschutz ernst ist, werden
auch die Entwicklungs- und Schwellenländer folgen.
Herr Kauch, offenbar haben Sie das Gesetz nicht richtig gelesen. CDM und JI werden einen Anteil von
20 Prozent erreichen. Das Projekt-Mechanismen-Gesetz
wurde verbessert, indem Bürokratielasten gesenkt wurden, um es Unternehmen einfacher zu machen, hier zu
investieren.
Mit den Klimaschutzzielen der Europäischen Union
ist nun der Rahmen gesetzt, und wir müssen diesen ausfüllen. Wir haben eine Leitfunktion übernommen, auch
innerhalb Europas. Wir haben wichtige politische und
technologische Impulse gesetzt; deutsche Unternehmen
sind führend in der Klimatechnologie.
Der Bundestag hat bereits im November des vergangenen Jahres beschlossen, diese Vorreiterrolle auch in
Zukunft einzunehmen. Die Treibhausgasemissionen sollen bis zum Jahr 2020 um 30 Prozent gesenkt werden.
Sollte sich die Europäische Union auf 30 Prozent festlegen, will Deutschland sogar noch mehr leisten.
Eines der wichtigsten Instrumente hierbei ist natürlich
der CO2-Handel. In den kommenden Wochen werden
wir in Deutschland mit dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes in die parlamentarischen Beratungen gehen.
Die Bundesregierung hat hierzu einen Gesetzentwurf
vorgelegt. Aus Sicht der Unionsfraktion gibt es in zwei
Punkten Diskussionsbedarf.
Erstens: die Mitnahmeeffekte bei den Stromversorgern durch die kostenlose Zuteilung der Zertifikate, die
sogenannten Windfall-Profits. Die Europäische Union
gibt uns die Möglichkeit, 10 Prozent zu versteigern, um
diese Windfall-Profits teilweise abzuschöpfen. Ich
meine, wir sollten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen; denn eine Versteigerung entspricht den marktwirtschaftlichen Prinzipien, die dem Emissionshandel zugrunde liegen.
({4})
Zweitens. Es geht um die Ausstattung moderner und
effizienter Braunkohlekraftwerke mit CO2-Zertifikaten.
Jeder Energieträger in diesem Land - das ist klar - muss
seinen Beitrag dazu leisten, dass wir uns dem Klimawandel stellen können. Genauso richtig ist aber, dass unser Energiemix eine sehr breite Grundlage hat. Dazu gehört auch die Braunkohle. Deshalb ist es wichtig, dass
die Chance fortbesteht, Braunkohle zu fördern.
({5})
Neben dem Emissionshandel müssen wir weitere Maßnahmen ergreifen, die alle Politikbereiche umfassen. Wir
können dabei auf die Unterstützung der Menschen zählen.
90 Prozent der Deutschen - das zeigen Umfragen - sehen
den Klimaschutz als eine wichtige Aufgabe. 58 Prozent
der Deutschen sind der Meinung, dass die Bundesregierung hier noch mehr tun muss.
Für uns als Unionsfraktion sind Energiesparen, Energieeffizienz und der Ausbau erneuerbarer Energien zentrale Säulen einer Klimaschutzstrategie. Dazu haben wir
am Dienstag in unserer Bundestagsfraktion ein sehr ambitioniertes Positionspapier verabschiedet. Durch Energiesparen und eine Verbesserung der Energieeffizienz
könnte Deutschland die Treibhausgasemissionen deutlich
reduzieren. Schon heute könnten hier jährlich 40 Milliarden Kilowattstunden Strom eingespart werden. Das entspricht dem Verbrauch von ganz Hessen. Deshalb schlagen wir vor, eine Effizienzinitiative Deutschland zu
starten, um die Energieeinsparpotenziale in der Industrie,
in den privaten Haushalten, in öffentlichen Gebäuden und
auch bei Elektrogeräten zügig zu erschließen.
({6})
Wir wollen hier drei Schwerpunkte setzen:
Erstens. Wir wollen das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm über 2009 hinaus fortführen und weiterentwickeln, um den Gebäudebestand in Deutschland
zu modernisieren. Das hilft dem Klima und dem Geldbeutel der Mieter.
({7})
Zweitens. Wir wollen die Effizienzanforderungen für
Neubauten und für größere Sanierungsvorhaben verbessern. Das muss sich am aktuellen Stand der Technik
orientieren.
Katherina Reiche ({8})
Drittens: Wir wollen die Kennzeichnung von Haushaltsgeräten verbessern. Wenn im Regal zwei Wasserkocher nebeneinanderstehen und der Verbraucher sieht,
welcher weniger Strom verbraucht, dann bedarf es keiner umfangreichen Gesetze, um jemanden davon zu
überzeugen, dass es besser ist, den energiesparenden zu
nehmen.
Wir wollen nicht nur die Energieeffizienz verbessern,
darüber hinaus wollen wir den Anteil der erneuerbaren
Energien deutlich erhöhen. Wir streben an, den Anteil
der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch
bis zum Jahr 2020 auf 16 bis 20 Prozent zu erhöhen.
Um diese Ziele zu erreichen, muss das ErneuerbareEnergien-Gesetz wirtschaftlicher gestaltet werden. Die
Innovationsanreize sind zu verbessern. Deswegen plädiere ich dafür, das Gesetz noch in diesem Jahr zu novellieren.
({9})
Wir müssen darauf setzen, alte Anlagen durch neue zu
ersetzen, durch die Kraftwerke der zweiten Generation,
aber auch durch die Kombination verschiedener Energieträger wie Biomasse und Wind, um so Synergiepotenziale zu erschließen.
Sigmar Gabriel sprach den Bereich der regenerativen
Wärme an. Den Anteil der erneuerbaren Energien an
der Wärme- und Kältebereitstellung müssen wir deutlich
erhöhen. Hierzu wollen wir das Marktanreizprogramm
verstetigen und über das Jahr 2009 hinaus fortführen.
({10})
Wir haben hier ein sehr erfolgreiches Instrument: Für
jeden von uns ausgegebenen Fördereuro können wir
10 Euro an Investitionen einwerben. Darauf sollten wir
aufbauen. Für Neubauten, bei umfassenden Sanierungsmaßnahmen, aber auch beim Ersatz von Heizungsanlagen sollten wir die Einführung einer Nutzungspflicht
prüfen. Das Land Baden-Württemberg hat hierzu Vorschläge entwickelt.
Eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Erzeugung
von Wärme aus regenerativen Energien, spielt die Biomasse. Hier wollen wir mehr erreichen, und hier stehen
wir gleichzeitig vor großen Herausforderungen; denn die
Pflanzen, die wir brauchen, um bei der Wärmegewinnung aus Biomasse voranzukommen, werden anders,
leistungsfähiger als die Pflanzen sein müssen, die wir
jetzt haben. Vor allem sind die Pflanzen dem Klimawandel ausgesetzt, den wir gerade erleben. Vor einigen Tagen hat der Deutsche Wetterdienst darauf hingewiesen,
dass Deutschland stärker von Hitzewellen und Unwetter
betroffen sein wird. Wir erleben gerade in Brandenburg
eine Trockenperiode. Eine große deutsche Zeitung bringt
heute auf ihrer Titelseite ein Bild, das zeigt, dass die
Elbe schon jetzt fast trocken ist. Die Pflanzen der Zukunft werden sich den klimatischen Bedingungen anpassen müssen. Sie werden anders sein. Deshalb können wir
auf die grüne Bio- und Gentechnologie nicht verzichten.
Wir müssen vorankommen und Blockaden beseitigen,
die die Entwicklung dieser wichtigen Technologie behindern.
({11})
Wir haben uns darüber hinaus zum Ziel gesetzt, dass
wir in Deutschland bis zum Jahr 2020 den effizientesten
Kraftwerkspark der Welt haben. Dazu bedarf es des Ausbaus der Kraft-Wärme-Kopplung sowie des Neubaus
moderner, klimafreundlicher Kraftwerke. Wir sind der
Überzeugung, dass in einem solchen Energiemix auch
auf den Beitrag der Kernenergie nicht verzichtet werden kann. Es ist darauf hingewiesen worden, dass es
hierzu in der Koalition unterschiedliche Auffassungen
gibt. Aber eine CO2-Reduktion von bis zu 30 Prozent ist
ohne den Einsatz von Kernenergie schlichtweg nicht
darstellbar.
({12})
Ein letzter Punkt zur Forschung. Die Bundesregierung wird 255 Millionen Euro in die Klimaforschung investieren. Darüber hinaus werden die Mittel für die
Energieforschung deutlich angehoben. Als Beispiele
seien die Abtrennung und Speicherung von CO2 in Kohlekraftwerken, wo wir uns tatsächlich noch im Forschungsstadium befinden, aber auch die Weiterentwicklung der Brennstoffzelle oder die Fusionsforschung
genannt. Hier muss es weitergehen.
In den kommenden Monaten wird es darauf ankommen, die Ziele im Klimaschutz in konkrete Maßnahmen
und Initiativen umzusetzen. Dabei werden wir neue
Wege einschlagen müssen. Der frühere Bundesumweltminister Töpfer hat vor kurzem in einem Interview gesagt: Gewinner gibt es beim Klimawandel nicht, sondern nur Verlierer. Wir müssen dies als Aufforderung
begreifen, zu handeln, hier und jetzt.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion
Die Linke, Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Spät, aber immerhin: Die Menschheit wacht auf.
Weltweit wird über die Klimakatastrophe bzw. die mögliche Klimakatastrophe diskutiert. Die Diskussion hat
selbst die USA erreicht. Das klingt zuerst einmal, zumindest vom Zeitgeist her, nach einem Fortschritt. Wenn
man sich aber den CO2-Ausstoß ansieht, der uns so beschäftigt, dann muss man zu Beginn erst einmal eine
grundsätzliche Feststellung machen: Diese ganze Katastrophe liegt nicht an den Entwicklungsländern, sondern
ausschließlich an den Industriegesellschaften.
({0})
Denn pro Einwohner werden in einem Entwicklungsland
im Durchschnitt etwa 2 Tonnen CO2 im Jahr ausgestoDr. Gregor Gysi
ßen, in den USA sind es pro Einwohner im Jahr
20 Tonnen, und in Deutschland sind es pro Einwohner
im Jahr 10 Tonnen. Damit liegt Deutschland - auch das
muss man sagen - immer noch über dem Durchschnitt in
Europa. Allerdings ist es wahr, dass es von 1990 bis
1993 eine ungeheure Senkung des CO2-Ausstoßes gab.
Das lag aber ausschließlich an der Deindustrialisierung
des Ostens. Es soll mir keiner heute erklären, dass das
aus ökologischen Gründen geschah. Ich glaube, das geschah aus reinen Profitgründen und hatte mit Unternehmen in den alten Bundesländern zu tun, zumindest zum
Teil.
({1})
Aber jetzt steigt der CO2-Ausstoß wieder an. Das
sollte uns nachdenklich machen. Oft wird gesagt - auch
der Kollege von der FDP hat es getan -: Das gefährde
die Erde bzw. das zerstöre die Natur. - Ich glaube, beides
ist falsch. Frankreich hat weltweit einige Inselchen. Die
nutzt Frankreich, um unter Wasser Atomwaffenversuche durchzuführen, wie bekannt ist. Ich habe einen Dokumentarfilm gesehen, den ich sehr interessant fand. Da
wurde gezeigt, dass Dokumentarfilmer zu solchen Inseln
gereist und mit entsprechenden Anzügen bekleidet unter
Wasser gegangen sind, um zu prüfen, ob es da noch
Pflanzen und Tiere gibt. Sie selber konnten aus ihren
Anzügen nicht heraus; denn dann wären sie sofort tot gewesen. Interessant ist, dass es all die Tiere und Pflanzen,
die es früher dort einmal gab, nicht mehr gibt. Aber es
gibt dort massenhaft Pflanzen und Tiere, die kontaminiert sind. Das macht ihnen bloß nichts aus. Was kommt
dabei heraus? Wir können die Natur nicht wirklich zerstören, genauso wenig die Erde. Aber unsere Lebensgrundlage können wir zerstören. Dann wird es die Menschen auf der Erde nicht mehr geben. Das ist der
entscheidende Punkt.
({2})
Allen voran leisten die Industriegesellschaften, vor allem die USA, ihren Beitrag dazu.
Was bedeutet eigentlich Erderwärmung? Erderwärmung bedeutet, dass wir ein Drittel weniger Niederschläge hätten, wenn es so weiterginge. Erderwärmung
bedeutet, dass der Meeresspiegel enorm steigt. Man
müsste Mauern bauen, um zu verhindern, dass alles
überschwemmt wird. Ich glaube, niemand hat das Geld
und die Kraft, Indien und Bangladesch solche Schutzmaßnahmen zu bezahlen.
({3})
- Erzählen Sie doch nicht einen solchen Unsinn! Dieses
Thema ist nicht zum Witze machen geeignet. Sie können
Indien und Bangladesch auf diese Art und Weise nicht
retten. Sie bezahlen es erst recht nicht.
Klimaerwärmung bedeutet, dass das Trinkwasser
knapper wird und dass Landwirtschaft zum Teil unmöglich wird. Es wird dann einen Kampf um Wasser und um
fossile Energierohstoffe wie Erdöl geben. Die heutigen
Kriege im Irak und in Afghanistan haben schon sehr viel
mit dem Kampf um fossile Energierohstoffe zu tun. Das
ist das Problem.
({4})
Übrigens, Frau Künast, weil Sie gelegentlich für Kriege
sind: Dort fliegen besonders viele Flugzeuge mit hohem
CO2-Ausstoß.
({5})
Davon abgesehen gibt es im Tschad und in Nigeria auch
innere Auseinandersetzungen wegen des Erdöls. Das
heißt, der Kampf der Menschen um diese Rohstoffe wird
zunehmen. Das ist gar nicht gut.
Wie kann man das verhindern? Welchen anderen Ansatz braucht man? Wir brauchen wieder ein Primat der
Politik über die Wirtschaft. Der Neoliberalismus spricht
genau dagegen. Mit dem Primat der Politik über die
Wirtschaft hat die FDP Schwierigkeiten, genauso wie
die Union, die Grünen und die SPD. Das ist das Problem. Wir müssen darum kämpfen, dass die Politik wieder entscheidet. Sonst können wir ökologische Belange
nicht durchsetzen, erst recht nicht gegen Profitinteressen
in der Wirtschaft.
({6})
Es gibt übrigens ein schönes Zitat von Professor
Ulrich Beck aus der taz vom 3. April 2007:
In seinem Aufsehen erregenden Klimareport
bezeichnet der ehemalige Weltbank-Ökonom
Nicholas Stern die globale Klimaveränderung als
das größte Marktversagen in der Geschichte. Wenn
wir weiter auf die Mechanismen des Marktes vertrauen, werden wir die Klimakrise nicht lösen
Auch die Grünen müssen ihr marktwirtschaftliches
Kleindenken überprüfen
Mir scheint da etwas dran zu sein. Wenn wir über den
Kapitalismus nicht hinausdenken, werden wir die Fragen
nach der Verhinderung einer Klimakatastrophe nicht lösen können.
({7})
Nun gibt es viele Ansätze. Wir sind uns einig: Wir
brauchen die Förderung der erneuerbaren Energien. Hier
ist in Deutschland einiges geleistet worden. Wir brauchen des Weiteren Energieeinsparungen; darüber hat der
Minister schon gesprochen. Wir müssen aber auch über
den Verkehr neu nachdenken. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Sie haben die Bahn privatisiert. Das ist wieder
eine Maßnahme, die dazu dient, das Primat der Politik zu
verhindern. Nun muss sich die Bahn rechnen. Deshalb
haben wir das Problem, dass die Gütertransporte mit der
Bahn teurer sind als auf der Straße und dass der CO2Ausstoß viel höher ist, weil ständig Lkws fahren und
weil wir die Bahn diesbezüglich nicht attraktiv machen
können; das ist das Problem. Wir waren gegen die Privatisierung der Bahn, damit wir - auch hier im Bundestag die Hoheit über solche Fragen behalten.
({8})
Dann wird über Autos, Flüge und Tourismus geredet.
Die Grünen neigen dazu, diese Fragen durch soziale
Ausgrenzung zu lösen. Ich erinnere Sie an Ihren Beschluss, 5 DM pro Liter Benzin zu verlangen. Was hätte
das denn bedeutet? Das hätte bedeutet, dass Besserverdiener wie wir weiterhin hätten Auto fahren können,
während wir die Normalbürgerinnen und Normalbürger
sowie die ärmeren Schichten von der Straße verdrängt
hätten. Ähnlich denken Sie, wenn es um Flüge und Tourismus geht. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in
der nur die obersten Zehntausend in den Genuss des
Tourismus kommen können. Diese Art der Ökologie lehnen wir ab.
({9})
Wir wollen in sozialer Gerechtigkeit ökologische Strukturen schaffen. Das heißt - darin stimmen wir überein -,
dass wir andere Techniken fördern müssen. Das gilt
beim Flugzeug genauso wie beim Auto und bei anderen
Verkehrsmitteln.
Lassen Sie mich noch etwas zu Ihrem Emissionshandel, zu den Zertifikaten sagen. Das ist schon ein starkes
Stück.
Sie wissen, Herr Kollege, dass Sie sich ein bisschen
beeilen müssen.
Ich will das deshalb an dieser Stelle erwähnen: In allen Ländern werden Zertifikate versteigert.
({0})
In Deutschland haben SPD und Grüne den Konzernen
die Zertifikate kostenlos übergeben, als Geschenk. Dann
bekamen die Zertifikate einen Wert, und die Konzerne
haben diesen Wert genutzt, indem sie ihn auf den Energiepreis aufgeschlagen haben. Sie haben also kostenlos
einen Riesengewinn gemacht.
Die Regierung hat darüber hinaus Zertifikate mit einem Volumen ausgegeben, das 7 Prozent über dem CO2Ausstoß in Deutschland lag. Im Ergebnis ist der Wert der
Zertifikate enorm gefallen. Vor allem aber musste niemand Zertifikate zukaufen. Null ökologische Wirkung
ist dadurch eingetreten.
({1})
Herr Bundesminister Gabriel, Sie haben einen Vorschlag gemacht, wie es in einer Wohnung wärmer werden kann, wie man am effizientesten lüftet. Sie haben
recht: Wenn man näher zusammenrückt, wird es wärmer.
Das Entscheidende ist, dass wir die Umstellung brauchen. Diese Frage ist unter friedenspolitischen, entwicklungspolitischen und sozialen Gesichtspunkten so wesentlich, dass daraus eine Menschheitsfrage geworden
ist.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute wahrlich nicht zum ersten Mal
über das Thema Klimaschutz im Deutschen Bundestag.
Allerdings ist Sigmar Gabriel der erste Bundesumweltminister, der einen konkreten Maßnahmenplan vorstellt, wie Deutschland 40 Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen kann.
({0})
Ab heute kann sich in Deutschland niemand mehr in
einen Wettbewerb um die besten Lippenbekenntnisse
zum Klimaschutz flüchten, sondern es hat ein Ideen- und
Umsetzungswettbewerb um konkrete Klimaschutzinstrumente begonnen. Wer eines dieser Instrumente ablehnt, muss einen Vorschlag machen, wie er die gleiche
Menge an Einsparungen auf eine andere Art und Weise
einsparen kann.
({1})
Das ist eine neue Qualität der Diskussionen über den
Klimaschutz. Das ist gut für den Klimaschutz in
Deutschland und der Europäischen Union. Ich erinnere
an eines: Die Vorgänger im Amt des Bundesinnenministers haben solche konkreten Klimaschutzmaßnahmen
nicht vorgelegt.
({2})
Das gilt für die Zeit der Regierung Kohl, wo es immer
das Ziel gab, 25 Prozent der CO2-Emissionen einzusparen. Das ist uns zwar ritualisiert jedes Jahr vorgestellt
worden, aber es hat nie ein Maßnahmenpaket dafür gegeben.
Zum letzten Umweltminister, dem Grünen, Jürgen
Trittin.
({3})
- Ich wusste, dass der Zwischenruf, das sei alles nur die
SPD in Rot-Grün gewesen, kommt. Der Deutsche Bundestag hat Jürgen Trittin mit den Stimmen von Rot-Grün
den Auftrag erteilt, ein konkretes Klimaschutzprogramm
zur Einsparung von 40 Prozent der CO2-Emissionen vorzustellen. Er hat noch nicht einmal ein Eckpunktepapier
in die Ressortabstimmung gegeben. Er hat sich geweigert, ein konkretes Klimaschutzprogramm vorzulegen.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen diesem
ehemaligen Minister und Sigmar Gabriel. Ich erwähne
das hier, damit die grüne Kritik an dem Bundesumweltminister von allen in diesem Land auf ihre Ehrlichkeit
überprüft werden kann.
({4})
Das klare Signal ist: Es geht mit dem Klimaschutz in
Deutschland nicht nur weiter, sondern er gewinnt an
Konsequenz und Geschwindigkeit.
({5})
Es ist äußerst klug, mit dem Klimaschutz nicht auf die
langsamsten Staaten dieser Welt zu warten. Es ist klug,
vorausschauend, fair und solidarisch, Vorreiter zu sein.
Es ist klug, weil wir, wenn wir mit dem Klimaschutz
anfangen, auch als Erste die für den Klimaschutz notwendigen Technologien liefern können. Dass allein im
Bereich der erneuerbarer Energien jetzt schon über
200 000 Menschen arbeiten, ist an dieser Stelle schon erwähnt worden.
Es ist vorausschauend, weil ein ungebremster Klimawandel die Lebensqualität und den wirtschaftlichen
Wohlstand überall auf dieser Erde bedrohen würde. Wir
müssen für den Klimaschutz sehr viel weniger in die
Hand nehmen als für die Reparatur von Schäden, die
durch einen ungebremsten Klimawandel verursacht würden; von der Vermeidung von Konflikten - Stichworte:
Ressourcenknappheit und Umweltflüchtlinge - ganz zu
schweigen.
Es ist fair, weil wir der nächsten Generation nicht
noch eine zusätzliche Last aufbürden dürfen. Was antworten wir denn, wenn unsere Kinder und Enkel fragen:
Ihr hattet doch die Technologien zur Vermeidung der
Treibhausgasemissionen. Warum habt ihr sie nicht konsequent eingesetzt? Ich glaube, wir sind uns einig, dass
die Antwort: Bequemlichkeit!, eine verdammt
schlechte Antwort auf diese Frage wäre.
({6})
Es ist zuletzt solidarisch, weil der Klimawandel vor
allem die Ärmsten treffen wird, die ärmsten Staaten und
die Ärmeren in einer Gesellschaft.
Ja, es stimmt: Ein US-Amerikaner hat eine doppelt so
schlechte Klimabilanz wie ein Deutscher. Aber ein Deutscher ist für viermal so viel Treibhausgasausstoß verantwortlich wie ein Chinese, für zehnmal so viel wie ein Inder. Die 80 Millionen Deutschen emittieren so viel
Treibhausgas wie bald 1 Milliarde Afrikaner zusammen.
Das ist die Quelle, aus der unsere Verantwortung resultiert, im Klimaschutz als Vorreiter voranzugehen.
Klimaschutz ist dabei keine Last, keine Gefährdung
unserer Wirtschaft. Im Gegenteil, er bietet die riesige
Chance zur Modernisierung unserer Industriegesellschaft, für neue Arbeitsplätze und innovative Technologien. Wir wollen in Produkte und in Köpfe investieren
anstatt in Brennstoffe. Wir wollen das Land sein, das die
Technologien für den Klimaschutz in die ganze Welt liefert und damit Lebensqualität und Wohlstand aller Menschen verbessert.
({7})
Dazu gehört aber eine Sache: Wir müssen aufhören,
falsche Schutzzäune um unsere eigene Industrie zu errichten.
({8})
Was hat es denn gebracht, die deutschen Automobilbauer vor notwendigen Umweltauflagen zu bewahren?
Gar nichts.
({9})
Unsere Automobilindustrie ist dadurch technologisch
sogar zurückgefallen: beim Katalysator, beim Rußpartikelfilter, beim Hybridantrieb, und vermutlich werden
wir im nächsten Jahr erleben, wie französische, italienische und japanische Hersteller in unserem Land Flexible-Fuel-Autos verkaufen, während unsere Konzerne
die nur im Ausland anbieten und in Deutschland behaupten, dass man so etwas nicht herstellen könne. Das hat
man davon, wenn man Schutzzäune einzieht. Nein, wir
wollen Vorreiter sein, wir wollen die neuen Technologien zuerst anbieten. Das ist eine Antwort auf Klimaschutz und Globalisierung gleichermaßen.
({10})
Gott sei Dank haben wir eines erreicht: Die Klimaschutzziele der Parteien im Deutschen Bundestag haben
sich in den letzten Monaten, zumindest auf dem Papier,
angenähert. Man konnte ja fast im Wochenrhythmus beobachten, dass, wenn jemand einen konkreten Vorschlag
gemacht hat, welchen Anteil die erneuerbaren Energien
an der Stromerzeugung im Jahr 2020 haben sollen, sich
immer ein Nächster gefunden hat, der 5 Prozentpunkte
draufgeschlagen hat. So kletterte dieser Anteil von 25,
30, 35 auf 40 Prozent. Ich habe darauf gewartet, dass irgendwann noch einer 45 Prozent bietet. Aber anscheinend hat der 40-Prozent-Vorschlag den Zuschlag bekommen. Ich glaube, dass wir jetzt einen Schritt weiter gehen
müssen: Wir müssen von dem Wettkampf um die Ziele
dazu übergehen, tatsächlich Beschlüsse zu fassen. Wir
müssen die notwendigen Klimaschutzinstrumente
rechtzeitig beschließen,
({11})
um die Klimaschutzziele im Jahr 2020 auch zu erreichen.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten und in
den anderthalb Jahren seit Gründung dieser Koalition zu
einer Reihe von Instrumenten konkrete Vorschläge gemacht, Eckpunkte und Gesetzentwürfe vorgelegt. Ich
nenne dafür drei Beispiele: ein Fördergesetz für die KraftWärme-Kopplung, ein Erneuerbare-Energien-WärmeGesetz und ein Toprunner-Programm in der Energieeffizienz.
Es ist doch nichts sinnvoller, als Öl, Gas und Kohle
durch Kraft-Wärme-Kopplung doppelt zu nutzen, anstatt
die Wärme einfach an die Atmosphäre abzugeben. Wer
einmal erlebt hat, wie wunderbar es ist, mit erneuerbaren
Energien den Wärmebedarf zu decken, der kann sich gar
nicht mehr vorstellen, wie es vorher war. Zur letzten
Idee: Wir müssen unsere Ingenieure darauf ansetzen, in
einem dynamischen Wettlauf die Energieeffizienz von
Produkten zu verbessern.
Das wären drei Ansätze. Ich hoffe, dass auch unser
Koalitionspartner nach Abschluss seiner internen Debatten bereit ist, mit uns diese Instrumente kurzfristig zu beschließen. Schließlich muss man ins Gelingen verliebt
sein und nicht ins Scheitern. Das gilt vor allem für den
Klimaschutz.
Vielen Dank.
({12})
Nachdem nun endlich passend zum Girls Day die
ersten Anregungen kommen, in was man alles verliebt
sein könnte, erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kelber, ich weiß ja nicht, in welcher Koalition Sie sich bewegen. Ich weiß natürlich, dass es, wenn
man selber als Person keine Funktion innehatte - das gilt
für Sie und das gilt für Herrn Gabriel -, immer besonders schön ist, zu fragen: Was hat denn die Vorgängerregierung gemacht? - Aber ich sage Ihnen eines ganz
klar: Wir Grünen treten mit jedem in der ganzen Republik gerne in einen Wettbewerb ein, was man hätte noch
besser machen können - aber nicht mit Ihnen von der
SPD. Denn wir wären in diesem Land bedeutend weiter,
wenn Ihr Autokanzler, wenn Ihre Wirtschaftsminister
unsere Vorschläge nicht für putzig gehalten und uns
nicht ständig blockiert hätten.
({0})
Deshalb ist das, was Sie hier sagen, Geschichtsklitterung.
({1})
- Ja, schön, Sie hätten den Vorgängerumweltminister
vielleicht gerne mit einem Plan beschäftigt, um ihn und
andere davon abzuhalten, zum Beispiel ein ErneuerbareEnergien-Gesetz durchzusetzen.
({2})
Sie hätten lieber die Macht der Konzerne mit Ihrem Personal, das Sie von hier dorthin transportieren, bewahrt.
({3})
Das ist die Wahrheit der SPD.
({4})
- Ja, das ist vom Parlament eingebracht worden, aber
deshalb, weil diese SPD mit ihren Wirtschaftsministern
sozusagen selbst die Handbremse in Ketten gelegt hat,
damit sie keiner losmachen kann.
({5})
Ich war dabei, Herr Kelber. Ich habe in Neuhardenberg gesehen, wie sich Ihre Minister schmunzelnd in die
Sessel legten, wenn man sagte: Wir brauchen Biokraftstoffe. Sie fragten nur: Was soll das denn sein? Wäre das
anders gewesen, wäre dieses Land heute weiter.
({6})
Ich kann Ihnen nur eine Hausaufgabe geben:
({7})
Befreien Sie sich endlich von Ihrer alten Industriepolitik.
Dann kriegen Sie in der SPD vielleicht wieder eine Basis; sie fehlt Ihnen ja.
({8})
- Ich bin eine frei gewählte Abgeordnete, Herr Kelber,
wie auch Sie ein frei gewählter Abgeordneter sind.
({9})
- Sie können ihn ja jetzt umsetzen, Herr Kelber.
({10})
- Ich sage Ihnen eines: Der Trick ist vielleicht ganz gut,
aber das, was heute vorgestellt wurde, ist es noch lange
nicht, Herr Kelber. Wenn Sie sagen, dass Sie eine Führungsrolle in dieser Republik oder sogar weltweit übernehmen wollen, dann müssen Sie auch Führung zeigen.
Aber die Regierung hat sich, obwohl sie immer sehr
schöne Zahlen genannt hat, am Ende sogar noch von der
Kommission treiben lassen müssen. Nur so konnte überhaupt etwas bewegt werden. Ich habe noch im Ohr, dass
Herr Beck zur Bundeskanzlerin sagte: Dann klagen wir
eben gegen die Brüsseler Vorschläge. - Ist Ihnen das
nicht peinlich, Herr Kelber?
({11})
Raubt Ihnen das nicht nachts den Schlaf?
({12})
Wir werden auf diesem Gebiet sogar von Großbritannien überholt. Selbst China bewegt sich. Arnold
Schwarzenegger schickt mittlerweile Leute nach
Deutschland, um von uns zu lernen, wie man den EmisRenate Künast
sionshandel nicht betreiben sollte, Herr Kelber. Wir
könnten wirklich weiter sein. Selbst die Mitglieder des
zuständigen Ausschusses des Repräsentantenhauses reisen nach Deutschland, um von uns zu lernen, wie man
den Emissionshandel nicht organisieren sollte. Die Neuenglandstaaten, zehn Bundesstaaten der USA, werden ab
Januar 2009 einen Emissionshandel durchführen. Die
Emissionsrechte werden zu 100 Prozent versteigert.
Vor diesem Hintergrund loben Sie eine Bundesregierung, deren Umweltminister sich hier hinstellt und sagt:
Wir waren zu feige und haben uns - in den Worten Karl
Valentins - nicht dürfen getraut; wir bitten das Parlament, die 10-Prozent-Versteigerung in die Hand zu nehmen. Ich sage Ihnen: Dabei werden wir Ihnen gerne helfen, der Regierung und auch Ihnen, Herr Kelber.
({13})
Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie das Parlament
noch bitten müssen, wenn es um die Versteigerung geht.
Darüber hinaus wurde von Ihnen gesagt, Klimaschutz
würde nicht wehtun. Was ist das eigentlich für eine Botschaft? Niemand will den Verbrauchern wehtun. Heute
tun den Verbrauchern die hohen Nebenkosten für Strom
und Wärme weh, die zu einer Art Nebenmiete geworden
sind. An dieser Stelle ist der Klimaschutz eine Lösung
des Problems. In diesem Zusammenhang muss man
nicht von Schmerzen reden.
({14})
Herr Gabriel, wenn Sie so tun, als müsste man den
Verbrauchern an dieser Stelle wehtun, ist das eine falsche Botschaft. Wir können und dürfen weder der Wirtschaft noch den Verbrauchern suggerieren, dass es möglich ist, genauso weiterzumachen wie bisher. Wir
müssen den Transport anders organisieren. Wir müssen
anders wohnen. Wir müssen unsere Lebensmittel anders
herstellen. Wir müssen ganz anders produzieren, auch
die Produkte, die wir exportieren. Das heißt nicht, dass
das wehtun muss. Das bedeutet, dass wir endlich lernen
müssen, ganz anders zu denken und die alten Lobbyinteressen fallen zu lassen. Das gilt auch dann, wenn Sie
Ihr Personal in den Vorständen haben, liebe Kollegen
von der SPD.
Das betrifft auch die Kohleprivilegien. Lernen wir
endlich, neu zu denken und alles anders zu organisieren.
Hier liegt die Lösung, nicht etwa in kleinen Zwischenzielen.
({15})
- Dazu sage ich gleich noch etwas.
({16})
Herr Kelber, sehen wir uns doch einmal an, was Sie
vorgelegt haben. Der Nationale Allokationsplan ist ein
Trauerspiel. Hier sind Sie kein Vorreiter. Das, was von
Ihnen vorgeschlagen wurde - einige haben das schon angesprochen -, bedeutet letztlich ein neues Privileg für
die Kohle. Warum bekommen Gas und Kohle eigentlich
nicht gleiche Rechte? Das ist ein Trauerspiel. Es nützt
nichts, wenn Sie an dieser Stelle nur allgemeine Ziele
und Prozentzahlen nennen. Packen Sie endlich die Maßnahmen an.
({17})
Sie machen lauter Trippelschritte. Herr Kelber, wir
haben damals das marktwirtschaftliche Instrument des
Emissionshandels eingeführt. Jetzt muss man den nächsten Schritt tun. Deutschland muss als großes Mitgliedsland der EU zeigen, dass es die 10-Prozent-Regelung
umsetzt und dass es kein weiteres Privileg für die Kohle
schafft. Dann können Sie sich in Brüssel glaubwürdig
dafür einsetzen, dass 100 Prozent der Emissionsrechte
versteigert werden.
({18})
So macht man das und nicht, indem man uns hier mit irgendwelchen Prozentzahlen einlullt. Taten und nicht
Worte zählen.
({19})
Sie müssen dann aber auch einmal loslegen, sich hier
hinstellen und sagen: Wir lernen, CO2-frei zu denken.
Dann brauchen Sie auch nicht mit einem 40-Prozent-Ziel
zu kommen, das sich die Regierung gar nicht als Ziel
aufgeschrieben hat und das Sie nicht realisieren werden.
({20})
- An Ihrem Lachen sehe ich, wie wenige Texte Sie lesen; denn der Begriff CO2-frei zu denken bzw. in
CO2-freien Lösungen zu denken ist durchaus üblich.
Wir wollen, dass endlich Taten folgen, und wir sagen
Ihnen eines: Wir werden an Ihre Regeln zum Emissionshandel herangehen. Wir wollen ein Moratorium für
Kohlekraftwerke; denn wir wollen nicht, dass das Geld
jetzt an dieser Stelle investiert und der Klimaschutz über
Jahrzehnte blockiert wird, weil kein Geld mehr vorhanden ist.
({21})
- Dann schauen Sie sich den Beschluss einmal an. - Wir
wollen die Kraft-Wärme-Kopplung nutzen, und wir
brauchen an dieser Stelle ein Wärmegesetz. Vor allem
brauchen wir aber nicht den Wettbewerb der Zahlen,
sondern den Wettbewerb der Maßnahmen. Weg mit den
alten Lobbyinteressen!
Frau Kollegin!
Sie lösen die Probleme nicht mit der Denkweise von
gestern, Herr Kelber.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem bemerkenswerten Schlagabtausch ehemaliger Koalitionäre möchte ich zum Ausgangspunkt unserer Debatte zurückkommen.
({0})
Der von Menschenhand verursachte Klimawandel erzeugt auf dieser Erde etwas, was alle bisherigen geschichtlichen Dimensionen sprengt. Die Kosten und Gefahren sind gewaltig. Allein für Deutschland werden bis
2050 Schäden in Höhe von 800 Milliarden Euro geschätzt. Die sozialen und wirtschaftlichen Risiken auf
dem gesamten Erdball sind völlig unkalkulierbar.
Aus unserer Sicht ist die Antwort der Staatengemeinschaft auf dieses gewaltige Risiko für Milliarden von
Menschen - auch für unsere Kinder und Enkel - bisher
völlig unzureichend. Allein von den weltweit größten
zehn CO2-Emittenten sind derzeit nur vier vom Kiotoprotokoll erfasst. Entscheidende Länder sind bisher
überhaupt keine wirksame Verpflichtung eingegangen.
Dieses oft kleinkarierte internationale Geschachere um
Vorteile in den Klimaschutzverhandlungen ist dem Ernst
der Lage in keiner Weise angemessen. Im Gegenteil: Es
ist manchmal zynisch und menschenverachtend.
Ein Lichtblick ist in der Tat das, was sich Deutschland
und Europa vorgenommen haben. Auch hier sind noch
viele Hausaufgaben zu machen, aber es gibt ehrgeizige
Ziele, große Anstrengungen und auch große Erfolge.
Auch die Erfolge, die in den letzten Jahren in Deutschland erzielt worden sind, machen Mut. Das, was Bundeskanzlerin Merkel auf EU-Ebene in diesem ersten Vierteljahr des Vorsitzes hier erreicht hat, ist wirklich ein
historisches Ereignis. Dafür möchten wir noch einmal
unsere ausdrückliche Anerkennung ausdrücken.
({1})
Ich glaube, mit diesem Beschluss haben wir auch die
Grundlage dafür geschaffen, dass Deutsche und Europäer eine Chance haben, die Klimapolitik weltweit zu
beeinflussen. Dazu sind aber zwei Voraussetzungen nötig:
Erstens. Die europäische Klimapolitik muss ein attraktives Vorbild und kein sinnloses Opfer sein.
Zweitens. Wir müssen ärmere Länder in die Lage versetzen, ihren Schutzbeitrag zu leisten.
Wann sind wir nun ein attraktives Vorbild? Ich gebe
dem Kollegen Kelber Recht: Wir sind dann ein attraktives Vorbild, wenn wir das Erreichen unserer ambitionierten Klimaschutzziele mit Versorgungssicherheit und
bezahlbaren Energiepreisen verbinden, sprich, wenn wir
Klimaschutz mit ökonomischer Effizienz und technischem Fortschritt verbinden.
({2})
Das ist genau das, was die Union seit Jahren vertritt
und was auch die Bundesregierung jetzt durchsetzen
möchte.
Auch ich bin der Meinung, dass ein europäisches
Emissionshandelssystem eine richtige und effiziente
- weil marktkonforme - Option ist, um das zu erreichen.
Es ist aber nur dann eine Option, wenn es richtig gemacht wird. Wann wird es richtig gemacht? Es darf nicht
durch Ausnahmen total verwässert werden. Es muss die
tatsächlichen Hauptemittenten erfassen, und zwar inklusive des Luftverkehrs. Es muss möglichst am Anfang der
Wertschöpfungskette ansetzen, und die Emissionsobergrenzen müssen die politischen Ziele der Europäischen
Union glaubhaft widerspiegeln. Ein funktionierender
Emissionshandel setzt - zum Beispiel auf dem europäischen Strommarkt - auch einen funktionierenden Wettbewerb voraus. Nur bei einem angemessenen CO2-Preis
und bei funktionierendem Wettbewerb können größere
soziale Verwerfungen vermieden werden und gibt es
auch den notwendigen Anreiz für technologische Innovationen.
An dieser Stelle möchte ich unserem Wirtschaftsminister Michael Glos danken, dass er die Einbeziehung
dieses Wettbewerbsgesichtspunkts auf europäischer
Ebene zu einem seiner Hauptanliegen gemacht hat. Wir
brauchen in der europäischen Energiepolitik eine stärkere Abstimmung. Das gilt auch für die Förderung regenerativer Energien. Auch sie müssen Teil eines funktionierenden europäischen Wettbewerbs sein. Richtig ist für
mich auch, Emissionszertifikate in zunehmendem Maße
zu versteigern,
({3})
und zwar nicht zuletzt, weil unerlässliche Klimaschutzprojekte im Bereich von Forschung und Entwicklung
- viele davon wurden schon genannt -, zum Beispiel betreffend den Waldschutz, nicht umsonst zu haben sind.
Wenn uns große Energieunternehmen vor erhöhten
Strompreisen für die Endverbraucher warnen, so müssen
sie sich fragen lassen, ob sie diese Erhöhungen nicht
schon längst im Vorgriff auf eine mögliche Versteigerung eingepreist haben. Jedenfalls ist eines klar: Nichts
zu tun und zu warten oder zu wenig zu tun, wird für den
Endverbraucher schon in kurzer Zeit viel teurer als das,
was uns jetzt als Hirngespinst an die Wand gemalt wird.
Wir von der CDU/CSU setzen zum Beispiel auf die
Weiterentwicklung der Energieeinsparungen im Gebäudebereich, auf den Durchbruch bei der Kraft-WärmeKopplung, auf die Entwicklung einer zweiten Generation der Biomassetechnologie hin zu noch sparsameren
Antriebsmethoden und auf moderne Kraftwerkstechnik.
Mit einem solchen Paket an Wettbewerbsvorteilen durch
ein europäisches Modell erhoffen wir uns - ich glaube:
zu Recht - eine Sogwirkung. So müssen sich zum Beispiel andere Hauptemittenten wie die Amerikaner uns
schon aus Wettbewerbsgründen anschließen. Mit einem
solchen Modell erhoffen wir uns auch die notwendige
Technologie und die Finanzmittel dafür, auch den ärmeren Ländern - den Entwicklungs- und Schwellenländern gezielt zu helfen, ebenfalls ihren Beitrag zum Klimaschutz zu erbringen. Ein Beispiel hierfür ist die Kohlenstoffspeicherungstechnologie. Ich glaube, dass die Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in
den Klimaschutz von ganz entscheidender Bedeutung
sein wird, und zwar nicht nur wegen der gewaltigen Verwerfungen und Risiken, die vor allem diesen Ländern
durch die Folgen der Klimaveränderung drohen. Die
Einbeziehung dieser Länder ist auch von Bedeutung,
weil der Schlüssel für den Klimaschutz teilweise tatsächlich im Süden liegt.
({4})
Dort sind Gelder für Klimaschutzmaßnahmen am effizientesten angelegt. Dort brauchen wir zum Beispiel in
den Bereichen Technologie und Beratung eine verstärkte
Zusammenarbeit. Es ist ein Durchbruch, dass wir für
China eine Art Einspeiseverordnung mit beraten und
durchgesetzt haben. Das ist auch für die Zukunft Chinas
ungeheuer viel wert. Schließlich müssen wir versuchen,
den Schutz der Wälder auch in den Entwicklungsländern
viel stärker durchzusetzen. Allein hier gibt es ein Einsparungspotenzial von 20 Prozent, das mit relativ geringen Mitteln erzielt werden kann.
({5})
Ich bin der Meinung, dass der ganze CDM-Prozess
immer noch viel zu kompliziert ist. Auch hier gibt es
viele Hausaufgaben.
Kurz gesagt, der Schutz von Klima und Schöpfung ist
meiner Ansicht nach mit die größte Herausforderung der
Politik in den nächsten Jahren und vielleicht in den
nächsten Jahrzehnten. Hier ist mit Ideologie und Feigheit nichts zu erreichen; vielmehr müssen wir gemeinsam pragmatisch und entschlossen vorgehen. Insofern
hat unsere Bundeskanzlerin für den G-8-Gipfel unsere
geballte Rückendeckung.
({6})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bilanz der deutschen Klimapolitik misst sich an den
Fakten, und zwar an den tatsächlichen Einsparungen an
Treibhausgasen; dazu hat Gregor Gysi vorhin das Wesentliche gesagt. Kurz gefasst, wir liegen bei den CO2Emissionen über dem Niveau von 1999. Noch einmal:
Ohne den Osteffekt würden wir international schön
dumm dastehen.
Diese ernüchternde Bilanz ist - das können wir Ihnen
nicht ersparen - auch eine Bilanz der rot-grünen Vorgängerregierung. Ich finde, wer 7 Prozent mehr Emissionsrechte verteilt, als von den Unternehmen zwischen 2000
und 2002 überhaupt CO2 ausgestoßen wurde, wer zudem
langfristige Privilegien für die Kohle festschreibt und
dann auch noch die Zertifikate vollständig verschenkt,
braucht sich über dieses Ergebnis nicht zu wundern. Wir
haben hier erlebt, dass Sie sich gegenseitig die Schuld
zuschieben. Das nützt uns gar nichts. Wir müssen das
besser machen - Sie waren damals in der Verantwortung und daraus die Konsequenzen ziehen.
({0})
Jetzt zum ungebremsten Wachstum des Straßengüterverkehrs und des Flugverkehrs. Da wird offensichtlich, dass in den letzten Jahren in Sachen Klimapolitik einiges schiefgelaufen ist. Das Statistische
Bundesamt sagt, es habe im letzten Jahr 6,5 Prozent
mehr Flugverkehr gegeben. Was tun Sie? Sie weisen
weitere Flughäfen aus. Diese werden staatlich finanziert.
Hier muss ein Umdenken erfolgen. Wenn wir das wirklich wollen, müssen die Finanzströme anders fließen,
zum Beispiel auch im Zusammenhang mit dem Ausbau
des Münchener Flughafens.
({1})
Natürlich erkennen wir an, dass es durch das EEG einen gewaltigen Zuwachs an Strom aus Wind, Wasser,
Biomasse und Fotovoltaik gegeben hat. Diese Politik
müssen wir ausbauen; diese Politik unterstützen wir weiter.
Doch allein über das EEG ist eine Energiewende nicht
hinzubekommen. Man muss sich mit den Konzernen
dort anlegen, wo es richtig wehtut. Genau um das geht
es.
({2})
Ein anspruchsvoller Emissionshandel wäre so etwas oder auch eine wirksame Begrenzung des Flug- oder des
Schwerlastverkehrs. Da muss man eben ran.
Aktuell geht es aber vor allem darum, zu verhindern,
dass in Deutschland 44 neue Kohlekraftwerke - ich
wiederhole: 44 - gebaut werden. Diese geplanten Kraftwerksneubauten würden bis 2020 einen Anstieg über das
CO2-Niveau von 1990 bedeuten. Bis zur Mitte des Jahrhunderts würde dieser Kraftwerkspark Jahr für Jahr gut
100 Millionen Tonnen mehr CO2 in die Atmosphäre blasen, als laut dem Reduktionsziel der Bundesregierung
erlaubt ist. Würden diese Kraftwerke gebaut, dann wären
die Weichen der deutschen Klimapolitik für ein halbes
Jahrhundert gestellt; denn sie laufen dann 40, 50 oder
60 Jahre. Das wissen Sie, meine Damen und Herren.
Mich interessiert an dieser Stelle: Wie kommt es eigentlich zu diesen Planungen? Herr Gabriel sagt, wir befänden uns auf dem richtigen Pfad. Wenn das so ist, dann
würden die Energieversorger doch gar nicht auf solche
Ideen kommen. Oder ist es so, dass der Emissionshandel
diese überhaupt nicht interessiert? Den Energieversorgern wird es total leicht gemacht; denn sonst wären solche Planungen gar nicht möglich.
Zum Glück hat die EU-Kommission kürzlich zumindest die größten Fehler des deutschen Zuteilungsplans
für die nächste Handelsperiode beseitigt. Die Gesamtobergrenze, das Cap, ist deutlich gesenkt worden. Es ist
verboten worden, die Kohlemeiler 14 Jahre lang zu privilegieren. Wir begrüßen das sehr und haben das unterstützt. Aber nun will die Bundesregierung wiederum der
Braunkohle einen Bonus zuschanzen. Wir haben über
die CO2-Bilanz gesprochen. Bedenken Sie, was Sie da
tun! Bedenken Sie, was Sie damit anrichten! Anscheinend hat diese Bundesregierung keine Lust auf ernsthafte Konflikte mit den EVUs.
In anderen Sektoren gäbe es eine Vielzahl von Minderungsoptionen. Die müssten jetzt einfach angegangen
werden. Dazu liegen Anträge vor; da muss gehandelt
werden. Zum Teil ist das - das sage ich an die Haushälter gewandt - nicht einmal mit Kosten verbunden.
Wir meinen, dass in diesem Bereich etwas getan werden muss, und haben ein Sofortprogramm vorgelegt,
über das wir abstimmen können. Wir halten für die Zukunft eine energetische Schwerpunktsetzung auf Sonne,
Wind, Biomasse und Wasser für notwendig, die auch der
Volkswirtschaft nutzen wird. Das wissen wir nicht erst
seit Nicholas Stern. Auch vor dem letzten IPCC-Bericht
war schon bekannt, dass wir eine Abkehr von fossilen
Energien brauchen. Die internationalen Konflikte wurden schon angesprochen.
Es gilt, das Ruder herumzureißen. Wir müssen das gemeinsam tun, aber das muss in einer Weise erfolgen,
dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land den
Prozess unterstützen. Dann muss auch damit Schluss
sein, dass in einkommensschwachen Haushalten im
nächsten Winter, der vielleicht sehr kalt wird, Energiearmut herrscht oder dass es sich Kinder nicht mehr leisten
können, mit dem Bus zu ihrem Sportverein zu fahren. Es
geht nicht an, dass Energiekonzerne Zusatzgewinne in
Milliardenhöhe aus dem Emissionshandel erzielen,
wenn gleichzeitig dieses Geld an anderer Stelle dringend
gebraucht wird.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Marco Bülow,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem
Zitat:
Gerade unter den Nationen, die sich für die zivilisiertesten halten und die sich der großartigsten Fortschritte in der Wissenschaft rühmen, finden wir die
größte Apathie und die größte Ruchlosigkeit, was
das ständige Verschmutzen der wichtigsten aller
Lebensnotwendigkeiten angeht.
Das ist kein neues Zitat. Es ist eine Feststellung von
Alfred Russel Wallace von 1903. Leider haben ihn genau
die Nationen, die hier angesprochen wurden, in den darauf folgenden Jahrzehnten nicht Lügen gestraft. Wir haben erlebt, dass die Wälder abgeholzt, die Meere überfischt wurden und unsere Umwelt verschmutzt wurde,
wobei wir lange Zeit nicht eingegriffen haben.
Seit 30 Jahren gibt es Gott sei Dank eine andere Diskussionsgrundlage: Man spricht über den Umweltschutz
und entsprechende Maßnahmen. Gerade auch in diesem
Land wurden viele wichtige Maßnahmen auf den Weg
gebracht, um dieses Vorgehen und die damit verbundene
Politik zu ändern.
Allerdings müssen wir auch resümieren, dass wir für
den Klimaschutz in den letzten 30 Jahren nicht besonders viel getan haben, obwohl die Erkenntnisse zugenommen haben und wir immer besser wissen, was der
Klimawandel anrichtet. Er wird viel mehr anrichten als
das, was in den letzten Jahrzehnten oder im letzten Jahrhundert passiert ist.
Deswegen ist Handeln - und zwar vor allem gemeinsam - das oberste Gebot. Es nützt nichts, Frau Künast,
wenn wir uns jetzt zerfleischen und darüber reden, was
in den letzten Jahren falsch gemacht worden ist. Wir
müssen vor allem darüber reden, was wir gemeinsam in
der nächsten Zeit richtig machen müssen.
({0})
Ich freue mich über jeden, der bis vor kurzem noch
eine andere Politik betrieben hat und für den Klimawandel und Umweltschutz kein Thema war, der aber heute
darüber redet und es ernst meint. Ich weiß, dass das viele
tun, und zwar in allen Fraktionen. So müssen wir die Zukunft gestalten.
Wir müssen mit Fingerspielen im Sinne von Wer hat
Schuld? oder Wer macht mehr? aufhören, aber auch
mit dem Motto: Die anderen emittieren viel mehr CO2;
deswegen müssen wir am Anfang nichts tun. Oder: Die
sind noch viel schlimmer als wir; die Amerikaner verbrauchen noch viel mehr. - Ich denke, jetzt geht es darum, wer mutig ist und vorangeht.
Wir müssen vor allen Dingen lernen, wie die immer
noch Ewiggestrigen und die Zauderer und Zögerer überzeugt werden können, das Richtige zu tun. Ich will auf
einige Punkte eingehen. Es gibt zum Beispiel immer
noch das Argument, Erderwärmung habe es immer gegeben und es werde sie auch in Zukunft geben; wie viel
der Mensch dazu beitrage, sei nicht so wichtig. Erderwärmung hat es in der Tat immer gegeben. Es gab schon
Eiszeiten, als es noch keine Menschen gab. Das ist alles
richtig. Erderwärmung wird es auch in Zukunft geben,
auch ohne Menschen. Denn die Natur wird nicht zerstört. Wir zerstören nur die Lebensgrundlagen der Menschen. Das heißt, Klimaschutz bedeutet in erster Linie
weder Umweltschutz noch Naturschutz, sondern Menschenschutz. Ich denke, wir haben die egoistische Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Menschen auch
weiterhin auf diesem Planeten leben können. Die Natur
wird immer einen Weg finden, auch ohne uns und trotz
Klimawandels. Deswegen müssen wir vor allen Dingen
dafür sorgen, dass wir unsere Lebensgrundlagen schützen.
({1})
Ein weiterer Punkt. Es wird gesagt, wärmere Temperaturen seien doch ganz gut, dann könne man sich draußen hinsetzen, auch schon im April. Wir erleben das gerade. Außerdem sei es schön, wenn wir hier irgendwann
Rotwein, Cabernet Sauvignon, usw. anbauen können.
Das alles sind schöne Phrasen. Wenn ich das heute in
Zeitungen wie Welt und FAZ lese, dann muss ich sagen: Die Leute haben nichts dazugelernt.
Denn ich weiß nicht, ob es den Menschen gefällt - ich
lebe im Ruhrgebiet, also in einer Gegend, in der ganz
viele Menschen zusammenleben -, dass ein Sommer wie
der im Jahr 2003 in 20 Jahren ein Durchschnittssommer
sein wird. Der Sommer 2003 bereitete vor allen Dingen
älteren Menschen und kleinen Kindern große Probleme,
weil er so heiß war. Wenn das ein Durchschnittssommer
wird, glaube ich, müssen wir dazulernen. Wir werden
merken, dass es nicht unbedingt so schön ist, draußen zu
sitzen. Auf Rotwein können wir verzichten. Den kann
man aus anderen Ländern importieren. Außerdem hat
Deutschland sehr guten Weißwein und teilweise auch
Rotwein.
({2})
Deswegen, glaube ich, sind das die falschen Argumente
in dieser Debatte.
({3})
Ein weiterer Punkt, den ich auch nicht mehr hören
kann, ist folgender: China verbraucht seine Kohlereserven sowieso, dann sollten sie es lieber mit unserer Technologie tun. Ja, es ist mit unserer Technologie ein bisschen besser. Aber wenn China seine Kohlereserven
verbraucht - egal mit welcher Technologie -, wird diese
Erde nicht mehr zu retten sein. Wir müssen mit anderen
Technologien vorangehen. Bis dahin müssen wir mit der
vorhandenen Technologie arbeiten, zum Beispiel mit
Kraft-Wärme-Kopplung. Gleichzeitig müssen wir andere Technologien wie die erneuerbaren Energien und
solche zur Effizienzsteigerung voranbringen, sodass die
Chinesen irgendwann aufhören, ihre Kohle komplett zu
verbrennen. Ansonsten brauchen wir die Diskussion
über Klimawandel und Klimaschutz nicht mehr zu führen.
({4})
Zum Schluss lassen Sie mich bezüglich Klimaschutz
und Atomkraft auf Folgendes hinweisen - ich will dazu
nur ein Argument nennen -: Wenn wir in diesem Jahr einen Sommer wie 2003 erleben - vieles deutet darauf hin;
vielleicht wird er sogar noch ein bisschen heißer -, dann
möchte ich vor allen Dingen in Frankreich die Diskussion erleben, wenn zum einen das Wasser knapp wird
und zum anderen das wenige Wasser, das vorhanden ist,
stark erwärmt ist. Dann wird es eine Diskussion darüber
geben, die Kraftwerke abzuschalten. Dann wird der so
billige Atomstrom auf einmal schweineteuer. Das wird
zu erheblichen Engpässen führen. Ich bin froh, dass wir
schon jetzt nur noch einen Anteil des Atomstroms von
25 Prozent haben. Je weniger wir haben, desto weniger
Probleme werden wir in den zukünftigen Sommern haben.
({5})
Wallace hatte 1903 zwar recht, aber wir müssen dafür
sorgen, dass wir in 20, 30 Jahren sagen können: Die sogenannte zivilisierte Welt insgesamt und die Länder mit
dem größten Fortschritt sind vorangegangen und haben
versucht, ihre Fehler gutzumachen, und zwar gemeinsam.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Marco Bülow hat natürlich recht: Man sollte den Blick
nicht zu sehr nach hinten richten und darüber lamentieren, wer früher was gesagt hat. Aber wenn jetzt beispielsweise Herr Kauch sagt, es sei schön, dass die EUKommission die Emissionsrechte weiter kürzt, erinnert
man sich schon daran, wie Frau Homburger hier früher
darüber geklagt hat, dass der Emissionshandel die deutsche Industrie in die Knie zwingt. Man muss schon bei
der Wahrheit bleiben.
({0})
Wenn sich Frau Reiche - ich weiß nicht, ob sie noch anwesend ist - jetzt als die Freundin der erneuerbaren
Energien hinstellt, erinnert man sich an die Diskussion
in der letzten Legislaturperiode, als dieses Gesetz in
Grund und Boden geredet wurde. Wenn es dieses Gesetz
nicht gegeben hätte, hätte es diesen starken Aufwuchs
nicht gegeben. Dieses Auseinanderklaffen von Worten
und Taten ist schon enorm.
Kollege Kelber, Sie wissen, dass ich Sie schätze, aber
die Position, die Sie hier zu beziehen versuchen - die
Sozialdemokratie sei in Wahrheit die Treiberin beim Klimaschutz gewesen, und die Grünen hätten das leider
nicht mitgemacht -, verkennt die fundamentale Tatsache, dass es vor allen Dingen Ihre Minister waren, die
uns beim Klimaschutz einen Knüppel nach dem anderen
zwischen die Beine geworfen haben. Bei dieser Wahrheit
muss man schon bleiben.
({1})
Ich will, weil die Redezeit knapp bemessen ist, jetzt
vor allem auf die Regierungserklärung des Umwelt9498
ministers eingehen. Sie war interessant und hat viele
richtige Elemente enthalten. Gerade das, was der Minister zu den Zielen und zur internationalen Kooperation
gesagt hat, können wir ausdrücklich unterstützen.
Einen Punkt finde ich allerdings falsch. Sie stellen in
Ihrer Argumentation die Technik gegen den Lebensstilwandel. Das ist völliger Quatsch. Wir brauchen natürlich beides. Wir brauchen technische Innovationen auf
allen Ebenen: erneuerbare Energien, Effizienzsteigerung, Einsparungen, Kraft-Wärme-Kopplung etc. pp.
Aber wir brauchen auch Veränderungen im Lebensstil.
Ich möchte Sie bitten, diese Punkte nicht so scharf voneinander abzugrenzen, nach dem Motto: Hier sind die
Verzichtsapostel, da sind die Technikfreunde. Die Wahrheit ist: Wir brauchen Lebensstilveränderung und technische Innovation. Wir finden, dass das gut zusammenpasst.
({2})
Man hat heutzutage manchmal den Eindruck: Es gibt
in Deutschland keine Parteien mehr; es gibt nur noch
Klimaschützer. Wenn es so wäre, wäre das auch gut;
darüber gäbe es gar nichts zu klagen. Aber ich will
schon noch einmal auf die einzelnen Punkte eingehen,
die die Regierung in den letzten Monaten vorangetrieben
hat.
Beim Klimaschutz im Automobilsektor, der CO2Emissionsgrenze für Autos, beispielsweise haben Sie in
Brüssel ganz massiv auf der Bremse gestanden und das
Gegenteil von dem getan, was Sie hier gesagt haben. Das
war nicht glaubwürdig; das muss man ganz klar sagen.
({3})
Beim Emissionshandel mussten Sie auf der einen
Seite von der Kommission zum Jagen getragen werden,
und auf der anderen Seite versuchen Sie jetzt durch die
Hintertür, heimlich Braunkohleprivilegien einzuführen.
Auch das ist nicht glaubwürdig, finden wir.
({4})
Oder nehmen wir den Energiepass für Gebäude, der
gestern im Kabinett verabschiedet worden ist. Die vollkommen richtige tragende Idee dabei ist, dass die CO2Werte bzw. die energetischen Qualitäten eines Gebäudes
sich auch im Immobilienwert und in den Mieten widerspiegeln können. Aber was Sie gestern mit dem Energiepass verabschiedet haben, ist nichts Halbes und nichts
Ganzes. Die Leute wissen am Ende gar nicht, ob ein Gebäude energetisch gut oder schlecht ist. Auch das muss
noch geändert werden, wie wir finden.
({5})
Ein weiteres Thema ist das Tempolimit; das ist heute
noch gar nicht zur Sprache gekommen.
({6})
Ich finde es nicht gut, wenn Sie - der Herr Kollege
Tiefensee ist nicht da; das gilt aber auch für Sie, Herr
Minister Gabriel - die Klimaschutzwirkungen des Tempolimits immer wieder herunterspielen. Das ist falsch.
Es gibt zwei starke Argumente. Das erste Argument ist:
Wenn wir ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern
auf Deutschlands Autobahnen einführen würden, würde
sich das bezüglich der CO2-Emissionen mit einer Senkung um 9 Prozent auswirken. Da können Sie nicht sagen, das sei nur Symbolpolitik. Es wundert mich wirklich, dass Sie als Umweltminister das behaupten.
({7})
Das zweite Argument ist noch viel wichtiger: Wenn
wir ein Tempolimit hätten - als einziges Industrieland
der Welt haben wir heute keines, das muss man sich
einmal vorstellen; wir haben da wirklich den zivilisatorischen Fortschrittszug verpasst -, dann würden auch Automobile anders gebaut; wenn sie auf Spitzengeschwindigkeiten von 150 und nicht von 250 Stundenkilometern
ausgelegt würden, würden sich die Konstruktionsprinzipien ändern. Dann bräuchte man weniger Material, wir
hätten weniger Energieverbrauch, und wir könnten mehr
für den Klimaschutz tun. Das heißt, der Sekundäreffekt
eines Tempolimits ist riesengroß. Geben Sie da endlich
Ihre Blockadehaltung auf; denn sie ist falsch!
({8})
Zur Atomenergie. Ich kann das jetzt hier nicht im
Einzelnen ausführen; aber ich rege zu folgendem gedanklichen Experiment an. Die Kollegen von der Union
und von der FDP tun immer so, als sei die Atomenergie
der CO2-Helfer. Denken Sie einmal genau anders herum! Die Wahrheit ist nämlich: Wenn wir jetzt wieder
die Schleusen für die Atomenergie aufmachen, ist das
nichts anderes als eine Barriere, eine regelrechte Mauer
in Bezug auf Neuinvestitionen in erneuerbare Energien
und Energieeffizienz. All die, die jetzt in den Startlöchern sitzen - bezüglich der Investitionen in erneuerbare
Energien, Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopplung,
Blockheizkraftwerke, Brennstoffzellen -, würden dadurch ein ganz schlechtes Signal bekommen; man würde
ihnen einen Knüppel zwischen die Beine werfen. Also
lassen Sie das bitte sein!
({9})
Mir fehlt die Zeit, um meinen letzten Punkt - CCS,
die Kohlenstoffabscheidungstechnologie - in aller
Breite auszuführen. Das ist für uns vor allen Dingen ein
Forschungsthema und kein energiepolitisches Thema. In
den nächsten 15 Jahren, wenn der Löwenanteil an Investitionen im Kraftwerksbereich vorgenommen wird, steht
diese CCS-Technologie, also Kohlenstoffabscheidung in
Kohlekraftwerken und dessen Endlagerung, nicht zur
Verfügung. Deswegen ist das im Moment mehr ein Ablenkungsmanöver als reale Klimapolitik. Darauf lassen
wir uns auf gar keinen Fall ein.
({10})
Deshalb möchte ich abschließend sagen: Die Regierungserklärung war insofern gut, als sie klare Ziele forDr. Reinhard Loske
muliert hat. Aber dass sie schon mit klaren Maßnahmen
unterlegt worden wäre, wie Sie sagen, Herr Kollege
Kelber, ist nicht der Fall. Vieles bleibt im Vagen, im Diffusen. Nach wie vor klaffen Worte und Taten bei Ihnen
ziemlich deutlich auseinander. Das werden wir als
Opposition genau beobachten und auch beim Namen
nennen. Wir werden vor allen Dingen eigene Vorschläge
machen, wie wir das bisher auch bei allen anderen möglichen Bereichen schon getan haben.
Danke schön.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Damen und
Herren! Die Zeit läuft. Beim Umgang mit dem Klimawandel handelt es sich in der Tat um eine historische
Aufgabe. Das ist heute schon deutlich geworden. Durch
die Veröffentlichungen des Weltklimarates in den letzten
Wochen sind drei Dinge ganz deutlich geworden:
Erstens. Das Zeitfenster für den notwendigen grundlegenden Umbau unseres Energiesystems ist klein. Es ist
unsere Aufgabe, heute für Veränderungen zu sorgen.
Zweitens. Der Umgang mit dem Klimawandel kostet
schon jetzt; er wird weiter kosten - so oder so. Es ist
aber viel teurer und möglicherweise nicht mehr vernünftig zu steuern, wenn wir nichts oder nur sehr wenig tun.
Das hat spätestens der Stern-Bericht deutlich gemacht.
Drittens. Es ist richtig: Die Schwellen- und Entwicklungsländer werden die Industrieländer in den nächsten
Jahren beim Ausstoß von Treibhausgasen überholen.
Deutschland ist nur für 3 Prozent verantwortlich. Aber
wir haben es in der Hand - es ist wie beim Dominoeffekt -:
Wir müssen deutlich machen, dass Wohlstand, ein hoher
Lebensstandard und eine klimafreundliche Lebensweise
zusammenpassen. Die Zahlen über den Pro-Kopf-Ausstoß in China, Amerika und Deutschland sind schon genannt worden. Wir sollten uns angesichts dieser Zahlen
nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wir haben noch
unsere Hausaufgaben vor Ort zu machen.
Deshalb ist es richtig, dass sich Deutschland zu einer
Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2020 um
40 Prozent verpflichtet. Frau Künast, warum loben Sie
das eigentlich nicht? Herr Kauch, warum sagen Sie dazu
eigentlich nichts? Kann es sein, dass die FDP ein solches
Ziel nicht vertritt? Sie haben viel geredet, aber es wäre
ganz gut, wenn Sie einmal sagen würden, mit welchen
Positionen man in die internationalen Verhandlungen gehen sollte. Wir sind vielleicht gemeinsam auf der Weltklimakonferenz in Nusa Dua, Indonesien. Es wäre ganz
gut, wenn sich die FDP zu diesen Zielen bekennen
würde.
({0})
Sigmar Gabriel als zuständiger sozialdemokratischer
Umweltminister hat sich nicht nur heute, sondern bereits
schon auf der Weltklimakonferenz Ende des letzten Jahres in Nairobi dazu bekannt und damit - die dort anwesend waren, haben es mitbekommen - begeisterte Reaktionen im Saal ausgelöst, und zwar deshalb, weil damit
deutlich wurde und wird: Wir wollen, dass alle mitmachen, und es müssen alle mitmachen. Aber Deutschland
erkennt seine Verantwortung als großer Industriestaat an.
Deutschland erkennt auch die ökonomischen, vor allem
die sozialen und ökologischen Chancen, die mit einer
konsequenten Bekämpfung des Klimawandels verbunden sind. Wir beenden das Schwarze-Peter-Spiel des
Geh du voran - wir warten ab. Das ist die große Verantwortung, die wir gemeinsam im Hause tragen.
Das deutsche Bekenntnis zu den 40 Prozent ist das
Pfand dazu, dass die Bundeskanzlerin und der Bundesumweltminister in der Lage sind, die internationale
Klimadebatte auf dem G-8-Gipfel und dann bei der
Weltklimakonferenz in Indonesien in Gang zu bringen.
Zu den einzelnen Maßnahmen, die heute vorgestellt
wurden - ich denke, das ist in sehr umfassender Weise
geschehen -, will ich im Einzelnen nichts sagen. Ich
möchte nur erwähnen, dass wir national entsprechend
handeln müssen, wenn wir mit unseren Reduktionszielen
glaubwürdig sein wollen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass Minister Gabriel heute ein Acht-PunktePaket vorgelegt hat. Damit ist eine Senkung um
270 Millionen Tonnen im Bereich der Treibhausgase
verbunden. Wir werden als Sozialdemokraten auf eine
schnelle Umsetzung drängen.
({1})
Ein Mittel dazu ist der Emissionshandel mit CO2Verschmutzungsrechten. Es ist schon eingestanden worden, dass er bisher - man kann lange darüber streiten,
woran das liegt - nicht sehr effektiv war. Lobbyinteressen haben sich durchgesetzt. Aber wir haben hinzugelernt, sicherlich auch mithilfe von klaren Hinweisen aus
Brüssel, die im Übrigen für fast alle Staaten Europas galten.
Das Signal des jetzigen Plans an die Investoren, an
die Wirtschaft und an die Börsen ist klar: Die Anzahl der
Verschmutzungsrechte geht massiv nach unten. Stellt
euch also ab 2008 darauf ein, dass es weniger Verschmutzungsrechte gibt! Seid euch im Klaren, dass es ab
2013 noch massiver nach unten gehen wird! Das ist politisch geboten und ökonomisch machbar und löst im Übrigen weitere Innovationen aus. Wer sich frühzeitig darauf einstellt, wird Vorteile haben.
({2})
Ich bin mir sicher: Neben dieser Verknappung der
Zertifikate brauchen wir noch ein weiteres Signal, das
wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens geben
müssen. Das CO2 braucht einen Preis, und es braucht ei9500
nen funktionstüchtigen Mechanismus, mit dem der Preis
gebildet werden kann. Alle mit dem Thema befassten
Umweltökonomen - mittlerweile auch viele gesellschaftlichen Gruppen wie zuletzt Vertreterinnen und
Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche haben sich dafür ausgesprochen. Ich begrüße es daher
- es wäre gut, wenn dies noch andere begrüßen würden,
statt nur herumzulamentieren -, dass sich der Bundesumweltminister nicht nur in Interviews in den letzten
Tagen, sondern auch heute in der Regierungserklärung
klar für die Versteigerung von Zertifikaten ausgesprochen hat. Ich habe den Eindruck, die Opposition, die das
gerne zum Hauptthema in den nächsten Wochen gemacht hätte, ist auf dem falschen Fuß erwischt worden.
So sind diese relativ emotionalen Reaktionen zu erklären.
Die Krokodilstränen gerade der Energieversorger sind
an vielen Stellen, aber besonders an dieser Stelle fehl am
Platze. Mit einem Versteigerungsanteil von 10 Prozent
machen wir nichts anderes, als 10 Prozent der ungerechtfertigten Zusatzprofite der letzten Jahre abzuschöpfen.
({3})
Es ist völlig klar: Im Rahmen der Versteigerung kann
Deutschland seine wahre europäische Vorreiterrolle beweisen. Kollege Gysi hat vorhin behauptet, in Europa
würden alle in vorbildlicher Weise vorangehen. Das ist
mitnichten so. Warum können in Europa höchstens
10 Prozent versteigert werden? Es gab ja eine Richtlinie.
Einige Minister haben sich in ihrem Verantwortungsbereich - ich will das nicht näher ausführen - nicht durchsetzen können, sodass nicht mehr versteigert werden
konnte.
Für die europäische Debatte ist es meines Erachtens
sehr wichtig, dieses Signal jetzt zu setzen. Wir als
Deutschland müssen mutig vorangehen. Wer eine umfassende Versteigerung nach 2012 für richtig hält, muss
jetzt dafür sorgen, dass es hier in Deutschland den Einstieg gibt. Das Parlament hat in diesem Zusammenhang
in den nächsten Wochen eine besondere Verantwortung;
dessen sollten wir uns bewusst sein.
({4})
Als nächster Redner hat der Kollege Andreas Jung
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis
vor einiger Zeit war Klimawandel ein Thema, das vornehmlich lokale Agenda-Gruppen bei ihren mehr oder
weniger gut besuchten monatlichen Treffen beschäftigte.
({0})
In der letzten Woche hat sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum ersten Mal mit dem Weltklima befasst. Diese Gegenüberstellung zeigt, welche Dramatik
die Debatte um Klimaschutz erreicht hat, und zwar zu
Recht, wie ich finde; denn wir erkennen die ökologische
Dimension in viel größerer Tragweite als noch vor einigen Jahren. Heute wissen wir: Der Klimawandel findet
statt. Er hat uns erreicht. Er beschleunigt sich. Am Ende
wird es nur Verlierer geben.
Hinzu kommt, dass wir spätestens seit Nicholas Stern
wissen, dass es auch eine wirtschaftliche, eine ökonomische Seite gibt. Seine Botschaft ist klar und deutlich:
Nicht zu handeln, wird uns teuer zu stehen kommen weit teurer, als jetzt entschieden und konsequent zu handeln.
({1})
Ein dritter Aspekt rückt jetzt in den Mittelpunkt der
Debatte, auch durch ein von ehemaligen amerikanischen
Generälen und Admirälen vorgelegtes Gutachten. Sie
machen deutlich, dass Klimawandel einen sicherheitspolitischen Aspekt hat. Sie befürchten weltweite Spannungen, Konflikte und Flüchtlingsströme. Sie sagen:
Klimawandel wird zu einer ernsten Bedrohung für die
Sicherheit der Vereinigten Staaten.
({2})
Sie behaupten, dies könne Extremismus und Terrorismus
fördern.
Das alles in seiner ganzen Tragweite sagt uns meines
Erachtens, dass Klimawandel die globale Herausforderung im 21. Jahrhundert ist.
({3})
Ich finde, dass wir diese Erkenntnis all denjenigen unserer Partner vermitteln müssen, die sich bisher dem
Kiotoprozess verschließen und nicht im internationalen
Klimaschutz mitarbeiten.
Auch den Amerikanern müssen wir das immer wieder
sagen. Wir müssen ihnen sagen: Kein Staat dieser Welt
kann heute eine globale Führungsrolle beanspruchen,
der sich beim Klimaschutz verweigert.
({4})
Deshalb müssen wir die Vereinigten Staaten in diesen
Prozess hineinholen. Ich nenne sie als Erstes, weil sie
als weltweit größter Emittent natürlich eine Schlüsselrolle spielen; denn heute lehnen sich viele zurück und
sagen: Wenn diejenigen, die am meisten zur Verschmutzung beitragen, nichts machen, müssen wir erst
recht nichts tun.
Natürlich brauchen wir aber auch China und Indien.
Wir brauchen die Schwellenländer und die Entwicklungsländer. Es gibt Berechnungen, nach denen die
Entwicklungsländer ab dem Jahr 2020 mehr CO2 emittieren werden als die Industrieländer.
Andreas Jung ({5})
Das muss man erkennen und daraus den Schluss ziehen, dass auf diese globale Frage natürlich nur eine
globale Antwort gegeben werden kann.
Trotzdem entlastet uns das nicht von unserer Verantwortung. Wir als Industrieländer tragen den Hauptteil der
Verantwortung.
Deshalb ist es richtig, dass die Bundeskanzlerin, die
Bundesregierung und die Große Koalition sich zu unserer
Vorreiterrolle bekennen, die wir als Europäische Union
haben und die wir mit dem ganz konkreten Ziel verfolgen,
dass sich die Industrieländer verpflichten sollen, ihren
Treibhausgasausstoß um 30 Prozent zu reduzieren.
Dazu haben wir, die CDU/CSU und die SPD, uns in
unserem Nairobiantrag bekannt. Darin haben wir mit aller
Deutlichkeit gesagt: Um das Ziel einer Reduzierung um
30 Prozent zu erreichen, sind wir bereit, mehr zu machen.
Wir haben uns auf die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages berufen und uns dazu bereit erklärt,
unsere CO2-Emissionen bis 2020 um bis zu 40 Prozent zu
reduzieren.
({6})
Ich finde das Bekenntnis zu dieser Vorreiterrolle richtig. Gleichzeitig weiß ich, dass der eine oder andere in
der Wirtschaft Bedenken hat und ein 40-Prozent-Ziel
als Bedrohung empfindet. Ich bin der Überzeugung: Das
Gegenteil ist richtig. Ein 40-Prozent-Ziel und damit ein
engagierter Klimaschutz stellt keine Bedrohung dar, sondern bietet eine Chance für effizientes Wirtschaften und
auch eine Chance für Arbeitsplätze in Deutschland durch
neue Technologien.
Ich will das an einem Paradebeispiel belegen: an dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat nach ihrem Amtsantritt
die Mittel für dieses Programm von früher 300 000 Euro
mehr als vervierfacht und auf 1,4 Milliarden Euro im
Jahr bzw. über 5 Milliarden Euro insgesamt in dieser Legislaturperiode aufgestockt. Damit wird unglaublich viel
im Bereich der Reduktion von CO2-Emissionen erreicht.
Gleichzeitig profitiert aber auch der kleine Handwerksbetrieb vor Ort. Wir erleben hier regelrecht einen Aufschwung. Die Handwerksbetriebe können sich vor Aufträgen, die aus diesem Programm resultieren, kaum
retten. Schließlich sinken auch die Heizkosten. Davon
profitieren alle Bürger, sowohl Mieter als auch Selbstnutzer. Ich finde, das ist ein Paradebeispiel dafür, dass
Ökonomie und Ökologie keine Gegensätze sind und Klimaschutz auch als Chance begriffen werden kann.
({7})
Dasselbe gilt für den Bereich der regenerativen Energien, in dem wir führend sind in der Welt. Ich erinnere
mich an ein Gespräch mit Achim Steiner in Nairobi. Er
kam gerade zurück aus China und sagte, dass man dort
bei allem Widerwillen, der bezüglich einer Beteiligung
an internationalen Klimaschutzprogrammen herrscht,
die ökonomische Seite des Einsatzes dieser Energien erkannt habe und gerade ein milliardenschweres Programm zur Förderung regenerativer Energien auflegen
würde. Wir müssen, wie ich finde, an uns den Anspruch
stellen, auch zukünftig in diesem Bereich an der Spitze
zu stehen und Hauptexporteur dieser Technologien in
der Welt zu bleiben. Deshalb werden wir auch in Zukunft die Förderung in diesem Bereich fortführen und
noch verbessern. Das gilt für den Bereich der regenerativen Energien insgesamt, in besonderer Weise - das ist
schon angesprochen worden - für den Bereich der regenerativen Wärme.
({8})
Jetzt habe ich zwei Bereiche angesprochen, das Gebäudesanierungsprogramm und die erneuerbaren Energien. Hier machen wir nicht nur genauso viel wie RotGrün, indem wir alle Programme, die bisher aufgelegt
wurden, fortführen, sondern auch noch vieles darüber hinaus. Deshalb finde ich es schon verwunderlich - ich
komme jetzt zum Thema Emissionshandel -, wenn jetzt
der Nationale Allokationsplan der Bundesregierung vonseiten der Grünen angegriffen wird. Frau Künast hat vorhin gesagt, sie wolle sich gerne auf einen Wettbewerb
einlassen, nur nicht mit der SPD, weil die in ihrer damaligen Koalition der Bremser gewesen wäre. Aber ansonsten würde sie anbieten, in einen solchen Wettbewerb
einzutreten. Ich finde, wir als CDU/CSU haben allen
Grund, diesen Wettbewerb anzunehmen. Frau Künast
muss sich dabei aber schon gefallen lassen, nicht an dem
gemessen zu werden, was sie jetzt aus der Opposition
heraus fordert, sondern an dem, was die rot-grüne Bundesregierung getan hat.
({9})
Zu ihren Ausführungen, Arnold Schwarzenegger würde
Leute nach Deutschland schicken, um zu schauen, wie
man den Emissionshandel nicht aufziehen sollte, kann
ich nur sagen: Es gibt bisher nur eine einzige Form des
Emissionshandels, einen einzigen Nationalen Allokationsplan, und diesen hat der Kollege Trittin zu verantworten.
({10})
Abschließend noch eine Bemerkung hierzu. Die
Wahrheit ist am Ende immer konkret. Minister Gabriel
hat die Fakten genannt: Der damalige Minister Trittin
hat CO2-Zertifikate im Umfang von 510 Millionen Tonnen verteilt, wir aber werden erheblich weniger ausgeben und damit immerhin bedeutend mehr für Klimaschutz als die rot-grüne Bundesregierung machen. Ich
finde, auf diesem Weg sollten Sie uns zwar kritisch, aber
konstruktiv begleiten und unsere Leistung dann auch anerkennen.
({11})
Auch ich bin der Meinung, dass noch die eine oder
andere Diskussion zu führen ist. So wird ja darüber diskutiert, ob eine Versteigerung von Emissionszertifikaten
in dem Umfang, wie ihn die Europäische Union vorsieht,
richtig ist. Ich persönlich bin dafür. Es gibt viele Befürworter in den Reihen der Koalitionsfraktionen und auch
in den Reihen von CDU und CSU. Es gibt aber die eine
oder andere offene Frage. Diese Fragen werden wir im
Andreas Jung ({12})
Gesetzgebungsverfahren diskutieren. Ich glaube, das ist
der richtige Weg, und ich bin sicher, wir werden am
Ende gemeinsam zu einem guten Ergebnis kommen.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung zur Verkehrspolitik machen: Es ist ja unbestritten, dass auch der Verkehrssektor in den Klimaschutzprozess einbezogen werden muss. Genau dies geschieht auch im Bereich des
Pkw-Verkehrs mit der Umstellung der Bemessungsgrundlage für die Kraftfahrzeugsteuer auf den CO2-Ausstoß und
im Bereich des Flugverkehrs, indem er auf europäischer
Ebene in den Emissionshandel einbezogen werden soll.
Ich glaube, dass man sagen kann, dass hier unglaublich viel in Bewegung ist. Die Bundesregierung wird ihrer Verantwortung gerecht. Sie wird dabei von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion mit Nachdruck unterstützt,
auch deshalb, weil Klima schützen für uns als CDU
und CSU immer auch Schöpfung bewahren heißt.
Deshalb stehen wir an der Seite der Bundeskanzlerin, die
das Thema Klimaschutz zum Topthema in Europa und in
der ganzen Welt gemacht hat.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Klimaschutz steht ganz oben auf der politischen Agenda
- das zeigt auch die heutige Regierungserklärung zum
Klimaschutz -, und das ist gut so. Das sage ich auch als
Wirtschaftspolitiker. Bei der SPD steht das nicht erst seit
dem Stern-Review, dem IPCC-Report und der jetzt so
großen Medienöffentlichkeit weit oben.
Wir sollten uns zwischen Rot und Grün da nicht
schlechterreden, als wir waren oder sind. Zugegeben:
Der Emissionshandel hat nicht so funktioniert, wie wir
uns das vielleicht erhofft haben. Aber wir haben in den
Jahren der rot-grünen Koalition auch andere Markenzeichen wie Erneuerbare-Energien-Gesetz, Ökosteuer oder
Kraft-Wärme-Kopplung gesetzt. Wir haben in der Großen Koalition daran mitgewirkt, dass es ein CO2-Gebäudesanierungsprogramm, den Gebäudeenergieausweis
oder zum Beispiel auch eine Biokraftstoffstrategie gibt.
({0})
Klar ist heute aber auch geworden: Das alles reicht
noch nicht. Wir brauchen ein Aktionsprogramm Klimaschutz - das ist in den Eckpunkten von Sigmar
Gabriel heute vorgestellt worden und von uns zu unterstützen -, das noch viel ambitionierter und wesentlich
konsequenter als alles ist, was wir bisher getan haben. Es
ist ebenfalls deutlich geworden: Wir brauchen es vor allem zur Sicherung der Bewohnbarkeit unseres Planeten
für die kommenden Generationen.
Diese Aufgabe, Klimaschutz, ist für sich genommen
schon schwierig genug. Politik wird allerdings zur Kunst
- man sollte das in solchen Debatten gar nicht verschweigen -, wenn es darum geht, Klimaschutz mit ökonomischen und sozialen Zielen zu verbinden. Manches
läuft da ganz automatisch, aber man muss schon sehr
auch auf die Einzelheiten achten.
Es geht also um nicht weniger als um Sicherung der
Bewohnbarkeit des Planeten, aber eben auch um Sicherung unseres Wohlstands und um Gewährleistung unserer Versorgung mit sicherer, aber auch bezahlbarer Energie. Es geht ebenfalls um Arbeitsplätze, Arbeitsplätze im
Bereich der Zukunftsenergien, im Bereich von Effizienztechnologien, aber durchaus auch - das ist im Vortrag des
Bundesumweltministers ebenfalls deutlich geworden im konventionellen Kraftwerkssektor.
Eines werden und dürfen wir nicht zulassen: eine
Neueinteilung der Welt in Gut und Böse nach dem
Motto: Gut sind die, die sich um die erneuerbaren Energien kümmern, und böse sind die anderen, die über Modernisierung und Arbeitsplätze etwa in konventionellen
Bereichen sprechen. - Ich glaube, wir haben heute gelernt, dass wir auf Sicht beides benötigen.
({1})
Deutschland als Industrieland und als Land mit einem
durch den Einsatz fossiler Brennstoffe geprägten Kraftwerkspark kommt im internationalen Klimaschutz eine
etwas andere Aufgabe zu als einem Land wie Frankreich, das im Wesentlichen von Kernenergie lebt und
nach wie vor stark agrarisch geprägt ist. Wir haben gezeigt, dass wir zu Hause erneuerbare Energien entwickeln und verstromen können und dass wir diese Technologien exportieren können. Das ist eine Erfolgsstory,
die wir fortsetzen wollen.
Wir werden zeigen, dass wir zu Hause weitere Techniken zur umweltfreundlichen und klimaverträglichen
Verstromung fossiler Energien entwickeln können.
Wenn uns das gelingt und wenn wir Länder wie China
oder Indien davon überzeugen, nicht nur, wie bisher,
Windkraftanlagen von Deutschland zu importieren, sondern zum Beispiel auch umweltfreundliche Autos,
stromsparende Elektrogeräte und konventionelle Kraftwerkstechnologien, dann werden wir ökologischen Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg miteinander verbunden haben. Nicht weniger erwarten die Menschen von
uns.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Groneberg
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin unserem Umweltminister Sigmar Gabriel wirklich dafür
dankbar, dass er so deutlich ausgeführt hat, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Entwicklungsländer
hat. Insofern freue ich mich doppelt - mir steht wenig
Zeit zur Verfügung -, dass ich jetzt auf die konkreten
Maßnahmen eingehen kann, die wir hier in Deutschland
auf den Weg gebracht haben, um auf den Klimawandel
in den Entwicklungsländern zu reagieren und um diesen
Ländern zu helfen.
Sigmar Gabriel hat neben der politischen und der zeitlichen zu Recht die moralische Dimension betont, die
wir ausfüllen müssen. Daraus resultiert, dass in den Industrie- und Entwicklungsländern ein zweigleisiger Ansatz verfolgt werden muss: Die Bekämpfung der Ursachen und die Anpassung an die bereits eingetretenen
Folgen müssen einander ergänzen. - Das ist keine neue
Erkenntnis. Wir haben dies in den vergangenen Jahren
nicht nur in etlichen Anträgen deutlich gemacht; wir sind
vielmehr vor allen Dingen im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung bereits aktiv
Handelnde.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit räumt
dem Ausbau erneuerbarer Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz einen Vorrang ein. Unser vielfältiges Engagement auf diesem Gebiet dient dazu, den
Zugang zu sauberer Energie zu verbessern, klima- und
umweltschädliche Folgen zu reduzieren und zugleich die
Armut zu mindern.
Bereits 2004 wurde im Zusammenhang mit der Internationalen Konferenz für Erneuerbare Energien in Bonn
durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul die Sonderfazilität für erneuerbare Energien und Energieeffizienz
- das ist ganz wichtig - auf den Weg gebracht. Wegen
der starken Nachfrage dieses erfolgreichen Instruments
hat diese Große Koalition die Zuschussmittel für 2007
bereits auf 50 Millionen Euro verdoppelt und das ursprünglich auf fünf Jahre angelegte Programm damit
dauerhaft eingerichtet. Ich bedauere sehr, dass Frau
Künast ausgerechnet jetzt nicht da ist; denn das sollte sie
sich einmal anhören.
({0})
Auch bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die
Entwicklungsländer, insbesondere in den Bereichen Infrastruktur, Wasserwirtschaft, Landwirtschaft und Gesundheitswesen. Darüber hinaus unterstützten wir den
Klimafonds Global Environment Facility zur Anpassung an den Klimawandel in den ärmsten Ländern in
diesem Jahr mit einem Finanzierungsbetrag von
25 Millionen Euro.
Außerdem ist es uns wichtig, den in Nairobi beschlossenen Anpassungsfonds auf den Weg zu bringen, damit
er auf der nächsten Weltklimakonferenz in Bali verabschiedet werden kann. Dieses innovative internationale
Finanzierungsinstrument ist ein Schritt in die richtige
Richtung. Mithilfe der durch den projektbezogenen
Emissionshandel erzielten Abgaben könnten in Zukunft
Milliarden von Dollar in den Anpassungsfonds eingespeist werden. Es ist zwingend notwendig, dass die Entwicklungsländer, insbesondere die in Afrika, an dem im
Rahmen des Kiotoprotokolls vereinbarten Instrument
des Clean-Development-Mechanism - es ist heute
schon mehrfach erwähnt worden - stärker partizipieren. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wir die Finanzierung dieser emissionsmindernden Maßnahmen
in Entwicklungsländern ausweiten, indem wir zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen
beitragen. Darin sind wir uns mit den Wirtschaftspolitikern einig.
Ich möchte einfach einmal eine Zahl nennen. Wir haben zurzeit 45 Partnerländer, in denen wir im Energiebereich und im Klimabereich tätig sind. Dafür haben wir
ein Volumen von 1,6 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Allein bei fünf Projekten haben wir 3,4 Millionen
Menschen den Anschluss an zuverlässige und moderne
Energieversorgung ermöglicht. Es wäre natürlich angebracht, hierfür konkrete Beispiele zu nennen. Dafür fehlt
leider die Zeit. Wichtig ist, dass sich immer mehr Regierungen in den Entwicklungsländern aufmachen, sich vor
allen Dingen im Klimabereich ganz ehrgeizige Ziele zu
setzen. Sie tun das aus Überzeugung; denn sie wissen,
dass es für ihre eigene positive Entwicklung zwingend
notwendig ist. Darin wollen wir sie unterstützen.
({1})
Ich möchte noch etwas zu unserem eigenen Verhalten
sagen. Eine Diskussion über das, was, vorsichtig umschrieben, als innovative Finanzierungsinstrumente
bezeichnet wird, ist bei uns in Deutschland überfällig.
Ich erwähne bewusst die Reizwörter Ticketabgabe und
Kerosinsteuer. Herr Kauch, Ihr Antrag leistet leider
keinen positiven Beitrag dazu; denn seine Ausrichtung
geht an vielem vorbei, was wir auf den Weg bringen
müssen.
Ich frage mich, warum wir hier in Deutschland eine
offene Diskussion scheuen. Andere EU-Länder sind
schon längst auf diesem Feld unterwegs. Wir beklagen
den massiven CO2-Ausstoß, gleichzeitig behandeln wir
Bahn und Flugzeug mit ihren unterschiedlichen Emissionen sehr ungerecht. Wir müssen da aktiv werden.
Also wende ich mich einfach einmal an die mutlosen
Kollegen hier: Die Behauptung, es sei für unsere Luftverkehrsgesellschaften nicht zu finanzieren, halte ich für
eine faule Ausrede; das muss ich jetzt einmal sagen.
Wettbewerb kann und muss man international organisieren. Wenn wir da auch mit der FDP auf einen Nenner
kommen, dann können wir das zusammen erreichen.
Herzlichen Dank.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Rita SchwarzelührSutter von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die unbequeme Wahrheit ist bei uns angekommen. Klimapolitik ist mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Heute ist der Auftakt, um die Maßnahmen zum
Klimaschutz zu beschleunigen.
Wir verfolgen im Verkehrsbereich ein breit gefächertes Maßnahmenpaket, das aus preispolitischen, technischen, ordnungsrechtlichen sowie Aufklärungs- und
Informationsmaßnahmen besteht und den Aspekt der
Wettbewerbsneutralität und der sozialen Verträglichkeit
beachtet. Wir brauchen verbindliche CO2-Obergrenzen
in der EU, nachdem die Selbstverpflichtung der Automobilindustrie aller Voraussicht nach nicht erfüllt wird.
Das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2012 auf 120 Gramm pro
Kilometer zu senken, muss durch innovative Antriebstechnik und die Biokraftstoffstrategie erreicht werden.
Deshalb muss auch die ACEA-Zusage der Automobilindustrie zur Reduzierung der spezifischen CO2-Emissionen von Neufahrzeugen weiterentwickelt werden. Die
Potenziale und technologischen Innovationen zur Erreichung der Minderungsziele sind vorhanden. Jetzt geht es
darum, sie endlich zu nutzen.
Die Autoindustrie in Deutschland muss ernsthaft umdenken und dafür sorgen, dass effizientere Motoren den
Markt durchdringen und neue Antriebstechnologien
schnellstmöglich auf den Markt kommen.
({0})
Die Automobilindustrie muss die Chancen der Technologieführerschaft nutzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dass der designierte VDA-Präsident auch Mitglied
beim BUND ist, wird hoffentlich dazu führen, dass der
Automobilverband mit einer konsequenten Klimastrategie nachhaltig zur CO2-Minderung beitragen wird.
({1})
Nun ist der Mensch, insbesondere der Autofahrer und
die Autofahrerin, eine träge Spezies. Die Warnungen vor
den Auswirkungen des Klimawandels alleine reichen
zum Umsteigen nicht aus. Anreize zum Kauf von klimafreundlichen Autos müssen verstärkt über den Geldbeutel erfolgen. Die Umstellung auf die CO2-basierte KfzSteuer ist in der Ressortabstimmung und soll zum
1. Januar 2008 in Kraft treten. Käufer CO2-armer Neuwagen werden dann mit weniger Kfz-Steuer belastet als
diejenigen, die sich für klimaschädliche Modelle entscheiden. Meiner Meinung nach sollte jedes Gramm
CO2 mehr einen deutlichen Unterschied machen.
Damit der Autofahrer gleich beim Kauf eines neuen
Autos die CO2-Bilanz erkennen kann, soll ihm der Klimapass helfen. Noch in diesem Jahr wird er vom Bundesverkehrsministerium eingeführt.
Ich begrüße auch, dass unser Umweltminister heute
angekündigt hat, dass die steuerlichen Privilegien für
spritfressende Dienstfahrzeuge auf den Prüfstand sollen.
Mit der richtigen Fahrweise lassen sich leicht bis zu
25 Prozent Kraftstoff sparen, ohne auf Fahrkomfort,
Fahrspaß und zügiges Fortkommen verzichten zu müssen. Deshalb investiert das Verkehrsministerium in die
Schulung der Fahrlehrer in spritsparender Fahrweise.
Spritsparend Fahren heißt auch, mit angemessenem
Tempo zu fahren. Herr Dr. Loske, wir sind offen für ein
Tempolimit, aber wir setzen erst einmal auf die Maßnahmen, mit denen man bei der CO2-Einsparung nicht kleckert, sondern wirklich klotzen kann.
({2})
Um eine Tonne CO2 zu erzeugen, braucht ein Flugzeug nur 3 000 Kilometer, ein Pkw 7 000 Kilometer und
ein Zug 17 000 Kilometer pro Person. Fliegen kostet
dennoch immer weniger. Die Prognosen gehen von einer
Verdoppelung der Passagierzahlen im Luftverkehr in
den nächsten 20 Jahren aus. Unter den Flugzeugen gibt
es erhebliche Unterschiede. Wir haben ein Vorzeigemodell, den A380, das 3-Liter-Fahrzeug unter den Flugzeugen. Deshalb ist die Einführung emissionsabhängiger
Landegebühren wichtig. Ich bin froh, dass München und
Frankfurt am Main ab dem 1. Januar 2008 diesbezüglich
eine dreijährige Testphase starten. Das wird sich sicherlich auf die Flotte der Luftverkehrsgesellschaften auswirken.
Ein ganz wichtiges Instrument zur Förderung der Energieeffizienz im Luftverkehr ist es, den Luftverkehr in den
Emissionshandel einzubeziehen. Deutschland ist hierbei
Motor. Wir müssen darauf achten, dass wir in der EU
eine Einigung erzielen, damit auch die ICAO dies im
Herbst aufgreift, dies global umgesetzt wird und damit
auch der Luftverkehr seinen Beitrag zum Klimaschutz
leistet.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sofort.
Mit der gestern vom Bundeskabinett verabschiedeten
Regelung zur Energieeinsparverordnung schaffen wir
eine wesentliche Voraussetzung für mehr Transparenz
auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt. Der Energieausweis ist wirklich ein Fortschritt. Aber wir dürfen
nicht stehen bleiben. Wir brauchen in Zukunft für Neubauten das Passivhaus als Standard. Für Altbauten muss
das Niedrigenergiehaus 40 zum Standard werden.
Das Gebäudesanierungsprogramm wurde schon oft
angesprochen.
Frau Kollegin, Ihre Zeit ist lange abgelaufen. Ich
bitte, zum Schluss zu kommen.
Wir brauchen eine Verlängerung des CO2-Gebäudesanierungsprogramms über 2009 hinaus.
Das Klima ist kein träges Faultier, sondern eine wilde
Bestie, sagt Wallace Broecker. Deshalb lassen Sie uns
auch keine Faultiere sein, sondern den Klimaschutz angehen, und zwar aktiv, nachhaltig und mutig.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3355, 16/4610, 16/4760 und 16/5129
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen, wobei die Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/3355 und 16/4760 federführend beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden
sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel Für eine radi-
kale und konsequente Klimapolitik. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4766, den Antrag der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3283 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktio-
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel Klares Signal für die Kyoto-II-
Verhandlungen auf der UN-Klimakonferenz in Nairobi
setzen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/4767, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3026 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel Trendwende beim Klimaschutz im Ver-
kehr - Nachhaltige Mobilität für alle ermöglichen. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/5135, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/4416 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/5135 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/4429 mit dem Titel Wirksame Kli-
maschutzmaßnahmen im Straßenverkehr ergreifen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vorschläge des Sachverständigenrates aufgreifen - Tarifrecht flexibilisieren, auf Mindestlöhne verzichten, Bürgergeld einführen
- Drucksache 16/4864 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schnell handeln für eine umfassende Mindestlohnregelung
- Drucksache 16/5102 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dirk Niebel von der FDP-Fraktion das
Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Süddeutsche Zeitung überschreibt ihren
heutigen Kommentar mit Koalition der Qual.
({0})
Seit fast zwei Jahren vergraben und verschanzen sich die
Schwarzen und die Roten in ihren ideologischen Schützengräben.
({1})
Den Medien können wir entnehmen, dass es jetzt zum
Ausbruch offener Kampfhandlungen gekommen ist.
({2})
Die Situation in der Bundesregierung ist desolat. Das
sieht man nicht nur an den öffentlichen Diskussionen,
sondern auch an dem Klima, das in der Koalition
herrscht. Die Folge davon ist, dass die Lösung der Probleme der Menschen in den Hintergrund und Symbolpolitik in den Vordergrund tritt.
({3})
Diese Symbolpolitik wird von den Schwarzen und
den Roten immer wieder am Thema Mindestlöhne festgemacht. Hierüber wird gestritten wie die Kesselflicker,
und man versucht, die Menschen glauben zu machen,
dass man ihre Lebenssituation verbessern könnte. Im Ergebnis wird die Situation der Menschen aber immer
schlechter, weil Sie nicht verstehen, dass es in diesem
Land gar nicht um Mindestlöhne, sondern um Mindesteinkünfte geht.
({4})
Die Mindesteinkünfte der Menschen in Deutschland
werden immer dann niedriger, wenn sie durch Steuern
und Abgaben stärker belastet werden;
({5})
denn ein Mindestlohn, der vom Arbeitgeber gezahlt werden muss, kommt beim Arbeitnehmer in aller Regel nicht
an. Diese Regierung hat, seit sie im Amt ist, dreist in die
Taschen der Bürgerinnen und Bürger gegriffen und kräftig abkassiert. Sie hat das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen immer weiter geschmälert. Durch ihr Handeln kommt sie immer weiter weg von der notwendigen
Erhöhung der Mindesteinkünfte der Menschen in diesem
Land.
({6})
Mindestlöhne wirken nicht, wenn sie zu niedrig sind,
und wenn sie zu hoch sind, führen sie gerade bei Geringqualifizierten zum Verlust von Arbeitsplätzen, und zwar
im Inland und in der legalen Wirtschaft. Wenn ein Mindestlohn zu hoch ist, wenn also der Preis, den ein Arbeitnehmer für seine Leistung bekommt, nicht mit der Leistung in Einklang steht, dann wird diese Arbeitsleistung
in der legalen Wirtschaft nicht mehr nachgefragt. Das
verbessert die Chance nicht, sondern vernichtet Chancen, insbesondere für Geringqualifizierte.
Es nützt gar nichts, wenn die Union ein wenig zappelt
und im Endeffekt vielleicht nur das Entsendegesetz ausweitet; denn auch das sind Mindestlöhne. Wir müssen
dafür sorgen, dass die Menschen die Chance erhalten,
entsprechend ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit am
Erwerbsprozess teilzunehmen. Wenn das Geld, das sie
damit erwirtschaften können, nicht ausreicht, müssen
wir dafür sorgen, dass sie einen Zuschuss aus einem
Steuer- und Transfersystem aus einem Guss erhalten:
({7})
ein Bürgergeld, das dafür sorgt, dass Erwerbstätigkeit
auch für Geringqualifizierte möglich ist. Wir brauchen in
Deutschland einen geordneten Niedriglohnsektor, der
mit dem Steuersystem kombiniert wird. Diese Bundesregierung hat auf diesem Gebiet aber nicht einmal den
Hauch von Lösungswillen gezeigt.
Das Konzept, das der thüringische Ministerpräsident
vonseiten der Union vorgelegt hat, ist nicht einmal durch
die Parteigremien gegangen. Es würde im Übrigen auch
nicht zum Ziel führen; denn wir brauchen ein bedarfsorientiertes Bürgergeld und kein bedingungsloses Bürgergeld. Wir brauchen ein Bürgergeld, das diejenigen unterstützt, die sich nicht allein helfen können, die die Hilfe
der Allgemeinheit brauchen. Wir brauchen kein Bürgergeld, das jeder bekommt, auch wenn er Millionär ist oder
nicht bereit ist, zu arbeiten. Bedingungslosigkeit ist leistungsfeindlich!
({8})
Wir brauchen ein Steuer- und Transfersystem aus einem Guss, kombiniert mit einer Öffnung der Tarife, damit in Deutschland wieder die Arbeit angeboten werden
kann, die heute nicht mehr angeboten wird, weil sie einfach zu teuer ist. Dann hätten viele Menschen wieder
eine Chance zur Teilhabe.
Ich weiß, dass der Kollege Generalsekretär der SPD
nachher noch reden wird. Deswegen möchte ich etwas
anführen, was er kritisiert hat: das Faktotum. Das Faktotum ist laut wissen.de eine vielseitige, aufgrund
langjähriger Dienste unentbehrliche Hilfskraft. Das ist
also ein durchaus positiv besetzter Begriff.
({9})
Ein Faktotum gab es früher in fast jedem mittleren Betrieb.
({10})
Das waren Menschen, die Dienste gemacht haben, die
einfache Tätigkeiten ausgeführt haben, die Möbel von A
nach B getragen haben, die den Hof gereinigt haben, die
einmal etwas repariert haben und die für die innerbetriebliche Kommunikation bestimmt weit wichtiger waren als jedes moderne Serversystem. Ein solches Faktotum als Beispiel für jemanden, der einfache Tätigkeiten
ausführt, gibt es heute nicht mehr, weil sich ein Betrieb
so einen Arbeitnehmer, wenn er ihn entsprechend der
unteren Tariflohngruppen der meisten Branchen bezahlen müsste, schlichtweg nicht leisten könnte.
Wären Sie in der Lage, einen solchen Menschen entsprechend seiner Produktivität zu bezahlen, hätte er zwar
ein geringes eigenes Einkommen, aber Sie hätten viele
positive Effekte: Dieser Mensch hätte mehr Selbstwertgefühl. Denn erwachsene Menschen kümmern sich in aller Regel lieber selbst um ihr Einkommen, als dass sie
Taschengeld von der Allgemeinheit empfangen.
({11})
Dieser Mensch hätte geringere Schwierigkeiten, was die
psychosozialen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit anbetrifft. Denn Arbeitslosigkeit macht krank. Wenn man
auch nur für ein bisschen, für ein geringes Entgelt arbeiten kann,
({12})
dann hat man bessere Chancen, gesund zu bleiben, und
man fühlt sich wohler.
({13})
Außerdem hätte dieser Mensch zumindest während der
Arbeitszeit nicht mehr die Möglichkeit, schwarzzuarbeiten. Auch das ist ein Gesichtspunkt, den man durchaus
berücksichtigen müsste.
Damit aber jemand, der arbeitet, mehr hat als jemand,
der nicht arbeitet, brauchen Sie einen Ausgleichsmechanismus, der möglichst wenige Verwerfungen am Arbeitsmarkt mit sich bringt. Mindestlöhne vernichten solche Arbeitsplätze. Kombilöhne führen zu Lohndumping,
weil ein Arbeitgeber oder ein Arbeitsplatz subventioniert
wird. Ein Steuer- und Transfersystem aus einem Guss, in
Form eines Steuerzuschusses im Einkommensteuersystem, wie wir es vorschlagen, minimiert diese negativen
Effekte und führt dazu, dass Menschen mit geringen
Qualifikationen ein existenzsicherndes Einkommen bekommen, führt dazu, dass Arbeitsplätze entstehen, die es
heute in der legalen Wirtschaft nicht mehr gibt. Dadurch
steigen auch die Möglichkeiten für Konsum und Steuereinnahmen in diesem Land. Denn jemand, der arbeitet
und mehr verdient als jemand, der nicht arbeitet, kann
auch mehr konsumieren, und der Staat hat auch mehr
Einnahmen.
Kommen Sie raus aus Ihren Schützengräben, aber
nicht um sich gegenseitig im offenen Gefecht zu begegnen, sondern um die Probleme der Menschen in diesem
Land zu lösen. Das ist Ihre Aufgabe, dafür werden Sie
Große Koalition genannt - nicht etwa dafür, dass hier so
viele von Ihnen sitzen.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ronald Pofalla von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
fünf Tagen ist der 1. Mai.
({0})
Wir werden am 1. Mai einen Überbietungswettbewerb in
Sachen Mindestlohn haben. 7,50 Euro Mindestlohn fordern die Gewerkschaften, 8,50 Euro fordert die Linkspartei,
({1})
und bei den Grünen weiß man nicht so richtig. Vielleicht
kommen die noch auf die Idee, einen Mindestlohn von
10 Euro zu fordern. Ich kann nur sagen: Willkommen in
Fantasia! Alle diese Forderungen gehen an der Realität
und der Situation der Bundesrepublik Deutschland vorbei.
({2})
Dann gibt es da einen Herrn Bsirske, der am 1. Mai
wieder öffentlich einen Mindestlohn von 7,50 Euro fordern wird.
({3})
Er will danach - so habe ich es der Presse entnommen sogar auf Mindestlohntour gehen. Derselbe Herr Bsirske
hat als Vorsitzender von Verdi in Thüringen einen Tarifabschluss unterzeichnet, der einen tariflichen, für allgemeinverbindlich erklärten Höchstlohn - ich wiederhole:
Höchstlohn - von 4,45 Euro vorsieht. Und so einer fordert einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Das passt nicht
zusammen, und darauf muss man hinweisen.
({4})
Das ist übrigens kein Einzelfall. Verdi hat reihenweise
Tarifverträge abgeschlossen, in denen festgelegt ist, dass
die unterste Lohngruppe zwischen 4 und 5 Euro pro
Stunde liegt. So viel zur Ehrlichkeit bei der Forderung
nach einem Mindestlohn für alle.
Um jedes Missverständnis auszuräumen, will ich hier
für die Union klar und deutlich sagen: Die Union akzeptiert kein Lohndumping, das zu menschenunwürdigen
Bedingungen in Deutschland führt.
({5})
CDU und CSU akzeptieren keinen sittenwidrigen Lohn.
({6})
Wir sind gegen sittenwidrige Löhne in Deutschland und
werden auf so etwas entsprechend reagieren.
({7})
Die Verletzung von Arbeitnehmerrechten ist für uns
in diesem Zusammenhang nicht hinnehmbar. Sittenwidrige Löhne sind in Deutschland nach unserer Auffassung gesetzlich zu verbieten. Hier reicht die Anwendung
des Richterrechts nicht aus. Wir brauchen, und zwar zum
ersten Mal in Deutschland, ein unmissverständliches
Verbot des Gesetzgebers. Wir sind dazu bereit, sittenwidrige Löhne in Deutschland gesetzlich zu verbieten.
({8})
Die Frage des angemessenen Lohns muss geklärt
werden. Damit aber überhaupt ein angemessener Lohn
gezahlt werden kann, müssen zunächst Arbeitsplätze
entstehen. Über diesen Punkt müssen wir reden. Das Ziel
der Union lautet - das ist glasklar -: Wir wollen Arbeit
für alle, und wir wollen die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter substanziell senken, vor allem in der Gruppe
der Geringqualifizierten.
({9})
Wer die Bedeutung dieses Ziels angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen nicht erkennt, der lebt an der Wirklichkeit in Deutschland vorbei. Annähernd 1,8 Millionen
der derzeit mehr als 4 Millionen Arbeitslosen sind gering qualifiziert. Für sie müssen wir auf dem Arbeitsmarkt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie die
Möglichkeit erhalten, eine Arbeit zu finden und aus der
Arbeitslosigkeit herauszukommen. Mit uns ist alles
machbar, was in Deutschland Arbeit für alle schafft.
Aber der Jobkiller des einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns für ganz Deutschland ist mit uns nicht zu machen, und er wird mit uns nie zu machen sein.
({10})
- Herr Niebel, alle, die dies wollen, werden sich - darauf
können Sie sich verlassen - an der Christlich Demokratischen Union und an der Christlich-Sozialen Union die
Zähne ausbeißen. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn für ganz Deutschland wird es mit der Union
nicht geben.
({11})
Unsere Devise lautet: Leistung muss sich lohnen. Wer
arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.
Deshalb sind wir für einen Kombilohn.
({12})
An dieser Stelle möchte ich auf die Situation der sogenannten Aufstocker hinweisen. Sie werden in vielen
Fällen keineswegs geknechtet, wie oft behauptet wird.
An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die Wirklichkeit;
ich rate Ihnen allen, sich die Zahlen genau anzusehen.
Da arbeiten beispielsweise Alleinerziehende halbtags
und erhalten zusätzliche staatliche Hilfen, und da arbeiten ältere Menschen in Teilzeit, um nicht tatenlos auf
ALG II angewiesen zu sein. Diese Bürger leisten etwas
und engagieren sich. Diese Menschen wollen arbeiten,
können aber aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht
Vollzeit bzw. nur teilweise arbeiten. Aber sie haben ein
Anrecht darauf, als Aufstocker ein menschenwürdiges
Einkommen in Deutschland zu bekommen, indem auf
ihre Arbeitsleistung eine Transferleistung obendrauf gelegt wird. Deshalb ist dieses Instrument richtig
({13})
und nicht etwa ein Beweis dafür, dass wir in Deutschland einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn brauchen.
({14})
Herr Kollege Pofalla, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Pofalla, ist Ihnen bekannt, dass die Aufstocker
nicht nur Teilzeitbeschäftigte sind, sondern dass unter
ihnen gut eine halbe Million Menschen sind, die in Vollzeit arbeiten, aber trotzdem ergänzend ALG II erhalten,
weil ihr Lohn zu gering ist? Ist Ihnen ferner bekannt,
dass Sie die Ergebnisse der von Ihnen gerade positiv beschriebenen Situation durch die Verschlechterung der
Zuverdienstmöglichkeiten wieder zunichtemachen?
Mir ist bekannt, dass es auch Vollzeitkräfte gibt, die
Aufstocker sind und gefördert werden. Ich will Ihnen
antworten, indem ich ein persönliches Beispiel anführe.
Mein Vater, der der Kriegsgeneration angehörte, hat als
Facharbeiter 20 Jahre lang in der Holzindustrie gearbeitet. Als er aufgrund der damaligen Strukturkrise arbeitslos wurde, hat er sich zu Beginn der 70er-Jahre - aus seiner Sicht: leider; er hat es aber getan - dafür entscheiden
müssen, die letzten 15 Jahre seines Arbeitslebens im Bewachungsgewerbe zu arbeiten. Ich habe mit ihm immer
wieder darüber gesprochen, welchen Lohn er bekommen
hat. Wenn Sie ihn auf heute hochrechnen, dann würde
dieser Lohn als außerordentlich gering gelten.
Was hat er getan? Er hatte eine fünfköpfige Familie
zu ernähren und stand vor der Frage, ob er als Geringqualifizierter für den Rest seiner beruflichen Laufbahn
arbeitslos bleibt oder in den Arbeitsmarkt zurückkommt.
Er hat sich dafür entschieden, in den Arbeitsmarkt zurückzugehen. Bei einem geringen Lohn hat er seine fünfköpfige Familie durch eine erhöhte Stundenzahl, die er
erbracht hat, sowie über Wochenendschichten, die er gefahren hat, ernähren können. Ich bin stolz auf ihn.
Ich sage Ihnen: Wenn wir einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland einführen, vernichten
wir Hunderttausende Arbeitsplätze.
({0})
Diese Menschen hätten keine Chance mehr, auf dem Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu finden. Deshalb sagen
wir: Dieses Aufstockerinstrument ist richtig, es ist aber
kein Beweis dafür, dass man in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn fordern muss.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der einheitliche gesetzliche Mindestlohn ist süßes Gift. Opfer wären vor allem ostdeutsche Beschäftigte, Berufseinsteiger
und Halbtagskräfte. Insgesamt würden Hunderttausende
Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, wenn aus Berlin per
Gesetz ein Stundenlohn von 7,50 Euro verordnet würde.
Ein gesetzlicher Mindestlohn in dieser Höhe wäre eindeutig zutiefst unsozial; denn davon würden nicht alle
gleich betroffen. Vor allem einfache Jobs für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte würden dadurch vernichtet.
Wir müssen die Sorgen hinsichtlich Jobverlagerungen
ins Ausland und Schwarzarbeit ernst nehmen. Experten
haben errechnet, dass wir bei einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro einen enormen Zuwachs der Schwarzarbeit um 7 Prozent - das sind 25 Milliarden Euro - zu erwarten hätten.
Durch einen solchen gesetzlichen Mindestlohn, wie
ihn auch der Gewerkschaftsrat der SPD beschlossen hat,
würde die Tarifautonomie eingeschränkt werden, und
die Gewerkschaften würden sich selbst infrage stellen.
({2})
Ich will hier einen von mir sehr anerkannten Gewerkschaftsvorsitzenden aus der heutigen Presse zitieren.
Hubertus Schmoldt sagte in der Oldenburger NordwestZeitung, es gebe in keinem der vielen anderen Beispielländer ein Tarifsystem wie in Deutschland. Wörtlich sagt
er:
Ich befürchte, wenn wir dieses System der Politik
überlassen, dann werden sich die Politiker der
Frage spätestens in Wahlkämpfen bemächtigen. Die
Tarifautonomie würde so nach und nach ausgehöhlt.
Wo er recht hat, hat er recht.
({3})
Deshalb ist der gesetzliche Mindestlohn ein Anschlag
auf die Tarifautonomie in Deutschland. Angefangen bei
Landtagswahlkämpfen bis hin zu Bundestagswahlkämpfen würde es in Deutschland permanent einen Überbietungswettbewerb hinsichtlich der Frage geben, wer nun
den gerechten Mindestlohn in welcher Höhe fordert.
({4})
In unserer Wirtschaftsordnung ist die Tarifautonomie der
Tarifparteien vorgesehen, und die Tarifparteien haben
die Chance, diese Regelungen zu treffen. Sie müssen
diese Aufgabe stärker als bisher wahrnehmen.
Herr Kollege Pofalla, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb von der FDPFraktion?
Bitte.
Herr Kollege Pofalla, einen Überbietungswettbewerb
gibt es ja auch bei den Unterschriftenaktionen. Ich
habe mir einmal die Mühe gemacht, die Unterschriftaktionen der SPD und auch der CDA zu studieren.
({0})
Ich stelle jetzt fest, dass Sie gegen gesetzliche Mindestlöhne und erst recht gegen solche in Höhe von
7,50 Euro sind. Können Sie mir denn eine Interpretationshilfe leisten, wenn die CDA - das ist die ChristlichDemokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands - Folgendes schreibt:
Eine Erleichterung der AVE
- also der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und eine Ausweitung des Entsendegesetzes sind
dringend notwendig, reichen aber für eine umfassende Bekämpfung von Armutslöhnen nicht aus.
Deshalb muss der Gesetzgeber
- also wohl durch ein Gesetz zusätzlich eine absolute Lohnuntergrenze oberhalb
der Armutsgrenze festlegen;
({1})
Können Sie mir kurz erläutern, wie das dann konkret
geschehen soll und wie man sich das vorstellen muss?
Ich finde, es gibt zwei entscheidende Unterschiede
zwischen den Unterschriftenaktionen. Zum ersten Unterschied: Die SPD hat ihre Unterschriftenaktion - dafür ist
sie selber verantwortlich - im Parteivorstand beschlossen. Unterschriftenaktionen - so verstehe ich solche Aktionen - sind normalerweise Instrumente der Opposition.
Das zeigt, dass sich die SPD wenigstens in dieser Frage
nach wie vor nicht entschieden hat, ob sie konstruktiv regieren oder opponieren will.
({0})
Der zweite Unterschied ist der: In der CDA-Unterschriftenaktion werden Sie die Forderung nach einem
einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn nicht finden. Die
CDA fordert in ihrer Unterschriftenaktion, das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit stärker zu nutzen,
um in diesem Bereich Untergrenzen einzuziehen.
({1})
Ich möchte noch etwas zum Ausland sagen, das häufig zitiert wird, um in Deutschland Forderungen aufzustellen. Es wird Großbritannien genannt. Zum einen ist
die Arbeitslosigkeit in Großbritannien ungleich geringer
als bei uns. Zum anderen sind in Großbritannien schon
400 000 Vollzeitbeschäftigte aus Osteuropa in den Arbeitsmarkt integriert. In Großbritannien gibt es nicht wie
bei uns 4 Millionen Arbeitslose, davon 1,8 Millionen gering qualifizierte Arbeitslose. Deshalb gibt es hier Unterschiede.
Auch die USA werden angeführt. Diejenigen, die auf
die USA verweisen, müssen sich entscheiden. Auf der
einen Seite werden die USA für einen außerordentlich
flexiblen Arbeitsmarkt kritisiert, auf der anderen Seite
werden sie für den gesetzlichen Mindestlohn gerühmt,
den sie haben. Diejenigen, die einen solchen Mindestlohn fordern, müssen sich nun entscheiden.
({2})
Wollen wir die Arbeitsmarktbedingungen der USA
und damit den Mindestlohn, oder wollen wir auf unseren
zubetonierten Arbeitsmarkt mit der existierenden Überregulierung noch einen gesetzlichen Mindestlohn setzen? Letzteres wird von uns eindeutig abgelehnt.
({3})
Ich nenne Frankreich als ein letztes Beispiel. In
Frankreich erleben Sie gerade eine Debatte über die Senkung des gesetzlichen Mindestlohns im Bereich der Jugendlichen. In Frankreich ist Folgendes passiert: Der zu
hoch angesetzte Mindestlohn für Jugendliche hat dort zu
einem exorbitanten Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit
beigetragen. Dies hatte zum Ergebnis, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich doppelt so hoch ist wie bei
uns. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie zu
hoch angesetzte Mindestlöhne verheerend auf dem Arbeitsmarkt wirken.
Wir sind dafür, Sittenwidrigkeit von Löhnen in
Deutschland zu definieren.
({4})
Wir sind dafür, Kombilöhne anzubieten. Wir sind dafür, über das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit
und über branchenübliche Mindestlöhne zu reden. Hier
befinden wir uns bereits in Gesprächen. Mehr wird es
von der Union nicht geben.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Ernst von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Fangen wir doch gleich mit der Sittenwidrigkeit an. Sittenwidrig sind momentan Löhne, die
30 Prozent unter den ortsüblichen Löhnen liegen.
({0})
- Oder den tariflichen. - Wenn die CDU/CSU nun sagt,
sie möchte sittenwidrige Löhne verhindern, obwohl sie
weiß, dass wir inzwischen in der Fläche in bestimmten
Regionen Löhne von 3 Euro haben, akzeptiert sie diese
und plädiert für Löhne von 2,10 Euro. Das ist nicht mehr
zumutbar, was Sie hier treiben.
({1})
- Ja, Herr Niebel, zu Ihnen komme ich auch noch. Sie
können sich gleich weiter aufregen. Zu Ihnen möchte ich
sagen, dass der von Ihnen gestellte Antrag ein einziges
Ziel verfolgt. Er verfolgt das Ziel, dass die Löhne in diesem Land schlichtweg weiter sinken sollen.
({2})
- Wollen Sie jetzt schon dazwischenreden? Ich habe
doch noch gar nichts gesagt. Bitte, ich freue mich immer,
wenn Sie etwas sagen.
Herr Kollege Ernst, das Wort erteilt immer noch der
amtierende Präsident. Ich sehe aber, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen wollen.
Bitte, Herr Niebel.
Herr Kollege Ernst, Sie haben schon angesprochen,
dass es Löhne zwischen 3 Euro und 3,80 Euro gibt. Sind
Sie bereit, mir zuzugestehen, dass das tarifvertraglich
vereinbarte Löhne sind, die unter anderem von Ihren Gewerkschaftskollegen und von den Arbeitgebervertretern
ausgehandelt worden sind? Sind Sie weiterhin bereit, zuzugestehen, dass die entscheidende Frage ist, wie viel
Geld die Menschen hinterher in der Tasche haben? Sind
Sie bereit, zuzugestehen, dass unser Ansatz, nicht über
Mindestlöhne, sondern über Mindesteinkünfte zu sprechen, insgesamt dazu führt, dass die Leute mehr ausgeben können?
Zur Frage der von den Gewerkschaften vereinbarten
Löhne: Es stimmt, die Löhne, die von Verdi vereinbart
wurden, sind äußerst niedrig. Sie sollten sich einmal Gedanken darüber machen, ob Sie nicht mit Ihrem Antrag
dazu beitragen, die Gewerkschaften weiter zu schwächen.
({0})
Meinen Sie etwa, es hat Verdi bzw. Herrn Bsirske Spaß
gemacht, solche Tarifverträge zu unterschreiben?
Inzwischen haben wir in diesem Lande die Situation,
dass die Gewerkschaften auch durch die Hartz-Gesetze,
die die Sozialdemokraten mit zu verantworten haben, so
geschwächt sind, dass sie Löhnen von 2 oder 3 Euro pro
Stunde zustimmen, um noch niedrigere Löhne zu verhindern. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Mit dem Antrag,
den Sie, Herr Niebel, stellen, wollen Sie die Auflockerung des Tarifrechts vorantreiben, um letztendlich noch
niedrigere Löhne zu erreichen. Das ist die Wahrheit.
({1})
- Herr Niebel, ich bin noch nicht ganz fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage.
Zu Ihrer zweiten Frage, ob es nicht wichtiger ist, das
zu betrachten, was die Menschen insgesamt bekommen,
als das, was sie verdienen. Das ist keinesfalls so. Lohn
hat etwas mit Leistung zu tun.
({2})
Wenn man für seine Arbeit nicht mehr so entlohnt wird,
dass die Leistung, die man in seine Arbeit einbringt, in
irgendeiner Form im Lohn deutlich wird, dann machen
Sie die Arbeit letztendlich so billig wie Dreck. Ich sage
Ihnen: Das Ergebnis wird sein, dass das Wertesystem
dieser Republik auseinanderfällt. Das Wertesystem dieser Republik basiert nämlich darauf, dass derjenige, der
arbeitet, von dem Arbeitslohn, den er erhält, leben und
existieren kann. Wer arbeitet, bringt es zu etwas. Sie betreiben die Politik: Wer arbeitet, bleibt arm. Um das ganz
deutlich zu sagen: Das ist eine Katastrophe, Herr Niebel.
({3})
Jetzt zu Ihrem Antrag. Sie wollen - dieses Ziel ist eindeutig erkennbar -, dass die Löhne weiter sinken. Die
erste Frage ist: Macht das denn Sinn? Wir hatten in der
Bundesrepublik von 1995 bis 2004 bei der Lohnentwicklung ein Minus von 0,9 Prozent. In Großbritannien war
ein Plus von 25 Prozent, in den USA von 19 Prozent und
in Frankreich von 8 Prozent zu verzeichnen. Wir haben
es also gar nicht nötig, darüber nachzudenken, ob die
Löhne zu hoch sind.
({4})
Laut Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung
sind die Arbeitnehmerentgelte im Jahre 2006 um 1,3 Prozent gestiegen. Der Zuwachs ist damit niedriger als die
Inflationsrate. Bei den Unternehmereinkommen und den
Vermögenseinkommen gab es ein Plus von 6,9 Prozent.
Es ist also nicht notwendig, darüber zu streiten, ob die
Löhne sinken sollen. Es ist notwendig, über steigende
Löhne zu reden.
({5})
Deshalb unterstützen wir die Forderung der IG Metall
nach einer vernünftigen Teilhabe an dem, was die Arbeitnehmer erwirtschaften.
({6})
Ich sage Ihnen, was der Sinn Ihres Antrags ist, Herr
Niebel: Ihre Klientel bekommt den Hals nicht mehr voll.
Das ist das Problem in diesem Land.
({7})
Ihre Klientel sind nicht die Arbeitslosen. Ihre Klientel
sind auch nicht die Arbeitenden. Ihre Klientel sind diejenigen, die ihr Geld aus Unternehmertätigkeit und Vermögen beziehen. All das, was in Ihrem Antrag steht
- bis auf das Bürgergeld -, ist von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bereits vorgeschrieben. So ist die Realität.
({8})
Eine weitere Frage lautet: Brauchen wir eine größere
Lohnspreizung? Auch dies steht in Ihrem Antrag. Die
Lohnspreizung erstreckt sich von 3 Euro in der Stunde
für den Friseur - noch ist dies so; denn wir haben den
sittenwidrigen Lohn in der Form, wie Sie ihn gerne hätten, noch nicht vereinbart, obwohl er eigentlich schon
gilt - bis zu 8,4 Millionen Euro im Jahr für Herrn
Ackermann. Das ist die Spreizung des Lohns.
Wissen Sie, über was wir in diesem Lande nachdenken müssen? Darüber, ob die Einkommen der Unternehmer noch im Hinblick auf das, was sie leisten, gerecht
sind, ob die Einkommen der Vorstandsmitglieder - das
ist Ihre Klientel - noch stimmen. Stellen Sie doch einen
Antrag, diese Einkommen zu begrenzen. Das macht
Sinn. Man sollte nicht immer an die Kleinen, sondern
auch einmal an die Großen herangehen. Das wäre wirklich mutig, Herr Niebel.
({9})
Wie weit wollen Sie denn eigentlich beim Lohn nach
unten gehen? Ich habe Ihnen diese Frage schon öfter gestellt. Wollen Sie, wenn Sie keinen Mindestlohn vorsehen, tatsächlich bei einem Lohn von 3 Euro die Stunde
bleiben? Wollen Sie wie zum Beispiel die CDU/CSU bei
einem sittenwidrigen Lohn von 2,50 bzw. 2 Euro pro
Stunde landen? Wo ist Ihre Grenze nach unten? Sie haben keine. Sie muten den Menschen letztendlich zu, zu
arbeiten, ohne entlohnt zu werden. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik. Ein Niedriglohn nützt uns nichts.
({10})
Ihr Argument, ein Mindestlohn führe zum Abbau
von Arbeitsplätzen, ist wirklich sehr abwegig. Herr
Niebel, glauben Sie denn wirklich, dass die Friseure abwandern, wenn es bei uns einen Mindestlohn gibt?
({11})
Oder glauben Sie, dass die Fassaden nicht mehr gereinigt werden, weil es einen Mindestlohn gibt? Glauben
Sie tatsächlich, dass die Postboten, die mehr und mehr in
privaten Unternehmen arbeiten und unter ein bestimmtes
Lohnniveau gedrückt werden, die Post nicht mehr austragen, sondern nach China gehen? Ihr Argument ist Unfug.
({12})
Wissen Sie, was die anderen vergleichbaren Länder
Europas machen? Die diskutieren nicht über die Frage,
ob es einen Mindestlohn geben soll oder nicht. Sie diskutieren darüber, um wie viel der Mindestlohn erhöht
wird. Sie wissen, wie es in Europa ausschaut. In Luxemburg beträgt der Mindestlohn inzwischen 9 Euro, in
Irland 8,30 Euro und in Frankreich 8,27 Euro. Das ist die
Realität. Wir sind das einzige Industrieland in Europa,
das es sich erlaubt, Löhne, die letztendlich in die Armut
führen, durchgehen zu lassen. Das ist aus meiner Sicht
eine pure Katastrophe.
({13})
Sie wollen auch noch das Tarifrecht zerschlagen und
das Streikrecht verschärfen. Ist das wirklich sinnvoll?
Es würde Sinn machen, wenn es in der Bundesrepublik
streikwütige Gewerkschaften gäbe. Es gibt aber nur zwei
andere Länder, die eine geringere Zahl von Streiktagen
haben als die Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und
den Vatikanstaat. Wollen Sie uns noch unter dieses
Niveau drücken?
Hinter diesem Vorschlag steckt etwas anderes: Sie
wollen den Arbeitnehmern unzumutbare Löhne zumuten
und dazu beitragen, dass sie sich nicht wehren dürfen
und das akzeptieren. Wenn das liberale Politik ist, dann
würden sich frühere Liberale im Grab umdrehen, Herr
Niebel.
({14})
Was Sie erreichen wollen - die Lockerung des Streikrechts und die Beeinflussung oder gar Zerschlagung von
Gewerkschaften -, macht Siemens auf andere Art und
Weise. Siemens macht es illegal. Man hat inzwischen
den Eindruck, dass es sich beim Siemens-Vorstand um
eine kriminelle Vereinigung handelt.
({15})
Sie machen dasselbe legal mit anderen Mitteln. Aber es
ist genauso verwerflich. Deshalb werden wir Ihre Vorschläge ablehnen.
({16})
Weil ich zum Schluss kommen muss, will ich nur
noch anmerken, was Herr Blüm dazu gesagt hat.
({17})
- Ihr könnt ruhig lachen. Er war schließlich in eurer Regierungskoalition Minister. Er hat gesagt, wer den Mindestlohn ablehnt, der fordert letztendlich mehr Staat.
({18})
Zitat: Die Privatisierer der Tarifverträge, die Verächter
der Allgemeinverbindlichkeit haben nichts Besseres verdient als den Mindestlohn. Kluge Arbeitgeberrepräsentanten wissen das, dumme lernen es nie. Ich glaube, mit
Letzteren hat er Sie gemeint.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hubertus Heil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will daran erinnern - weil es auch Gegenstand
unserer heutigen Diskussion ist -, dass meine Partei, die
SPD, bereits vor Eintritt in die Verhandlungen zur Großen Koalition auf drei zentralen Punkten beharrt hat, die
wir dann auch im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben
und die für uns Bedingungen für unsere Beteiligung an
der Großen Koalition waren. Das waren erstens der Erhalt und die Sicherung der Tarifautonomie in Deutschland. Wir wissen - das unterscheidet uns offenbar von
den Kolleginnen und Kollegen, die der wirtschaftsradikalen Fraktion angehören -, dass die meisten Rechte von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht im Gesetzbuch verankert sind, sondern in Tarifauseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften erstritten werden müssen.
Herr Kollege Niebel, Sie reden immer viel über Flexibilität. Die gibt es unter dem Dach des Flächentarifvertrags bereits. Sie wollen etwas ganz anderes. Sie wollen
den Gewerkschaften in Deutschland das Kreuz brechen.
Aber das wird mit uns nicht zu machen sein.
({0})
Zweitens. Wenn Sie von den Menschen in Deutschland reden, die für sich und ihre Familien hart arbeiten,
Sozialversicherungsabgaben und Steuern zahlen, Kinder
erziehen und sich an die Regeln halten - das ist die Mitte
der Gesellschaft, von der Sie offensichtlich keine Ahnung haben -, und sich auch immer wieder verächtlich
über Mitbestimmung äußern, dann will ich Ihnen Folgendes entgegenhalten: In meinem Wahlkreis - das wird
in Ihrem nicht anders sein - kommen manchmal Unternehmen in schwierige Situationen. In diesem Fall sind es
oft die Betriebsräte, die Verantwortung übernehmen
und in Verhandlungen mit der Geschäftsleitung versuchen, möglichst viel für ihre Kolleginnen und Kollegen
herauszuholen.
({1})
Meistens geht es um die Sicherung von Arbeitnehmerrechten und Arbeitsplätzen. Manchmal müssen sie
schwierige Kompromisse eingehen. Der Kollege Ernst
weiß das. Sie verantworten übrigens anschließend die
Kompromisse gegenüber der Belegschaft.
({2})
Ich möchte es anders sagen: Ich kenne kein Unternehmen in Deutschland, das an einem sturen Betriebsrat gescheitert ist. Ich kenne aber leider Gottes einige Unternehmen in Deutschland, die an einem unfähigen
Management gescheitert sind.
({3})
Drittens. Wir haben in dieser Koalition auch beim
Kündigungsschutz Linie gehalten. Wir wissen, dass
Kündigungsschutz die Menschen nicht wirklich vor betriebsbedingten Kündigungen schützen kann. Es ist nicht
wie beim Rostschutz, der vor Rost schützt, oder beim
Frostschutz, der vor Frost schützen soll. Aber Kündigungsschutz schützt Menschen vor willkürlicher KündiHubertus Heil
gung. Das ist mindestens so wichtig. Wir wollen keine
Gesellschaft, in der Menschen um ihren Job fürchten
müssen, nur weil sie einmal nicht über den schlechten
Witz ihres Chefs gelacht haben. Deshalb bleibt es beim
Kündigungsschutz.
({4})
Es bleibt auch dabei, dass die Feiertags- und Nachtzuschläge nicht stärker besteuert werden. Ich kann mich
an die Diskussion im Bundestagswahlkampf erinnern.
Wir haben da Linie gehalten.
({5})
Wir befinden uns jetzt in Deutschland in der Situation, dass der Aufschwung da ist. Die Wirtschaft wächst
- im letzten Jahr waren es 2,7 Prozent -, und zwar mit
Effekten, die sich Gott sei Dank auch auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Ich will deutlich sagen, dass dieser Aufschwung drei Ursachen hat. Eine der Ursachen ist, dass
die Tarifparteien - oftmals unter schwierigen Bedingungen - ihren Beitrag geleistet haben. Die zweite Ursache
ist, dass die Weltwirtschaft und die Konjunktur helfen;
wer will das bestreiten. Aber vor allen Dingen - das ist
die dritte Ursache - hat es damit zu tun, dass wir jetzt einen nachhaltigen Aufschwung haben und kein konjunkturelles Strohfeuer, weil wir den Mut zu Veränderungen,
zu nachhaltigen Reformen in diesem Land hatten, den
andere früher nicht hatten.
({6})
Deshalb sage ich: Es ist richtig, dass diese Große
Koalition den Kurs der sozialen Erneuerung fortsetzt,
um dafür zu sorgen, dass wir in den sozialen Sicherungssystemen - auch hinsichtlich der Strukturen - eine Situation herbeiführen, in der dieser Aufschwung nicht ein
Aufschwung für wenige wird, sondern ein Aufschwung
für alle Menschen in Deutschland werden kann. Das,
liebe Genossinnen und Genossen aus der eigenen Fraktion, müssen wir uns sagen. Aber das müssen wir auch
anderen sagen. Wir können stolz auf die Erneuerungen
und Veränderungen sein, die wir begonnen haben.
({7})
Wir müssen das fortsetzen.
Ich sage Ihnen, Herr Niebel: Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, dass Sie Aufschwung für wenige wollen. Wir wollen Aufschwung für alle Menschen
in Deutschland.
({8})
Es darf deshalb nicht sein, dass das, was jetzt an Produktivitätsfortschritten und an Gewinnen vorhanden ist, in
den Taschen von nur wenigen landet. Es ist richtig, dass
bei den anstehenden Tarifverhandlungen anständige
Löhne herauskommen.
({9})
Das heißt, dass es eine Teilhabe der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer am Haben und am Sagen, am gemeinsam Erarbeiteten in den Unternehmen geben kann. Das
ist übrigens auch volkswirtschaftlich sinnvoll.
Wir müssen feststellen, dass in diesem Zusammenhang die Tarifautonomie, die wir verteidigen und zu der
wir - im Gegensatz zu anderen - stehen, in vielen Bereichen nicht mehr kraftvoll genug ist,
({10})
um dafür zu sorgen, dass Menschen, die hart und in Vollzeit für sich und ihre Familien arbeiten, davon leben
können. Zu diesem Punkt ist vorhin viel gesagt worden.
Kollege Pofalla, ich habe eine Frage, über die wir einmal sprechen müssen: Warum hat eigentlich bis dato die
CDU/CSU mit uns zusammen für einzelne Branchen,
beispielsweise für Gebäudereiniger, insgesamt für
800 000 Menschen Mindestlöhne verankert und will
Menschen in anderen Branchen Mindestlöhne vorenthalten? Das ist, wenn ich das einmal offen sagen darf, nicht
ganz logisch.
({11})
Ich glaube, dass wir als Koalition eine Chance haben,
in diesem Bereich voranzukommen. Wir werden darüber
reden. Es gibt Meinungsunterschiede. Aber ich glaube,
dass die Koalition in diesem Bereich etwas für die Menschen in diesem Land leisten wird. Ich sage ganz offen:
Ich habe Vertrauen dazu, dass die anderen großen Volksparteien, CDU und CSU, mit denen wir koalieren, sowohl die Augen langfristig nicht verschließen können
({12})
vor einer Entwicklung, die ein gesellschaftlicher Skandal ist - Menschen können von ihrer Arbeit nicht mehr
leben, obwohl sie von morgens bis abends schuften -, als
auch zur Kenntnis nehmen, dass es mittlerweile viele
Arbeitgeber gibt, die zu uns kommen und sagen: Wir
wollen dieses Dumping, diesen Schmutzwettbewerb
nicht. Wir als Unternehmerinnen und Unternehmer sind
für Wettbewerb, aber wir wollen fairen Wettbewerb und
wollen unsere Leute auch anständig bezahlen. Deshalb
brauchen wir Mindestlöhne. Das sagen uns Unternehmer, beispielsweise in der Zeitarbeitsbranche.
({13})
Deshalb kämpfen wir für Mindestlöhne. Wir haben es
mit dem Entsendegesetz und der Allgemeinverbindlichkeit im Bauhandwerk geschafft, diese durchzusetzen. Wir haben es jetzt für die Gebäudereiniger geschafft.
({14})
Wir wollen in diesem Bereich nach vorne gehen, weil es
nach wie vor so ist, dass es in vielen Branchen tatsächlich solche Entwicklungen gibt, wie sie zitiert wurden.
Zum Vorwurf an die Gewerkschaften, dass sie nicht
mehr stark genug sind: Es mag Sie hämisch erfreuen,
dass sie sich in einigen Bereichen nicht mehr durchsetzen können. Aber es nutzt den Leuten nicht, sich hämisch über Gewerkschaften lustig zu machen. Das muss
man ganz deutlich sagen.
({15})
Ich gebe zu, dass die Gewerkschaften lange gebraucht haben - alle Gewerkschaften, auch meine IG
Metall -, sich dazu zu bekennen, dass wir Mindestlöhne
brauchen. Denn früher sind wir immer davon ausgegangen, dass die Tarifautonomie ausreicht. Ich sage Ihnen,
wer die Diskussion nach Deutschland geholt hat - ich
bin stolz darauf -: Das waren nicht in erster Linie die
Gewerkschaften, sondern es war Franz Müntefering damals als SPD-Vorsitzender.
({16})
Gott sei Dank war es so, dass wir es dann geschafft haben, mit dem Gewerkschaftsrat der SPD und mit allen
Einzelgewerkschaften ein Konzept zu erarbeiten, das wir
umsetzen wollen, weil wir davon überzeugt sind, mit
diesen Schritten voranzukommen: Vorrang für tarifvertragliche Lösungen, Nutzung der Möglichkeiten des Entsendegesetzes und der Allgemeinverbindlichkeit. Dabei
wollen wir aber auch deutlich machen: Wenn das nicht
ausreicht - und es gibt Hinweise, dass es nicht ausreicht -,
müssen wir zu gesetzlichen Regelungen für Mindestlöhne in Deutschland kommen.
Wir wollen das und werden da weiter Druck machen,
weil wir wissen, dass die Menschen Regelungen brauchen. Ich glaube, dass man in diesem Zusammenhang
die CDA nicht als Opposition schmähen darf. Ich finde
es gut - das sage ich ganz offen -, dass es auch in der
Union Leute gibt, unter anderem den saarländischen Ministerpräsidenten Müller, die da nicht einfach die Augen
verschließen. Ich glaube, dass wir auf diese Weise zu guten Lösungen kommen können.
({17})
Es ist nicht möglich, in der kurzen Zeit auf all das einzugehen, was in den Anträgen steht. Aber eins fällt mir
in diesem Haus immer wieder auf, zuletzt bei der Auseinandersetzung zwischen meinen Vorrednern Herrn
Niebel und Herrn Ernst: Es gibt in diesem Haus zwei
exaltierte Positionen, die geografisch gesehen auf der einen und auf der anderen Seite des Hauses sitzen. Das
Kredo der FDP gestaltet sich, egal wie sie es variiert, immer nach dem Motto: Der Markt kann alles viel besser;
der Staat soll sich zurückziehen.
({18})
Es läuft nach dem Guido-Westerwelle-Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.
({19})
Die Position der anderen Seite ist: Der Staat kann alles
hinbekommen; der Markt ist das Problem. - Beide Parteien, wie immer sie sich nennen mögen, machen denselben Fehler, obwohl sie - das gebe ich zu - sehr unterschiedlich sind: Sie spielen soziale Gerechtigkeit gegen
wirtschaftliche Dynamik aus. Wir Sozialdemokraten
sagen: Das bedingt sich wechselseitig. Es gibt Länder in
Europa, die wirtschaftlich noch ein bisschen erfolgreicher als wir sind, und zwar nicht obwohl sie gute Sozialstaaten sind, sondern weil sie gute Sozialstaaten sind,
weil sie den Menschen eine stärkere Teilhabe ermöglichen.
({20})
Aber das sind Länder, deren Sozialstaatsverständnis
das eines modernen Sozialstaates ist, der die Qualität
von Sozialstaatlichkeit nicht in erster Linie an der Höhe
der sozialen Transfers bemisst, sondern daran, ob er
Menschen wirklich Teilhabemöglichkeiten und Lebenschancen eröffnet. Die großen Lebensrisiken müssen in
unserer Gesellschaft für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer solidarisch abgesichert bleiben. Aber der Sozialstaat muss mehr tun: Er muss etwas für die Lebenschancen der Menschen tun, für gerechte Teilhabe. Das
betrifft Arbeit, Bildungschancen und die Chance auf ein
gesundes Leben.
Wenn wir die sozialen Fragen dieser Zeit erkennen
wollen, dann werden wir keinen verhungerten Staat à la
FDP brauchen können,
({21})
aber auch keine strukturkonservative Sozialstaatlichkeit
à la PDS. Wir brauchen einen Sozialstaat, der Teilhabe
ermöglicht, einen stärker vorsorgenden Sozialstaat.
Das betrifft nicht zuletzt die Löhne.
Ich sage noch einmal: Der Weg der sozialen Erneuerung, mit allen Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen, die meine Partei dabei erlebt hat, den wir in dieser
Großen Koalition fortgesetzt haben, lohnt sich. Wir haben gesät; jetzt wird geerntet, und wir dürfen nicht vergessen, wieder neu zu säen. In einer Großen Koalition
dauert es manchmal etwas länger, weil wir intensiv miteinander reden müssen. Aber ich bin der festen Überzeugung: Diese Große Koalition wird die Kraft haben, die
soziale Erneuerung des Landes voranzubringen. Ich füge
hinzu: Sie muss es auch.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heil,
die FDP ist für Sie doch ein Geschenk des Himmels. Für
Sie ist es doch weitaus angenehmer, immer mit dem Finger auf Herrn Niebel zeigen und wie ein Rohrspatz
schimpfen zu können,
({0})
als wenn Sie mit dem Finger auf Herrn Pofalla zeigen
müssten, der die identischen Positionen vertritt.
({1})
Das wäre für das Klima in der Koalition nicht so angenehm. Insofern sollten Sie Herrn Niebel einmal einen
ausgeben.
({2})
Herr Pofalla, es ist leider so, dass man in diesem Parlament kein Recht darauf hat, auf eine Frage auch eine
entsprechende Antwort zu bekommen. Ihre Antwort auf
meine Frage jedenfalls war - ich will es einmal so zusammenfassen - ein leidenschaftliches Plädoyer dafür,
dass Menschen viel und hart arbeiten müssen, aber trotzdem kein Anrecht darauf haben, dafür ein anständiges
Gehalt zu bekommen.
({3})
Ich sage Ihnen, Herr Pofalla, dass wir das nicht wollen.
Es ist schon einiges zum Antrag der FDP gesagt worden; ich will es deswegen kurz machen. Mir ist aber
wichtig, auf einen Punkt hinzuweisen. In Wirklichkeit
wollen Sie, Herr Niebel, mit Ihrem Antrag Tempo machen in eine bestimmte Richtung. Sie wollen nämlich,
dass sehr viele Menschen sehr wenig verdienen, und Sie
wollen, dass wenige Menschen noch mehr verdienen.
({4})
Sie wollen die Lohnspreizung in diesem Land noch
weiter verstärken.
({5})
Ich frage mich: Wissen Sie eigentlich nicht, dass wir in
Sachen Lohnspreizung inzwischen auf dem Niveau von
Großbritannien sind? Großbritannien ist in Westeuropa
Spitzenreiter, was die Lohnspreizung angeht. Mit Ihrem
Ehrgeiz setzen Sie an der völlig falschen Stelle an.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Bürgergeld sagen. Herr Kolb kritisiert
hier Plenarsitzung für Plenarsitzung wortreich die Kosten für das SGB II.
({6})
Mit Ihrem Bürgergeld schaffen Sie einen Kombilohn XXL.
({7})
Die Kosten für die Aufstockungen im SGB II sind Peanuts im Vergleich zu den Kosten, die sich ergeben, wenn
wir Ihren Vorschlägen folgen. Ich verspreche Ihnen aber,
dass wir das nicht tun werden.
({8})
Was Sie wollen, ist kein Wettbewerb der Unternehmer, sondern eine Schmutzkonkurrenz auf Kosten der
Steuerzahler. Diese Vorschläge kommen ausgerechnet
von einer Partei, die immer sagt, die Steuern müssten
herunter. Aber gleichzeitig tritt sie dafür ein, dass die
Löhne aus Steuern finanziert werden. Das mag verstehen, wer will.
({9})
Auch wenn man in Finnland zur Schule gegangen ist:
Das kann man wirklich nicht verstehen.
({10})
Herr Pofalla, Sie haben gefragt, was eigentlich die
Grünen wollen. Wir wollen eine verbindliche Mindestlohnregelung, die die Marktmechanismen nach unten begrenzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Losung des
Deutschen Gewerkschaftsbundes für den diesjährigen
Maifeiertag lautet: Du hast mehr verdient! Stimmt genau, kann ich da nur sagen.
({11})
Erst recht gilt dies, wenn mit dieser Aussage die Niedriglohnempfänger gemeint sind, die übrigens zu 60 Prozent
eine gute Qualifikation aufweisen. Das wollte ich noch
zum Thema Leistungsfähigkeit der Menschen in diesem
Bereich sagen.
Ich finde aber auch, dass diese Menschen mehr verdient haben als das, was die Große Koalition ihnen zu
bieten hat.
({12})
Einige Fakten, die ich jetzt vortragen werde, werden Ihnen, Herr Müntefering, und den Kollegen aus der SPDFraktion vielleicht bekannt vorkommen.
Das sind die Fakten: Die Einkommensschere geht
weiter auseinander. Während Spitzengehälter zunehmen,
stagnieren die Löhne für viele Beschäftigte. Mehr als
2,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten in Deutschland für Armutslöhne, die weniger als 50 Prozent des
Durchschnittlohns betragen. Die Tarifbindung nimmt ab.
Nur noch 68 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 53 Prozent in Ostdeutschland erhalten tariflich
vereinbarte Löhne. Armutslöhne gibt es nicht nur bei tarifungebundenen Arbeitgebern. Auch viele Tariflöhne
liegen inzwischen bei 3 Euro und weniger. Das sind die
Fakten.
Diese Fakten haben Sie, Herr Müntefering, in einem
Flugblatt aufgeschrieben, mit dem Sie sich als Erstunterzeichner selbst auffordern, zu handeln und dafür zu sorgen, dass es in Deutschland gerechte Löhne gibt. Diese
Fakten stimmen leider.
Was aber nicht stimmt, ist die Art und Weise, wie die
Regierung mit diesen Fakten umgeht. Sie haben uns im
März 2006 - das ist nun bald 15 Monate her - versprochen, dass Sie gesetzgeberisch gegen diese Form des
Lohndumpings vorgehen und dass Sie existenzsichernde
Löhne gewährleisten wollen. Aber nichts ist passiert. Ich
habe den Eindruck, dass nach der gestrigen Nacht die
Aussichten eher düsterer geworden sind.
({13})
- Herr Brauksiepe, ich kann schon verstehen, dass man
nach solch langen und unergiebigen Diskussionen in der
Nacht am nächsten Morgen unausgeschlafen ist.
({14})
Ruhen Sie sich ein bisschen aus, und halten Sie sich mit
Zwischenrufen zurück!
({15})
Herr Müntefering, auf das von Ihnen Versprochene
warten die Betroffenen leider immer noch. Statt hier Ihre
Ziele zu verfolgen, spielen Sie aber Feierabend-APO
und starten eine Unterschriftenkampagne, die Sie selbst
zum Handeln auffordern soll. Das empfinde ich als eine
Form von Volksverdummung. Nach meinem Eindruck
brauchen wir inzwischen nicht nur Regelungen gegen
Lohndumping, sondern auch Regelungen gegen Politikdumping.
({16})
Diese Koalition hält keine Mindeststandards für Regierungshandeln ein. Diese Standards sollten wir einklagen,
finde ich. Bei 50 Prozent Union und 50 Prozent SPD
kommen für die Arbeitslosen und diejenigen, die zu geringen Löhnen arbeiten, 0 Prozent heraus.
({17})
Sie feilschen hier nur noch um Geländegewinne für die
jeweils eigene Partei. Das ist einfach zu wenig. Ich finde
das schäbig.
Herr Pofalla, kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit Ihrem Gesetz gegen sittenwidrige Löhne. Sie selbst haben Ihren Freund Hubertus Schmoldt als Kronzeugen
angeführt. Sie hätten das entsprechende Interview einmal zu Ende lesen sollen. Herr Schmoldt spricht sich darin dezidiert gegen ein Gesetz gegen sittenwidrige Löhne
aus.
Herr Pofalla, er rechnet Ihnen auch noch einmal vor,
welche Auswirkungen ein solches Gesetz haben würde.
Damit könnten nämlich Löhne wie zum Beispiel der
Lohn der Friseurin in Sachsen von 3,82 Euro legal noch
einmal um 30 Prozent - in diesem Fall um 1,14 Euro unterschritten werden. Das wollen Sie jetzt auch noch
gesetzlich legitimieren! Verabschieden Sie sich von dieser Idee. Sie bringt wirklich niemanden voran.
({18})
Herr Pofalla, mit unserem Entschließungsantrag haben wir Ihnen einen Vorschlag gemacht, dem auch Sie
zustimmen können müssten.
Erstens. In unserer Mindestlohn-Kommission nach
britischem Vorbild wollen wir Vorschläge erarbeiten lassen, die regional- und branchenspezifisch differenziert
werden. Diese Empfehlungen sollen dann durch den
Bundesarbeitsminister für verbindlich erklärt werden.
Zweitens. Wir wollen, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet wird. Für die
Branchen, die das Ganze nicht selbst in Tarifverträgen
regeln können, wollen wir bis Ende 2008 die von der
eben genannten Kommission erarbeiteten Mindestlöhne
für verbindlich erklären.
Drittens wollen wir das Tarifvertragsgesetz so reformieren, dass die Vetomöglichkeiten der Spitzenverbände
eingegrenzt werden.
({19})
Mit diesem Konzept verhindern wir die negativen Beschäftigungseffekte, die Sie hier an die Wand gemalt haben, Herr Pofalla.
({20})
Deswegen machen wir Ihnen einen Vorschlag, den Sie
eigentlich gar nicht ablehnen können.
Herr Müntefering, ich wende mich jetzt noch einmal
direkt an Sie. Eigentlich wissen Sie doch ganz genau,
dass es in diesem Hause eine parlamentarische Mehrheit für einen Mindestlohn gibt.
({21})
Weil es in diesem Hause eine solche parlamentarische
Mehrheit für einen Mindestlohn gibt, versuchen Sie sich
nicht als Feierabend-Straßenkämpfer, sondern
({22})
werben Sie hier in diesem Bundestag für Ihr Projekt.
Hier gibt es für den Vorschlag, den wir Ihnen vorgelegt
haben, eine Mehrheit bis tief in die CDU hinein.
Herr Pofalla hat heute ausgeführt, dass er keinen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn will. Er hat gesagt,
er wolle Lohndumping verhindern. Wir haben Ihnen
dazu einen Vorschlag gemacht, den Sie gar nicht ablehnen können.
Herr Müntefering, ich würde mir wünschen, dass Sie
in diesem Hause dann auch für die entsprechenden
Mehrheiten kämpften.
({23})
Wir fordern Sie auf: Setzen Sie im Vorfeld des 1. Mai
nicht Ihre schwarz-roten Passionsspiele in der Arbeitsmarktpolitik fort. Am Tag der Arbeit geht es um die Interessen der Beschäftigten und nicht um die Probleme der
Großen Koalition. - Ich danke Ihnen.
({24})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass dieser Debatte sind zwei Anträge der Opposition,
wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
({0})
Sie malen die Situation in diesem Land in schwarz bzw.
in weiß.
({1})
Beide werden der Situation in diesem Land nicht gerecht. Mir ist, als ich diese Anträge gelesen habe, der
Tag nach der letzten Bundestagswahl in Erinnerung gekommen. Erinnern wir uns: Rot-Grün war abgewählt
und hat am nächsten Tag der FDP angeboten, doch in die
rot-grüne Koalition einzutreten.
({2})
- Sie haben Nein gesagt. - Frau Pothmer, vergleichen
Sie einmal Ihren Antrag mit dem von der FDP. Angesichts der Unterschiede habe ich ein gutes Gewissen,
wenn wir in der Großen Koalition manchmal ein bisschen brauchen, bis wir zu Ergebnissen kommen. Sie haben sieben Jahre lang dieses Land heruntergewirtschaftet,
({3})
Sie haben jahrelang keine Initiative ergriffen, um das
umzusetzen, was Sie hier fordern, und wollten noch mit
denen, die das genaue Gegenteil wollen, eine Koalition
bilden. Das zeigt, wie ernst Sie Ihre eigenen Programmpunkte nehmen, nämlich überhaupt nicht ernst.
({4})
- Sie haben Nein gesagt. Das ist wahr.
Ich möchte aber auch noch an etwas anderes erinnern,
lieber Kollege Niebel. Das, was in Ihrem Antrag steht,
läuft auf einen lohnpolitischen Häuserkampf hinaus und
bedeutet das Ende für kollektive Vereinbarungen. Die
von Ihnen geforderte Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeit im Tarifvertragsgesetz war nie Politik der
Regierung Kohl und wird auch niemals eine Politik sein,
die wir gemeinsam mit Ihnen machen. Um es ganz deutlich zu sagen: Sie sind weit von dem entfernt, was wir
früher einmal gemeinsam gemacht haben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, inhaltlich stehen
beide Anträge krass gegeneinander.
({6})
Sie haben aber ein gemeinsames Ziel: Beide unternehmen den völlig untauglichen Versuch, etwas zu beweisen, was von den Betroffenen überhaupt niemand bestreitet, nämlich dass es in der Großen Koalition
unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema gibt.
Wir brauchen keine Anträge von Ihnen, um das festzustellen. Deswegen möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen: Diese Koalition ist nicht deswegen gebildet
worden, weil zwischen den Parteien, die sie bilden, ein
Maximum an inhaltlicher Übereinstimmung herrscht,
sondern diese Große Koalition ist gebildet worden, um
dieses Land wieder voranzubringen, nachdem die alte
Koalition keine Mehrheit mehr hatte.
({7})
Die jetzige Konstellation hat sich also auf der Basis einer
Übereinkunft gebildet, um dieses Land wirtschaftlich,
sozial und arbeitsmarktpolitisch wieder voranzubringen.
Diese Verantwortung haben wir wahrgenommen. Ich
finde, man darf auch heute noch einmal sagen: Fast
1 Million Arbeitslose weniger als vor einem Jahr und
weit über 0,5 Millionen sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse mehr als vor einem Jahr zeigen bei allen Unterschieden, dass wir in dieser Großen
Koalition gemeinsam etwas erreicht haben, worauf wir
auch gemeinsam stolz sein können.
({8})
Lassen Sie mich im Rahmen dieser schwierigen Mindestlohndebatte auf ein paar Dinge hinweisen, die unterschiedlichen Teilen dieses Hauses nicht gefallen, die
aber alle miteinander wahr sind. Bevor man sich in einem volkswirtschaftlichen Studium im Detail mit Wirtschaftstheorie beschäftigt, braucht man ein paar Kenntnisse, die mit Grundrechenarten zu tun haben und
selbstverständlich sind. Dazu gehört, dass nur das Einkommen verteilt werden kann, das vorher auch erwirtschaftet worden ist.
({9})
Das heißt, dass es beispielsweise nicht gut gehen kann,
wenn ein Arbeitnehmer, der eine Wertschöpfung von
5 Euro erwirtschaftet, auf Dauer von seinem Arbeitgeber
6 Euro bekommen soll. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Das hat nichts mit Wirtschaftstheorie zu tun, sondern das hat etwas mit simpelsten Zusammenhängen zu
tun, nämlich wie Einkommen in einer Volkswirtschaft
entsteht und verwendet wird. Ein Verstoß dagegen kann
auf Dauer nicht gut gehen.
Es ist auch wahr, nicht jedem steht seine Produktivität
auf die Stirn geschrieben.
({10})
Natürlich gibt es Menschen, die mehr bzw. weniger bekommen, als es ihrer Produktivität entsprechen würde.
Es gibt aber niemanden, der die Wertschöpfung und damit die Produktivität eines Menschen besser beurteilen
kann als die Tarifvertragsparteien. Die Politik sollte
sich nicht anmaßen, an deren Stelle treten zu wollen.
({11})
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?
Er ist zwar noch dran, aber wenn er mit seiner Redezeit nicht auskommt, gerne.
Herr Kolb, bitte schön.
Ich bedanke mich, Herr Kollege Brauksiepe. - Ich
habe ja mit Interesse festgestellt, dass Sie nicht zu den
Unterzeichnern der CDA-Unterschriftenaktion gehören.
Nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, ist mir das ein
Stück klarer geworden. Die Grundzusammenhänge der
Lohnfindung und Lohnsetzung haben Sie immerhin verstanden.
Können Sie mir denn, nachdem es der Kollege Pofalla
nicht geschafft hat, folgenden Satz in der CDA-Unterschriftenaktion, der ja wohl der Beweggrund für Sie gewesen sein muss, nicht zu unterschreiben, noch einmal
erläutern? Ich zitiere:
Deshalb muss der Gesetzgeber zusätzlich eine absolute Lohnuntergrenze oberhalb der Armutsgrenze
festlegen;
Ist das ein gesetzlicher Mindestlohn, ja oder nein? Ist das
der Grund dafür, dass Sie nicht unterschrieben haben?
({0})
Herr Kollege Kolb, Ihre Pöbeleien habe ich zur
Kenntnis genommen.
({0})
Das muss jeder für sich entscheiden.
Ich muss keine Appelle an mich selber richten. Ich
bin an den Gesprächen beteiligt, die die Große Koalition
zu diesem Thema führt. Es ist völlig in Ordnung, wenn
in einer Volkspartei, die breit aufgestellt ist, die Meinungen zu diesem Thema zum Ausdruck gebracht werden.
Ich werde Ihnen zu der Frage, auf die Sie gekommen
sind, inhaltlich gleich noch etwas sagen. - Erst einmal
können Sie wieder Platz nehmen.
({1})
Ich war an dem Punkt stehen geblieben, dass ein Arbeitgeber auf Dauer nicht mehr bezahlen kann, als der
Wertschöpfung des Arbeitnehmers entspricht. Genauso
gehört zur Wahrheit aber auch, dass wir auf dem Arbeitsmarkt, auch im zusammenwachsenden Europa, mittlerweile eine Situation haben, der viele alte Theorien nicht
gerecht werden. Wenn jemand aus einem Land, wo die
Mindestlöhne im Eurocentbereich liegen - es gibt mehrere Länder in der Europäischen Union mit gesetzlichen
Mindestlöhnen im Centbereich -, in ein Land wie
Deutschland kommt, eine Wertschöpfung von 5 Euro erbringt, dafür aber nur 2 oder 3 Euro, das heißt nur einen
Bruchteil seiner Wertschöpfung, erhält und der Arbeitgeber den Rest einbehält, weil er sich sagt, der Arbeitnehmer habe ja immer noch mehr, als er in seinem Heimatland hätte, dann ist das eine Situation, die wir nicht
hinnehmen können. Das ist eine Situation, die für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die hier leben und hier ihre Familie mit ihrer Hände Arbeit ernähren wollen, nicht hinnehmbar ist. Die sind dann nicht
konkurrenzfähig. Politik kann nicht so tun, als hätte das
etwas mit Marktgesetzen zu tun und ginge uns nichts an.
Da müssen wir handeln, und da müssen wir die Menschen vor solcher Konkurrenz schützen.
Deswegen geben wir Antworten. Auch als CDU/CSU
haben wir klare Vorstellungen zu diesem Thema entwickelt. Wir meinen: Eine Ausweitung des Entsendegesetzes ist nicht der Königsweg. Auch Herr Bofinger, Lieblingsökonom der Sozialdemokraten, sagt ausdrücklich:
Vorsicht bei einer weiteren Ausweitung des Entsendegesetzes; protektionistisches Instrument usw. - Es geht
also nicht darum, die Nutzung irgendeines Instruments
zum Königsweg zu erklären, sondern es geht darum, zu
prüfen, was denn die Alternativen sind.
Eine Alternative zur Ausweitung des Entsendegesetzes wäre Nichtstun. Angesichts der Probleme, die wir in
manchen Bereichen haben, halte ich Nichtstun für unverantwortlich.
Eine weitere Alternative wäre, dass sich der Staat an
die Stelle der Tarifvertragsparteien setzt. Dazu sage
ich noch einmal: Ich glaube nicht, dass der Staat bessere
Antworten als die Tarifvertragsparteien hat. Uns geht es
nicht darum, als Politik vorzugeben, wer ins Entsendegesetz kommt, sondern wir sagen: Wo die Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertreter selbst die sozialen Verwerfungen
sehen und erklären: Wir wollen deswegen ins Entsendegesetz aufgenommen werden, sind wir bereit, diesen
Weg mitzugehen. Wir sagen also nicht: Wir wissen es als
Politik besser.
Ich will zu dem Protektionismusargument deutlich erklären: Es gibt aus guten Gründen Minderheitenschutz.
Aber die Aufnahme ins Entsendegesetz bedeutet nicht,
dass jemandem, der keiner Tarifvertragspartei angehört,
alles diktiert werden muss. Tarifverträge regeln, wie man
wissen sollte oder auch weiß, Herr Kollege Niebel, sehr
viel mehr als nur einen Mindestlohn. Es geht aber nur
darum, diesen für allgemeinverbindlich zu erklären. Es
kann nicht sein, dass nur Minderheiten, die keiner Tarifvertragspartei angehören, ihre Rechte haben; auch die
Mehrheiten müssen Rechte haben.
Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die in einer
Branche die Mehrheit repräsentieren, einen Tarifvertrag
abschließen und sich darauf verständigen, dass für anständige Arbeit ein anständiger Lohn gezahlt werden
soll, dann müssen sie auch die Möglichkeit haben, das
durchzusetzen, und dürfen nicht durch Konkurrenz,
durch Lohndrückerei daran gehindert werden. Auch das
gehört zur Ordnungspolitik und zur Tarifautonomie dazu.
({2})
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Pothmer vom
Bündnis 90/Die Grünen?
Aber gern.
Bitte schön, Frau Pothmer.
Herr Brauksiepe, Sie haben gerade erklärt, dass Sie
da, wo sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam
auf bestimmte Löhne verständigt haben und den Anspruch erheben, ins Entsendegesetz aufgenommen zu
werden, dem auch Folge leisten werden. Ist das eine definitive Aussage dahin gehend, dass die Zeitarbeitsbranche, die die Kriterien, die Sie gerade genannt haben, erfüllt,
({0})
unmittelbar ins Entsendegesetz aufgenommen wird?
Frau Pothmer, Sie müssten eigentlich wissen, dass die
Voraussetzungen, die Sie in Ihrer Frage genannt haben,
in der Realität nicht gegeben sind. In der Zeitarbeitsbranche haben wir es mit konkurrierenden Tarifverträgen zu tun. Es ist eine besondere Situation, mit der wir
uns auch zu beschäftigen haben werden. Wenn es entsprechende Anträge gibt, wird man sich diese Verträge
anschauen und überlegen müssen, wie man damit umgeht. Sie wissen, dass das eine Sondersituation ist und
dass die Bedingungen, die ich genannt habe, und auch
die, die Sie genannt haben, als solche nicht erfüllt sind.
Ich will auf den Ausgangspunkt zurückkommen. Wir
haben eindeutig erklärt, dass wir bereit sind, da eine
Aufnahme in das Entsendegesetz vorzunehmen, wo solche sozialen Verwerfungen von den Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertretern selbst gesehen werden. Jeder
weiß: Eine solche Aufnahme ist kein Allheilmittel und
wird nicht dazu führen, dass die gesamte deutsche
Volkswirtschaft unter das Entsendegesetz fällt.
Wir sagen klipp und klar: Wir wollen und müssen verhindern, dass dort, wo es aufgrund tariflicher Vereinbarungen nicht zu einer Aufnahme ins Entsendegesetz
kommt, sittenwidrige Löhne gezahlt werden. Das ist
eine klare Aussage. Wir lehnen sittenwidrige Löhne ab
und sind bereit, das entsprechend zu kodifizieren.
({0})
Das Richterrecht ist an dieser Stelle uneinheitlich.
Daher gilt: Wenn man gesetzlich festlegt, dass Löhne ein
Drittel unter Tarif sittenwidrig sind, dann ist das mehr
als die pure Wiedergabe des Richterrechts. Das ist etwas
anderes. Das ist gewissermaßen das Kondensat der Urteile, die es dazu bisher gab. Es ist schon ein Fortschritt,
der auch mehr Rechtssicherheit schafft.
Wir sagen ganz deutlich - Kollege Kolb, damit sind
wir bei dem Punkt, den auch die CDA in ihrem Flugblatt
völlig zu Recht angesprochen hat - : Wenn man fordert,
dass Löhne ein Drittel unter Tarif möglich sind, dann
muss man in der Tat unterscheiden, ob im Tarifvertrag
Löhne von 12 Euro oder von 3,50 Euro oder 3,18 Euro
festgelegt sind. Wir wollen nicht, dass Menschen für
3 Euro oder weniger - ich verweise auf den Erwerbsgartenbau - beschäftigt werden. Ich wiederhole: Das wollen
wir nicht. Genau das wird mit unserer Position zum Ausdruck gebracht.
({1})
Ein Drittel weniger als 12 Euro oder ein Drittel weniger
als 3,80 Euro, das ist ein Unterschied.
Ich sage genauso klar: Der Staat verhebt sich, wenn er
versucht, beispielsweise über einen Mindestlohn - man
kann es auch anders nennen - gesetzlich festzulegen,
dass Löhne doppelt so hoch wie tarifvertraglich vereinbarte Löhne sein sollen, etwa nach dem Motto: Wenn in
den Tarifverträgen etwa ein Lohn von 3 Euro vereinbart
wurde, dann legen wir fest, dass das Doppelte zu zahlen
ist. Auch ich bin fassungslos, wenn ich sehe, was in
manchen Tarifverträgen steht. Aber wir sollten zur
Kenntnis nehmen: Der Staat verhebt sich, wenn er meint,
er könne festlegen, dass das Doppelte gezahlt wird. Genauso klar ist: Tarifvertraglich festgelegte Niedrigstlöhne von etwas mehr als 3 Euro dürfen nicht noch um
ein Drittel unterschritten werden. Deswegen ist diese Position der CDA völlig sachgerecht.
({2})
Nach meiner Überzeugung schreit dieses Thema geradezu nach ideologischer Abrüstung.
({3})
Ich finde, wir müssen deutlich machen, was die Ziele
und was die Mittel sind. Deswegen sage ich noch einmal: Unser Ziel ist und bleibt, dass Menschen in diesem
Land nicht ausgebeutet werden, dass Menschen für eine
anständige Arbeit auch einen anständigen Lohn bekommen. Um dieses Ziel geht es.
({4})
Ziel kann nicht sein, alle Branchen oder keine Branchen ins Entsendegesetz aufzunehmen.
({5})
Ziel muss vielmehr sein, dass in diesem Land für anständige Arbeit ein anständiger Lohn gezahlt wird. Es geht
darum, dass es keine Lohndrückerei gibt. Der gerechte
Lohn und die Frage, wie man dazu kommt, sind ein urchristliches Thema. Das ist ein Thema der Christlichen
Demokraten und der Christlich-Sozialen. Dafür stehen
wir, und darum ringen wir. Wir wollen in dieser Großen
Koalition gemeinsam Lösungen für diese Probleme finden.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatten wie die heutige sind auch dazu da, die Positionen
der Fraktionen in diesem Hause deutlich zu machen.
Was die FDP will, ist deutlich geworden: Wir wollen die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass mehr Arbeitsplätze in diesem Lande entstehen. Ein Arbeitsplatz ist
nämlich das höchste soziale Gut, das wir einem Menschen in diesem Lande zur Verfügung stellen.
({0})
Herr Kollege Pofalla und Herr Kollege Brauksiepe,
was die Union will, ist mir nach Ihren Beiträgen allerdings nicht ganz klar. Herr Brauksiepe, es gab Zeiten, da
hatte die Union eine klare marktwirtschaftliche Position,
da hatte die Union ein klares ordnungspolitisches Profil.
Aber was wir heute von Ihnen gehört haben, war ein bisschen Symbolpolitik nach dem Motto: So ganz können
wir uns diesem Thema nicht verweigern; sprechen wir
also zur Sittenwidrigkeit. Ansonsten war von Ihnen ein
klares Nein, aber
zu hören. Dazu muss ich sagen:
Ich freue mich, heute Morgen in den Zeitungen gelesen
zu haben, dass Ludwig Erhard nie Mitglied der Christlich Demokratischen Union gewesen ist. Anderenfalls
müsste er posthum seinen Austritt erklären. Er würde
sich im Grabe herumdrehen, wenn er dieses Geeiere
heute Morgen erlebt hätte.
({1})
Es gibt an dieser Stelle nur eine klare Position: Lohnsetzung ist kein Handlungsfeld der Sozialpolitik. Das
muss unmissverständlich klar sein. Ich denke, man hätte
von dem Kollegen der Union erwarten dürfen, das hier
klar und unmissverständlich zu sagen.
({2})
Herr Kollege Brauksiepe, das war eben keine Pöbelei.
Wenn Sie das so empfunden haben sollten, dann bitte ich
Sie ausdrücklich um Entschuldigung.
({3})
Ich bin doch froh, dass Sie Einsicht in einen sehr grundlegenden Sachverhalt gezeigt haben.
Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Göhner?
Sehr gerne.
Bitte schön, Herr Göhner.
Herr Kollege Kolb, da Sie sich Sorgen um die posthume Mitgliedschaft von Ludwig Erhard machen, darf
ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass die Grundlagen
für das Mindestlohngesetz von 1952 und für die gesetzlichen Regelungen des Tarifvertragsgesetzes in der heutigen Form zu Ludwig Erhards Zeiten geschaffen wurden,
das Entsendegesetz jedoch zu der Zeit, als die FDP an
der Regierung war?
Wir als FDP haben beispielsweise auch die betriebliche Mitbestimmung mit aus der Taufe gehoben, weil wir
uns als liberale Partei durchaus auch den Arbeitnehmerinteressen verpflichtet fühlen.
({0})
Ich gehe davon aus, dass Ludwig Erhard an diesen Maßnahmen unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer
mitgewirkt hat und dass ein Bundeskanzler Ludwig
Erhard so etwas nicht getan hätte.
({1})
Deswegen glaube ich, bei der Beurteilung, die ich hier
abgegeben habe, sehr wohl bleiben zu können.
({2})
Ich möchte feststellen, dass Herr Kollege Brauksiepe
hier einen wichtigen und grundlegenden Sachverhalt
deutlich gemacht hat: Auf Dauer kann kein Unternehmen einen Lohn zahlen, der die Wertschöpfung, die mit
der erbrachten Leistung korrespondiert, deutlich übersteigt.
({3})
- Das finde ich sehr bemerkenswert, Herr Kollege
Brauksiepe. Aber daran muss sich konkretes Handeln
anschließen. - Also, der Lohn kann nur so hoch sein wie
der Wert der produzierten Güter und Dienstleistungen
nach Abzug der Kosten für Material, Energie usw. Der
größte Einzelposten ist in der Regel der Lohn.
Nun ist interessant, dass Forderungen nach Mindestlöhnen nur für ortsgebundene Branchen erhoben werden. Es käme keiner auf die Idee, in einer Branche, die
sehr stark exportorientiert ist, die Forderung nach Mindestlöhnen zu erheben, weil vollkommen klar ist, dass
der Absatz der Güter und Dienstleistungen erschwert
würde. Die Preiserhöhungen, die den Lohnerhöhungen
notwendig folgen müssten, sind nämlich nicht durchsetzbar, und deswegen sind exportorientierte Branchen in der
Regel außen vor. Interessanterweise sind auch Importbranchen außen vor. Ich jedenfalls kenne keine Forderung, Einfuhrzölle in bestimmten Branchen zu erheben,
wenn Produkte nach Deutschland eingeführt werden, die
zu deutlich niedrigeren Lohnkosten erzeugt werden, als
das in Deutschland der Fall ist.
Die Forderung kommt also insbesondere dann, wenn
in bestimmten Branchen unbedingt in Deutschland ortsgebunden produziert werden muss oder Dienstleistungen
erbracht werden müssen, also im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Land- und Forstwirtschaft, im Erwerbsgartenbau, im Friseurhandwerk, bei
Postdienstleistungen, in der Floristik und in vielen anderen Branchen mehr. Man kann das schön im Antrag der
Grünen nachlesen. Nur muss ich hier klar sagen, dass
das auch in diesen Fällen nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen ist. Der Sachverständigenrat hat in seinem
aktuellen Jahresgutachten sehr deutlich gemacht, dass
auch in diesem Fall absolute Wohlstandsverluste die
Folge von Mindestlöhnen sind und wir alle, also auch
Arbeitnehmer in anderen Branchen, die Zeche zahlen,
die mit der Einführung von Mindestlöhnen in solchen
ortsgebundenen Branchen verbunden wäre. Deswegen
sind Mindestlöhne Gift, und zwar ohne Wenn und Aber,
({4})
sowohl gesetzliche als auch tarifliche oder solche, die im
Wege des Entsendegesetzes für allgemeinverbindlich erklärt werden. Wir sollten die Finger davon lassen. Die
Väter des Grundgesetzes haben die Tarifautonomie aus
gutem Grund in das Gesetz geschrieben, weil sie sehr
wohl gesehen haben, was geschieht, wenn sich die Politik
in die Lohnfindung einmischt. Frau Kollegin Pothmer,
ich möchte mir keinen Wahlkampf vorstellen, in dem
nach dem Motto Wer bietet mehr? nicht nur 7,50 Euro,
sondern 8,10 Euro oder 9,20 Euro in politischen Programmen gefordert werden. Die Folge wäre ein massiver
Verlust von Arbeitsplätzen in unserem Lande gerade bei
den Geringqualifizierten. Das können und dürfen wir
nicht wollen.
({5})
Es bleibt noch ein Punkt. Es wird gesagt: Anständiger Lohn für anständige Arbeit. Wer Vollzeit arbeitet,
muss auch von seiner Arbeit leben können. - Was heißt
das eigentlich, Herr Müntefering? Wer alleine lebt, kann
mit einem Bruttostundenlohn von 6,50 Euro oder 7 Euro
klarkommen, aber für jemanden, der verheiratet ist und
Kinder hat, bedeutet vom Verdienst leben zu können, einen Bruttostundenlohn von 12 Euro oder 12,50 Euro erzielen zu müssen, wenn ich das richtig gerechnet habe.
Das heißt doch, dass sich eine künftige Lohnfindung an
den persönlichen Verhältnissen des Arbeitnehmers ausrichten müsste, wenn man diesen Gedanken zu Ende
denken würde. Das kann nicht sein. Auch hier gilt: Das
Gegenteil von gut ist gut gemeint. Ich unterstelle, dass
Sie alle beste Absichten haben. Aber im Ergebnis führt
eine solche Politik in die Irre. Deswegen kann ich nur
noch einmal sagen: Hände weg vom Mindestlohn!
({6})
Der Weg, den die FDP in ihrem Antrag aufzeigt, ist
der richtige. Wir sollten nicht über Mindestlöhne reden,
sondern über Mindesteinkommen. Wer von seinem
Einkommen nicht leben kann, wem durch seine Arbeit
netto nicht genügend verbleibt, um seinen Bedarf zu decken, hat Anspruch auf einen Transfer, den ihm die Gemeinschaft der Steuerzahler gewähren muss. Das ist
nicht ehrenrührig. Das entspricht vielmehr den Grundprinzipien unseres Sozialsystems, die wir in anderen Bereichen nicht nur akzeptieren, sondern regelmäßig hochpreisen.
Unterstützen Sie den Antrag der FDP! Schaffen Sie
die Voraussetzungen für mehr Lohnspreizung, mehr Mitwirkung in den Betrieben und mehr Arbeitsplätze! Sorgen Sie zusammen mit uns dafür, dass in Deutschland
ein Bürgergeld eingeführt wird, das den Transfer erbringt, durch den die Menschen das haben, was sie brauchen. Das ist eine Sozialpolitik mit Augenmaß. Dafür
treten wir ein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Franz
Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bedanke mich bei den Antragstellern für die Möglichkeit, hier über das Thema zu diskutieren. Das passt gerade gut; denn der Stand der Dinge ist so, dass eine gute
Information nützlich ist. Deshalb hätten Sie aber nicht so
viel Unsinn in Ihren Antrag hineinschreiben müssen,
Herr Kolb. Das wäre auch anders möglich gewesen.
({0})
Ihren einfältigen Hinweis darauf, dass Stundenlöhne
nicht davon abhängen, ob jemand verheiratet ist oder
nicht, Kinder hat oder nicht - das wusste ich auch vorher
schon.
({1})
Also, die Frage zum Schluss war wahrscheinlich doch
nicht so ganz ernst gemeint.
Wir haben in langen Diskussionen zwei Probleme im
Niedriglohnbereich in Deutschland herausgearbeitet, die
auch unbestritten sind. Die Lohnspreizung ist groß. Es
gibt zunehmend Menschen, die einen so niedrigen Lohn
haben, dass sie davon nicht leben können. Deshalb zahlt
der Staat zunehmend Löhne indirekt. Für Verheiratete
und Arbeitnehmer mit Kindern gibt es - darauf haben
Sie abgehoben - immer Sozialtransfers; das ist völlig
unbestritten. Aber immer mehr ist es so, dass, so zum
Beispiel bei Postdiensten, die zu Billigstbedingungen
Post verteilen - Stichwort billige Briefmarken -, der
Staat mit seinem Sozialtransfers die Löhne ersatzweise
zahlt. Das ist auch unter dem Gesichtspunkt der Verbraucherpolitik nicht vernünftig. Dort, wo Löhne und Preise
- beispielsweise beim Friseur - so niedrig werden, dass
anschließend die Gemeinschaft aller aus der Steuerkasse
den Rest der Löhne zahlen muss, ist das ein Verstoß gegen normale Ordnungspolitik. Das hat mit sozialer
Marktwirtschaft und vernünftiger Ordnungspolitik überhaupt nichts zu tun.
({2})
Allen, die sagen, der Staat müsse zuzahlen, sage ich:
Leute, überlegt es euch noch einmal genau! Diese
Staatslohnphilosophie führt in die Irre. Wenn man Ihren Antrag genau liest, stellt man fest: Sie sagen im
Grunde nichts. Wenn die Löhne nun einmal so niedrig
sind, wie sie sind, dann muss nach Ihrer Vorstellung ein
Bürgergeld - ein schöner Name - aus der Staatskasse gezahlt werden. Woher denn eigentlich sonst? Aber das
kann nicht sein. Eine soziale Marktwirtschaft muss den
Anspruch an sich selbst haben, dass die Produktivität der
Menschen so hoch ist, dass sie so viel verdienen, dass sie
davon auch leben können. Das muss das Ziel einer vernünftigen sozialen Marktwirtschaft sein.
({3})
Inzwischen gibt es in Deutschland etwa 2,5 Millionen
Menschen - Tendenz steigend -, die nicht arbeitslos
sind, also Arbeitslosengeld II bekommen. Seit Einführung dieses Instruments sind es 800 000 mehr geworden.
Ursprünglich waren es 1,7 Millionen. Die Zahl derjenigen, die arbeitslos sind und Arbeitslosengeld II bekommen, sinkt dagegen. Die Belebung auf dem Arbeitsmarkt
wirkt. Aber es gibt zunehmend mehr Menschen, die beschäftigt sind und trotzdem ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen. Darunter sind etwa 500 000 Vollbeschäftigte, eine Reihe von Teilzeitbeschäftigten,
80 000 Selbstständige und die Aufstocker, bei denen das
Arbeitslosengeld I nicht hoch genug ist. Damit müssen
wir uns auseinandersetzen. Die Diskussion darüber, ob
wir 21,4 Milliarden oder 25 Milliarden Euro für passive
Leistungen im Rahmen des Arbeitslosengeldes II ausgeben, hat damit zu tun.
Wie viel muss denn eigentlich gezahlt werden? Und
wer zahlt diese Löhne nicht so hoch, wie sie eigentlich
sein müssten? Darüber haben wir diskutiert. Wir haben
fünf Lösungsansätze, die ich in aller Kürze beschreiben
möchte:
Erster Lösungsansatz: Angebot an alle Branchen, in
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu kommen. Wir
können keinen dazu zwingen; das wollen wir auch nicht.
Das Angebot gilt aber für alle. Sie müssen versuchen,
die dafür erforderlichen Strukturen herzustellen. Ich
möchte, dass wir Anfang des nächsten Jahres dann in einem großen Gesetz möglichst viele Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen können und es
so in Bezug auf die Dienstleistungsrichtlinie, die 2009
kommen wird, sichern können.
Wir werden sehen, welche Branchen die Aufnahme
beantragen werden. Einige kenne ich schon; die haben
sich schon bei mir gemeldet. Es melden sich übrigens
nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber. Das
zweite Problem, das ich vorhin nicht angesprochen habe,
ist nämlich, dass es ganz viele Arbeitgeber gibt, die einen ordentlichen, fairen Lohn zahlen und sagen: Es kann
doch nicht sein, dass irgendeiner mit Lohndumping mich
als Unternehmer untergräbt. - Da kamen Arbeitgeber
aus der Wachdienstbranche zu mir und sagten: Wir wollen unseren Leuten anständige Löhne, 7 Euro, zahlen.
Was sollen wir aber machen, wenn ein anderes Unternehmen die Arbeit für 2,50 Euro macht? - Arbeitgeber
und Arbeitnehmer wollen also in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden.
Unser Angebot gilt für alle Branchen: Sie sollen im
Verlauf dieses Jahres klären, ob sie in das ArbeitnehmerEntsendegesetz aufgenommen werden wollen; dann
müssen sie die strukturellen Voraussetzungen dafür
schaffen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen Verträge schließen. Wir beeinflussen die Tarife überhaupt
nicht.
Das läuft wie bei den Gebäudereinigern. Arbeitgeber und Arbeitnehmer dieser Branche sind zu uns gekommen und haben gesagt: Macht den Tarif von
7,87 Euro im Westen und 6,36 Euro im Osten allgemeinverbindlich. Das haben wir dann gemacht. So läuft das
ab. Instrument Nr. 1 ist also, ein tariflicher Mindestlohn, wie ich es immer genannt habe.
Instrument Nr. 2: Kombilöhne. Ja, es gibt Menschen,
die aus verschiedenen Gründen nicht produktiv genug
sind. Da sagen wir: Wir zahlen dazu. Bei schwervermittelbaren Jugendlichen unter 25 Jahren sagen wir: Arbeitnehmer, stell den Jugendlichen ein, wir zahlen zwei
Jahre lang einen sogenannten Qualifizierungskombi. Bei
den Älteren gibt es die Initiative 50 plus: Wir zahlen
dir, Arbeitgeber, einen Zuschuss; nimm ihn. Stichwort
sozialer Arbeitsmarkt: Es gibt Hunderttausende von
Schwervermittelbaren. Wir sagen den Städten und Sozialverbänden diesbezüglich: Nehmt sie, wir zahlen euch
etwas dazu. - Das ist eine Frage der Produktivität. Dann
stimmt das auch wieder.
Instrument Nr. 3: Wir versuchen, zu erreichen, dass
möglichst wenig Menschen in die Hilfebedürftigkeit rutschen. Das betrifft die Frage nach dem Zuverdienst.
Was ist mit denen, die 700 Euro, 800 Euro, 900 Euro,
1 000 Euro oder 1 200 Euro haben und die zur Arge
kommen und sagen: Ich muss noch Geld dazu haben?
Denen sagen wir: Bleibt weg, bleibt aus der Hilfebedürftigkeit raus! Wir geben euch einen Erwerbstätigenzuschuss. - Bei einem Lohn von 800 Euro Lohn beträgt er
20 Prozent. Der Zuschuss sinkt degressiv ab. So können
sie aus der Hilfebedürftigkeit rausbleiben. Das ist die
Idee, die beim Kinderzuschlag schon dagewesen ist. Wir
wollen mit dieser Maßnahme erreichen, dass möglichst
viele Familien oder solche, die in die Nähe der Hilfebedürftigkeit rutschen, draußen bleiben können. Das wird
noch zu präzisieren sein. Darüber reden wir noch im
Einzelnen. Aber der Gedanke ist doch nicht falsch, zunächst einmal den Menschen zu helfen, gar nicht in die
Hilfsbedürftigkeit zu rutschen, auch keine Vermögen
nachweisen zu müssen, auch keine Schonvermögenproblematik zu haben, sondern die Leute draußen zu halten.
({4})
Der Kinderzuschlag muss hierbei eine ganz besondere Rolle spielen.
Punkt 4: Sittenwidrigkeit. Dazu gibt es eine Rechtsprechung in Deutschland. In der Tat gibt es dabei ein
Problem. Bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines
Lohns wird nicht geschaut, wie hoch oder niedrig ein
Lohn ist, sondern nur, in welchem Verhältnis er zu dem
steht, was vereinbart war bzw. zu dem, was ortsüblich
ist. Da gibt es große Schwankungen. Der Spitzenkoch,
der einen Anspruch auf einen Lohn von 50 Euro in der
Stunde hat, kann sagen: Mein Lohn, der bei 30 Euro
liegt, ist sittenwidrig. Die Friseuse, die für 3,20 Euro arbeitet, kann sagen: Solange mein Lohn nicht unter
2,20 Euro rutscht, ist er nicht sittenwidrig. Da sagen wir
alle: Das kann so nicht sein. Ich bin dafür, dass man definiert, was unangemessen niedrige Löhne sind. Wir müssen deutlich darüber sprechen, wie hoch der Lohn wenigstens sein muss, unter welche Schwelle der Lohn
nicht rutschen darf.
Damit komme ich zum Punkt Nr. 5: die Mindestlöhne. Wir sagen: Wenn man das Konzept des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes hat - so, wie ich es eben beschrieben habe -, wird es Lücken geben. Die Größe
dieser Lücken kann man heute noch nicht abschätzen.
Werden 10 Prozent der Branchen darunter fallen oder
werden es 90 Prozent sein? Ich weiß es nicht. Und dann
werden wir einen Auffangmindestlohn machen, der
diese Lücken schließt.
({5})
- Ich werbe hier dafür. - Dieser Mindestlohn muss sich
an den Eckpunkten des Einkommens eines alleinstehenden, kinderlosen Arbeitslosengeld-II-Empfängers, von
netto auf brutto gerechnet, orientieren. Da derjenige, der
arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, kommt ein Plus von x Prozent oben drauf. Dann
kommen wir auf einen Auffangmindestlohn, der dafür
sorgt, dass die im System bestehenden Lücken geschlossen werden.
Da gibt es noch viele Fragezeichen; man bräuchte
länger, um das im Einzelnen zu erklären; ich wollte versuchen, Ihnen den Gesamtzusammenhang darzustellen,
wie wir das sehen und wie wir das vorantreiben möchten. Man wird in den nächsten Monaten sehen, worauf
das hinausläuft. Ich glaube, dass die lange Diskussion,
die wir darüber geführt haben, sich gelohnt hat und noch
lohnt. Man hat viel dazugelernt. Das ist auch gut, dass
man dann in ein Stadium kommt, in dem man das, was
man vereinbart hat, was gemeinsam in der Koalition
möglich ist, auch zu einem guten Ergebnis führt. Ich bin
da zuversichtlich. Denn über die Ziele, die ich eben beschrieben habe, sind wir uns in diesem Haus eigentlich
alle einig: Es kann nicht sein, dass - jenseits aller Fragen
der Produktivität - manche Löhne in Deutschland so
niedrig sind, dass derjenige, der für einen niedrigen
Lohn arbeitet, sich fragen muss, weshalb er überhaupt
jeden Morgen um halb sechs aufsteht, während andere in
der Nachbarschaft liegen bleiben können. Außerdem
dürfen die Unternehmen, die ordentliche Löhne zahlen,
nicht die Dummen sein. Deswegen sind Formen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und eines Auffangmindestlohnes vernünftige Ansätze, um dieses Problem insgesamt sinnvoll zu regeln.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Lötzer von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der tarifliche Stundenlohn eines Zimmermädchens im Hotelgewerbe würde etwa 7 bis 8 Euro betragen. Trotzdem gibt
es viele Zimmermädchen, zum Beispiel in Köln, die
mit 3 bis 4 Euro die Stunde abgespeist werden. Die Hotelketten haben mehr als die Hälfte des Reinigungspersonals ausgegliedert und vergeben die Reinigung jetzt an
Firmen. Die Beschäftigten erhalten real 1,78 Euro bis
2,50 Euro pro Zimmer. Für ein Zimmer brauchen sie
30 bis 40 Minuten. Bei zehn bis zwölf Stunden am Tag
und sieben Tagen in der Woche bringen sie demnach
700 Euro brutto im Monat nach Hause. Das ist die Realität. Wir sagen: Das ist ein Skandal, dem mit einem ge9524
setzlichen Mindestlohn Abhilfe geschaffen werden
muss.
({0})
Ihre Aussage, Herr Niebel, wir bräuchten dringend
Lohnspreizung, bzw. Ihre Forderung nach einem funktionsfähigen Niedriglohnsektor in Deutschland ist genauso ein Skandal wie der Lohn des Zimmermädchens.
({1})
Herr Kolb, Sie haben mit dem Sachverständigenrat
gesagt, Konsequenz eines Mindestlohns seien Wohlfahrtseinbußen.
({2})
Ich frage Sie: Welche Wohlfahrtseinbußen hätte denn
dieses Zimmermädchen, wenn ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt würde?
({3})
Welche Wohlfahrt hat dieses Zimmermädchen bei
700 Euro brutto im Monat? Das ist ein Hungerleben und
keine Teilhabe an Wohlfahrt.
({4})
Erst mit einem gesetzlichen Mindestlohn würde ihr ein
Leben in Würde ermöglicht. Das gilt für das Zimmermädchen, das gilt für die Friseuse in Sachsen, das gilt für
viele Frauen. Denn Frauen sind bereits jetzt die Hauptverlierer dieser Niedriglohnpolitik: Ihr Anteil an der
Gruppe derer, die Armutslöhne beziehen, beträgt
70 Prozent.
Sie behaupten auch jetzt wieder, ein Mindestlohn vernichte Arbeitsplätze.
({5})
Dabei können Hotels nicht abwandern, genauso wenig
wie Friseure. Viele Bereiche, in denen Armutslöhne gezahlt werden, sind vom Binnenmarkt abhängig.
({6})
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde Unternehmen vor Schmutzkonkurrenz
schützen, die Wettbewerb nicht über Qualität und Innovation führen will, sondern darüber, wer die niedrigsten
Löhne zahlt.
({7})
Und - auch das ist Realität, Herr Pofalla -: Deutschland ist jetzt schon das Lohndumpingland in Europa.
Deshalb verzeichnet Deutschland Monat für Monat,
auch im Jahre 2007, wachsende Exportüberschüsse und
setzt die anderen westeuropäischen Länder dadurch unter Druck.
Die Deutsche Bundesbank hat kürzlich davor gewarnt, dass erneut ein europaweiter Lohnsenkungswettlauf zu erwarten sei, da Italien, Frankreich und Spanien
dieser Entwicklung nicht länger nur zusehen würden.
Statt dem entgegenzuwirken, wollen Sie dafür sorgen,
dass Deutschland für die Unternehmen in Europa zum
Dumpingparadies wird.
({8})
Dieser Dumpingwettlauf könnte durch die Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland begrenzt werden. Das wäre im Hinblick auf die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands verantwortungsvoll und
würde im Interesse der Menschen in Deutschland liegen.
({9})
Kollege Heil, nun komme ich zu Ihnen. Über Ihre Bekenntnisse zur Mitbestimmung und zur Tarifautonomie
freuen wir uns. Wir stimmen Ihnen zu. Aber Sie nennen
keine Maßnahmen, mit denen Sie diese Rechte stärken
bzw. ihnen zur Durchsetzung verhelfen wollen. Wo
bleibt die Einführung eines Verbandsklagerechts für Gewerkschaften, das dazu beitragen könnte, dass sie wieder
kampffähig werden, um sich für Tariflöhne oberhalb von
3 bis 4 Euro einzusetzen?
({10})
Wo bleiben Maßnahmen gegen Massenentlassungen
trotz großer Profite, in deren Rahmen Sie zum Beispiel
die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigten
stärken könnten? Wo bleiben Maßnahmen, durch die die
soziale Verantwortung der Unternehmen wiederhergestellt wird? Bei Bekenntnissen dürfen wir nicht stehen
bleiben. Wenn man die Mitbestimmungsrechte ernst
nimmt, ist Handeln gefragt.
({11})
Genauso verhält es sich mit dem gesetzlichen Mindestlohn. Der SPD-Bürgermeister von Bremen kündigt
öffentlich eine Bundesratsinitiative zur Einführung eines
Mindestlohns in Höhe von 7,50 Euro an; das macht sich
im Wahlkampf natürlich gut. Sie führen eine Unterschriftensammlung durch, obwohl aus allen Umfragen
deutlich hervorgeht, dass die Mehrheit der Bundesbürger
die Einführung eines Mindestlohns befürwortet. Damit
das kein Wahlkampfgeklingel bleibt - das hätten die betroffenen Menschen nämlich nicht verdient -, sind allerdings Maßnahmen notwendig.
Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört, Herr Kollege Müntefering. Aber von einem existenzsichernden
Mindestlohn habe ich in Ihrer Rede nichts gehört.
({12})
Das Entsendegesetz ersetzt ihn nicht. Sie sprachen von
einem Auffanglohn. Das klingt sehr stark nach einem
Armutslohn bzw. nach sittenwidrigen Löhnen, nicht aber
nach einem existenzsichernden Mindestlohn. Hier wäre
eine Klarstellung im Hinblick auf die Höhe des Mindestlohns notwendig.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Ihnen
morgen die Chance geben, über den Text Ihrer Unterschriftensammlung abzustimmen und deutlich zu machen, dass Sie zu Ihrer Forderung stehen. Nehmen Sie
diese Chance wahr.
Frau Kollegin.
Ich bin sofort am Ende.
Bitte.
Sie werden doch wohl nicht an die Menschen appellieren, eine Forderung zu unterschreiben, zu der Sie
selbst im Parlament nicht stehen. Wir können zum diesjährigen 1. Mai ein gutes Signal geben
Frau Kollegin, schauen Sie bitte auf die Uhr. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen. Ich bitte Sie, zum
Ende zu kommen.
- und 2,5 Millionen Menschen und ihren Familien ein
Leben in Würde ermöglichen.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen heute wieder eine Debatte über die Einführung von Mindestlöhnen, über die Ablehnung von Mindestlöhnen, über die Einführung eines Bürgergeldes,
über existenzsichernde Löhne und dergleichen mehr.
Darüber haben wir in diesem Hohen Hause schon sehr
häufig diskutiert. Wir führen diese Debatte auch deshalb,
weil es in verschiedenen Bereichen Fehlentwicklungen
gegeben hat, zum Beispiel im Hinblick auf die Einkommen der Bürgerinnen und Bürger. In unserer Gesellschaft haben problematische Entwicklungen stattgefunden, die dieses Thema befördert haben.
Wir alle sind uns in diesem Hause einig, dass die
Menschen durch eigener Hände Arbeit ein Einkommen
erzielen müssen, das es ihnen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen. Dies ist aber nicht allen Menschen in unserem Lande möglich. Deshalb haben wir in den verschiedensten Bereichen ein sehr ausgefeiltes soziales
Sicherungsnetz geschaffen. Dieses soziale Sicherungsnetz fängt die Menschen auf, sodass sie ein gutes Leben
führen können. Die Lohnpolitik kann nie die Sozialpolitik ersetzen.
({0})
Dies sollte man zu bedenken geben und in Diskussionen
auch berücksichtigen.
In unserem Land haben wir 2,5 Millionen ALG-IIBezieher. Der Bundesminister hat das bereits aufgeführt.
Vor der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, also vor den Hartz-Reformen, hatten wir
1,7 Millionen Bezieher. Man kann also festellen, dass
die Zahl der Bezieher gestiegen ist. Möglicherweise liegt
das daran, dass der soziokulturelle Mindestbedarf angehoben wurde und deshalb mehr Menschen in die Hilfebedürftigkeit geraten sind.
Herr Kollege, jetzt muss ich Sie trotzdem fragen, ob
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zulassen.
Ja.
Vielen Dank. - Herr Kollege Straubinger, Sie haben
ja eben sehr anschaulich dargestellt, wie Lohnfindung
und Sozialpolitik in Deutschland aufgestellt sind. Der
Bundesminister hat in seiner Rede vor Ihnen sein Konzept eines Auffangmindestlohnes erklärt.
Können Sie mir vor dem Hintergrund dessen, was Sie
völlig richtig definiert haben, erklären, worin der Unterschied zwischen einem gesetzlich festgelegten Auffangmindestlohn und einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn besteht? Außer im Hinblick auf den Wortanfang
Auffang ist mir eigentlich nicht wirklich erklärbar,
worin der Unterschied bestehen soll.
Ich bin nicht für die Definitionen dessen zuständig,
was der Herr Minister gesagt hat. Es wäre besser, den
Herrn Minister dazu zu fragen.
({0})
Ich glaube aber, dass wir mit gesetzlichen Mindestlöhnen letztendlich keine gute Basis schaffen.
Der Kollege Heil hat sich hier für die Tarifautonomie ausgesprochen, die wir alle schätzen. Ich glaube,
dass Deutschland mit der Tarifautonomie sehr gut gefahren ist. Auch die Bürgerinnen und Bürger sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten aufgrund
der Tarifautonomie von dem Produktivitätszuwachs profitieren, und ich bin davon überzeugt, dass dies bei den
aktuellen Tarifverhandlungen zusätzlich zum Ausdruck
gebracht werden wird. Deshalb bin ich der Meinung,
dass es der gesetzlichen Definition eines Mindestlohnes
nicht bedarf.
({1})
- Bitte schön.
({2})
Ich bin davon überzeugt, dass wir eine vernünftige
Sozialpolitik letztendlich nicht über einen Mindestlohn
absichern können und sollten und dass wir manchen
Dingen hier in den Debatten eine zu große Aufmerksamkeit widmen. In unserem Land gibt es fast 40 Millionen
Erwerbstätige. Ganze 150 000 davon - das ist für den
Einzelnen sicherlich bedauerlich - erhalten einen Stundenlohn von unter 4,50 Euro. Ganze 600 000 haben einen Stundenlohn von unter 6 Euro. Dieser Betrag kommt
dem nahe, was der Herr Bundesminister zum Schluss
ausgeführt hat.
Hier ist meines Erachtens die Sozialpolitik letztendlich das Auffangnetz. Aufgrund der einzelnen Mechanismen, die wir entwickelt haben, werden entsprechende
Zuschüsse gegeben, weil die Produktivität des Einzelnen
- vielleicht aufgrund seiner familiären Situation - nicht
steigen kann. Manch einer hat vielleicht aus anderen
Gründen nicht die Möglichkeit, einen gut bezahlten Job
auszuüben. Vielleicht hatte er nicht die Gelegenheit, einen Beruf zu erlernen. Das ist eben oft so. Die natürlichen Anlagen sind unterschiedlich.
Dann ist aber die Sozialpolitik gefordert. Wir können
das nicht durch die Lohnpolitik zum Ausgleich bringen.
({3})
Deshalb glaube ich, dass es unter sachlichen Gesichtspunkten durchaus vernünftig ist, gesetzlichen Mindestlöhnen eine Absage zu erteilen.
Ich sage aber auch ganz deutlich, worauf die Kollegen
Brauksiepe und Pofalla sowie viele andere Vorredner
schon hingewiesen haben: Es darf keine sittenwidrigen
Löhne geben. Es darf auch keine zu niedrigen Löhne geben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist aber Auftrag der Tarifparteien, dafür zu sorgen, dass Niedrigstlöhne, die wohlgemerkt Tarifabschlüsse sind und die wir
heute beklagt haben, in Ordnung gebracht werden. Hier
können wir nur die Tarifpartner auffordern, eine untere
Auffanglinie einzuführen bzw. mit zu erarbeiten. Ich
glaube, dass dies ein vernünftiger und auch gangbarer
Weg ist. Ich glaube nicht, dass gesetzliche Regelungen
der Weg sind, den sich manche in diesem Hohen Hause
vorstellen.
({4})
Bei allen Regelungen, die wir treffen könnten, ist
meines Erachtens für die Bürgerinnen und Bürger entscheidend, dass die Rahmenbedingungen der Wirtschaft zusätzlich verbessert werden. Wir haben heute bereits darauf hingewiesen, dass wir in diesem Land mehr
als 1 Million Arbeitslose weniger zu verzeichnen haben.
Es besteht die berechtigte Aussicht, dass wir in diesem
Jahr zusätzlich 400 000 sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse haben werden und dass der
Abbau der Arbeitslosigkeit weiter voranschreitet. Das ist
ein großer Erfolg der ergriffenen Maßnahmen dieser
Bundesregierung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja.
Herr Straubinger, ich habe mit Freude zur Kenntnis
genommen, dass Sie der Auffassung sind, dass die Tarifvertragsparteien die aus Ihrer und aus meiner Sicht zu
gering geratenen Tariflöhne zu korrigieren haben. Diese
Tarifabschlüsse sind auch Ausdruck der gegenwärtigen
Kräfteverhältnisse zwischen den Tarifvertragsparteien,
die offensichtlich zuungunsten der Gewerkschaften sind.
Können wir von Ihnen nun ein Gesetz erwarten, das die
Kampffähigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften wieder stärkt, um ihrem Ziel näher zu
kommen?
Herr Ernst, ich glaube, die Kampffähigkeit und die
Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften sind sehr
stark.
({0})
Es gilt, die Mittel entsprechend einzusetzen. Ich bin
davon überzeugt, dass in verschiedenen Bereichen Tarifverträge unter dem Gesichtspunkt der regionalen Wettbewerbsfähigkeit abgeschlossen worden sind. Was nützt
ein zu hoher Tarifabschluss, wenn letztlich die Arbeitsplätze verloren gehen und den Menschen die Chance,
Arbeit zu finden, vollständig verbaut wird? Das ergibt
doch keinen Sinn.
({1})
Ich glaube, wir tun gut daran, bei Tarifabschlüssen
gerade im Osten Deutschlands mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit dieses Raums die regionalspezifischen
Belange zu berücksichtigen. Ich bin davon überzeugt,
dass dies in sehr verantwortlicher Art und Weise in den
Händen der Tarifpartner, der Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, liegt.
({2})
- Ich sehe keinen Anlass, dem hier eine neue gesetzliche
Form zu geben.
Ich glaube, dass wir in den Bereichen, über die wir in
der Großen Koalition in Zukunft zu diskutieren haben,
zusätzliche Chancen für die Menschen in unserem Land
eröffnen werden. Der Herr Bundesminister hat darauf
hingewiesen. Ein Stichwort ist hier Jugendliche mit
geringer Ausbildungsqualifikation, für die vielleicht
noch andere Vermittlungshemmnisse bestehen. Diesen
Jugendlichen wollen wir als Große Koalition eine besondere Präferenz geben, um ihnen neue Chancen auf dem
ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Ich glaube, dies ist für
die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere für die
langzeitarbeitslosen Jugendlichen wichtig. Diese Große
Koalition wird ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung in
jedem Fall gerecht werden.
({3})
Wir haben den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bereits neue Chancen eröffnet. Das Stichwort lautet hier 50 plus. Dieses Programm haben wir
in diesem Hause schon beschlossen. Die Flankierung des
normalen Abbaus der Arbeitslosigkeit durch diese Arbeitsmarktmaßnahme bedeutet, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, wenn sie in höherem Alter in Arbeitslosigkeit geraten sind, Chancen haben, wieder eine
Arbeitsstelle zu finden.
Ich bin überzeugt, dass durch das Entsendegesetz,
das auf der einen Seite zum Teil kritisiert wird, auf der
anderen Seite aber von vielen, die es heute kritisieren,
gesetzlich herbeigeführt worden ist, Verwerfungen auf
dem Arbeitsmarkt in den verschiedensten Bereichen verhindert werden können. Dies müssen aber die Tarifparteien für sich selbst erklären und erarbeiten. Hier gilt das
Gebot der Freiwilligkeit, wenn diese die Tarifpartner für
sich selbst erklärt haben. Hier gibt es sicherlich manche
Ansprüche aus dem Baubereich, aus vorgeschalteten Bereichen und auch von Handwerkern, die sagen: Manche
Allgemeinverbindlichkeit war in den vergangenen Jahren vielleicht nicht schlecht. Darüber gilt es nachzudenken. Ich bin davon überzeugt, dass die Große Koalition
die Kraft haben wird, solche zukunftsfähigen Maßnahmen in die Tat umzusetzen. Im Sinne der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und der Zukunftschancen der Bürgerinnen und Bürger hat die Große Koalition bisher eine
gute Arbeit geleistet.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus
Brandner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner aus der SPD haben bereits eindeutig klargestellt, dass wir einen Mindestlohn wollen. Wir können die Verwerfungen am
Arbeitsmarkt in diesem Land nicht einfach hinnehmen.
Wir freuen uns, dass zum Beispiel auch die Grünen sich
dieser Überlegung angeschlossen haben. Wir freuen uns,
dass die Linke einen Antrag eingebracht hat - er steht
morgen auf der Tagesordnung -, in dem auch sie sich
dieser Überlegung anschließt. Aber klar ist - um es hier
von vornherein ganz deutlich zu sagen -: Wir werden
dieses Projekt mit unserem Partner in der Großen Koalition auf einem vernünftigen Weg durchbringen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben Ihre persönliche Meinung klar geäußert; das ist anerkennenswert.
Kollege Straubinger konnte mir vorhin eine Frage nicht
beantworten, die der Ihrer Partei angehörende Bundesarbeitsminister aufgeworfen hat. Vielleicht können Sie mir
helfen, zu verstehen, was der Unterschied zwischen einem gesetzlich definierten Auffangmindestlohn und einem gesetzlichen Mindestlohn ist.
Herr Niebel, Sie haben in Ihrem Antrag von vornherein jede Form der Sicherung abgelehnt. Ich glaube
kaum, dass Sie ein ernsthaftes Interesse daran haben,
({0})
erklärt zu bekommen, dass wir in diesem Land eine Mindestauffanglinie brauchen, damit die Lohndrift nicht
weiter zunimmt, damit das, was wir ernsthaft wollen,
nämlich einen gerechten Lohn für gute Arbeit und dass
diejenigen, die Vollzeit arbeiten, von ihrem Lohn auch
leben können, erreicht wird.
({1})
Insofern definiert sich diese Größenordnung völlig klar
von selbst. Wir befinden uns hier ja nicht in Tarifverhandlungen, sondern wollen im Hinblick auf den Lohn
eine Größenordnung festlegen, die es ermöglicht, dass
diejenigen, die Vollzeit arbeiten, nicht noch zusätzlich
Arbeitslosengeld II beanspruchen müssen. Unsere Ausgangsposition ist: Fairer Lohn für faire Arbeit!
({2})
Der Grundsatz Gerechter Lohn für gute Arbeit trifft
natürlich auch für die Friseurin in Thüringen mit einem
Stundenlohn von 3,18 Euro zu. Das trifft für Menschen
im Bewachungsgewerbe, in der Fleischindustrie, in der
Gastronomie und bei der Post zu. Es gibt viele Bereiche,
wo Lohndumping verhindert und bekämpft werden
muss. Deshalb müssen wir mit gesetzlichen Maßnahmen
eingreifen.
Heute ist gesagt worden, ein gesetzlicher Mindestlohn
sei ein Eingriff in die Tarifautonomie. Dies teile ich
ausdrücklich nicht. Im Gegenteil: Wo Partner im Tarifvertragsgeschäft fehlen, wo überhaupt keine Partner vorhanden sind, da muss gerade der Staat helfend einspringen, damit die Tarifautonomie insgesamt gesehen
gesichert bleibt.
({3})
Es ist angesprochen worden, dass es gefährlich wäre,
Mindestlöhne einzuführen, weil das ein Wahlkampfthema sei und die Parteien sich gegenseitig hochschaukeln könnten. Ich glaube, gerade meine Fraktion hat
dazu immer wieder deutlich gemacht, dass wir eine unabhängige Kommission mit Vertretern der Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitgeber wollen, die einen Vorschlag zur Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns
erarbeitet, damit die richtige Entscheidung getroffen
werden kann. Solche Themen sind auch in anderen Ländern aus dem Wahlkampf herausgehalten worden. Insofern gibt es darauf eine klare, sachliche Antwort.
({4})
Die Einführung eines Mindestlohns sei nicht möglich,
wurde gesagt, weil die Arbeitslosigkeit in unserem
Land zu hoch sei. In anderen Ländern der EU wurden
gerade erst Mindestlöhne eingeführt. 20 der 27 Mitgliedstaaten der EU haben inzwischen einen gesetzlichen
Mindestlohn; in fünf Ländern gibt es flächendeckende
tarifliche Mindestlohnregelungen. Das heißt, wir sind
auf diesem Gebiet zwar kein Niemandsland, aber ein
Entwicklungsland. Es ist dringend notwendig, dass wir
Änderungen vornehmen.
({5})
Wir haben keinen überregulierten Arbeitsmarkt; vielmehr ist es aus ordnungspolitischer Sicht notwendig,
dass der Staat in diesem Punkt eingreift.
Ich will in diesem Zusammenhang auf den Vorwurf
eingehen, dass wir wegen einer zu starken Überregulierung arbeitsmarktpolitisch nicht sehr erfolgreich sind.
Welches Land in Europa hat im Nachkriegsvergleich einen so starken Beschäftigungszuwachs und einen so
hohen Rückgang der Arbeitslosigkeit erreicht, wie wir es
mit unserer Arbeitsrechtsgesetzgebung im letzten Jahr
geschafft haben? Das ist eine hervorragende Bilanz, die
gerade dafür spricht, dass wir soziale Schutzrechte und
Arbeitnehmerrechte brauchen. Sie sind eine Ursache dafür, dass wir ein wettbewerbsfähiges Land sind. Darauf
sollten wir stolz sein.
({6})
Des Weiteren war die Rede davon, dass sittenwidrige
Löhne verboten werden sollten. Sittenwidrige Löhne
sind verboten; sie sind rechtswidrig. Man darf auf diesem Gebiet nicht rechtsunklar werden. Wir haben nichts
dagegen, dass das in einem Gesetz noch präziser definiert wird. Das ist aber kein Ersatz für das, worüber wir
diskutieren müssen. Das muss deutlich werden.
({7})
Insofern will ich in der heutigen Mindestlohndebatte
noch etwas ausführlicher auf den Antrag der FDP eingehen. Ich sage klar: Wir sind sehr für Wettbewerb; aber
wir wollen keinen Wettbewerb bei Dumping- oder Billiglöhnen, sondern zu fairen Bedingungen. Ich glaube,
das ist klargeworden. Wir wollen nicht, dass die Beschäftigten am Ende die Zeche alleine zahlen. Mich ärgert dabei die Widersprüchlichkeit vieler Mindestlohngegner. Wir alle wollen nämlich eine hohe Qualität bei
den Dienstleistungen des täglichen Bedarfs. Wir alle
wollen einen qualitativ hohen Service. Dann sind wir
aber auch verpflichtet, den Menschen, die diese Dienstleistungen erbringen, einen anständigen Lohn zu zahlen.
({8})
Deshalb trifft das DGB-Motto zum 1. Mai ausdrücklich
zu: Du hast mehr verdient!. Den Kern dieses Anliegens teilen und unterstützen wir voll.
Man sollte sich die Mühe machen, in diesem Zusammenhang den FDP-Antrag genauer zu lesen. Er zeigt,
mit welcher Motivation und inneren Einstellung man an
den Mindestlohn herangeht. Der Mindestlohn wird als
Einfuhrzoll auf den ausländischen Faktor Arbeit bezeichnet.
({9})
Des Weiteren heißt es in dem Antrag, Menschen würden
durch Mindestlöhne zu Opfern. Tarifverträge werden
zum Sündenbock für die Arbeitslosigkeit erklärt.
Beim Lesen Ihres Antrags fällt einem - das sage ich
deutlich - die Brille von der Nase. Wo bleiben bei Ihnen
die Menschen? Wo bleiben die Menschen, die eine Vollzeitbeschäftigung haben, aber von ihrem Einkommen
nicht einmal sich selbst, geschweige denn eine Familie
ernähren können? Menschen werden auf Waren und Arbeitnehmer auf Kostenstellen reduziert. Das ist das
wahre Gesicht einer reinen Marktwirtschaftspartei FDP.
({10})
Die Realität in den Betrieben ist eine völlig andere.
Dort sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in erster Linie Ressourcen. Dass man Ressourcen pflegen und weiterentwickeln muss, dürfte auch bei der FDP bekannt
sein. Dies geschieht aber nicht, indem man ihnen die
fundamentalen Rechte nimmt, wie Sie es jetzt vorschlagen.
({11})
Made in Germany ist nicht Made in Billigland.
Hohe Qualität bedeutet hoher Innovationsgrad. Diesen
fordern wir durch gut ausgebildete und hoch motivierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Das Prinzip der
sozialen Partnerschaft hat den Standort Deutschland erst
zu dem gemacht, was er heute ist, nämlich zu einem der
wettbewerbsfähigsten in der Welt. Sozialpartnerschaft
heißt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam
nach Lösungen suchen. Das ist ein Erfolgsrezept in unserem Land. Mit diesem Erfolgsrezept sind wir wettbewerbsfähig, und darauf können wir gemeinsam stolz
sein. Wer das Prinzip der Sozialpartnerschaft auflösen
will, wer Arbeitnehmer nur als Kostenfaktor sieht, wer
die Gewerkschaften schwächen will, der schadet dem
Standort Deutschland.
({12})
Um es konkret zu machen: Das Prinzip der fairen Sozialpartnerschaft gilt auch bei der Telekom. Deshalb sehen wir es sehr kritisch, wenn bestehende Verträge einseitig aufgekündigt und den Partnern Ultimaten gestellt
werden. Das ist keine vertrauensvolle und konstruktive
Gesprächsebene.
({13})
Managementfehler dürfen nicht allein auf dem Rücken
der Arbeitnehmer ausgetragen werden.
({14})
Verträge und erst recht Tarifverträge sind dafür da, dass
sie eingehalten werden. Für uns ist es jedenfalls keine
nachhaltige Erfolgsstrategie, durch Auslagerung einzelner Unternehmensteile die Tarifbindungen zu umgehen.
Tarifabschlüsse sind verbindlich, und zwar für beide Seiten.
({15})
Verlässlichkeit ist eine Grundvoraussetzung für das
Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Genau an dieser Stelle setzt die FDP mit ihren Forderungen
noch eins drauf; ein Blick in den Antrag genügt. Sie stellen das komplette Tarifrecht schlichtweg infrage. Ich
sage ganz deutlich: Das ist schon ein Hammer!
({16})
Sie fordern die Änderung des Günstigkeitsprinzips, die
Auflösung der Flächentarifverträge, die Einschränkung
der Nachwirkung von Tarifverträgen und die Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeit. Tarifverträge sollen
nur noch ein unverbindlicher Rahmen sein.
Ob Tarifverträge eingehalten werden oder nicht, soll
künftig der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat ausmachen.
Man will mehr Entscheidungskompetenz in die Betriebe
verlagern. Das ist prima, könnte man meinen. Mehr Mitsprache beutet mehr Mitbestimmung. Kann man dagegen etwas haben? Gleichzeitig werden aber die Mitbestimmungsrechte abgebaut, werden die Tarifrechte
beschnitten und wird das Betriebsverfassungsgesetz als
bürokratisches Monster angesehen. Nicht mit uns! Um
es klar zu sagen: Es ist gut, dass die FDP in der Opposition ist und diese Forderungen nicht umsetzen kann.
({17})
Es ist gut, dass die SPD in der Regierung ist. Denn - das
will ich hier deutlich sagen - auf uns können sich die Arbeitnehmer in diesem Land verlassen.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4864 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 16/5102 soll überwiesen werden zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales und zur Mitberatung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 e sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Dienstrechts in der Bundesagentur für
Arbeit ({0})
- Drucksache 16/5050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Deutsche
Bundesbank
- Drucksache 16/4971 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes
zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 16/4908 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr ({4}), Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kontrollierte Heroinabgabe in die Regelversorgung aufnehmen
- Drucksache 16/3840 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Erfahrungsbericht der Bundesregierung
über die Durchführung des Stammzellgesetzes
({6})
- Drucksache 15/3639 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 2 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes und anderer Vorschriften
- Drucksache 16/4696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({9}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC stärken
- Drucksache 16/5105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Dr. Lothar Bisky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Eintreten für die Beendigung der von den USA
auferlegten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba
- Drucksache 16/5115 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({12}), Volker Beck ({13}),
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Unterwasserlärm stoppen
- Drucksache 16/5117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/5105 zu Zusatzpunkt 2 b soll abweichend von der Tagesordnung federführend beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Achtundsiebzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 16/4309, 16/4496 Nr. 1, 16/4878 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer
Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4878, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/4309 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in
Russland in Gefahr
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Respekt vor dem Tod von Präsident Jelzin gebietet es, noch einmal an ihn zu erinnern. Ich möchte es mit
dem Zitat eines sehr klugen Satzes von ihm tun: Liebe
Landsleute, ich bitte um Vergebung dafür, dass es mir
nicht gelungen ist, die Hoffnungen jener Mitbürger zu
erfüllen, die da glaubten, wir könnten mit einem einzigen Sprung aus unserer grauen, erstarrten, totalitären
Vergangenheit in eine helle, reiche, zivilisierte Zukunft
gelangen.
Ich weiß, dass Präsident Jelzin in der russischen Bevölkerung durchaus mit gemischten Gefühlen bewertet
wird. Wir wissen, dass der erste Tschetschenienkrieg in
seiner Amtszeit geführt wurde. Dennoch hat er Russland
den Weg zu Demokratie und einer Öffnung nach Westen
gebahnt, auch wenn es etliche Rückschläge gegeben hat.
Damit bin ich bei seinem Amtsnachfolger Wladimir
Putin. Bezeichnend ist sein politisches Selbstverständnis. Auch hier wieder ein Zitat: Je stärker der Staat, desto
freier der Einzelne.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sachverhalt ist
bekannt: Das Niederknüppeln der Demonstranten in
Moskau und Sankt Petersburg durch die gefürchteten
Sondereinheiten der OMON hat den Westen aufgeschreckt. Die Bündnispartner von Kasparow sind nicht
alle appetitlich; das wissen wir. Aber das rechtfertigt
nicht ein solches brutales Vorgehen. Dabei sind auch
viele andere getroffen worden, zum Beispiel Olga
Tsepilowa, eine Biologin und stellvertretende Vorsitzende der Partei Grünes Russland in Sankt Petersburg.
Sie liegt mit gebrochenem Kiefer und Nasenbein in der
Klinik. Auch das Schicksal unserer Presseleute kennen
wir.
Die Entwicklung der letzten Monate: die Ermordung
von Anna Politkowskaja, der ominöse Tod des Ex-KGBlers Litwinenko, der vorgebliche Selbstmord des Journalisten Iwan Safronow, der für seinen vermeintlichen
Selbstmord erst noch in den dritten Stock hinaufgeklettert ist, die geradezu dreist angelegte neue Prozessrunde
gegen Michail Chodorkowski, der offensichtlich für den
Rest seines Lebens im Gulag verschwinden soll und
durch dessen Prozess interessierte Kreise Zugriff auf das
restliche Yukos-Vermögen bekommen werden. Der
staatliche Konzern Gasprom kauft die Medien auf. Praktischerweise sitzt dessen Aufsichtsratsvorsitzender
Medwedjew gleich selbst im Kreml. Selbiges gilt für den
Aufsichtsratsvorsitzenden von Rosneft, Herrn Setschin alles ehemalige KGB-Kollegen von Präsident Putin; sie
sitzen im Präsidialamt.
Putin steht für Stabilität. Das macht ihn im Land, aber
durchaus auch für den Westen attraktiv. Aber wir müssen
klarsehen: Nicht der Einzelne gewinnt Freiheit unter
Putin, sondern der Staat wird immer stärker. Demokratische Rechte werden zunehmend abgebaut; Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und auch die Rechtssicherheit nehmen kontinuierlich
ab.
Wir sollten uns klarmachen, dass Putin ein Mann des
Geheimdienstes ist. Auch wenn er zum 50. Geburtstag
der Europäischen Union, zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in allen großen europäischen Zeitungen einen Artikel hat verbreiten lassen, in dem er seine große Nähe zu den Werten der
Europäischen Union bekräftigt hat, sollten wir genauer
hinschauen. Unter Putin haben seine alten Genossen des
FSB den Kreml zunehmend durchdrungen. Dabei geht
es um die Verteilung von Macht und auch um sehr viel
Geld. Auch das Vermögen dieses Landes wird untereinander aufgeteilt.
Dazu passt dann, dass Putin - wie jetzt in seiner Rede
an die Nation - an eine alte Idee anknüpft, die wir aus
Zeiten des Kommunismus kennen. Er fordert nämlich
die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten
Russlands. Das bedeutet aber, dass das Mitglied des Europarates und der OSZE, Russland, sich verbittet, dass
über Demokratie in eigener Sache gesprochen wird. Den
Gefallen dürfen und können wir Putin nicht tun.
({2})
Wir werden uns in diesem Haus noch häufig darüber
austauschen müssen, wie wir mit diesem wichtigen
Nachbarn, unserem Gegenüber, den wir aus vielerlei
Gründen auch brauchen, umgehen wollen und müssen.
Eines aber ist klar: Wir brauchen eine klare Sprache, wir
brauchen einen geraden Rücken, und wir müssen in Fragen von Menschenrechten und Demokratie konfliktbereit sein. Von manchen ist schon das Schlagwort
Schweigen für Gas und Öl genannt worden. Das darf
eine Wertegemeinschaft wie die Europäische Union
nicht zulassen.
Bei aller notwendigen Auseinandersetzung und dem
Streben nach Partnerschaft ist Russland derzeit eher ein
Gegenüber, mit dem ein schwieriger Dialog zu führen
ist, als ein Partner, der reklamieren könnte, mit unseren
Werten wirklich übereinzustimmen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich sage für die CDU/CSU in aller Offenheit: Die Rückschläge bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Meinungsfreiheit bereiten uns sehr große
Sorgen. Das wiederholte gewalttätige Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten hat dem
Ansehen Russlands sehr geschadet. Die Staatsmacht hat
nicht, wie behauptet wird, angemessen, sondern in großer Überzahl massiv und unverhältnismäßig reagiert.
Mit diesem Vorgehen wird nicht Stärke gezeigt, sondern Schwäche, nämlich die Schwäche, sich mit politisch Andersdenkenden nicht demokratisch auseinanderzusetzen. Ein solches Verhalten widerspricht allen
internationalen Verpflichtungen, die Russland insbesondere beim Europarat und in der OSZE eingegangen ist.
Es widerspricht auch europäischen Werten.
Dieses Vorgehen ist leider ein neuer Höhepunkt in einer langen Liste von Rückschlägen. So hat es erhebliche
Unregelmäßigkeiten bei den jüngsten Regionalwahlen
gegeben. Eine wirksame demokratische Opposition ist
bei den gegebenen Machtverhältnissen nicht möglich.
Leider gelingt es der liberalen und demokratischen
Opposition aber auch nicht, genügend Wähler an sich zu
binden, obwohl es möglich wäre.
Die Liste politischer Morde wird immer länger, sodass sich die Frage aufdrängt, wie weit die russische
Exekutive noch die politischen Gewalten im Lande kontrolliert. Die staatliche Kontrolle über die Medien hat in
der Zwischenzeit auch die Printmedien erreicht. Richtig
ist leider auch, dass es bisher in der breiten russischen
Bevölkerung nur ein geringes Interesse an freien Medien
gibt. Das alles sind Entwicklungen, die in die falsche
Richtung gehen und die vor allem Russland selbst schaden.
Aber was heißt das nun für uns? Kritik üben, protestieren und ansonsten uns zurücklehnen und abwarten,
was in Russland passiert? Das wäre der falsche Weg,
weil wir damit die vielen Menschen im Stich lassen würden, die sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Pressefreiheit einsetzen und die gerade jetzt unsere Unterstützung brauchen. Nein, wir müssen uns einmischen,
wir müssen uns engagieren.
Russland ist Mitglied in der G 8, im Europarat und in
der OSZE und bald auch in der WTO. Es gibt eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland.
Wir haben deshalb nicht nur das Recht, sondern auch die
Verpflichtung, von Russland die Einhaltung der Werte
dieser Institutionen einzufordern. Dass Einfluss möglich
ist - so schwierig das auch sein mag -, hat sich wiederholt am Beispiel des Europarates gezeigt.
Russland wird sich bald entscheiden müssen, ob es
vor allem ein Rohstoffexporteur sein will oder ob es eine
moderne Wirtschaftsmacht werden will. Wenn aber
Russland den Wandel zu einem modernen, wettbewerbsfähigen Staat vollziehen will, muss es das Potenzial der
Fähigkeiten seiner Bürger vollständig nutzen. Ohne eine
starke und unabhängige Zivilgesellschaft wird es keine
Modernisierung geben.
({0})
Deswegen müssen wir genau beobachten, wie das NGOGesetz angewendet wird, und notfalls erneut auf Korrekturen drängen.
Ein Staat, der sich modernisieren will, braucht mehr
- nicht weniger - unabhängige Medien, damit er sein
ganzes Entwicklungspotenzial ausschöpfen kann. Deshalb müssen wir immer wieder die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit für die innere Entwicklung
Russlands hervorheben.
Russland hat keine demokratische Tradition. Erst mit
Glasnost und Perestroika begann Russland seinen Weg
in die Demokratie; es ist ein langer und steiniger Weg,
für den wir viel Geduld brauchen. Wir sollten aber die
Chancen nicht unterschätzen, die beispielsweise im Generationenwechsel liegen. Viele junge Russen hinterfragen immer mehr, warum nicht auch ihr Land ein moderner Staat sein kann.
Die vielen Kontakte auf allen Ebenen der Gesellschaft bewirken Veränderungen. Deswegen brauchen
wir noch mehr, nicht weniger, Kontakt zu Russland, zum
Beispiel durch einen möglichst großen Jugendaustausch.
Jeder junge Russe, der eine Zeit in Deutschland verbringt, und jeder junge Deutsche, der eine Zeit in Russland verbringt, ist ein Hoffnungsträger im Hinblick auf
eine künftige Wertepartnerschaft.
({1})
Auch die Begegnungen in Kultur, Bildung und Forschung sollten ausgeweitet werden.
Es wäre der falsche Weg, unsere Beziehungen auf
eine reine Interessenzusammenarbeit zu reduzieren. Wir
könnten dann nicht die Chancen auf eine gemeinsame
Zukunft nutzen, die in der geistigen und kulturellen Verwandtschaft liegen. Es wäre auch deshalb der falsche
Weg, weil Europäer und Russen im 21. Jahrhundert noch
stärker aufeinander angewiesen sein werden, als das früher der Fall war.
In der heutigen Ausgabe der Zeit erscheint ein
Interview mit dem russischen Oppositionspolitiker
Wladimir Ryschkow. Ich will mit den Worten abschließen, mit denen er sein Interview zu autoritären Tendenzen in Russland abschließt:
Ich hoffe, dies wird vorübergehen. Ich bin ein Optimist und glaube fest, dass Russland frei und demokratisch werden wird.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Leibrecht,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle haben die hässlichen Bilder von russischen Sicherheitskräften vor Augen, die in Moskau und
Sankt Petersburg friedliche Demonstranten und Journalisten brutal niederknüppeln. Da fragt man sich doch zu
Recht: Was ist los in Russland? Warum tut sich Putin so
schwer mit der Demokratie? Wovor hat die russische
Führung solche Angst, dass sie ein paar hundert friedliche Demonstranten dieser letzten Möglichkeit zur Ergreifung des freien Wortes beraubt?
Der Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow und der
gerade zitierte Wladimir Ryschkow, einer der wenigen
verbliebenen unabhängigen Abgeordneten des russischen Parlaments, waren unter diesen Demonstranten.
Viele hier im Hause kennen beide. Sie sind nicht gewalttätig. Beide sind keine Feinde der Demokratie.
({0})
Sie wollten mit diesen Demonstrationen einen Mangel
an demokratischen Freiheiten unter der Regierung des
Präsidenten Putin anprangern.
Die Knüppel der Sicherheitskräfte bei diesen Demonstrationen waren für uns alle gut sichtbar; doch es
gibt in Russland noch viele andere Knüppel der Staatsmacht, die man nicht sofort sieht. Nur dank couragierter
Männer und Frauen, die sich dort in den wenigen noch
verbliebenen Menschenrechtsorganisationen engagieren,
erfahren wir von Übergriffen und Repressionen des Staates.
Zwar sind Meinungs- und Pressefreiheit in der russischen Verfassung verankert, doch dies scheinen sowohl
Präsident Putin als auch seine gesamte Führungsmannschaft völlig zu ignorieren. Offensichtlich passen weder
regimekritische Demonstrationen noch MenschenrechtHarald Leibrecht
ler in Putins Bild von einer - wie er selber sagt - gelenkten Demokratie.
Jede Opposition muss parlamentarisch wie außerparlamentarisch Möglichkeiten haben, sich als politische
Alternative darzustellen. Der Rechtsstaat ist dazu da,
Rechte zu garantieren, nicht dazu, diese zu beschneiden.
({1})
Wer jedoch - quasi aus Prinzip - in der politischen Opposition eine Gefahr für den Staat sieht, anstatt sich mit
ihr politisch auseinanderzusetzen, hat ein falsches Verständnis von Demokratie. Ein Staat, der seine kritischen
Bürger niederknüppelt, der solche brutalen Übergriffe
weder strafrechtlich aufklärt noch juristisch verfolgt,
verabschiedet sich von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Bei meinen Gesprächen im russischen Parlament vor
wenigen Tagen habe ich - wie auch andere Kollegen aus
diesem Hohen Haus - meine Bedenken und Sorgen deutlich angesprochen. Was wir derzeit in Russland sehen,
wie der Staat mit seinen Bürgern umgeht, erinnert mich
fast schon wieder an alte Sowjetzeiten.
Wir Liberalen erwarten, dass die Bundesregierung
bezüglich dieser Vorfälle klare Worte finden wird. Der
G-8-Gipfel in Heiligendamm ist hierfür in der Tat ein
geeigneter Rahmen. Wir dürfen die G 8 nicht nur als einen losen Bund großer Industriestaaten sehen; denn er ist
eben auch ein Bund starker Demokratien mit zumindest
ähnlichen Wertvorstellungen. Russland wurde ja in einer
Zeit in die G 8 aufgenommen, in der das Land auf dem
richtigen Weg hin zu einer starken Demokratie war. Jetzt
aber, im letzten Jahr der Putin-Präsidentschaft, zeigt sich
Russland in vielen Aspekten der Demokratie abgewandt.
Die Ermordung von Anna Politkowskaja und anderer
Journalisten zeigt, wie gefährlich Regimekritiker heute
in Russland leben. Anna Politkowskaja fühlte sich über
lange Zeit bedroht; das hat sie mir selbst bei einem meiner
Besuche gesagt. Leider hielt es jedoch ihr eigener Staat
nicht für nötig, sie zu beschützen. Bei Schauprozessen
wie gegen den Yukos-Oligarchen Chodorkowski zeigt
die russische Justiz hingegen gnadenlose Härte. Man stellt
sich doch die Frage, ob auf Justitias Waage in Russland
Menschenrechte überhaupt noch von Gewicht sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gut,
dass wir uns heute hier im Deutschen Bundestag mit den
Vorgängen in Russland und den dortigen Menschen- und
Demonstrationsrechten befassen. Mir wäre es allerdings
noch sehr viel lieber, wenn sich endlich die Duma, das
russische Parlament, vorbehaltlos mit diesem Thema
auseinandersetzen würde.
Ich danke Ihnen.
({2})
Nächster Redner ist der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ereignisse vom 14./15. April in Moskau und Sankt Petersburg haben wir alle mit großer Sorge beobachtet. Die
Nachrichten und die Bilder von den gejagten Demonstranten haben die Frage aufgeworfen, ob die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit in Russland noch gewährleistet
ist. Auf diese Frage zu antworten, ist nicht leicht. Man
muss differenzieren.
Ich möchte zunächst einige Worte zur Situation der
Menschenrechte in Russland sagen. Russland garantiert in
der Tat in seiner Verfassung alle Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Präsident Putin und die russische
Regierung bekennen sich immer wieder zur Einhaltung
von Menschenrechten. Russland ist zahlreichen internationalen Menschenrechtskonventionen beigetreten. All
dies ist angesichts der sowjetischen und der russischen
Geschichte nicht gering einzuschätzen. Dennoch kommt
es immer wieder zu Verstößen gegen die von Russland
selbst anerkannten Regeln. Die Ursachen hierfür sind
vielfältig. Ein wichtiger Grund etwa ist das Fehlen rechtsstaatlicher und demokratischer Traditionen. Darauf wurde
eben schon hingewiesen.
Die bestehenden Defizite und Probleme werden
durchaus auch offiziell angesprochen, etwa von dem
Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin, zuweilen
auch von Präsident Putin selbst. Allerdings hat das bisher
zu keiner durchgreifenden Änderung der Verhaltensweise
der Exekutive geführt, was diese hochrangige Problematisierung erst überzeugend machen würde.
Rechtsschutz vor russischen Gerichten gegen Menschenrechtsverletzungen ist nur schwer zu erhalten. Daher nimmt die Zahl der Klagen russischer Bürgerinnen
und Bürger vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg zu - häufig mit Erfolg.
Mit besonderer Sorge beobachten wir seit einiger Zeit
auch die Tendenz, die Pressefreiheit durch zunehmende
staatliche Kontrolle einzuschränken. Das sukzessive
Verschwinden kritischer Diskussionssendungen aus landesweit ausgestrahlten TV-Programmen illustriert den fortschreitenden Bedeutungsverlust der elektronischen Massenmedien für die politische Meinungsbildung.
Ähnlich stellt sich die Situation im Hörfunkbereich
dar. Die landesweiten Sender Radio Rossija und Radio
Majak sind staatlich. Ausnahme ist Echo Moskwy, das
zwar Gasprom gehört, jedoch immer noch unabhängig
berichtet. Die Reichweite des Senders ist allerdings auf
Moskau, Sankt Petersburg und einige regionale Zentren
begrenzt.
Mit Erwerb der Mehrheitsbeteiligung an der Tageszeitung Iswestija durch den staatlich kontrollierten
Konzern Gasprom-Media und der Übernahme der Tageszeitung Kommersant durch Gasprom und Metallinvest
weitet sich der bei den elektronischen Medien begonnene und weit fortgeschrittene Trend zu mehr Kontrolle
auch auf den Printbereich aus.
Gleichwohl werden Themen und Sachverhalte von
nationaler Bedeutung von wichtigen Printmedien und
dem Radiosender Echo Moskwy nach wie vor prominent
aufgegriffen sowie offen und kontrovers diskutiert. Gerade nach den jüngsten Demonstrationen vom 14. und
15. April in Moskau und Sankt Petersburg war die
Berichterstattung einiger Zeitungen durchaus kritisch.
Kommersant beobachtete - ich zitiere - Hackfleisch
aus Nichteinverstandenen. Moskowskij Komsomolez
titelte: Alle Macht - dem OMON. Nowye Iswestija
sprach von belagerter Festung und präzedenzloser Härte.
Allerdings gab es auch eine Berichterstattung, die die
Ereignisse herunterzuspielen versuchte.
Die Pressefreiheit in Russland leidet jedoch nicht nur unter Ausweitung staatlichen Einflusses. Ein weiteres irritierendes Problem - auch das wurde bereits angesprochen besteht in der Gefährdung kritischer Journalisten. Das
hat die Ermordung der engagierten Journalistin Anna
Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in dramatischer
Weise belegt.
Die Bundesregierung und die EU haben mehrfach die
Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass Täter und Drahtzieher dieses Verbrechens schnell ermittelt und bestraft
werden. Die Ermittlungen laufen noch. Nowaja Gazeta,
die Zeitung, für die Anna Politkowskaja arbeitete, hat
die Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft
bei der Aufklärung bisher als gut bezeichnet. Ich stelle
aber hier erneut fest: Die Frage der raschen und überzeugenden Aufklärung dieses feigen und abscheulichen
Mordes wird ganz wesentlich über das internationale
Prestige Russlands entscheiden.
({0})
Was die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit
anbelangt, so garantiert die russische Verfassung das
Recht russischer Bürger, sich friedlich und ohne Waffen
zu versammeln, Kundgebungen und Demonstrationen,
Umzüge und Mahnwachen durchzuführen. Die Art und
Weise, wie die russischen Behörden am 14. und 15. April
gegen friedliche Demonstranten vorgegangen sind, verletzt
diese verfassungsgemäßen Rechte, auch wenn die Demonstrationen behördlich nicht genehmigt waren - übrigens mit
fadenscheinigen Begründungen. Zur Unangemessenheit
der Reaktionen gehören auch die Übergriffe auf russische
und ausländische Journalisten einschließlich deutscher
Medienvertreter.
Während einige russische Regierungsstellen das Vorgehen verteidigten, hat zum Beispiel der Menschenrechtsbeauftragte Lukin eingeräumt, dass die Polizei in beträchtlichem Maße ihre Befugnisse überschritten habe. Die
Gouverneurin von Sankt Petersburg, Matwijenko, hat
angeordnet, dass alle Beschwerden zu Übergriffen der
russischen Polizeieinheiten untersucht werden sollen.
Gleiches forderte Sergeij Jastrschemskij, der Berater des
russischen Präsidenten in EU-Fragen. Ella Pamfilowa,
die Vorsitzende des Rats zur Förderung von Instituten
in der Zivilgesellschaft hat darauf hingewiesen, das
Vorgehen der Miliz habe das weltweite Ansehen Russlands beschädigt.
Die Bundesregierung hat, auch in ihrer Eigenschaft als
EU-Ratsvorsitzende, auf diese Vorgänge rasch reagiert
und am 16. April in einer international stark beachteten
EU-Präsidentschaftserklärung ihre Sorge öffentlich zum
Ausdruck gebracht. Vizeregierungssprecher Thomas
Steg sprach am selben Tag von exzessiver Gewaltanwendung, die Besorgnis errege, und von inakzeptablem Vorgehen gegen Journalisten. Die Bundesregierung erwartet von
der russischen Seite weiter eine lückenlose Aufklärung
dieser Vorgänge.
({1})
Die Deutsche Botschaft in Moskau hat nach den Vorfällen in Moskau und Sankt Petersburg umgehend auf
hoher Ebene demarchiert und ebenfalls eine umgehende
und lückenlose Aufklärung gefordert.
Die Lage der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wird
auch am 3. Mai bei den Menschenrechtskonsultationen
zwischen der EU und Russland gegenüber der russischen
Seite mit Nachdruck angesprochen werden.
Wir werden unser großes Nachbarland im Osten weiter
daran erinnern, welche Verpflichtungen es im Sinne der
Beachtung von Grundrechten als Mitglied der Vereinten
Nationen, der OSZE und des Europarates übernommen
hat. Dies wird sich sicher verstärken, je näher die russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen rücken.
Diese notwendigen kritischen Nachfragen sollten aber so
vorgetragen werden, dass sie von den mutigen Vertretern
der russischen Zivilgesellschaft, deren Proteste gegen
die jüngsten Vorfälle ich gerade zitiert habe, als Unterstützung wahrgenommen werden.
Es gibt in Russland alles: Es gibt die Kräfte der Vergangenheit, gewohnt an autoritäre Strukturen. Es gibt ein
neues, schnell reich gewordenes Establishment, das Demokratie und Meinungsfreiheit als potenzielle Besitzstandsgefährdung wahrnimmt. Ein Teil der politischen Klasse in
Russland fordert Russlands neue Weltgeltung lautstark
ein, hat zugleich aber Angst vor einer Zukunft ohne den
vertrauten Präsidenten Putin. Es gibt in Russland aber
auch viele Menschen, die entschlossen auf eine Demokratisierung und Modernisierung der russischen Gesellschaft
setzen und die Partnerschaft mit der EU und speziell mit
Deutschland dabei als unverzichtbar ansehen. Außerdem
gibt es Vertreter der engagierten Zivilgesellschaft, Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und von Oppositionsgruppierungen, die sich nicht einschüchtern lassen
und unseren vollen Respekt verdienen.
({2})
Klare Signale an die russische Politik sind notwendig;
da stimme ich dem zuvor Gesagten zu. Diese Debatte im
Deutschen Bundestag gehört übrigens dazu. Wir alle
müssen uns dabei aber auch darum bemühen, die Wege
in eine gemeinsame gute Zukunft Russlands in seiner
Partnerschaft mit Europa offenzuhalten. Die Bundesregierung bringt ihre Sorgen über die genannten Vorfälle
- wir sprechen hier darüber - klar zum Ausdruck; zugleich
erklärt sie aber auch ihre Bereitschaft, in partnerschaftlicher
Kooperation mit Russland an dieser gemeinsamen Zukunft
weiterzuarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kein Zweifel aus meiner Sicht: Nicht nur Gedankenfreiheit, sondern auch Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit - dazu gehört Demonstrationsfreiheit - sind
Kernelemente einer Demokratie. Wenn sie bedroht sind,
dann sind öffentliche Kritik und Protest angesagt. Das
Vorgehen der russischen Sicherheitsorgane war gegen
Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und Versammlungsfreiheit gerichtet und muss deswegen - auch öffentlich - kritisiert werden. Ich finde, es ist eine Selbstverständlichkeit und eine Notwendigkeit, das auszusprechen.
({0})
Dazu gehört auch, dafür einzutreten, dass der Druck
auf Journalistinnen und Journalisten nicht weiter ausgeübt, dass die bisherigen Morde an Journalistinnen und
Journalisten aufgeklärt und dass geplante Morde verhindert werden.
({1})
- Ich weiß das.
Ich habe einen großen Respekt vor denjenigen Frauen
und Männern in Russland - es waren vor allen Dingen
Frauen -, die sich, obwohl sie mit den Demonstranten
nicht einer Meinung waren, zwischen die Demonstranten
und die Sicherheitsorgane gestellt haben, um Übergriffe
der Sicherheitsorgane zu blockieren. Auch das hat es ge-
geben.
Ich will unterstreichen: Diese Aktuelle Stunde ist aus
meiner Sicht keine Aktuelle Stunde, die sich gegen
Russland richtet, sondern es ist eine Aktuelle Stunde für
Demokratie. Auch das muss man den russischen Partne-
rinnen und Partnern in aller Deutlichkeit sagen.
Meine Gesprächskollegen in Russland haben mir immer
wieder gesagt: Was regst Du Dich so auf? Das ist doch
überall so. - Ich halte dieses Argument nicht für legitim.
Wenn es überall so ist: a) macht das eine Sache nicht
besser, und b) ist dieses Argument aus meiner Sicht
überhaupt nicht überzeugend. Aber ich gebe zu, dass
dieses Argument bei mir schon wie ein Widerhaken gewirkt hat.
({2})
Ich möchte uns alle gemeinsam hier zu einer gewissen
Nachdenklichkeit aufrufen. Ich fand das Vorgehen von
Herrn Sarkozy gegen die Rebellion in den französischen
Vorstädten - die Bilder haben es gezeigt - nicht sehr viel
besser.
({3})
Ich habe mich gefragt, warum ich nicht zu der Auffassung gekommen bin, eine Aktuelle Stunde zum Thema
Demokratie in Frankreich zu beantragen.
({4})
Wenn wir ehrlich sind, so müssen wir zugeben, dass
manche Bilder von den Demonstrationen gegen die
Castortransporte oder von anderen Demonstrationen, für
die wir Verantwortung tragen,
({5}): Völlig abwegig!)
von der Form her - nicht vom Inhalt her - manchmal
durchaus vergleichbar sind. Ich hoffe, dass uns anlässlich des G-8-Gipfels Bilder von einem solchen Vorgehen
erspart bleiben.
({6})
Ich denke auch, dass wir Anlass haben, in differenzierter Art und Weise, gerade wenn wir mit Russland
ernsthaft ins Gespräch kommen wollen, über eigene Probleme zu reden. Wir müssen uns nicht nur Sorgen über
die Pressefreiheit in Russland machen - dort ist ganz
große Sorge angesagt -, sondern wir müssen auch über
die Pressefreiheit in westlichen Demokratien und auch in
unserem Land nachdenken.
({7})
Ich habe gerade noch einmal eine Rede nachgelesen, die
der große konservative Publizist Paul Sethe 1965 gehalten hat. Paul Sethe stammt ja mehr aus Ihren Reihen. Er
hat gesagt, dass Pressefreiheit die Freiheit von
200 reichen Menschen sei, ihre Meinung zu veröffentlichen. Seit 1965 ist es nicht besser geworden.
({8})
- Es sind weniger geworden. Ich weiß, dass das aus Ihrer
Sicht besser ist.
Das ist qualitativ natürlich überhaupt nicht mit der öffentlichen Diffamierung und mit der Bedrohung vergleichbar, die wir in Russland erleben. Wer aber nicht
bereit ist, über die Probleme im eigenen Land nachzudenken, ist bei der Auseinandersetzung mit der russischen Politik nicht glaubwürdig. Ich möchte gerne, dass
wir glaubwürdig auftreten und sagen können, dass wir
im eigenen Land, wo immer notwendig, für Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit und Demonstrationsfreiheit
eintreten.
({9})
Wir treten in Europa dafür ein, und wir treten auch gegenüber Russland dafür ein, weil wir möchten, dass
diese Freiheiten in Russland bestimmend werden. Wer
sich im eigenen Land souverän bewegt, kann auch souverän Kritik aussprechen.
Im Zusammenhang mit der Demonstrationsfreiheit
muss man auch sagen, dass Demokratie Demokraten
braucht. Ich trete nicht für die Demonstrationsfreiheit
der NPD ein. Ich bin auch nicht dafür, dass in Russland
solche Kräfte, die sich Nationalbolschewisten nennen,
aber eigentlich eine andere Bezeichnung verdienen, in
diesem Land Einfluss gewinnen können. Auch das gehört dazu, wenn man über Demonstrations- und Versammlungsfreiheit redet.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kurz bevor wir diese Debatte begonnen haben,
hat der russische Präsident Putin seine Rede zur Lage der
Nation gehalten. Ich kann nur sagen, dass die Punkte, die
wir aus dieser Rede vernehmen dürfen, erneut mehr als
nur Anlass zur Sorge geben. Er hat sich zum einen - darauf wurde hingewiesen - bereits eine Einmischung in
innere Angelegenheiten verbeten. Das ist nun nichts
Neues, es ist für uns aber Anlass, zu sagen, dass wir uns
umso mehr verpflichtet fühlen sollten, uns gerade in die
Dinge einzumischen, über die wir heute debattieren.
({0})
Zum anderen - dieser Punkt ist noch nicht über die
Ticker gegangen, aber auf der Homepage der NZZ zu
lesen - hat Wladimir Putin darauf hingewiesen, dass die
demokratische Ideologie als Vorwand benutzt werde.
Diesen Satz sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen, weil durch diesen Satz alle unsere Diskussionen
über Demokratie und alles das, was wir in ernsthaften
Gesprächen mit unseren russischen Kollegen zu debattieren versuchen, konterkariert werden. Mit Aufmerksamkeit und Sorge alleine werden wir da wahrscheinlich
nicht weiterkommen.
({1})
Die massiven Übergriffe zeigen, dass entscheidende
Stellen des russischen Staates offenbar nicht mehr willens und/oder fähig sind, differenziert und angemessen
vorzugehen. Ich kann nur sagen, dass von unserer Seite
die Aktionen der russischen Sonderpolizei deshalb mit
dem gebotenen Nachdruck zu verurteilen sind. Ich
möchte das Wort verurteilen unterstreichen. Mit Sorge
allein ist es hier in meinen Augen nicht getan. Sorge
reicht nicht.
({2})
Daher bin ich dankbar, dass zumindest das Kanzleramt
das Wort inakzeptabel in seine Erwägungen einbezogen hat. Ich glaube, hier bedarf es einer deutlichen Sprache. Wenn wir außerhalb des Parlaments deutlich machen, dass dies unser gemeinsamer Ansatz ist, dann ist
damit möglicherweise schon einiges gewonnen.
Mit Blick auf die Übergriffe geht es nicht darum, sich
mit allen Gruppen zu solidarisieren, die an den Demonstrationen in Russland teilgenommen haben. Darunter
waren schon ein paar bemerkenswerte Grüppchen an den
jeweiligen Rändern, die alles andere als unseren Wertvorstellungen entsprechen. Allerdings dürfen wir die
Vorzeichen in diesem Kontext nicht umkehren. Allein
der Umstand, dass friedlich demonstrierende Bürger von
den Polizeikräften ihres eigenen Staates, der wohlgemerkt Mitglied des Europarates und der OSZE ist - darauf wurde bereits hingewiesen -, in dieser Weise behandelt werden, kann und darf uns nicht teilnahmslos
werden lassen.
({3})
Insgesamt wird durch die paranoide Reaktion und die
Übergriffe der Behörden ein bezeichnendes Licht auf die
rechtsstaatliche Ordnung in Russland geworfen. Der
Kollege Hoyer hat mit seinem Einwurf recht: Auch die
blauäugigsten und romantisch verklärtesten Apologeten
Moskaus, was einige Dinge anbelangt, die wir in den
letzten Jahren bereits kritisiert haben, müssen nun wohl
erkennen, dass die besagten Ereignisse nicht isoliert betrachtet werden können, sondern durchaus Ausdruck einer besorgniserregenden Machtkonzentration in Russland sind. Angesichts dessen, was wir beobachten
können, angesichts der Bedrohung von kritischen Journalisten, ausländischen wie inländischen, der faktischen
Abschaffung der föderalistischen Strukturen in Russland
- darüber wird kaum noch diskutiert - und aller anderen
Punkte, die heute schon genannt wurden, kann man nicht
mehr von einer lupenreinen Demokratie sprechen. Das
hat sich als Illusion erwiesen. Lupenrein ist allenfalls das
Bild eines schwindenden Rechtsstaates.
({4})
Der Herr Kollege Schockenhoff hat das Argument bemüht, dass wir differenziert und vorsichtig herangehen
müssten, weil wir es bei Russland mit einem Land zu tun
hätten, das in einer nichtdemokratischen Tradition stehe.
Dieses Argument ist wichtig. Aber wir sollten darauf
achten, wo und wie wir es verwenden. Andreas
Schockenhoff hat es im richtigen Zusammenhang angeführt. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir eines
nicht unterschlagen: Russland hat eine große Tradition
in der Geistesgeschichte. In Russland hat sich zudem in
den vergangenen zwanzig Jahren durchaus eine mutige
Zivilgesellschaft entwickelt; darauf wurde bereits hingewiesen. Diese Zivilgesellschaft stärkt man nicht durch
Nichteinmischung.
({5})
Auch bei uns sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechte nicht vom Himmel gefallen; das
wissen wir. Deshalb sollten wir nicht mit Hochmut auf
die große Kulturnation Russland schauen; das verbietet
sich. Was sich allerdings nicht verbietet, ist der klare und
unmissverständliche Hinweis darauf, dass es mittlerweile universell geltende Rechts- und Menschenrechtsstrukturen gibt. Das sollte die Botschaft dieses Parlaments sein. Daran sollten wir mit aller Kraft weiter
arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr zu
Guttenberg, ich bin Ihnen für die deutlichen Worte eigentlich dankbar. Sie stehen im Gegensatz zu manchen
Äußerungen, die in letzter Zeit aus und über Russland
gekommen sind. In einem Zeitungsartikel ist unter der
Überschrift Wer ist besser für uns: Russen oder Amerikaner? zu lesen: Allerdings lief die Entwicklung in den
letzten Jahren in Russland konträr. Bei aller Kritik an einem starken Putin, bis heute hat Russland einen Quantensprung in Sachen Öffnung, Freiheit und Demokratie
zurückgelegt, was man vom langen Weg von Ronald
Reagan zu Bush so nicht sagen kann. - Das hat nicht
Herr Gehrcke gesagt, sondern Peter Gauweiler gegenüber dem Münchner Merkur.
({0})
- Das weiß ich, Wolfgang.
Dahinter steht die Vorstellung, dass Russland nach
dem Bruch mit dem Kommunismus auf dem Weg zu einer Demokratie unserer Vorstellung ist. Vielleicht sollten
wir uns bei einer solchen Aktuellen Stunde einmal der
Überlegung stellen, ob diese Einschätzung wirklich eine
zutreffende ist. Ich formuliere das bewusst als offene
Frage.
({1})
In Russland sagt nun die herrschende Nomenklatura
- um diesen Begriff zu bemühen; man könnte auch sagen: technokratische Elite -: Wir haben begriffen, dass
die Einparteienherrschaft früher nicht funktioniert hat.
Das hat zu einer bürokratischen Erstarrung geführt. Also
schaffen wir uns zwei Parteien, eine mehr konservative
und eine eher sozial ausgerichtete. Wir regeln über ein
Parteiensystem, dass alle anderen Wettbewerber - so ist
es bei den Provinzwahlen gewesen - keine Chance haben. Dadurch ist sichergestellt, dass, egal welche der
beiden Parteien die Wahl gewinnt, die technokratische
Elite immer in der Regierung bleibt.
Das scheint die Vorstellung zu sein. Das ist der Kern
dessen, was unter gelenkter Demokratie verstanden
wird. Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, habe ich
gedacht: Wer versucht denn da, Russland zu diffamieren? Doch das ist die Selbsteinschätzung: gelenkte Demokratie. Da lenken also andere die Herrschaft des Volkes. Nichts anderes heißt das. Wenn gegen ein solches
System aufgestanden und demonstriert wird, dann ist das
nach allen Standards, die wir aus der Rechtsstaatlichkeit,
aus der Universalität der Menschenrechte ableiten, gerechtfertigt.
Was ist nach unserem Verständnis die Aufgabe des
Staates in einer solchen Situation? Aufgabe des Staates
ist es, die Demonstranten zu schützen - auch und gerade,
wenn sie eine Meinung vertreten, die dem Staat vielleicht nicht passt - und die Demonstrationsfreiheit zu gewährleisten. Nach unserem Verständnis haben die Menschen nicht nur das Recht, zu demonstrieren. Es
entspricht vielmehr dem grundlegenden Verständnis von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, dass es Aufgabe
des Staates ist, die Demonstrationsfreiheit aktiv zu
schützen.
In Russland ist das Gegenteil eingetreten. In Russland
sind friedliche, auch ältere Menschen Opfer brutaler Polizeigewalt geworden. Herr Staatsminister, es ist richtig
- wie Sie es gesagt haben -, dass der Menschenrechtsbeauftragte das benannt hat. Es hat auch in Russland Kritik
gegeben. Es hat aber noch etwas anderes gegeben: Dieses unverhältnismäßige, dieses rechtsstaatswidrige, dieses unakzeptable Verhalten ist nicht etwa getadelt worden, sondern Präsident Putin hat diese Beamten, die
eigentlich suspendiert und vor Gericht gestellt werden
müssten, in ihren vorläufigen Ämtern bestätigt und so
belobigt. Das ist die Situation in Russland, und das ist
nicht akzeptabel.
({2})
Ich trete sehr dafür ein - darüber führe ich auch in
meiner Fraktion Diskussionen -, dass wir Russland als
einen Nachbarn sehen, mit dem wir eine Partnerschaft
entwickeln müssen. Ich weiß sehr wohl, dass Sicherheit
und Entwicklung in Europa nur mit und nicht in einer
neuen Frontstellung zu Russland möglich sind. Wenn die
Einschätzung richtig ist, dass sich dieses System nicht in
Richtung Demokratie entwickelt, sondern dieses Land in
Zukunft durch eine technokratische Elite mehr oder weniger autoritär regiert wird, dann müssen wir mit dem
potenziellen Partner Russland anders umgehen, als wir
mit einem Staat umgehen würden, von dem wir überzeugt sind, dass er auf dem Weg zur Demokratie ist.
({3})
Dann müssen wir bei aller Notwendigkeit der Partnerschaft Klartext reden. Dann müssen wir nicht nur im
Rahmen des Menschenrechtsdialogs, der richtig und
wichtig ist, sondern auch bei Veranstaltungen wie dem
G-8-Gipfel oder bei anderen sich bietenden Möglichkeiten diese Frage ansprechen; denn auch mit Blick auf
Russland gilt: Stabilität, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Sicherheit und Frieden funktionieren langfristig
nicht, wenn man im Innern mit den Menschenrechten
Fußball spielt, wie es an diesem Wochenende der Fall
war.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, man kann durchaus Sorgen haben angesichts dessen,
was sich in Russland zeigt und was man symbolhaft an
diesen hässlichen Bildern erkennen konnte. Und man
kann die Sorge haben, dass das Konzept der gelenkten
Demokratie eines ist, das sich in der Substanz von der
Demokratie abkehren könnte.
({0})
- Eine gelenkte Demokratie ist keine, sagen Sie, Herr
Trittin. Ich glaube, man muss etwas genauer hinschauen.
Ich habe in Moskau gegenüber Jastrschembski und auch
gegenüber Gryslow sehr offen und sehr hart gesprochen
und genau auf die Gefahren hingewiesen, über die wir
hier auch gesprochen haben. Deshalb wissen diejenigen,
die in Moskau dabei waren, dass es keine Ausflucht ist,
wenn ich zu bedenken gebe, dass Russland erst 1991
eine Demokratie geworden ist. Eine Demokratie, die gerade einmal 16 Jahre alt ist, hat ihre Kinderkrankheiten.
Diese Demokratie leidet auch darunter, dass die Exponenten dieser Demokratie und viele Menschen, die in
Russland leben, noch von der massiven, harten, brutalen
Diktatur geprägt sind. Das konnte man selbst an Boris
Jelzin, der den Mut gehabt hat, sich zu lösen und sein
Land von der sowjetischen Diktatur und vom imperialen
Denken zu befreien, sehen: In seinem eigenen Verhalten
war er doch bis ins Innerste geprägt davon. Diese Mischung, dass die Leute geprägt sind von der Last dessen,
was die Sowjetunion moralisch an Zerstörung hinterlassen hat, und von dem Aufbegehren dagegen, von dem
Bemühen, den Weg zu einer Demokratie zu gehen, wird,
fürchte ich, noch eine Weile andauern.
Wir erleben gerade eine Seitwärtsbewegung, hoffentlich keine Rückwärtsbewegung.
({1})
Diese Seitwärtsbewegung offenbart, dass auf diesem
Weg, den Russland beschreitet, all die diktatorischen Erscheinungsformen, die zu überwinden wir geglaubt haben, immer wieder neu entstehen können; Volker Beck
hat ja persönlich darunter leiden müssen. OMON und
der Einsatz prügelnder Polizisten sind für mich geradezu
die Wiederkehr von so etwas. Deswegen ist es richtig
und notwendig, dass wir sagen: Dies ist nicht hinnehmbar.
({2})
Es ist eher ein Zeichen von innerer Schwäche und ein
Zeichen von Unsicherheit, wenn der Staat seine Gewaltmittel so einsetzt, wie die OMON eingesetzt worden ist.
Die Kolleginnen und Kollegen, die in Moskau dabei waren und mit Gryslow persönlich gesprochen haben, haben doch die Unsicherheit in seinen Gesichtszügen gesehen, haben gesehen, wie nervös er war, wie ängstlich
geradezu, als wir ihm gegenüber argumentiert haben. Ich
will damit sagen: Wir werden, fürchte ich, noch einige
schwierige Situationen vor uns haben.
Dabei muss für uns klar sein - ich bin dankbar, dass
Gernot Erler das so deutlich ausgesprochen hat -: Es
gibt ein anderes Russland als das, was sich in diesen Momenten zeigt. Es gibt Memorial und es gibt diejenigen,
die mit Jelzin gemeinsam für die Demokratie und gegen
einen Rückfall in eine Diktatur gekämpft haben. Dieses
andere Russland - die Demokraten in Sankt Petersburg,
in Moskau und überall im Land - zu unterstützen, das
muss der Maßstab unseres politischen Handelns sein. Ich
wünsche mir, dass uns diese Debatte nicht allein dazu
dient, Kritik an staatlichem Handeln zu üben - das ist allerdings nötig -, sondern dass wir auch im Auge haben,
die Demokratie in Russland zu stärken und den Menschen zu helfen, die für ein anderes, ein neues Russland
kämpfen.
({3})
- Weiß ich.
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind
uns in diesem Hause einig: Das Vorgehen der Sicherheitskräfte in Russland war indiskutabel. Das gilt sowohl
hinsichtlich des Vorgehens gegenüber den friedlichen
Demonstranten - zum Teil waren es Kinder, zum Teil ältere Leute - als auch gegenüber den Journalisten. Russland hat sich mit diesem Vorgehen - auch das wurde
schon gesagt - in der internationalen Öffentlichkeit
schwer geschadet.
In der vergangenen Woche war eine Delegation der
Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe in Moskau.
Herr Kollege Weisskirchen, wir haben unsere Kritik sehr
offen vorgetragen, sowohl gegenüber Boris Gryslow,
dem Parlamentspräsidenten, als auch gegenüber Sergej
Jastrschembski, dem Berater von Putin. Keiner von ihnen, auch nicht unsere Abgeordnetenkollegen, mit denen
wir sprachen, hat das Vorgehen der Miliz und der
OMON verteidigt. Unter vier Augen haben sie uns anschließend beim Essen gesagt, dass es Konsequenzen
und auch Disziplinarverfahren geben wird. Wir werden
sehr genau darauf achten, ob das der Fall ist und ob sich
hier etwas tut.
Übrigens war es der Wunsch unserer russischen Parlamentskollegen, mit uns über das schlechte Russlandbild in der deutschen Öffentlichkeit und in unseren Medien zu diskutieren. Für uns war es relativ einfach, ihnen
deutlich zu machen, dass man die Begeisterung unserer
Medien für Russland nicht dadurch befördert, dass man
Fernsehteams verprügelt und sie anschließend sogar
festnimmt.
({0})
Bei aller Empörung, die sich hier äußert, stellt sich
die Frage: Wie reagieren wir insgesamt? Lassen Sie
mich dazu eine Vorbemerkung machen. Die Demonstrationen in Russland wurden von den sogenannten Nationalbolschewiken mitorganisiert. Sie sind nichts anderes
als Neonazis.
({1})
Sie nehmen an den Demonstrationen in den Moskauer
und Petersburger Straßen teil und zeigen den Hitlergruß.
Ihre Parteiflagge ist der Hakenkreuzflagge der Nazis
nachgebildet.
({2})
Das sage ich nur, damit allen klar ist, worüber wir reden.
Um das klar zu sagen: Das macht das Vorgehen der
Polizei nicht besser. Allerdings handelte es sich nicht um
Demokraten. Ihnen konnte man übrigens keinen größeren Gefallen tun, als solche Gewaltorgien zu veranstalten. Denn das war die einzige Chance für sie, auf die ersten Seiten der internationalen Presse zu kommen.
Wir sollten und müssen unsere Kritik deutlich vorbringen. Das haben wir getan. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Aber wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade
ausschütten. Manch ein deutscher Zeitungsleser hatte
den Eindruck, in Russland herrsche Bürgerkrieg, und es
sei viel zu gefährlich für uns, dorthin zu fahren. Hinzu
kamen einige - Herr Erler, ich sage das ganz vorsichtig wenig kluge Äußerungen aus dem Bereich der Europäischen Kommission, die besagen, durch diese Demonstrationen sei der Tiefpunkt der europäisch-russischen
Beziehungen erreicht. Das halte ich für nicht hilfreich.
Es bringt überhaupt nichts, eine Krise herbeizureden.
Wir alle - in Deutschland und in der EU - wollen, dass
sich Russland demokratisch entwickelt. Aber wir müssen sehen: Russland hat seine eigene Geschichte und eigene Traditionen.
Hier beziehe ich mich gerne auf Egon Bahr, der gesagt hat, Russland muss sich auf der Basis eigener Traditionen entwickeln können. Demokratie gehört bisher leider nicht zu den russischen Traditionen. Was können wir
tun, außer in diesem schönen Saal unsere Empörung relativ wohlfeil zum Ausdruck zu bringen? Das Falscheste
wäre, Russland zu isolieren oder gar zu boykottieren.
({3})
Vergessen wir bitte nicht: In Russland findet zurzeit
ein Wahlkampf statt, und ein personeller Umbruch steht
bevor. Deshalb hat manches, was wir dort momentan beobachten müssen, vor allem innenpolitische Bedeutung,
die wir als solche erkennen müssen. Behalten wir bitte
auch im Blick, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland bzw. zwischen der EU und Russland
in vielen Bereichen sehr gut sind. Das gilt für die Wirtschaft, für internationale Kooperationen, zum Beispiel
im Hinblick auf den Atomkonflikt mit dem Iran, die Terrorbekämpfung oder den Energiesektor.
Es gibt keinen anderen Weg, als den Dialog mit Russland beharrlich fortzuführen. Das tut die Bundesregierung. Das tun auch wir Parlamentarier nach Kräften. Wir
wollen diesen Dialog ausbauen, wie es der Vorsitzende
des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz, mit seinem Gegenüber, Herrn Kosatschow, verabredet hat. Wir
wollen jetzt regelmäßige Treffen beider Ausschüsse - einmal in Deutschland und einmal in Russland - stattfinden
lassen.
Wir haben schlichtweg nicht die Wahl einer anderen
Politik gegenüber Russland, als die politische und wirtschaftliche Annäherung und Verflechtung voranzutreiben. Ich rufe jeden auf - auch uns alle -: Lassen wir uns
bei aller Kritik nicht von jedem Rückschlag bei der Entwicklung Russlands entmutigen!
Vielen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Johannes Jung,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ganz sicher - das kommt hier ja durch die Bank
zum Ausdruck - beunruhigt uns alle die Lage in Russland. Leider wird uns regelmäßig vor Augen geführt,
dass es um die Themen der heutigen Aktuellen Stunde
- Meinungs- und Demonstrationsfreiheit - schlecht bestellt ist. Diese elementaren Freiheitsrechte unterliegen
Einschränkungen und Bedrohungen. Schlimm ist - das
muss man ehrlicherweise dazusagen - vor allem die Tendenz, die wir in den letzten Jahren zu beobachten hatten.
Es wird nämlich nicht besser, sondern schlimmer.
({0})
Russland ist in der Regierungszeit von Wladimir
Putin gewiss stabiler, aber eben nicht freier geworden.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass von den politischen Eliten Freiheit als Gefahr für Stabilität betrachtet
Johannes Jung ({1})
wird. Dieses Verständnis von Stabilität und Freiheit als
Gegensatz ist grundsätzlich falsch, und es ist auch im
Falle Russlands falsch.
({2})
Solange diese Sichtweise aber vorherrscht, wird
Russland weiterhin massive Schwierigkeiten haben, den
Weg der Demokratisierung erfolgreich zu bewältigen.
Dennoch ist es falsch, so wie auch in dieser Debatte teilweise geschehen, rhetorisch Analogien zur Sowjetzeit zu
ziehen. Das Russland des 21. Jahrhunderts ist eben nicht
leninistisch. Ich danke Gernot Erler deshalb ausdrücklich für seine differenzierte Darstellung.
({3})
Wir befassen uns in den verschiedensten Ausschüssen
des Bundestages mit der Energiemacht Russland, mit der
Nuklearmacht Russland, mit der Kulturmacht Russland
und mit der Weltmacht Russland. Russland ist aber eben
auch Dauerthema im Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe. Leider füllen die Berichte über Menschenrechtsverletzungen mit und ohne Krieg in Tschetschenien ganze Bibliotheken. Einschränkungen der
Pressefreiheit, zunehmende Gewalt gegen Menschen aus
dem Kaukasus, die katastrophalen Zustände in den russischen Gefängnissen und in der Armee sind nur einige
Beispiele.
Die Analysen der Forschungsinstitute und der Nichtregierungsorganisationen sind eindeutig. Freedom
House etwa stuft Russland als nicht frei ein. Freedom
House bewertet die Verwirklichung politischer Rechte
und Freiheiten und erteilt Russland seit mehreren Jahren
wieder konstant schlechte Noten. Eine Verbesserung der
Lage ist in absehbarer Zeit nicht in Sicht. Von demokratischer Konsolidierung - darum geht es bei einer jungen
Demokratie; sie besteht seit 1991 - kann keine Rede
sein, ganz im Gegenteil. Es ist gewiss auch ein Verdienst
des gerade verstorbenen ehemaligen Staatspräsidenten
Boris Jelzin, dass es eine Phase gab, in der es besser lief.
Die Bertelsmann-Stiftung stellt mit ihrem Transformationsindex seit einigen Jahren keinerlei Fortschritte
auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft fest.
Untersuchungen von Transparency International zeigen,
dass die Korruption wieder unerträgliche Ausmaße angenommen hat. Im Gesundheitswesen ist die Lage sehr
schlecht, mit dem dramatischen Resultat - dazu gehört
auch noch ein gewisses Problem bei der Lebensführung -,
dass die Lebenserwartung sinkt und derzeit bei knapp
über 65 Jahren liegt.
Meine Damen und Herren, die politischen und sozialen Lebensbedingungen in Russland haben sich in den
letzten Jahren in der Breite und für die Mehrheit der
Menschen durchaus verschlechtert. Dass daraus Spannungen entstehen und diese gesellschaftlichen Probleme
ein Nährboden für Proteste sind, ist offenkundig. Allerdings müssen wir auch die Demonstranten näher unter
die Lupe nehmen. Bei Weitem nicht jeder Demonstrant
ist Demokrat. Es lohnt sich, darauf sehr entschieden und
auch häufiger, als heute geschehen, hinzuweisen. Die
Wahlergebnisse - ob manipuliert oder nicht - beweisen
immer wieder, dass eben auch eine Mehrheit des Volkes
Autoritarismus und Nationalismus durchaus schätzt;
denn nicht nur weite Teile der Eliten unterliegen dem Irrtum, Freiheit bedeute Unsicherheit.
Für die mutigen Demokratinnen und Demokraten ist
das eine fatale Lage. Die Reaktionen der staatlichen
Stellen auf friedliche Proteste offenbaren - wie gerade
eben - ein dramatisches Unvermögen im Umgang mit
den eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Die Einschränkungen und Gefährdungen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sind eben leider klare Bestandteile der
sogenannten gelenkten Demokratie Umso wichtiger ist,
dass endlich auch die politischen Morde aufgeklärt werden, damit für die Bevölkerung und für die nach wie vor
teils unabhängigen Medien in Russland Klarheit und Sicherheit bestehen.
Vor diesem Hintergrund haben Deutschland und die
EU ein fundamentales Interesse daran, Russland bei seiner Entwicklung zu einem stabilen und demokratischen
Staat zu unterstützen und an Europa zu binden. Es ist unsere Pflicht, hier und dort auf die Defizite hinzuweisen
und dennoch einen partnerschaftlichen Umgang miteinander zu pflegen und nicht von oben herab auf Russland zu schimpfen.
Vielen Dank.
({4})
Der nächste Redner ist der Kollege Holger Haibach
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Debatte ist schon von fast allen Rednern
darauf hingewiesen worden, dass die Übergriffe der Sicherheitsbehörden auf die Demonstranten in Moskau im
Zusammenhang mit vielen Ereignissen der letzten Jahre
zu sehen sind. So sehr ich auch für die Äußerungen von
Professor Weisskirchen Sympathien habe, dass es in jüngeren Demokratien noch mehr Kinderkrankheiten geben
mag, so gilt das für mich nur dann, wenn man insgesamt
eine positive Entwicklung feststellen kann. Ich glaube,
der Kollege Jung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir im Fall Russland - zumindest bei Betrachtung der
Menschenrechte - in den letzten Jahren nicht unbedingt
von einer positiven Entwicklung reden können. Deswegen sehe ich einige Dinge, die besorgt machen können.
Es sind Dinge, die wir ansprechen müssen, die wir auch
unseren russischen Partnern gegenüber klar und deutlich
ansprechen müssen. Ich bin dankbar dafür, dass die Parlamentariergruppe dies in der entsprechenden Art und
Weise getan hat.
Wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, dann stellt man fest, dass es viele Dinge, die für
den Aufbau einer Zivilgesellschaft entscheidend sind, in
Russland sehr schwer haben. In diesem Zusammenhang
fällt mir das jüngste Beispiel der Einschränkungen durch
die neuen Parteiengesetze ein. Es sind aber auch die Gesetze zu den Nichtregierungsorganisationen zu nennen.
Diese betreffen nicht nur russische Nichtregierungsorganisationen, obwohl diese in ganz speziellem Maße betroffen waren. Ich erinnere an das, was in Moskau mit
der Naumann-Stiftung passiert ist und welche Schwierigkeiten es an dieser Stelle gab. Ich glaube, wir haben es
hier leider mit einer Situation zu tun, die sich eher zum
Schlechten als zum Guten wendet. Das ist bedauerlich
und macht es sehr schwierig.
Auf der anderen Seite will ich nicht verhehlen, dass es
auch ermutigende Signale gibt. Sogar eine so regierungsnahe Zeitung wie die Komsomolskaja Prawda
hat die Übergriffe als eine Aktion ohne jede Logik bezeichnet. Insofern kann man schon sagen, dass es auch in
der russischen Demokratie und Presselandschaft durchaus noch so etwas wie politische Hygiene gibt. Ich
möchte dem Kollegen Gehrcke ausdrücklich widersprechen: Die Pressefreiheit betrifft nicht nur 200 Menschen.
Das Medium des 21. Jahrhunderts wird das Internet sein
und ist das Internet bereits. Wenn man sich anschaut, wie
Russland in den entsprechenden Listen der Nichtregierungsorganisationen in Bezug auf die Überwachung und
Einschränkung des Internets geführt wird, dann muss
man auch hier große Sorge haben. Hier geht es nicht um
200, 20 000 oder 200 000 Menschen, sondern es geht um
Millionen von Menschen. Das ist eine Sache, die unserer
besonderen Aufmerksamkeit bedarf.
Wenn wir uns darüber unterhalten, welche Möglichkeiten wir haben, dann sehe ich, dass die internationalen
Organisationen, in denen wir mit Russland zusammenarbeiten, auch ihre Schwierigkeiten haben. Ich denke hier
zum Beispiel an den Europarat. Das Aushängeschild des
Europarats ist nicht umsonst der Menschenrechtsgerichtshof. Hier haben wir mit unseren Freunden aus
Russland gleich zwei Baustellen. Die eine Baustelle ist,
dass Russland im Jahr 2004 mit 7 843 Fällen einer der
größten Beklagten innerhalb des Gebiets des Europarats
war. Die zweite Baustelle: Russland ist das einzige Land
des Europarats, das das 14. Zusatzprotokoll zu der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch nicht unterzeichnet hat. Dieses Zusatzprotokoll könnte dem Menschenrechtsgerichtshof wieder
einen Teil seiner Leistungsfähigkeit zurückgeben. Ich
bin der Bundesregierung an dieser Stelle ausgesprochen
dankbar, dass sie dies angesprochen hat und auch wieder
ansprechen wird; denn das ist sicherlich eine sehr wichtige Angelegenheit.
Da wir schon bei internationalen Organisationen sind,
will ich auf eines hinweisen, was in der letzten Sitzungswoche der Parlamentarischen Versammlung des Europarates deutlich geworden ist. Wir haben über alles Mögliche gesprochen, interessanterweise aber nicht über die
Dinge, die sich in Russland ereignet haben. Auch das ist
aus meiner Sicht ein Zeichen, das uns besorgt machen
muss. Wenn ich mir die Entwicklung in der OSZE ansehe, stelle ich Ähnliches fest.
Nichtsdestoweniger ist Russland ein wichtiger Partner für uns - nicht nur, wenn es um die Energiefrage
geht. Es ist dankenswerterweise darauf hingewiesen
worden, dass Russland eine sehr konstruktive Rolle
spielt, wenn es um solche Fragen geht, wie wir mit dem
Iran und Nordkorea umgehen. Auch das müssen wir ins
Kalkül ziehen, wenn wir über diese Ereignisse sprechen.
Das bedeutet aber nicht - das will ich ganz ausdrücklich sagen -, dass es bei Menschenrechten einen Rabatt
geben darf. Das bedeutet nur, dass wir uns mit diesen
Dingen vernünftig auseinandersetzen müssen. Ich
möchte zum Schluss mit Erlaubnis der Präsidentin den
Kommentar von Manfred Quiring in der Welt vom
18. April 2007 zitieren:
Die Russen haben mehr Achtung verdient. Sie sollten in den Beziehungen nicht von oben herab als
nur bedingt mündig betrachtet werden, sondern an
den Ansprüchen gemessen werden, die sie sich
selbst in ihre Verfassung geschrieben haben.
Ich glaube, das ist es dann auch. Es geht nicht um
westlichen Kultur- oder Werteimperialismus, sondern
darum, dass die Russische Föderation das tut, was in ihrer Verfassung steht, nämlich dass sie die Einhaltung der
Menschenrechte beachtet.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, das Wichtigste an der heutigen Debatte ist,
dass wir in diesem Hause in unserer Einschätzung und
der Kritik, die zu Recht geäußert worden ist, eine grundsätzliche Übereinstimmung haben. Ich weiß, es gibt Nuancen, und wir sind uns sicherlich nicht hundertprozentig einig; das ist auch gar nicht notwendig. Aber diese
grundsätzliche Übereinstimmung, die wir in einer sehr
sensiblen Frage in Bezug auf einen sehr wichtigen Nachbarn und Partner von uns haben, sollte hier als eine
Stärke unserer freiheitlich-parlamentarischen Demokratie wahrgenommen werden. Das sollten wir uns gegenseitig so sagen.
({0})
Wenn wir zu Recht Kritik üben, ist auch manchmal
Selbstkritik notwendig, vor allen Dingen dann, wenn
diejenigen, die in diesem Hause 40, 50, 60 oder mehr
Jahre alt sind, an die Entwicklung der Bundesrepublik
Deutschland alt und an bestimmte historische Erfahrungen zurückdenken. Ich erinnere mich sehr genau: 1968
war mein Jahr der Politisierung als Schüler.
({1})
Axel Schäfer ({2})
- Jawohl. Dazu stehe ich.
({3})
Wir haben sowohl gegen den Vietnamkrieg der USA
als auch gegen die militärische Intervention der Sowjetunion in Prag demonstriert. In der damaligen Debatte in
diesem Land wurde auf der einen Seite gefragt: Dürfen
wir unsere Freunde, die Amerikaner, für diese Regierungspolitik und das Schlimme, was in Vietnam passiert,
kritisieren? Auf der anderen Seite haben wir gehört: Kritik an der Sowjetunion ist a priori unzulässig, weil das
eine Einmischung in innere Angelegenheiten ist.
Heute ist es anders. Russland ist Gott sei Dank ein mit
uns befreundetes Land. Wir bestehen darauf, dass jegliche Kritik, die wir als Abgeordnete in diesem Hause
üben, keine Einmischung in innere Angelegenheiten sein
kann. Es ist vielmehr unser Selbstverständnis, dass Menschenrechte überall und immer unteilbar sind.
({4})
Nach Erfahrungen, die auch ich anlässlich von Besuchen in Russland gemacht habe, weiß ich - ich brauche
nicht alles zu wiederholen, was schon gesagt worden ist,
da wir uns in vielem einig sind -: Schwierig ist die
Schwäche der Zivilgesellschaft. Die Entwicklungen der
90er-Jahre haben sich nicht fortgesetzt - das ist von vielen zu Recht kritisiert worden -; es geht vielmehr wieder
zurück. Das heißt ganz praktisch: Es gibt sehr viele
Menschen, die den Staat nicht als einen Garanten für die
persönliche Freiheit sehen,
({5})
sondern einem obrigkeitsstaatlichen Handeln noch so
verhaftet sind, dass sie zum Beispiel glauben, dass freie
und kritische Medien etwas Gefährliches seien und dem
Staat und dem Gemeinwesen eher schaden würden.
Auch das ist eine reale Schwierigkeit, mit der wir zu
kämpfen haben. Wenn wir das in Delegationen und auch
in unseren Fraktionen gemeinsam angehen wollen, dann
muss das auf einer bestimmten Grundlage erfolgen. Die
Grundlage ist immer die Hinwendung zu Russland; es
geht nicht um eine erneute Abwendung von Russland.
Darauf wird es, glaube ich, ankommen.
({6})
Dafür gibt es gerade in Europa praktische Möglichkeiten. Wir haben viele Partnerschaften, darunter auch
Städtepartnerschaften. Es gibt eine große Bandbreite von
anstehenden Themen, mit denen man sich befassen
muss. Es gibt einen intensiven Wissenschaftsaustausch,
der meines Erachtens ebenfalls gepflegt werden muss.
Zudem haben wir Stiftungen jeder Couleur, die in Russland tätig sind und auf europäischer und auf bilateraler
Ebene eine sehr wichtige Aufgabe wahrnehmen.
Einen weiteren Punkt sollte man in diesem Haus ansprechen - insofern bin ich für die langjährige Arbeit
von Gernot Erler und einigen anderen Kolleginnen und
Kollegen sehr dankbar -: Immer, wenn wir in Russland
sind, nutzen wir unsere Möglichkeiten nicht nur für offizielle Gespräche, sondern auch dafür, um mit einer
Reihe von Gruppen der Zivilgesellschaft zu reden und
sie damit auch öffentlich zu stärken, damit sie ernst genommen werden und ihre notwendige und unverzichtbare Arbeit fortsetzen können.
({7})
Russland ist ein Teil Europas. Wir als Teil der Europäischen Union haben besonders während der deutschen
Ratspräsidentschaft eine herausgehobene Verpflichtung.
Gerade bei der künftigen Situation nicht nur der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch der Journalistinnen und
Journalisten hinsichtlich der Medien - das ist bereits angesprochen worden - spielt das Internet eine Rolle.
Svetlana emjak, eine Redakteurin von NTC Spider
Group, hat kürzlich gesagt:
Außer der Freiheit gibt es keine andere Wahl. Deshalb werden wir früher oder später unseren Weg zur
Demokratie fortsetzen. Schade, dass wir ihn heute
erneut gehen müssen.
Das verdient unser aller Unterstützung.
({8})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Vorgehen gegen Demonstranten, Menschenrechtler
und Medienvertreter konnte nicht unkommentiert bleiben. Ich bin dankbar für die Aktuelle Stunde. Aber ich
denke, wir haben als Bundestagsabgeordnete sehr frühzeitig auf die Vorkommnisse in Russland reagiert und
protestiert.
Ich danke auch der Bundesregierung, dass sie so
schnell reagiert und es geschafft hat, dass es innerhalb
der Europäischen Union zu einem gemeinsamen Protest
gekommen ist.
({0})
Es war nicht nur ein Handeln von deutscher Seite, sondern innerhalb der Europäischen Union. Das war vorteilhaft sowohl gegenüber den neuen Mitgliedstaaten als
auch für Russland, das die Institution der Europäischen
Union nicht nur ernst nehmen soll, wenn es um ein Kooperationsabkommen geht, sondern auch dann, wenn es
um Demokratie und Menschenrechte geht. Deswegen
war es klug, so schnell zu handeln.
Ich denke, es steht außer Frage, dass es auch weiterhin autoritäre Strukturen in Russland gibt. Man kann
vielleicht sogar von zaristischen Strukturen sprechen. Es
stellt sich auch die Frage nach der historischen Herleitung an dieser Stelle. Ich bin wie alle Rednerinnen und
Redner der festen Überzeugung, dass die Bürgerrechte
unterentwickelt sind. Sie müssen weiterentwickelt werDr. Rolf Mützenich
den, wenn Russland eine Zukunft haben will. Auch davon bin ich fest überzeugt.
Deswegen ist Kritik keine unerlaubte Einmischung,
sondern die Bestätigung unseres Interesses an einem demokratischen und friedlichen Russland. Aber ich denke,
wir tun gut daran, nicht rechthaberisch aufzutreten, um
nicht falsche Maßstäbe zu setzen. Wir sollten auch über
unsere eigene Geschichte - die deutsche wie auch die
europäische - nachdenken und uns daran erinnern, wie
schwer es gewesen ist, Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit zu verwirklichen.
Man muss aber aufpassen, dass man keine Zerrbilder
schafft, also sozusagen historische Potemkinsche Dörfer
baut. Alles, was vor Putin gewesen ist, war auch keine
lupenreine Demokratie.
Deswegen ist es, wenn man Einfluss nehmen will,
gut, Russland zu verstehen als ein Land im Wandel und
ein Land der Widersprüche. Die Widersprüche sind offensichtlich. Die Wirtschaft expandiert. Sie ist aber getragen von staatlichen Unternehmen und im Grunde genommen auf die Rohstoffausfuhr begrenzt. Ich glaube,
Russland täte gut daran, wenn es eine Wirtschaftsstruktur aufbaut, die auch von anderen Elementen getragen
wird. Wir sollten an dieser Stelle mit ausländischen
Direktinvestitionen klug helfen.
Ich denke, wir sollten feststellen: Es gibt eine Freiheit, aber es ist die Freiheit, zu wirtschaften und zu konsumieren. Außerdem grassiert Korruption. Demokratie
ist, wie wir gesehen haben, begrenzt. Auf der anderen
Seite gibt es politische Instanzen und Wahlen - auch
wenn diese nicht unseren Maßstäben entsprechen. Es
gibt auch Scheindemokratie. Wir haben von den verschiedenen Parteigründungen gehört. Auch das gehört
zu einem Land im Wandel und in Widersprüchen.
Russland hat sich aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft zurückgezogen, nimmt aber dennoch Einfluss.
Diese Einflussnahme ist heute offensichtlich nicht nur
mit militärischer Gewalt zu handhaben, sondern auch
mit marktwirtschaftlichen Prinzipien und mit einer kapitalistischen Herangehensweise.
({1})
Man muss aufpassen, dass man da nicht die Maßstäbe
verliert.
Deswegen, denke ich, muss man an Putin appellieren
und ihm sagen, dass das Handeln staatlicher Organe
nicht rechtsstaatlich und nicht demokratisch gewesen ist.
Man muss allerdings aufmerksam beobachten, was in
diesem Land passiert. Deswegen wäre es gut, wenn wir
Russland fordern und fördern. Fördern bedeutet an dieser Stelle, den Mut Einzelner zu unterstützen, sie einzuladen und mit ihnen zu reden. Man sollte auch den Jugendaustausch - darauf ist hingewiesen worden fördern und das Land mit Respekt behandeln. Auch das
gehört dazu. Wir müssen fordern: die Akzeptanz von
Bürgerrechten. Russland soll uns bei der Lösung internationaler Krisen helfen und dabei, eine gemeinsame Sicherheit in Europa zu schaffen. Wenn wir über das Raketenabwehrprogramm diskutieren, ist das ganz wichtig.
Ich bin der festen Überzeugung: Russlands Bürger wollen Partizipation, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wir sollten sie darin unterstützen.
Vielen Dank.
({2})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 j sowie
Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:
6 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
- Drucksache 16/5065 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Josef Philip Winkler, Britta
Haßelmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 16/3198 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für einen umfassenden Schutz religiös Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 16/4487 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({4}), Dr. Max Stadler, Sibylle
Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Aufenthaltsrecht für Hochqualifizierte
und Selbständige ändern - Integration maßgeblich verbessern
- Drucksache 16/4609 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({6}), Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bleiberecht großzügig gestalten - Integration
verbessern
- Drucksache 16/4739 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Ulla Jelpke, Katja Kipping, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge beim
Zugang zum Arbeitsmarkt gleichstellen
- Drucksache 16/4907 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für eine
grundlegende Wende der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik nutzen
- Drucksache 16/5109 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({10}), Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein integrationsförderndes, menschenrechtskonformes und humanitär ausgewogenes Zuwanderungsgesetz
- Drucksache 16/5103 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Kerstin Andreae, Josef Philip Winkler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zuzug von Hochqualifizierten erleichtern
- Drucksache 16/5116 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({13}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Sevim Dağdelen, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Die Welt zu Gast bei Freunden - Für eine offenere Migrations- und Flüchtlingspolitik in
Deutschland und in der Europäischen Union
- Drucksachen 16/1199, 16/4039 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({14})
Silke Stokar von Neuforn
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für Humanität und Menschenrechte statt
wirtschaftlicher Nützlichkeit als Grundprinzipien der Migrationspolitik
- Drucksache 16/5108 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Außerdem ist interfraktionell vereinbart, die heutige
Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5141 zu einem Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan sowie um die Beratung des Migrationsberichts 2005 der
Bundesregierung auf Drucksache 16/2000 zu erweitern
und als Zusatzpunkte 9 und 10 mit diesem Tagesordnungspunkt zu beraten. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen, und ich kann diese
aufrufen:
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Dr. Norman Paech, Hüseyin-Kenan
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN.
Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge
aus Afghanistan
- Drucksache 16/5141 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 10 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Migrationsbericht 2005
- Drucksache 16/2000 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.
({18})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden elf
Richtlinien der Europäischen Union umgesetzt, die das
deutsche Ausländer- und Asylrecht in zahlreichen Punkten erheblich umgestalten. Wir brauchen das, weil wir in
Zeiten der Globalisierung angesichts weltweiter Mobilität und wachsender weltweiter Migrationsströme auf gemeinsame europäische Lösungen dringend angewiesen
sind, zumal in einer Zeit, in der wir an Binnengrenzen in
Europa immer weniger kontrollieren. Wir werden auch
das Schengensystem immer weiter ausweiten. Deswegen
ist das ein wichtiger Schritt.
Darüber hinaus fördern wir mit den Vorschlägen, die
in diesem Gesetzentwurf enthalten sind, in vielfältiger
Weise die Integration von Menschen, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern und
Kontinenten zu uns nach Deutschland gekommen sind.
Wir fördern die Integration nach dem Prinzip Fördern
und Fordern; denn Integration wird umso besser gelingen, wenn sie nicht als Einbahnstraße verstanden wird,
sondern als Verhältnis von Geben und Nehmen, wobei
sich die aufnehmende Bevölkerung genauso integrationsbereit zeigen muss, wie der hinzukommende Teil
bereit sein muss, sich in das Land zu integrieren.
Wir versuchen, Missbrauchsmöglichkeiten einzudämmen, etwa indem wir gegen Scheinehen vorgehen und
Zwangsehen durch die Einführung eines Mindestalters
und ähnliche Tatbestände erfolgreicher bekämpfen. Wir
wollen die Integrationsfähigkeit fördern, indem wir auch
für nachziehende Ehegatten den Nachweis einfacher
deutscher Sprachkenntnisse zur Voraussetzung machen;
denn dadurch werden die Chancen auf Kommunikation
und damit auf gelingende Integration, auf ein Miteinander und ein Heimischwerden wesentlich erhöht.
Hinsichtlich der Sicherheitslage ziehen wir mit dem
Gesetzentwurf ausländerrechtliche Konsequenzen aus
Erkenntnissen im Zusammenhang mit den Kofferbombenfunden, indem wir Verbesserungen bei Identitätsfeststellungen und Überprüfungen von Gewährspersonen
vornehmen. Wir setzen, soweit das bundesgesetzlich erforderlich ist, Beschlussfassungen zum Staatsangehörigkeitsrecht um, die die Innenministerkonferenz im Sommer vergangenen Jahres beschlossen hat. Außerdem
haben wir uns - im Übrigen mit intensiven Beratungen dem Problem der Menschen zugewandt, die seit vielen
Jahren ohne eine gesetzliche Aufenthaltsberechtigung in
unserem Lande leben.
({0})
Wir haben die Regelungen, Herr Kollege Wiefelspütz
- entgegen manchem Getöse, das in den letzten Wochen
überflüssigerweise veranstaltet wurde; aber darüber haben wir gestern diskutiert -, in einer sehr intensiven Zusammenarbeit zwischen den Partnern der Koalition, aber
auch zwischen Bund und Ländern auf einen guten Weg
gebracht. Das Gesetzgebungsvorhaben ist kompliziert
und umfassend. Die Reduzierung des Diskurses nur auf
die gesetzliche Altfallregelung ist daher eine ziemliche
Verkürzung dessen, was anliegt.
({1})
Deswegen habe ich auch Wert darauf gelegt, den Inhalt
insgesamt kurz darzulegen.
Eine Bemerkung zum Thema der Bleiberechtsregelung will ich machen, damit wir den Zusammenhang
nicht aus dem Auge verlieren. Wir haben es da mit zwei
sich ein Stück weit widersprechenden Prinzipien zu tun.
Auf der einen Seite müssen wir darauf bestehen, dass die
nicht erlaubte Einreise in unser Land oder auch die Erlaubnis zu vorübergehendem Aufenthalt in unserem
Land nicht gewissermaßen automatisch zu einem Daueraufenthaltsrecht führt. Wir führen diese Debatte - auch
heute Abend wieder in Straßburg - auch auf europäischer Ebene.
Die Bundesrepublik Deutschland hat beispielsweise
in den 90er-Jahren mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge
aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Das
war eine große Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung, für die wir dankbar und auf die wir auch stolz sein
können.
({2})
Damals war klar, dass diese Flüchtlinge so lange bleiben
können, wie in ihren Ländern Bürgerkrieg ist, und dann
wieder dorthin zurückgehen. Manche Flüchtlinge sind
auch unter anderen Umständen gekommen. Dann sind
sie jahrelang hier; Kinder werden geboren und wachsen
hier auf. Aus diesen und jenen Gründen sind die Länder
nicht in der Lage, die Flüchtlinge, obwohl sie keine gesetzliche Berechtigung für ihren Aufenthalt haben, außer
Landes zu bringen. Irgendwann kommt der Punkt, wo
man eine Lösung finden muss.
Das sind die zwei Prinzipien. Wir werden die Aufnahmebereitschaft und Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung nicht erhalten können, wenn wir nicht auch in der
Zukunft darauf achten, dass die Frage, wer auf Dauer in
Deutschland leben kann, grundsätzlich aufgrund von
Recht und Gesetz durch die zuständigen Behörden in
diesem Lande entschieden wird und dass nicht eine Gesetzesverletzung umstandslos zur Daueraufenthaltsgewährung führt.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jelpke?
Bitte sehr, Frau Jelpke.
Herr Minister, Sie haben im letzten Herbst den Menschen, denen in Deutschland ein Bleiberecht zusteht,
versprochen, dass sie dieses Bleiberecht auch bekommen. Sie wissen, dass diese Menschen kein Arbeitsrecht
haben, dass sie einem Arbeitsverbot unterliegen. Jetzt
haben wir im Grunde genommen eine Altfallregelung.
Von den rund 180 000 betroffenen Menschen werden
nach Berechnungen von Flüchtlingsorganisationen
höchstens 15 000 bis 20 000 überhaupt ein Bleiberecht
hier bekommen.
Wie passt das zu Ihrem Versprechen, dass vor allem
Familien mit Kindern, die möglicherweise schon integriert sind, hier bleiben dürfen? Jetzt besteht die Gefahr,
dass diese Familien aufgrund der gesetzlichen Regelungen möglicherweise auseinandergerissen bzw. abgeschoben werden.
Frau Kollegin Jelpke, ich war gerade dabei, dieses
Thema anzusprechen. Ihre Zwischenfrage war zwar gut
vorbereitet, aber ein bisschen voreilig, wenn ich mir
diese Bemerkung erlauben darf. Ich will ja die schwierige Abwägung, die man bei solchen Entscheidungen
treffen muss, ein wenig erläutern. Denn nur wenn man
vom Grundsätzlichen ausgeht, kann man diese Thematik
im Detail verstehen.
Im Übrigen - das wird im parlamentarischen Verfahren noch deutlich werden - stimmen die Zahlenangaben
nicht. Die Anzahl von Menschen mit Kindern, die mindestens sechs Jahre hier leben, und von Menschen ohne
Kinder, die wenigstens acht Jahre in diesem Land leben,
liegt nach einer Schätzung in einer Größenordnung
- darüber kann man streiten - von ungefähr 100 000.
Wenn sie die zusätzlichen Voraussetzungen erfüllen
- auch darüber kann man streiten -, können sie bleiben.
Hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt gibt es
ebenfalls einen schwierigen Abwägungsprozess. Wir haben größere Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt erzielt,
als alle Experten erwartet haben. Diese Bundesregierung
ist außergewöhnlich erfolgreich.
({0})
Trotzdem besteht nach wie vor eine erhebliche Arbeitslosigkeit. Deswegen ist die Frage nach dem Zugang zum
Arbeitsmarkt nicht leicht zu beantworten. Der Arbeitsminister und der Innenminister sowie alle zuständigen
Kollegen mussten eine Lösung finden, die insgesamt
vertretbar ist. Ich sage aber: Wir schaffen damit auch
große Verbesserungen.
({1})
Dieser Gesetzentwurf enthält die Regelung, dass
Menschen, die vier Jahre ohne Aufenthaltserlaubnis also
nur geduldet in diesem Lande leben, in Zukunft ohne
Vorrangprüfung Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
({2})
Für alle diejenigen, die unter die gesetzliche Altfallregelung fallen, schaffen wir Möglichkeiten, dass das volle
Instrumentarium der Integration in den Arbeitsmarkt auf
sie angewandt werden kann. Und dennoch haben wir
eine Lösung gefunden - auch diesen Punkt musste man
beachten -, die einen Zuzug in die Sozialversicherungssysteme ausschließt.
Im Zeitalter der Globalisierung und damit großer
Migrationsströme - um eine Größenordnung zu nennen:
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass weltweit
rund 190 Millionen Migranten unterwegs sind, davon
ungefähr die Hälfte in Europa - müssen wir angesichts
der ganz unterschiedlichen Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme in den einzelnen Teilen der Welt und auch innerhalb Europas darauf achten, dass wir nicht Sogeffekte
auslösen, die diesen Prozess am Ende nicht mehr steuerbar machen. Das ist ein wenig kompliziert; deswegen
haben wir darüber lange und auch streitig diskutiert. Wir
haben Lösungen gefunden, die wir im Rahmen der parlamentarischen Beratung sehr genau prüfen werden. Wir
sind überzeugt, dass wir eine sehr gute und abgewogene
Regelung gefunden haben.
({3})
Ich will eine zweite Bemerkung hinzufügen. Dieser
Gesetzentwurf wird die Integration von Menschen, die
mit Migrationshintergrund in unserem Lande leben, fördern. Er schafft eine Fülle von zusätzlichen MöglichkeiBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
ten, mit denen die Integration gefördert wird. Aber es
wird auch deutlich gemacht, dass die Menschen mit
Migrationshintergrund, die auf Dauer bei uns leben
wollen, selbst ihren Beitrag leisten müssen. Das heißt,
dass man Deutsch lernen muss, dass auch Eltern Deutsch
sprechen müssen, damit ihre Kinder eine faire Chance in
Deutschland haben. Das Prinzip Fordern und Fördern
gilt auch an dieser Stelle.
({4})
Das heißt, dass man sich integrieren muss; dass es
besser ist, zu arbeiten und notfalls eine geringer bezahlte
Arbeit anzunehmen, als Sozialleistungen zu beziehen.
Das heißt, dass man in diesem Lande heimisch werden
wollen muss. Man darf nicht so tun, als wolle man mit
der gesellschaftlichen Situation in unserem Lande nichts
zu tun haben. Die Wirklichkeit unseres Landes muss einem nicht unbedingt gefallen; aber wenn man auf Dauer
hier leben will, muss man sie irgendwo akzeptieren. Wer
sich abschottet und wer mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit unseres Landes gar nichts zu tun haben will
- und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten bieten dazu vielfältige Chancen -, der wird auf Dauer nicht
zu integrieren sein. Das ist nicht im Interesse eines friedlichen und toleranten Zusammenlebens von Menschen
ganz unterschiedlicher Herkunft in diesem Land mit seiner freiheitlichen und toleranten Gesellschaftsordnung.
Auch diese Punkte sind im Gesetzentwurf sehr sorgfältig bedacht. Ich glaube, dass es eine sehr gute Regelung ist.
({5})
- Nein, aber durch den Gesetzentwurf erfolgt eine
schrittweise Umsetzung.
Ich will noch an folgenden Punkt erinnern. Nächste
Woche gibt es wieder eine öffentliche Veranstaltung im
Rahmen der Islamkonferenz. Die Vorsitzende Ihrer Fraktion hat vor einigen Monaten von diesem Pult aus gesagt: Das hätten auch wir schon machen können. Sie haben es aber leider nicht getan. Das gehört auch zum
Thema Integration.
Bei der Integration handelt es sich um einen zweigleisigen Prozess. Wenn man wirklich Integration erreichen
will - wir wollen sie fördern -, dann muss man den Migrantinnen und Migranten, die auf Dauer hier leben können, faire Chancen bieten. Man muss sie fördern, aber
ihnen auch klarmachen, dass sie einen eigenen Beitrag
zur Integration leisten müssen;
({6})
der Staat kann ihnen das nicht abnehmen.
Gleichzeitig muss man die Ängste der Mehrheitsgesellschaft abbauen. Man muss zum Beispiel klarmachen,
dass die Zuwanderung nach Deutschland auch in Zukunft gesteuert wird, dass Missbrauch und die Nichteinhaltung von Gesetzen nicht zu einer Privilegierung führen, sondern dass der Rechtsstaat bei all seiner Offenheit
und Toleranz auch darauf achtet, dass die Gesetze - so
großzügig sie sind - eingehalten werden. Sonst schürt
man Ängste und Misstrauen und erzeugt eine Abwehrhaltung. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was wir
erreichen wollen.
({7})
Wir müssen in aller Offenheit über ein sehr streitiges
Thema reden - es gibt keinen Grund, das nicht zu tun -:
Die Mehrheit der Länder vertritt den Standpunkt, man
mache solche Bleiberechtsregelungen im Grunde flexibler durch Beschlussfassungen der Innenministerkonferenz, denen der Bundesinnenminister zustimmen muss.
Dafür gibt es sehr gute Argumente. Es ist nach meiner
Überzeugung richtig, dass wir uns in diesem Fall für
eine gesetzliche Regelung entschieden haben, mit der
wir den Arbeitsmarkt stärker öffnen, den Zugang von
Geduldeten zum Arbeitsmarkt verbessern und auch die
Chancen derer, die jetzt als Altfälle anerkannt werden
und ein Bleiberecht erhalten, wenn sie entsprechend integriert sind. Es ist im Sinne der demokratischen Offenheit und Diskussionskultur, die Argumente dafür und dagegen abzuwägen.
Das Zusammenwirken von Bund und Ländern mit
dem Ziel eines Gelingens der Integration wie auch in
Fragen des Aufenthaltsrechts und der Asylgewährung
bleibt auch in Zukunft wichtig. Die föderale Ordnung
unseres Grundgesetzes bewährt sich im Zusammenwirken von Bund und Ländern. Gelegentlich werden dabei
unterschiedliche Meinungen vertreten; das gehört zur
Demokratie. Man muss dann zu gemeinsamen Lösungen
finden.
Ich bin ganz sicher, dass wir eine breite Zustimmung
des Bundestages und des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf erreichen werden. Wir werden im Bundestag
alle Details des Entwurfs gründlich beraten. Ich bitte
gleichwohl, ihn zügig zu beraten. Der Entwurf bringt
eine Menge von Verbesserungen. Ich bin mir sicher, dass
wir auf der Grundlage dieses Gesetzentwurfs fähig sein
werden, die großen Herausforderungen im Zusammenhang mit der weltweiten Migration in Europa gemeinsam zu bewältigen und den inneren Frieden in unserem
Lande weiter zu stabilisieren. Wir werden die Integration
derjenigen, die integrationswillig und integrationsfähig
sind, fördern und zugleich dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Land sicher sein können, dass die
Rechtsordnung dieses Landes für alle gilt. Das Gesetz
eröffnet uns viele Möglichkeiten, die Sicherheit zu wahren und das Klima der Toleranz zu verbessern.
Ich möchte mich bei all denjenigen bedanken, die bei
der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs mitgewirkt haben. Es gab intensive Beratungs- und Abstimmungsprozesse. Jetzt beginnt die parlamentarische Beratung. Ich
unterstütze die Einbringung in dem Bewusstsein, dass es
ein guter Gesetzentwurf ist. Ich bitte um zügige Beratung. Ich werbe dafür, dass wir alle uns unserer Verantwortung bewusst bleiben. Integration, Toleranz, Offenheit und Friedlichkeit der Bundesrepublik Deutschland
werden umso besser gefördert, je mehr wir klarmachen,
dass wir steuern und den grundlegenden Interessen
Rechnung tragen können. Wir machen das alles nicht
zum Nulltarif. Es ist besser, dass die Menschen arbeiten,
als dass sie die sozialen Sicherungssysteme missbrauchen.
({8})
Wir wissen, dass Menschen, die benachteiligt sind,
Chancen der Förderung und Hilfe brauchen. Wir können
sie aber nicht davon befreien, auch eigene Anstrengungen zu unternehmen.
Wenn wir die richtige Balance halten, uns in der Mitte
zwischen Fördern und Fordern bewegen, auch in der
Mitte zwischen Missbrauch und Großzügigkeit gegenüber denjenigen, die Hilfe und Förderung brauchen,
dann dienen wir dem inneren Frieden in diesem Lande
und damit nachhaltig der Freiheit.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Hartfrid Wolff, FDPFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Eine bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung ist überfällig. Sie liegt im Interesse der Menschen, des Landes und
auch unserer Wirtschaft. Sie schafft Rechtssicherheit
und Transparenz.
Die persönliche Aufenthaltsperspektive in Deutschland ist entscheidend für die Integrationsbereitschaft von
Migrantinnen und Migranten. Ein unsicherer Aufenthaltsstatus erschwert die Motivation für Integrationsbemühungen. Der jetzt gefundene Bleiberechtskompromiss von Union und SPD ist zwar ein Schritt, wenn auch
nur ein kleiner,
({0})
in die richtige Richtung, bringt jedoch nicht die notwendige nachhaltige Lösung.
({1})
Das Problem der Kettenduldungen bleibt nach wie vor
bestehen. Wir müssen zu einer klaren rechtsstaatlichen
Entscheidung kommen: Wer legal hier ist, muss einen sicheren Aufenthaltsstatus bekommen und sich mit dieser
Perspektive dann auch in unsere Gesellschaft integrieren.
({2})
Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Ausländern das Finden von Arbeit zu erleichtern. Es gilt, allen sich rechtmäßig hier aufhaltenden Personen einen schnellen und
unbürokratischen Weg zur Arbeit zu ebnen. Die bürokratischen Hürden für die Unternehmen zur Beschäftigung
von ausländischen Fachkräften müssen generell, nicht
nur für die Beschäftigung von Bleibeberechtigten, deutlich gesenkt werden. Im Regierungskompromiss wird
dieses für Hochqualifizierte wichtige Thema eklatant
vernachlässigt. Es ist traurig, Herr Schäuble, dass Sie
hierzu kein Wort verloren haben.
({3})
Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten, zum Beispiel Ingenieuren oder IT-Spezialisten, sorgt
für weitere Investitionen in Arbeitsplätze und ist für die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen wichtig.
Deutschland ist darauf angewiesen, als Standort für ausländische Forscher und Entwickler sowie Unternehmer
attraktiv zu bleiben.
({4})
Leider ist aktuell die gegenteilige Entwicklung zu beobachten: Viele Hochqualifizierte zieht es ins Ausland, da
dort die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen offensichtlich attraktiver sind.
({5})
Deutschland muss - nicht nur, aber auch im Aufenthaltsrecht - stärkere Anstrengungen unternehmen, damit der
damit einhergehende Kompetenzverlust nicht nur gestoppt, sondern umgekehrt werden kann. Die bisherigen
Regelungen sind zu bürokratisch und abschreckend, die
Einflussmöglichkeiten der Bundesagentur für Arbeit zu
weitgehend, und die Hürden für einen Zuzug von ausländischen Selbstständigen sind deutlich zu hoch.
({6})
Die für Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung bestehende Mindesteinkommensgrenze erweist sich insbesondere für kleine und
mittelständische Unternehmen als deutlich zu hoch.
Auch Selbstständige müssen leichter in Deutschland investieren können. Es ist vollkommen unverständlich,
dass ausländische Hochschulabsolventen von deutschen
Hochschulen, in die wir hier investiert haben, aufgrund
des Vorrangprinzips in Deutschland nur schwer eingestellt werden können.
({7})
Wir brauchen eine Zuwanderungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien. Der Rahmen hierfür und auch
die Perspektiven für jeden Einzelnen müssen klar sein.
({8})
Meine Damen und Herren, Integrationspolitik ist
nicht beliebig, sondern muss werteorientiert sein. Sie
muss fundamentale Grundrechte und Werte unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates vermitteln und
durchsetzen.
Hartfrid Wolff ({9})
Die Förderung der Kenntnisse über unser Land, seine
Werte und Kultur sowie unsere Demokratie sind zentrale
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration.
Unverzichtbare Grundlage für das gegenseitige Verstehen ist die deutsche Sprache. Hier bedarf es sowohl
deutlich ausgeweiteter Angebote seitens des Staates als
auch verständlicher Richtsätze, um ein klares Erwartungsbild aufzuzeigen.
({10})
In dieser Hinsicht stimme ich der Auffassung zu, dass
die Integrationskurse stärker zielgruppenorientiert gestaltet und die Kursdauer und auch die Vergütung der
Lehrer an die zu erreichenden Ziele angepasst werden
müssen.
({11})
Zuwanderer sind zu fördern, aber auch selbst klar gefordert. Sie müssen ihren Beitrag leisten und Verantwortung dafür übernehmen, dass sie in der Gesellschaft integriert werden. Wir erwarten, dass sie sich aktiv in die
Gesellschaft einbringen und die Bildungs- und Integrationsangebote nutzen.
Von den Zuwanderern erfordert dies, Deutsch zu lernen, unsere Verfassungs- und Rechtsordnung sowie die
ihr zugrunde liegenden Werte zu kennen und vorbehaltlos zu akzeptieren und für sich und ihre Familien als entscheidende Akteure im Integrationsprozess Verantwortung für das Gelingen der Integration zu übernehmen.
Unsere Rechtsordnung und ihre Prinzipien, etwa die
Gleichheit der Geschlechter, die Achtung gegenüber Andersdenkenden, Anders- oder Nichtgläubigen, das Gewaltmonopol des Staates oder der Verzicht auf gewaltsame Konfliktlösungen, gelten ohne jede Einschränkung
für alle in unserem Land lebenden Menschen.
({12})
Der Staat hat diese Werte und Prinzipien gegen jeden
Relativierungsversuch unmissverständlich zu schützen
und zu verteidigen.
({13})
Ich begrüße, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung diesbezüglich ein feierliches Bekenntnis für die
Einbürgerung vorsieht, finde seine Formulierung aber etwas abstrakt und knapp. Warum nehmen wir im Wortlaut
dieses Bekenntnisses nicht einige konkrete Beispiele aus
dem Katalog der Grundrechte auf? Wir sollten hier von
Ländern lernen, die sich länger als wir selbst als Einwanderungsland verstehen.
Integrationspolitik erteilt nicht nur ein Aufenthaltsrecht oder später, infolge einer gelungenen Integration,
einen deutschen Pass, sondern muss auch Identität stiften. Die deutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat,
die Grund- und Menschenrechte mit der Trennung von
Staat und Religion sind das für alle geltende Fundament
unserer Gesellschaft. Sie sind aber auch eine attraktive
Zielsetzung für Integration; sie sind identitätsstiftend.
Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, diese gesunde Basis unseres Miteinanders zu fördern und zu stärken.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Rüdiger Veit, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aristide Briand hat einmal gesagt, ein Kompromiss sei
vollkommen, wenn alle unzufrieden seien. Nun weiß ich
nicht, ob alle unzufrieden sind. Ich für meine Person bin
leider unzufrieden, weil ich meine, dass man gerade in
der Großen Koalition noch wesentlich mehr hätte bewirken können. Ich werde Ihnen das auch im Einzelnen zu
begründen versuchen, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich aber zunächst einmal kurz zurückblenden. Wir hatten bei der Beratung und Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes seinerzeit die Absicht,
mit der Fassung von § 25 Abs. 3, 4 und 5 Aufenthaltsgesetz dafür Sorge zu tragen, dass die bis dahin lange Zeit
und in hoher Zahl üblichen sogenannten Kettenduldungen abgeschafft werden. - Für die, die nicht in dem Stoff
sind, sei noch einmal gesagt: Die Duldung ist nichts anderes als die Aussetzung der Abschiebung. - Wir haben
dann schon in dem Gesetzgebungsverfahren, von dem
ich eben sprach - das Zuwanderungsrecht ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten -, erlebt, dass im Kompromiss mit dem Bundesrat, namentlich mit den Vertretern
der Seite der B-Länder, das Rechtsinstitut der Duldung
gleichwohl beibehalten werden musste.
In der Folgezeit haben wir feststellen müssen, dass
leider allenfalls 30 000 von diesen kettengeduldeten ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern - so hat die
Evaluierung ergeben - nach der genannten Vorschrift,
also nach § 25 Abs. 3 bis 5, zu einer Aufenthaltserlaubnis gelangt sind. Für alle Übrigen - das ist eine Zahl von
rund 180 000 in ganz Deutschland - galt und gilt immer
noch, dass sie sozusagen auf gepackten Koffern sitzen,
gewärtig sein müssen, dass sie und ihre Familien unter
Umständen kurzfristig abgeschoben werden, in der Regel nicht in der Lage sind, Arbeit aufzunehmen, und ihre
Kinder keine Ausbildungsplätze antreten können. Von
daher besteht dringender Handlungsbedarf.
Ich bin deshalb schon dankbar gewesen, als es gelungen ist, in die Koalitionsvereinbarung aufzunehmen: Ob
eine befriedigende Lösung des Problems der sogenannten Kettenduldungen erreicht worden ist, werden wir im
Zusammenhang mit der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes prüfen. Das ist geschehen.
Wenn wir heute ein Gesetzgebungsvorhaben von fast
500 Seiten in erster Lesung zu beraten haben, dann ist
das mengen- und gewichtsmäßig vielleicht gerade ein9550
mal zu 50 Prozent die Umsetzung von EU-Recht. Die
übrigen rund 50 Prozent sind - der Herr Minister hat
darauf hingewiesen - auf Wünsche und Anregungen von
Landesinnenministern und Vertretern der Koalitionsfraktionen zurückzuführen, oder sie sind Ergebnisse der
Evaluierung, die wir vorgenommen haben. Dies gilt es
nun zu bewerten.
Ich muss sagen: Für mich ist das ein schmerzhafter
Kompromiss. Ich füge ausdrücklich hinzu: Die SPD ist
eine große Volkspartei, und die Schmerzempfindlichkeit
an dieser Stelle ist unterschiedlich ausgeprägt, weswegen auch die Bewertung unterschiedlich ausfällt; das
sage ich in aller Offenheit. Ich möchte dies an einem
Beispiel festmachen. Einige von uns sagen: Wir wollen
einen Spracherwerb im Herkunftsland vor dem Ehegattenzuzug. Andere, auch in unseren Reihen, sagen: Das
halten wir für verfassungswidrig und kritikwürdig.
({0})
Die Frage der Verfassungskonformität dieser Regelung
ist in unseren Koalitionsverhandlungen bereits breit diskutiert worden.
Ich will einmal auf den Abwägungsprozess zu sprechen kommen, der mich letztendlich dazu bewegt, trotz
aller Schmerzhaftigkeit zu sagen: Dem Gesetzentwurf ist
zuzustimmen. Dass es nun zu einer gesetzlichen Altfalloder Bleiberechtsregelung kommt, ist ein außerordentlicher Fortschritt.
({1})
Damit wird ein bis dahin maßgebender Teufelskreis
durchbrochen. Man kann auch von einer Köpenickiade
sprechen, nach dem Motto: Hast Du keine Arbeit, bekommst Du keine Aufenthaltserlaubnis. Hast Du keine
Aufenthaltserlaubnis, bekommst Du keine Arbeit. - Ich
wiederhole: Dieser Teufelskreis wird jetzt durchbrochen.
Herr Minister, ich möchte - ohne dass es notwendig gewesen wäre, dass mich der Kollege Wiefelspütz dazu
ausdrücklich aufgefordert hat; vielmehr ist dies mein Bedürfnis - mich sowohl bei Ihnen herzlich dafür bedanken, dass Sie sich intensiv und nachhaltig eingesetzt haben, als auch bei Herrn Bundesminister Müntefering, der
das ebenfalls zu seiner Sache gemacht hat.
({2})
- Das ist keine weiße Salbe auf einer schweren Wunde,
lieber Josef Winkler. Eine Wunde war es allemal, weil es
ein ungelöstes Problem - übrigens aus rot-grüner Zeit war. Man muss fairerweise sagen: Besser waren wir
auch nicht.
({3})
Darauf komme ich am Schluss aber noch zu sprechen.
Der niedersächsische Innenminister war - das sage
ich, mit Verlaub, ganz genüsslich - in den gesamten Verhandlungen nicht immer nur hilfreich. Er meinte den
Bundesinnenminister angreifen zu müssen. Er sagte,
Schäubles Überlegungen zu einer Bleiberechtsregelung
zeigten, dass er von der Praxis überhaupt keine Ahnung
habe.
({4})
An den niedersächsischen Innenminister adressiert,
möchte ich an dieser Stelle gern noch sagen: Bereits
§ 100 des alten Ausländergesetzes - ich glaube, dieses
Gesetz ist am 9. Juli 1990 in Kraft getreten - enthielt
eine gesetzliche Bleiberechtsregelung.
({5})
- Eben. - Innenminister war damals ein gewisser
Wolfgang Schäuble. Ihr Länderkollege Schünemann hat
dies in seinem vergleichsweise jugendlichen Alter - diese
Äußerung hat er ja im November 2006 getan - gar nicht
ahnen können.
Ich möchte an dieser Stelle dem Kollegen Wolff noch
eines sagen. Herr Kollege Wolff, Sie haben gesagt, diese
gesetzliche Bleiberechtsregelung sei ein noch unzureichender Schritt. Darin stimme ich Ihnen ausdrücklich
zu; ich sage Ihnen auch gleich, warum. Dass aber ausgerechnet Vertreter der FDP das hier kritisieren, stört mich
vor allen Dingen deswegen, weil ich nicht nur von einem
Teilnehmer an entsprechenden Treffen weiß, dass ausgerechnet der nordrhein-westfälische Innenminister - er
gehört der FDP an und trägt zudem Ihren Nachnamen,
wofür Sie nichts können; das verstehe ich - die Verhandlungen gelegentlich außerordentlich schwierig gemacht
hat.
({6})
Wenn er vorausmarschiert wäre, dann hätten wir möglicherweise schon eine bessere IMK-Bleiberechtsregelung.
({7})
Lassen Sie mich noch einmal zu dem Abwägungsprozess in der Sache kommen.
({8})
- Ich sage das nicht nur Herrn Beckstein, sondern auch
Herrn Körting und unserem Kollegen Stegner. An diesem Prozess waren viele beteiligt. Normalerweise hat
der Erfolg viele Väter und Mütter. Dass viele beteiligt
sind, ist aber nicht immer Gewähr für einen Erfolg. Ich
meine das durchaus selbstkritisch in Bezug auf die eigenen Reihen.
({9})
Lassen Sie mich kurz dazu kommen, warum das
Ganze ein schwieriger Abwägungsprozess ist. Es gibt
im Rahmen dieses Gesetzgebungsvorhabens aus meiner Sicht wenige positive Elemente. Ein Element ist die
gesetzliche Bleiberechtsregelung, wobei ich kritische
Anmerkungen habe. Was den Mindestaufenthalt beRüdiger Veit
trifft, so halte ich sechs bzw. acht Jahre für zu lange.
Ein großes Problem stellt die Regelung über den Missbrauch bei der Mitwirkung im Rahmen des Verfahrens
dar.
({10})
Ferner sind 50 bis 90 Tagessätze Geldstrafe eine zu niedrige Grenze, und der Regelausschluss aller Familienmitglieder schmerzt mich in ganz besonderer Weise. Es ist
schade, dass wir hierzu keine Lösung gefunden haben.
Das betrifft auch das Problem der ausländischen Mitbürger, die als Minderjährige allein eingereist und heute
volljährig sind.
Wenn es auch eine Reihe von Bestimmungen gibt, die
den Kreis der potenziell Begünstigten verkleinern - Herr
Minister, ich befürchte, dass es leider deutlich unter
100 000 sind -, ist der Gesetzentwurf insgesamt doch
positiv zu bewerten. Wir haben - das ist ein Nebenprodukt und mehr für Insider relevant - den Richtervorbehalt im Rahmen des Flughafenverfahrens anstelle der
Freiwilligkeitserklärung. In dem Gesetzentwurf - das
darf man wenigstens einmal erwähnen - steht auch, dass
die Mindestfrist für die Einbürgerung bei besonderen
Deutschkenntnissen von acht auf sechs Jahre verkürzt
werden kann. Wenn das Gesetz so verabschiedet wird,
dann wird auch der Arbeitsmarkt für Geduldete nach
vier Jahren geöffnet.
Wir haben aber keine Lösung im Rahmen des
§ 25 Abs. 4 und 5 für die Zukunft. Wir haben insbesondere keine Lösung für die Kinder und Jugendlichen mit
einer kürzeren Verweildauer in Deutschland im Rahmen
des § 25 Abs. 5 durchsetzen können, obwohl das der eigentliche Schlüssel gewesen wäre,
({11})
um zu einer Lösung auf Dauer zu kommen und den Behörden das Ermessen einzuräumen, auch zugunsten der
Betroffenen zu entscheiden. Wir wollten auch denen
eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland geben, bei denen das schutzwürdige private Interesse am Verbleib in
der Bundesrepublik, insbesondere unter Berücksichtigung der Belange des Kindeswohls, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegt.
Das Problem des Ehegattennachzugs und der vorher
zu erwerbenden Sprachkenntnisse wurde bereits erwähnt. Das beurteilen wir unterschiedlich. In dem Gesetzentwurf wird auch geregelt, dass der Ehegattennachzug zu Deutschen ausnahmsweise an die
Bestreitung des Lebensunterhalts geknüpft werden soll.
Das ist ebenfalls ein Punkt, von dem ich nicht ohne Weiteres glaube, dass er die verfassungsgerichtliche Überprüfung überstehen wird.
Die abgesenkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wurden, was den Sozialdemokraten auch
wehgetan hat, von 36 auf 48 Monate verlängert.
Wir haben darüber hinaus eine Regelung über die
zwingende Ausweisung von bestimmten Gruppen von
Heranwachsenden.
Der Arzt darf körperliche Eingriffe zwecks Feststellung des Alters vornehmen.
Es gibt einen abgestuften Sanktionenkatalog im Zusammenhang mit den Integrationsbemühungen. Ferner
wird die Einbürgerungserleichterung für Personen bis
23 Jahre, die ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, abgeschafft.
Schon aus Zeitgründen muss ich meine bei weitem
nicht vollständige Aufzählung abbrechen. Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, dass die Materie überaus
komplex und schwierig ist. Wir haben unserem Koalitionspartner Zugeständnisse gemacht, die in ganz vielen
Punkten eigentlich nicht unseren Überzeugungen entsprechen. Das will ich hier klar und deutlich sagen. Aber
im Interesse der von dem Gesetz potenziell begünstigten, hier in Deutschland bereits seit vielen Jahren lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ist es,
so denke ich, gerechtfertigt, zu diesem Gesetzentwurf Ja
zu sagen.
({12})
Ich habe im Übrigen die Befürchtung, dass wir die
Diskussion im Bundesrat noch einmal aufrollen. Ich
habe heute gehört, dass im Bundesrat 100 Anträge zu
dem Gesetzentwurf vorliegen. Ich weiß gar nicht, wie
wir die alle bearbeiten sollen. Ich jedenfalls bleibe dabei,
dass wir die Spielräume der EU-Richtlinie gar nicht annähernd ausgeschöpft haben. Wir haben aber dem Personenkreis, von dem ich sprach, vor allen Dingen den hier
geborenen Kindern und Jugendlichen, eine Perspektive
eröffnet.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Wenn ich 20 000 bis 30 000 Jugendlichen hier in
Deutschland konkret helfen kann, dann bin ich bereit, im
Gesetzgebungsverfahren an anderer Stelle nachzugeben.
Mein letzter Satz: Die Opposition wird uns kritisieren. Der sei aber gesagt, dass wir eine Bleiberechtsregelung auch unter Rot-Grün nicht geschafft haben. Auch
die FDP hat uns im Vermittlungsausschuss nicht maßgeblich unterstützen können. Die Ursachen dafür kennt
keiner besser als ich. Ich hoffe, Sie sehen den hier getroffenen Kompromiss ähnlich wie ich. Ich wünsche uns
fruchtbare Beratungen.
Danke sehr.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon das
vor zwei Jahren in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz
wurde seinem Anspruch nicht gerecht. Es blieb ein Gefahrenabwehrrecht, das Zuwanderungsmöglichkeiten
eng begrenzte, Integration auf Deutschkenntnisse reduzierte und für Flüchtlinge keine humanitären Verbesserungen brachte. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
will die Bundesregierung das deutsche Zuwanderungsrecht an die aufenthalts- und asylrechtlichen EU-Richtlinien anpassen. Anstatt die Chance zu nutzen, eine umfassende Bleiberechtsregelung zu schaffen, beinhaltet
der Gesetzentwurf jedoch im Wesentlichen Verschlechterungen für die Betroffenen. Er ist geprägt vom Geist
der Abschottung. Allein die wirtschaftliche Nützlichkeit
eines hilfesuchenden Menschen war offenbar das federführende Kriterium bei der Abfassung des Gesetzentwurfes. Ausweisung und Abschiebung sollen erleichtert
werden. Das Asylrecht wird weiter reduziert. Entwürdigende Kettenduldungen werden beibehalten, wie wir
eben vom Kollegen Veit gehört haben.
Fast 200 000 Menschen leben seit Jahren als sogenannte Geduldete in Deutschland. Herr Schäuble hat ihnen im vergangenen Herbst ein Bleiberecht versprochen.
Stattdessen legt er nun ein Mogelpaket vor. Zuerst hat
man den Geduldeten ein Arbeitsverbot erteilt. Nun sollen sie abgeschoben werden, wenn sie keine Arbeit haben. Das ist wirklich zynisch und menschenverachtend;
denn wer keinen Pass hat, bekommt in Zukunft kein
Bleiberecht. Wenn ein einziges Familienmitglied die
vorgesehenen Kriterien nicht erfüllt, wird gleich die
ganze Familie in Sippenhaft genommen.
Anstatt Flüchtlingen zu helfen, wird ihnen der
Flüchtlingsstatus genommen. Zum Beispiel sind
2 Millionen Iraker vor den Folgen des Krieges auf der
Flucht. Die Bundesregierung hat durch die Bereitstellung von Logistik eine gewisse Mitschuld daran. In dieser Situation beginnt das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge Widerrufsverfahren gegen irakische Asylberechtigte. Tausende haben in den letzten Jahren ihren
Asylstatus verloren. Ihnen drohen nun Kettenduldungen.
Daran zeigt sich die inhumane Systematik dieses Flüchtlingsabwehrgesetzes.
({0})
Zum Thema Ausweisungen: Es werden neue Ausweisungsgründe eingeführt. Eltern, die ihre Kinder angeblich an der Integration hindern, sollen ausgewiesen werden. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, das eigentlich nachprüfen? Wollen Sie künftig
Integrationsspitzel in ausländische Familien einschleusen? Sollen Paragrafen Denunziation und Missbrauch
Tür und Tor öffnen? Sie zeigen vor allem eines: das abgrundtiefe Misstrauen der Bundesregierung gegenüber
Einwanderern, vor allem gegenüber Menschen aus islamischen Ländern. Das sind meiner Meinung nach
Stammtischpopulismen, die in Gesetzesform gegossen
wurden.
Mit dem Gesetz hebelt die Bundesregierung das Asylrecht weiter aus. In Zukunft genügt der bloße Verdacht
der Einreise über einen sicheren Drittstaat, um Flüchtlinge sofort zurückzuweisen. Rechtsmittel gegen die
Rückführung sollen künftig ausgeschlossen werden.
Wenn ein Flüchtling nicht sofort abgeschoben werden
kann, wird er einfach in den Knast gesteckt. Wer auf
dem Luftweg einreist, kann im Asylverfahren - das war
bislang unmöglich und ist in keinem europäischen Land
erlaubt - 30 Tage im Flughafentransit festgehalten werden, und zwar ohne richterliche Entscheidung.
Ich möchte die Bundesregierung daran erinnern: Asyl
ist ein Menschenrecht und kein Verbrechen.
({1})
Ein Verbrechen ist es vielmehr, unschuldige Menschen
ins Gefängnis zu werfen, Menschen, die auf der Flucht
vor Not und Verfolgung sind. Was die Bundesregierung
plant, verstößt massiv gegen den Geist der Genfer
Flüchtlingskonvention. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit
nichts mehr zu tun.
({2})
Das gilt auch für den letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Ausländerbehörden können in Zukunft
Ausreisepflichtige ohne richterlichen Beschluss einsperren, und zwar ohne Vorwarnung. Zukünftig müssen Geduldete bei jedem Gang zur Ausländerbehörde zittern.
Das ist doch wirklich menschenverachtend.
Dieses Gesetz ist ein Flüchtlingsabwehrgesetz, um
Menschen ohne deutschen Pass zu schikanieren und abzuschieben. Wer sich einen Funken Menschlichkeit und
Rechtsverständnis bewahrt hat, kann diesem Gesetz meiner Meinung nach nicht zustimmen.
({3})
Darum rufe ich dazu auf, dass sich alle in den kommenden Wochen an den Protestaktionen der Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen beteiligen.
Die Linkspartei bleibt dabei: Wir brauchen ein Zuwanderungsrecht ohne Rassismus. Wir brauchen ein
wirkliches Bleiberecht und gleiche Rechte für alle, die
hier leben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Josef Philip Winkler, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, über welchen Gesetzentwurf Herr Minister
Schäuble heute gesprochen hat.
({0})
Der Gesetzentwurf, den er vorgelegt hat, mit dem das Zuwanderungsgesetz geändert werden soll, ist integrations-,
frauen- und familienfeindlich.
({1})
Versteckt hinter einer angeblichen Umsetzung von elf
EU-Richtlinien, enthält der Entwurf zahlreiche rechtsstaatlich bedenkliche Verschärfungen des Ausländerund Flüchtlingsrechts. So charmant es ist, Herr Kollege
Veit, es wird dadurch, dass Sie es selbst zugeben, nicht
besser.
({2})
Die restriktiven Vorschläge der Koalition sind von einem
generellen Misstrauen gegenüber Migrantinnen und Migranten geprägt. Sie sind das Gegenteil von Integrationsförderung. Sie werden Ausgrenzung und Abschottung
befördern. Wir werden uns daran nicht beteiligen.
Obwohl sich Frau Staatsministerin Böhmer mit Migrantenverbänden und Kirchen beim Integrationsgipfel
im Kanzleramt über Möglichkeiten der Integrationsförderung beraten hat, wird von der Koalition dieser alles
andere als integrationsfördernde Gesetzentwurf vorgelegt. Zu Recht kritisiert daher eine Vielzahl von Teilnehmern des Integrationsgipfels, dass die geplanten gesetzlichen Verschärfungen in krassem Widerspruch zu dem
stehen, was dort besprochen wurde. Die Koalition hält
mit aller Kraft an der Abschottung und damit dem absoluten Primat der Zuwanderungsbegrenzung fest.
Durch die Aufnahme des Rechtsanspruchs auf Integrationskurse in das Zuwanderungsgesetz wurden richtige Signale gesetzt.
({3})
Mit diesen Kursen wurden Einwanderern erstmals Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache und zur Orientierung in einem für sie fremden Land gemacht. Das
bleibt auch so. Diese Kurse werden von Migrantinnen
und Migranten positiv angenommen.
Diese ersten Erfolge werden durch dieses Gesetzesvorhaben jedoch nachhaltig geschwächt; denn beim Familiennachzug haben Sie sich etwas ganz besonders
Perfides einfallen lassen. Jetzt sollen nachziehende Ehegatten vor der Einreise nach Deutschland über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, und das Ganze
läuft dann noch unter dem Label Verhinderung von
Zwangsverheiratung.
Das ist in keiner Weise eine Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie. Darin ist diese Forderung
nicht als Voraussetzung enthalten.
({4})
Letztlich geht es natürlich darum - das sagen wir
ganz klar -, dass die Migrantinnen und Migranten
Deutsch können. Das begrüßen wir auch. Wir haben die
Kurse in Deutschland eingerichtet, damit die Integration
durch Sprache stattfindet. Es ist ein Systembruch, wenn
Sie das Grundprinzip des Zuwanderungsgesetzes nach
gerade einmal zwei Jahren Gültigkeit ins Gegenteil verkehren. Das verzögert im Übrigen lediglich den Nachzug der Ehegatten und eventuell bereits vorhandener
Kinder um unter Umständen einige Jahre.
Es ist nun einmal leichter, in Deutschland, in einem
Umfeld, wo es viele deutschsprechende Mitbürger gibt,
Deutsch zu lernen. In der Türkei oder sonst wo ist es
eben schwierig. Die türkische Regierung - das steht im
Gegensatz zu dem, was hier im Hause schon einmal zu
hören war - sieht das ganz genau so, wie ich es gerade
vorgetragen habe.
Vor 14 Tagen fand eine Delegationsreise des Innenausschusses nach Istanbul und Ankara statt. In der Türkei hat quasi jeder Gesprächspartner - aus dem Kabinett,
dem Parlament, von Nichtregierungsorganisationen oder
der Presse - diesen Vorschlag mit Vehemenz zurückgewiesen. Man hat gesagt, dass hier quasi eine Hürde aufgebaut wird, die vor allem für türkische Familien gelten
wird; denn für Menschen aus den USA, Kanada, Japan
oder womöglich Honduras gilt das natürlich nicht. Dieses Gesetz enthält eine antitürkische Familienklausel.
Das sollten Sie hier im Parlament deutlich sagen.
({5})
Wenn man wirklich etwas gegen Zwangsehen machen will - die rot-grüne Bundesregierung hat in einem
Gesetz deutlich formuliert, dass das eine schwere Straftat, ein Verbrechen ist -, dann sollte man den Aufenthaltsstatus dieser Frauen in Deutschland verbessern.
Alle Sachverständigen, alle Frauenverbände, Migrationsverbände und die Kirchen fordern: Die Frauen, die
hier von Zwangsverheiratung bedroht sind oder Opfer
von Zwangsehen geworden sind, brauchen als Allererstes ein eigenständiges Aufenthaltsrecht; das ist das
Wichtigste. Doch das fehlt in diesem Gesetz. Darum
wird mit ihm keine Zwangsheirat verhindert.
({6})
Beim Thema Deutsch lernen wollen Sie jetzt Bußgelder von bis zu 1 000 Euro einführen, obwohl Sie genau
wissen, dass die meisten derjenigen, die Kurse abgebrochen haben, Mütter sind, die kein Geld für oder kein Angebot an Kinderbetreuung während dieser Sprach- und
Integrationskurse bekommen haben.
({7})
- Das bekommen sie jetzt. Aber warum führen Sie Bußgelder ein, wenn Sie genau wissen, dass das Problem
nicht ist, dass sie nicht wollen, sondern darin besteht,
dass sie nicht können?
({8})
Deswegen haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt,
in dem wir noch einmal Punkt für Punkt aufgeführt haben, was nach unserer Meinung ein integrationsfördern9554
des, menschenrechtskonformes und humanitär ausgewogenes Zuwanderungsgesetz ausmacht. Ich will das alles
jetzt nicht noch einmal ausführen. Aber klar ist: Für uns
steht jede Familie unter dem besonderen Schutz des
Grundgesetzes und nicht nur die, die unter Deutschen
geschlossen wird. Deswegen halten wir den Verfassungsbruch, den Sie sehenden Auges begehen, für außerordentlich schädlich und integrationsfeindlich.
({9})
Gleichzeitig finden Zwangsverheiratungen von in
Deutschland lebenden mit im Ausland lebenden Personen statt. Wir haben keine Zahlen darüber; aber wir vermuten, dass es welche gibt. Daher muss eingeführt werden, dass man auch dann, wenn man länger als sechs
Monate im Ausland gewesen ist, zurückkehren kann. Da
braucht es also ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, zum
Beispiel für den Fall, dass man länger als sechs Monate
im Ausland war, weil man verschleppt wurde. Das ist etwas, was die Frauenpolitikerinnen aller Fraktionen immer wieder betonen. Das müssten sich die Innenpolitiker, insbesondere der Unionsfraktion, einmal hinter die
Ohren schreiben.
Deshalb fordern wir Sie von der Koalition auf: Ziehen
Sie in den Ausschussberatungen die Notbremse und verbessern Sie diesen Gesetzentwurf! Sonst ist das die
schlimmste Verschärfung des Ausländerrechts, die es in
den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat. Das werden
wir nicht mitmachen.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Reinhard Grindel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Jelpke, wer einen Fraktionsvorsitzenden hat, der in
seiner Chemnitzer Rede erklärt hat: Fremdarbeiter dürfen nicht deutschen Familienvätern die Arbeit wegnehmen, der sollte in Sachen Abschottung und Rassismus
vor der eigenen Tür kehren!
({0})
Lieber Kollege Veit, nur wer von sich selbst begeistert
ist, kann andere begeistern. Insofern hätte ich mir ein
bisschen mehr Begeisterung gewünscht. Denn ich
glaube, wir können mit unserem Gesetzentwurf sehr
wohl zufrieden sein. Wir machen jetzt Ernst mit einer
Politik des Miteinanders von Deutschen und Ausländern,
({1})
wir lassen kein Nebeneinander mehr zu. Darauf können
wir stolz sein. Das ist eine Verbesserung für das Leben
der 4 Millionen Ausländer und auch für das Zusammenleben mit den deutschen Mitbürgern. Damit, lieber Kollege Veit, können wir sehr zufrieden sein.
({2})
Kernstück des Gesetzentwurfes ist die Pflicht des
Nachweises einfacher Deutschkenntnisse, und zwar bereits vor dem Ehegattennachzug. Damit leisten wir einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen Zwangsehen. Denn es muss doch einleuchten, lieber Kollege
Winkler, dass betroffene Frauen die vielfältigen Hilfsangebote bei uns nur dann annehmen können, wenn sie zumindest etwas Deutsch können. Sie lassen die betroffenen Frauen allein, wenn Sie sie nicht im Vorfeld durch
die Vermittlung von Deutschkenntnissen stärken.
({3})
- Richtig, Frau Laurischk, es geht nicht nur um Zwangsehen. Es geht uns um viel mehr: Mit dem Nachweis einfacher Deutschkenntnisse vor dem Familiennachzug
wollen wir vor allem für präventive Integration sorgen.
Viele Zuwanderer, die auf dem Wege des Familiennachzugs kommen, sind doch in Wahrheit Objekt des
Geschehens. Sie werden verheiratet, sie werden nach
Deutschland gebracht, sie werden in Wohnungen gehalten, einige werden Opfer von Gewalt. In fast jedem Integrationskurs begegnet man Frauen, die 17 oder 20 Jahre
in Deutschland sind, aber praktisch kein Wort Deutsch
können, die ihr unmittelbares Umfeld nicht verlassen,
weil sie unsicher sind oder weil sie es nicht verlassen
dürfen. Familiennachzug, das war bisher oftmals Umsiedlung in eine Parallelgesellschaft. Mit der Forderung
des Nachweises von Deutschkenntnissen sorgen wir dafür, dass die Zuwanderer Subjekt des Verfahrens werden.
Wir überlassen sie nicht ihrem Schicksal, wir sorgen dafür, dass man sich endlich um sie kümmert. Mit den
Deutschkenntnissen erlangen sie eine eigene Handlungsfähigkeit. Gerade Frauen erhalten die Chance auf mehr
Selbstbestimmung.
Die Zuwanderer werden sich ganz anders auf ihr Leben in unserem Land vorbereiten können. Versäumnisse
bei der nachholenden Integration zu beseitigen, ist richtig. Defizite zu vermeiden, indem wir mehr für die präventive Integration tun, ist aber mindestens genauso
richtig.
({4})
Mit dem Erfordernis einfacher Deutschkenntnisse wirken wir endlich direkt in die Parallelgesellschaften hinein.
Diese neue Regelung ist ein klares Signal an die Familien,
die bisher einen großen Bogen um Integrationsangebote
gemacht haben. Wir wollen ihnen sagen: Ohne Deutsch
geht es nicht. Deutsch ist bei der Integration nicht alles,
aber ohne Deutsch ist bei der Integration alles nichts.
Wenn die Zahl der Kinder zunimmt, die bei Sprachstandserhebungen kein Wort Deutsch sprechen, dann
liegt die Vermutung nahe, dass auch in den Familien
kein Wort Deutsch gesprochen wird. Das darf uns nicht
ruhen lassen. Deshalb müssen wir auf verschiedenen
Wegen in diese Familien hineinwirken, mit nachholender, aber auch mit präventiver Integration. Wie soll die
nachgezogene Ehefrau ihren Kindern sonst das für eine
gute Schullaufbahn nötige Rüstzeug vermitteln? Wir
dürfen die Kinder, die kein Deutsch sprechen, nicht aufgeben. Wenn man sich die demografische Entwicklung
vor Augen hält, stellt man fest: Wir sind auf jedes einzelne Kind angewiesen.
({5})
- Lieber Kollege Winkler, wenn die Kinder mit Migrationshintergrund in unserem Land keine gute Perspektive haben, dann hat auch unser Land keine gute Perspektive. Mit unserem Gesetz sorgen wir dafür, dass
die Familien und insbesondere die Kinder in unserem
Land eine bessere Perspektive erhalten.
({6})
Deshalb sage ich denjenigen, denen es mit der Öffnung unseres Arbeitsmarktes gar nicht schnell genug gehen kann, weil wir einen Mangel an Facharbeitern haben: Vielleicht sollten wir erst einmal dafür sorgen, dass
die Kinder, die in Deutschland geboren werden und einen Migrationshintergrund haben, die Chance bekommen, selbst einmal Facharbeiter zu werden. Mit unserem
Gesetz wollen wir dafür bessere Rahmenbedingungen
schaffen.
Ich finde das Argument abwegig, die Ausländer seien
nicht in der Lage, sich Deutschkenntnisse zu verschaffen. Es gibt nicht nur Goethe-Institute, sondern auch die
Sprachangebote der Deutschen Welle, insbesondere im
Internet. Darüber hinaus wird eine Vielzahl von Rückkehrern in ihrem jeweiligen Heimatland diese neue
Dienstleistung anbieten.
({7})
Zur Not gibt es auch Rekorder und Sprachkassetten. Ich
kann mir durchaus vorstellen, dass das Bundesamt für
Migration einen Sprachkurs auf Kassette entwickelt.
Aus den Niederlanden wissen wir, dass all diese organisatorischen Probleme lösbar sind.
Ich will zusammengefasst sagen: Wer in der Lage ist,
Ehen zu arrangieren, der wird wohl auch in der Lage
sein, Deutschkenntnisse zu arrangieren.
({8})
Es wird das Argument angeführt, die Neuzuwanderer
müssten sowieso an Integrationskursen teilnehmen. Das
ist richtig. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass sie ihrer
Teilnahmepflicht nicht in dem Maße nachgekommen
sind, wie wir es uns gewünscht hätten, und dass die Ausländerbehörden das nicht konsequent genug verfolgt haben. All das ist im Ramboll-Gutachten nachzulesen.
Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf eine
Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen gegen die
Teilnahmepflicht vorgesehen. Um das klarzustellen: Das
haben wir nicht getan, weil es uns um die Sanktionen
geht, sondern weil wir möchten, dass die Zuwanderer
diese Kurse tatsächlich von der ersten bis zur letzen
Stunde besuchen.
Sie kritisieren diese Sanktionen. Das ist der Widerspruch bei der Opposition. Sie lehnen die Notwendigkeit
des Nachweises verpflichtender Deutschkenntnisse vor
der Einreise ab, angeblich wegen der Integrationskurse.
Aber auch dann, wenn diese Kurse nicht besucht werden, sind Sie gegen Sanktionen. Letztlich bleibt alles so,
wie es ist. Dieses Sich-nicht-Kümmern führt zum Stillstand in der Integrationspolitik.
({9})
Ein solches Verhalten können wir uns nicht mehr erlauben, wenn wir wollen, dass in Deutschland ein vernünftiges Miteinander von Deutschen und Ausländern
herrscht.
({10})
Für dieses Miteinander gibt es in der Tat Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen gehört nicht nur,
dass Deutsch gesprochen wird, sondern auch, dass bei
uns das Grundgesetz und nicht der Koran gilt.
({11})
In Deutschland ist wichtig, dass muslimische Mädchen
kluge Köpfe haben, aber es ist nicht wichtig, was sie auf
den Köpfen tragen. Man ist sich der deutschen Geschichte bewusst und achtet Menschen jüdischen Glaubens. In unserem Land ist kein Platz für Zwangsehen
und schon gar nicht für Ehrenmorde. Von den Zuwanderern fordern wir ein, diese Voraussetzungen zu erfüllen,
weil es sonst immer bei einem Nebeneinander bleiben
und kein Miteinander geben wird.
({12})
Multikulti ist in Wahrheit Kuddelmuddel. Wir müssen
den Zuwanderern in unserem Land vermitteln, dass wir
gerne vieles zur Förderung der Integration tun. Aber
letztlich kann sie nur gelingen, wenn sich unsere ausländischen Mitbürger in die Pflicht nehmen lassen und ihre
Verantwortung, vor allem für ihre Kinder, wahrnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Integration ist nicht
nur eine Bringschuld des Staates, sie ist auch eine Holschuld des Ausländers.
Weil ich ein guter und verlässlicher Koalitionspartner
bin, schließe ich mit einem Zitat des schleswig-holsteinischen Innenministers Ralf Stegner, SPD. Er hat in der
Bild am Sonntag gesagt:
Wir müssen die Ausbreitung von Parallelgesellschaften eindämmen. Die demokratischen Parteien
müssen die Leitsätze des Grundgesetzes mit größerer Entschiedenheit verteidigen, als das bisher der
Fall ist.
Stegner sagte weiter:
Wir brauchen mehr Integration, und zwar nicht als
kulturellen Klimbim, sondern im Sinne von Fördern und Fordern.
Wo der Mann recht hat, hat er recht.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich erteile nun das Wort Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grindel, ich muss schon sagen: Sie mögen ja begeistert von sich sein; damit begeistern Sie mich und die
FDP aber noch nicht.
({0})
Da Sie hier das Arrangieren von Ehen mit dem Arrangieren von Integrationskursen vergleichen, habe ich die
Sorge, dass der vorgelegte Gesetzentwurf wohl eher ein
Versuch der Förderung von Integration bleibt.
({1})
Tragen die Einführung eines Mindestalters für den nachziehenden Ehegatten und das Erfordernis von Sprachkenntnissen vor der Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland nicht eher zu einer Ausgrenzung von Ehepartnern und insbesondere von Frauen bei?
Das Mindestnachzugsalter von 18 Jahren für beide
Ehegatten führt mit Blick auf die Gesetzesbegründung,
nämlich die Verhinderung von Zwangsverheiratungen,
zu verfassungsrechtlichen Bedenken. Hier wird mit dem
Argument des Schutzes von Migranten und Migrantinnen vor Zwangsverheiratungen nun für alle Ehen, also
auch für die selbstverantwortlich geschlossenen, gegebenenfalls eine Wartezeit in Kauf genommen und den jungen Menschen die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft zunächst verweigert.
Nennen wir die Dinge doch beim Namen! Handelt es
sich hier um die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder nicht vielmehr um die Verhinderung von unerwünschter Zuwanderung? Notwendig wäre es vielmehr,
Zwangsverheiratungen durch eine Stärkung des Aufenthaltsrechts und durch eine Verbesserung von Schutzmaßnahmen zu verhindern.
({2})
Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach der Scheidung, ein Rückkehrrecht und die Schaffung einer ausreichenden Zahl von sicheren Unterkünften innerhalb
Deutschlands sind nötig. Das wäre auch ein echter Opfer- und Zeugenschutz.
({3})
Das weitere Erfordernis, vom nachziehenden Ehegatten zumindest einfache deutsche Sprachkenntnisse zu
verlangen, dient sicherlich dazu, dass sich nachgezogene
Ehepartner nach dem Zuzug besser verständigen und
eigenständiger bewegen können. Handelt es sich aber
nicht um einen Zuzug zweiter Klasse, wenn Ehepartner
anderer Nationalitäten - zum Beispiel aus den USA oder
aus Australien - keine deutschen Sprachkenntnisse vorweisen müssen? Wie lange lässt sich das verfassungsrechtlich halten? Der Schutz von Ehe und Familie ist unser aller Verfassungsauftrag. Wollen Sie, Herr Minister
Schäuble und auch Sie von der Großen Koalition, Ehen
zweiter Klasse?
({4})
Die Bundestagsfraktion der FDP setzt sich für eine
Integration der hier lebenden Migrantinnen und
Migranten und für eine zukunftsorientierte Integrationspolitik ein. Wir wollen die Partizipation der zugewanderten Menschen am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben. Wir brauchen ein
schlüssiges Integrationskonzept für die in Deutschland
lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Die
Kenntnis der deutschen Sprache schafft Identität und ist
Schlüssel zur Integration. Einen entsprechenden Antrag
haben wir vorgelegt. Unsere Ziele sind das Angebot von
Integrationskursen und die Verbesserung dieser Kurse.
Integration ist allerdings auch ein wechselseitiger
Prozess. Migrantinnen und Migranten müssen selbst bereit sein, sich verpflichtenden Anforderungen bei der Integration zu stellen und diese aktiv zu unterstützen. Integration braucht daher ein beiderseitiges Einverständnis.
Es geht um das Finden und Pflegen von Gemeinsamkeiten und somit um Chancengleichheit unabhängig von der
Herkunft.
({5})
Sprachförderung muss bei Kindern daher so früh wie
möglich einsetzen und kontinuierlich weitergeführt werden.
Für Neuzuwanderer wurden die Integrationskurse
eingeführt. Während die Bundesregierung die Nichtteilnahme an den Kursen vorwiegend mit Sanktionen
belegt, müssen nach meiner Auffassung positive Anreizsysteme geschaffen werden, wie wir das auch in unserem Antrag dargelegt haben. Aufgrund der Evaluierung
der Integrationskurse hat sich gezeigt, dass es einen großen Handlungsbedarf gibt.
Insbesondere die Teilnahme von Müttern an Integrationskursen ist uns wichtig. Ihnen kommt auf dem Weg
ihrer Kinder und der Familie in die deutsche Gesellschaft eine große Bedeutung zu. Deshalb ist eine kursbegleitende Kinderbetreuung für Mütter dringend erforderlich und muss bundesweit greifen.
({6})
Frauen tragen oft die Hauptverantwortung für die Betreuung und Erziehung der Kinder. Sie sind für die Bewältigung von Alltagsfragen zuständig und erbringen
hohe Integrationsleistungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass auch das Europäische
Parlament im Juli 2006 gefordert hat, die spezielle Rolle
der Frau im Bereich der Migration und deren Entwicklung besser zu berücksichtigen. Wir haben eine entsprechende Große Anfrage vorgelegt.
Der Gesetzentwurf, über den wir hier diskutieren, ist
der Versuch, die Integration zu fördern. Wir müssen den
Zuwanderern die Signale geben, dass ihre Potenziale gesehen und gefördert werden. Die Einsicht, dass die gesellschaftliche Vielfalt etwas Wertvolles ist und dass es
für unsere Gesellschaft sinnvoll, ja sogar erforderlich ist,
die Möglichkeiten aller ihrer Bürger zu nutzen und zu
unterstützen, setzt sich in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern leider nur langsam durch.
Viele Unternehmen in Deutschland haben die Charta
der Vielfalt bereits unterzeichnet. Sie begreifen Vielfalt
- auf Neudeutsch: Diversity - im positiven Sinn als
Chance und als Ressource der Gesellschaft
({7})
und handeln im Europäischen Jahr der Chancengleichheit und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entsprechend. Diesen Geist atmet der vorliegende Gesetzentwurf keineswegs. Unter Integrationsförderung versteht
die FDP etwas anderes.
({8})
Das Wort erteile ich nun Kollegen Michael Bürsch
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn der Kollege Grindel den schleswig-holsteinischen
Innenminister zitiert, dann kann ich nur mit Adenauer
antworten: Wir leben alle unter demselben Himmel,
aber wir haben nicht denselben Horizont.
({0})
Das kann man bei dem Thema, das wir heute behandeln,
wirklich deutlich sehen und festmachen. Das betrifft zuallererst die Welt, die die Opposition beschrieben hat,
die ich nicht unbedingt in dem wiederfinde, was wir in
dem Gesetz festgelegt haben. Es betrifft natürlich auch
das Leben, das Wirken und das Zusammenarbeiten in einer Großen Koalition; denn wir sind vor gut einem Jahr
von recht unterschiedlichen Positionen ausgegangen.
An dieser Stelle werde ich mein positives Denken
deutlich zum Ausdruck bringen. Herr Grindel, bei aller
Anerkennung, dass dies ein Kompromiss ist, dass wir
uns auch andere Lösungen vorstellen konnten und dass
die Welt über das hinausreicht, was wir hier festgelegt
haben, sage ich: Ich betrachte dies - in drei Punkten und
in allgemeiner Form festgehalten - als Erfolg.
({1})
Der erste Punkt ist: Verehrter Kollege Winkler, ich
betrachte es schon als Erfolg, dass wir ein solches Gesetz zustande gebracht haben, dass wir elf EU-Richtlinien umgesetzt haben und dass wir das, was - nur zur
Erinnerung - die SPD mit Beteiligung der Grünen 2004
verabschiedet hat, fortentwickelt haben.
({2})
Auch hier gilt der Hinweis: Es ist ein Kompromiss. Für
mich aber ist entscheidend, dass es ein Gesetz geben
wird, das festhält: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das ist für mich der erste große Erfolg dieses Gesetzes. Dahinter wird keiner mehr zurückfallen können.
Über den Doppelpass oder über ähnliche Formen von
Ausländerfeindlichkeit werden wir keinen Wahlkampf
mehr führen können.
Der zweite Erfolg ist für mich, dass wir mit diesem
Gesetz und mit allem, was darin steht und was wir daraus noch entwickeln müssen, feststellen, dass Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das ist
damit festgemacht, und das hat mit dem zu tun, was Frau
Böhmer bis zum Sommer in einem nationalen Integrationsplan zusammenstellen will. Das kann nicht nur ein
Strohfeuer sein. Das, was wir hier festgelegt haben
- zum Beispiel auch die Tatsache, dass der Bund weiter
in hohem Maße für die Sprachförderung zuständig ist -,
betrachte ich als eine Förderung der Integration.
Als dritten großen Erfolg sehe ich, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte dieser Republik eine gesetzliche Bleiberechtsregelung haben.
({3})
Was aus dieser Regelung wird, hängt, wie immer bei Gesetzen, in hohem Maße davon ab, was damit gemacht
wird und wie es umgesetzt wird. Aber die Regelung, die
zum ersten Mal den Teufelskreis zwischen Arbeits- und
Aufenthaltsrecht durchbricht, ist ein enormer Schritt
voran.
Diese drei Punkte bitte ich bei all den kleinen Baustellen, die im Gesetzentwurf enthalten sind, im Auge zu
behalten. Wir haben im Ausschuss wirklich genug Möglichkeiten, über die kleinen Karos zu reden; dazu bin ich
gern bereit. Aber ich werbe dafür, dass wir die großen
Linien festhalten. An dieser Stelle füge ich hinzu: Auch
in einer Koalition ist es durchaus angebracht, dass man
sich in aller Solidarität und bei aller Zusammenarbeit
kritisiert.
({4})
Heute ist für mich der Tag, an dem wir sagen: Da hat
der Innenminister - auch in den eigenen Reihen, auch
bei den Innenministern der Länder - etwas bewegt.
Auch der Sozialminister hat ein gutes Stück dazu beigetragen. An diesem Gesetzespaket haben ein Jahr lang
- das war wirklich mühsame Arbeit - acht bis zehn Koalitionsabgeordnete nach dem Prinzip Gründlichkeit
vor Schnelligkeit mitgewirkt. Das war kein einfaches
Stück. Aber ich denke, dass die Überzeugungsarbeit, die
wir gegenseitig geleistet haben, nicht fruchtlos bleiben
wird. Insofern setze ich darauf: Man bewegt sich, auch
was die eigene Erkenntnis und das eigene Bewusstsein
angeht, durch so etwas fort.
Dies waren drei Bemerkungen dazu, worin ich einen
Erfolg sehe.
Nun drei Bemerkungen, die eher in die Zukunft gerichtet sind. Die erste Bemerkung ist: Ich werbe dafür,
dass wir die Zuwanderung nicht - typisch deutsch allzu negativ sehen. Wird bei uns über dieses Thema geredet, hören wir folgende Schlagworte: Jugendliche
ohne Schulabschluss, Kriminalitätsraten, Entstehung
von Parallelwelten, religiöse Intoleranz, Extremismus
usw. Das Thema Zuwanderung hat aber eine positive
Seite. Nach meinem Verständnis sollten wir Zuwanderung nicht mehr in erster Linie nur als Problem, als Belastung und als schwer zu tragende Bürde sehen, sondern
als Bereicherung - und dies nicht als Gutmenschen, sondern in unserem eigenen Interesse und zu unserem Nutzen, was die Wirtschaft angeht.
Das hat jetzt eine Zeitschrift zum Ausdruck gebracht,
die wirklich nicht als linksliberal verschrien ist. Die
Wirtschaftswoche schreibt diese Woche, Bildungsforscher, Soziologen und Ökonomen hätten sich bisher gar
nicht um die durchaus große Gruppe der erfolgreichen
Zuwanderer gekümmert. Die öffentliche Diskussion
werde von gescheiterten Migranten, von missglückten
oder gar nicht erst unternommenen Integrationsversuchen bestimmt.
Eine Organisation, die auch nicht unbedingt sozialdemokratisch geprägt ist, nämlich die Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände, sagt:
In einer Zeit des globalen Wettbewerbs brauchen
wir in unserem Land alle Talente und Begabungen
- insbesondere das Potenzial der Migrantenkinder.
({5})
In der Tat, wir sollten uns mit den Potenzialen der
Menschen, die aus dem Ausland stammen, beschäftigen.
Das wird zum Beispiel durch verschiedene Meldungen
aus der Wirtschaft und dem Bereich der Arbeitswelt untermauert. Die Meldungen über einen Mangel an Nachwuchskräften werden immer häufiger.
({6})
Der Verein Deutscher Ingenieure hat letzte Woche
gemeldet, dass im Jahr 2006 48 000 Ingenieurstellen
unbesetzt geblieben sind. Wir brauchen dringend
Ingenieure und Facharbeiter.
({7})
Es ist klar, dass dieses Problem nicht allein durch eine
gesteuerte Zuwanderung gelöst werden kann; diesen
Eindruck will ich nicht erwecken. Die Zuwanderung
darf nicht zu einem Konflikt mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit in unserem Land führen. Aber dies ist keine
Frage des Entweder-oder, also keine Frage, ob entweder
Deutsche oder Ausländer eingestellt werden. Dies ist
vielmehr eine Frage des Sowohl-als-auch. Wir brauchen
auch Fachkräfte aus dem Ausland. Wir müssen insofern
deutlich machen: Dies ist ein offenes Land in dem Sinne,
wie es der Innenminister beschrieben hat. Es ist offen
und tolerant. Wir sind gerne bereit, Menschen zu empfangen. Das muss aber in dieser positiven Grundstimmung erfolgen.
({8})
- Da ist eine Wortmeldung. Dazu kann ich nur sagen:
Der Präsident muss mich fragen, ob ich die Zwischenfrage zulasse.
Sie haben das Wort. Die Genehmigung ist schon erteilt.
Herr Kollege Bürsch, Sie haben gerade zu Recht angesprochen, dass Sie die Zuwanderung von Hochqualifizierten sehr stark fördern wollen. An welcher Stelle tun
Sie das konkret im vorliegenden Gesetzentwurf? Ich
habe eine solche Stelle leider nicht gefunden.
Sie haben den Gesetzentwurf vielleicht nicht genau
studiert, Herr Kollege.
({0})
Wir haben im Bereich der Selbstständigen die Schwellen, was die Anforderung an die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Investitionssumme angeht, deutlich gesenkt. Ich bin zu hundert Prozent bei Ihnen, Herr
Kollege - das will ich gleich hinzufügen -, dass das
noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein kann.
Ich bin sehr dafür, dass wir nicht nur Hochqualifizierte,
sondern diejenigen mit entsprechender Qualifikation zu
uns holen - sei es für fünf oder zehn Jahre -, die wir
dringend brauchen. Dabei ziehen wir an einem Strang.
Ich ziehe auch mit den Grünen an einem Strang; denn
ich spreche mich wie schon in den Verhandlungen ab
2002 für eine Punkteregelung aus.
({1})
Der Kollege Beck wird sich erinnern. Ich habe damals
extra für unsere Fraktion beim Max-Planck-Institut in
Heidelberg eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Darin sind die Zuwanderungs- und Integrationsregelungen
von 14 Ländern untersucht worden. Es gibt wunderbare
Beispiele von Ländern wie Neuseeland, Australien oder
Kanada, die mit der Punkteregelung beste Erfahrungen
gemacht haben. Das kann man im Sinne unserer Gesellschaft genau steuern.
({2})
An die Adresse der Linken gewandt stelle ich fest:
Wir, die als Gesetzgeber für Menschen in ganz Deutschland Entscheidungen treffen, müssen die Interessen von
82 Millionen im Blick haben. Ich bin sehr dafür, dass
Menschen zu uns kommen. Es soll auch Wahlrechte und
anderes geben. Wir müssen aber einen Interessenausgleich schaffen. Man kann zwar leicht alles Mögliche
fordern - auch dass alle Türen geöffnet werden -, Frau
Jelpke, aber wir haben in den 90er-Jahren gesehen, dass
es auch Punkte gibt, mit denen die deutsche Gesellschaft
überfordert werden kann. Unsere Aufgabe ist es, den Interessenausgleich zu schaffen.
Was wir hier vorlegen, ist ein Versuch; es ist nicht der
Weisheit letzter Schluss. Das würden wir nie behaupten.
Politik - das habe ich schon in einem Zwischenruf festgestellt - ist aus meiner Sicht auch ein Versuch. Aber die
Punkteregelung, die wir 2003/2004 in § 20 des letzten
Gesetzentwurfes vorgelegt haben, ist aus meiner Sicht
der richtige Weg.
Insofern bewegt sich Politik auch ständig weiter. Wir
legen ein umfangreiches Paket vor. Ich werbe aber sehr
dafür, dass wir das Thema, wer zu uns kommen kann,
wen wir brauchen und mit offenen Armen empfangen
möchten, weiter vorantreiben. Das war meine zweite Bemerkung, Herr Innenminister.
Meine Schlussbemerkung bezieht sich auf die Integration. Ich bin der Meinung, dass Integration in der Tat
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das ist aber
nur ein Programmsatz; er muss auch mit Leben gefüllt
werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich der Staat
nicht aus den notwendigen Maßnahmen für die Integration zurückziehen darf. Die 140 Millionen Euro - ich
hoffe, dass es 150 Millionen Euro werden -, die wir für
die Sprachförderung einsetzen, sind deshalb gut angelegt. Wir sollten vonseiten des Bundes auch weiterhin
die Mittel für die Sprachförderung aufwenden. Wir brauchen aber auch die Zivilgesellschaft. Wir brauchen Menschen, die sich als Paten für Migranten zur Verfügung
stellen. Wir brauchen die Bürgergesellschaft, die ihrerseits dokumentiert: Die Menschen, die zu uns kommen,
sind hochwillkommen.
Wir wollen keine Parallelgesellschaften; wir wollen
vielmehr zusammenwirken. Das ist nur als zivilgesellschaftliches Projekt möglich.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
({0})
Das können Sie nachholen, Herr Wiefelspütz. - Sehr
geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Für die Linke gibt es keine Alternative zu
einer aktiven Integrationspolitik. Für die Linke bedeutet Integrationspolitik, Menschen unabhängig von ihrer
Herkunft eine gleichberechtigte Partizipation am gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben zu ermöglichen.
({0})
Davon ist die Bundesrepublik aber weit entfernt. Mit
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungskoalition werden wir uns von diesem Ziel der Integrationspolitik noch weiter entfernen.
Die Große Koalition hat die Umsetzung von EURichtlinien ausgenutzt, um weitere massive Verschärfungen festzuschreiben. Sie waren nicht erforderlich.
Eingebürgerte Deutsche, Migranten und Flüchtlinge
müssen in Zukunft mit noch weniger Rechten, mehr Selektion und mehr Abschottung rechnen. Mit den geplanten Änderungen wird niemand mehr auf den Gedanken
kommen, Integration hätte noch irgendetwas mit Fördern zu tun. Der Familiennachzug wird eingeschränkt,
die Einbürgerung erschwert, und Integrationsangebote
werden mit Sanktionen belegt. Wir brauchen aber keine
Politik der Sanktionen und der Ausgrenzung; wir brauchen vielmehr eine Politik der sozialen und rechtlichen
Gleichstellung.
({1})
Früher hat man sich aufgeregt, wenn Politiker von
nützlichen und von schädlichen Ausländern gesprochen
haben. Jawohl, diese Rhetorik war schlimm. Aber noch
viel schlimmer ist, dass heute nach diesen Kriterien stillschweigend Politik gemacht wird.
Beispiel Familiennachzug: Verlieben und Heiraten
im Ausland ist zwar noch erlaubt, allerdings wird es danach schon schwierig.
({2})
Ob jemand seinem Ehe- oder Lebenspartner nach
Deutschland nachziehen darf, hängt davon ab, ob er oder
sie bereits im Herkunftsland Deutsch gelernt hat. Dadurch wird die überwiegende Mehrheit der Menschen
vom Recht auf Familiennachzug einfach ausgeschlossen.
({3})
Menschen aus sogenannten unteren Schichten, ländlichen Regionen und ärmeren Ländern haben de facto keinen Zugang mehr zu Sprachangeboten, weil sie einfach
zu teuer oder nicht erreichbar sind. Das geht auch aus
dem Bericht zu der Regelung, die seit dem 15. März
2006 in den Niederlanden gilt, hervor.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Winkler?
Selbstverständlich.
({0})
Sie haben gerade von Spracherwerb vor der Einreise gesprochen. Herr Dr. Wiefelspütz sagte gerade,
dass Verlieben erlaubt bleibt. Wir wollen einmal sehen,
wie das dann mit dem Verheiraten ist.
Ich habe erwähnt, dass ich mit dem Innenausschuss in
der Türkei war. Ich weiß, dass Sie mit der Parlamentariergruppe, der Freundschaftsgruppe zwischen dem
deutschen und dem türkischen Parlament, vor kurzem
auch in Istanbul und Ankara waren. Wären Sie bereit, zu
bestätigen, dass die Empörung in der Türkei inzwischen
weite Teile des Parlaments, des politischen Lebens und
des kulturellen Lebens ergriffen hat, und würden Sie uns
vielleicht aufgrund Ihrer Erfahrungen berichten, was
dort über diese Gesetzesregelung gedacht wird?
Vielen Dank für die Frage. Es ist sehr verwunderlich,
dass die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung in
dieser Debatte zum Thema Integration nicht anwesend
ist. Herr Grindel hat sehr viel von Integration gesprochen, auch Herr Bundesminister Schäuble hat sehr viel
von Integration gesprochen.
({0})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden!
({1})
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung bezieht zu dem Thema, das hier andauernd rauf und runter
als Integrationsförderungsmaßnahme lanciert wird,
überhaupt keine Stellung.
Es ist richtig, wir waren als deutsch-türkische Parlamentarier- und Parlamentarierinnengruppe in der Türkei.
Wir haben in Istanbul und in Ankara Gespräche geführt.
Dabei sind uns zwei Sachen aufgefallen. Das Erste war,
dass man empört ist, dass man in Deutschland überhaupt
so eine Regelung machen möchte.
Das Zweite ist noch viel interessanter. Denn ich habe
sehr viele Anfragen gemacht, mündliche Fragen und
manchmal auch schriftliche Fragen gestellt. Dazu wurde
sowohl von der Integrationsbeauftragten als auch aus
Regierungskreisen immer wieder gesagt, dass die türkische Regierung, nämlich der Erziehungsminister Herr
Celik und auch die Familienministerin Çubukçu, das unterstützt habe. Frau Böhmer erklärte nach einem Treffen
mit Çubukçu am 26. Oktober in Berlin - ich zitiere -:
Beide waren übereinstimmend der Ansicht, dass
eine gelungene Integration der im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommenden
Frauen und Männer hohe Priorität hat und hierfür
das Beherrschen der deutschen Sprache entscheidend ist. Die türkische Regierung will daher über
Vorbereitungskurse sicherstellen, dass Grundkenntnisse der deutschen Sprache bereits vor der Einreise
nach Deutschland erworben werden. Frau Çubukçu
teilte hierzu mit, dass der türkische Ministerpräsident bereits den Erziehungsminister, Herrn Hüseyin
Celik, angewiesen habe, die Vorbereitungskurse in
den nächsten Monaten auf den Weg zu bringen.
Das ist eine Pressemitteilung vom 26. Oktober 2006.
Auf meine Frage bei Frau Çubukçu, wie sie die ganze
Sache sieht, schrieb sie mir am 12. März in einem Brief:
Bei unseren Gesprächen am 26. 10. 06 mit Staatsministerin Böhmer haben wir die deutsche Seite
über die Frauenrechte in unserem Land informiert
und eindeutig unseren Standpunkt zur Verpflichtung von Spracherwerb im Herkunftsland als Voraussetzung des Ehegattennachzugs erläutert. Wir
haben dabei zum Ausdruck gebracht, dass eine solche Regelung gegen grundlegende Menschenrechte
verstößt und wir es nicht hinnehmen können, dass
der Nachweis von Deutschkenntnissen zur Voraussetzung von Ehegattennachzug gemacht wird.
Das heißt, es wurde klargestellt, dass die Bundesregierung bei ihrem Gesetzesvorhaben bisher mit Halbwahrheiten argumentiert hat.
({2})
Das wurde bei den Gesprächen, die wir geführt haben,
deutlich.
({3})
Diese Regelung hat viel mit sozialer Selektion und
nichts mit Integrationsförderung zu tun. Denn Deutsch
lernt man immer noch am besten in Deutschland. Herr
Grindel, das sollten Sie sich einmal hinter die Ohren
schreiben.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Um diesen massiven Grundrechtseingriff beim Familiennachzug zu legitimieren, sind Sie sich aber nicht
zu schade, Menschenrechtsverletzungen wie die Zwangsverheiratung politisch zu missbrauchen. Dringend notwendige aufenthaltsrechtliche Verbesserungen, wie sie
Frau Laurischk hier dargetan hat und wie sie von den
Sachverständigen bei der Anhörung im Familienausschuss zum Thema Zwangsverheiratung gefordert wurden, haben Sie nicht umgesetzt. Wer Migrantinnen wirklich wirksam helfen will, muss die Rechte der
betroffenen Frauen stärken; aber davon ist in dieser Novelle nichts zu finden.
({4})
Übrigens hat auch der Kollege Wiefelspütz - jetzt
komme ich zu Ihnen - von der SPD treffend, wie ich
finde
({5})
- das ist nicht immer der Fall -, bemerkt, dass diese Regelungen bei einer verfassungsrechtlichen Prüfung - ich
zitiere die Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar
2006 - nicht den Hauch einer Chance hätten. Allerdings scheint die SPD derartige verfassungsrechtliche
Bedenken im Verlauf der Verhandlungen einfach über
Bord geworfen zu haben.
({6})
Das kennen wir ja; wenn das Grundgesetz im Wege
steht, visiert auch der Innenminister manchmal an, es
über Bord zu werfen.
({7})
Das Prinzip der sozialen Selektion bestimmt auch die
Bleiberechtsregelung für Geduldete sowie den Familiennachzug zu Deutschen. Hartz-IV-Empfänger haben in
Zukunft kein Recht mehr auf ein gemeinsames Familienleben. Dass diese Regelung eigentlich auf eingebürgerte
Deutsche zielt, wie der Gesetzesbegründung zu entnehmen ist, wirft Deutschland in puncto Einbürgerungspolitik um Jahrzehnte zurück. Sie schaffen eine zweite
Klasse von Deutschen, die auch nach ihrer Einbürgerung
Ausländer und damit dem Integrationszwang unterworfen bleiben.
Der vorliegende Gesetzentwurf forciert die repressive
Integrationspolitik der letzten Jahre. Die Große Koalition plant, staatliche Macht auch auf gesellschaftliche
Bereiche auszudehnen, in denen sie eigentlich nichts zu
suchen hat. Öffentliche Stellen wie Schulen oder Kitas
sollen bei besonderer Integrationsbedürftigkeit Eltern an
die Ausländerbehörden melden. Im Klartext: Gespräche
zwischen Lehrern und Eltern werden in Zukunft für Migranten zu einer Zitterpartie; denn vielleicht folgt ja aus
dem nicht so guten Deutsch der Eltern die Meldung an die
Ausländerbehörde. Es ist skandalös, dass der Gesetzentwurf hier ausländerbehördliche Aufgaben auf Schulen,
Kitas und Krankenhäuser überträgt, die deren eigentlichem gesellschaftlichen Auftrag absolut widersprechen.
({8})
Um diese Politik des Zwangs zu legitimieren, durchzieht den Gesetzentwurf die Vorstellung von den integrationsverweigernden Migranten. Sie beten die angebliche
Rückständigkeit auch deswegen immer rauf und runter,
um endlich wieder Werte und Leitkultur propagieren zu
können. Es wundert mich nicht, dass die CDU am letzten
Wochenende beschlossen hat, die Leitkultur als Eckpunkt in ihr neues Parteiprogramm aufzunehmen. Die
Ausgrenzung und Unterwerfung von anderen ist immer
auch ein Ausdruck eigener Ängste und Vorurteile.
Mit sozialer und rechtlicher Gleichstellung hat dies
alles nichts zu tun. Wir brauchen Weichenstellungen bei
der Einbürgerung, die erleichtert werden muss. Einbürgerung ist nicht Krönung, sondern Voraussetzung der
Integration.
Mit unseren Forderungen stellen wir uns an die Seite
jener 21 Organisationen, die sich an die Bundeskanzlerin
gewendet haben. Wir sind uns einig, dass Integration
keiner restriktiven Ausgestaltung des Zuwanderungsgesetzes bedarf. Deshalb werden wir im Mai und im Juni
mit den Migranten- und Flüchtlingsorganisationen gegen
die Verschärfungen im Zuwanderungsgesetz protestieren, sowohl im Parlament als auch außerhalb des Parlamentes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines zum Schluss.
Alle, die dieses Gesetz mittragen, möchte ich hier auffordern: Wenn Sie das nächste Mal bei Christiansen,
Maybrit Illner oder auch bei Maischberger sitzen, reden
Sie nicht mehr davon, dass die Integration gescheitert ist.
({9})
Seien Sie so ehrlich, zu sagen, dass Sie selbst die Integration zum Scheitern gebracht haben, zunächst indem
Deutschland jahrzehntelang ein Einwanderungsland
ohne Integrationspolitik war und jetzt mit Gesetzen wie
dem, das uns heute vorgelegt wurde.
Danke.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand
ist dagegen, dass Frauen oder Männer, die zum Zwecke
des Familiennachzuges nach Deutschland einreisen, vorher Deutsch lernen. Sie können Sprachkassetten erwerben oder Kurse besuchen; es ist wunderbar, wenn sie das
tun. Wir sind immer dafür, dass man mehr für den
Spracherwerb tut.
({0})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Volker Beck ({1})
Aber es geht nicht, dass wir Grundrechte daran binden,
dass jemand die deutsche Sprache beherrscht.
({2})
Sie sind mit diesem Gesetz der Totengräber des Art. 6
Grundgesetz, des besonderen Schutzes von Ehe und Familie, und das als Christdemokraten. Das ist wirklich
eine Schande.
({3})
Wollen Sie in Zukunft auch verlangen, dass man,
wenn man die Glaubensfreiheit, die Vereinigungsfreiheit
oder die Versammlungsfreiheit wahrnimmt, vorher
Deutsch lernt? Nein, das sind Menschen- und Grundrechte, die jedem, der Anspruch darauf hat, hierher zu
kommen, zur Verfügung stehen und die jeder wahrnehmen kann, unabhängig von einem Deutschkurs. Ich bin
für Deutschkurse, aber nicht als Hindernis für die
Grundrechtswahrnehmung. Deshalb ist es eine Schande,
was die Koalition an diesem Punkt macht.
({4})
Der Integrationsdiskurs, den Sie führen, geht an der
Sache vorbei. Wir haben nicht das Problem, dass unwillige Menschen massenhaft nicht bereit sind, an Integrationskursen teilzunehmen. Wir haben vielmehr ein Problem mit den Schlangen vor den Einrichtungen, die
Integrationskurse anbieten.
({5})
Die Situation ist die, dass Menschen keinen Platz in diesen Kursen finden oder nicht genügend Stunden Unterricht bekommen. Denn manchmal kommen Angehörige
von bildungsfernen Schichten nicht mit 600 Unterrichtsstunden aus, um das geforderte Sprachniveau zu erreichen.
Ich habe mir kürzlich in Köln in meinem Wahlkreis
({6})
eine sehr gute Einrichtung für muslimische Frauen angeschaut.
({7})
Dort habe ich Frauen angetroffen, die schon 17 Jahre
oder länger in Deutschland leben, ohne deutsch sprechen
zu können. Dieser Einrichtung, die sich an Frauen mit
muslimischem Hintergrund richtet und deren Lebenswelt kulturell nahesteht, ist es gelungen, viele Frauen
zum Besuch der Sprachkurse zu bewegen, die vorher
aufgrund ihre mangelhaften Schulbildung nicht den Mut
zum Besuch eines solchen Kurses hatten. Aber für diese
Menschen reichen 600 Stunden nicht aus. Wir brauchen
also nicht neue Sanktionen, sondern mehr Kurse und
mehr Geld für die Integration. Das sind die Punkte, um
die es geht.
({8})
Natürlich ist es richtig - der Innenminister hat es vorhin angesprochen -: Zur Integration gehört mehr als
Spracherwerb und Juristerei. Dazu gehört auch die kulturelle Integration. Die religionsrechtliche Frage im
Zusammenhang mit dem Islam ist natürlich eine der
Schlüsselfragen, die wir beantworten müssen. Aber wo
ist, bitte schön, die Roadmap zur Gleichberechtigung des
Islam bei der Islamkonferenz? Es liegt noch nichts auf
dem Tisch außer Diskursen und Gesprächen. Am Ende
der Islamkonferenz muss es aber einen Plan geben, wie
man die religionsverfassungsrechtliche Integration des
Islam erreicht. Wenn man das nicht schafft, gibt es keinen deutschsprachigen Religionsunterricht für Muslime.
({9})
Wenn wir diese Probleme nicht lösen, dann gibt es keine
deutsch sprechenden Imame und keine theologische
Ausbildung von Geistlichen islamischen Glaubens. Das
Problem haben Sie erkannt, aber Sie haben noch keine
Lösung gefunden und müssen daher noch Ihre Hausaufgaben machen.
Ich komme zu weiteren Punkten dieses Gesetzentwurfes. Es fällt auf, dass er eine halbherzige Umsetzung
der EU-Richtlinien ist und dass er eine hartherzige Altfallregelung enthält.
({10})
Außerdem enthält er jede Menge Verschärfungen, die
von der Europäischen Union überhaupt nicht vorgesehen
waren. Es gibt da keine inhaltliche Verbindung zu den
Richtlinien. Ich wünschte mir, Sie hätten sich an Ihren
Koalitionsvertrag gehalten. Denn bei einer Eins-zu-einsUmsetzung des EU-Rechts wären mehr Integration und
mehr Flüchtlingsschutz herausgekommen als bei diesem
Wust, den wir auf dem Tisch haben.
({11})
Ich will an ein paar Punkten deutlich machen, wo die
Umsetzung unpräzise und EU-rechtswidrig ist.
Erster Punkt. Die EU verlangt verbindlich für subsidiär Geschützte - also für Menschen, die nicht abgeschoben werden können, weil ihnen in ihrer Heimat Folter und Todesstrafe drohen -, dass sie einen
Aufenthaltstitel bekommen. Was machen Sie aber in Ihrem Gesetzentwurf? Sie sprechen von einer Sollregelung. Sie müssen aber eine Istregelung vorsehen. Das
verlangt die Europäische Union. Sie tun also weniger für
den Flüchtlingsschutz, als in Europa vorgeschrieben.
({12})
Zweiter Punkt: Bürgerkriegsflüchtlinge. Hier gilt
das Gleiche. Sie führen Hindernisse für den Schutz von
Bürgerkriegsflüchtlingen ein - das ist aber in der entsprechenden EU-Richtlinie nicht vorgesehen -, indem
Sie zusätzliche Formulierungen in den Gesetzentwurf
schmuggeln und damit die Hürden für den Schutz von
Bürgerkriegsflüchtlingen höher ansetzen.
Volker Beck ({13})
Dritter Punkt: Menschenhandel. Es werden immer
Krokodilstränen über Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde und Menschenhandel vergossen. Wir sind uns alle
darin einig, dass wir das bekämpfen wollen. Aber Sie
wollen es auf eine Art und Weise tun, die nicht genügend
Opferschutz beinhaltet. Nur wenn die Opfer aussagen,
werden wir die Täter verurteilen können. Nur wenn wir
die Opfer schützen, können wir sie dazu ermutigen. Die
entsprechende europäische Richtlinie besagt, dass
Frauen, die mit der Polizei zusammenarbeiten und die
Menschenhändler anzeigen wollen - erst dann können
Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet werden -, sechs
Monate lang die Möglichkeit haben sollen, sich zu überlegen, ob sie diesen Schritt wagen wollen. In dieser Zeit
sollen sie eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Was
machen Sie aber? Sie sehen in dem Gesetzentwurf einen
Zeitraum von drei Monaten vor.
Die Aufnahmerichtlinie verlangt, dass Opfer von
Menschenhandel Therapie und medizinische Behandlung angeboten bekommen. Denn diese Menschen sind
oftmals traumatisiert. Sie wurden vielfach zur Prostitution gezwungen und fürchterlich ausgebeutet. Sie haben
Anspruch auf medizinische Hilfe. Was sehen Sie im Gesetzentwurf vor? Das Asylbewerberleistungsgesetz wird
lediglich dahin gehend verändert, dass für Flüchtlinge
ein Zeitraum von vier Jahren vorgesehen ist. Aber es
wird nicht geregelt, dass die medizinische Behandlung
von Opfern von Menschenhandel in Zukunft bezahlt
wird.
Sie lassen viele Dinge weg, beispielsweise, was den
Schutz derjenigen anbelangt, die aufgrund ihrer Religion
oder ihrer sexuellen Identität verfolgt werden. Sie haben
eine ganze Reihe von Punkten einfach gar nicht umgesetzt und stattdessen jede Menge Verschärfungen, für die
es in den Richtlinien keinen Anhaltspunkt gibt, hier auf
den Tisch gelegt. Ich rate Ihnen: Schmeißen Sie den Gesetzentwurf in den Papierkorb! Beginnen Sie von
Neuem! Nehmen Sie dabei wirklich die elf Richtlinien in
die Hand!
({14})
Ich erteile das Worte Kollegen Stephan Mayer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Angesichts des Gesetzentwurfs, den wir heute in erster Lesung beraten, können
wir feststellen: Das deutsche Ausländer- und Zuwanderungsrecht ist endlich in der Realität angekommen.
({0})
Es handelt sich um einen sachgerechten, ausgewogenen
Kompromiss, der den aktuellen Anforderungen an ein
ideologiefreies und zeitgemäßes Zuwanderungsrecht in
vollem Umfang gerecht wird.
Es wird deutlich - ich möchte das in aller Entschiedenheit unterstreichen -, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist.
({1})
In Nachfolge des Zuwanderungsgesetzes, das zum
1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, wird mit diesem Gesetz der Multikulti-Gout, der dem Zuwanderungs- und
Ausländerrecht bisher innewohnte, endgültig ausgehaucht. Ich möchte in aller Deutlichkeit feststellen, wie
wichtig es uns war, dass in § 43 Abs. 1 deutlich gemacht
wird, dass die Integration nicht nur ein Anspruch, sondern auch eine Verpflichtung des nach Deutschland
Kommenden ist. Integration bedeutet Fördern und Fordern.
Die Sprach- und Orientierungskurse, die seit dem
1. Januar 2005 angeboten werden, wurden schon angesprochen. Sie haben sich bewährt. Wir haben sie evaluiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie noch
zielgenauer werden müssen. Vielleicht müssen wir insgesamt noch mehr machen. Dabei möchte ich eines betonen: Wenn hier die Anforderungen wirklich höher sind,
dann müssen wir mehr Geld in die Hand nehmen. Ich
sage aber eines ganz offen: Ich erwarte von den nach
Deutschland kommenden Ausländern, dass sie die Angebote wahrnehmen. Deswegen ist es richtig, dass jetzt
erstmals festgeschrieben wird, dass die vorsätzliche,
nachhaltige Nichtteilnahme an diesen Sprachkursen
sanktionsbewehrt ist:
({2})
Zunächst besteht die Möglichkeit, soziale Transferleistungen zu kürzen; im Ernstfall, am Ende der Kette, besteht die Möglichkeit, dass der noch nicht verfestigte
Aufenthaltstitel gestrichen wird.
Es ist schon mehrmals betont worden, dass das Erlernen der deutschen Sprache der entscheidende Punkt
ist. Das Kennen der deutschen Sprache ist noch keine
hinreichende Bedingung, um in Deutschland erfolgreich
Fuß fassen zu können, um sich in die deutsche Gesellschaft integrieren zu können, um sich auf dem deutschen
Arbeitsmarkt bewähren zu können, aber es ist eine notwendige Bedingung. Deswegen machen wir deutlich:
Das Erlernen der deutschen Sprache ist die entscheidende Stellschraube. Es ist richtig, dass der Gesetzentwurf hier einen Schwerpunkt setzt.
Das Phänomen der Zwangsverheiratung - möglicherweise noch verbunden mit Ehrenmorden - ist unsäglich;
({3})
es ist in keiner Weise zu tolerieren und muss mit allen
möglichen Mitteln bekämpft werden. Nur haben wir
feststellen müssen, dass die Mittel, die wir bisher zur
Stephan Mayer ({4})
Verfügung hatten, nicht ausreichten, dass sie nicht gegriffen haben. Deswegen ist es richtig, jetzt auch hier
deutliche Nachbesserungen vorzunehmen: Wir legen das
Ehegattennachzugsalter auf 18 Jahre fest. Wir haben
die Erfahrung gemacht, dass junge Mädchen - man muss
offen sagen: vor allem türkische Mädchen ({5})
besonders einfach von den Eltern, von den Großeltern
gezwungen werden können, einen Mann zu heiraten, den
sie an und für sich gar nicht heiraten wollen. Diese Mädchen müssen dann - auch gegen ihren Willen - nach
Deutschland kommen. Ich hoffe, dass es gelingt, dies in
Zukunft zu verhindern. Man kann es zum jetzigen Zeitpunkt sicher noch nicht versprechen, aber ich wünsche
mir, dass es mit der Festlegung des Ehegattennachzugsalters auf 18 Jahre gelingen wird, dem Phänomen der
Zwangsverheiratung in Zukunft Einhalt zu gebieten.
Ich kann jedem Kollegen und jeder Kollegin nur empfehlen, das Buch Die fremde Braut von Necla Kelek
zu lesen. Hier wird klargemacht, welche Ausmaße das
Phänomen der Zwangsverheiratung für eine Familie und
für ein Individuum im Extremfall annehmen kann.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nachdem Sie ja jetzt
noch einmal die Festsetzung des Ehegattenalters für den
Nachzug und in diesem Zusammenhang auch die geforderten Deutschkenntnisse verteidigt haben, möchte ich
Sie gerne fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass es vier Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes gibt, die besagen, dass es sowohl erhebliche verfassungsrechtliche
Bedenken gibt gegen die geplanten Änderungen - Festsetzung des Ehegattenalters auf 18 Jahre und Verlangen
von Deutschkenntnissen als Zuzugsvoraussetzung - in
Bezug auf den Nachzug zu Deutschen und zu Drittstaatenangehörigen in Deutschland als auch Bedenken, ob
dies richtlinienkonform ist.
Sehr verehrte Frau Kollegin Dağdelen, es gibt Gutachten in die eine und in die andere Richtung. Verfassungsrechtliche Bedenken werden ja in der heutigen Zeit
immer dann vorgebracht, wenn man politisch etwas ablehnt oder in eine andere Richtung bringen möchte. Ich
habe zum Ausdruck gebracht: Mit der Festlegung des
Ehegattennachzugsalters auf 18 Jahre soll der Versuch
unternommen werden, dem Phänomen der Zwangsverheiratung entgegenzuwirken. Ob das zu 100 Prozent gelingt, kann an dieser Stelle keiner versprechen. Ich bin
aber der festen Überzeugung, dass es einen Versuch wert
ist. Deswegen finde ich es richtig, dass wir uns am Ende
der Verhandlungen dazu durchgerungen haben, dieses
Ehegattennachzugsalter entsprechend festzulegen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meines Erachtens wurde in der bisherigen Debatte zu wenig betont, dass dieser Gesetzentwurf auch ein Reflex auf das
ist, was wir in den vergangenen Jahren im Bereich des
Ausländer- und Zuwanderungsrechtes erlebt haben. Ich
möchte in diesem Zusammenhang nur den Fall Mehmet,
dieses Serienstraftäters aus München, erwähnen. Nach
Umsetzung dieses Gesetzentwurfs können erstmals heranwachsende Serienstraftäter, die schon eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland haben, unter erleichterten
Bedingungen abgeschoben werden. Das ist ein großer
Erfolg, der mit diesem Gesetz erreicht wird.
({1})
Ein weiterer aktueller Fall, der auch Niederschlag in
diesem Gesetzentwurf gefunden hat, ist der der Kofferbombenattentäter vom 31. Juli letzten Jahres, bei dem es
glücklicherweise beim schrecklichen Versuch geblieben
ist. Wir haben darauf entsprechend reagiert, indem wir
die Möglichkeit eröffnen, ausländischen Studenten die
Aufenthaltserlaubnis zunächst einmal nur probeweise
für ein Jahr zu gewähren. Diese Aufenthaltserlaubnis
kann dann in der Folge natürlich verlängert werden. Es
gibt aber leider Gottes, wie wir feststellen mussten, das
Phänomen, dass an sich unbescholtene und ideologisch
noch nicht verbrämte ausländische Studenten nach
Deutschland kamen und während ihres Aufenthaltes hier
radikalisiert wurden. Ich meine diese sogenannten
Homegrown Terrorists, die hier in Deutschland erst dadurch, dass sie den falschen Imamen in die Finger kamen, radikalisiert wurden. Diesem Phänomen kann dadurch Einhalt geboten werden, dass zunächst einmal nur
eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt wird.
Der Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung zur Beratung ansteht, trägt in vielen Fällen dazu bei, ein zielund passgenaueres und auch den Anforderungen der Realität angemesseneres Ausländer- und Zuwanderungsrecht zu schaffen. Dieses Zuwanderungsrecht lässt aber
auf der anderen Seite auch liberalere Tendenzen erkennen. So setzen wir die Opferschutzrichtlinie um und
schaffen einen neuen Aufenthaltserlaubnistatbestand für
Forscher. Darüber hinaus gibt es für Studenten zum Beispiel die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis nicht
nur für ein Mitgliedsland der Europäischen Union, sondern auch noch für ein zweites zu bekommen.
Es wäre also verfehlt und meines Erachtens eine bewusste Fehlinformation, wenn behauptet würde, bei diesem Gesetz handele sich um ein Zuwanderungsverhinderungsgesetz oder dieses Gesetz enthalte nur restriktive
Gedanken. Es handelt sich meines Erachtens, wie schon
erwähnt, um einen sehr ausgewogenen Kompromiss. Ich
kann nur allen Kolleginnen und Kollegen empfehlen,
das Gesetzgebungsverfahren konstruktiv - vonseiten der
Opposition möglicherweise auch kritisch, aber dann
bitte konstruktiv-kritisch - zu begleiten und es zügig voranzutreiben. Es laufen derzeit ja schon acht Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission geStephan Mayer ({2})
gen Deutschland, weil wir insgesamt schon mit der
Umsetzung von neun Richtlinien in Verzug sind.
({3})
Deswegen ist, wie ich glaube, eine gewisse Eile und Zügigkeit geboten.
({4})
In dem Sinne wünsche ich uns ertragreiche und gute Verhandlungen.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Wiefelspütz,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion ist, wenn ich richtig rechne, jetzt im neunten Jahr in der Regierungsverantwortung.
({0})
Das Thema Deutschland und Ausländer, das Zusammenleben hier hat für uns in diesen acht Jahren immer
eine große Rolle gespielt. Das wird auch in Zukunft so
sein. Wir haben, durchaus in einer sehr konfrontativen
Stimmung in Deutschland, vor Jahren unseren Teil dazu
beigetragen, dass man in der Wirklichkeit dieses Landes
angekommen ist. Ich erinnere an die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, und ich erinnere an die leidenschaftliche Auseinandersetzung um das Zuwanderungsgesetz.
In dieser Kontinuität machen wir Politik - jetzt in
einer anderen Konstellation, nicht mehr Rot-Grün, sondern Schwarz-Rot. Ich freue mich darüber, dass inzwischen auch andere in der Wirklichkeit unseres Landes
angekommen sind,
({1})
mit denen wir jetzt gemeinsam diese großen Fragen, um
die es geht, gestalten.
In der Tat - da stimmen wir ausdrücklich mit der
Position des Ministers Schäuble überein -: Es handelt
sich bei der Integration um eine der ganz großen gesellschaftlichen Querschnittsaufgaben. Es geht ganz entscheidend um die Qualität des Lebens in unserem Land,
um inneren Frieden und um Stabilität unserer demokratischen Institutionen. Da ist in der Vergangenheit einiges
geschehen. In der Gegenwart und in der Zukunft wird
Weiteres notwendig sein.
Auch das, was wir heute debattieren, ist letztlich nur
ein Zwischenschritt, aber ein wichtiger, ein gewichtiger.
Ich will eines sehr deutlich sagen, auch mit etwas Pathos
- der Kollege Veit hat schon das Taschentuch gelüftet -:
Die Große Koalition, wird sehr unterschiedlich bewertet.
({2})
- Sie wird auch in meiner Fraktion, in meiner Partei sehr
unterschiedlich bewertet. Gestern war von Zwangsehe
die Rede, beispielsweise bei meinem Freund Sebastian
Edathy.
({3})
Ich sage in vollem Bewusstsein des pathetischen Untertons: Für das Zusammenleben von Deutschen und
Ausländern, für das große Thema Integration ist die
Große Koalition ein Glücksfall, meine sehr verehrten
Damen und Herren,
({4})
weil die großen politischen Kräfte dieses Landes, die
drei sehr unterschiedlichen Parteien, Herr Winkler, die
diese Koalition tragen, CSU, CDU und SPD, stark in
Bund und Ländern, das große Thema für einige Jahre gemeinsam schultern wollen und schultern müssen. Da ist
jeder von uns in der Verantwortung, so unterschiedlich
wir sind.
Ich freue mich darüber, Herr Grindel, dass wir heute
miteinander konkurrieren und beim großen Thema Integration zu gemeinsamen Ergebnissen kommen.
Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Laurischk?
Jetzt schon? Am Ende der Debatte vielleicht. - Aber
bitte schön, Frau Kollegin. Ich war allerdings gerade
sehr pathetisch. Bedenken Sie das bitte bei Ihrer Zwischenfrage.
({0})
Das versetzt mich in Sorge und deswegen meine
Frage, Herr Kollege Wiefelspütz.
Sie stellen das hier so dar, dass sie sozusagen einen
Meilenstein erreichen wollen. Da würde mich schon interessieren, wie Sie die Aussage des Herrn Kollegen
Mayer, ihres Vorredners - das sehe ich als eine Aussage
der CDU/CSU-Fraktion -, bewerten, dass Deutschland
kein Einwanderungsland sei.
({0})
Sehr geehrte Kollegin, schönen Dank für diese
Frage. - Ich schätze den Kollegen Mayer sehr. Aber er
war bei den Verhandlungen nicht dabei.
({0})
Das ist eigentlich das, was man dazu sagen kann.
({1})
Jetzt will ich aber doch zu dem Glücksfall der Großen
Koalition für das Thema Ausländer zurückkehren. Wir
ringen gemeinsam um das große Thema Integration.
Dazu will ich sagen: Da ist in der Vergangenheit nicht alles falsch gelaufen. Aber es ist doch völlig klar, dass wir
erhebliche Defizite haben. Schauen Sie sich nur die beiden entscheidenden Parameter Anzahl der Bildungsabschlüsse und Anzahl der Arbeitslosen an. An beiden Parametern kann man erkennen, welche Defizite es
auf diesem Sektor noch gibt: Gleichberechtigung, gleiche Partizipation der Menschen, die aus dem Ausland zu
uns gekommen sind, ist weder im Bildungsbereich noch
auf dem Arbeitsmarkt festzustellen. Solange das so ist,
haben wir jede Menge zu tun, und der Staat muss an dieser Stelle seiner Mitverantwortung gerecht werden.
Wenn es um Integration geht, ist Bildung aus meiner
Sicht der entscheidende Punkt.
({2})
Herr Grindel, dafür sind in erster Linie nicht wir, der
Bund, zuständig. Wir müssen eine große Anstrengung
unternehmen. Wir wollen auf dem Gebiet der Integrationskurse - sie sind sehr wichtig; ich möchte Herrn
Albert Schmid in Nürnberg und seinen Mitarbeitern sehr
danken; sie machen eine sehr gute Arbeit - Schritt für
Schritt noch ein bisschen besser werden; das geht auch.
Integrationskurse sind trotzdem immer nur ein Teil dessen, was sich in Deutschland auf der Bundes-, auf der
Länder- und auf der kommunalen Ebene abspielen muss.
Das, was in einem Sportverein oder in einem Kindergarten auf diesem Sektor passiert, ist möglicherweise noch
viel wichtiger als das, was wir hier anschieben und voranbringen.
Ich freue mich, dass sich das im Grunde trotz aller
Kontroversen in die richtige Richtung entwickelt. Es
geht darum, dass diese Menschen in diesem Land ankommen. Damit meine ich, dass sie nicht nur ein Dach
über dem Kopf haben, sondern hier in Deutschland ihre
Heimat finden. Das ist erst dann erreicht, wenn die
gleichberechtigte Teilhabe an allen Möglichkeiten in
diesem Land erreicht ist. Da haben wir noch eine Menge
zu tun. Trotzdem will ich das, was bislang stattgefunden
hat, nicht kaputtreden.
Ich möchte - das sage ich ohne Selbstherrlichkeit,
ohne Arroganz und ohne Überheblichkeit - mit keinem
anderen Land, auch mit keinem europäischen Nachbarn, tauschen, was Integration angeht. Bei allem Respekt sage ich: Ich möchte weder mit den Niederlanden
noch mit Frankreich und schon gar nicht mit Großbritannien tauschen. Wir machen hier einiges sehr richtig. Das
sollten wir ohne Selbstzufriedenheit und schon gar nicht
mit Arroganz feststellen. Das, was hier richtig gemacht
wird, sollten wir verstärken, vertiefen und vorantreiben.
Da bin ich guten Mutes.
Allerdings wird das, was diesen Gesetzentwurf prägt,
von manchen kritisiert. Ich will ausdrücklich hervorheben: Wir machen hier schon - ich spreche einmal Klartext - einen gewissen Druck. Zum einen üben wir Druck
auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft aus. Ich sage in
Richtung Bundesregierung und insbesondere dem
Finanzminister: Wir müssen an dieser Stelle wirklich etwas leisten. Wir, die deutsche Mehrheitsgesellschaft,
müssen uns an dieser Stelle bewegen. Integration funktioniert nur, wenn die Hand ausgestreckt wird, wenn ein
faires Angebot da ist, wenn wir für die Menschen, die zu
uns kommen, offen sind. Wir üben also Druck auf uns
selber aus.
Darüber hinaus sagen wir aber auch denjenigen, die
zu uns kommen: Ihr müsst euch anstrengen, zumindest
im Interesse eurer Kinder und Kindeskinder. Sich zu integrieren, ist weder einfach noch bequem. Das alles
bringt auch etwas Verpflichtendes mit sich.
Niemand von uns will die Installation einer Integrationspolizei oder einen ähnlichen Quatsch. Das will kein
Mensch. Aber es muss in diesem Land schon klar sein,
dass wir uns alle miteinander bewegen müssen. Faire
Angebote müssen gemacht werden. Ebenso erwarten
wir, dass diese Angebote angenommen werden.
({3})
Das Prinzip der Gegenseitigkeit, das Prinzip des Förderns und Forderns, muss durchbuchstabiert werden. An
dieser Stelle können und müssen wir in den kommenden
Jahren besser werden.
Ich möchte noch kurz etwas zum Thema Bleiberecht
sagen. Es ist richtig, hier eine Altfallregelung zu schaffen. Ich sage aber auch selbstkritisch und gleichzeitig
selbstbewusst: Das haben wir unter Rot-Grün nicht zustande gebracht.
({4})
Dass das jetzt anders ist, hat natürlich etwas damit zu
tun, das wir eine Große Koalition sind. Herr Winkler, so
ist das. Wir hätten das, was jetzt möglich ist, damals
nicht zustande gebracht. Ich möchte mich bei allen, die
daran mitgewirkt haben, bedanken. Das Hauptverdienst
an dieser wichtigen Bleiberechtsregelung haben Herr
Müntefering und Herr Schäuble. Bei allem Respekt vor
allen anderen, die auch noch mitgewirkt haben: Herr
Schäuble und Herr Müntefering haben das durchgesetzt,
beide möglicherweise aus unterschiedlichen Erwägungen, aber sie waren diejenigen, die gesagt haben: Wir
wollen das.
Ich will abschließend ausdrücklich die Regelung hervorheben, damit das nicht untergeht - Herr Schäuble hat
auch darauf hingewiesen -, dass Geduldete nach einem
vierjährigen Aufenthalt in Deutschland den uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das ist den
Fachleuten und der Spitze des Arbeitsministeriums nach
meinem Eindruck nicht leichtgefallen. Angesichts der
Millionen von Arbeitslosen in Deutschland ist ihnen das
zu Recht nicht leichtgefallen. Ich glaube, dass diese Regelung richtig und notwendig ist. Sie ist aber auch eine
große Leistung, die früher nicht denkbar gewesen wäre.
Arbeiten hat nicht nur etwas mit Geldverdienen zu tun,
sondern auch etwas mit Menschenwürde. Dass diese
Menschen nach vier Jahren Aufenthalt in Deutschland
einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, ist eine große Errungenschaft. Ich finde das sehr
positiv.
({5})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Das tue ich, sonst rege ich mich noch mehr auf, Herr
Präsident. - Wir werden in den kommenden Wochen Gelegenheit haben, intensiv zu beraten. Wir haben eine
große Anhörung. Lassen Sie uns aus diesem Gesetzentwurf etwas Vernünftiges machen. Der Entwurf liegt auf
dem Tisch. Die Beratungen sind eröffnet.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
({0})
- Zu spät.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5065, 16/3198, 16/4487, 16/4609,
16/4739, 16/4907, 16/5109, 16/5103, 16/5116 und 16/5108
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/5116
zu Tagesordnungspunkt 6 i federführend im Innenausschuss beraten werden soll. Die Vorlage auf
Drucksache 16/5141 - Zusatzpunkt 9 - soll zur federführenden Beratung an den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 16/2000
- Zusatzpunkt 10 - soll zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Rechtsausschuss und den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss
für Bildung und Forschung, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
sowie an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 j: Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel Die Welt zu Gast bei
Freunden - Für eine offenere Migrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland und in der Europäischen
Union. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4039, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1199 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
Strategieplanung der EU-Kommission 2008
({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Staatsminister Günter Gloser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das Strategieprogramm der Europäischen
Kommission verdient besondere Beachtung; denn es ist
ein frühes Element in einem Planungsprozess auf europäischer Ebene, an dessen Ende das sogenannte
Arbeitsprogramm der Kommission stehen wird. In ihrem Arbeitsprogramm wird die Kommission die strategischen Überlegungen in einen konkreten Aktionsplan
überführen. Die Kommission hat dieses Arbeitsprogramm für Oktober 2008 angekündigt.
Warum ist es so wichtig, jetzt darüber zu sprechen?
Es geht nicht um irgendwelche neutralen Dinge oder
eine bestimmte Gruppe. Vielmehr betrifft es die Bürgerinnen und Bürger, viele Institutionen, die Wirtschaft,
Verbände, die Umwelt, Arbeitsplätze und vieles mehr.
Es ist daher wichtig, dass wir uns früh auf nationaler
Ebene mit den Überlegungen der Kommission befassen
und uns in den weiteren Planungsprozess einbringen.
Wenn ich an manche Debatten in den letzten Jahren
denke, dann komme ich zu dem Schluss, dass es uns
diesmal frühzeitig gelungen ist.
Das Strategieprogramm für 2008 orientiert sich wie in
den Vorjahren an den zentralen strategischen Zielen
Wohlstand, Solidarität und Sicherheit: erstens Wohlstand
durch höheres Wachstum sowie durch neue und bessere
Arbeitsplätze, zweitens Solidarität über mehr soziale
Gerechtigkeit zwischen den Regionen, zwischen den
Bürgerinnen und Bürgern sowie zwischen den Generationen und drittens Sicherheit zur Reduzierung der Risiken aus Terrorismus und Kriminalität, aber auch Ge9568
währleistung eines ungehinderten Zugangs zum Recht
und zu den Grundrechten. Diese Ziele geben meiner
Auffassung nach einen klaren Rahmen für die politischen Maßnahmen vor, die den Erwartungen der Bürger
an ein handlungsorientiertes Europa entsprechen.
Die Erarbeitung der Jahresplanung und des Arbeitsprogramms erfolgt grundsätzlich in eigener Verantwortung der Kommission. Dennoch ist es wichtig, dass
das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten
durch die Kommission in die Programmerarbeitung eingebunden sind. In diesem Sinne erfolgte bereits im März
eine erste Befassung des Europäischen Parlaments. Je
nach den eigenen politischen Schwerpunkten wurde die
strategische Planung dort sehr kritisch hinterfragt. Um
nur einen Punkt aufzugreifen: Bedenken wurden übereinstimmend gegen eine Finanzierung neuer Initiativen
zulasten anderer Politikbereiche geäußert.
Die Bundesregierung hat am 19. März eine eigene,
umfangreiche schriftliche Stellungnahme abgegeben.
Uns kam es darauf an, frühzeitig unsere Vorstellungen
einzubringen, um nicht später mühsam nachzusteuern,
wie viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier es aus
den Debatten in den letzten Jahren kennen.
({0})
Allgemein haben wir begrüßt, dass die Planung Kontinuität aufweist. Außerdem unterstützen wir die verstärkte
Einbeziehung der wichtigen Politikbereiche Energieversorgung und Klimaschutz. Die Kommission nimmt inzwischen eine Bessere Rechtsetzung als Kernstück ihrer täglichen Arbeit wahr; das ist richtig so.
Umsetzungsmaßnahmen hierzu werden seitens der
Kommission für 2008 als Kernziel angesehen. Das entspricht der deutschen Position und ist ein erster Erfolg
der deutschen Bemühungen während der EU-Ratspräsidentschaft.
Die Bundesregierung hat sich allerdings auch kritisch geäußert. So haben wir beispielsweise angemahnt,
dass die Kommission bei der weiteren Erarbeitung ihrer Planung stets auf die Beachtung ihrer rechtlichen
Kompetenzen zu achten hat. Das Vorliegen einer Ermächtigungsgrundlage und die Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes müssen Grundlage jeder Entscheidung auf jeder Planungsstufe sein. Es ist nicht allein
Aufgabe der Mitgliedstaaten, hierauf zu achten. Auch
die Kommission selber ist bei dieser Thematik gefragt.
Die Bundesregierung hat bereits auf deutsche Positionen verwiesen. Soweit die jährliche Strategieplanung
den Eindruck vermittelte, dass die Kommission etwas
plant, was deutschen Positionen entgegensteht, hat die
Bundesregierung interveniert. Ein konkretes Beispiel
- dieses Thema, das schon in den Ausschussberatungen
eine Rolle gespielt hat, möchte ich auch hier ansprechen ist die Gründung von Agenturen. Hier hat die Bundesregierung bewusst die Möglichkeit genutzt, frühzeitig ihre
Position klarzustellen.
Im Hinblick auf die Ausführungen der Kommission
zu den zukünftig benötigten Finanzen haben wir insbesondere die Verbesserung der Tragfähigkeit und der
Qualität der öffentlichen Finanzen gefordert und Ausführungen zu benötigtem Personal kritisch hinterfragt.
Wir haben aber auch konkrete Ergänzungsvorschläge
unterbreitet. So hat die Bundesregierung zusätzliche
Maßnahmen beispielsweise zur Umsetzung der noch
2007 zu erwartenden Richtlinien zu erneuerbaren Energien oder zur Umsetzung diverser, bereits existierender
Aktionsprogramme vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat zudem darauf hingewiesen, dass voreilige Initiativen zu vermeiden sind. Insbesondere hat die Kommission das Ergebnis laufender Konsultationen und der
Untersuchung der Wirkungen bestehender Maßnahmen
abzuwarten, bevor sie neue Initiativen ankündigt oder
sogar startet.
Die Kommission hat sich inzwischen zu den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten geäußert. Inhaltlich ist sie
dabei auf viele der von uns gegebenen Hinweise eingegangen. Das gilt insbesondere hinsichtlich unserer zentralen Punkte. Die Kommission hat klargestellt, dass sie
dem Ergebnis laufender Konsultationsverfahren nicht
durch verfrühte Initiativen vorzugreifen beabsichtigt. Zu
den haushaltsbezogenen Einwendungen insbesondere im
Personalbereich hat sie die erwünschten Klarstellungen
getroffen.
Wir werden von den Bürgerinnen und Bürgern daran
gemessen, ob es uns gelingt, ihre konkrete Lebenssituation durch passende und angemessene europäische Lösungen zu verbessern. Den Mitgliedstaaten obliegt die
Beurteilung, welche Maßnahmen erforderlich sind. Wir
dürfen die Arbeit - ich möchte das noch einmal unterstreichen - nicht allein der Kommission überlassen. Vor
diesem Hintergrund begrüße ich es sehr, dass sich der
Bundestag heute, so kurz nach der Bekanntgabe und vor
allem zu Beginn der weiteren Planungen der Kommission, mit dieser strategischen Planung befasst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Kollege Michael Link, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Initiative von Kommissarin Wallström, wonach die jährliche Strategieplanung der Kommission bereits im Frühjahr in Rat und Parlamenten diskutiert wird, war gut. So
besteht die Möglichkeit, das jährlich im Oktober anstehende Arbeitsprogramm zu diskutieren und daran mitzuwirken. Die FDP im Bundestag und im Europäischen
Parlament begrüßt diesen Schritt der Kommission. Das
ist ein Schritt hin zu mehr Mitwirkung der Parlamente.
Fast zeitgleich mit uns, in dieser Woche, debattiert
das Europäische Parlament das Kommissionsprogramm. Doch hier endet schon der erfreuliche Teil; denn
während das EP perfekt im Zeitplan ist und es über das
Programm schon in zweiter Lesung debattiert, hat der
Bundestag offensichtlich - das müssen alle Fraktionen
selbstkritisch feststellen - noch Nachholbedarf. Wie
Michael Link ({0})
sonst ist es zu erklären - Herr Staatsminister, das muss
man schon einmal deutlich sagen -, was im Ressortbericht Ihres Hauses zum Strategieprogramm der Kommission steht: Mitgliedstaaten übermitteln ihre Stellungnahme bis 19. März individuell an die Kommission.
Heute ist der 26. April, nicht der 19. März. Über einen Monat nach Ablauf der Frist debattiert der Deutsche
Bundestag über das Strategieprogramm. Glauben Sie allen Ernstes, dass der Deutsche Bundestag auf diese
Weise jemals europatauglich wird? Europatauglichkeit
ist mehr als ein gutes Büro in Brüssel, ist mehr als eine
gute Datenbank, ist mehr als eine Masse von Vorlagen.
Das haben wir alles. Das funktioniert alles. Der Bundestag muss endlich die nicht billigen, neuen Ressourcen,
die wir für viel Geld geschaffen haben, politisch nutzen.
({1})
Wie soll das Exekutivhandeln der Bundesregierung
im Ministerrat effizient mandatiert und kontrolliert werden, wenn der Bundestag weiter so damit umgeht? An
uns alle, aber besonders an die Regierungsfraktionen gerichtet, sage ich: Wir müssen unsere Mitwirkungs- und
Kontrollrechte endlich ernst nehmen; denn EU ist nicht
nur Gipfelrampenlicht, EU ist auch Maschinenraum. Der
Maschinenraum der EU ist das komplexe Gefüge der
Checks and Balances im Zusammenspiel von Kommission, Rat und EP. Wie schade, dass sich der Bundestag
aus diesem Zusammenspiel verabschiedet, weil er über
viele Sachen nach Ablauf der Frist debattiert. Das Demokratiedefizit baut man so nicht ab.
Dabei gibt es zuhauf Themen, zu denen wir Positionen erarbeiten und der Bundesregierung mit nach Brüssel geben könnten. Das Strategieprogramm enthält eine
Fülle von Themen. Ich nenne nur wenige Stichworte:
Die Kommission kündigt auf Seite 10 ihres Strategieprogramms eine umfassende Bestandsaufnahme zur
Kohäsionspolitik an. Was heißt das? Will man die
Strukturfonds umbauen? Die FDP würde das begrüßen.
Will man mehr europäischen Mehrwert anstatt Dauersubventionen? Auch das würde die FDP sehr begrüßen.
Will man endlich mehr Geld in die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik und den Schutz der Außengrenzen
stecken, anstatt immer mehr Geld in die Struktur- und
Agrarpolitik zu pumpen? Im Strategiepapier der Kommission fehlt ein Passus zur Mid-Term-Review der Gemeinsamen Agrarpolitik. Es fehlt ein Passus zur Revisionsklausel, die der Europäische Rat für 2008
beschlossen hat.
Auf Seite 7 wird eine einheitliche konsolidierte
Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage angekündigt.
Was ist da genau geplant? Wird nur die Bemessung oder
wird der Korridor vereinheitlicht?
Stichwort Rechtspolitik. Es soll eine zentralisierte
Datenbank für Fingerabdrücke geben. Engere Zusammenarbeit ist schön und gut. Aber wie weit soll sie gehen? Wo sind die rechtsstaatlichen Grenzen? Angesichts
des Tempos, mit dem die Bundesregierung zum Thema
staatliche Überwachung jede Woche eine neue Sau
durchs Dorf treibt, kann man sich schon fragen: Wie
weit soll das gehen? Wachsamkeit ist geboten, und die
kann nur von der Opposition kommen.
({2})
Ich fordere uns alle auf, mit dem, was wir zu diesem
Thema beschlossen haben - ich erinnere an die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung -,
ernster umzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen in
den Regierungsfraktionen, sorgen Sie mit Ihren Geschäftsführern dafür, dass sich das Spiel, das wir heute
erleben, dieses Abhandeln zwischen Tür und Angel, bei
der Debatte über das nächste Strategieprogramm der
Kommission nicht wiederholt.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Bernhard Kaster, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion begrüßt die heutige Debatte ausdrücklich. Denn es ist gut und richtig,
dass die Jährliche Strategieplanung der Europäischen
Kommission in den Mitgliedstaaten kritisch überprüft
und die Politik der Europäischen Union damit als Ganzes in die Nationalparlamente eingebracht wird. Dies geschieht ja in dieser Form zum ersten Mal. Es ist wichtig,
dass der Deutsche Bundestag die Prioritäten und Positionen der Bundesrepublik in diesen Diskussionsprozess
einbringt.
Die Strategieplanung für 2008 knüpft richtigerweise
an die strategischen Ziele Wohlstand, Solidarität, Sicherheit und Freiheit sowie an eine stärkere Position Europas in der Welt an.
({0})
Allein die Anzahl von 24 sogenannten Schlüsselaktionen
mit insgesamt 81 Unterpunkten macht mehr als deutlich,
dass wir diese Kommissionsplanung vor allem unter den
Kriterien europäischer Mehrwert, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit einer kritischen Überprüfung unterziehen müssen. Diese kritische Überprüfung hat vor allem
mit einem strategischen Ziel zu tun, das zwar in der
Kommissionsplanung nicht ausdrücklich als solches benannt ist, aber angesichts des weitverbreiteten Unbehagens der Bürger im Hinblick auf zu viel europäischer
Bürokratie und Regelungswut ganz oben stehen muss,
und zwar mit dem obersten strategischen Ziel: Die Politik der Europäischen Union muss die Menschen wieder
mitnehmen.
({1})
Der Erfolg Europas und der Europäischen Union bemisst sich gerade nicht an der Anzahl der Richtlinien,
von Grün- und Weißbüchern sowie dem diesbezüglichen
Arbeitseifer. Europäische Rechtsetzungsakte sind in vielen Themenbereichen wichtig. Doch sollten sie Luft zum
Atmen lassen. Eine der Hauptursachen für Kritik und
Unbehagen ist schlichtweg Übereifer bei europäischen
Richtlinien und Verordnungen. Wie oft geben wir bei
gesetzlichen Missständen selber den entschuldigenden
Hinweis: Das ist eine europäische Vorgabe! Dafür gibt
es in den Ausschüssen ein aktuelles Beispiel: Themen
wie der Verbraucherschutz berühren die Menschen und
verlangen nach einer europäischen Lösung; das ist auch
einer der Punkte der Strategieplanung der Kommission.
Der Verbraucherschutz muss sich aber am Prinzip der
Mindestharmonisierung orientieren, um einerseits das
hohe deutsche Schutzniveau zu sichern und andererseits
zu verhindern, dass im Zuge der Überregulierung getroffene Haftungs- und Rücknahmeregelungen zwangsläufig
zu höheren Preisen führen.
({2})
Doch damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich will
hier keine Stimmung gegen Europa machen. Denn - das
müssen wir einmal feststellen - die Fortschritte und Errungenschaften Europas werden von den Bürgern mittlerweile aktiv gelebt. Schauen Sie nur einmal in Interrailzüge, oder gehen Sie einmal auf Flughäfen
- vergessen Sie dabei einmal die allgemeine Kritik an
Billigflügen -: Heute sind tagtäglich Tausende junger
Menschen unterwegs zwischen Dublin, Tallinn, Bratislava. Das zeigt, dass die junge Generation - die heute
18-, 19-, 20-Jährigen - Europa positiv in einer Form
lebt, von der ihre Großväter und Großmütter nur träumen konnten.
({3})
Die Menschen mitnehmen heißt deshalb, bei der
Strategieplanung 2008 vor allem die Themen in den
Mittelpunkt zu stellen, die für die Menschen Priorität genießen. Wir sind daher der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar dafür, dass sie mit viel Geschick und
Engagement die derzeitige EU-Ratspräsidentschaft
wahrnimmt und beispielsweise bei der die ganze
Menschheit betreffenden Herausforderung der Bewältigung der Klimawandels die Festlegung konkreter Zielmarken erreicht hat: Reduzierung des CO2-Ausstoßes
um 20 Prozent bis 2020, 20 Prozent mehr Energieeffizienz und einen Anteil der erneuerbaren Energien am
Energiemix von 20 Prozent. Diese Zielmarken der deutschen Ratspräsidentschaft müssen in konkretisierter
Form in die Strategieplanung eingebracht werden. Im
Übrigen sind auch die Menschen davon überzeugt, dass
dies Dinge sind, die auf dieser Ebene geregelt werden
müssen.
Von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gehen
aber noch weitere Initiativen aus, die Eingang in die
Strategieplanung 2008 finden müssen. Dazu gehört die
neue transatlantische Wirtschaftspartnerschaft, die im
Mittelpunkt des EU-USA-Gipfels am 30. April dieses
Jahres stehen wird. Dazu gehören auch die Zentralasienstrategie sowie die Weiterentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik, durch die mit Blick auf unsere osteuropäischen Nachbarn Demokratie, Rechtsstaat
und Zivilgesellschaft unterstützt werden.
Die politische Architektur in Europa und in der Welt
hat sich in den vergangenen Jahren so gravierend verändert, dass die Bürger in der Europäischen Union erwarten, dass sich eine viel intensivere Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik entwickeln wird, um, gestützt auf
gemeinsame Werte, die Interessen Europas in einer globalisierten Welt zu wahren.
Von großer Bedeutung wird der Abschluss eines
Partnerschaftsabkommens zwischen der Europäischen
Union und Russland sein. Es ist zu wünschen, dass wir
bald das Verhandlungsmandat bekommen und dass die
wichtigen Beziehungen zu unserem großen Nachbarn
Russland durch dieses Abkommen in den Bereichen innere Sicherheit, äußere Sicherheit und Wirtschaft, in
Energiefragen und auf dem Gebiet von Forschung und
Bildung auf eine neue Grundlage gestellt werden.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt des Strategiepapiers eingehen, der darin nur recht klein und unscheinbar festgehalten worden ist. Ich meine das Thema
Mehrsprachigkeit und interkultureller Dialog.
({4})
Erst durch das Überwinden der Sprachbarrieren können
die Bürgerinnen und Bürger die neuen europäischen
Grundfreiheiten tatsächlich ausleben. Im Europaausschuss haben wir erst gestern ausführlich über alle Facetten des Themas Mehrsprachigkeit diskutiert.
Ich selbst komme aus einer Region, die durchaus als
Modellregion für grenzüberschreitende Integration sowohl im wirtschaftlichen als auch im gesellschaftlichen
Leben bezeichnet werden kann: aus der Region Lothringen-Luxemburg-Trier. Zum Thema Mehrsprachigkeit
möchte ich vor diesem Hintergrund einen pragmatischen
Vorschlag machen: Die englische Sprache ist inzwischen
schon fast keine Fremdsprache mehr. Sie hat sich zu einer Arbeitssprache entwickelt. Es wäre vielleicht darüber nachzudenken, als erste Fremdsprache die Sprache
in Betracht zu ziehen, die in dem Nachbarland gesprochen wird, das an das eigene Land angrenzt. Das können
in Europa durchaus unterschiedliche Sprachen sein.
Wenn wir unsere Bürger, insbesondere die jungen
Bürger, für Europa begeistern und Europa im Bewusstsein der Menschen nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft verankern
wollen, spielen sowohl Sprache als auch interkultureller
Dialog eine sehr wichtige Rolle. Wir müssen viel stärker
als in der Vergangenheit deutlich machen, dass wir
Europäer unsere christlichen Werte und Wurzeln selbstbewusst leben und dass Religionsfreiheit, Religionsausübung und gegenseitige Toleranz die Grundvoraussetzungen dafür sind, Mitglied dieser Gemeinschaft zu
werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas sagen
- auch in dieser Hinsicht kann das Jahr 2008 ein wichtiges Jahr werden -: Die Menschen erwarten, dass sich die
erweiterte Europäische Union stabilisiert und dass
Europa zueinanderfindet; das gilt auch im Hinblick auf
die eine oder andere Debatte, die über die Erweiterung
geführt wird. Auch das muss ein Ziel der strategischen
Planung für das Jahr 2008 sein.
({5})
Wenn dieser Aspekt des interkulturellen Dialogs im
Jahre 2008 im Mittelpunkt steht, dann wird das mit dazu
beitragen, dass Europa die Chance haben wird, zu einem
weltweiten Modell für vorbildliche Integration und für
das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlichster Nationen und Sprachen, doch gemeinsamer
Werte zu werden.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich
für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Redet man in diesen Tagen über Europa, kommt man
nicht umhin, auch ein paar Sätze über die EU-Verfassung zu verlieren. Denn sie ist die Grundlage all dessen,
was in Zukunft arbeitsplanmäßig umgesetzt werden
kann. Es wird zwar immer gesagt, man brauche die EUVerfassung, um arbeitsfähig zu sein. Wenn man aber die
jüngsten Äußerungen aus England, den Niederlanden
oder Frankreich wertet, stellt man fest: Die vorliegende
Verfassung ist tot. Alle Versuche, diesen Wunschkatalog
der Neoliberalen durchzumogeln, sind gescheitert. Alles,
was jetzt noch folgt, ist aus Sicht der Regierenden Schadensbegrenzung. Auch wenn die Bundesregierung und
die anderen vier Fraktionen hier im Hause es nicht wahrhaben wollen: Die Menschen in Europa, insbesondere in
Frankreich und in den Niederlanden, haben diese undemokratische und unsoziale Verfassung zu Fall gebracht.
({0})
Mit ihrer Ignoranz haben die anderen vier Fraktionen
die Demokratie beschädigt,
({1})
indem sie diese Ablehnung der Bürger und den Wunsch
nach einem sozialen Europa immer wieder - bis heute ignorieren.
({2})
Sie tragen die Verantwortung für die große Euroskepsis
auch in unserem Land. Sie alle sind Mitverursacher dieses Scherbenhaufens.
({3})
Sie sollten Ihre Politik jetzt verändern, anstatt mit weiteren Tricks über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger
hinweg in dieser politischen Sackgasse weiterzufahren.
({4})
Zur Strategie der EU-Kommission. In allen Sonntagsreden - der Herr Staatsminister hat das hier auch getan - wird von der sozialen Dimension Europas geredet.
Trotz anhaltend hoher Arbeitslosigkeit in der EU, trotz
der gravierenden Zunahme von Armut und trotz gravierender Probleme bei der Beschäftigung Jugendlicher ist
im Strategiepapier nicht erkennbar, mit welchen Maßnahmen man diese Probleme politisch bekämpfen will.
Im Gegenteil: Die bisher erfolglose Politik soll beschleunigt fortgesetzt werden.
Zur Lissabonstrategie. Die EU-Kommission setzt
auf den arbeitnehmerfeindlichen Dreiklang aus Liberalisierung, Flexibilisierung und Kostensenkung für Unternehmen. Das will sie über eine forcierte Marktöffnung
vor allem im Energie- und Dienstleistungssektor sowie
einer Deregulierung des Arbeitsrechts erreichen. Diese
Rezepte waren und sind im Hinblick auf die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit kontraproduktiv.
Mit der Unternehmensteuerreform in Deutschland
wird eine weitere Runde des europäischen Steuerdumpings eingeleitet. Andere Länder müssen und werden
nachziehen. Im Ergebnis bleiben die Wettbewerbsbedingungen gleich. Die Steuereinnahmen werden aber geringer ausfallen, und die Bürgerinnen und Bürger in Europa
dürfen das dann mit einem weiteren Sozialabbau bezahlen. Selbst viele Unternehmer wundern sich darüber, warum man sie ein weiteres Mal massiv steuerlich entlasten
will.
({5})
Das ist ein weiteres Paradebeispiel für eine unsoziale Politik mit deutlicher Handschrift der SPD.
Durch die Lissabonstrategie wird die Umverteilung
von unten nach oben begünstigt. Weil Mindeststandards
fehlen, wird die Erweiterung der EU zu üblem Lohn-,
Steuer- und Sozialdumping missbraucht. Wer die Beschäftigungssituation in der EU verbessern will, der
muss die Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer
verbessern, in allen Ländern Mindestlöhne einführen
und bindende Korridore für Sozialstandards festlegen.
Die Mitgliedstaaten müssen sich endlich auf wirksame
Maßnahmen gegen den Steuerwettbewerb einigen. Dazu
gehören die Festsetzung von einheitlichen Mindeststeuersätzen und einer einheitlichen Bemessungsgrundlage sowie die Bekämpfung der Steuerflucht.
Die Europäische Zentralbank muss einer stärkeren
politischen Kontrolle unterworfen werden, damit die
einseitige Geldpolitik der EZB zugunsten einer Politik
für mehr Wachstum und Beschäftigung umgestellt werden kann.
({6})
Es ist begrüßenswert, dass sich die beiden französischen
Präsidentschaftskandidaten für ähnliche Vorschläge einsetzen. Die deutsche Bundesregierung wäre gut beraten,
ihre Beratungsresistenz in dieser Frage aufzugeben.
Zum Grünbuch Arbeitsrecht. Auch hier wird mit
dem Stichwort Flexibilität über die europäische Bande
spielend versucht, die Arbeitnehmerrechte in den einzelnen Staaten zu schleifen. Wenn wir uns am dänischen
Modell orientieren wollen, dann bedeutet das, dass wir
Hartz IV überwinden müssen. In Dänemark werden arbeitslose Menschen nicht enteignet. Die Sozialtransfers
sind deutlich höher und werden länger gezahlt. Diese
Seite der Medaille wird ausgeblendet. Man will noch
mehr prekäre Beschäftigung, noch mehr Leiharbeit und
noch mehr Minijobs bei gleichzeitigem Abbau von Arbeitnehmerrechten. Dies soll mit dem Wort Flexibilität
verschleiert werden.
Über die Klima- und Energiepolitik ist heute Morgen schon viel gesagt werden. Wie so oft - wie damals
bei der Lissabonstrategie - werden auf europäischer
Ebene positive Ziele benannt, ohne die notwendigen
Umsetzungsschritte aufzuzeigen. Auch dort droht uns
ein Misserfolg in Europa mit dramatischen Folgen für
die Umwelt.
Wer die Menschen für Europa gewinnen will, der
muss seine einseitige und von Wirtschaftsinteressen geleitete Politik verändern. Die EU-Kommission und auch
die deutsche Bundesregierung sind offensichtlich nicht
dazu bereit. Die Linke lehnt ein Europa der Konzerne
und des Geldes ab. Europa sollte für die Menschen da
sein.
Vielen Dank
({7})
Jetzt spricht Michael Roth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich hat der Kollege Link von der FDP
Recht: Diese Debatte war längst überfällig. Wenn ich
mich aber recht entsinne, hat die Große Koalition diesen
Tagesordnungspunkt hier anberaumt.
({0})
Es wäre Ihre Aufgabe gewesen - wenn Sie es denn wirklich gewollt hätten -, das Thema, über das wir heute
dankenswerterweise beraten, frühzeitiger auf die Tagesordnung zu setzen.
Wir wollen Ihre Oppositionsaufgabe nicht mit übernehmen. Das ist Ihre eigene Aufgabe, die Sie offensiv
wahrzunehmen haben.
({1})
- Wir regieren doch! Und wie wir regieren!
Wir diskutieren heute nicht über deutsches Regierungshandeln, sondern wir reden heute darüber, was uns
die EU-Kommission im Jahr 2008 auf die Tagesordnung
zu setzen beabsichtigt und wie wir als Deutscher Bundestag mit diesen Initiativen, Vorschlägen und Konzepten umgehen. Hier sehe ich die Notwendigkeit, in dieser
Diskussion nicht nur über die Details von Gesetzesinitiativen zu reden, sondern durchaus Erwartungshaltungen
gegenüber der EU-Kommission zu formulieren.
In einem Punkt stimme ich dem Kollegen Kaster ausdrücklich zu. Wir müssen auf Sprachenvielfalt und auf
die Notwendigkeit hinwirken, die Sprachen innerhalb
der Europäischen Union nicht nur zu akzeptieren, sondern Voraussetzungen dafür zu schaffen, gleichberechtigt miteinander ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es
zuvörderst um die Bürgerinnen und Bürger, aber auch
um die nationalen Parlamente. Gestern haben wir im
Europaausschuss dem für Sprachenvielfalt zuständigen
EU-Kommissar Orban mit auf den Weg gegeben, dass
die Hand des Deutschen Bundestages zur Zusammenarbeit ausgestreckt ist. Sie ist ausgestreckt, weil wir die
demokratische Legitimation von europäischem Handeln
verbessern wollen.
Wir wollen dazu beitragen, dass europäische Politik
bei den Bürgerinnen und Bürgern besser ankommt. Dafür müssen wir als Bundestagsabgeordnete frühzeitig in
die Lage versetzt werden, mit den Dokumenten der
Europäischen Union verantwortungsbewusst umzugehen. Deshalb müssen alle politisch relevanten Dokumente der Europäischen Union auch ins Deutsche und
in alle weiteren Amtssprachen übersetzt werden. Da
kann man nicht mit den Kosten und mit Überbürokratie
argumentieren. Wer beabsichtigt, nationalen Parlamenten innerhalb Europas mehr Verantwortung zu übertragen, der muss ihnen auch die nötigen Instrumente an die
Hand geben. Hier darf man nicht tricksen, wie es die
Europäische Kommission in den vergangenen Jahren leider immer wieder getan hat. Ich sehe den gestrigen Auftritt im Europaausschuss von Kommissar Orban durchaus als ein mutmachendes Zeichen. Jetzt müssen den
Worten konkrete Taten folgen. Der Bundestag wird sehr
genau darauf zu achten haben, wie die Europäische
Kommission in den nächsten Jahren mit den nationalen
Parlamenten umgeht.
({2})
Die Rolle des Deutschen Bundestages sollte sich aber
nicht allein darauf beschränken, einmal eine 45-minütige
Debatte über das Strategieprogramm zu führen. Nein,
jetzt sind vor allem die Fachausschüsse gefragt; denn
rechtzeitig vor der Erarbeitung des Legislativprogramms
der EU-Kommission im Herbst müssen unsere Fachausschüsse sagen, was sie im Einzelnen von der EUKommission erwarten. Das Dilemma, in dem wir uns befinden, ist, dass die EU-Kommission im Gesetzgebungsprozess der EU über das Initiativmonopol verfügt. Sie ist
neben der Bundesregierung unser wichtigster Ansprechpartner. Wir müssen vor allem der Bundesregierung entsprechende Aufträge erteilen, wie sie diesen Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen hat.
Im nächsten Jahr steht eine Reihe von wichtigen Fragen auf der Tagesordnung. Ich will beispielhaft nur zwei
davon nennen. Welche Rolle spielte die Europäische
Kommission bei der Lösung der Verfassungskrise?
Michael Roth ({3})
Wenn alles so erfolgreich weiterläuft, wie es unter der
deutschen Ratspräsidentschaft begonnen hat, dann wird
es beim Gipfel im Juni 2007 ein klares Mandat für eine
Regierungskonferenz zur Lösung der Verfassungskrise
- hoffentlich unter portugiesischer Präsidentschaft - geben. Dann wird es 2008 darum gehen, das Ratifizierungsverfahren in 27 Mitgliedstaaten auf ein erfolgreiches Gleis zu setzen. Hier ist auch die EU-Kommission
gefragt. Ich war in den vergangenen zwei Jahren mitunter enttäuscht, dass von der EU-Kommission - insbesondere von ihrem Kommissionspräsidenten - keine
wegweisenden Impulse und keine innovativen Vorschläge ausgingen. Man hat vielmehr weitgehend gar
nichts getan oder sich darauf beschränkt, bestimmte
Politikfelder stärker in das Bewusstsein der Europäischen Union zu rücken, eine neue Kommunikationsstrategie auf den Weg zu bringen oder Politikfelder - das
war ein weiterer Versuch -, die bislang der Einstimmigkeit unterliegen, in das Mehrheitsprinzip zu überführen.
Dagegen haben wir im Prinzip nichts. Aber wichtig ist
für uns nicht allein, dass die Handlungsfähigkeit, sondern auch die Demokratie in der Europäischen Union gestärkt wird.
({4})
Das geht nur mit dem Verfassungsvertrag und den wegweisenden institutionellen Reformen, auf die sich der
Verfassungskonvent vor einigen Jahren verständigt hat.
Ich finde es nicht besonders überzeugend, dass jetzt
der Kommissionspräsident einige wenige Staats- und
Regierungschefs zu einem Minigipfel einlädt. Jetzt geht
es darum, Gemeinsamkeit zu schaffen und nicht Gegnerschaft zwischen den Staats- und Regierungschefs aufzubauen. Hier muss der Kommissionspräsident eine wichtige Rolle spielen. Aber das darf sich nicht nur auf die
Ausrichtung von Veranstaltungen beschränken. Nein, es
geht auch darum, mit welcher Politik die Kommission
dazu beiträgt, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger in die Gestaltungskraft der Europäischen Union
wächst.
Ich kann nur hoffen, dass die EU-Kommission die
richtigen Lehren aus der verhunzten Bolkestein-Richtlinie gezogen hat; denn es war die EU-Kommission,
die einen marktradikalen Richtlinienentwurf vorgeschlagen hat. Es waren der Deutsche Bundestag und
viele andere nationale Parlamente, die dann gemeinsam
mit dem Europäischen Parlament dafür gesorgt haben,
dass die Dienstleistungsrichtlinie nicht mit Sozialdumping und Beeinträchtigungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer einhergeht. Ganz im Gegenteil: Solidarität und soziale Gerechtigkeit spielen selbstverständlich auch auf EU-Ebene eine ganz entscheidende
Rolle. Dies muss die EU-Kommission in ihrer Gesetzgebung deutlich machen. Das wird sie in 2008 maßgeblich zu belegen haben. Dabei müssen wir ihr offensichtlich ein wenig helfen.
({5})
Darüber hinaus ist es sicherlich auch wichtig, dass
sich die EU-Kommission auf einige wichtige Projekte
beschränkt; denn es geht im nächsten Jahr nicht nur um
das Ratifizierungsverfahren. Es geht auch um die sogenannte Midterm-Review. Das heißt, der gesamte Finanzrahmen der Europäischen Union wird einer kritischen Überprüfung unterzogen. Ich erwarte, dass auch
im Hinblick auf die Gemeinsame Agrarpolitik endlich
der Durchbruch erzielt wird, den wir uns alle wünschen,
nämlich mehr auf Nachhaltigkeit zu setzen.
Ich frage mich auch, welchen Beitrag die Europäische
Union leisten könnte, um aus Landwirten Energiewirte
zu machen, um die erneuerbaren Energien zu fördern
und stärker auf nachwachsende Rohstoffe zu setzen.
Hier ist die Europäische Kommission bislang konkrete
Antworten schuldig geblieben. Die Midterm-Review
wird nicht allein von den Mitgliedstaaten beraten. Hier
ist auch die Europäische Kommission ein ganz zentraler
Akteur.
Eines zum Schluss: Nur wenn wir diese Debatte innerhalb des Bundestages ernst nehmen - und dies nicht
nur auf den Europaausschuss, sondern auch auf die
Fachausschüsse bezogen -, wird uns die EU-Kommission ernst nehmen. Welchen Weg Europa einschlägt, darüber wird auch hier im Deutschen Bundestag entschieden. Dies sollte ein Weg in eine gute Zukunft sein.
Deswegen sollten wir in den nächsten Monaten nicht
müde werden, uns immer wieder konkret mit der EUKommission auseinanderzusetzen und für eine gute Politik im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt erteile ich Jürgen Trittin das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erste
Bemerkung. Es ist richtig, dass wir heute über die Strategieplanung der EU-Kommission in 2008 sprechen.
Dies sollte ein Ansporn sein, lieber Herr Link, dass wir
uns vornehmen, über das Legislativprogramm spätestens
im September genauso angemessen zu diskutieren. Wir
sollten untereinander verabreden, dass wir im Februar
nächsten Jahres, also nicht erst im April wie in diesem
Jahr, über die Strategieplanung für das kommende Jahr
reden.
Zweite Bemerkung. Ich glaube, dass das Jahr 2008 in
besonderer Weise von der Frage geprägt wird, wie es mit
Europa weitergeht. Ich finde, man kann es sich nicht so
einfach machen. Weder kann man so tun, als hätte es die
negativen Volksentscheide in den Niederlanden und in
Frankreich nicht gegeben, noch kann man so tun, als
hätte es die Volksabstimmung und auch die Parlamentsbeschlüsse in gut zwei Dritteln der Europäischen Union,
die diese Verfassung bejaht haben, nicht gegeben.
Wir müssen aus diesem Dilemma herauskommen. Ich
glaube, dass wir das nur dann schaffen, wenn wir uns be9574
wusst machen, dass wir der EU eine neue Grundlage geben müssen, und das muss - deswegen ist das Jahr 2008
von Bedeutung - vor 2009 geschehen. Denn wollen wir
wirklich, wenn 2009 die Europawahlen stattfinden, mit
diesem Vertragswerk - übrigens mit dem Umstand, dass
die gesamte dritte Säule der Zusammenarbeit zwischen
Justiz und Polizei weitestgehend der Kontrolle des Parlaments entzogen ist - vor die Bürgerinnen und Bürger treten und ihnen sagen: Das ist demokratischer als das,
was mit der Grundrechtecharta des Verfassungsvertrags
versucht worden ist.? Ich hielte das für ganz schlecht.
({0})
Sowenig ich möchte, dass sich die Kommission sozusagen stilbildend in diese Verfassungsdebatte einmischt, Herr Roth - das ist schon Sache der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der
nationalen Parlamente -, so erwarte ich doch von der
Kommission, dass sie zum Beispiel in der Migrationspolitik oder der Justiz- und Innenpolitik nicht länger
den Umstand umgeht, dass der Verfassungsvertrag und
damit die darin vorgesehenen Elemente - nämlich die
stärkere Beteilung des Europäischen Parlamentes und
die Bindung der europäischen Grundrechte an eine übrigens alles andere als neoliberale Grundrechtecharta nicht verabschiedet worden sind und in der Form auch
nicht verabschiedet werden. Das erwarte ich von der
Kommission. Ich erwarte eher weniger als mehr Aktivität.
({1})
Dritte Bemerkung. Ich glaube, dass es richtig ist, dass
sich die Kommission um das Thema Energie und Klimawandel kümmern will. An dieser Stelle gibt es in der
Tat insbesondere für die Kommission viel zu tun, weil
der Europäische Rat der Kommission die mit diesem
Thema verbundenen Fragen sozusagen einfach vor die
Tür gekippt hat. Sie mögen - inspiriert vom Werbeslogan des Praktiker-Baumarkts 20 Prozent auf alles außer
Tiernahrung - jeweils 20 Prozent mehr erneuerbare
Energien, Energieeffizienz und Einsparungen bei den
Treibhausgasen beschließen. Sie haben es im Rat aber
versäumt, mit den Mitgliedstaaten eine Einigung darüber
zu erzielen, wer von ihnen bis 2020 dieses 20-ProzentZiel umsetzt. Sie haben es nicht geschafft, festzulegen,
in welchen Bereichen die erneuerbaren Energien um
20 Prozent gesteigert werden sollen. Das wird man
schließlich nicht gleichermaßen über Stromerzeugung,
Wärme und Antriebe machen.
Das alles haben Sie der Kommission vor die Tür gekippt. Ich wünsche mir, dass der anstehende Prozess einer vernünftigen Verteilung dieser Aufgaben von der
Bundesrepublik Deutschland in der Form begleitet wird,
dass sie ihre Lasten angemessen schultert. Angesichts
der Treibhausgasemissionen, die in Deutschland immer
noch über dem europäischen Durchschnitt liegen, heißt
das, dass Sie mehr zu tun haben als andere Mitgliedstaaten.
({2})
Vierte Bemerkung. Sie haben recht, Herr Ulrich. Die
Lissabonstrategie muss wieder auf ihre ursprüngliche
Idee zurückgeführt werden, nämlich ein wettbewerbsfähiges, soziales und nachhaltiges Europa zu schaffen. Ich
meine aber, dass mit der Kommission der Falsche beschimpft wird. Es war - man höre und staune - Herr
Verheugen, der Industriekommissar, der Deutschland gemahnt hat, in der Frage der Mindestlöhne endlich die nationalen Spielräume zu nutzen. Es ist eine Tatsache, dass
zwölf der 15 alten EU-Staaten bereits entsprechende Regelungen haben, aber Deutschland zu den drei Staaten
gehört, in denen das nicht der Fall ist. An dieser Stelle
hat sich Deutschland zu bewegen. In der Frage der Mindestlöhne muss die Bundesrepublik Deutschland endlich
europakompatibel werden.
({3})
Erlauben Sie mir noch eine letzte Bemerkung, Frau
Präsidentin. Manchmal sollte man in Europa auch etwas
feiern. Nächstes Jahr im Mai jährt sich zum zehnten Mal
der Beschluss zur Einführung des Euro. Das ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen, die viele in Europa so
nicht für möglich gehalten hätten. Vielleicht sollten wir
dieses Datum beim Arbeiten 2008 positiv und feiernd
begleiten.
Vielen Dank.
({4})
Thomas Silberhorn gebe ich jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist aus meiner Sicht zu begrüßen, dass die
Kommission ihre erst noch geplanten Vorhaben zu einem so frühen Zeitpunkt vorlegt, ihre Prioritäten benennt und wir im Bundestag zu einem so frühen Zeitpunkt die Gelegenheit haben, diese Initiativen - auch im
Hinblick auf das Tagesgeschäft der Subsidiaritätsprüfung, um die wir uns seit Monaten in diesem Hause bemühen - wahrzunehmen und kritisch zu überprüfen.
Ich denke, diese Debatte muss der Auftakt für eine
enge Abstimmung zwischen Bundestag und Bundesregierung über das sein, was die Kommission, was die Europäische Union insgesamt im Jahr 2008 vorhat. Ich
stelle mit einiger Genugtuung fest, dass wir in Vorbereitung dieser Debatte zum ersten Mal ausreichend und viel
intensiver informiert worden sind, als das bisher der Fall
war, weil unsere Zusammenarbeitsvereinbarung mit der
Bundesregierung im letzten Jahr in Kraft getreten ist und
wir deswegen beispielsweise die interne Stellungnahme
der Bundesregierung hinsichtlich der Planungen der
Kommission ebenso erhalten haben wie die informelle
Antwort der Kommission auf die Stellungnahmen der
Mitgliedstaaten. Ich denke, das ist ein Fortschritt.
Ich bin allerdings auch der Auffassung, dass wir diese
Debatte mit Blick auf die Details führen müssen. Wir
sollten die Strategieplanungsdebatte nicht zu einer Art
Regierungserklärung zur Europapolitik werden lassen,
und wir müssen uns dazu durchringen, in der Europapolitik nicht in Grundsatzdebatten abzugleiten. Wir müssen
uns vielmehr mit den Details des Tagesgeschäfts auseinandersetzen. Das geht nicht nur den Europaausschuss,
sondern alle Fachausschüsse des Deutschen Bundestages
an.
Ich werde mich deshalb auf die Strategieplanung der
Kommission für 2008 beschränken und möchte zum methodischen Vorgehen der Kommission zwei kritische
Anmerkungen machen. Zum einen kündigt die Kommission eine Fülle neuer Rechtssetzungsakte an, ohne mit
einem Wort darauf einzugehen, auf welche Rechtsgrundlage sie sich stützt und wie das Ganze unter Gesichtspunkten der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu
bewerten ist. Wenn darunter Vorschläge wie ein Aktionsplan für den städtischen Nahverkehr sind, müssen bei
uns alle Alarmglocken läuten. Das ist unter Gesichtspunkten der Subsidiarität sehr kritisch zu bewerten. Ich
meine, es wäre eine Überlegung wert, dass die Kommission nicht erst bei Vorlage des Legislativ- und Arbeitsprogramms im Herbst, sondern schon bei der Vorlage der Strategieplanung ein Wort darüber verliert, auf
welche Kompetenzgrundlagen sie sich stützt und wie
ihre Initiativen unter den Gesichtspunkten der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu bewerten sind.
({0})
Zum anderen ist aus methodischer Sicht zu kritisieren, dass die Kommission einige Rechtssetzungsvorhaben in Bereichen ankündigt, für die Konsultationsfristen
gelten, die die Kommission selbst gesetzt hat. Wir haben
das bereits im letzten Jahr bei der Transparenzinitiative
erlebt. Es kommt jetzt wieder vor, dass die Kommission
trotz einer Konsultationsphase zum Grünbuch zum Verbraucherschutz und trotz einer Konsultationsphase zum
Weißbuch zu Sozialdienstleistungen ganz konkrete
Rechtssetzungsvorschläge unterbreitet. Das ist eine
Missachtung, und zwar nicht nur der Regierungen der
Mitgliedstaaten, sondern auch der Parlamente, die wir so
nicht hinnehmen können.
({1})
Es ist eine Frage der Berechenbarkeit, dass die Kommission die Konsultationsfristen, die sie selber setzt, tatsächlich einhält. Denn sonst wird die Einladung zur Mitwirkung zur Farce.
Lassen Sie mich hinsichtlich der Inhalte der Strategieplanung der Kommission zwei Irrwege struktureller Natur - das sind sie aus meiner Sicht - aufgreifen, über die
diskutiert werden muss. Zum einen spricht aus diesem
ganzen Dokument, dass die Plage der Institutionitis
weiter um sich greift. Selbst die Bundesregierung - dafür bin ich sehr dankbar, Herr Staatsminister - spricht in
ihrer Stellungnahme von einem Automatismus von
Agenturgründungen. Ich denke, diese Tendenz wird
völlig zu Recht kritisiert.
Die Kommission verharmlost das, indem sie davon
spricht, sie würde eine Personaleinsparung durch
Externalisierung vornehmen. Das ist nicht nur eine
Ausgliederung von Personal, sondern da werden
schlichtweg ganze Aufgaben der Kommission auf Sonderbehörden verlagert, mit gewaltigen finanziellen und
personellen Konsequenzen. Das ist eine Entwicklung,
die wir so nicht hinnehmen sollten. Beispielsweise werden gleich zwei Exekutivagenturen zur Unterstützung
des Europäischen Forschungsrates vorgeschlagen. Mit
diesem Beispiel möchte ich daran erinnern: Wir wollten
ein Netzwerk von Forschern und kein Geflecht von Beamten in der Europäischen Union.
({2})
Deswegen müssen wir dieser Tendenz Einhalt gebieten
und der Gründung neuer Sonderbehörden und Agenturen
nach Zahl, Personal- und auch Finanzausstattung Grenzen setzen.
Ein Zweites, das ich hier ansprechen möchte. Die
Kommission nimmt eine geradezu hemmungslose Ausweitung ihrer finanziellen und personellen Ressourcen vor. Allein 890 neue Stellen im Jahr 2008 werden
vorgeschlagen. Der Mittelansatz wird insbesondere für
Sonderbehörden erhöht. Auch das ist so nicht hinzunehmen, weil jede Analyse fehlt, wo Einsparungspotenzial
liegt. Auch wir im Bundestag müssen Einsparungen vornehmen, und es kann nicht angehen, dass wir uns in unseren Haushaltsberatungen darum bemühen, während
auf europäischer Ebene Zahlungen sozusagen nach politischen Plänen eingefordert werden; der Ball wird dabei
an die nationalen Parlamente zurückgespielt, die das
Geld beschaffen sollen. Auch diese Arbeitsteilung,
meine ich, können wir so nicht fortsetzen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir werden im Herbst die Gelegenheit haben, diese Strategieplanung zu konkretisieren, wenn es um das Legislativ- und Arbeitsprogramm und um die Haushaltsberatungen geht. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, in allen
Fachausschüssen in Zusammenarbeit mit den Kollegen
im Europäischen Parlament und natürlich auch mit der
Bundesregierung konkrete Vorschläge für das weitere
Vorgehen und die Planungen für 2008 zu erarbeiten.
Ein Allerletztes, wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin.
Ich glaube, zufrieden kann ich erst dann sein, wenn die
Planungen für politische Vorhaben künftig nicht von
Verwaltungen vorgelegt werden, sondern, wie wir es auf
nationaler Ebene gewohnt sind, die politische Agenda
von Parlamenten und Regierungen gemacht wird. Deswegen muss ich meine alte Forderung wiederholen: Das
Initiativmonopol ist ein Anachronismus; wir müssen
noch damit leben,
Für ein Allerletztes sind das ziemlich viele Nebensätze, Herr Kollege.
- aber wir sollten es bei Gelegenheit abschaffen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion ist der letzte
Redner in dieser Debatte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Roth hat schon die Fachausschüsse angesprochen.
Deshalb möchte ich zu Beginn kurz auf das Thema
Klimaschutz, das als politische Priorität ausgerufen
wurde, eingehen.
Es ist gut und richtig, dass man sich dieses Themas
angenommen hat, auch als Schwerpunkt. Nur sind leider
die Aussagen, die man in der Strategieplanung für das
Jahr 2008 findet, zu vage,
({0})
um wirklich glauben zu können, dass der Bereich Klimaschutz eine so herausgehobene Stellung, durch die man
auch gemeinsame Positionen erreichen kann, haben
wird.
Die EU ist für circa 20 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Die europäische und insbesondere
deutsche Technologie im Bereich der erneuerbaren Energien würde die Möglichkeit einer Vorreiterrolle der EU
eröffnen. Es wäre erforderlich und aus europäischer
Sicht auch wünschenswert, dass wir da endlich einen
weiteren Schritt vorankommen.
({1})
Die Beschlüsse des EU-Umweltrates im März waren
leider nicht der große Durchbruch, als der sie oftmals
verkauft worden sind. Diese Beschlüsse und Ergebnisse
waren zwar richtig, aber sie gingen bei weitem nicht
weit genug. Wir hätten uns sehr viel mehr gewünscht.
Herr Trittin hat es kurz angesprochen: Entscheidend ist,
wie viel Prozent Kohlendioxid jeder einzelne Mitgliedstaat einspart. Es hilft uns nichts, wenn wir hier nur ein
gemeinsames Ziel vereinbaren, Deutschland beispielsweise 40 Prozent einsparen würde und die anderen vielleicht noch eine Schaufel drauflegen. Am Ende sparen
wir dann nicht ein, sondern erreichen das genaue Gegenteil. Deswegen müssen wir auch Überlegungen anstellen, welche Sanktionsmechanismen dafür unter Umständen vorgesehen werden können.
({2})
Sonst würde das zum einen zulasten des Klimas gehen,
und zum anderen würde die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands innerhalb der EU darunter leiden. Deswegen können wir das nicht hinnehmen.
({3})
Mit Blick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der
Europäischen Union muss der Klimaschutz so betrieben werden, dass man pro eingesetztem Euro so viel
Treibhausgase wie möglich einsparen kann. Hier sollte
man endlich lernen, dass es sinnvoll sein kann, auch über
Ländergrenzen hinweg gemeinsame Anstrengungen zu
unternehmen. Es kann zum Beispiel vernünftig sein, regionale und geografische Besonderheiten zu nutzen. Das
kann geschehen, indem Windenergie vielleicht mehr im
Norden produziert wird, Biomasse eher in landwirtschaftlich geprägten Gegenden und Solarenergie in
Südeuropa. Das wäre ein möglicher Weg, um dahin zu
kommen, wo wir hinkommen wollen, nämlich maximalen Klimaschutz über Ländergrenzen hinweg zu ermöglichen. Dafür ist, glaube ich, die EU genau die richtige
Instanz.
({4})
Aber es handelt sich nicht um eine Aufgabe auf EUEbene, sondern um eine globale. Daher ist es die Aufgabe der EU-Kommission und der deutschen Ratspräsidentin, Frau Merkel, sich stärker dafür einzusetzen, dass
sich die großen CO2-Emittenten sowie die Entwicklungs- und Schwellenländer an Klimaschutzkonzepten
aktiver beteiligen.
Mein Wunsch wäre, dass man im Bereich Klimaschutz und Entwicklungshilfe vielleicht gemeinsame
Strategien findet und dass nicht immer nur jeder für sich
mit Scheuklappen seine eigenen Kämpfe austrägt. Man
sollte globale Strategien entwickeln, die tatsächlich zu
mehr Klimaschutz führen. Ich hoffe, die EU kann dies
leisten.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Herbert
Schui, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für
Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf
7 Prozent
- Drucksache 16/4485 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort für Die
Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Sonntag fand am Brandenburger Tor ein großes internationales Fest aus Anlass des türkischen Tages des
Kindes statt. Eine halbe Million großer und kleiner Kinder feierten zusammen. Die Woche des Kindes in der
ARD ist zu Ende gegangen. Die höchsten Sympathiewerte aller Ministerinnen und Ministern der Bundesregierung in den Umfragen hat seit Wochen Frau von der
Leyen.
({0})
Alles ist also gerüstet; die Kinder stehen im Mittelpunkt
unserer Wahrnehmung.
Am Montag fand sich eine kurze Auswertung des Berichtes des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe mit der Überschrift Alarmierende Zahlen in der Presse. Innerhalb eines Jahres stieg
die Zahl der von Sozialleistungen abhängigen Kinder
unter 15 Jahren um durchschnittlich 10 Prozent. In den
reichen Südstaaten sogar überdurchschnittlich: in Bayern um 12 Prozent und in Baden-Württemberg um
13 Prozent. Im Jahre 2006 haben 173 000 mehr Kinder
und Jugendliche von Sozialleistungen leben müssen als
im Jahre 2005.
Ich denke, wir haben hier einen großen Widerspruch
in der Wahrnehmung von verschiedenen Lebensrealitäten, gerade in Bezug auf wachsende Armut von Familien
und Kindern. Wie reagiert und wie agiert die Bundesregierung? Macht sie wirklich eine kinderfreundliche Politik? Die Antwort liegt auf der Hand. Man muss klipp
und klar sagen: Nein, leider nicht.
({1})
Nehmen wir nur den Bereich der Steuerpolitik. Die
Regelung zur Entfernungspauschale wurde so verändert,
dass Familien, in denen Eltern berufstätig sind und eine
Anfahrt zur Arbeit von unter 20 Kilometern haben, um
durchschnittlich 500 Euro pro Jahr mehr belastet werden. Die Bezugsdauer des Kindergeldes ist verkürzt
worden. Die Mehrwertsteuer wurde sage und schreibe
um 3 Prozentpunkte erhöht.
Klar ist: Durch diese gesamten Maßnahmen wurde
das Budget von Familien, also von Haushalten, in denen
Kindern leben, massiv beschränkt. Die Belastung des
Familienbudgets bedeutet immer, dass weniger Geld für
Kinder übrig bleibt. Selbst Maßnahmen wie die jetzt notwendigerweise zu diskutierende Verbesserung der Kinderbetreuung durch die Neuerrichtung von Krippen soll
auf Vorschlag der SPD - sehr genial - von den Kindern
und Jugendlichen letztendlich selber finanziert werden.
Denn die SPD will eine anstehende Kindergelderhöhung
aussetzen und das eingesparte Geld für den Ausbau von
Krippenplätzen verwenden.
({2})
Familien sollen das, was für sie notwendig ist, selber finanzieren.
Zum Glück sind die Menschen in diesem Lande nicht
mehr bereit, all dies über sich ergehen zu lassen. Es gibt
eine Kampagne des Verbandes Alleinerziehender Mütter
und Väter. Diese wird unterstützt durch die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Familienorganisationen. Dazu
gehören der Familienbund der Katholiken, der Deutsche
Familienverband, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen und, wie gesagt, der Verband
Alleinerziehender Mütter und Väter. Sie sagen Nein zur
Spielzeugsteuer, Nein zur Windelsteuer, Nein zur Turnschuhsteuer und Nein zur Flötensteuer.
Wenn Sie es bei Ihrer Politik nicht bei Worten - bei
der Ankündigung, etwas für Kinder zu tun - belassen
wollen, können und müssen Sie endlich Zeichen setzen.
Es wäre ein wichtiges Zeichen, für einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz auf Waren und Dienstleistungen für
Kinder einzutreten.
({3})
Wir fordern erstens, dass Sie endlich den Spielraum
nutzen und das tun, was möglich ist. Wir wissen, dass
die Bedingungen für die Anwendung eines ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes letztendlich durch eine europäische Richtlinie diktiert werden. Aber selbst das, was gemäß dieser Richtlinie möglich ist, nutzt Deutschland
nicht aus.
Autokindersitze sind zu Recht gesetzlich vorgeschrieben, werden aber mit einem Mehrwertsteuersatz von
19 Prozent belegt. Bei vielen Artikeln kann man wirklich sagen: Das wäre eine steuerliche Maßnahme, eine
Form der Subventionierung, die zielgerichtet ist; denn es
wird sich kein Erwachsener in einen Autokindersitz setzen oder Babykleidung anziehen. Nein, hier die Steuern
zu senken, ist eine Maßnahme, die wirklich zielgerichtet
ist.
({4})
Wir fordern Sie auf, endlich aktiv zu werden, anstatt
Hummer und Langusten weiterhin mit einem ermäßigten
Mehrwertsteuersatz von nur 7 Prozent zu belegen:
Nutzen Sie also den gegebenen Spielraum aus!
Agieren Sie auf europäischer Ebene gerade jetzt, in
der Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, anders
als bisher!
Am 15. Mai wird aus Anlass des Internationalen Tages der Familie die Vorsitzende der Intergroup Familie
und Schutz der Kinder des Europäischen Parlaments in
Brüssel eine Pressekonferenz veranstalten. Dort wird die
Frage eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kinderartikel eine wesentliche Rolle spielen. Wir fordern
Sie auf, die Bemühungen zu unterstützen. Lassen Sie uns
gemeinsam den Mut haben, dafür zu werben! Die Tschechische Republik war sich im vergangenen Jahr nicht zu
schade, dafür zu kämpfen und einen Windelstreit mit
der EU zu führen.
Wir fordern Sie auf: Werden Sie aktiv! Machen Sie
das, was auf nationaler Ebene möglich ist! Werben und
streiten Sie zugleich auf europäischer Ebene dafür!
Seien Sie nicht wie bisher der schärfste Gegner, sondern
streiten Sie dafür, dass wir hier etwas für Kinder und Jugendliche tun können!
Ich danke Ihnen.
({5})
Es spricht jetzt Manfred Kolbe für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Namen meiner Fraktion erkläre ich hiermit, dass wir
den Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen werden, ja,
ablehnen müssen,
({0})
weil er so nicht durchführbar ist, weil er schlicht und ergreifend handwerklicher Murks ist.
({1})
Wir lehnen ihn nicht ab, weil wir etwas gegen Kinder haben. Im Gegenteil: Wir betreiben eine Politik für Kinder. Sie, Frau Höll, haben dankenswerterweise festgestellt, dass die Koalition das Thema besetzt hat und dass
unsere Bundesfamilienministerin, Ursula von der Leyen,
große Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Vielen
Dank dafür, dass das auch von Ihrer Seite einmal anerkannt wird!
({2})
Ihr Antrag ist wirklich lieblos formuliert. Im Antrag
wird zunächst übersehen, dass schon heute eine ganze
Reihe wichtiger Kinderartikel dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt. Sämtliche Nahrungsmittel, natürlich auch jene für Kinder, Milchprodukte, Süßigkeiten
und Schokolade - für Kinder nicht ganz unwichtig -,
Bücher und Malbücher unterliegen schon heute dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Ob das ausreichend ist,
steht auf einem anderen Blatt; aber man hätte es im Antrag einmal festhalten können.
Was sollen denn die weiteren Waren sein, die unter
den nicht weiter spezifizierten Begriff Produkte
für
Kinder fallen? Was soll noch darunter fallen? Sollen
auch CDs von Tokio Hotel, Videospiele, Gameboys,
MP3-Player, iPods nano usw. unter diese Regelung
fallen? Über all das muss man sich doch einmal unterhalten, wenn man einen handwerklich seriösen Antrag
vorlegen möchte.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll zulassen?
Ich bin sofort fertig. - Sollen auch hochwertige Puppen, Plüschtiere, Modellautos und Modelleisenbahnen
darunter fallen? Das würde vielleicht den einen oder anderen Sammler erfreuen, aber nicht unbedingt die Kinder.
Frau Kollegin Höll, ich hätte zumindest erwartet, dass
Sie nicht einfach nur Artikel
für Kinder hinschreiben, sondern dass Sie sich auch den einen oder anderen
Gedanken darüber machen, welche Artikel das sind.
Dann hätte man in seriöser Weise darüber reden können.
Frau Höll, Ihre Zwischenfrage.
Herr Kollege Kolbe, wahrscheinlich können Sie meiner Aussage zustimmen: Wenn wir angefangen hätten,
einzelne Artikel aufzuführen, hätten Sie heute hier gestanden und gesagt, dass wir diesen Artikel vergessen
haben und jener nicht unter die Regelung fallen darf. Ich
glaube also, dieses Argument zählt überhaupt nicht.
Ich möchte Sie fragen, wie Sie sich erklären, dass
zum Beispiel der saarländische Ministerpräsident Herr
Müller noch 2005 erklärt hat, ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Kinderwaren und -dienstleistungen wäre
gut und notwendig, und dass auch Frau Merkel in der
Presse signalisiert hat, dass sie sich mittelfristig ein solches Vorgehen vorstellen könne. Wir reden natürlich nur
über Kinderkleidung und über Sportsachen, die für den
Unterricht notwendig sind. Wir könnten uns dabei
durchaus an den Regelungen im EU-Staat Großbritannien orientieren, wo auf Kindersachen und -schuhe für
Kinder bis 10 Jahren nicht der normale Mehrwertsteuersatz erhoben wird. Damit wäre jeglicher Missbrauch
ausgeschlossen.
Ich bleibe dabei: Der Antrag ist lieblos und schlampig
formuliert. Zur mittelfristigen Perspektive sage ich
gleich etwas. Im Augenblick sollten Sie aber diesen
schlampigen Antrag zurückziehen und nachsitzen. Danke.
Lassen Sie mich zweitens noch etwas zu den europarechtlichen Vorgaben sagen. Auch der Linken ist ja
nicht entgangen, dass wir Mitglied der Europäischen
Union sind und europäische Vorgaben beachten müssen.
In diesem Fall gilt die europäische Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Art. 98 dieser Richtlinie regelt die Grundsätze zur Anwendung der maßgeblichen ermäßigten
Steuersätze in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Gemäß Art. 98 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen oder zwei
ermäßigte Steuersätze anwenden. Diese ermäßigten
Steuersätze sind aber grundsätzlich nur auf die im
Anhang III der Richtlinie ausdrücklich benannten Lieferungen und Dienstleistungen anwendbar.
Schaut man sich nun diesen Anhang III mit dem Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen an, so stellt man fest, dass darin keine Kinderkleidung, keine Spielsachen usw. enthalten sind.
({0})
Ob das richtig ist, stelle ich einmal in den Raum, aber
das ist im Augenblick geltende europarechtliche Vorgabe,
({1})
die wir als deutscher Gesetzgeber zur Kenntnis zu nehmen haben. Diese hätten Sie auch in Ihrem Antrag zur
Kenntnis nehmen müssen, wenn Sie seriös sein wollen.
Ob das sachgerecht ist oder nicht, stelle ich, wie gesagt,
in den Raum.
Die Möglichkeit, auf Kinderprodukte generell einen
ermäßigten Steuersatz anzuwenden, besteht somit für die
Bundesrepublik Deutschland im Augenblick nicht.
Lassen Sie mich drittens und abschließend zur mittelfristigen Perspektive kommen. Wie könnte eine Lösung
der Problematik aussehen? Meine Fraktion trägt sich in
der Tat bereits seit längerem mit dem Gedanken, einmal
grundsätzlich und nicht nur für einzelne Produkte die
Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände einer Überprüfung zu unterziehen. Wenn man
sich diese mehrere Seiten lange Liste anschaut, dann
stellt sich einem in der Tat die Frage: Brauchen wir wirklich eine so detaillierte Kasuistik? Diese stellt ja regelmäßig eine Fundgrube für Büttenredner im Karneval dar,
da sich anhand dieser die Regelungswut des Steuergesetzgebers ins Lächerliche ziehen lässt. So unterliegen
beispielsweise dem ermäßigten Steuersatz gemäß laufender Nummer 22 der Liste:
Johannisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten
sowie andere pflanzliche Waren ({2}) der hauptsächlich zur
menschlichen Ernährung verwendeten Art, anderweit weder genannt noch inbegriffen; ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr
Das ist eine sehr klare Regelung, die Sie sicherlich alle
verstanden haben. - Es ist klar, hierbei handelt es sich
um etwas zu viel Regelungswut. Vielleicht könnten wir
uns das einmal vornehmen.
Herr Kollege, möchten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll zulassen?
Ja, bitte, immer.
Bitte, Frau Höll.
({0})
Ich möchte nicht meine Redezeit verlängern, ich
möchte nur eine klare Antwort auf meine Frage, ob Sie
bereit sind, auf europäischer Ebene dafür zu streiten,
dass der Katalog erweitert wird. Ja oder nein? Die Frage
lässt sich also ganz einfach beantworten.
Frau Höll, ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass
wir vielleicht einmal über diesen Katalog nachdenken
sollten. Ich kann das jetzt nicht stellvertretend für alle
versichern, aber ich meine, wir sollten uns diesen Katalog einmal anschauen. - Danke.
Wenn man sich diesen Katalog durchliest, stellt man
fest und muss man zugeben, dass doch der eine oder andere Wertungswiderspruch in ihm enthalten ist. So
wäre zu fragen, warum Musik-CDs besser als Babywindeln behandelt und Arzneimittel höher als Tierfutter besteuert werden.
Es ist aber keine einfache Aufgabe, diesen Katalog
stimmiger zu machen und hier zu einer sachgerechten
Lösung zu kommen. Ich erinnere nur an unseren letzten
Versuch, Herr Diller. Das war der Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugesetzes im Jahr 2002.
({0})
Ich nenne nur die Kombinationsartikel und die Überraschungseier. Das alles ist dann relativ kläglich gescheitert.
({1})
Liebe Kollegin von der Linken, es ist keine ganz einfache Aufgabe, das einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen und zu einem stimmigen Ergebnis zu kommen.
({2})
Aber wir sollten diesen Versuch einmal wagen, und zwar
im Rahmen der europäischen Vorgaben und im Rahmen
der haushaltsmäßigen Möglichkeiten. Für alles ermäßigte Steuersätze zu fordern, dient nicht unseren Kindern. Wir müssen auch darauf achten, einen schuldenfreien Bundeshaushalt vorzulegen; denn das Beste,
was wir für unsere Kinder, für unsere Jugend, für die
kommende Generation tun können, ist, möglichst schnell
zu einem schuldenfreien Bundeshaushalt zu kommen.
Das sollte auch die Linke einsehen.
In diesem Sinne wird meine Fraktion heute diesen
Antrag ablehnen. Er ist schlampig und handwerklich
schlecht gearbeitet.
({3})
Wir werden uns mittelfristig der Liste der Gegenstände
zuwenden, die einem ermäßigten Steuersatz unterliegen.
Danke schön.
({4})
Ich gebe jetzt dem Kollegen Dr. Volker Wissing das
Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei der Einführung des Umsatzsteuersystems zum
1. Januar 1968 hat der Gesetzgeber ein Gesamtkonzept
für alle Bereiche des täglichen Lebens entwickelt. Das sind die Worte der Bundesregierung in der Antwort
auf eine Anfrage der FDP-Fraktion. Man fragt sich: Was
ist denn ein Gesamtkonzept für alle Bereiche des täglichen Lebens?
({0})
Man stellt sich auch die Frage: Warum müssen nach Ansicht des Gesetzgebers Gänsestopfleber und Trüffel steuersubventioniert werden, Kinderwindeln dagegen nicht?
Vor ziemlich genau einem halben Jahr hat die FDP im
Bundestag einen Antrag gestellt. Ich darf Ihnen daraus
einmal vorlesen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Katalog der ermäßigt und normal
besteuerten Gegenstände unter Einbeziehung der
europäischen Ebene zu überarbeiten...
Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass
unsinnige Subventionstatbestände im Mehrwertsteuersystem gestrichen werden müssen.
({1})
Sie, Frau Kollegin Höll, haben dem nicht zugestimmt.
({2})
Da fragt man sich doch: Was wollen Sie eigentlich? Sie
ziehen hier eine Show ab, machen eine große Nummer,
aber wenn es im Ausschuss konkret wird, dann ducken
Sie persönlich, Frau Höll, sich weg.
({3})
Sie, Herr Kollege Kolbe, haben mit Nein gestimmt
({4})
und erzählen uns heute, dass Ihre Fraktion genau das
will, was sie im Finanzausschuss und hier im Bundestag
abgelehnt hat.
So kann man das nicht machen.
({5})
Das ist jedenfalls das Gegenteil von glaubwürdiger
Finanzpolitik.
({6})
Die letzte Änderung des Mehrwertsteuerrechts hätte
die Chance geboten, eine umfassende Reform, auch
struktureller Art, durchzuführen. Aber Sie von der Großen Koalition können keine Steuern reformieren. Sie
schaffen das in keinem Bereich, auch nicht in diesem.
Sie beschränken sich auf Steuererhöhungen.
({7})
Es hätte Ihnen gut angestanden, wenn Sie nicht nur auf
die Einnahmeseite geschaut hätten, sondern wenn Sie
einmal Kraft und Stärke demonstriert und diesen Kraftakt geleistet hätten. Jeder weiß, dass das nicht leicht ist.
Sie hätten also die Chance gehabt, unser Mehrwertsteuersystem den Lebensumständen der Menschen im Lande
anzupassen. Die Chance haben sie vertan. Steuern zu erhöhen ist eben einfacher, als Steuerreformen durchzuführen.
Auf welchem Niveau sich der politische Gestaltungswille dieser Koalition bewegt hat, zeigt, für welche Produkte Sie Änderungen vorgenommen haben. Da
verkündet die Bundesregierung mit BMF-Schreiben
vom 16. Oktober 2006, dass - ich zitiere - genießbare
Schweineohren, auch wenn als Tierfutter verwendet,
fortan dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen.
Getrocknete Schweineohren, die nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind, unterliegen dem vollen
Satz. - Das ist der Gestaltungswille, den Sie aufbringen!
Meine Damen und Herren, es ist einfach nicht ehrlich,
wenn Sie im Ausschuss gegen das votieren, was Sie hier
ankündigen. Wir werden Sie beim Wort nehmen. Wir
werden darauf zurückkommen, und wir werden sehen,
ob Sie sich an das, was Sie hier gesagt haben, gebunden
fühlen.
Ich weiß nicht, welches Gesamtkonzept des täglichen
Lebens die Menschen in Deutschland nach Auffassung
von SPD und CDU/CSU haben sollen. Dass getrocknete
Schweineohren ein Grundnahrungsmittel sind, ist - jedenfalls für mich - bis dato neu. Aber vielleicht gibt es
in den Reihen der Koalition eine gewisse Präferenz für
diese Produkte. Wir wissen es nicht.
Es ist symptomatisch für unser Land, dass über ermäßigte Umsatzsteuersätze nicht die Politik, sondern die
Verwaltung entscheidet. Die Verwaltung macht hier
Finanzpolitik, und die Politik verwaltet. Das ist eine sehr
bedenkliche Entwicklung.
Die mantraartige Ausrede der Bundesregierung, man
könne das gar nicht ändern, weil Europa davorstehe, ist
ebenso inkonsequent wie falsch; denn es ist wohl unbestritten, dass die Bundesregierung - wer, wenn nicht sie? Einfluss auf die Regelungen auf europäischer Ebene ausüben kann. Es bestätigt sich wieder einmal: Steuern erhöhen können Sie; Steuerreformen schaffen Sie nicht.
Diese Koalition hat große Mehrheiten bei einem minimalen Gestaltungswillen.
Ich will Sie noch an etwas erinnern: Damals, am
1. Januar 1968, als dieses unsinnige Umsatzsteuersystem
eingeführt wurde, regierte in Deutschland eine Große
Koalition. Das ist die Bestätigung dafür, dass in der
Steuerpolitik eine Große Koalition für großen Mist steht.
({8})
Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Lydia
Westrich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass das Mehrwertsteuerrecht sehr kompliziert ist, hat
man an den Beispielen, die Herr Wissing und Herr Kolbe
eben angeführt haben, leicht erkennen können. Dieses
Recht ist wirklich nicht leicht zu durchschauen. Deswegen ist es verständlich, dass Bürgerinnen und Bürger immer wieder nachfragen, ob für das eine oder andere Produkt nicht ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz oder gar
eine Befreiung gelten sollte.
Allerdings muss man sich schon über die blamable
Unkenntnis einer Bundestagsfraktion wundern. Immerhin hat sogar ein ehemaliger Finanzminister, der viel auf
europäischer Ebene herumgetanzt ist, diesen Antrag mit
unterzeichnet. Obwohl Herr Kolbe es Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, schon einmal
erklärt hat, sage ich noch einmal - es ist etwas zum
Weitersagen -: Das Mehrwertsteuerrecht gehört zum
harmonisierten Gemeinschaftsrecht. Die entsprechenden Grundsätze können wir nicht so einfach ändern. Das
gilt vor allem für die ermäßigten Steuersätze in den Mitgliedstaaten der EU.
Die Spielräume der einzelnen Länder sind vor vielen
Jahren, 1968 - Herr Wissing hat darauf hingewiesen -,
festgelegt worden; sie sind bindend. Deutschland hat
sich vor Jahren entschieden, dass bei verschiedenen Gütern ein ermäßigter Steuersatz gilt: nicht nur bei Grundnahrungsmitteln, sondern insgesamt bei Lebensmitteln
- vielleicht können Sie sich noch an den Streit darüber
erinnern, ob ein Überraschungsei ein Lebensmittel oder
ein Spielzeug ist -, bei Kulturgütern, bei Büchern, bei
landwirtschaftlichen Erzeugnissen und bei anderem.
Die Liste dieser Güter ist optional. Das heißt, ermäßigte Mehrwertsteuersätze können, aber müssen nicht
auf die in der Liste festgelegten Produkte angewandt
werden. Seriöserweise kann man also nur fordern, dass
Produkte aus dieser Liste höher besteuert werden; neue
Produkte können dieser Liste aber nicht hinzugefügt
werden. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, wissen das ganz genau. Das hoffe ich wenigstens. Sie haben zumindest angedeutet, dass Sie das wissen.
Sie haben vorhin Tschechien erwähnt: Sie wissen
vielleicht auch, dass die EU-Kommission Aufforderungsschreiben - sie stellen den Beginn eines Vertragsverletzungsverfahrens dar - an diejenigen Länder gerichtet hat, die Produkte, die nicht in der Liste stehen
- zum Beispiel Babywindeln -, ermäßigt besteuern. Die
EU-Kommission hat allerdings auch erkennen lassen,
dass sie diesem Begehren eventuell sehr aufgeschlossen
gegenübersteht. Wir in Deutschland würden von einer
allgemeinen Änderung ebenfalls profitieren. Wir würden
nicht hintanstehen, wenn es darum geht, auch Babywindeln ermäßigt zu besteuern.
Das löst das Hauptproblem Ihres Antrags natürlich
nicht. Ihre populistische Forderung, nicht nur Babywindeln, sondern alle Waren und Dienstleistungen für Kinder ermäßigt zu besteuern und dadurch Kinderarmut, die
Sie vorhin so plastisch beschrieben haben, zu bekämpfen, geht weit am Ziel vorbei.
Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie als Linke
ständig Anträge stellen, die eine Umverteilung von Steuergeldern zu Unternehmen und Dienstleistern zum Inhalt
haben. Es gibt keine Möglichkeit, mit der wir per Gesetz
sicherstellen können, dass eine solche Steuerersparnis,
wäre sie überhaupt machbar, tatsächlich vollständig und
dauerhaft beim Endverbraucher ankommt. Wie unwahrscheinlich eine tatsächliche Ersparnis für die Familien
durch Ihren Antrag ist, zeigt sich, wenn Sie die Preise
- das haben Sie schon angeführt - für Kinderkleidung in
Großbritannien und Deutschland miteinander vergleichen. In Großbritannien ist Kinderkleidung seit vielen
Jahren von der Mehrwertsteuer befreit. Trotzdem kostet
in europaweit aufgestellten Ladenketten Kinderkleidung
in London und Glasgow genauso viel wie in Berlin.
Wem kommen dann diese Steuerersparnisse zugute? Das
können Sie sich ausrechnen.
Es gibt viele Möglichkeiten, Familien auf andere
Weise direkt zu unterstützen. Die Mehrwertsteuer taugt
nicht dazu, und sie ist sehr kompliziert und sehr betrugsanfällig. Deswegen, Herr Wissing, bemühen wir uns in
Brüssel darum, das System grundlegend zu ändern und
auf andere Füße zu stellen.
({0})
- Dazu sage ich gleich noch etwas. - Ich glaube, da sind
wir auf einem guten Weg. Eines muss man sagen: Als
wir uns 2002 bemüht haben, viele Mehrwertsteuervergünstigungen zu streichen und das System zu vereinfachen, hat auch die FDP mit Nein gestimmt.
({1})
Wenn wir das System ändern können, können wir auch
bei der Ermäßigung andere Prioritäten setzen. Jetzt kann
es uns nur unter Verletzung des EU-Rechts gelingen,
neue Produkte aufzunehmen. Das währt dann nur bis
zum nächsten Urteil des EuGH bzw. bis zu einem Vertragsverletzungsverfahren. Sie können sich ausrechnen,
wie ein Unternehmen reagiert, das keine Rechtssicherheit hat: im Vertrauen darauf, dass die EU das genehmigen wird, die Preise senken?
Die Unternehmen nehmen die Steuergeschenke mit,
und die Familien gehen leer aus. Lassen wir also die Augenwischerei, die in Ihrem Antrag zum Ausdruck
kommt, und schauen wir gemeinsam, wie wir die
Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland wirklich sinnvoll angehen können. Ich muss hier nicht die
150 Tatbestände, seien sie steuerlicher Art oder seien es
Transferleistungen, aufzählen, die Bund, Länder und
Kommunen für Familien eingerichtet haben. Wir sind
noch lange nicht zielgenau genug. Wir sind auch noch
lange nicht am Ende der Förderung angelangt. Wie Sie
wissen, will die Koalition - Herr Kolbe hat das angesprochen - die Betreuung von Kindern ab dem zweiten
Lebensjahr massiv ausbauen und fördern. Das dient
nicht nur der frühkindlichen Bildung, sondern erlaubt
auch die rasche Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit
von Eltern. Das ist ein viel wichtigerer Beitrag zur Vermeidung von Kinderarmut. Es sind doch die Alleinerziehenden, die mit ihren Kindern überproportional von Armut betroffen sind. Denen ist mit der Senkung der
Mehrwertsteuer auf Kinderprodukte nicht wirklich geholfen, sondern viel eher mit guten Bildungschancen für
ihre Kinder. Zum Beispiel werden wir mit der Erhöhung
des BAföGs, für die sich die SPD-Fraktion stark macht,
und auch mit dem Mindestlohn Armut ganz gezielt bekämpfen.
({2})
Wenn die Väter und Mütter rasch wieder in den Beruf
einsteigen können, sind sie nicht mehr auf staatliche
Hilfe angewiesen, auch nicht auf einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz für Barbiepuppen etc. Das ist der
richtige und sinnvolle Weg, Armut in Familien zu verhindern. Durch einen Rechtsanspruch auf einen - mittelfristig kostenfreien - Betreuungsplatz auch für die Kleinen wäre die Unterbringung der Kinder gewährleistet,
und teure private Betreuungsdienstleistungen - ich weiß
nicht, was Sie sonst unter Dienstleistungen verstehen wären überhaupt nicht nötig. Wir von der SPD wollen
diesen Rechtsanspruch auf Betreuung vom zweiten Lebensjahr an verankern. Nur mit der Sicherheit dieses
Rechtsanspruchs können Familien ihre Zukunft planen.
Wir wollen Rahmenbedingungen schaffen, die es Familien ermöglichen, sich selbst und ihre Kinder zu unterhalten, ohne auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein. Das
ist der bessere Weg.
Früh startende Bildung und Betreuung ermöglichen
eine größere Chancengleichheit für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die stärker von Armutsrisiken betroffen sind. Hilfe zur Selbsthilfe - das ist das
Konzept, auf das wir setzen. Dazu werden wir die Infrastruktur für Kinder und ihre Familien verbessern. Darin
müssen wir investieren. Investieren kann nur ein Staat,
der genügend Einnahmen hat. Wenn Sie diese peu à peu
an Unternehmen verschenken, dann fehlen die Einnahmen, mit denen wir etwas Sinnvolles schaffen könnten.
Wir von der SPD haben vor kurzem finanzierbare
Vorschläge gemacht, wie wir Gelder für den quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung umschichten und damit schnell reagieren können. Wir wollen den Staat handlungsfähig belassen. Ein starker,
handlungsfähiger Staat kann Schulden abbauen, wie
Herr Kolbe zu Recht gesagt hat. Das ist das, was Kinder
und Familien brauchen. So können wir das Geld besser
zum Wohl der Bürger verwenden. Wir wollen den Unternehmen nicht durch ermäßigte Mehrwertsteuersätze, die
rechtlich auf sehr unsicherem Fundament stehen, zusätzliche Einnahmen bescheren. Genau das passierte, wenn
wir Ihre Vorschläge umsetzten.
Durch den Kinderzuschlag für Familien mit niedrigem Einkommen, der aus Staatsmitteln finanziert wird,
tragen wir mehr dazu bei, das Armutsrisiko von Familien zu verringern. Auch das ist nur durch mehr Steuereinnahmen finanzierbar. Herr Wissing, Sie tun immer so,
als ob Steuereinnahmen etwas Ehrenrühriges wären.
Aber man kann sehr viel Sinnvolles - auch in Ihrem
Sinne - damit machen. Der Kinderzuschlag zum Beispiel ist wesentlich sinnvoller für Familien als ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf Computerspiele. Wir von
der SPD-Bundestagsfraktion werden den Kinderzuschlag künftig noch zielgenauer ausgestalten, damit
mehr Familien als bisher davon profitieren können; denn
den Löwenanteil der Ausgaben für Kinder machen nicht
spezielle Kinderprodukte aus. Für Lebensmittel und
Miete, die entweder mehrwertsteuerbefreit sind oder auf
die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz erhoben wird, geben die Familien sehr viel mehr Geld aus als für Spielzeug, Windeln oder Kinderkleidung.
Schlüsselfaktoren bei der Bekämpfung und der Verhinderung von Familienarmut sind Arbeit und Bildung.
Dafür tut die Koalition schon sehr viel. Mit dem Ausbau
der Kinderbetreuung, der Einführung von Mindestlöhnen, der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags sowie
dem Ausbau des BAföGs und des Ausbildungsplatzprogramms werden wir Familien dort unterstützen, wo sie
es brauchen. Herr Kolbe hat ganz recht: Halbgare Anträge wie den Ihrigen lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({3})
Zur Rede des Kollegen Wissing gibt es noch eine
Kurzintervention der Kollegin Barbara Höll.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Wissing, da
Sie mich persönlich angesprochen haben und zum Glück
nicht eine so lieblose Rede wie Herr Kolbe gehalten haben, frage ich Sie: Darf ich davon ausgehen, dass Sie unseren Antrag unterstützen werden, zumindest in einem
Teilbereich, beim Katalog der Lieferungen und Leistungen, aktiv zu werden?
Wenn wir im Bundestag über einen Antrag entscheiden, dann stimmen wir nicht nur über das Anliegen ab,
sondern auch über die konkrete Formulierung. Ihr Vorschlag enthielt wieder ein allgemeines Klagen darüber,
dass alle Steuern viel zu hoch seien. Das teilen wir politisch nicht. Des Weiteren ist anzumerken, dass das, was
Herr Kolbe blumig angekündigt hat, wie das Hornberger
Schießen ausgehen wird. Auf dem komplizierten Feld
der Mehrwertsteuersätze ist es deshalb besser und richtig, mit kleinen Schritten zu beginnen. Wir fordern ermäßigte Mehrwertsteuersätze für apothekenpflichtige Medikamente und Kinderkleidung. Produkte für Kinder wie
Kinderkleidung, Kinderschuhe und Möbel wie Wickeltische oder Kinderbetten sowie Windeln sind zu teuer, und
zwar aufgrund Ihrer Politik. Das ist kinderfeindlich.
({0})
Die Ankündigung von Frau Westrich, auf europäischer Ebene einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf
Windeln positiv gegenüberzustehen, nehme ich mit
Überraschung und Freude zur Kenntnis, denn bisher
wurde verlautbart, dass die Bundesregierung in Brüssel
bislang am aktivsten und am stärksten dagegen agiert.
Ich danke Ihnen.
({1})
Herr Kollege Wissing, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Frau Kollegin Höll, bei Ihnen geht es wie Kraut und
Rüben durcheinander. Ihre Frage, wie ich zu Ihrem Antrag stehe, möchte ich wie folgt beantworten - ich darf
auf Ihre Begründung im Finanzausschuss verweisen -:
Sie haben erklärt, man dürfe nicht einen Teilbereich isoliert behandeln. Damit haben Sie Recht, Frau Kollegin.
Aber dann hätten Sie diesen Antrag nicht vorlegen sollen; denn Sie tun genau das, was Sie im Finanzausschuss
für schlecht erklärt haben.
({0})
Es macht keinen Sinn, hier zu erklären, Sie wollten
den Katalog mit den verminderten Mehrwertsteuersätzen
überarbeiten. Dem haben Sie nicht zugestimmt. Sie waren nicht dafür, das zu tun. Deswegen ist das, was Sie
hier abziehen, nichts anderes als eine Shownummer. Das
ist unglaubwürdig. Sie widersprechen sich permanent
selbst. Machen Sie sich doch einmal Gedanken darüber,
was Sie in der Finanzpolitik eigentlich wollen! Tragen
Sie es anschließend hier sachlich vor. Dann können wir
darüber reden. Dieses Kraut-und-Rüben-Durcheinander
ist es nicht wert, hier debattiert zu werden.
Ich rate Ihnen, in den Protokollen nachzulesen, was
Sie im Ausschuss dazu gesagt haben. Halten Sie sich daran. Das passt überhaupt nicht zu dem Antrag, den Sie
heute vorgelegt haben.
({1})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1) Ich beende damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4485 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Pawelski, Wolfgang Börnsen ({0}),
Laurenz Meyer ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann,
Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Kulturwirtschaft als Motor für Wachstum und
Beschäftigung stärken
- Drucksache 16/5110 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
1) Anlage 3
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Wolfgang Börnsen ({3}), Steffen Kampeter, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Siegmund Ehrmann,
Petra Merkel ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Populäre Musik als wichtigen Bestandteil des
kulturellen Lebens stärken
- Drucksache 16/5111 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Andreae, Grietje Bettin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bedeutung der Kulturwirtschaft anerkennen und ihren Stellenwert auf Bundesebene
nachhaltig fördern
- Drucksache 16/5104 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({6})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({7}), Christoph Waitz, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Kulturwirtschaft als Zukunfts- und
Wachstumsbranche in Europa stärken
- Drucksache 16/5101 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Finanzausschuss
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erstes hat das Wort der Kollege Wolfgang
Börnsen, der heute nicht nur reden wird, sondern - zu
Recht - gerade Glückwünsche entgegennimmt; denn er
hat heute seinen 65. Geburtstag. Ich bin nicht sicher, ob,
da die Kulturpolitiker hier sitzen, gesungen werden soll.
Ich möchte Ihnen alles Gute wünschen und Ihnen das
Wort erteilen.
({9})
Danke, Frau Präsidentin, für die wunderschönen
Glückwünsche an einem wunderschönen, sommerlichen
Apriltag. Ich danke auch meinen Kollegen für die
freundliche Begleitung an diesem wunderschönen Tag
und möchte denn doch zum Thema kommen.
({0})
Wir haben ein Thema, mit dem sich die meisten der
Kollegen identifizieren. Noch nie hat die Kulturwirtschaft - genauer gesagt: die Kreativwirtschaft - so viel
Aufmerksamkeit erfahren wie hier und heute bei uns. Sie
steht derzeit für 215 000 Arbeitsplätze. Vor 20 Jahren
waren es noch 570 000. Dazu gehören Designer ebenso
wie Mode- und Medienmacher, Musiker, Filmschaffende, Künstler und Komponisten.
Die Umsätze liegen insgesamt bei über 80 Milliarden
Euro. Unbändige Dynamik, schöpferische Vielfalt und
Biss zeichnen die Branche der Kreativen aus. Sie sind
der Pfeffer in einer Arbeitsgesellschaft. Besonders
Selbstständige sind Träger dieser Bewegung. Jeder dritte
Beschäftigte ist sein eigener Arbeitgeber. Die Kreativwirtschaft ist Motor für Wachstum und Beschäftigung.
Ihr eigentlicher Wert liegt jedoch in ihrer Innovationsfähigkeit. Sie schafft Neues und bringt die Entwicklung
voran. Wer die Kulturwirtschaft fördert, stärkt die Kreativen. Das ist im weltweiten Wettbewerb von entscheidender Bedeutung.
({1})
Wir wollen bessere Rahmenbedingungen für die kreativen Köpfe unseres Landes. Wir wollen ein gezieltes
Regierungshandeln durch einen nationalen Kulturwirtschaftsbericht.
({2})
Ich danke meiner Kollegin Rita Pawelski ganz besonders, die sich zusammen mit ihren sozialdemokratischen
Kollegen die Mühe gemacht hat, einen großartigen und
wegweisenden Antrag zu formulieren.
Ich danke aber auch dem Herrn Staatsminister und der
Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl dafür, dass die Regierung diese Initiative sofort aufgenommen hat und handelt. Die Kreativwirtschaft hat das verdient.
Wer noch nicht genannt wurde, kommt jetzt, nämlich
Steffen Kampeter. Steffen Kampeter und Günter Krings
haben sich zusammen mit Monika Griefahn und vielen
anderen für einen zweiten Antrag engagiert, der sich um
die Popmusik dreht. Es ist wichtig, diesen Musikbereich
in Augenschein zu nehmen, der lange Zeit im Schatten
anderer Kulturbereiche geschlummert hat.
Deutschland ist ein Musikland. Über 8 Millionen
Menschen betreiben aktiv Musik. In keinem Land der
Welt gibt es so viele großartige Orchester. Komponisten
aus Deutschland haben Weltrang. 3 Millionen Kinder
werden musikalisch gefördert. Wir sind nicht nur stark in
der Klassik. Unser Land gehört zu den wichtigsten Musikmärkten in der Welt. Die Popkomm in Berlin ist
europaweit die größte Fachmesse für Musik.
({3})
Wir haben uns zu einem Zentrum internationaler Popmusik gemausert und sind weltweit das bedeutendste
Versuchslabor für E-Musik. Die elektronische Musik ist
bei uns fest verankert. Techno wurde hier in Berlin geboren.
Der Umsatz der Popmusik beträgt fast 6 Milliarden
Euro bei 150 Aktiven. Doch ihr eigentlicher Wert liegt in
ihrer kreativen, sozialen und integrativen Wirkung. Popmusik aus Deutschland ist weltweit auf der Erfolgsspur.
Nur die Radiosender bei uns zieren sich, deutsche Texte
zu senden; das ist falsch verstandene Internationalität.
Nicht nur die Klassik, auch die Popmusik kann den
Menschen stärken. Nur die Art ist anders: Was locker ist,
ist noch lange nicht minderwertig. Als Schlagzeuger einer Jazzband weiß ich, wovon ich rede.
({4})
Die Nutzung von Tonträgern in unserem Land hat
sich in den letzten zehn Jahren pro Bürger und Tag auf
45 Minuten verdreifacht. Doch die Umsätze der Musikwirtschaft sind um 35 Prozent zurückgegangen, weil das
Urheberrecht zu viele Lücken lässt. Das darf nicht so
bleiben. Immer mehr hören und immer weniger bezahlen, das ist zum Schaden der Kreativen. Mit seiner Musikinitiative, die auf Steffen Kampeter zurückgeht, will
Staatsminister Bernd Neumann das ändern. Die Union
wird diese Offensive kraftvoll begleiten. Mit zehn Punkten zur Popmusik präsentieren wir ein schlüssiges Konzept. Wir wollen, dass unser Land in beiden Musikbereichen - in der Klassik wie in der Popmusik - spitze ist
und bleibt.
Herzlichen Dank.
({5})
Offenbar wird doch nicht gesungen. Ich erteile jetzt
das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto für die FDPFraktion. Oder will er anstimmen?
({0})
Liebe Frau Präsidentin, da ich nicht singen kann, beschränke ich mich darauf, dem Kollegen Börnsen meine
Glückwünsche auf diesem Wege vorzutragen. - Er hat
leider kein Ohr für mich, da ihm noch einige Kollegen
gratulieren. - Wenn wir dem Kollegen Börnsen so zuhören, dann müssen wir uns wirklich fragen, woher das
Fehlurteil kommt, dass Nordlichter unterkühlt seien.
({0})
Hans-Joachim Otto ({1})
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist unumstritten ein
Zukunftsmarkt. Mit knapp 1 Million Beschäftigten und
einem Umsatz von rund 126 Milliarden Euro ist dieser
Wirtschaftssektor heutzutage ein fester Bestandteil der
Wertschöpfung in unserem Lande. Die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten übersteigt - man höre und
staune - die Zahl derjenigen, die in der deutschen Automobilindustrie oder in den Banken arbeiten. Nicht nur
wir Kulturpolitiker, sondern auch die Wirtschaftspolitiker unter uns können also durchaus mit Stolz sagen: Kultur und Kreativität sorgen für Wohlstand und Arbeit in
Deutschland. Dabei sind wir uns darüber einig, dass die
Kulturwirtschaft einen Doppelcharakter hat: Sie ist sowohl Kultur- als auch Wirtschaftsgut.
Aus diesem Grunde regen wir die Einrichtung eines
Querschnittsreferates Kulturwirtschaft auf Bundesebene an.
({2})
In einem solchen Querschnittsreferat können die Kompetenzen aus Kultur- und Wirtschaftspolitik sinnvoll gebündelt werden. Nur durch eine derartige ressortübergreifende Betrachtung der Kultur- und Kreativwirtschaft
sind wir in der Lage, optimale Bedingungen für diesen
Bereich zu gestalten.
({3})
Ein solches Querschnittsreferat hätte viel zu tun: Als
Erstes - darüber scheinen sich die Fraktionen heute einig
zu sein - müsste es, in Abstimmung mit den Ländern,
die längst überfällige Erstellung eines Kulturwirtschaftsberichtes für die gesamte Bundesrepublik in die Wege
leiten. Ein solcher Kulturwirtschaftsbericht kann dazu
beitragen, weitere wichtige Erkenntnisse über diesen
Wirtschaftssektor zu gewinnen und darauf aufbauend
neue Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Das ist
übrigens die einhellige Meinung der Kultur-Enquete, die
auch Vorschläge für einheitliche Definitionen und Abgrenzungen unterbreiten wird.
Ein Querschnittsreferat für Kulturwirtschaft hätte
aber auch die Aufgabe, die Einführung von innovativen
Finanzierungsinstrumenten zu initiieren. Solche Finanzierungsinstrumente müssen berücksichtigen, dass
Projekte der Kreativwirtschaft meistens zwar keine materiellen, sehr wohl aber immaterielle Kapitalausstattungen vorweisen können. Die Instrumente, an die wir dabei
denken, sind Minikredite, Venturecapital-Fonds nach
englischem Vorbild, die in diesem Bereich sehr wichtig
sind, gerade wenn Sicherheiten fehlen. Durch sie können
insbesondere die vielen kleinen und mittleren Unternehmen sowie einzelne Künstler in diesem Bereich unterstützt werden. Dass solche Maßnahmen - bei aller Euphorie, die heute über das Potenzial der Kreativwirtschaft
herrscht - notwendig sind, zeigt die Tatsache, dass die
Ertragskraft der deutschen Kreativwirtschaft seit dem
Jahre 2000 um etwa 10 Prozent gesunken ist. Sie liegt
damit unter dem europäischen Durchschnitt.
Damit habe ich einen weiteren Punkt angesprochen,
der meine einzige Kritik am Antrag der Koalitionsfraktionen bzw. meinen einzigen Ergänzungsvorschlag darstellt: Das Wort Europa fehlt mir ein bisschen.
({4})
Denn auch auf europapolitischer Ebene muss zur weiteren Unterstützung einiges getan werden. Auch hier stellt
sich die Frage nach der erforderlichen Vernetzung.
({5})
- Herr Kollege Kampeter, für Sie unterbreche ich immer
gern.
Wenn ich Sie gefragt habe, noch lieber. - Herr
Kampeter, bitte schön.
Herr Kollege Otto, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann,
auch ohne dass dieser Antrag vorgelegen hätte, gerade
erst den Vorsitz der Europäischen Kulturministerkonferenz genutzt hat, um die vielfältigen Initiativen in der
Bundesrepublik als Anregung für unsere europäischen
Partner vorzustellen, und dass das Hauptthema auf der
letzten Begegnung der europäischen Kulturminister hier
in Berlin der kreativwirtschaftliche Bereich war? Wollen
Sie die vielfältigen Bemühungen des Kulturstaatsministers auf europäischer Ebene nicht bewerten, indem auch
Sie von der FDP, statt Kritik an seinen Aktivitäten zu äußern, nachhaltige Unterstützung signalisieren?
Lieber Herr Kollege Kampeter, ich freue mich. Denn
mir wird bewusst, dass meine Ausführungen auch als
Lob für den Staatsminister gewertet werden können. Sie
selbst haben nämlich vergessen, die europäische Ebene
in Ihrem Antrag zu erwähnen. Ich erwähne sie. Daher
gilt mein Lob auch in Richtung des Staatsministers.
Nachdem der Kollege Börnsen nahezu jeden im Plenarsaal gelobt hat, soll nun auch der Staatsminister gelobt
werden.
({0})
Ich frage mich allerdings, wann Sie einmal unsere europäischen Aktivitäten loben, lieber Kollege Kampeter.
({1})
Im Hinblick auf die Vernetzung auf europäischer
Ebene müssen in unseren Augen alle Aktivitäten der Europäischen Kommission, die einen Einfluss auf den kulturellen und den kreativen Sektor haben, noch stärker als
bisher koordiniert werden. Die Besonderheiten dieses
Wirtschaftssektors müssen insbesondere bei der Umsetzung des Binnenmarktes, des Wettbewerbes und der
Handelspolitik Berücksichtigung finden.
Wie Sie wissen, haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit der sogenannten
Hans-Joachim Otto ({2})
Lissabonstrategie im Jahre 2000 auf das Ziel verständigt, die EU bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Auch wenn man an
diesen Bemühungen und an der Richtigkeit dieser Strategie manchmal ein bisschen zweifeln darf, muss man bei
aller Skepsis einwenden: Die Kreativ- und Kulturwirtschaft wurde weder in der Ursprungsfassung noch in der
Neuauflage der Lissabonagenda von 2005 erwähnt.
Selbst in der von der EU-Kommission eigens in Auftrag
gegebenen Studie zur Kulturwirtschaft - einer guten Studie - wurde dieses Defizit erkannt.
Dabei muss gerade die Kulturwirtschaft im Fokus solcher Strategien stehen; denn sie macht aus Wissen Wirtschaftserfolge. Wir fordern daher, dass das Ziel der Stärkung der Kreativwirtschaft elementarer Bestandteil der
Lissabonagenda werden muss. Nur mit diesen und den übrigen in unserem Antrag aufgeführten Maßnahmen - ich
empfehle sie Ihnen zur Lektüre - kann die Kultur- und
Kreativwirtschaft wirklich zu dem Motor des europäischen Wachstums werden, der sie sein kann.
Wir als FDP-Fraktion fordern die Bundesregierung
auf, unter Einsatz aller Kräfte, die ihr insbesondere im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zur Verfügung stehen, die stiefmütterliche Behandlung, die die
Kreativwirtschaft durch die Politik in Europa bisher erfährt, aufzugeben und sich für eine nachhaltige Stärkung
dieses wichtigen Wirtschaftssektors einzusetzen.
({3})
Meine Damen und Herren, interessieren wir gleichermaßen Kultur- und Wirtschaftspolitiker, und zwar in
Deutschland wie in Europa für die Kulturwirtschaftspolitik; die heutige Debatte ist ein guter Auftakt. Damit ist
schon vieles gewonnen. Ich hoffe, dass wir bei den Beratungen in den zuständigen Ausschüssen eine Übereinstimmung erzielen können, damit dieser Impuls, lieber
Herr Kollege Kampeter, auf die europäische Ebene getragen werden kann.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD hat der Kollege Martin Dörmann das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch von mir zunächst ein herzlicher Glückwunsch an
den Kollegen Börnsen, der hier und heute seinen Geburtstag mit uns feiern kann. Ich muss sagen: Für mich
ist das ein kleiner Kulturschock. Ich komme nämlich gerade aus der Anhörung zum Thema Killerspiele.
({0})
Daher bin ich in dieser Runde natürlich bestens aufgehoben, um das ein bisschen zu konterkarieren.
Deutschland ist eine Kulturnation und wirtschaftlich
stark. Aber erst in den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass unsere Kulturwirtschaft einen besonderen Stellenwert hat. Im Kultursektor sind
mehr als 800 000 Menschen beschäftigt. Der Kultursektor hat 2004 etwa 36 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beigetragen und einen Gesamtumsatz von 82 Milliarden Euro erzielt, jedenfalls
dann, wenn man dem Abgrenzungsmodell des privat organisierten Arbeitskreises Kulturstatistik folgt.
Nach dieser Definition reicht die Kulturwirtschaft
von den darstellenden und bildenden Künsten über die
Literatur und Musik bis hin zur Filmwirtschaft und zum
Verlagsgewerbe - um nur einige Branchen zu nennen.
Allerdings gibt es - ich denke, das wurde auch in der
heutigen Debatte deutlich gemacht - weder auf der nationalen noch auf der internationalen Ebene eine verbindliche Definition des Begriffes Kulturwirtschaft. Deshalb
schwirren hier heute so viele Zahlen herum. Ich denke,
auch insofern gibt es einigen Klärungsbedarf, den man
befriedigen muss.
Die Große Koalition will mit ihrem Antrag die Bedeutung der Kulturwirtschaft als eigenständigem Wirtschaftsfaktor anerkennen und in ihrer Entwicklung unterstützen. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür
schaffen, dass Kunst und Kultur in unserem Land gedeihen und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können. In
diesem Sinne müssen Kulturpolitik und Wirtschaftspolitik für den Bereich der Kulturwirtschaft miteinander verbunden und verzahnt werden.
({1})
Kultur und Wirtschaft sind keine Gegensätze, sondern
oft zwei Seiten einer Medaille, wie wir das in dem Antrag in einem Satz ausgedrückt haben:
Mit Kultur lässt sich Geld verdienen, und mit Geld
lässt sich Kultur machen.
({2})
Der Satz stammt nicht von mir, aber ich denke, er ist
wirklich glänzend.
({3})
Gleichzeitig ist uns allerdings klar, dass Kultur auch
unabhängig von ökonomischen Überlegungen ein wichtiges Gut und eine Voraussetzung für ein lebendiges Gemeinwesen ist. Wir wissen, dass manche Künstler und
Kreative von ihrem Selbstverständnis her wirtschaftlichen Fragen sogar eher ein wenig reserviert und kritisch
gegenüberstehen.
({4})
Ich will hier aber noch einmal deutlich machen: Uns
geht es in keiner Weise darum, die Freiheit der Kulturschaffenden in irgendeiner Weise durch Regularien einzuengen, sondern ganz im Gegenteil: Wir wollen sie in
ihrer Unabhängigkeit unterstützen; denn gerade im BeMartin Dörmann
reich der Kulturwirtschaft gibt es ja viele Freiberufler
und kleine Unternehmen, deren wirtschaftliche Situation
schwierig ist, sodass sie gar nicht dazu kommen, ihre
Kreativität und ihre wirtschaftliche Dynamik zu entwickeln.
Wir wollen, dass gerade in diesem Bereich gezielter
als bisher gefördert werden kann. Beispielsweise wollen
wir bestehende Existenzgründerprogramme und Beratungsprogramme stärker auf die speziellen kulturwissenschaftlichen Anforderungen ausrichten.
Gleiches gilt für die Mittelstandspolitik. Daneben
wollen wir die Finanzierungsmöglichkeiten für kulturwirtschaftliche Unternehmen verbessern. Ich denke hier
beispielsweise an die Förderprogramme der Kreditanstalt für Wideraufbau, die ganz hervorragende Leistungen in vielen Bereichen vorzuweisen hat. In diesem
künstlerischen Bereich ist sicherlich auch noch einiges
möglich.
({5})
Wir müssen aber auch immer an die Schattenseite der
Wirtschaft und vielleicht auch schwierige wirtschaftliche Situationen denken. Viele Künstler bewegen sich in
einem schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld
und befinden sich in einer Situation, in der sie darauf angewiesen sind, Unterstützung zu erhalten. Es gibt beispielsweise Berufe - denken wir an die Schauspieler -,
in denen es nur Engagements über mehrere Monate gibt,
sodass man gar nicht auf ein volles Arbeitsjahr kommt.
Daraus ergeben sich besondere soziale Probleme. Auch
denen muss man gerecht werden. Das betrifft viele Bereiche der Sozialversicherungen. Deshalb bin ich ganz
froh, dass kürzlich mit der Novellierung des Künstlersozialversicherungsgesetzes wenigstens in diesem Bereich
ein gewisser Fortschritt erzielt worden ist.
({6})
Wir müssen aber nach wie vor beispielsweise auch
die Alterssicherung der Selbstständigen sehr im Auge
behalten. Sie wissen: Im Bereich der Kulturwirtschaft
gibt es besonders viele Selbstständige, nämlich etwa
25 Prozent. Im Gegensatz dazu sind es in der Privatwirtschaft nur zehn Prozent. Das zeigt schon einmal, dass
hierauf ein besonderer Fokus unserer Sozialpolitik liegen muss.
Wir wissen, dass die Kulturpolitik und die Förderung
der Kulturwirtschaft in erster Linie Sache der Länder
und Kommunen sind. Gerade im Bereich der Kulturwirtschaft gibt es jedoch eben auch eine Vielzahl von
Verzahnungen mit dem Bundesrecht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass auch der Bund seiner politischen
Verantwortung an dieser Stelle gerecht wird. Eine wirksame Politik für die Kulturwirtschaft muss vom Bund
und den Ländern gemeinsam getragen werden. Vor diesem Hintergrund wollen wir, dass es einen regelmäßigen
bundeseinheitlichen Kulturwirtschaftsbericht gibt, der
aber in Abstimmung mit den Ländern herzustellen ist.
({7})
In der Debatte ist erwähnt worden, dass wir Europa
stärker in unseren Fokus nehmen müssen. Deshalb bin
ich sehr dankbar dafür - ich will das für unsere Fraktion
noch einmal ausdrücklich erwähnen -, dass es im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft gelungen ist, diesen Fokus auch im Bereich der Europäischen Union herzustellen. Dort will man einen Aktionsplan erarbeiten.
Ich glaube, wir haben in der heutigen Debatte deutlich
gemacht, dass wir an der einen oder anderen Stelle in
Europa sogar Vorreiter sind. Ich hoffe, dass dies auf
diese Ebene weitergetragen werden kann.
({8})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Große Koalition will die Kulturwirtschaft als Motor für Wachstum
und Beschäftigung stärken, die wirtschaftliche und soziale Situation der Kulturschaffenden verbessern und die
wichtige Rolle der Kultur für unser Gemeinwesen unterstreichen. Hierfür und für unseren Antrag bitte ich um
Ihre Unterstützung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Dr. Lothar Bisky hat das Wort für Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung der Kulturwirtschaft ist unter Fachleuten unumstritten. Die Kleinteiligkeit kultureller Produktion, die in
Deutschland gewachsene Struktur zwischen staatlicher
Förderung, Non-Profit-Sektor und Privatwirtschaft sind
weder konfliktfrei, noch greifen Kultur- und Wirtschaftsförderung problemlos ineinander. Leider trifft
dies zuerst die kleinen Studios, die kleinen Agenturen
und Verlage. Aus Tradition fördern wir eher nach Gesellschaftsform denn nach kultureller Innovation. Damit haben wir den intellektuellen Ekel vor der Adornoschen
Kulturindustrie einfach an der falschen Stelle bewahrt.
({0})
Bei den kleinen Produzenten ist oft Selbstausbeutung angesagt. Zugleich finden dort die ästhetischen Entdeckungen und Erfindungen statt. Die Kernkompetenz
der großen Produzenten ist die Vermarktung. Die Antragslage zur Kulturwirtschaft und zur Förderung der populären Musik zeigt - und das freut uns -, dass der politische Handlungsbedarf erkannt und formuliert wurde.
Eine Einschränkung gilt dem Antrag der Koalitionsparteien zur Stärkung populärer Musik. Mit dem Anliegen
bin ich ganz bei ihnen, doch solange wir die Eigengesetzlichkeit dieser Musik von Hardrock über Hip-Hop
bis Jazz an Kriterien klassischer Musikproduktionen anpassen, werden Sie mit Förderinstrumentarien Schiffbruch erleiden.
({1})
- Dann ist es umso besser. - In diesen Kulturformen geht
es um Rückkopplungseffekte, um Spielweisen und um
Klangexperimente, aber nicht primär um Komposition.
Lokale Infrastrukturförderung bis zur Präsentation in
den Medien muss im Vordergrund stehen. Niemand
muss populäre Musik zu den Jugendlichen tragen. Zuerst
sollte man sie als deren Selbstausdruck fördern. Ausbildung, Räume und Selbstmanagement wird der Bund
nicht fördern, aber daran führt kein Weg vorbei, wie die
englischen Bildungskonzepte des musicmanifesto zeigen.
({2})
Am Anfang des internationalen Erfolgs stand auch
dort die regionale Förderung. Der Kooperationsbedarf
zwischen Bund und Ländern ist ungleich größer, als es
der Popmusikantrag überhaupt zu denken vermag. Mit
der Förderung der Kulturwirtschaft geht es um die Gestaltung kultureller Vielfalt. Das ist der Ausgangspunkt
der Linken.
({3})
Das verlangt, die Kleinteiligkeit der Kulturwirtschaft als
Leitmotiv der politischen Förderung anzuerkennen. Wir
werden die Definitionsfragen der Kulturwirtschaft nicht
politisch klären können. Doch mit der politischen Förderung muss es gelingen, die Debatte für die Akteure zu
öffnen. Es muss gelingen, Plattformen des Informationsaustausches, der Präsentation und Beratung sowie der
Evaluation des Förderinstrumentariums in Aussicht zu
stellen. Hier sehe ich eine Verantwortung des Bundes.
Großbritannien benötigte keine Zentralen für die Förderkoordination zwischen Kultur, Bildung und Wirtschaft, weil über das eigenständige Konzept der Creative
Industries öffentlich diskutiert wurde. Diese Arbeit liegt
nach meinem Dafürhalten in Deutschland noch vor uns.
Wir werden eine eigene Idee von Kulturwirtschaft entwickeln müssen, damit Tradition und Innovation, kulturelle Vielfalt und kommerzieller Erfolg Hand in Hand
gehen können. Mit dem Ratifikationsgesetz zur
UNESCO-Konvention für kulturelle Vielfalt haben wir
verankert, dass Kultur mehr als eine Ware ist.
({4})
Im Antrag der Koalition wird auf die Verantwortung
des Bundes hingewiesen, gute Rahmenbedingungen bei
dem Gesetzgebungsverfahren zum Urheberrecht, der Sozialgesetzgebung und der Medienordnung zu schaffen.
Hier sehen wir vieles kritisch. Für den Ausgleich zwischen Kreativen, Verwertern und Nutzern - das gilt zum
Beispiel für das Urheberrecht - ist der Stein der Weisen
noch nicht gefunden. Daraus resultieren die Schwächen
des Antrags der Koalitionsfraktionen zur Kulturwirtschaft.
Ich möchte aber den Wert der begonnenen Debatte
und manches, was im Antrag der Grünen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und zur Förderung vorgetragen worden ist, unterstützen und empfehle die weitere Diskussion.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Undine Kurth spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatsminister!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den
Rängen! Und selbstverständlich: Liebes Geburtstagskind, noch einmal herzlichen Glückwunsch von hier aus!
({0})
Als wir im Oktober des vergangenen Jahres eine Kleine
Anfrage an die Bundesregierung richteten, in der wir uns
nach Zuständigkeiten und Fördermöglichkeiten im kulturwirtschaftlichen Sektor und dessen Stellenwert erkundigten, stellte sich plötzlich heraus, dass ganz offensichtlich noch gar keine Klarheit über diesen Bereich
bestand. Die Aufmerksamkeit für diesen Bereich hatte
noch nicht den Grad erreicht, den wir für richtig empfanden.
Das hat sich offensichtlich inzwischen geändert. Der
Dornröschenschlaf ist vorbei. Wir alle sind mit unseren
Anträgen, die hierzu vorliegen, dichter beieinander, als
das bisher den Anschein hatte.
Sehr verehrter Herr Börnsen, Sie haben sich hier ja als
Freund des deutschen Hip-Hop geoutet. Es wäre sicher
schön und ganz klug gewesen, nicht nur den eigenen Antrag zu loben und sich für die Arbeit daran zu bedanken.
Man kann gleichermaßen den Kollegen von der FDP und
auch uns danken; denn, wie gesagt, die Anträge, die sich
mit dem wichtigen Thema des kulturwirtschaftlichen
Sektors befassen, sind endlich auf dem Tisch und bringen eine Debatte in Gang, die wir bitter nötig haben.
({1})
Auch wir erkennen an - wir bedanken uns durchaus
dafür -, dass der Herr Staatsminister dieses Thema nach
vorne holt. Wenn hier, wie es der Kollege Dörmann getan hat, eingefordert wird, wir sollten dabei besonders
die europäische Sicht berücksichtigen, dann ist dazu zu
sagen: Wir halten es für durchaus bedauerlich, dass wir
die Bearbeitung dieses wichtigen Themas dann doch auf
die portugiesische Ratspräsidentschaft verschoben und
uns selber nicht mehr für diesen Bereich eingesetzt haben. Denn wir glauben, es ist dringend nötig, sich damit
intensiv zu beschäftigen und die Zukunfts- und Querschnittsbranche der Kulturwirtschaft wesentlich deutlicher in das politische Handeln einzubeziehen und in den
politischen Fokus zu rücken. Deshalb ist der bereits
mehrfach erwähnte Aktionsplan Kulturwirtschaft auch
wirklich wichtig. Auch wir unterstützen ihn.
Undine Kurth ({2})
Wir wissen, dass der Begriff Kulturwirtschaft noch
relativ viele Unschärfen hat. Er ist nicht eindeutig zu definieren, oder wir haben es bisher versäumt, ihn eindeutig zu definieren. Auf jeden Fall müssen wir ihm größere
Aufmerksamkeit widmen.
Nun kommt ein Teil, der nicht ganz so launig ist wie
die Debatte, die wir bisher freundlichst miteinander geführt haben, nämlich die Situation derer, die in der Kulturwirtschaft arbeiten. Es wird gern vergessen, dass
95 Prozent derer, die in diesem Bereich aktiv sind,
Klein- und Kleinstunternehmer sind, die durch ihre Arbeit und Kreativität sehr viel zum Gelingen des Kulturstaates Deutschland beitragen, aber bei weitem nicht
ausreichend daran partizipieren können, weil - auch das
ist schon gesagt worden - Künstler ihr Handeln nicht in
erster Linie danach ausrichten: Bringt das Kohle? Und,
wenn ja: Wie viel? Sie wollen vielmehr ihre Kreativität
umsetzen. Dabei müssen wir sie besser unterstützen, und
dafür müssen wir bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Auch darin sind wir uns im Großen und Ganzen einig.
({3})
Wir müssen auch bedenken, dass es die Kulturwirtschaft nicht gibt - auch das ist schon angesprochen worden -, sondern dass unterschiedliche Bereiche unterschiedliche Anforderungen stellen. Theater, Film,
Rundfunk, Kunstmarkt, Architektur, Mode und Hip-Hop
- um das Geburtstagskind nicht zu vergessen - sind unterschiedliche Bereiche, die unterschiedliche Rahmenbedingungen brauchen. Deshalb meinen wir, dass wir von
dem Glauben wegkommen müssen, das mit einem einfachen Rezept hinbekommen zu können.
In der Kulturwirtschaft ist der Qualifikations- und
Bildungsstand hoch, leider auch die Arbeitslosigkeit. An
diesem Punkt müssen wir ansetzen und nach den Förder- und Rahmenbedingungen, unter denen gearbeitet
wird, fragen. Wir meinen, es ist kein haltbarer Zustand,
dass wir diese Querschnittsaufgabe nicht als solche annehmen. Wir müssen uns wesentlich mehr darum kümmern, wie im Bereich der Klein- und Kleinstunternehmen Förderung und Hilfe gewährt werden können.
Wir sind der Meinung, dass wir Unterstützung dadurch leisten müssen, dass wir diesen Unternehmen Förderprogramme zugänglich machen. Das gilt auch für europäische Förderprogramme; denn für diese kleinen
Unternehmen ist es sonst schier unmöglich, an diese
Programme heranzukommen. Europäische Förderprogramme haben zudem die Eigenart, einen Teil der zur
Verfügung gestellten Summe zunächst einzubehalten.
Welches kleine Unternehmen soll das überstehen? Auch
das behindert den Zugang zur Förderung. Deshalb glauben wir, dass zum Beispiel ein Fonds des Bundes, der
entsprechende Überbrückungsmöglichkeiten schafft,
richtig und sehr hilfreich wäre.
Ich denke, wenn wir uns damit auseinandersetzen,
dann sollten wir bei der Förderung der Kulturwirtschaft
nicht nur Arbeitsplätze und Umsatz im Blick haben, sondern vor allem auch den kulturellen Wert der Kulturwirtschaft für unser Land. Wir sollten uns klarmachen, wie
sehr die Kulturwirtschaft uns alle bereichern kann, wenn
wir vernünftige Rahmenbedingungen schaffen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Unser größter Wettbewerbsvorteil in der globalisierten
Welt sind unsere geistigen Ressourcen, nämlich gut ausgebildete und kreative Menschen. Diesen Rohstoff gilt
es auf unserem Weg zur Wissensgesellschaft auch weiterhin zu fördern.
In unserem Land haben wir einzigartige kulturelle
Vielfalt. Der Staatsminister und ich sind uns darin einig,
eine Unterstützung zu gewährleisten, die strategisch,
langfristig und ressortübergreifend angelegt sein muss.
({0})
Die vorliegenden Anträge - auch die der Opposition zeigen, dass uns immer stärker bewusst wird, dass Kreativität eine wichtige Zukunftsressource ist. Wenn sie das
Wort Kultur hören, denken die meisten Menschen
hauptsächlich an die großen Kulturbetriebe: die großen
Opernhäuser, die großen weltweit gespielten Musicals
oder an das Kino. Wer denkt schon an die vielen erwerbsorientierten kleinen und mittleren Betriebe,
({1})
zum Beispiel an die regionalen Buchverlage, Kleinkunsttheater, Tonstudios oder Galerien und im weiteren
Sinn auch noch an den gesamten Kunstmarkt, zu dem
- um nur einige Beispiele zu nennen - Kunsthandwerk
und Design gehören?
({2})
Es ist ein immens breit gefächerter Bereich. Dabei sind
gerade sie es, die nicht nur das Kulturleben beleben, sondern auch das wirtschaftliche Geschehen.
({3})
Andere Länder bezeichnen diesen Bereich als Creative Industries. Ich glaube, diese Bezeichnung drückt
aus, dass aus Wissen und Kreativität neue Produkte entstehen. Bei uns wird das manchmal leider etwas anders
gesehen. Sehr oft werden Kultur und Ökonomie als Gegensätze betrachtet. Dabei ist dieser Bereich, vor allem
die Kreativwirtschaft, ein unwahrscheinlich boomender
Wirtschaftsmarkt. Es ist ein Markt, auf dem Arbeitsplätze geschaffen werden. Er hat inzwischen teilweise
gute Wachstumsraten. Im Bereich von Software und
Computer kann man ihn als Jobmotor bezeichnen. Die
Kreativindustrie spielt inzwischen in einer Spitzenliga.
Sie kann mit Spitzenbranchen wie Chemie und Energie
verglichen werden und ist erfolgreicher als viele andere
Branchen.
({4})
Das hier vorhandene Potenzial und die Chancen für
Wachstum und Beschäftigung, die darin liegen, müssen
wir viel mehr als bisher in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Daher bin ich sehr dankbar für diese Debatte heute hier im Plenum.
Der Bereich ist kleinteilig - das haben meine Vorredner schon angesprochen - und heterogen. Er hat eigene
vielfältige Bedürfnisse. Hier müssen wir ansetzen. Wir
müssen es verstehen, richtig und passend zu koordinieren, zu fördern - das ist schon angesprochen worden und beratend tätig zu sein.
Ich bin froh, dass mein Ministerium, das Wirtschaftsministerium, eine eigene Arbeitsgruppe Kulturwirtschaft eingerichtet hat. Ich glaube, wir können unsere
Kompetenzen hier gut einbringen, zum Beispiel bei den
freien Berufen, bei der Mittelstandsförderung, die angepasst werden muss, bei der Messeförderung, der Standortwerbung, im Medienbereich, bei der IKT. Diese Bereiche haben alle einen Bezug zur Kultur und zur
Kreativwirtschaft.
Wichtig ist es, die Zusammenhänge zwischen dem erfolg- und gewinnorientierten Unternehmen in der Kulturwirtschaft und dem öffentlich getragenen Kultursektor zu untersuchen, um in Zukunft bessere Ergebnisse
hervorzubringen. Außerdem müssen wir unsere vielfältigen Wirtschaftsförderungsprogramme, auch die der
KfW - das wurde angesprochen -, an die Besonderheiten des Kreativsektors anpassen.
({5})
Ich möchte zusammenfassend festhalten: Die Kulturwirtschaft ist eine Zukunftsbranche. Ich glaube, diese
Zukunftsbranche hat es verdient, dass sie engagiert unterstützt wird, auch von uns hier im Parlament. In diesem
Bereich sind viele kleine und junge Unternehmen tätig.
Sie sind hochinnovativ. Sie zeichnen sich durch Arbeitsplatzintensität aus. Wir sind eine Kulturnation. Darauf
sind wir sehr stolz. Wir haben einen Standort mit einem
riesigen künstlerischen und kreativen Potenzial. Es ist
unsere Aufgabe, dies zukünftig zu fördern und zu unterstützen.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt spricht der Kollege Siegmund Ehrmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist viel
über Daten und die Bedeutung der Kulturwirtschaft gesprochen worden. Aber wir stehen in diesem Feld nicht
auf einer im wahrsten Sinne des Wortes grünen Wiese.
In verschiedenen Bundesländern wurden wichtige Vorarbeiten geleistet, die uns wertvolle Orientierung geben.
({0})
Ich erinnere an den ersten Kulturwirtschaftsbericht in
Nordrhein-Westfalen von 1990/91.
Ich möchte zunächst einmal für die Zusammenarbeit
der Wirtschaftspolitiker und der Kulturpolitiker bei diesem sehr gehaltvollen, anspruchsvollen und zukunftsweisenden Thema herzlich danken. Ich glaube, dass es
sehr wichtig ist, in Zukunft weiter in dieser Form zusammenzuarbeiten, um uns gegenseitig zu beflügeln. Wenn
es dann noch gelingt, die Haushälter einzubinden - Herr
Kampeter hat das ja mit der Musikinitiative wunderbar
vorgemacht -, ist das ein ganz guter Weg. Allerdings
denke ich, es gibt auch andere Aspekte, die nicht zwingend direkte ökonomische Auswirkungen haben, für die
wir als Kulturpolitiker die Sympathie und Unterstützung
der Haushälter brauchen.
Erwähnt wurde, dass aus dem Bereich der Künste gelegentlich ein Stirnrunzeln zu beobachten ist, ein gewisser Argwohn, die Besorgnis: Jetzt wird das ganze Feld
der Künste ökonomisiert und der Kernbereich der
Künste ausschließlich dem Markt überantwortet. Darum
geht es im Wesentlichen nicht. Albert Einstein hat einmal einen ganz netten Aphorismus formuliert:
Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und
nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.
Das trifft mit Sicherheit im Bereich von Kunst und
Kultur zu. Gleichwohl gibt es Potenziale, die schlummern und die wir aktivieren können. Es ist schon erwähnt worden: Es geht letztendlich auch um die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen, die als
Künstlerinnen und Künstler wirken, die sich einbringen
und die sich oft in sehr schwierigen Lebensverhältnissen
befinden. Ich glaube, da können wir mit den Instrumenten der Kulturwirtschaft und mit einem bewussteren
Zusammenwirken Erhebliches bewirken.
({1})
In der Enquete-Kommission - Herr Otto hat das vorhin angesprochen - haben wir sehr intensiv Gutachten
beraten und Experten angehört. Es wird mit Sicherheit
noch einige über die vorliegenden Anträge hinausgehende Impulse geben. Denen möchte ich nicht vorgreifen. Eine Sache, die sich bei der Analyse der unterschiedlichen Kulturwirtschaftsberichte der Länder und
auch der internationalen Expertisen gezeigt hat, möchte
ich aber ausdrücklich ansprechen: Wir sollten aufpassen,
dass wir uns nicht im Definitionsstreit verheddern; vielmehr sollten wir sehr pragmatisch mit dem Thema umgehen.
Erwähnt wurde, dass auf EU-Ebene im Dezember
2006 eine Studie präsentiert wurde, die sich mit der
europäischen Kulturwirtschaft befasst hat. Dort ist Definitionsarbeit geleistet worden. Ich denke, es ist ratsam - das
wäre ein Hinweis an Herrn Staatsminister Neumann und
an diejenigen, die in der Kultusministerkonferenz Verantwortung tragen -, sich mit der Definition des Europäischen Parlamentes auseinanderzusetzen. Das hat mehrere Vorteile: Zum einen lässt sich das Datenmaterial aus
den Ländern dann besser zusammenschreiben. Zum anderen hat das auch in der Programmpolitik eine enorme
Wirkung, weil sich dann die unterschiedlichen Förderprogramme und -instrumente auf der europäischen und
nationalen Ebene - bis zu den Ländern hinunter - besser
verknüpfen lassen.
Lassen Sie mich noch eingehen auf den Antrag der
Koalitionsfraktionen zur populären Musik. Dort wird
konkret dargelegt, wie sich die Bereiche der staatlichen,
der öffentlichen Musikförderung und der Kulturwirtschaft miteinander verknüpfen lassen. Ohne die staatliche Musikförderung, die im Wesentlichen auf der Ebene
der Kommunen und der Länder geleistet wird - ich
nenne die Musikschulen und Musikhochschulen -, wäre
das nicht möglich, was uns auch international insbesondere im Bereich der klassischen Musik stark macht.
({2})
- Ich weiß. Sie werden es erleben.
({3})
Aber lassen Sie mich den Gedanken trotzdem noch ausformulieren.
Das ist also ein ganz wichtiger Punkt. Der Bund ist
hier ebenfalls sehr engagiert. Aus dem Etat des BKM
werden pro Jahr 18 Millionen Euro für die Musikförderung bereitgestellt, 15,4 Millionen Euro davon allerdings
für den Sektor der klassischen Musik und der Rest für
den Bereich der populären, der neuen und der improvisierten Musik, also auch der Jazzmusik.
({4})
Sie werden mir nachsehen, dass ich es erwähne - das
ist ein Running Gag unter den Kulturpolitikern; ich
komme aus Moers -: Das Moers Festival ist ein wichtiges Gut. Das musste gesagt werden.
({5})
Ich blende jetzt den Werbeblock aus. Aber dahinter
steckt etwas Ernsthaftes, das ich noch ganz kurz vortragen möchte. Und das folgende Beispiel lässt sich auch
auf andere Musiksegmente übertragen. Wenn wir uns in
der Jazzszene mit internationalen Festivals beschäftigen
und uns die Spiellisten ansehen, dann stellen wir fest,
dass in der europäischen Musikwelt die Skandinavier
sehr stark dominieren. Deutsche spielen dort kaum eine
Rolle.
Dies hat die Bundeskonferenz Jazz ebenfalls erkannt
und hat, ohne zunächst die Politik zu fordern, aus eigener Initiative die Jazzmesse jazzahead in Bremen veranstaltet. In einem Juryverfahren wurden 15 der besten
deutschen Formationen präsentiert. Es wurden außerdem
100 internationale Festivalleiter nach Bremen eingeladen. Daran war der Bund - das Auswärtige Amt und die
Goethe-Institute - beteiligt. Im Rahmen dieser Messe
sind unsere Potenziale präsentiert worden. Das führte
dazu, dass nach dieser Messe Engagements zustande kamen und die CD-Absätze spürbar gesteigert werden
konnten.
Konkret lässt sich sagen: Die Initiative Musik muss
durch weitere staatliche Förderinstrumente ergänzend
unterstützt werden. Wir haben in unserem Antrag die
Spielstättenförderung angesprochen, damit die jungen
Talente Professionalität entwickeln und sich qualifizieren sowie üben können - gerade im Bereich der improvisierten Musik ist das ein Muss -, sich öffentlich zu präsentieren und zu improvisieren. All das wird durch den
Aspekt der Messeförderung zusammengeführt.
Letzte Anmerkung zur Initiative Musik. Dies ist ein
weiteres lobenswertes Beispiel für eine öffentlichprivate Partnerschaft auf Bundesebene. Es ist nicht nur
das Geld des Bundes in Höhe von 1 Million Euro, das da
hineinfließt; private Geber - dies wurde uns im Kulturausschuss dargelegt - steuern etwa 350 000 Euro bei.
Dieses Geld wird in eine GmbH gespeist.
({6})
- Ja, es ist in der Tat vorbildlich. In der Kulturpolitik ist
dieser Aspekt nun stärker zu beobachten. Darin liegt
eine große Chance. Auf anderen Politikfeldern ist das
ebenfalls Praxis. Wir haben also eine gute Grundlage,
um in die Ausschussberatung zu gehen.
Lassen Sie mich abschließend noch die vorliegenden
Anträge der Oppositionsfraktionen ansprechen. Sie enthalten wertvolle Anregungen. Ich bin Herrn Bisky dankbar für die nachdenklichen Worte, die er gefunden hat.
Wir werden alles unternehmen, damit die öffentlich-private Kooperation im Bereich staatlicher Musikförderung
und der Kulturwirtschaft mehr Bedeutung bekommt im
Interesse der Menschen, die dort arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Rita Pawelski, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was bedeutet schon
Geld?, fragte einmal der amerikanische Musiker Bob
Dylan und fügte hinzu: Ein Mensch ist schließlich erfolgreich, wenn er zwischen Aufstehen und Schlafengehen das tut, was ihm gefällt.
({0})
Mit Kunst und Kultur Geld verdienen? Das entspricht
oft nicht dem Selbstbild und den Vorstellungen von
künstlerischen, kreativen und schöpferischen Menschen.
Doch Realität ist: Rund um die Kultur hat sich ein eigenständiger Wirtschaftszweig entwickelt, die Kulturwirtschaft. Diese Verflechtung von Kultur und Wirtschaft
ist zwar nicht immer einfach, sie bietet aber sehr große
Chancen und Potenziale.
Nach Jahren des Dornröschenschlafs rückte die Kulturwirtschaft endlich ins öffentliche Bewusstsein. Große
Verdienste daran hat der Kulturstaatsminister Bernd
Neumann. Er hat das Thema Kulturwirtschaft ganz oben
auf seine Agenda gesetzt und mit dem neuen Filmfördermodell und der Initiative Musik zwei wichtige Maßnahmen zu ihrer Stärkung ergriffen.
({1})
Außerdem hat er es geschafft, die Förderung der Kulturwirtschaft zu einem zentralen Thema der Europäischen
Union zu machen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle auch der Vorsitzenden der
Enquete-Kommission Kultur in Deutschland, Gitta
Connemann, danken, die einige Vorarbeit hier geleistet
hat. Vielen Dank, liebe Kollegin.
Wie wichtig die Kulturwirtschaft für Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland ist, wurde mittlerweile
von allen Rednerinnen und Rednern mehrfach betont.
Ich freue mich, dass wir uns in diesem Punkt alle einig
sind. Darum brauche ich es nicht mehr zu wiederholen.
Aber man muss sich schon fragen, was sich hinter dem
Begriff Kulturwirtschaft verbirgt. Die Suche nach einer verbindlichen Definition und einer eindeutigen Abgrenzung endet oftmals in kreativer Vielfalt: Auf nationaler wie auf internationaler Ebene gibt es die
unterschiedlichsten Bestimmungen und damit die unterschiedlichsten Daten. Was fehlt, sind einheitliche Statistiken, Daten und Informationen zur Kulturwirtschaft.
({3})
Die Zeit ist reif für einen bundeseinheitlichen Kulturwirtschaftsbericht. Nur damit können wir die noch ungenutzten Potenziale der Kulturwirtschaft besser erkennen und ausschöpfen.
Die Kulturwirtschaft lebt von der Kreativität und von
den Ideen des Einzelnen. Will der Einzelne jedoch von
seiner künstlerischen und kreativen Arbeit leben, muss
er fast unweigerlich zum Freiberufler oder Selbstständigen werden; denn die Unternehmen vergeben ihre kreativen Tätigkeiten immer öfter an Freiberufler. Die Autofirma beschäftigt keinen Designer mehr, der Buchverlag
setzt auf freie Lektoren, das Museum beauftragt freiberufliche Kunsthistoriker. Das ist der Trend.
Wir müssen den kreativen Menschen den Schritt in
die Selbstständigkeit erleichtern. Der Bund muss in
Absprache mit den Ländern die Rahmenbedingungen
dafür gestalten. Wir wollen, dass die bestehenden Förderinstrumente beispielsweise der KfW und der Europäischen Union überprüft und stärker an den kulturwirtschaftlichen Anforderungen ausgerichtet werden.
({4})
Dabei sind Finanzierungsmöglichkeiten zu sichern, die
den Kulturschaffenden trotz des hohen Risikos der
Selbstständigkeit und geringerer Sicherheiten offenstehen. Wir alle wissen, dass Basel II gerade für junge
selbstständige Kreative eine unglaubliche Hürde darstellt. Wir müssen ihnen den Weg erleichtern.
Es sollen kulturwirtschaftliche Kompetenzagenturen geschaffen werden, die kleine Unternehmen gerade
in der Gründungsphase unterstützen und beraten. Wir
müssen dazu beitragen, dass Kulturwirtschaftsunternehmen untereinander, aber auch mit Unternehmen aus
anderen Branchen verstärkt Netzwerke knüpfen und
Kooperationen auf die Beine stellen. Ich denke dabei
zum Beispiel an den Tourismus. Schon jetzt besuchen
viele Menschen aus aller Welt unsere Städte, unsere einzigartigen Kulturgüter und unsere kulturellen Einrichtungen und tragen damit zum Wachstum unserer Wirtschaft bei.
Wir wollen bei anstehenden Gesetzesberatungen die
soziale und wirtschaftliche Situation der Kunst- und
Kulturschaffenden stärker beachten. Herr Dörmann hat
schon die Künstlersozialversicherung angesprochen, wo
das sehr gut gelungen ist. Wir müssen aber auch bei anderen Gesetzen darauf achten, dass die Belange der jungen Künstler stärker berücksichtigt werden.
Bei allen Aktivitäten zur Stärkung der Kulturwirtschaft darf eines nicht außer Acht gelassen werden: die
Wechselbeziehung zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Kultursektor. Wir wissen, dass Musicals nicht gefördert werden, dass Opern aber gefördert
werden. Hier gibt es Gegensätze, die wir überwinden
müssen. Beide Sektoren sind so eng miteinander verknüpft, dass der eine ohne den anderen nicht funktionieren kann, auch wenn sich beide argwöhnisch beäugen.
({5})
Kunst und Kultur sind Währungen der Zukunft.
({6})
Lassen Sie uns darum gemeinsam alle Kräfte bündeln!
Ich habe an den Reden gemerkt, dass hier wirklich große
Einigkeit besteht. Vielleicht gelingt es uns, einen interfraktionellen Antrag zu dieser wichtigen Frage zu formulieren,
Frau Kollegin!
- mit dem wir dieses Thema in die Köpfe aller Menschen bringen.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Frau Präsidentin.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5110, 16/5111, 16/5104 und 16/5101
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/5101
- Zusatzpunkt 5 - soll zusätzlich an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie sowie an den Haushaltsaus-
schuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Cornelia Behm, Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vorbildlich umsteigen - Strom aus erneuerbaren Energien statt Atomstrom in staatlichen
Liegenschaften
- Drucksache 16/3961 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske,
Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nie wieder Tschernobyl - Zukunftssichere
Energieversorgung ohne Atomkraft
- Drucksachen 16/860, 16/1813 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Angelika Brunkhorst
Sylvia Kotting-Uhl
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute jährt
sich zum 21. Mal der Jahrestag der Katastrophe von
Tschernobyl. 1,3 Millionen Menschen leben in Russland, Weißrussland und der Ukraine immer noch in
radioaktiv kontaminierten Gebieten. Die Erkenntnisse
aus den verstrahlten Regionen sind deprimierend und
lassen alle Unterstützung für Atomkraftwerke in einem
schalen und verantwortungslosen Licht erscheinen.
Im letzten Jahr konnte eine Parlamentarierdelegation
des Umweltausschusses dies in Augenschein nehmen.
Leider war kein Vertreter der Union dabei, so ganz nach
dem Motto: Was mich in meiner ideologischen Debatte
stört, will ich auch nicht sehen. Dabei lässt sich aus dem
Anblick dieser Region eine entscheidende Erkenntnis
gewinnen: Nach jedem Krieg gibt es einen Wiederaufbau. Nach dem Super-GAU eines Atomkraftwerkes aber
gibt es keinen Wiederaufbau mehr, sondern nur Absiedlung, da keine Grundlage für menschliches Leben mehr
vorhanden ist. - Jahr für Jahr räumen Naturbrände und
Planierraupen ein Dorf nach dem anderen von der Erde.
Evakuiert bzw. ausgesiedelt wurden allein in Weißrussland über 400 Dörfer, davon sind über 170 Siedlungen
bis heute völlig begraben. In der kontaminierten Zone
befinden sich gegenwärtig über 2 500 Ortschaften. Die
einmal 45 000 Einwohner zählende Stadt Pripjat ist
heute eine menschenleere, hochverstrahlte Geisterstadt,
in welcher alles verfällt und für die keinerlei Hoffnung
mehr besteht.
Bei uns könne so etwas jedoch nicht passieren, wir
hätten doch die sichersten Reaktoren der Welt, wird von
Union und FDP unentwegt behauptet.
({0})
- Ach so? Ich höre das gerade wieder. - In meinen Gesprächen in anderen Teilen der Welt habe ich allerdings
auch immer wieder gehört, dass man dort die sichersten
Reaktoren habe, so in Japan, in den USA, in Frankreich.
Überall stehen die sichersten Reaktoren der Welt. Selbst
der Direktor von Tschernobyl erklärte unserer Delegation, er habe die sichersten Reaktoren der Welt. Auch die
Schweden behaupten das immer noch von ihren Reaktoren, obwohl Europa doch mit Forsmark im letzten Sommer nur um sieben Minuten an einem Super-GAU vorbeigeschrammt ist. Dabei hat der Betreiber Vattenfall
längst zugegeben, dass die Sicherheitskultur in Forsmark
desolat ist.
Der gleiche Betreiber Vattenfall verweigert bis heute
die Herausgabe der nicht abgearbeiteten Mängelliste
von Brunsbüttel, übrigens im Einvernehmen mit Bundesminister Gabriel, der sich bis heute weigert, in dieser
Sache aufsichtsrechtlich tätig zu werden.
({1})
Das ist unglaublich; denn auch Brunsbüttel liegt genauso
wie Isar/Ohu bei München oder Biblis bei Frankfurt wenige Flugminuten von einem großen Flughafen entfernt.
Niemand kann ernsthaft behaupten, einen terroristischen
Selbstmörder im entführten Flugzeug abwehren zu können. Die Auswirkungen wären katastrophal, wie selbst
die schwarz-rote Bundesregierung im letzten Jahr zugegeben hat. Doch statt dieses Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung durch Stilllegung endlich abzuschaffen, kümmert sich Bundesinnenminister Schäuble um die
Einschränkung der Bürgerrechte, und viele in der Union
wollen sogar längere Laufzeiten für diese Sicherheitsrisiken. Unglaublich!
Dabei liegt es doch auf der Hand, dass sich ohne
Atomreaktoren besser Klimaschutz betreiben lässt:
Wenn endlich die nötige Strukturveränderung von zentraler Stromerzeugungstechnologie hin zu dezentraler
Stromerzeugung in der Energiewirtschaft vollzogen
wird, dann werden sich aufgrund ihrer Wachstumsgeschwindigkeit die erneuerbaren Energien noch leichter
durchsetzen. Heute schon liegt die Wachstumsgeschwindigkeit der erneuerbaren Energien höher als die Energieerzeugungsverluste durch den vereinbarten Atomausstieg.
Das heißt, zusammen mit Energieeinsparungsprogrammen wären Klimaschutz und Abschalten der Atomreaktoren längst machbar.
({2})
Das ist vor allem deshalb so, weil die Nutzung der
Atomenergie keinen nennenswerten Beitrag zum Klimaschutz leistet, wie die immer weiter steigenden CO2Emissionen beim Uranbergbau und bei der Brennelementeherstellung zeigen.
Es wäre mehr als angezeigt, dass alle Bundesliegenschaften dem Beispiel des Bundesministeriums für Umwelt folgen. Unter Jürgen Trittin war das Umweltministerium das erste Ministerium, das auf Ökostrom
umgestiegen ist; es ist bisher auch das einzige. Wer von
anderen Klimaschutz, Umweltschutz und Atomausstieg
verlangt, muss dies auch selbst leisten und ein Beispiel
geben. Ich hoffe, dass Sie nicht zuletzt deshalb unserem
Antrag heute zustimmen werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den heutigen Tschernobyl-Gedenktag als Mahnung nehmen, die
furchtbaren Atomgefahren endlich abzuschaffen und die
Schritte ins Solarzeitalter wesentlich zu beschleunigen.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu dem Antrag der Grünen bezüglich der
Bundesliegenschaften ist festzuhalten: Es spricht aus unserer Sicht selbstverständlich gar nichts dagegen, staatliche Liegenschaften vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen.
({0})
Darüber können Sie gern mit uns reden.
({1})
Aber Sie müssen bei den Anträgen, die Sie stellen, natürlich auch im Blick haben, dass wir mit den Beschlüssen,
die wir hier im Hause fassen, nicht nur politische Showeffekte zu erzielen haben, sondern uns dabei auch an
wichtige Prinzipien und Kriterien halten müssen, etwa
an solche der Wirtschaftlichkeit.
({2})
Wir haben hier nicht Geld aus Marketingbudgets zu
verwalten, sondern das Geld des Steuerzahlers.
({3})
Nach § 6 des Gesetzes über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder dürfte das, was
Sie vorschlagen, nicht rechtens sein; denn darin steht
ausdrücklich:
Für alle finanzwirksamen Maßnahmen sind angemessene Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchzuführen.
Vor dem Hintergrund ist das, was Sie vorschlagen, unrealistisch.
({4})
Es bleibt auch unrealistisch, zumindest eine gewisse Zeit
lang. Ich glaube, dass man deshalb bei solchen Showanträgen
({5})
nicht von den Grundsätzen der Haushaltsführung abweichen sollte, sondern tatsächlich versuchen sollte, mit den
Geldern des Steuerzahlers vernünftig umzugehen.
Das Anliegen, das dahintersteckt, Herr Fell, ist natürlich ein begrüßenswertes.
({6})
Sie sagen richtigerweise, dass die erneuerbaren Energien
in Zukunft einen höheren Anteil haben sollen. Dem
stimmen wir als Regierungskoalition zu. Für meine
Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, gilt das genauso.
({7})
Deshalb halten wir an den Anschubfinanzierungen für
erneuerbare Energien, die bereits gegeben worden
sind, fest - sie sollen auch weiterhin stattfinden - und
engagieren uns in diesem Bereich, egal ob auf europäischer Ebene oder auf nationaler Ebene. Das findet statt.
Im gleichen Atemzug muss ich allerdings sagen: Was
Sie sich an Klimazielen wünschen und was auch wir uns
da wünschen, ist nur so lange durchführbar, wie man
eine realistische Betrachtungsweise für das, was eine
Energiepolitik wirklich braucht, zugrunde legt.
Dazu gehört selbstverständlich auch die Frage der
Kernenergie.
({8})
Wenn man aus einer klimafreundlichen Energie aussteigen will, dann muss man sagen, wie das funktioniert,
und überlegen, wie das in Zukunft mit den Klimazielen,
die man sich selbst vorgibt, vereinbar sein soll. Sie müssen sich einmal vor Augen führen, dass die jährlichen
CO2-Emissionen um 160 Millionen Tonnen höher wären, wenn abgeschaltete Kernkraftwerke durch konventionelle Kohlekraftwerke ersetzt werden würden.
({9})
Das ist eine Entwicklung, die wir natürlich mit großer
Sorge sehen. Was bei den Versorgern energiepolitisch
diskutiert wird, geht gerade in diese Richtung. Deshalb
müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, auch weiterhin zu forschen, um das technische Hauptproblem,
das dem verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien im
Wege steht, zu lösen. Dabei geht es letztlich um die
Grundlastfähigkeit.
({10})
- Darauf wollte ich gerade eingehen, Herr Fell. Vielen
Dank, dass Sie sich hier als Souffleur betätigen.
In der Tat ist es so, dass es bei den erneuerbaren Energien große Schwierigkeiten mit der Grundlastfähigkeit
gibt. Deshalb muss man sich darüber im Klaren sein,
dass auch ein kurzfristiger Ausstieg aus der Kernenergie
große Risiken mit sich bringt, und zwar sowohl in der
Energieversorgung als auch bezüglich des Erreichens
der Klimaschutzziele, die Deutschland sich gesetzt hat
und die unserer Vorstellung nach für ganz Europa gelten
sollten.
Ich glaube, dass die erneuerbaren Energien ein großes
Potenzial haben; daran glaube ich wirklich. Wenn man
forscht, wenn man sich engagiert - Deutschland tut dies
richtigerweise -, dann hat die Solarenergie sicherlich
eine große Zukunft. Das hat auch positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt; das ist unbestritten. Ich
glaube, dass die Grundlastfähigkeit von Geothermie auf
Dauer gegeben sein kann. Auch auf diesem Gebiet müssen wir forschen. In der Region, die ich vertrete - Teile
des Ruhrgebiets -, wird das richtigerweise getan. Ich unterstütze diese Initiativen persönlich sehr.
Trotzdem, man muss realistisch bleiben. Deshalb
halte ich das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, für zu
allgemein und im Vergleich zu dem, was eine wirklich
vernunftorientierte Energiepolitik letztendlich brauchte,
auch für zu unrealistisch.
({11})
Sie haben in der Debatte über die Regierungserklärung heute Morgen auch von unseren Rednern gehört,
wie wichtig uns die Klimaschutzpolitik ist. Das können
Sie auch daran erkennen, wie die Bundesregierung, der
Bundesminister für Umwelt und auch die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene agieren. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir, die Unionsfraktion, am Dienstag dieser Woche ein umfangreiches Papier zur
Klimaschutzpolitik verabschiedet haben. Darin werden
sehr ehrgeizige Ziele vertreten. Wir laden Sie herzlich
ein, uns auf diesem Weg zu folgen, um mit uns gemeinsam an einer realistischen Umwelt- und Energiepolitik
zu arbeiten. Wir wollen es schaffen, unsere Klimaschutzziele mit dem, was aus unserer Sicht wirtschaftlich vernünftig ist, in Übereinstimmung zu bringen. Dazu haben
wir am Dienstag konkrete Vorschläge gemacht.
({12})
Zu einer realistischen Betrachtung der Umweltpolitik
gehört letztendlich natürlich auch, dass man sich den
Fragen stellt. Das ist in einer Koalition wie der, in der
wir uns befinden, natürlich nicht immer ganz einfach;
schließlich werden in dieser Koalitionskonstellation an
vielen Punkten unterschiedliche Meinungen vertreten.
Wir sind in vielen Punkten unterschiedlicher Auffassung, zum Beispiel bei der Kernenergie. Aber wir als
Koalition sind uns der Probleme natürlich bewusst. Deshalb haben wir einen eindeutigen Koalitionsvertrag geschlossen. Die darin getroffene Regelung zur Kernenergie deckt sich zwar nicht mit meiner Meinung; aber wir
akzeptieren sie trotzdem. Das wird in dieser Koalition
bis 2009 auch so bleiben. Was danach sein wird, darüber
wird man in Wahlkämpfen und anderswo diskutieren.
Ich sehe diesen Diskussionen mit großer Entspanntheit
und mit großer Rationalität entgegen.
Wir müssen allerdings auch politische Fragen diskutieren - die haben Sie aufgeworfen -, die tatsächlich
wichtig sind. Dazu gehört zum Beispiel die Frage der
Endlagerung. Man kann nicht einfach ignorieren, dass
es in Deutschland ein Endlagerungsproblem gibt, und
sich dann, wenn die Lösung des Problems ansteht, in
eine komplette Blockadehaltung begeben.
({13})
Vielmehr bemüht sich die Große Koalition, ausgewogen
zu urteilen und das Ganze unter Berücksichtigung der
verschiedensten Aspekte auf den richtigen Weg zu bringen. Sie können die aktuellen Studien über Gorleben
nicht einfach ignorieren.
({14})
Sie können nicht einfach so tun, als wenn wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe erst am vorvergangenen Mittwoch vorgelegt hat, nicht gelten. Bitte prüfen Sie diese
objektiven wissenschaftlichen Untersuchungen genauso, wie wir Ihre Anträge gewissenhaft prüfen und
vernünftig behandeln.
({15})
Sie haben eingangs der Opfer der fürchterlichen Katastrophe von Tschernobyl gedacht. Dem möchte ich mich
ausdrücklich und in aller Form anschließen. Wir haben
vor einem Jahr eine Debatte darüber geführt, und wir haben in diesem Zusammenhang viele Diskussionen geführt. Ich stimme Ihnen absolut zu, wenn Sie fordern,
dass so etwas nie wieder passieren darf
({16})
und dass man deshalb alles Menschenmögliche tun
muss, um solche Katastrophen zu verhindern. Deshalb
muss man selbstverständlich kritisch hinterfragen, welche Risiken die Kernenergie mit sich bringt.
Ohne auf die deutsche Kernenergiedebatte einzugehen, möchte ich darauf hinweisen: Die Kernenergie erlebt weltweit eine Art Renaissance.
({17})
Angesichts dessen müssen wir uns schon die Frage stellen, ob die Technologieführerschaft, die Deutschland in
diesem Bereich hat, nicht zumindest Anlass zum Nachdenken sollte. Ich meine damit gar nicht die Beibehaltung der Kernenergie in Deutschland; davon spreche ich
gar nicht. Aber wenn man überlegt, wie sich das weltweit in den nächsten Jahrzehnten entwickeln soll, dann
muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Sicherheitsstandards in Deutschland sehr hoch sind. Diese hohen
Sicherheitsstandards wären auch für andere Länder wünschenswert.
({18})
Wirken Sie zumindest an diesem Ziel mit, damit sich ein
Unfall wie in Tschernobyl nicht wiederholt! Am besten
geschieht das mit sicherer deutscher Technik.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen,
lassen Sie mich zunächst auf Ihren Miniantrag zur Energieversorgung der staatlichen Liegenschaften zu sprechen kommen. Ich muss schon sagen: klein, aber oho!
Um der bösen Kernenergie wieder eins obendrauf zu geben, stellen Sie einen solchen Antrag. Sie fordern, sämtliche Verträge mit den EVUs zu kündigen. Soll die Regierung demnächst dafür zuständig sein, den Kunden zu
sagen, welche Energie sie verbrauchen dürfen? Sollen
die keine Auswahl mehr haben? Das finde ich nicht
okay. Das wird ein großer Traum bleiben.
Damit wir uns richtig verstehen, Herr Fell: Wir stimmen zu, dass staatliche Einrichtungen mit ihren Betriebstechniken Vorbildcharakter haben sollen.
({0})
Da sind wir durchaus gleicher Meinung. Wir sind auch
hocherfreut, dass gerade das Gebäude, in dem wir uns
befinden, der Reichstag, mit bester und hocheffizienter
Technik ausgestattet ist und zu einem hohen Anteil mit
erneuerbaren Energien versorgt wird.
({1})
Wir machen ständig mit ausländischen Delegationen
Führungen und stellen das nach außen dar.
Auch wir sind dafür, dass ein erkennbarer Teil des
Energiemix aus erneuerbaren Energien besteht.
({2})
Wir sind der festen Überzeugung, dass Deutschland
noch eine ganze Weile einen breit gefächerten Energiemix braucht und dass wir keine Technologie von vornherein ausschließen sollten. Das gilt auch für die Kernkraft.
Damit komme ich zu dem, was Sie eigentlich wollen.
Wieder einmal predigen Sie Ihr indifferentes SchwarzWeiß-Bild: Auf der einen Seite gibt es die guten, unbedenklichen erneuerbaren Energien, auf der anderen Seite
steht das Bedrohungsszenario der Kernenergie.
({3})
- Ist das jetzt eine Frage? Wenn Sie eine Frage haben,
dann stellen Sie sie. Ich werde sie gern beantworten. Sie stellen die Kernenergie als Bedrohung dar, lehnen
aber andere Energien, zum Beispiel die aus CO2-freien
Kraftwerken, ab. Davon ist in Ihrem Antrag keine Rede.
Was wollen Sie eigentlich? Sie wollen den Energiemix
de facto abschaffen.
({4})
Wie gewohnt muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie wiederum außer Acht lassen, dass wir die
Kernenergie noch eine Weile brauchen werden. Der
Grundlastbereich wurde hier bereits angesprochen. Außerdem bietet Kernenergie günstigen Strom und schont
das Klima.
({5})
Da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen.
Einmal ganz davon abgesehen: Die Nutzung der
Kernenergie lässt sich gerade in Deutschland auch unter
Sicherheitsaspekten sehr gut verantworten.
({6})
Ich zitiere zum wiederholten Male aus der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zur Bewertung des Reaktorunfalls von Tschernobyl:
Der Tschernobyl-Reaktor gehört zur Baulinie der
RBMK-Reaktoren. Diese Reaktoren verfügen über
zahlreiche Auslegungsmerkmale, die mit westeuropäischen Technologie- und Sicherheitsstandards
nicht vergleichbar sind.
Die Bundesregierung misst der Sicherheit der
Atomkraftwerke in Deutschland höchste Priorität
bei. Im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung
wird dafür Sorge getragen, dass die deutschen
Atomkraftwerke auf dem höchstmöglichen Sicherheitsniveau betrieben werden.
({7})
So ein Störfall wie in Tschernobyl soll nie wieder passieren. Da bin ich ganz auf Ihrer Linie. Die osteuropäischen Länder, die baugleiche Reaktoren haben, haben
schon reagiert, die Sicherheitstechnik nachgerüstet und
ihre Sicherheitssysteme wesentlich verbessert.
Jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt:
Zum x-ten Male beschwören Sie, am Atomausstieg festzuhalten, da auch die Endlagerfrage immer noch nicht
gelöst sei. In Ihrer Argumentation zur Endlagerfrage
sind Sie nicht stringent. Wenn man die friedliche Nutzung der Atomenergie beenden will, dann hätte man sich
längst darum kümmern können. Das gilt auch für Ihre
Fraktion, als Trittin Bundesminister war.
({8})
Aber der AK-End-Bericht hat in der Schublade gedümpelt. Sie haben das auf die lange Bank geschoben. Sie
machen sich langsam selbst in dieser Frage unglaubwürdig.
({9})
Die derzeitige Diskussion über eine neue, bundesweite
Standortsuche wird das Ziel eines Endlagers in weite
Ferne rücken. Das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung
wird jedenfalls nicht dadurch besser, dass man 17 oberirdische Zwischenlager geschaffen hat, die wahrscheinlich zu Endlagern werden.
({10})
Genauso wie mein Vorredner komme ich auf die nun
vorliegenden drei Gutachten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zurück. In der letzten Woche wurde darüber diskutiert. Wenn man die drei Wirtsgesteine miteinander vergleicht, dann sticht sehr stark
heraus - ich bin zwar kein Physiker wie Sie, habe mich
aber lange genug mit der Materie befasst -, dass Steinsalz erhebliche Vorteile gegenüber Tongestein und Granitgestein hat.
({11})
Das kann man nicht wegdiskutieren. Meine Rede hier
hat auch ihr Gutes. Ich habe erneut die Chance, im Namen der FDP die Bundesregierung noch einmal aufzufordern, das Gorleben-Moratorium aufzuheben und die
Forschungsarbeiten ergebnisoffen weiterzuführen.
({12})
Bei Schacht Konrad gehen wir - hier sind wir ganz positiv eingestellt - vom Sofortvollzug aus.
Letzte Bemerkung: Wir brauchen in Zukunft - um
Verantwortung tragen zu können - die Kompetenz von
Kernphysikern sowie die Forschung zur Kernenergie
und die Fusionsforschung. Deshalb plädieren wir dafür,
die Forschungsansätze zu halten und verstärkt für die
Ausbildung von akademischem Nachwuchs in diesen
Spezialgebieten einzutreten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Pries,
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. MarieLuise Dött ({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute vor 21 Jahren explodierte der Block 4
des Atomkraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine. Die
Folgen der Katastrophe sind bis heute verheerend:
350 000 Menschen verlieren dauerhaft ihre Heimat.
Noch heute ist eine 30-Kilometer-Zone um den Unglücksreaktor absolutes Sperrgebiet. 4 000 Kinder erkranken an Schilddrüsenkrebs. Der volkswirtschaftliche
Gesamtschaden der Katastrophe wird auf mehrere Hundert Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Zahl der Todesopfer bleibt umstritten. Die Schätzungen schwanken
zwischen 4 000 und 100 000 Menschen. - Tschernobyl
ist für uns ein Argument in der energiepolitischen Debatte. Für die betroffenen Menschen bedeutet der
26. April 1986 aber bis heute einen tief greifenden Ein9598
schnitt in ihr Leben. Ich denke, bei aller Heftigkeit in der
aktuellen Auseinandersetzung um die Atomenergie sollten wir das Schicksal der Opfer von Tschernobyl nicht
vergessen.
({0})
Wir müssen auch in Zukunft unsere Bemühungen fortsetzen, den Betroffenen bei der Bewältigung der Katastrophe zu helfen.
Sehr geehrter Herr Fell, trotz vieler Übereinstimmungen werden wir Ihren Antrag zu Tschernobyl ablehnen.
Wir tun dies, weil Sie der Koalition energiepolitischen
Stillstand vorwerfen und weil Sie eine Verknüpfung der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit der Endlagerfrage herstellen. Das Erste ist falsch, und das Zweite ist
unseriös.
({1})
Passend zum Jahrestag von Tschernobyl hat der Vorstandsvorsitzende von Energie Baden-Württemberg, Utz
Claassen, heute einen neuen Vorschlag in der Atomdebatte unterbreitet. Die Restlaufzeiten der deutschen
Atomkraftwerke sollen um zehn Jahre verlängert werden. Als Gegenleistung wird der Atomausstieg im
Grundgesetz festgeschrieben. Das ist zumindest in einer
Hinsicht ein erfreulicher Vorschlag: Endlich scheint der
Vorstandsvorsitzende eines großen Energiekonzerns in
Deutschland zu erkennen, dass es einen Ausstieg aus
dem Atomausstieg nicht geben wird. Die Mehrheit der
Bevölkerung in diesem Land will keine Atomkraftwerke, Herr Mißfelder.
({2})
Selbstverständlich ist die SPD-Bundesfraktion gerne
bereit, den Atomausstieg im Grundgesetz verbindlich zu
verankern.
({3})
Die Frage nach den Restlaufzeiten haben wir aber schon
vor etlichen Jahren im Konsens mit der Energiewirtschaft gegen entsprechende Zugeständnisse geregelt.
Wir sehen hier keinen Änderungsbedarf.
({4})
Statt auf längere Laufzeiten von Atomkraftwerken setzen wir auf Energieeffizienz, Energieeinsparung und den
konsequenten Ausbau erneuerbarer Energien. Atomausstieg und Klimaschutz sind für uns kein Widerspruch.
({5})
Die öffentliche Hand ist ein Großabnehmer von
Energie in Deutschland. Ihr kommt deshalb beim Umbau der Energieversorgung eine wichtige Vorbildfunktion zu. Die Politik ist sich dieser Vorbildfunktion seit
langem bewusst. Ein Beispiel dafür ist der Deutsche
Bundestag selbst: 50 Prozent des Strombedarfs und
100 Prozent der benötigen Wärme- und Kälteenergie des
Deutschen Bundestages werden aus regenerativen Quellen erzeugt. Erreicht wird dies durch eine Kombination
aus Blockheitskraftwerken auf Basis von Biodiesel, Fotovoltaikanlagen, Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung, durch
energiesparende Technik und darauf ausgerichtete Gebäudeplanung. Das ist eine beeindruckende Bilanz, die
zeigt, was mit heutiger Technik bereits möglich ist.
Dennoch ist der Anteil des Ökostroms am gesamten
Stromverbrauch der Bundesliegenschaften insgesamt
noch gering. Bisher decken nur das Bundesumweltministerium und die Behörden seines Geschäftsbereichs ihren Energiebedarf vollständig mit Ökostrom. Es sind jedoch einige Ergänzungen dieser vorläufigen Bilanz
nötig.
Erstens. Die vergaberechtliche Zulässigkeit einer
Ausschreibung von Ökostrom war noch bis vor wenigen
Jahren äußerst umstritten. Erst mit der Vergabekoordinierungsrichtlinie vom 31. März 2004 hat die EU die bestehenden Rechtsunsicherheiten beseitigt.
Zweitens. Das Bundesumweltministerium veröffentlichte im September 2006 die Arbeitshilfe Beschaffung
von Ökostrom. Damit haben wir die Grundlage dafür
geschaffen, dass in Zukunft mehr Bundesbehörden zu
Ökostromanbietern wechseln können. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dies ausdrücklich.
({6})
Wir stehen bei der Umsteuerung der Energieversorgung der öffentlichen Hand erst am Anfang. Ich bin aber
fest davon überzeugt, dass wir auf diesem Gebiet in den
kommenden Jahren deutliche Fortschritte machen werden. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Kurt Hill,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste im Hause! Heute, am 26. April 2007,
21 Jahre nach der schrecklichen Katastrophe von Tschernobyl, hat die Atomenergie ihre Gefährlichkeit nicht
verloren. Noch immer ist die friedliche Nutzung der
Strahlentechnik die Einstiegsdroge in militärische Drohgerüste. Noch immer reiht sich in den europäischen
Atomanlagen Störfall an Störfall.
Die vier Störfallmeiler in Cattenom an der saarländisch-französischen Grenze müssen genauso vom Netz
wie der schwedische Block in Forsmark. In Forsmark
- wir haben es eben gehört - war es nur dem Zufall geschuldet, dass ein GAU wie in Tschernobyl verhindert
wurde. In Finnland entwickelt sich der Neubau eines
Atomblocks schon beim Rohbau zum Desaster. Technische Mängel summieren sich zu gefährlichen Risiken,
und die Kosten explodieren in absurde Höhen.
Zurück nach Deutschland. Hier sieht die Situation
auch nicht besser aus. Die Hauptenergie wird in die Vertuschung und Verschleierung von Störfällen gesteckt.
Warum legt der Betreiber Vattenfall die mehrere hundert
Punkte umfassende Mängelliste des Atomkraftwerks
Brunsbüttel nicht offen? Herr Mißfelder, ich behaupte:
Vattenfall fürchtet bei diesem Kraftwerk Konsequenzen
in Bezug auf die Restlaufzeit und die möglichen Laufzeitübertragungen.
({0})
Zur Endlagerdiskussion. Der Bundeswirtschaftsminister legte im April eine Untersuchung zu Bodenschichten vor. Ein solches Endlager ist nach einer Stellungnahme des Bundesamtes für Strahlenschutz zur
Verwahrung von Brennstäben überhaupt nicht geeignet.
Hauptsache, die möglichen Standorte liegen nicht in
Bayern.
In der Anreicherungsanlage im westfälischen
Gronau wird derweil mittels Zentrifugen, ähnlich wie in
der umstrittenen iranischen Anlage Natans, Uran angereichert. Mit Genehmigung der Landesregierung von
Nordrhein-Westfalen wird die Kapazität zurzeit von
1 800 auf 4 500 Tonnen pro Jahr erweitert. Das reicht für
35 Atomkraftwerke. Was geschieht mit dem anfallenden
Abfall? Das abgereicherte Uran wird als einfaches Wirtschaftsgut deklariert, in Züge verladen und unter zweifelhaften Bedingungen in Russland endgelagert. Die
deutschen Energiekonzerne stellen derweil munter Anträge auf Laufzeitverlängerungen der AKWs. Trotz klarer Rechtslage werden sie von der CDU/CSU und der
FDP unterstützt. Der Gipfel des Zynismus: Sie alle behaupten, Atomkraft würde das Klima retten. Tatsache
ist: Die Atomkraft ist eine Gelddruckmaschine mit gefährlichen Nebenwirkungen. Atomstrom blockiert den
Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber ich sage Ihnen:
Der Anteil von Strom aus Wind, Sonne und Bioenergie
wächst stetig und wird den Atomstrom kurzfristig ersetzen.
Zum Antrag der Grünen: Natürlich macht es Sinn, die
Bundeseinrichtungen auf Strom ohne Atom umzustellen,
Ökostrom zu beziehen. Auch für den Verbraucher gibt es
eine einfache Möglichkeit, Atommeiler überflüssig zu
machen: Ich verweise auf die Kampagne der Umweltverbände auf www.atomausstieg-selber-machen.de. Laut
Ihrem Antrag soll der Bund die Stromverträge mit den
Energieversorgungsmonopolunternehmen aufkündigen.
Wenn das möglich ist, Herr Fell, dann frage ich Sie: Warum haben Sie das nicht schon in Ihrer Regierungszeit
veranlasst?
({1})
Und wen meinen Sie mit Tochterunternehmen? Vielleicht die Stadtwerke?
Die Linke wird sich bei den Anträgen enthalten. Wir
können mit Blick auf die realen Gefahren der Atomenergie nicht warten, bis der Ausstieg gemäß dem Atomkonsens vollzogen ist. Wir wollen - und das ist möglich -,
dass das Aus für die Atomkraftwerke früher kommt.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nie wieder Tschernobyl - wer, liebe Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen, wollte heute, auf den Tag
genau 21 Jahre nach der Atomkatastrophe in der
Ukraine, dem Titel Ihres Antrages widersprechen?
Vor einem Jahr, anlässlich des 20. Jahrestages des
schrecklichen Unglücks, hatte die Fraktion der SPD
Gäste aus Weißrussland. Belarus war neben der Ukraine
von der radioaktiven Verseuchung am stärksten betroffen. Frau Dr. Irina Gruschewaja, Mitbegründerin und
Vorsitzende der belarussischen Hilfsorganisation Den
Kindern von Tschernobyl, hat uns damals umfassend
über die Folgen des Unglücks für ihre Heimat informiert. Es waren tief gehende Eindrücke, die Frau
Gruschewaja mit ihren Schilderungen hinterlassen hat.
Die Folgen der Reaktorkatastrophe für die Menschen in
den betroffenen Regionen sind erschütternd. Als wäre
das noch nicht genug, hat das Parlament von Belarus den
Bau eines neuen Atomkraftwerkes beschlossen, und
zwar auf den Ruinen und Friedhöfen der Dörfer in den
verseuchten Gebieten. Es ist schlicht unglaublich, dass
gerade Weißrussland an der Atomkraft festhält.
({0})
- Herr Tauss, auch Sie kennen die Arbeit von Frau
Gruschewaja.
Die Risiken der Kernkraft waren und sind nicht beherrschbar. Deshalb ist die Atomkraft ein Auslaufmodell
und nicht ein Modell der Zukunft.
({1})
Heute steht eine Anzeige der deutschen Sektion der
internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges
in der Süddeutschen Zeitung, in dem Zahlen genannt
werden, die uns zu denken geben sollten: Zurzeit laufen
weltweit - Frau Brunkhorst, das betrifft Ihre Mission 435 Atomkraftwerke, die 3 Prozent der Energieerzeugung leisten. Was ist mit den restlichen 97 Prozent? Allein um 10 Prozentpunkte mehr Energie aus Atomkraft
zu gewinnen, müssten weltweit 1 000 weitere Atomkraftwerke
Heinz Schmitt ({2})
({3})
gebaut werden und ans Netz gehen - wodurch die Wahrscheinlichkeit für einen Super-GAU steigen würde. Man
muss sich die Zahlen anschauen und darf nicht einfach
an irgendetwas glauben; denn glauben heißt ja selten
wissen.
({4})
Der Vergleich von Forsmark und Brunsbüttel - dieser
Reaktor hat die gleiche Sicherheitstechnologie - wurde
heute schon ausreichend erläutert.
Es muss auch gefragt werden, ob es die Möglichkeit
einer sinnvollen Endlagerung überhaupt gibt. Gibt es
eine Technik, mit der gefährlich strahlender Atommüll
Tausende von Jahren sicher gelagert werden kann? Gibt
es dafür technische Lösungen, gibt es dafür politische
Lösungen? Ich bezweifle das.
({5})
- Asse ist ein Stichwort. - Diese Frage muss mir als altem Wackersdorfkämpfer ({6})
- Das sage ich gern und stolz. Ich weiß noch, wie wir damals von den Bewohnern in Schwandorf auf dem Rasen
morgens mit Frühstück versorgt wurden - ich spreche da
aus Erfahrung -, was da alles angedacht wurde, wie viele
Milliarden D-Mark vergeudet wurden für eine Technologie, die sich als Luftblase erwiesen hat.
Unter Bundeskanzler Gerhard Schröder haben wir mit
Ihnen von den Grünen als unserem Koalitionspartner
den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Dieser
Beschluss war richtig. Es gibt dafür eindeutige Mehrheiten in der Bevölkerung.
({7})
Auch hier im Haus gibt es dafür über die meisten Parteigrenzen hinweg Zustimmung. Herr Mißfelder, Sie waren damals noch zu jung und haben all das nicht erlebt.
({8})
- Ich weiß. Aber auch Ihre Generation hat mit den Resten der Strahlung zu kämpfen. Denken Sie auch daran,
nicht nur an die Hüftgelenke!
({9})
Wir setzen auf alternative Energien. Wir sind in der
Großen Koalition auf gutem Wege. Wir fördern - das haben wir heute Morgen mehrfach vom Minister gehört den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Die
energetische Förderung von Gebäuden hat sich in den
letzten Jahren auch für das Handwerk zu einem wahren
Renner entwickelt. Auf dem europäischen Gipfel am
8. und 9. März dieses Jahres hat man im Hinblick auf
den Klimaschutz und die Energiepolitik neue Dimensionen erreicht.
Der Bundesminister für Umwelt, Sigmar Gabriel, hat
heute Morgen sehr viel Positives über die Entwicklungen im Bereich der alternativen Energien berichtet. Unser Ziel ist, dafür zu sorgen, dass der Anteil der Primärenergie, den wir aus erneuerbaren Energien gewinnen,
bis zum Jahre 2020 weit über 20 Prozent beträgt.
Herr Kollege Schmitt!
Ich bin schon auf der Zielgeraden.
({0})
Ihren Vorwurf, wir würden für energiepolitischen
Stillstand sorgen, weise ich mit Befremden zurück. Ihrem Antrag kann ich, obwohl er gute Gedanken beinhaltet, aufgrund dieses Vorwurfs nicht zustimmen.
Herr Kollege, Sie sind jetzt sicher am Ziel.
Wir werden weiterhin Kurs halten und die zur Lösung
der Klimaprobleme entscheidenden Schritte einleiten.
Von daher dürfen Sie darauf vertrauen, dass wir den Klimaschutz auch weiterhin ernst nehmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3961 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel Nie wieder Tschernobyl -
Zukunftssichere Energieversorgung ohne Atomkraft.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/1813, den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/860 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei
Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen ange-
nommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats
({0})
- Drucksache 16/2856 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
- Drucksache 16/5136 Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
- zu dem Antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deutschen Bundestages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deutschen Bundestages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates für Bio- und Medizinethik
- Drucksachen 16/3199, 16/3277, 16/3289, 16/5136 Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz ({4})
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Eberhard Gienger, Ilse Aigner, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates
zu Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissenschaften ({5})
- Drucksache 16/5128 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel.
({6})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf dem schwierigen
Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung
auf den Menschen hat sich in der Vergangenheit gezeigt,
wie wertvoll es für Parlament und Regierung ist, externen Sachverstand in die Diskussion einzubeziehen. So
kann das notwendige Expertenwissen die Debatte bereichern.
({0})
Ein wesentliches Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist es, die Arbeiten eines auf Dauer angelegten
bioethischen Beratungsgremiums auf eine gesetzliche
Grundlage zu stellen.
({1})
Das ist ein Riesenfortschritt. Damit greift die Bundesregierung die Kritik aus den Reihen des Bundestages an
der Art der Einrichtung des Nationalen Ethikrates auf.
Dieser wurde damals ohne Einbindung des Parlaments
und ohne gesetzliche Grundlage beim damaligen Bundeskanzler angesiedelt.
Der Deutsche Ethikrat wird den Nationalen Ethikrat
ersetzten. Der Deutsche Ethikrat soll jedoch nicht nur
die Bundesregierung, sondern auch den Bundestag beraten. Damit gehen Bundesregierung und Bundestag in
dieser Frage nunmehr aufeinander zu.
Dementsprechend wird das Parlament einbezogen,
und zwar nicht nur bei der Errichtung des Ethikrates,
sondern auch bei der Ernennung der Sachverständigen.
Die 26 Mitglieder des Ethikrates werden zu gleichen
Teilen vom Bundestag und von der Bundesregierung
vorgeschlagen und durch den Präsidenten des Deutschen
Bundestages berufen. Es wurde auch gezielt ein Berufungsverfahren gewählt, durch das dem Parlament und
der Regierung gleichermaßen die Verantwortung für eine
ausgewogene Zusammensetzung des Gremiums zugeschrieben wird. Im Übrigen: Mit dem Deutschen Ethikrat erhält die Opposition erstmals die Möglichkeit,
Sachverständige für einen Ethikrat auszuwählen, eine
Möglichkeit, die sie beim rot-grünen Nationalen Ethikrat
nicht hatte.
({2})
Durch eine breite fachliche Zusammensetzung wird
sichergestellt, dass ein interdisziplinäres, plurales Spektrum und auch unterschiedliche weltanschauliche Ansätze vertreten sind. Die Funktion dieses Ethikrates wird
die wissenschaftsgeleitete Beratung von Politik und Ge9602
sellschaft sein. Damit ist klar, dass die Verantwortung
für den politischen Entscheidungsprozess und auch für
die Entscheidungen ausschließlich bei uns im Parlament
und bei der Bundesregierung liegt. Diese klare Trennung
in Beratungsinstanz auf der einen Seite und Entscheidungsinstanz auf der anderen Seite ist auch Ausdruck
des wechselseitigen Respekts vor der spezifischen Rolle
und der Verantwortung des Deutschen Ethikrates auf der
einen Seite und des Bundestages und der Bundesregierung auf der anderen Seite.
Konstitutives Element des Deutschen Ethikrates ist
dabei die Unabhängigkeit seiner Mitglieder vor staatlicher Einflussnahme. Daraus folgt eben auch die Unabhängigkeit der wissenschaftsbasierten Beratung. Auf der
anderen Seite bleiben Bundestag und Bundesregierung
frei, sich zu entscheiden, auf welche Weise sie Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates in den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess einfließen lassen
wollen oder ob sie sie eben verwerfen.
Der Vorschlag des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Linken für ein ständiges Ethikkomitee ist darauf angelegt, den Nationalen Ethikrat und die Struktur der
Enquete-Kommission in einem einzigen Gremium zusammenzuführen. Dieser Weg überzeugt aber nicht;
denn nicht ohne Grund ist in der derzeitigen Geschäftsordnung des Bundestages die Möglichkeit eines dauerhaft angelegten Ethikkomitees unter Einbeziehung externer Sachverständiger nicht vorgesehen. Stellungnahmen
einer auf Dauer eingerichteten Enquete-Kommission
können letztlich nämlich eine hohe faktische Bindungswirkung für das Parlament entfalten und damit die Parlamentarier in ihrer unabhängigen Entscheidungsfindung
einschränken. Gerade in Fragen der Ethik ist jeder Abgeordnete ausschließlich seinem Gewissen unterworfen.
({3})
Die Fragen der Lebenswissenschaften können eben nicht
an ein fest institutionalisiertes Gremium delegiert werden. Für die ethische Urteilsbildung und auch für die
Entscheidung sind schließlich alle Abgeordneten des
Bundestages zuständig.
Da der Ethikrat zudem als reines Beratungsgremium
gerade in Richtung Politik konstruiert ist, ist es auch folgerichtig, dass ihm weder Vertreter der Bundesregierung
noch Mitglieder des Bundestages angehören. Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass der Bundestag für sich bestimmt, in welcher Weise er eine gute Zusammenarbeit
zwischen dem Parlament und dem Ethikrat organisieren
möchte. Ich denke, dass die SPD-Fraktion und die CDU/
CSU-Fraktion mit ihrem Vorschlag für einen Parlamentarischen Beirat eine angemessene Lösung entwickelt
haben, durch die ein parlamentarischer Begleitprozess
sichergestellt wird.
({4})
Allerdings sollten auch in diesem Zusammenhang
eine Doppelstruktur und eine Vermischung zwischen Beratungsinstanz und Entscheidungsgremium unbedingt
vermieden werden;
({5})
denn es gilt das vorhin Gesagte: Es soll kein Sonderkomitee für ethische Fragen entstehen, das dem Entscheidungsfindungsprozess des Bundestages und auch
der Ausschüsse vorgreift.
Meine Damen und Herren, für die Wahrnehmung in
der Öffentlichkeit und auch im Parlament sowie für das
Vertrauen des Parlaments und der Regierung ist es wichtig, dass der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahmen,
seine Expertisen, seine Empfehlungen und seine Berichte veröffentlicht, wie es auch vorgesehen ist.
Der Deutsche Ethikrat tagt auf Antrag der beiden
Koalitionsfraktionen grundsätzlich öffentlich. Ihm muss
natürlich auch das Recht zustehen, vertraulich zu beraten, denn er braucht Freiraum für den Austausch und die
Meinungsbildung im vertraulichen Raum. Dieses Recht,
ohne Öffentlichkeit, ohne Mitglieder der Bundesregierung oder Parlamentarier tagen zu können, ist für die Arbeit eines unabhängigen Sachverständigengremiums
unverzichtbar. Dementsprechend räumt auch der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen ausdrücklich die
Möglichkeit nichtöffentlicher Sitzungen ein.
Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir
mit dem rasanten Fortschritt in den Lebenswissenschaften umgehen. Die vielfältigen Fragen werden uns dabei
noch lange und immer wieder beschäftigen und vor neue
Herausforderungen und Probleme stellen. Für unsere
Gesellschaft hängt viel davon ab; denn zum einen ist die
Forschungsfreiheit ein wesentlicher Teil einer freiheitlichen Gesellschaft,
({6})
zum anderen müssen die Menschenwürde und das
Grundrecht auf Leben auch in Zukunft der Grundstein
einer humanen Gesellschaft sein.
({7})
Die bioethische Debatte im Parlament und in der Gesellschaft wird insgesamt schwierig bleiben. Für sie wird
der Deutsche Ethikrat - so hoffen wir - eine wertvolle
fachliche Unterstützung sein. In diesem Sinne bitte ich
Sie um Unterstützung des Gesetzentwurfes.
({8})
Der Kollege Uwe Barth von der FDP-Fraktion hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Deswegen gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen René
Röspel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach Ende der letzten Legislaturperiode und mit
1) Anlage 4
dem Auslaufen der Enquete-Kommission Ethik und
Recht der modernen Medizin hat sich eine Gruppe von
Parlamentariern fast aller Fraktionen - von CDU/CSU,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke - Ende
letzten Jahres zusammengesetzt und die Frage gestellt,
wie die Ethikdebatte in Deutschland weiter organisiert
wird und wie sie stattfinden wird. Das Ergebnis dieser
interfraktionellen Diskussion haben wir heute in Form
der Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
vorliegen, die zwar wortgleich sind, aber trotzdem getrennt eingebracht worden sind.
Ich will keinen Hehl daraus machen, dass ich nach
wie vor große Sympathien für dieses eingebrachte Modell habe. Warum ist das so? Nach diesem Modell würde
das Ethikgremium jeweils zur Hälfte aus Abgeordneten
des Bundestages und aus Sachverständigen bestehen.
Dies ähnelte dem Ethikkommissionsprinzip. Bundesministerin Schavan hat diese interfraktionelle Initiative mit
ihrem Gesetzentwurf zunächst zunichte gemacht. Parlamentarier sollten in der Ethikdiskussion und -beratung
keine Rolle spielen.
Natürlich kann man sagen, es reicht, wenn uns
externe Gremien beraten und Stellungnahmen übersenden. Wir erleben in unserem Geschäft täglich, dass wir
50- bis 200-seitige Stellungnahmen und Expertisen auf
den Tisch bekommen. Meine Erfahrung ist die, dass es
etwas völlig anderes ist, ob man einen Bericht auf den
Tisch gelegt bekommt oder ob man ihn selbst mit erarbeitet hat.
({0})
Meine Erfahrung aus der Enquete-Kommission ist:
Gerade der Dialog und der Diskurs zwischen den Sachverständigen auf der einen Seite und den Abgeordneten auf der anderen Seite waren das Entscheidende und
das Produktive dieser Kommission.
Zur Stellungnahme der Enquete-Kommission zur Palliativmedizin wurde uns beispielsweise durch einen Palliativmediziner als sachverständiges Mitglied der
Enquete-Kommission die medizinische Expertise erstellt. Wir haben von den anderen Sachverständigen
Stellungnahmen zu den theologischen und philosophischen Fragen erhalten, und wir haben als Abgeordnete
die politische Einordnung einbringen können. Gemeinsam haben wir darüber beraten, was nötig ist und was
möglich ist. Ich glaube, das war ein guter und produktiver Prozess, in dem Impulse gesetzt und das Machbare
abgeschätzt werden konnte.
Übrigens hat am Montag dieser Woche der Nationale
Ethikrat eine Stellungnahme zur Organspende vorgelegt.
Soweit ich das mitbekommen habe, war die Kritik aller
Fraktionen des Hauses sowie der Verbände und Kammern sehr groß und eher heftig. Vielleicht wäre dies anders ausgefallen, wenn Parlamentarier an der Beratung
dieser Stellungnahmen teilgenommen hätten.
({1})
Ich darf mir erlauben, noch einen Nebenaspekt anzusprechen. Die Enquete-Kommission hat eine Reihe von
Veranstaltungen vor Ort durchgeführt. Wir haben an der
Universität Jena und der Universität Tübingen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern aus Bioethikinitiativen
diskutiert. Wir haben die Bodelschwinghschen Anstalten
in Bethel besucht und waren in den Alsterdorfer Kliniken in Hamburg. Wir sind dort als Kommission des
Deutschen Bundestages aufgetreten und so aufgenommen worden. Wir haben den Respekt des Parlaments für
die Arbeit, die dort jeweils geleistet wird, und Informationen über die Gesetzgebung und unsere Positionsfindung weitergeben können. Aber wir haben von diesen
Veranstaltungen vor Ort - anders, als das sicherlich
möglich ist, wenn man dort als einzelner Abgeordneter
auftritt - auch etwas mitnehmen können: Informationen, Meinungen und Eindrücke von der Arbeit vor Ort.
Das war eine wertvolle Erfahrung. Ich glaube, der Bundestag hat in diesen Veranstaltungen nicht das schlechteste Bild abgegeben.
({2})
Als wir im November den Entwurf des Gesetzes zur
Einrichtung eines Deutschen Ethikrates in erster Lesung
beraten haben - ich konnte leider nicht anwesend sein;
danke für die damaligen Genesungswünsche -, sah der
Gesetzentwurf anders aus: Parlamentarier sollten nicht
am Ethikrat beteiligt sein. Die große Mehrheit der SPDFraktion hat das als falsch angesehen. Schon in der Debatte vor sechs Monaten wurde klar, dass wir damit nicht
allein sind. Kollege Lammert ist damals als Abgeordneter an das Rednerpult gegangen und hat, wie das Kollege
Dr. Rossmann richtig sagte, eine sehr präsidiale Rede
gehalten. Er hat den Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung eines Deutschen Ethikrates als eine sehr gute
Grundlage für die weitere Debatte bezeichnet und
gleichzeitig aus seiner Sicht einige Punkte benannt, die
der Verbesserung bedurften.
({3})
Wir haben das aufgenommen, auch die Vorschläge
von Herrn Lammert in den Gesetzentwurf von Frau
Schavan einfließen lassen und ihn in jeder Hinsicht zum
Positiven verändert. Die zunächst geplante Beschränkung der Arbeit und Aufgaben des Deutschen Ethikrats
auf den Bereich der Lebenswissenschaften haben wir beseitigt und den Aufgabenbereich ausgedehnt. Natürlich
ist die Befassung mit der Stammzellforschung eine ethische Aufgabe. Aber nicht nur diese ethische Frage ist
wichtig. Die Menschen interessiert vielmehr folgende
Frage: Wie geht man mit Patientenverfügungen, Organspenden, Palliativmedizin oder Hospizarbeit um? Die
Erweiterung des Aufgabenspektrums des Deutschen
Ethikrats, wie wir dies erreicht haben, bedeutet, dass
sich der Deutsche Ethikrat auch mit diesen Themen befassen kann.
Die SPD-Fraktion hat aber vor allem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wieder mit ins Boot der
ethischen Debatte geholt. Nach langen Verhandlungen
mit der größten Fraktion des Hauses, unserem Koalitionspartner, haben wir es - anders, als es zunächst im
Gesetzentwurf vorgesehen war - geschafft, den Bundestag mit der Einrichtung eines Parlamentarischen
Ethikbeirates wieder an der Diskussion über Ethikfragen zu beteiligen. Die Abgeordneten werden die Debatten des Deutschen Ethikrates künftig parlamentarisch
begleiten und unterstützen. Sie werden die Stellungnahmen und Berichte des Deutschen Ethikrates beraten. Sie
werden dazu zwar keine eigenen Stellungnahmen abgeben können; aber das Pingpongspiel auf ethischer Ebene
ist ja nicht immer produktiv gewesen. Sie werden vor allen Dingen einschlägige Gesetzgebungsprozesse auf nationaler und europäischer Ebene begleiten können und
entsprechend der Geschäftsordnung des Bundestages
wie jeder Ausschuss daran mitarbeiten können.
Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber dem,
was im November vorgeschlagen wurde.
Ich bedauere es ausdrücklich, dass wir es nicht geschafft haben, in der organisatorischen Frage eine interfraktionelle Lösung hinzubekommen. Die SPD-Fraktion
will sach- und fachkundige Beratungen. Das ist jetzt
möglich. Wir schaffen es mit dem Ethikbeirat beim
Deutschen Bundestag, die außerparlamentarische Debatte über ethische Fragen mit der im Parlament zu verzahnen.
Ich glaube, je breiter, je transparenter und je unterschiedlicher vom Spektrum her die Gremien zusammengesetzt sind, desto mehr werden sie selbst und ihre Stellungnahmen akzeptiert. Das ist meine Erfahrung. Viel
hängt eben auch von der Zusammensetzung solcher Gremien ab.
Es ist sehr häufig kritisiert worden - das ist aber das
Wesen der Großen Koalition -, dass die Regierungsfraktionen einen großen Anteil der Mitglieder des Deutschen
Ethikrates benennen werden. Das hat sicher mit der
Größe der Koalition zu tun. Aber vielleicht schaffen es
alle Fraktionen zusammen - das ist mein Angebot -, im
Sinne einer größtmöglichen Unterschiedlichkeit der einzelnen zu berufenden Sachverständigen ein Tableau hinzubekommen, das die Breite der ethischen Debatte widerspiegelt. Wenn wir das im Vorfeld der Benennung der
jeweiligen Sachverständigen schaffen, dann haben wir,
glaube ich, einen guten Weg eingeschlagen.
({4})
Wir haben lange genug über die organisatorischen
Fragen diskutiert. Jetzt müssen wir die ethischen Fragen
und Sachfragen in den Vordergrund stellen. Es wird genug Arbeit für den Ethikrat, den Parlamentarischen Beirat und vor allen Dingen für uns Parlamentarier geben.
Denn letztendlich sind wir diejenigen, die in diesem Hohen Hause eigenverantwortlich und individuell über
schwierige ethische Fragen abstimmen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, die Sie noch so zahlreich auf der Tribüne sitzen! Wir führen heute scheinbar
eine rein formale Strukturdebatte. Mir ist aber so deutlich wie selten in meinem Leben aufgefallen, wie stark
in formalen Strukturdebatten Machtfragen ausgetragen
werden. Hier wurde mit Macht durchgesetzt, dass das
Parlament in ethischen Debatten nichts zu sagen haben
soll.
({0})
- Ja, Herr Tauss. Sie sollten genauer lesen, was in Ihrem
Antrag steht.
({1})
Wie Kollege Röspel gerade ausführlich dargestellt
hat, haben wir versucht, aus der Mitte des Parlaments
heraus, die guten Erfahrungen der Enquete-Kommissionen nutzend, ein Gremium zu schaffen, in dem der Sachverstand von Fachleuten und von Politikerinnen und
Politikern zusammengeführt wird.
({2})
- Ich komme gleich noch auf euren famosen Beirat zu
sprechen.
({3})
Der Sachverstand von beiden Seiten fügt sich - das
habe ich in der Enquete-Kommission erlebt - sehr gut
zusammen. Man kann zwar nicht verlangen, dass jeder
Politiker und jede Politikerin die letzten Neuigkeiten der
Stammzellforschung und die neuesten ethischen Debatten auf der religiösen, philosophischen oder sonstigen
Ebene in allen Details kennt; aber ich kann auch nicht
von Ethikern, Stammzellforscherinnen und -forschern,
Ärztinnen und Ärzten und allen sonstigen Fachleuten erwarten, dass sie wissen, wie Politik funktioniert.
({4})
Das eine kann und muss das andere befruchten, indem
man miteinander redet und gemeinsam Vorschläge unterbreitet. Das ist die große Chance der Enquete-Kommissionen.
({5})
Es ist auch die große Chance des von uns vorgeschlagenen Ethikkomitees.
Dieses ist mit einem Machtwort der Ministerin zunichte gemacht worden. Deswegen weiß ich jetzt, wie
machtvoll Strukturdebatten enden. Bedauerlicherweise
- das muss ich leider feststellen, lieber Reinhard Loske hat auch reine parteipolitische Kleinkrämerei von eurer
Seite dazu geführt, dass wir keinen gemeinsamen Antrag
einbringen konnten. Wir mussten zwei verschiedene Anträge einbringen, die inhaltlich gleich sind. Das ist ein
bisschen lächerlich.
Wir können uns aber auch lächerlich machen, indem
wir - das wäre viel schlimmer - dem Vorurteil Vorschub
leisten, dass Politikerinnen und Politiker nicht in der
Lage sind, ihre Aufgaben richtig wahrzunehmen.
Worum geht es? Jetzt soll ein Ethikgremium entstehen - der Staatssekretär hat es bereits angesprochen -,
das Diener zweier Herren ist, nämlich der Regierung und
des Parlaments. Jeder weiß, dass es immer schwierig ist,
Diener zweier Herren zu sein.
({6})
- Ich habe gelernt, dass Exekutive und Legislative zwei
getrennte Machtbereiche sind.
({7})
Ich habe auch gelernt, dass die Legislative - also wir die Exekutive beauftragt, nicht umgekehrt.
({8})
Wir sollen die Exekutive beauftragen und kontrollieren,
mein lieber Kollege. Praktisch läuft es jetzt aber andersherum: Die Exekutive schafft sich ein Gremium und erlaubt uns, den Oppositionsparteien, drei von sechs Sachverständigen zu benennen. Das erscheint geradezu
unglaublich demokratisch.
Wir, das Parlament, also Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ebenso wie ich, tun so, als ob uns das
nicht entmannen würde. Was passiert denn, wenn wir einen Beirat berufen, der nichts anderes ist als der Briefträger zwischen dem Ethikrat und der Regierung?
({9})
- Ja, selbstverständlich! Wir dürfen Briefe entgegennehmen, wir dürfen sie sogar lesen und dann weiterreichen.
Aber wir dürfen nicht einmal eine Meinung dazu äußern.
({10})
Umgekehrt darf dieser Beirat sich überlegen, was er den
Ethikrat fragt. Wo sind wir denn?
({11})
Nicht die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind
der Beirat. Bis jetzt war es immer umgekehrt: Das Parlament schafft sich Beiräte, in denen beraten wird, und berät nicht andere. Wo gibt es denn so etwas?
Dann wird bekannt, dass der jetzt noch existierende
Ethikrat - man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: ein Rat, der sich mit ethischen Fragen befasst - Menschen generell erst einmal als Ersatzteillager ansieht.
({12})
Nur wenn man sagt, dass man kein Ersatzteillager ist,
wird man nicht als solches angesehen.
({13})
- Was ist der Vorschlag denn anderes?
({14})
- Ich schäme mich überhaupt nicht dafür, dass ich dieser
Meinung bin.
Wir haben in diesem Parlament den Kompromiss bezüglich der Organspende in sehr langen Debatten und
unter sehr großen Schwierigkeiten mühsam errungen.
Herr Kollege Seifert, ich muss Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
({0})
Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung. Ich
habe nicht auf die Uhr geschaut. - Dieser mühsam errungene Kompromiss wird jetzt, eben weil keine Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Ethikrat vertreten
sind,
({0})
einfach über Bord geworfen nach dem Motto: Erst einmal ist jeder Organspender, und nur wenn er ausdrücklich Nein dazu sagt, ist er es nicht. Das ist eine ganz
große Umkehrung der bisherigen Verhältnisse, die so
nicht stattfinden sollte.
({1})
- Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit sind etwas
anderes als die Festlegung, dass jemand Organspender
ist, ob er will oder nicht.
Herr Kollege Seifert, Ihre Redezeit ist jetzt weit überschritten.
Entschuldigen Sie bitte. Ich danke für Ihre Geduld.
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viel Richtiges ist gerade in der letzten Rede gesagt wor9606
den. Ich erinnere noch einmal daran, dass wir am
9. November letzten Jahres eine Diskussion zum Gesetzentwurf von Frau Schavan, von der Bundesregierung
hatten. Die Punkte, die wir seinerzeit vorgetragen haben,
möchte ich hier telegrammartig wiedergeben. Dann
möchte ich auf die angeblich so großen Veränderungen,
die der Kollege Röspel hier geschildert hat, zurückkommen.
Unsere Punkte waren die folgenden: Erstens waren
wir der Meinung, dass es eine Anmaßung der Regierung
ist, dem Parlament vorschreiben zu wollen, wie es sich
bioethisch beraten lassen soll.
({0})
Zweitens waren wir der Meinung, dass ein Herausdrängen des Parlaments und der Parlamentarier aus der bioethischen Debatte unverantwortlich und unakzeptabel
ist. Wir waren drittens der Meinung, dass wir es hier mit
einer Verletzung von Oppositionsrechten zu tun haben,
({1})
weil die Bundesregierung sich einer doppelten Mehrheit
bedient. Wir waren viertens der Meinung, dass das
Outsourcing von Beratung gerade bei diesem schwierigen bioethischen Thema völlig falsch ist. Denn es geht
nicht nur um ethische und biomedizinische, sondern
auch um gesellschaftspolitische Fragen. Dieser letzte
Ast ist ohne Not abgeschnitten worden. Auch das halten
wir für falsch. Wir waren fünftens der Meinung, dass das
vorgesehene Tagen hinter verschlossenen Türen unakzeptabel ist. Wir haben sechstens das, was der Kollege
Röttgen hier vorgetragen hatte - er hat das Thema ironisch durch den Kakao gezogen und gesagt, dass nichts
Vernünftiges dabei herauskommen kann, wenn Abgeordnete Abgeordnete beraten -, zurückgewiesen, weil
wir der Meinung waren, dass die Enquete-Kommissionen gute Arbeit geleistet haben und dass auch in unseren
Ausschüssen im Regelfall gute Arbeit geleistet wird.
Deshalb ist der Vorwurf, dass nichts dabei herauskommen kann, wenn Abgeordnete Abgeordnete beraten, töricht und falsch. Das waren unsere wesentlichen Argumente.
({2})
Jetzt zu den angeblichen Änderungen. Lieber René
Röspel, Sie wissen, ich schätze Sie sehr; aber das, was
Sie hier erzählen, stimmt nun wirklich nicht.
({3})
Sie reden hier so, als wenn der Gesetzentwurf sozusagen
vom Kopf auf die Füße gestellt worden wäre, haben aber
tatsächlich überhaupt nichts verändert. Ihre Änderungen
sind absolute Petitessen, absolute Kleinigkeiten. Das
Einzige, wo man mit etwas Wohlwollen sagen könnte,
dass etwas verändert worden ist, ist die Frage der Transparenz. Früher hieß es: Im Regelfall wird nichtöffentlich getagt. Jetzt heißt es: Es kann nichtöffentlich getagt
werden. Das heißt also, der Ethikrat befindet nach wie
vor alleine darüber, welches Maß an Öffentlichkeit er
zulässt. Bei aller Freundschaft, das ist doch keine Transparenz.
({4})
Was die Rechte des Parlaments betrifft, so kann man
sagen: Sie haben es nicht geschafft, eine direkte Beteiligung von Abgeordneten in diesem Gremium sicherzustellen. Es gilt nach wie vor der Satz: Die Regierung
maßt sich an, die Abgeordneten aus der biopolitischen
und bioethischen Beratung herauszudrängen. Das ist für
uns vollkommen inakzeptabel.
({5})
Ebenfalls inakzeptabel für uns ist die doppelte Sicherung von Mehrheiten: Die Hälfte der Sachverständigen
wird von der Regierung vorgeschlagen, die andere
Hälfte vom Parlament. Das heißt unter den gegebenen
Bedingungen der Großen Koalition, dass Sie 23 von
26 Sachverständigen vorschlagen. Die Große Koalition
ist schon schlimm genug; aber dass Sie uns auch noch
antun, sozusagen 90 Prozent der Regelungen bestimmen
zu wollen, ist eine elementare Verletzung von Oppositionsrechten, die wir nicht akzeptieren können.
({6})
Jetzt kommen wir zu Ihrem großartigen Parlamentarischen Beirat.
({7})
Dieser Beirat nimmt Berichte des Deutschen Ethikrates
entgegen. Er darf sich nicht inhaltlich zu ihnen äußern
oder festlegen, er darf keine Anhörungen zu den Stellungnahmen des Ethikrates machen. Das heißt, dieses
Gremium ist nichts anderes als ein Lesezirkel und ein
Briefträger. Das ist ganz eindeutig zu wenig für parlamentarische Beteiligung.
({8})
Man muss sich nur einmal den aktuellen Fall - diese
schwierige Sache, die gerade zu Recht beschrieben
wurde - mit der Organtransplantation anschauen. Die
Empfehlung, die dazu gegeben wurde, halte ich - das
muss ich ganz ehrlich sagen - für himmelschreiend. Darüber, ob man das mit dem Begriff Ersatzteillager umschreiben sollte, kann man unterschiedlicher Meinung
sein; aber die Empfehlung an sich ist absolut unsensibel.
Das wäre nicht passiert, wenn es eine umfassendere politische Beratung gegeben hätte. Stellen Sie sich einmal
vor, wir hätten jetzt schon den Parlamentarischen Beirat:
Er hätte als einziges Gremium des Parlaments nichts zu
dieser Empfehlung des Ethikrates sagen können. Das ist
doch absolut grotesk.
({9})
Bei der Diskussion, die wir damals hierzu hatten, war
ich der Meinung, dass die Koalitionskollegen zwar nicht
in allen Punkten, die wir hier vorgeschlagen hatten, unserer Meinung waren, aber doch in sehr vielen Punkten.
Das war ganz deutlich zu spüren - teilweise bei der
Union, vor allen Dingen aber bei der SPD. Vor diesem
Hintergrund muss ich ganz eindeutig sagen: Das, was
Sie an dem schlechten Gesetzentwurf der Regierung geändert haben, ist sehr wenig und ist ein Ausdruck von
mangelndem Selbstbewusstsein des Parlaments.
({10})
Ich möchte Ihnen stattdessen empfehlen, dem EthikKomitee, das die Linksfraktion und wir in eigenen Anträgen wortgleich vorschlagen, zuzustimmen; denn das
stellt sicher, dass genau das, was ich an Ihrem Vorschlag
moniert habe, nicht passiert.
Danke schön.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erst kürzlich stand an diesem Ort das
Thema Patientenverfügung auf der Tagesordnung. Bei
diesem und weiteren Themen wird eines deutlich: Der
wissenschaftliche Fortschritt - insbesondere im Bereich
der Biomedizin - stellt uns als Gesetzgeber immer wieder vor große Herausforderungen.
Wissen und Können der heutigen Biomedizin wachsen mit rasender Geschwindigkeit. Es gibt zahlreiche
Grenzsituationen menschlicher Existenz: Zeugung, Geburt, Krankheit, Sterben. Früher befand man sich in diesen Situationen nur in der Hand des Schicksals, des Zufalls oder - das gilt für mich und für viele andere von
uns - in der Hand Gottes. Heute sind gestaltende Eingriffe möglich.
Das löst auf der einen Seite Hoffnung aus, auf der anderen Seite Furcht und Skrupel. Die Frage, ob wir alles
dürfen, was wir können, stellt sich immer häufiger.
Selbst wenn wir glauben, etwas entschieden zu haben,
ergeben sich neue Entwicklungen. Diese zwingen uns
immer wieder, getroffene Entscheidungen zumindest
gründlich und sorgfältig zu überdenken.
Wenn wir uns als Parlamentarier mit diesen das
menschliche Leben selbst betreffenden Fragen beschäftigen, spüren wir eines besonders: Die Pluralität der Weltanschauungen in unserer Gesellschaft spiegelt sich im
Deutschen Bundestag wider, allerdings nicht entlang der
klassischen Fraktionsgrenzen, sondern quer durch die
Fraktionen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, müssen
wir sagen, dass der Deutsche Bundestag in seiner Gänze
die geeignetere Ethikkommission ist.
({0})
Die Wertevielfalt ist dabei ebenso spürbar wie teilweise auch eine gewisse Werteunsicherheit. Hinzu
kommt noch, dass sich die Wissenschaft im internationalen Verbund entwickelt und auch hier unterschiedliche
Wertordnungen zwangsläufig aufeinander treffen. Der
Umgang mit embryonalen Stammzellen ist hierfür genauso ein Beispiel wie die Sterbehilfe.
Um sich diesen Fragen besonders zu widmen, wurde
in den beiden vergangenen Legislaturperioden, wie
schon angesprochen, jeweils eine Enquete-Kommission
eingesetzt. Daneben richtete die Bundesregierung einen
Nationalen Ethikrat ohne Beteiligung des Parlaments
ein. Deshalb fehlte dem Nationalen Ethikrat von Anfang
an eine gewisse demokratische Legitimation. Zwischen
beiden Gremien wurde nicht selten ein Konkurrenzverhältnis festgestellt, das dem Ansehen beider Einrichtungen nicht immer dienlich war.
Aus dieser Situation entstand die Idee eines Deutschen Ethikrates als Beratungsgremium für Bundestag
und Bundesregierung auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften. An dieser Stelle sei angemerkt, dass wir
durch die Formulierung insbesondere auf dem Gebiet
der Lebenswissenschaften die Anmerkung des Bundestagspräsidenten aufgenommen haben, dass angrenzende
Themen sehr wohl mitbehandelt werden können und sollen.
({1})
Als Aufgaben wurden definiert: die Information der
Öffentlichkeit - wir haben hier das Prinzip umgekehrt
und im parlamentarischen Verfahren die Nichtöffentlichkeit gegen die Öffentlichkeit ausgetauscht - und die Erarbeitung von Stellungnahmen und Empfehlungen für
politisches und gesetzgeberisches Handeln.
Das Parlament und die Bundesregierung sollen vom
Deutschen Ethikrat beraten werden. Meines Erachtens
schließt sich eine Personalunion von Ratgebern und zu
Beratenden aus. Deshalb sollen dem Deutschen Ethikrat
weder Mitglieder des Deutschen Bundestages noch der
Bundesregierung angehören. Stattdessen sollen seine
Mitglieder je zur Hälfte vom Deutschen Bundestag und
von der Bundesregierung vorgeschlagen und vom Präsidenten respektive der Präsidentin des Deutschen Bundestages berufen werden.
Das Gremium ist unabhängig und an keine Weisungen gebunden. Die Mitglieder sollen keinen bestimmten
Interessengruppen angehören, sondern als unabhängige
Persönlichkeiten in den Rat berufen werden. Das ist das
Entscheidende: Sie stimmen nicht über Gesetze ab, auch
nicht über Gesetze mit ethischer Relevanz. Dieses Recht
und diese Pflicht haben ausschließlich wir Parlamentarier.
({2})
Im Gegensatz zu anderen Fachthemen können wir uns
hier nicht so leicht auf das Urteil anderer verlassen, die
Spezialisten auf diesem Gebiet sind. Niemand von uns
kann die Entscheidung über ethische Fragestellungen an
wenige andere delegieren, auch wenn sie noch so gute
Spezialisten sind. In Fragen der Ethik können nur wir allein entscheiden.
Der Bundestagspräsident wird in diesem Zusammenhang immer falsch zitiert. Mit Erlaubnis der Präsidentin
zitiere ich aus dem Protokoll:
Wir können alle miteinander kein Interesse daran
haben, dass der Eindruck entsteht, es gebe im Deutschen Bundestag eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht interessiert oder indifferent.
Das waren die Worte des Präsidenten des Deutschen
Bundestages. Er hat also keine Zusammensetzung des
Gremiums bestehend aus Parlamentariern und Sachverständigen gefordert.
Wenn auch die Zweckbestimmung des Deutschen
Ethikrates als Beratungsgremium für Bundestag und
Bundesregierung die Mitwirkung von Mitgliedern der
beiden Verfassungsorgane meines Erachtens ausschließt,
so erscheint es uns Koalitionsfraktionen doch sinnvoll,
eine ständige Verbindung zwischen Deutschem Ethikrat
und Parlament herzustellen. Diesem Anliegen möchten
wir mit der Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats
entsprechen. In diesem neunköpfigen Gremium sollen
alle Fraktionen - entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten sein. Auf diese Weise soll die Kommunikation
zwischen dem Deutschen Ethikrat und dem Parlament
gewährleistet sein.
Auf den Deutschen Ethikrat warten viele Themen.
Viele der Themen, mit denen sich der Deutsche Ethikrat
befassen wird, wurden bereits in den Enquete-Kommissionen und im Nationalen Ethikrat ausgiebig erörtert. Es
gilt, daran anzuknüpfen und die Beratungsergebnisse unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse und veränderter
Rahmenbedingungen fortzuentwickeln.
Wir werden die Arbeit des Deutschen Ethikrates aufmerksam verfolgen. Wir erhoffen uns erhellende Beiträge, die jeden Einzelnen bei der schwierigen persönlichen Entscheidungsfindung unterstützen.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg
Tauss, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Seifert, ich bin über die Diktion, die Sie verwendet haben, erschrocken. Ich bin Organspender; ich habe
einen entsprechenden Ausweis in meinem Geldbeutel.
({0})
Ich fühle mich nicht wie ein Ersatzteillager. Ich möchte
an einem Punkt meines Lebens, von dem ich hoffe, dass
er nicht eintritt - beispielsweise nach einem Unfall -,
nach Feststellung des Hirntods einen Beitrag dazu leisten, dass ein anderer Mensch überlebt. Ich sage in aller
Deutlichkeit: Ich halte es nicht für angemessen, wie hier
darüber gesprochen worden ist.
({1})
Man muss einmal überlegen, was Schwerstbehinderte, Hirnkranke, Blinde, Nierenkranke - in meinem
Wahlkreis halte ich engen Kontakt zu ihnen - und andere
Betroffene empfinden, wenn sie das hier hören. Herr
Kollege Seifert, gerade als Vertreter und Sprecher der
Behinderten sollten Sie das berücksichtigen.
Herr Kollege Loske, ein Wort zu der Diktion insgesamt, die die Opposition
({2})
- mit Ausnahme der FDP; der Kollege Barth ist entschuldigt, er hätte dies anders dargestellt - heute gewählt
hat. Ich denke, die Fundamentalkritik, die Sie geäußert
haben, beschädigt möglicherweise ein Stück weit das
künftige Gremium, den Beirat. Wenn ich alles, was vom
Kollegen Loske und vom Kollegen Seifert vorgetragen
worden ist, ernst nähme, dann müsste ich sagen: Grüne
und PDS dürften eigentlich ihren Sitz in diesem Gremium überhaupt nicht einnehmen.
({3})
Ich bin mir aber sicher, dass sie ihn einnehmen werden.
Um jeder Legendenbildung entgegenzuwirken: Die
Anregungen des Herrn Bundestagspräsidenten, die fraktionsübergreifend begrüßt worden sind, wurden - das ist
in der Rede der Kollegin Aigner angeklungen - vollinhaltlich und vollumfänglich in den Änderungsantrag aufgenommen. Das muss man doch an dieser Stelle einmal
feststellen.
({4})
Die Aufgabenstellung des Deutschen Ethikrates ist
erweitert worden. Die Einrichtung der Geschäftsstelle ist
verwaltungsrechtlich einwandfrei geklärt worden. Das
Regel-Ausnahme-Verhältnis hinsichtlich der Öffentlichkeit der Sitzungen ist, wie von allen Fraktionen gewünscht, im Gesetz umgedreht worden.
Herr Kollege Loske, Sie beklagen, dass es durchaus
noch Möglichkeiten gibt, unter sich zu tagen. Das machen wir doch auch! Es muss doch möglich sein, in einem kleineren Kreis oder Gremium nachzudenken, gerade über die Fragen, die angesprochen worden sind,
ohne daraus eine öffentliche Sitzung zu machen. Das ist
doch selbstverständlich. Wir erleben das auch hier im
Hause; das ist auch im parlamentarischen Umfeld normaler Umgang.
({5})
Es war vom Deutschen Ethikrat auch so gewünscht. Ich
habe die Bitte, hier ebenfalls auf dem Boden zu bleiben.
Wie gesagt, ich bedanke mich sehr bei Herrn
Lammert dafür, dass er so eine konstruktive Rolle eingenommen hat.
Im Deutschen Bundestag - das ist angeklungen; ich
will es nach der grundsätzlichen Kritik aber noch einmal
sagen - laufen auch bei ethischen Grundsatzfragen weiterhin alle Fäden zusammen. Das ist richtig so. Wir können das nicht delegieren, nicht an Beiräte und auch nicht
an irgendjemanden sonst. Die Fäden laufen hier zusammen.
({6})
Herr Kollege Loske, bei der 50:50-Regelung wären
wir Ihnen gern entgegengekommen; darüber kann man
diskutieren. Sie haben gesagt, das sei für Sie ein Essential. Ich akzeptiere das. Natürlich muss ich auch akzeptieren, dass wir einen Koalitionspartner haben. Auch ich
habe manchmal Essentials, bei denen ich sage: An diesem Punkt, an diesem Vorschlag ist nicht zu rütteln.
Auch das muss man im demokratischen Entscheidungsprozess akzeptieren. Die Entscheidung ist auch durchaus
vertretbar.
Wir müssen uns nichts vormachen: Ich hatte überhaupt keine Probleme mit dem Nationalen Ethikrat, wie
er unter Rot-Grün bestand. Ich hatte mit dem Kollegen
Rachel darüber sogar gelegentlich Krach, als er noch
Oppositionsabgeordneter war. Man hält es heute gar
nicht mehr für möglich, wie er damals die Rechte der
Opposition eingefordert hat. In einem Kritikpunkt hatte
Herr Rachel damals allerdings recht: Es gab keine Möglichkeit für die Opposition, übrigens auch nicht für die
Koalitionsfraktionen, sich in diesen Rat einzubringen.
Ich hatte das damals verteidigt, weil ich der Auffassung
war, Bundeskanzler Schröder müsse die Möglichkeit haben, ein Gremium, das ihn beraten soll, auch entsprechend zusammenzusetzen. Jetzt ist es aber so, dass die
Mitglieder dieses Gremiums zur Hälfte von den Parlamentariern und zur Hälfte von der Exekutive vorgeschlagen werden und erstmals auch ein institutionalisiertes
Recht für die Opposition vorhanden ist, Vorschläge zu
unterbreiten.
Kollege Loske, ich bin mir sicher, dass wir so wie vor
kurzem bei der Diskussion um die Stammzellforschung
erstaunt feststellen werden, dass sich viele Sachverständige auch fraktions- und parteiübergreifend äußern werden. Es handelt sich doch hierbei nicht um eine parteipolitische Veranstaltung,
({7})
sondern wir wollen, dass die Menschen, die in diesem
Land in ethischen Fragen etwas zu sagen haben, Kollege
Seifert, in diesem Gremium vertreten sind. Das werden
wir gemeinsam - Parlament und Regierung - mit unserer
Auswahl der 26 Persönlichkeiten schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht
nachvollziehen, dass hier in der Diskussion zum Teil Kategorienfehler begangen werden; auch der taz sind solche Fehler unterlaufen. Kollege Seifert, vielleicht müssen wir uns darüber wirklich noch einmal separat
unterhalten. Ich habe aber den Eindruck, Sie haben den
Gesetzentwurf nicht gelesen. Es geht hier nicht um
Macht oder Ähnliches. Es muss doch möglich sein, Fragen ethischer Entscheidung von der Frage der organisatorischen und demokratischen Zusammensetzung zu
trennen. Entschieden wird weiterhin im Bundestag.
({8})
Das habe ich gerade schon gesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fürchte, dass die
Frau Präsidentin mir bald signalisieren wird, dass meine
Redezeit abläuft. Wenn Sie mir zusätzliche Redezeit geben, könnte ich die wunderbaren Inhalte der übrigen drei
Manuskriptseiten noch vortragen. Aber da das nicht der
Fall ist, äußere ich die herzliche Bitte, die Handlungsmöglichkeiten des Ethikbeirates nicht kleinzureden. Der
Ethikbeirat ist keine Postverteilungsstelle. Wir sollten
ihn auch nicht selbst dazu ernennen. Der Ethikbeirat ist
in der Lage, dieses Parlament bei nationalen und internationalen Gesetzgebungsprozessen zu begleiten, und wird
damit zu einem Teil von uns. Genau dieses Recht haben
übrigens Enquete-Kommissionen explizit nicht. Die Begleitung von Gesetzgebungsverfahren ist nicht Teil der
Arbeit von Enquete-Kommissionen. Insofern gibt es
auch in diesem Punkt eine Verbesserung.
Liebe Frau Präsidentin, ich habe es befürchtet: Sie signalisieren mir tatsächlich, dass meine Redezeit zu Ende
ist. Ich bedanke mich bei allen im Haus, die an diesem
Gesetzentwurf mitgewirkt haben. Es war ein sonntägliches Vergnügen, Frau Kollegin Aigner, mit Frau
Schavan und Ihnen unter Hinzuziehung des Kollegen
Röspel die letzten Kompromisse zu finden. Ich bedauere, dass nicht alle in diesem Haus den Kompromiss so
würdigen, wie wir es uns erhofft haben. Damit müssen
wir leben. Aber in der konkreten Arbeit, lieber Kollege
Loske - das ist meine Auffassung -, werden wir dank
dieses Beirates wesentlich mehr bewirken, als es heute
zum Ausdruck gekommen ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5136, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/2856 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und
FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent9610
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
wurf ist damit mit demselben Verhältnis wie in der zweiten Beratung auch in dritter Beratung angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5136 die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/3199 mit dem Titel: Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deutschen Bundestages. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und von
der Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5136 empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/3277 mit dem Titel Einsetzung eines Ethik-
Komitees des Deutschen Bundestages. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls
mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Ge-
genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und von der
Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/5136 die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/3289 mit dem Titel Ein-
richtung eines Parlamentarischen Beirates für Bio- und
Medizinethik. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen
der FDP und Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5128 mit dem
Titel Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats zu
Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissen-
schaften. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? Auch dieser Antrag ist mit
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim-
men vom Bündnis 90/Die Grünen und von der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Martin Zeil, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Anreize beim Bürokratieabbau - Für
eine Kostenerstattung staatlicher Pflichtdienste
- Drucksache 16/4605 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Birgit Homburger, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entlastung kleiner und mittlerer Betriebe
durch Abbau bürokratischer Regelungen im
Sozialrecht
- Drucksache 16/3163 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Die Kollegen Peter Rauen, Alexander Dobrindt und
Christian Lange sowie die Kolleginnen Birgit
Homburger, Sabine Zimmermann und Kerstin Andreae
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4605 und 16/3163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des
geistigen Eigentums
- Drucksache 16/5048 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Kollegen Norbert Geis, Dirk Manzewski,
Wolfgang Neković und Jerzy Montag sowie der Parla-
mentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach und die
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5048 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Privatisierungsfolgen seriös bilanzieren - Privatisierungen aussetzen
- Drucksache 16/3914 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Lutz
Heilmann, Dorothée Menzner, Roland Claus,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private ({5})
- Drucksache 16/4658 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Georg Brunnhuber, Jan Mücke und
Dr. Herbert Schui sowie die Kolleginnen Dr. Margrit
Wetzel und Kerstin Andreae haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3914 und 16/4658 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7})
zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Diaspora - Potenziale von Migrantinnen und
Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen
- Drucksachen 16/4164, 16/5119 Berichterstattung:
Abgeordnete Sibylle Pfeiffer
Dr. Karl Addicks
Thilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fast die Hälfte aller Migranten sind Frauen.
Sie haben unterschiedliche Gründe für die Migration.
Sie wandern in andere Ländern, um zu heiraten oder
aber um ihren Männern zu folgen, oder sie emigrieren,
um in der Ferne zu arbeiten. Einen großen Anteil ihres
erarbeiteten Lohnes senden sie zurück in ihr Herkunfts-
land. Bis zu 72 Prozent ihres Verdienstes kommen so ih-
ren Familien zu Hause zugute. Die Frauen arbeiten als
Haushaltshilfen, als Reinigungskräfte, als Kranken- oder
1) Anlage 7
Altenpflegerinnen, als Gelegenheitsjobberinnen. Sie verdienen wenig, oft zu wenig. Zum Teil sind sie hochqualifizierte Fachfrauen, die im Aufnahmeland keine Arbeitsstelle bekommen, die ihrer Ausbildung entspricht.
Für viele Frauen ist Migration der einzige Weg der
Hoffnung: Hoffnung auf Arbeit, auf Einkommen, auf gerechtere Lebensverhältnisse, auf Chancen für sich selbst,
für die zurückgebliebene Familie und damit auch für ihre
Kinder. Migrantinnen verbessern durch ihre Abwanderung erheblich die Lebensqualität ihrer Familien in den
Herkunftsländern. Auf der anderen Seite erbringen sie
große Leistungen für die Länder, in die sie eingewandert
sind. Sie schaffen Wohlstand und sorgen durch ihre Arbeit auch für das Wohlergehen der Menschen in den
Aufnahmeländern.
Frauen gehen durch ihre Migration aber ein sehr viel
höheres Risiko als die Männer ein. Ihre Rechte sind weniger geschützt. Sie haben eingeschränkte Möglichkeiten, sicher und legal aus- bzw. einzuwandern. Oft stehen
ihnen nur die ungeschützten und ungeregelten Arbeitsmärkte offen. Sie werden Opfer von Gewalt, Vergewaltigung, Misshandlung, Ausbeutung und auch von sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen. Sie werden Opfer von
Prostitution und Menschenhandel. Vielfach kommt zu
dieser geschlechtsspezifischen Diskriminierung die ethnische dazu.
Der Weltbevölkerungsbericht 2006 der Vereinten
Nationen hat erstmals die Migrantinnen in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt. Ein wichtiges Ergebnis
der Untersuchung ist Folgendes: Frauen haben oft
schlechtere Arbeitsbedingungen, bekommen geringere
Löhne als die Männer, und trotzdem tragen sie durch
Rücküberweisungen in ihre Herkunftsländer erheblich
dazu bei, dass die Armut dort überwunden wird. Sie sorgen für die Ausbildung ihrer Kinder und für die gesundheitliche Versorgung ihrer Herkunftsfamilien. Sie sorgen
mit ihrem Geld für den Bau von Häusern und für den
wirtschaftlichen Aufbau ihrer Heimatgemeinden. Das
haben wir bisher so nicht gewusst. Wir wissen inzwischen auch: Die Männer geben das Geld aus Rücküberweisungen vermehrt für Konsumgüter aus, also zum
Beispiel für Autos und Fernseher, oder aber sie investieren in Grundbesitz und in Vieh.
Diese Beispiele lassen sich fortsetzen. Ich will damit
eines deutlich machen: dass Frauen und Männer verschiedene Schwerpunkte setzen, wenn es darum geht,
das zum Teil sauer erworbene Geld einzusetzen. Sie fühlen sich für Unterschiedliches verantwortlich, sie investieren aufgrund ihrer verschiedenen Erfahrungen in
jeweils andere Bereiche. Diese verschiedenen Erfahrungen, Sichtweisen und auch Handlungen gehören meiner
Meinung nach zusammen. Beide Seiten sind nötig. Bisher verfügen wir, auch wir hier in Deutschland, vorrangig über Daten über die männliche Migration.
({0})
- Leider ist dies bisher so; das denke ich auch.
Da die Unterschiede aber wichtig sind, bedeutet das
- auch unser interfraktioneller Antrag enthält deshalb
diese Forderung -: Die Migrationsforschung muss ver9612
breitert werden. Wir brauchen dringend eine nach Männern und Frauen getrennte Datenerhebung.
({1})
Wie wir wissen, ist das in Deutschland in vielen Bereichen - nach langen Kämpfen - inzwischen üblich. Wir
brauchen diese getrennte Datenerhebung deshalb, weil
es einfach notwendig ist, bestimmte Details sehr genau
zu kennen. Wir Politikerinnen und Politiker wissen, dass
wir nur auf das zielgenau reagieren können, was wir
ziemlich genau erkannt haben.
In der Entwicklungszusammenarbeit sind die spezifischen Erfahrungen der Frauen notwendig, also nicht nur
das Geld, sondern auch ihre Erfahrungen. Deshalb brauchen wir ihre Potenziale und ihr Wissen zum Beispiel für
die Diasporaorganisationen in Deutschland, aber auch in
anderen Ländern, ebenso wie in den Herkunftsländern.
Es wäre - und es ist - eine Verschwendung in der Programmarbeit der Durchführungsorganisationen bzw. in
der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, auf diese weiblichen Erfahrungen zu verzichten.
Das haben wir bisher getan. Damit müssen wir aufhören.
({2})
- Es ist tatsächlich sinnvoll, an dieser Stelle zu applaudieren; denn diesen Schritt müssen wir alle gehen, auf
der einen Seite wegen der dringend benötigten Ergebnisse, auf der anderen Seite aber vor allem wegen der betroffenen Frauen bzw., um es anders zu sagen, wegen der
Rechte dieser Frauen.
Frauen sind nicht nur durch Rücküberweisungen Akteurinnen der Entwicklungspolitik, sondern auch durch
ihre sozialen Transferleistungen. Diese sind bisher
kaum in den Blick der Politik oder der Untersuchung geraten. Wissen und Bildungsvermittlung eröffnen neue
Erfahrungshorizonte für Familien. Hinzugewonnene
Einstellungen durch die Erfahrungen in anderen Ländern
und durch andere Kulturen geben Impulse für die sozioökonomische Entwicklung im Herkunftsland. Die
Chancengleichheit der Geschlechter - das ist mir besonders wichtig - wird auch in den Herkunftsländern gefördert, wenn vor Ort gesehen und erlebt wird, dass
Frauen, die über Arbeit, Geld und Bildung verfügen, in
ihrem Herkunftsland im besten Sinne etwas ausrichten
können. Sie werden anders angesehen, nicht mehr als
Anhängsel oder als vom Mann abhängige Frau. Damit
ändert sich Stück für Stück das Frauenbild auch in den
Herkunftsländern.
({3})
Gleichstellung und Gleichberechtigung sind für uns
in Deutschland inzwischen ganz gängige Vokabeln. Wir
wissen, dass es auch bei uns an der einen oder anderen
Stelle noch erheblich mangelt.
({4})
- Hier muss leider applaudiert werden, weil es auch in
unserem Land notwendig ist, genau diesen Punkt noch
zu verändern. - Gleichstellung und Gleichberechtigung
sind aber kein Luxus, sondern Gleichstellung und
Gleichberechtigung für Frauen und Männer gehören eigentlich zu jeder demokratischen Gesellschaft. Sie sind
kein Luxus nur für Industrienationen, sondern sie sind
ein Menschenrecht. Diesen Punkt haben wir 1995 bei
der Weltfrauenkonferenz in Peking mit viel Mühe durchgekämpft. Wir haben ihn im Jahr 2000 auf der Nachfolgekonferenz und 2005 in der Frauenrechtskommission
der Vereinten Nationen wieder auf die Tagesordnung setzen müssen.
({5})
Deshalb gehört es einfach dazu, dass wir auch in der
Entwicklungszusammenarbeit auf die verstecken Diskriminierungen aufmerksam machen und dass wir von
Deutschland aus mit unserer Politik in der Entwicklungszusammenarbeit dafür sorgen, dass Gleichstellung
und Gleichberechtigung als Menschenrecht anerkannt
werden. Wir wissen alle: Menschenrechte sind unteilbar.
Sie sind weder teilbar zwischen verschiedenen Ländern
noch zwischen den Geschlechtern. Menschenrechte sollten überall auf der Welt für Männer und Frauen gleichermaßen gelten. Wir haben uns bemüht, das in unserem interfraktionellen Antrag deutlich zu machen. Deshalb
spielen die Frauen in diesem Antrag eine besondere
Rolle.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe dem Kollegen Dr. Karl Addicks, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den neuesten Zahlen der IOM - International Organization for Migration - gibt es weltweit inzwischen
fast 200 Millionen Migranten.
({0})
- Migrantinnen und Migranten! Danke für den Hinweis.
Frau Kollegin Riemann-Hanewinckel hat gerade von
Migrantinnen gesprochen. Ich spreche jetzt von Migranten und meine damit natürlich die Frauen und die Männer.
({1})
Migranten sind tatsächlich ein bisher unterschätztes
Potenzial, sowohl für die Herkunftsländer als auch für
die Zielländer. Wir haben bisher nicht richtig eingeschätzt, welchen Beitrag diese Migrantinnen und
Migranten für die Entwicklung leisten können.
({2})
Aber besser spät als nie!
({3})
Mit dem vorliegenden interfraktionellen Antrag haben wir dieses Thema endlich aufgegriffen. Im Antrag
werden im Einzelnen zahlreiche Möglichkeiten genannt,
diese Migrantinnen und Migranten in die Entwicklungsbemühungen einzubinden. Frau Kollegin RiemannHanewinckel hat gerade Details genannt, die ich in der
mir zur Verfügung stehenden kurzen Redezeit nicht
mehr aufgreifen kann. Es geht dabei nicht allein um die
Rücküberweisungen, die von den Migranten veranlasst
werden. Allerdings sind diese Rücküberweisungen, also
das Geld, das diese von ihren Einkünften in den Migrationsländern vom Munde abgespart haben und ihren Familien nach Hause überweisen, höher, als man denkt.
Nach den Angaben der Weltbank handelt es sich um
circa 230 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als das
Doppelte der gesamten weltweiten ODA-Leistungen.
Fast 170 Milliarden Dollar davon gehen in die Entwicklungsländer. Ich finde, das ist ein stolzer Betrag.
({4})
Mittlerweile sind die Rücküberweisungen für die
Haushalte einiger Entwicklungsländer wichtiger als die
ODA geworden, zum Beispiel auf den Kapverden, die
wir kürzlich besucht haben. Die Kapverdier, ein sehr migrationsfreudiges Volk, bestreiten große Teile ihres
Haushalts aus den Rücküberweisungen. Die Banken
schneiden sich von diesem Kuchen ein - nach meiner
Ansicht ungehörig großes - Stück ab. Ich verfüge zwar
über keine genauen Zahlen, aber wir haben auf unseren
Reisen mehrfach Klagen über die hohen Transaktionskosten gehört, die bei kleineren Beträgen bis zu
20 Prozent ausmachen können. Das kann nicht so weitergehen. Ich fordere die Geldwirtschaft auf, vernünftige
Tarife anzubieten und nicht das Schaf des Armen zu
stehlen, indem man denjenigen, die keine andere Wahl
haben, über Gebühr viel abknöpft.
({5})
Es gibt aber auch negative Aspekte von Migration.
Diese dürfen wir nicht ganz außen vor lassen. Viele migrieren, weil sie in ihren Ursprungsländern keine Chance
sehen, in denen noch immer korrupte Eliten an der
Macht sind, die nicht zulassen, dass sie nach ihren Möglichkeiten ein Auskommen finden, oder weil sie aus
Ländern kommen, in denen Bürgerkriege wüten. Bei allen Erfolgen, die die Entwicklungsarbeit in Afrika bisher
erzielt hat, gibt es diese Hoffnungslosigkeit in einigen
Ländern noch immer. Viele Menschen versuchen, dem
zu entkommen, setzen dabei ihr Leben aufs Spiel, wagen
sich auf See und kommen dabei um. Manche haben allerdings ein Trugbild von Europa im Kopf. Viele glauben offenbar, Europa sei das Land, in dem Milch und
Honig fließen. Dieses Bild stimmt nicht mehr so ganz.
Wir können hier helfen, indem wir darauf hinwirken,
dass in den Ländern, aus denen diese Migranten kommen, Bedingungen entstehen, unter denen ein jeder nach
seiner Fasson eine Möglichkeit findet, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen.
({6})
Wir müssen mit unserer Entwicklungszusammenarbeit Einfluss auf die politischen Entwicklungen in unseren Partnerländern nehmen und müssen diesen deutliche Worte sagen, wenn Anlass dazu besteht - den haben
wir oft genug -, wie es übrigens im Cotonouabkommen
vorgesehen ist. Wir können helfen, indem wir Konflikte
früher erkennen und angehen, bevor sie zu Rebellion
und Krieg führen. Zum Beispiel ist Nigeria nach unserer
Ansicht ein Pre-Conflict-State. Wir müssen aufpassen,
dass es dort nicht bald zu einer noch größeren Migration
kommt; denn die dortige Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Öleinnahmen zwingt die Menschen in die Armut.
Wir brauchen verstärkt eine sektorübergreifende
Entwicklungszusammenarbeit. Projekte wie zum Beispiel auf den Kapverden, wo Jugendlichen eine Berufsausbildung gefördert wird - eigentlich ein sehr guter Ansatz -, aber diese anschließend keinen Arbeitsplatz
finden, wo Landwirtschaft gefördert wird, obwohl die
Landwirte keine Absatzmöglichkeiten auf unseren
Märkten finden bzw. die Transportinfrastruktur für die
Produkte nicht vorhanden ist, sind im Grunde Potemkinsche Dörfer. Das Ganze geschieht, weil die verschiedenen Sektoren unserer Entwicklungszusammenarbeit
nicht synchron arbeiten. Es stimmt, das Kreuz in der
Entwicklungszusammenarbeit ist die Synchronizität. Im
Grunde müssten wir alles gleichzeitig machen. Aber ich
will nicht weiter vom Thema abschweifen.
Ein weiterer übler Aspekt ist der sogenannte Braindrain. Die entscheidende Frage lautet: Was nutzt es, in
den Entwicklungsländern auszubilden, wenn die Ausgebildeten anschließend von unseren Arbeitsmärkten abgeworben werden?
({7})
Dieser Effekt wirkt sich auf die Gesundheitsdienste in
manchen Ländern verheerend aus: Dort fehlen die ausgebildeten Krankenpflegekräfte, die wegen der wütenden Aidsseuche gerade jetzt verstärkt gebraucht würden.
Ich denke, wir müssen uns da dringend etwas einfallen
lassen und im Ausschuss verstärkt darüber reden.
Herr Kollege, Sie haben mit Recht auf Ihre knappe
Redezeit hingewiesen. Nun ist sie schon deutlich überschritten. Vielleicht könnten Sie zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. Danke. - Ich denke, wir
haben mit diesem interfraktionellen Antrag einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und wünsche Ihnen
einen schönen Abend.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Migration ist kein neues Phänomen. Es gab sie immer, in
fast allen Teilen der Erde, auch in Europa und in
Deutschland. Denken wir an die Wanderbewegungen
von Iren und Deutschen im 19. Jahrhundert nach Amerika oder an den großen Migrationsstrom nach 1945 in
die damalige Bundesrepublik. Damals waren mehr als
15 Millionen Deutsche von Flucht und Vertreibung betroffen. Oder denken wir an die Gastarbeiter Anfang der
70er-Jahre.
Migration ist also nicht neu. Neu sind allerdings Geschwindigkeit und Ausmaß der Migration. Der Grund
dafür liegt zu einem guten Teil in der Globalisierung.
Globalisierung bedeutet auch eine rasant gestiegene Mobilität von Menschen. Es ist klar, dass Deutschland, dass
Europa von dieser Entwicklung nicht ausgeschlossen
sind.
Die Entwicklungspolitik kann hier eine große Rolle
spielen. Sie kann dazu beitragen, dass die Chancen, die
in der Migration liegen, für alle Beteiligten größer werden. Sie kann auch dazu beitragen, dass die Risiken, die
es nun einmal gibt, minimiert werden.
Im Antrag wird auf ein Problem hingewiesen, auf das
ich hier einmal ausführlicher eingehen möchte. Ich denke
nämlich, dass die Lösung dieses Problems für Erfolg oder
Misserfolg von Entwicklungspolitik mitentscheidend ist.
Es geht um die Abwanderung von vor allem medizinischen Fachkräften aus den Entwicklungsländern in die
Industrieländer. Das hat dramatische Folgen für die Herkunftsländer. Die ohnehin angespannte Situation im Gesundheitswesen der Entwicklungsländer wird durch die
Abwanderung von Ärzten, Pflegepersonal, Krankenschwestern und Hebammen verschärft.
({0})
Nüchterne Zahlen belegen diese dramatische Situation: Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass
schon jetzt mehr als 4 Millionen Gesundheitsfachkräfte
in den Entwicklungsländern fehlen, um eine Grundversorgung sicherstellen zu können. Die WHO empfiehlt
ein Verhältnis von mindestens einer Krankenschwester
pro 1 000 Menschen. In manchen Entwicklungsländern
beträgt dieses Verhältnis 1 : 10 000. Zum Vergleich: In
einigen Industrieländern kommt auf 50 Menschen eine
Krankenschwester.
Besonders schlimm ist die Situation in Afrika. Afrika
muss 25 Prozent der weltweiten Krankheitslast tragen.
Dort arbeitet aber nur etwa 1 Prozent des weltweiten
Personalbestandes des Gesundheitswesens. Schätzungen zufolge fehlen in Afrika 1 Million medizinische
Fachkräfte. Jeden Tag sterben in Entwicklungsländern
1 400 Frauen während der Schwangerschaft oder bei der
Entbindung. Zwei von drei Kindern sterben an Krankheiten, die ohne Weiteres heilbar wären. Von den Problemen bei der Behandlung bei HIV/Aids will ich gar nicht
sprechen.
Andererseits wandern jedes Jahr 20 000 medizinische
Fachkräfte allein aus Afrika nach Europa und in die
USA. Wir haben völlig abstruse Verhältnisse. So arbeiten in Frankreich mehr Ärzte aus Benin als in Benin
selbst, in Manchester mehr malawische Ärzte als in Malawi.
Die Situation wird sich verschärfen: Für Großbritannien wird geschätzt, dass man bis zum Jahr 2008 weitere
25 000 Ärzte und 35 000 Schwestern braucht. In den
USA rechnet man sogar damit, dass bis 2010 1 Million
zusätzliche Krankenschwestern benötigt werden. Aber
auch bei uns macht sich der Mangel an Pflegekräften
schon jetzt bemerkbar.
Ich bin überzeugt, dass die Lösung des sogenannten
Braindrain eine der Hauptaufgaben der deutschen und
europäischen Entwicklungspolitik sein muss. Was nützen die besten und teuersten Krankenhäuser, wenn das
entsprechende Personal fehlt? Wer soll die modernen
Geräte bedienen und wer die nötigen Medikamente verabreichen?
Wir haben uns verpflichtet, die Millenniumsziele bis
2015 zu erreichen. Vergessen wir nicht, dass sich drei
der acht Ziele direkt auf das Gesundheitswesen beziehen: Ziel Nr. 4: Reduzierung der Kindersterblichkeit,
Ziel Nr. 5: Verbesserung der Gesundheitsversorgung
von Müttern, Ziel Nr. 6: Bekämpfung von HIV/Aids,
Malaria und anderen schweren Krankheiten.
Wie wollen wir diese Ziele ohne entsprechendes Personal und ohne entsprechende Infrastruktur in den Entwicklungsländern erreichen? Deshalb stellen sich folgende Fragen: Was können wir tun? Was kann die
Entwicklungspolitik tun?
Den Betroffenen ist kein Vorwurf zu machen. Es ist
kein Verbrechen, für sich und seine Familie ein besseres
Leben zu wollen. Auch in der deutschen Geschichte gab
es Auswanderungswellen, weil zu Hause kein Auskommen war. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
für medizinisches Fachpersonal in den Herkunftsländern müssen zusammen mit den Herkunftsländern verbessert werden. Mit anderen Worten: Ein Arzt oder eine
Ärztin, eine Hebamme oder ein Krankenpfleger müssen
in der Lage sein, sich und ihre Familie zu ernähren.
Doch Geld ist nicht alles: Die Arbeitsbedingungen im
Gesundheitssektor müssen verbessert werden, insbesondere in ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer. Zudem müssen Anreize zur Rückkehr in die Heimatländer
geschaffen werden. Hierbei können Kontakte zur Diaspora aufgebaut, erhalten und gezielt gefördert werden.
Das Fachpersonal in den Entwicklungsländern muss darüber hinaus die Gelegenheit bekommen, sich beruflich
fortzubilden.
Doch auch die Aufnahmeländer stehen in der Verantwortung: Zuallererst müssen wir dafür sorgen, dass
bei uns die Attraktivität der Gesundheitsberufe steigt.
Auf europäischer Ebene muss ein Verhaltenskodex eingehalten werden, der eine gezielte Abwerbung von Personal aus Entwicklungsländern verbietet. In dieser Richtung hat das BMZ bereits Initiativen gestartet; wir
begrüßen das sehr.
({1})
Wir müssen mit den Partnerländern intensiv an der Lösung des Braindrains arbeiten. Denn ohne ein funktionierendes Gesundheitswesen haben Entwicklungsländer
keine Chance. Medizinisches Fachpersonal spielt für die
Entwicklung eines Landes eine enorme Rolle. Das medizinische Fachpersonal ist eine Säule der Entwicklung.
Ein weiterer Punkt, den ich hier anschneiden möchte,
bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Frauen,
Migration und Bildung. 200 Millionen Menschen leben außerhalb ihres Herkunftslandes. Etwa die Hälfte
dieser Menschen sind Frauen. Früher war Migration
Männersache. Das ist längst nicht mehr der Fall, die Migration hat ein weibliches Gesicht bekommen. Weil
Frauen im Schnitt weniger verdienen, überweisen sie in
die Heimatländer zwar insgesamt weniger Geld als Männer; aber von ihrem geringeren Einkommen schicken sie
ihren Familien in der Heimat einen höheren Anteil Frauen gehen mit Geld nun einmal vernünftiger um als
Männer. Das gilt auch für Entwicklungsländer.
({2})
Frauen - vor allen Dingen ihre Kinder, die hier gelebt
haben und hier ausgebildet sind -, die in die Herkunftsländer zurückkehren, sind Botschafterinnen und Multiplikatoren von unschätzbarem Wert: Sie transportieren
zum Beispiel Ideen von Demokratie, Menschenrechten,
Toleranz und Gleichberechtigung. Sie vermitteln Wissen
über ökonomische Zusammenhänge, das als Grundlage
für Geschäftsideen dienen kann. Durch das Wissen und
die Erfahrung der Aufnahmeländer werden Migrantinnen in die Lage versetzt, positive gesellschaftspolitische
Veränderungen in den Entwicklungsländern anzustoßen.
Entwicklungspolitik - das sage ich immer - umfasst
sehr viele Politikbereiche, so auch die Innenpolitik. In
dem Antrag wird auf die Rolle der Diasporagemeinde in
Deutschland eingegangen. Migranten können eine Brückenfunktion ausüben. Sie können eine wichtige Rolle
für die Integration spielen. Das ist richtig, und das ist
wichtig. Vergessen wir nicht, dass jeder fünfte Bürger in
Deutschland einen Migrationshintergrund hat, das heißt,
dass mindestens ein Elternteil aus dem Ausland kommt.
An dieser Stelle möchte ich Folgendes unterstreichen:
Wir verlangen von niemandem, der hier leben möchte,
dass er seine Herkunft verleugnet. Er muss auch seine
Wurzeln nicht aufgeben. Aber - das muss mit Deutlichkeit gesagt werden - wenn Menschenrechte und Demokratie infrage gestellt werden, hat das mit kultureller
Besonderheit nichts zu tun und kann nicht geduldet werden.
({3})
Auf der anderen Seite dürfen wir nicht zulassen, dass das
friedliche Miteinander durch ausländerfeindliche Hetze
untergraben wird.
({4})
Die internationale Migration bietet Chancen für die
Entwicklung der Herkunftsländer, aber auch der Zielländer. Ich denke, dass auch die Risiken nicht verschwiegen
werden dürfen.
({5})
Entwicklungspolitik kann einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, die Chancen der Migration für die Herkunftsländer und die Aufnahmeländer zu nutzen und die Risiken
zu minimieren.
Migranten aus Entwicklungsländern, die in Industrieländern leben, haben ein enormes Potenzial für die Entwicklung ihrer Heimatländer. Die Entwicklungspolitik
kann helfen, diese Möglichkeiten besser auszuschöpfen.
Die Entwicklungspolitik ist aber auch in der Lage, die
Ursachen erzwungener Migration mit zu bekämpfen,
zum Beispiel, indem sie die Armut bekämpft und so zu
Frieden und Sicherheit in den Entwicklungsländern beiträgt. Es gilt daher, vor allem das Potenzial der Entwicklungspolitik zu nutzen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste, die Sie zu später Stunde noch im
Parlament anwesend sind! Wir sprechen heute über einen interfraktionellen Antrag, an dem die Linksfraktion
nicht mitgearbeitet hat. Wir sind nämlich nicht zur Mitarbeit eingeladen worden. Das ist schlecht. Denn sonst
wäre sicherlich ein besserer Antrag dabei herausgekommen.
({0})
Wir diskutieren über die Beiträge von Migrantinnen
und Migranten zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer.
Das ist ein wichtiges und bisher viel zu wenig beachtetes
Thema. Die Linke setzt sich natürlich ganz klar dafür
ein, dass die Potenziale von Migrantinnen und Migranten für die Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden. Dabei spielen die enormen Beträge an Rücküberweisungen, die laut Weltbank die öffentlichen Mittel der
Entwicklungshilfe um das Doppelte übersteigen, eine
wichtige Rolle.
Aber sie sind nur eine Seite der Medaille. Denn wer
das Potenzial von Migrantinnen und Migranten lobt, wer
Migration als Bereicherung ansieht und wer insbeson9616
dere die Frauen unterstützen will, wie es in vielen Beiträgen zum Ausdruck gebracht wurde, der muss sich dafür einsetzen, dass legale Migration ermöglicht wird
({1})
und dass Migrantinnen und Migranten in den Industrieländern vor Ausbeutung und Illegalität geschützt werden.
Hierin liegt die Schwäche dieses Antrags.
({2})
Mit keinem Wort werden die aktuellen Rahmenbedingungen der Migration thematisiert, und es wird kein Bezug zur derzeitigen Migrations- und Flüchtlingspolitik
Deutschlands und der EU hergestellt. Deshalb ist dieser
Antrag in meinen Augen unpolitisch. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass zwei Oppositionsfraktionen diesen
Antrag unterstützen.
Vor ein paar Stunden wurde noch über die Migrations- und Integrationspolitik diskutiert. Es wurde mehr
als deutlich: Wir brauchen eine grundlegende Wende in
der deutschen und der europäischen Migrations- und
Flüchtlingspolitik.
({3})
Das müssen Sie einmal in Richtung Ihrer Fachpolitiker
kommunizieren. Jetzt sagen Sie, dass Migrantinnen und
Migranten eine Bereicherung darstellen. Davon war in
der Debatte, die wir vorhin geführt haben, nichts zu hören.
({4})
Das betrifft vor allem die Abschottungspolitik der Europäischen Union durch die Aufrüstung ihrer Außengrenzen. Viele Tausend Menschen sterben nämlich jedes
Jahr bei dem Versuch, über das Mittelmeer oder den Atlantik nach Europa zu gelangen. Die Strategien der Europäischen Union, die Migration mit Mitteln der Repression aufzuhalten, sind nicht nur aussichtslos, sondern für
viele auch tödlich. Deshalb fordert die Linksfraktion die
Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex
({5})
und die Einrichtung einer Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen und Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten.
({6})
Wir fordern, die Zusammenarbeit im Bereich der Migrationskontrolle mit nordafrikanischen Transitstaaten,
in denen es zu massiven Menschenrechtsverletzungen
und zu Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze
kommt, zu beenden.
({7})
Wir lehnen es ab, dass im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit formell und informell unter anderem mit
afrikanischen Staaten als Voraussetzung für die weitere
Kooperation oder im Rahmen eines Good-GovernanceKonzepts auf europäischer Ebene Rücknahmeabkommen geschlossen werden.
Das betrifft auch die deutsch-französische Initiative
für eine neue europäische Migrationspolitik. Darin orientiert sich das Angebot legaler Einwanderungsmöglichkeiten allein am Arbeitskräftebedarf der einzelnen
Mitgliedstaaten. Die Interessen der betroffenen Migrantinnen und Migranten werden ignoriert. Ich frage mich:
Warum setzen Sie sich in Ihrem Antrag zum Beispiel
nicht dafür ein, dass die Bundesrepublik endlich der UNKonvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern beitritt,
({8})
wie von vielen Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen
seit langem gefordert? Die deutsche Gesetzeslage steht
nämlich in vielen Punkten in diametralem Widerspruch
zu den Bestimmungen dieser Konvention. Hier wäre es
möglich, einen echten Beitrag zur Verbesserung der
Lage von Migrantinnen und Migranten zu leisten. Dadurch würde vielen erst die Möglichkeit eröffnet, etwas
zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer beizutragen.
Für mich wäre ein modernisiertes Staatsbürgerschaftsrecht auch eine ganz konkrete Unterstützung der
von Ihnen genannten Brückenfunktion von Migrantinnen und Migranten.
({9})
Mehrfachstaatsbürgerschaften würden es Migrantinnen
und Migranten zum Beispiel ermöglichen, zwischen verschiedenen Ländern zu pendeln - zum großen Nutzen
der beiden Gesellschaften im Herkunfts- und im Aufnahmeland.
Viele Hunderttausend Menschen leben versteckt und
ohne sicheren Aufenthaltsstatus in den Staaten der EU auch in Deutschland. Die Linksfraktion fordert für diese
Menschen eine humane Bleiberechtsregelung, die nicht
an schwer erfüllbare Bedingungen geknüpft ist, und eine
menschenwürdige Einwanderungspolitik. Das wäre in
meinen Augen die beste Voraussetzung für die Stärkung
der Entwicklungspotenziale von Migrantinnen und Migranten.
Danke.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ute Koczy für die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Fragen lauten: Warum fällt es uns so
schwer, die Potenziale der Migration zu nutzen? Was
hindert die Aufnahmeländer daran, das Beste aus einem
Phänomen zu machen, das in unserer globalen Welt zum
Alltag geworden ist? Warum diskutieren wir diese Frage
so problemorientiert und nicht auf Lösungen ausgerichtet?
Es ist höchste Zeit, dass wir uns hier im Deutschen
Bundestag mit weiteren Aspekten von Migration beschäftigen. Heute geht es um die entwicklungspolitischen Aspekte. Es tut eigentlich schon weh, dass wir aus
dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung es nicht geschafft haben, eine andere Redezeit zu ergattern, sodass wir uns zu später Stunde hier
treffen.
({0})
Außerdem hat der hier vorliegende Antrag der vier Fraktionen leider eine etwas zähe Genese hinter sich. Das
Thema ist aber wichtig, und es gibt zum Glück Abgeordnete, die sich einem widrigen Prozedere stellen.
Dank an all diejenigen, die zum Zustandekommen
dieses Antrages beigetragen haben; denn Tag für Tag sehen sich auf unserer Welt Hunderte von Frauen und
Männern gezwungen, die Heimat zu verlassen, um ihr
Überleben zu sichern. Sie stehen vor unserer Haustür, sie
stehen vor den Grenzen der Festung Europa, oder sie
versuchen die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu
überwinden. Not, Gewalt, Vergewaltigung, Suche nach
Schutz - all dies ist dabei das zentrale Motiv. Die etwa
200 Millionen Menschen, die derzeit weltweit als Migrantinnen und Migranten leben, tragen schwer an ihrem
Schicksal.
Noch eine Information, die hier heute wirklich schon
lautstark verbreitet wurde: In den vergangenen 40 Jahren
sind fast genauso viele Frauen migriert wie Männer. Die
Zahl der Migrantinnen und Migranten - es sind
200 Millionen - hat sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt, und sie wird auch künftig noch weiter zunehmen.
Wir brauchen Regeln und Organisationen zur Steuerung
der Migration.
Auf die innenpolitischen Fragen will ich hier jetzt
nicht näher eingehen; denn mit dem Antrag gehen wir ja
in eine andere Richtung: Es geht hier um die Frage, wie
das große Potenzial der Diasporagemeinden für die Entwicklung in den Herkunftsländern genutzt werden kann.
({1})
Mit diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf,
ein Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit
vorzulegen, durch das eine bessere Vernetzung von entwicklungspolitischen Maßnahmen mit unternehmerischen Tätigkeiten und gemeinnützigen Aktivitäten der
Diasporagemeinden erlaubt wird.
Das ist ein konstruktiver Beitrag, ein konstruktiver,
lösungsorientierter Vorschlag. Deswegen meine ich, dass
wir mit dem Antrag einen Schritt weitergekommen sind
und dass ihn wirklich alle Fraktionen unterstützen müssen.
({2})
Ich wiederhole es gerne: Wir müssen die Chancen, die
die Migration bietet, ergreifen. Positive Effekte können
sowohl für die Herkunftsländer als auch für die Aufnahmeländer verstärkt werden.
Apropos Rücküberweisung: Diese Gelder aus der
Diaspora stellen nach den ausländischen Direktinvestitionen heute die zweitgrößte externe Finanzquelle für die
Entwicklungsländer dar; das muss man betonen. Daraus
lässt sich mehr machen. Wir könnten daran arbeiten. Als
Beispiel nenne ich das Programm der mexikanischen
Regierung, mit dem beispielsweise vorgesehen ist, dass
jeder Dollar, den ein Migrant in die soziale Infrastruktur
seiner Heimatgemeinde investiert, um 2 staatlich investierte Dollar ergänzt wird. Wir könnten zeigen, dass das
auch woanders geht, und dies als Vorschlag implementieren.
Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass nationale
Zuwanderungspolitik auch eine sehr wichtige entwicklungspolitische Dimension hat. Sie muss so gestaltet
werden, dass sie sowohl für das Zuwanderungsland als
auch für die Herkunftsländer positive Effekte auslöst.
Für Deutschland ist es daher dringend geboten, eine eigene Diasporapolitik auf- und auszubauen und sie in die
Zuwanderungspolitik zu integrieren. Mit diesem Antrag
ist der erste Schritt gemacht. Wir müssen auch die weiteren gehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel Diaspora - Potenziale von Migrantinnen
und Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer
nutzen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/5119, den Antrag auf
Drucksache 16/4164 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Enthal-
tung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller ({0}), Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die neue Einheitsregierung in Palästina unter-
stützen
- Drucksache 16/5106 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech, Paul
Vizepräsidentin Petra Pau
Schäfer ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Neue Chancen für einen Friedensdialog im
Nahen Osten aufgreifen
- Drucksache 16/5112 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Wahlsieg der Hamas im Februar 2006 hat
für die Nahostpolitik zusätzlich schwierige Fragen aufgeworfen. Die internationale Gemeinschaft hatte gehofft, mit dem Boykott der Hamas-Regierung eine
Rückkehr zum Status quo ante zu erreichen. Dies ist bekanntermaßen nicht gelungen. Stattdessen hat sich die
Lage in den palästinensischen Gebieten dramatisch verschlechtert, und es kam im Gazastreifen zu fast bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen.
Mit der Bildung der Regierung der nationalen Einheit tut sich - ich formuliere es ganz vorsichtig - möglicherweise eine neue Chance für Palästina auf. Jede
Chance auf Beendigung von Chaos und Gewalt sowie
auf eine Regierung, die wirklich für die Palästinenser
sprechen kann, ist auch relevant für die Sicherheit Israels. Die von Präsident Abbas ernannte neue Regierung
der nationalen Einheit mit Premierminister Ismail
Haniya umfasst sowohl Mitglieder der Hamas als auch
der Fatah sowie mehrerer kleinerer Parteien und Unabhängige. Sie ist nach schwierigen Verhandlungen auf
Grundlage der von Saudi-Arabien vermittelten Mekkavereinbarung entstanden. Diese Regierung spricht allerdings nur von der Respektierung der von der PLO abgeschlossenen Verträge. Wir müssen uns fragen, ob sie
sich da ein Hintertürchen offenhält.
Vor einigen Tagen nun haben Hamas-Sprecher die
Waffenruhe aufgekündigt. Heute melden die Ticker, es
gebe Signale zu neuen Verhandlungen. Es geht also wieder hin und her, und wir haben es wieder mit einer undurchsichtigen Situation zu tun. Obwohl jede Chance für
Verhandlungen mit der Einheitsregierung ergriffen werden sollte, muss uns klar sein, dass die Gefahr besteht,
dass die Hamas ein Doppelspiel betreibt. So war sie
nicht bereit, die Verpflichtungen von Präsident Abbas
vollständig anzuerkennen. Der Begriff Respektierung
ist, wie gesagt, zweideutig. Die Hamas gibt nach wie vor
ausgesprochen aggressive Erklärungen gegenüber Israel
ab. Wenn sie sagt: Niemals werden wir die Besatzung
akzeptieren, dann lässt sie zumindest offen, welche Gebiete damit gemeint sind. Sind damit nur der Gazastreifen und das Westjordanland gemeint, oder ist damit doch
ganz Israel gemeint?
Dennoch lohnt es sich trotz dieser Risiken, die Regierung der Einheit zu stützen. Dafür ist auch eine Aufnahme der internationalen Zahlungen notwendig. Laut
Finanzminister Fayyad können derzeit drei Viertel des
regulären Budgets nicht abgedeckt werden. Die Erosion
der politischen Institutionen schreitet fort. Im Gazastreifen sind nach Angaben des World Food Programme
mittlerweile 80 Prozent der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen.
Die schrittweise und kontrollierte Wiederaufnahme
der internationalen Hilfszahlungen könnte dazu beitragen, die gemäßigten palästinensischen Kräfte zu stärken.
Mit Salam Fayyad, der bereits von 2002 bis 2005
Finanzminister war, gibt es einen vertrauenswürdigen
und anerkannten Partner für die Verwaltung der Gelder.
Mit der schrittweisen Wiederaufnahme der Zahlungen
müssen jedoch ganz klare Bedingungen an die neue Regierung formuliert werden: die Freilassung des entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit im Rahmen eines
Gefangenenaustausches und das Ende der bewaffneten
Angriffe gegen Israel.
({0})
Umgekehrt muss dann Israel die bewaffneten Operationen im Gazastreifen und in der Westbank einstellen.
({1})
Auch Israel muss also etwas abverlangt werden. Dazu
gehören die Freigabe der einbehaltenen Zoll- und Steuereinnahmen, die Freilassung der in Israel inhaftierten
Minister und Parlamentarier im Rahmen eines Gefangenenaustausches und die Öffnung der Grenzübergänge im
Gazastreifen entsprechend dem Agreement on Movement and Access von 2005. Derartige Schritte Zug um
Zug - das ist das Entscheidende - könnten zur Entspannung beitragen.
Die Bundesregierung hat angekündigt, die EU-Ratspräsidentschaft für eine Wiederbelebung des Nahostfriedensprozesses und für Fortschritte in der regionalen
Stabilisierung zu nutzen. Die Kanzlerin - auch der Außenminister übrigens - ist gereist; das sollten wir anerkennen. Regionale Initiativen wie die arabische Friedensinitiative gehören dringend auf die Tagesordnung.
Es ist erfreulich, dass auch Israel diese Initiative begrüßt
hat.
Der Nahe Osten bleibt eine hochkomplexe Konfliktregion. Jeder weiß, dass am Ende des Weges die Zweistaatenlösung stehen muss. Der Weg dorthin ist ungewiss. Aber eines ist sicher: Wir sollten jede noch so
geringe Chance nutzen, um die verständnisbereiten Reformkräfte zu stärken.
({2})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Joachim
Hörster das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Lektüre der Anträge der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
haben bei genauer Betrachtung eigentlich keine Erkenntnisse geliefert, die wirklich neu wären. Im Prinzip gibt es
unter uns keine großen Gegensätze.
({0})
Ich muss lediglich feststellen, dass alle Forderungen an
die Bundesregierung im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft, mit denen uns die beiden Fraktionen heute konfrontieren, eigentlich schon erledigt sind, weil sich die
Bundesregierung mit all diesen Themen befasst hat - sei
es bei dem Treffen des Nahostquartetts im Februar 2007
in Berlin, sei es bei dem informellen Gymnichtreffen der
EU-Außenminister, sei es bei dem EU-Gipfel Ende März
oder in der Erklärung der EU-Ratspräsidentschaft zur
Bildung einer palästinensischen Regierung der nationalen Einheit Mitte März 2007. Da gibt es also keinen
Nachholbedarf.
Deswegen möchte ich mich ganz ausdrücklich bei der
Bundeskanzlerin bedanken, die es im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geschafft hat, den eigentlich schon totgesagten Nahostprozess wieder zu beleben
und das Nahostquartett zu reanimieren.
({1})
- Ja, das kann sie nicht ganz allein. Natürlich müssen die
anderen am Quartett Beteiligten mithelfen.
Vor allem hat Angela Merkel das Ganze ein bisschen
dadurch erweitert, dass sie das Nahostquartett um eine
arabische Beteiligung angereichert hat, die bisher so
nicht vorgesehen worden war. Damit kommen ganz andere Aspekte zur Geltung.
Seit der ersten Nahostgipfelkonferenz im September
1978, bei der Jimmy Carter, Anwar al-Sadat und
Menachem Begin verhandelt haben, sind knapp 30 Jahre
vergangen. Zahlreiche Friedensgespräche, Prinzipienerklärungen und Abkommen folgten. Doch es gibt, wie
wir alle wissen, noch keine wirklich ernsthaft greifbaren
Ergebnisse für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten.
Nach meiner Auffassung werden wir einen dauerhaften Frieden auch nur dann erreichen, wenn nicht nur der
Westen seine Ansichten präsentiert, sondern sich auch
die Konfliktparteien selbst zum Frieden bekennen und
eine Friedensperspektive erarbeiten. Gerade in jüngster
Zeit - ich habe es eben beschrieben - kommt aber auch
von arabischer Seite Bewegung in den Nahostfriedensprozess. Beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga 2007 in
Riad haben sich die arabischen Staaten einmütig für eine
Wiederbelebung ihrer Nahostinitiative von 2002 ausgesprochen.
Seit 2002 beziehe ich mich - das können Sie in den
Protokollen nachlesen - in fast jeder meiner Reden zur
Lösung des Nahostkonflikts auf den Friedensplan des
früheren saudischen Kronprinzen und jetzigen Königs
Abdallah, weil dieser Friedensplan über das hinausgeht,
was in der Vergangenheit von arabischer Seite angeboten
worden ist, und weil er eine Friedenslösung für den gesamten Nahen Osten unter Einschluss der Anerkennung
des Staates Israel und eines palästinensischen Staates sowie eines gemeinsamen Sicherheitskonzeptes für den
Nahen Osten zum Ziel hat. Käme man dazu, diesen Plan
umzusetzen, so würde das zu einer Lösung des Nahostkonfliktes führen.
Bemerkenswert sind auch die kleinen Änderungen in
den Begrifflichkeiten, wenn zum Beispiel von einer
fairen Lösung für die Rückkehr der palästinensischen
Flüchtlinge gesprochen wird; denn eine faire Lösung
verlangt nicht mehr apodiktisch die Rückkehr. Vielmehr
- das wissen auch unsere arabischen Partner - können
wir um der Existenz des Staates Israel willen niemals akzeptieren - auch Israel selbst kann das nicht akzeptieren -, dass all diejenigen, die sich darauf berufen, in den
nach 1948 von Israel beanspruchten Gebieten gewohnt
zu haben, dorthin zurückkehren, weil dann das Fundament des Staates Israels wegbrechen würde. Die Existenz des Staates Israel steht für uns aber völlig außer
Streit und Diskussion.
({2})
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass das Quartett
in seiner Berliner Erklärung vom 21. Februar 2007 - übrigens zum ersten Mal - die Rolle des früheren Kronprinzen und jetzigen Königs Abdallah gewürdigt hat und
damit auch offiziell vom Westen zur Kenntnis genommen worden ist, dass es eine solche Initiative gibt.
Ich will noch einmal darauf zurückkommen. Es besteht immer die Gefahr, dass die arabischen Länder Vorschläge des Quartetts als eine Lösung empfinden, die ihnen vom Westen übergestülpt wird. Wenn sie in den
Friedensprozess einbezogen und ihre eigenen Vorschläge geprüft und berücksichtigt werden, dann werden
die Verhandlungen etwas mehr als bisher auf gleicher
Augenhöhe geführt. Das führt vielleicht zu einer größeren Akzeptanz und einem größeren wechselseitiges Vertrauen; das brauchen wir letzten Endes in jedem Fall.
Insofern meine ich, dass die Bundesregierung im
Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft schon längst alle
Wünsche zur Kenntnis nimmt, die vonseiten des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke geäußert werden. Es hätte dieser Aufforderung und eigentlich
auch dieser Debatte nicht bedurft; denn genau betrachtet
haben wir im Deutschen Bundestag bei diesem Thema
ohnehin keine ernsthaften Streitpunkte.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir hier vor einigen Monaten die UNIFIL-Debatte
geführt haben, ist mit der Entsendung deutscher Soldaten in diese schwierige Region eindeutig die Erwartung
verknüpft worden, dass wir damit noch mehr Rechte und
Pflichten haben, uns in den politischen Lösungsprozess
intensiver einzuschalten. Für uns war damit jedenfalls
die Erwartung verbunden, dass die Bundesregierung und
die Europäische Union inhaltlich weitergehen würden,
als es bisher der Fall war, dass sie Initiativen ergreifen
würden, um den Friedensprozess endlich voranzubringen. Von solchen Initiativen inhaltlicher Art ist bis heute
keine Rede. Ich akzeptiere es, dass Außenminister
Steinmeier das Quartett auf Ministerebene gehoben hat.
Das ist völlig richtig und in Ordnung. Aber inhaltlich ist,
glaube ich, bisher nichts geschehen. Das ist enttäuschend.
Zu den Anträgen, Herr Hörster, muss ich Ihnen sagen:
Ich finde, dass zwischen den beiden Anträgen ein ganz
wesentlicher Unterschied besteht. Aus diesem Grund
lehnen wir den Antrag der Linken ab. Im Antrag der Linken wird eine völlig unkonditionierte Unterstützung der
neuen Regierung gefordert. Das ist nicht die Politik der
Bundesregierung. Ich bin einmal gespannt, was der
Staatsminister noch dazu sagen wird. Wir unterstützen
den Antrag der Grünen, der sehr gut ist, der differenziert,
der auf den Punkt geht und genau das Richtige fordert,
nämlich eine konditionierte Unterstützung dieser
neuen Regierung. Die Unterstützung ist an Bedingungen
geknüpft. Das müssen wir, glaube ich, unbedingt tun.
Diesen Unterschied herauszuarbeiten, ist diese Debatte
wert, Herr Hörster. Ich bin sehr interessiert daran, wie
der Staatsminister das in seiner Rede beurteilen wird, ob
auch er glaubt, dass die Bundesregierung schon jetzt das
tut, was die Linke in ihrem Antrag fordert. Ich glaube es
nicht.
({0})
Sie glauben es - das vermute ich - auch nicht. Sonst hätten Sie den Antrag nicht gestellt.
Ich möchte den Antrag der Grünen, den wir, wie gesagt, gut finden und dem wir zustimmen werden, um einen wesentlichen Baustein ergänzen. Eine Forderung
fehlt. Sie ist mir ganz wichtig. Es handelt sich um die
Forderung, dass die palästinensische Regierung endlich
glaubhaft macht, dass sie nicht nur in Sonntagsreden
sagt, dass sie die Gewalt gegen Israel verurteilen will,
wie Abbas es tut, sondern dass sie uns allen, dass sie der
Weltöffentlichkeit endlich deutlich demonstriert, dass es
nicht bei Worten bleibt, sondern dass diesen Taten folgen.
Ich sehe keine Prozesse, ich sehe keine Anklagen, ich
sehe keine Verurteilungen, und ich sehe keine Verfolgungen von Terroristen, die vom Boden aus der Region
Palästinas nach wie vor bis zum heutigen Tage Israel angreifen. Das ist die Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit
der palästinensischen Regierung. Deshalb müssen wir
sie darauf festnageln. Sie müssen deutlich machen, dass
sie bereit sind, den Worten Taten folgen zu lassen und
von sich aus ihr staatliches Handeln entsprechend auszurichten. Sonst ist die Regierung unglaubwürdig.
({1})
- Oh, Entschuldigung, klatschen Sie bitte ausgiebigst.
Das müssen wir fordern. Wir wissen - das müssen wir
Israel klarmachen -, dass es natürlich nie eine absolute
Sicherheit in einem Land geben kann. Aber Israel kann
sehr wohl verlangen, dass die Regierung Palästinas,
wenn sie ein Partner für Gespräche sein will, Israel deutlich macht, dass sie alles dafür tut, dass die Angriffe auf
Israel unterbleiben.
Wie kann es nun im Nahen Osten weitergehen? Ich
finde, wir haben durch die Einbeziehung der arabischen
Staaten, durch Initiativen der arabischen Welt eine neue
Qualität erreicht; das haben wir lange gefordert. Ich
finde es richtig und sehr interessant. Das gibt neue Impulse.
Ich bin aber nach wie vor der Meinung - das war ich
schon vor einigen Monaten, vor einem Jahr -, dass die
sequenzielle Abarbeitung der einzelnen Probleme, das
heißt, dass nacheinander erst Konflikt A, dann Konflikt B
und dann Konflikt C gelöst wird - dies ist meines Erachtens nach wie vor die Politik Israels -, nicht zum Ziel
führen wird. Die Konflikte, liebe Kolleginnen und Kollegen - das wissen wir alle in diesem Raum -, hängen zu
sehr miteinander zusammen als dass man glauben
könnte, man würde durch eine isolierte Lösung des Konflikts A Konflikt B nicht beeinflussen.
Deshalb fordern wir nach wie vor die Einberufung
einer Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten, bei der alle wesentlichen Beteiligten an einem runden Tisch sitzen und versuchen, die
Probleme gemeinsam zu lösen. Ich würde mich freuen,
sehr geehrter Herr Staatsminister, wenn Sie diese brillante Idee, die wir seit Jahren verfolgen, gleich in Ihrer
Rede vertreten würden und uns erklären, wie Sie diese
gute Idee in die Realität umsetzen würden.
Vielen Dank.
({2})
Für die Bundesregierung hat das Wort der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Krieg im Libanon im vergangenen Sommer war eine
politische und menschliche Tragödie. Aber er markiert
auch einen Aufbruch. Dazu hat die Bundesregierung,
seitdem der Nahostfriedensprozess wieder Leben bekommen hat, besonders in ihrer Rolle im Rahmen der
EU-Ratspräsidentschaft in spürbarer Weise beigetragen.
Es war Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der
deutsche Zollexperten nach Beirut brachte und damit zu
einem Ende der israelischen Blockade beitrug.
Die Bundeskanzlerin konnte bei ihrem USA-Besuch
Anfang dieses Jahres das amerikanische Engagement
verstärken, sich wieder mehr dem Nahost-Friedensprozess zu widmen. Anfang April hat sie durch ihre Reise in
die Region erneut unser intensives Interesse an dem
Nahost-Friedensprozess unterstrichen.
Schon sehr früh hat der deutsche Außenminister die
Wiederbelebung des Nahostquartetts ins Spiel gebracht. Am 21. Februar hat das Quartett nach langer
Pause wieder getagt - nicht zufällig in Berlin. Ein weiteres Treffen soll bald folgen, dann in der Region. Erfolgreich haben wir für ein stärkeres vermittelndes Engagement der konstruktiven arabischen Staaten geworben, so
von Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Nach der wichtigen Einigung von Mekka konnte die
deutsche Ratspräsidentschaft eine einheitliche Position
der EU bei der Frage der Kontakte mit den Vertretern der
neuen Einheitsregierung und bei der Gestaltung der
Hilfe für die Palästinensische Autonomiebehörde erreichen.
Das alles bringt mich zu einer behutsam positiven
Zwischenbilanz nach den ersten vier Monaten der Ratspräsidentschaft. Der Nahostfriedensprozess bewegt sich
wieder, und die europäische Stimme spielt in ihm eine
wichtiger werdende Rolle. Aber unsere Erfahrung lehrt
uns auch: Das politische Wetter in dieser Region kann
von einem Tag auf den anderen umschlagen. Wir bleiben
vorsichtig.
Die Übereinkunft von Mekka beendet eine Situation, die zu keiner Friedenslösung führen konnte. Aber
noch kann von einer gesicherten Beachtung der unverzichtbaren drei Quartettkriterien - also Anerkennung des
Existenzrechts Israels, der bisherigen Friedensabkommen und des Gewaltverzichts - keine Rede sein. Der erneute Kassam-Beschuss in den letzten Tagen aus dem
nördlichen Gazastreifen ist ein trauriger Beleg dafür.
Jetzt kommt es darauf an, dass die neue Regierung der
Nationalen Einheit die ermutigenden Passagen in ihrem
eigenen Regierungsprogramm tatsächlich praktisch umsetzt. Wir appellieren an die verantwortlichen Palästinenser, den israelischen Soldaten Schalit endlich frei zu
lassen,
({0})
ebenso wie den festgehaltenen britischen Journalisten
Alan Johnston. Aber wir erwarten auch, dass parallel
dazu die noch immer inhaftierten palästinensischen Abgeordneten und Minister in die Freiheit entlassen werden.
({1})
All das zeigt: Der Weg ist noch weit. Die Bemühungen der letzten Monate aber sind im Vergleich zu dem
jahrelangen Stillstand erfreulich. Wir brauchen Geduld.
Es gibt keine Abkürzungen bei diesem komplizierten
Friedensprozess. Deswegen halten wir auch Aufrufe zu
einer baldigen umfassenden internationalen Friedenskonferenz, wie sie immer wieder laut werden, in der jetzigen Situation eindeutig für verfrüht.
Die Bundesregierung wird ihr beharrliches Streben,
einer nachhaltigen Friedenslösung unter Einbeziehung
der beiden Partner näherzukommen, mit großem Einsatz
fortsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Allein die etwas nachdenklicheren Töne, die in dieser
Debatte hörbar geworden sind, haben es aus meiner
Sicht gelohnt, diese beiden Anträge auf die Tagesordnung zu setzen. Herr Kollege Hörster, ich fand Ihre Rede
in mehrfacher Hinsicht sehr bemerkenswert. Ich habe
sehr genau aufgenommen, was Sie damit signalisiert haben. Natürlich sind die Anträge nicht identisch; über die
Unterschiede wird zu debattieren sein. Ich möchte das
richtig festgehalten wissen.
Es stellt sich natürlich immer wieder die Frage - jeder
stellt sie sich neu -: Ist das Glas eigentlich halb leer oder
halb voll? Sind wir vorangekommen im Friedensprozess, ist er stagniert, oder sind wir zurückgegangen?
Man stellt sich auch die Frage, ob nicht das Glas der Palästinenser - wenn man bei diesem Bild bleibt - nach
wie vor leer ist.
Es lohnt sich, mit ein paar Stichworten die Entwicklung mit all ihrer Widersprüchlichkeit zu skizzieren. Ich
glaube, dass die neue Einheitsregierung die Möglichkeit
beinhaltet - auch ich spreche von einer Möglichkeit -,
eine neue Tür zu öffnen. Dazu gehören für mich die Vereinbarung von Mekka und der Vorschlag der arabischen
Staaten, den ich ähnlich wie Sie beurteile.
Ich nehme eine noch vorhandene Verhandlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit der israelischen Regierung gegenüber der Einheitsregierung, also nicht gegenüber
dem Präsidenten, mit dem man ja spricht, zur Kenntnis.
Ich nehme aber auch zur Kenntnis, dass eine deutliche
Mehrheit der israelischen Bürgerinnen und Bürger für
eine Zweistaatenlösung ist, genauso wie eine Mehrheit
der palästinensischen Bürgerinnen und Bürger.
Ich nehme mit Bedauern den Beschuss israelischen
Gebietes mit Raketen aus der Westbank zur Kenntnis.
Ich nehme aber auch mit Bedauern das militärische Vorgehen Israels zur Kenntnis. Ich finde, beide müssen sich
aus dieser Zwangslage von Aktion und Reaktion
- man kann dabei nie genau sagen, was die Reaktion und
was die Aktion war - befreien.
({0})
Auch ich bin der Auffassung, dass sich das Nahostquartett selbst bewegt hat und etwas bewegt. Ich war in
diesem Punkt sehr viel skeptischer, als ich es heute bin.
Nach meiner Meinung ist die Kritik des Kollegen
Stinner völlig berechtigt. Auch das Nahostquartett muss
Inhalte präsentieren. Denn man muss wissen, wohin die
Reise geht. Einen Anspruch auf diese Information haben
sowohl Israel als auch Palästina. Eine entsprechende
Aussage würde sehr viel klären.
Die Eckpunkte liegen alle auf dem Tisch. Da kann
man den Plan des ehemaligen Kronprinzen Abdallah
nehmen. Man kann auch die Genfer Initiative von Abu
Rabo und Yossi Beilin nennen. Ich brauche die Punkte,
was die Zweistaatenlösung, gegenseitige Anerkennung
und Gewaltverzicht sowie Ostjerusalem angeht, nicht zu
wiederholen.
Der für uns entscheidende Punkt ist, wie wir mit der
neuen Einheitsregierung Palästinas umgehen.
({1})
Bewegen wir uns hier, und setzen wir ein positives Signal? Oder wiederholen wir nur das, Kollege Erler, was
wir bereits vorher gesagt haben? Ich finde, diese neue
Einheitsregierung hat eine Chance verdient, und diese
Chance bedeutet, dass man die Sanktionen der Europäischen Union aufheben muss und dass man mit dieser Regierung verhandeln und sprechen muss.
({2})
Das ist das, was Deutschland tun kann, wenn wir im
Quartett die Dinge weiter vorantreiben wollen. Daran
hindert uns keiner. Norwegen als europäisches Land hat
es vorgemacht. Ich finde, an dieser Stelle sollte man etwas mutiger sein.
Der palästinensische Präsident Abbas hat mit seinen
Vorschlägen einen Bürgerkrieg riskiert. Ich bin froh,
dass er nicht stattgefunden hat. Aber wenn die Palästinenser die Erfahrung machen, dass ihre Situation nicht
besser wird und dass Europa sich nicht bewegt, obwohl
sie sich selber bewegt haben, dann wird es einen Rückfall auf alte Positionen geben. Das ist die Botschaft beider Anträge, wenn auch mit unterschiedlichen Worten.
Ich könnte dem Antrag der Grünen zustimmen. Vielleicht können Sie unserem Antrag zustimmen. Man kann
sich auch jeweils der Stimme enthalten. Dann würde
man sich nicht gegenseitig wehtun. Der entscheidende
Punkt ist, dass man jetzt mit der neuen Regierung in Palästina reden und verhandeln sowie die Sanktionen aufheben muss.
Danke sehr.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich finde es richtig, dass wir eine Debatte über eine
etwaige neue Chance im Nahen Osten führen. Auch ich
glaube, dass die Bildung einer Einheitsregierung nicht
nur ein wichtiges Ereignis, sondern auch ein Beitrag zur
Verständigung und zur Vernunft ist.
Wir sollten daran erinnern, dass wir die Einheitsregierung gewünscht haben. Nachdem wir die Hamasregierung nicht akzeptieren wollten, haben wir die Palästinenser gefragt, ob sie nicht eine Einheitsregierung bilden
würden. Deswegen sollten wir gut überlegen, wie wir
mit dieser Chance umgehen. Daher ist diese Debatte im
Deutschen Bundestag notwendig. Wir haben im Ausschuss sehr differenziert über die Anträge gesprochen.
Ich glaube, es macht keinen Sinn, hier schwarz-weiß
zu malen. Das Bild ist nämlich sehr differenziert. Die
Europäische Union hat nicht nur unter der Ratspräsidentschaft Deutschlands durchaus Bewegung in den Prozess
gebracht. Für mich ist es ein wichtiger Fortschritt, dass
sich das Nahostquartett wieder auf den Weg gemacht
hat.
({0})
Wie lange haben Staaten aus dem Nahostquartett abseits
gestanden! Es war doch Europa, das die USA überzeugt
hat, diese Chance endlich wieder zu nutzen.
Ich persönlich finde es bedauerlich, dass die neue
Einheitsregierung die Kriterien des Nahostquartetts und
der EU nicht ausdrücklich aufgenommen hat. Ich hätte
mir das gewünscht. Gestern war Mustafa Barghouthi,
der Informationsminister der Einheitsregierung, hier in
Deutschland. Er hat darauf hingewiesen, dass das Regierungsprogramm aus seiner Sicht auf jeden Fall das ein
oder andere Kriterium reflektiert, vielleicht auch unmittelbar aufnimmt.
Diese Koalitionsregierung ist nicht nur im Hinblick
auf die Chance eines Fortschritts im Friedensprozess
wichtig; sie hat auch zu drei Errungenschaften geführt,
für die wir dankbar sein sollten:
Erstens. Die Gefahr eines Bürgerkrieges in Palästina
ist durch diese Einheitsregierung eingedämmt worden.
Das ist auch für Israel ein Fortschritt; zumindest erhöht
das die Sicherheit Israels. Auch darauf sollten wir an
dieser Stelle hinweisen.
({1})
Zweitens. Hamas hat akzeptiert, dass ausschließlich
Präsident Abbas für die Friedensgespräche mit Ministerpräsident Olmert zuständig ist. Auch das ist ein wichtiges Signal an die internationale Gemeinschaft.
Drittens. Ich glaube, dass die Einheitsregierung die
Möglichkeit eröffnet, zu geregelten Beziehungen zurückzukehren. Man wird das nicht sofort tun können.
Die Europäische Union hat aber am vergangenen
Montag unter deutscher Ratspräsidentschaft einen klugen Beschluss gefasst: Wir prüfen, ob in den nächsten
Monaten weitere Schritte mit der neuen Einheitsregierung unternommen werden können. Ich glaube, das ist
der Maßstab, den man anlegen sollte.
Für mich ist der Gewaltverzicht das wichtigste Kriterium für den Friedensprozess.
({2})
Ich glaube, die Frage des Gewaltverzichts ist sowohl für
Palästina als auch für Israel am wichtigsten: Es ist für
beide Seiten die entscheidende Frage. Deswegen richtet
sich unser Appell an beide Seiten.
Der Friedensplan der Arabischen Liga, den Abbas
und Ministerpräsident Hanija begleiten, erkennt das
Existenzrecht Israels indirekt an. Auch das müssen wir
zur Kenntnis nehmen; auch das sorgt für Bewegung.
Ich plädiere dafür, nicht schwarz-weiß zu malen, sondern auch Hamas als einen sehr differenzierten Block
wahrzunehmen.
({3})
Israel kooperiert manchmal mit dem einen oder anderen
Hamas-Bürgermeister in den besetzten Gebieten. Auch
das gehört zur Realität vor Ort.
Wir sollten als Mitgliedstaat der Europäischen Union
überlegen, wie man an dieser Stelle weiterkommt. Ich
bin der festen Überzeugung, dass die Bundesregierung
weiterkommen will. Ich glaube nicht, dass das Übergangsprojekt - wir finanzieren die palästinensischen Gebiete - ein Projekt für die Zukunft sein kann. Insbesondere weil die Mittel für diesen Haushalt nicht weniger,
sondern mehr geworden sind, müssen wir uns überlegen,
wie wir hier klug operieren. Der neue Finanzminister
Fayyad ist ein durchaus verlässlicher und kluger Partner,
der uns überzeugen könnte, das ein oder andere zu tun.
Ich glaube, wir sollten uns auf diesen Prozess konzentrieren. Er bietet Chancen. Es gibt differenzierte Sichtweisen, aber es gibt keine Alternative zu diesem Friedensprozess.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5106 mit dem Titel Die neue Einheitsregierung in Palästina unterstützen. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5112 mit dem Titel: Neue Chancen für einen Friedensdialog im Nahen
Osten aufgreifen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Antrag gegen die Stimmen der Antragstellerin bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Ersten Gesetzes
zur Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes
- Drucksachen 16/4665, 16/4921 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/4969 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
Wir haben die Reden des Kollegen Günter Baumann
aus der Unionsfraktion, des Kollegen Wolfgang Gunkel
aus der SPD-Fraktion, der Kollegin Gisela Piltz aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Silke Stokar von Neuforn
aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Kollegin Pau zu Protokoll genommen.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bun-
desgrenzschutzgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4969,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 16/4665 und 16/4921 anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen
der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom-
men.
1) Anlage 8
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Energiegetreide als Regelbrennstoff zulassen
- Drucksache 16/3048 Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wir haben die Reden der Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die Unionsfraktion, des Kollegen Detlef
Müller ({2}) für die SPD-Fraktion, der Kollegin
Dr. Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion, der
Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die
Linke und der Kollegin Cornelia Behm aus der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll genom-
men.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3048 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Alkoholverbots für Fahranfänger
und Fahranfängerinnen
- Drucksache 16/5047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Gesundheit
Wir nehmen die Reden des Kollegen Gero Storjohann
aus der Unionsfraktion, der Kollegin Heidi Wright aus
der SPD-Fraktion, des Kollegen Patrick Döring aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Dorothée Menzner aus der
Fraktion Die Linke und des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5047 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Dr. Lothar Bisky,
1) Anlage 9
2) Anlage 10
Dr. Lukrezia Jochimsen und der Fraktion der
LINKEN
Rechte für Journalistinnen und Journalisten
sichern und ausbauen
- Drucksache 16/3911 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben folgende Kol-
leginnen und Kollegen: Reinhard Grindel für die
Unionsfraktion, Christoph Pries und Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion, Christoph Waitz für die FDP-Fraktion,
Jan Korte für die Fraktion Die Linke, Grietje Bettin für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie Gert
Winkelmeier.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3911 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c sowie
den Zusatzpunkt 6 auf:
21 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 16/5100 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ({7}), Rainder Steenblock, Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verstöße gegen FFH-Richtlinie umgehend abstellen
- Drucksachen 16/1670, 16/4276 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({8})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({9}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ({10}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer
3) Anlage 11
Vizepräsidentin Petra Pau
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nationale Biodiversitätsstrategie zügig vorlegen
- Drucksachen 16/1497, 16/4277 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({11})
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz
in Deutschland
- Drucksache 16/3099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wir nehmen die Reden des Kollegen Josef Göppel für
die CDU/CSU-Fraktion sowie die Rede des Kollegen
Dirk Becker für die SPD-Fraktion, der Kollegin
Angelika Brunkhorst für die FDP-Fraktion, des Kolle-
gen Lutz Heilmann für die Fraktion Die Linke und auch
die Reden der Kollegin Undine Kurth für die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen sowie des Bundesminis-
ters Sigmar Gabriel zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5100 und 16/3099 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden, oder haben Sie andere
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen mit dem Titel Verstöße gegen FFH-Richtlinie um-
gehend abstellen; es handelt sich hierbei um den
Tagesordnungspunkt 21 b. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4276,
den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/1670 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
gegen die Stimmen der Antragsteller bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21 c. Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel Nationale Biodiversitätsstrategie zügig vorle-
1) Anlage 12
gen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4277, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1497 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der antragstellenden Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Innovationsfähigkeit des Standortes stärken Wagniskapital fördern
- Drucksache 16/4758 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wir nehmen die Reden der Kollegen Klaus-Peter
Flosbach und Dr. Heinz Riesenhuber für die Unionsfrak-
tion, der Kollegin Nina Hauer für die SPD-Fraktion, der
Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion, des Kolle-
gen Dr. Axel Troost aus der Fraktion Die Linke, der Kol-
legin Christine Scheel aus der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der Parlamentarischen Staatssek-
retärin Dr. Barbara Hendricks zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für solidarische Assoziierungsabkommen der
EU mit den zentralamerikanischen Staaten
und den Staaten der Andengemeinschaft
- Drucksache 16/5045 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir nehmen die Rede der Kollegin Anette Hübinger
für die Unionsfraktion, des Kollegen Dr. Sascha Raabe
aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Dr. Karl Addicks
aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Heike Hänsel aus
der Fraktion Die Linke und der Kollegin Ute Koczy für
2) Anlage 13
Vizepräsidentin Petra Pau
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Proto-
koll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({15}), Hans-Josef Fell, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nanotechnologie-Bericht vorlegen
- Drucksache 16/4757 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir nehmen zu Protokoll die Reden des Kollegen
Johann-Henrich Krummacher aus der Unionsfraktion,
der Kollegin Ulla Burchardt aus der SPD-Fraktion, der
Kollegin Cornelia Pieper aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Dr. Petra Sitte aus der Fraktion Die Linke und der
Kollegin Priska Hinz ({17}) aus der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4757 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({18}), Marieluise Beck ({19}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten
Nationen effektiv gestalten
- Drucksache 16/4906 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({20}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({21}), Birgitt
Bender, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und
1) Anlage 14
2) Anlage 15
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weitere Verschlechterung der Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria verhindern
- Drucksachen 16/4747, 16/5113 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({22})
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({23})
Wir nehmen zu Protokoll die Reden der Kollegen
Holger Haibach und Hartwig Fischer ({24}) für die
Unionsfraktion, der Kollegin Professor Dr. Herta
Däubler-Gmelin für die SPD-Fraktion, des Kollegen
Florian Toncar für die FDP-Fraktion, des Kollegen
Michael Leutert für die Fraktion Die Linke und des Kollegen Volker Beck ({25}) für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.3)
Tagesordnungspunkt 25 a. Abstimmung über den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4906 mit dem Titel Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen effektiv gestalten. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist dieser Antrag gegen
die Stimmen der antragstellenden Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel Weitere Verschlechterung der
Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria verhindern. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5113, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4747 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. April 2007, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.