Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Erich Fritz und der Kollegin Susanne
Kastner zu ihren 65. Geburtstagen gratulieren, die sie in
den vergangenen Tagen gefeiert haben, und dazu auch
auf diesem Wege noch einmal alle guten Wünsche des
Hauses übermitteln.
({0})
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Für die
Amtszeit des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für
Wiederaufbau schlägt die FDP-Fraktion vor, den Kollegen Dr. h. c. Jürgen Koppelin zu berufen, und die Fraktion Die Linke benennt in ihrem Vorschlag die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch. Stimmen Sie diesen beiden Vorschlägen zu? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind
die Kollegen in den Verwaltungsrat der Kreditanstalt für
Wiederaufbau gewählt.
Schließlich ist interfraktionell vereinbart worden, die
Tagesordnungspunkte 15 und 28 abzusetzen und die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
am 8./9. Dezember 2011 in Brüssel
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Angekündigte, aber bisher nicht angegangene
steuerpolitische Vorhaben der Bundesregierung
({1})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die europäische Energieeffizienzrichtlinie wirkungsvoll ausgestalten
- Drucksache 17/8159 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen der Nanotechnologien nutzen und
Risiken für Verbraucher reduzieren
- Drucksache 17/8158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken
und eine wirksame Reduktionsstrategie umsetzen
- Drucksache 17/8157 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Marlene Rupprecht ({6}), Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht wirksam anpassen
- Drucksache 17/8156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen
- Drucksache 17/8155 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für die Einführung eines transparenten und
unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens
- Drucksache 17/8162 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechtssicherheit für verwaiste Werke herstellen und den Ausbau der Deutschen Digitalen
Bibliothek auf ein solides Fundament stellen
- Drucksache 17/8164 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 34
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Verbot der Haltung wildlebender Tierarten im
Zirkus
- Drucksache 17/8160 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Erneuerbare Energien und Effizienz als Alter-
native zum polnischen Atomprogramm för-
dern und fordern
- Drucksache 17/8163 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({11})
Übersicht 6
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
- Drucksache 17/8165 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 364 zu Petitionen
- Drucksache 17/8168 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 365 zu Petitionen
- Drucksache 17/8169 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 366 zu Petitionen
- Drucksache 17/8170 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 367 zu Petitionen
- Drucksache 17/8171 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 368 zu Petitionen
- Drucksache 17/8172 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 369 zu Petitionen
- Drucksache 17/8173 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 370 zu Petitionen
- Drucksache 17/8174 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 371 zu Petitionen
- Drucksache 17/8175 -
Präsident Dr. Norbert Lammert
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 372 zu Petitionen
- Drucksache 17/8176 -
m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 373 zu Petitionen
- Drucksache 17/8177 ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({22}) zu dem Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und
Jugendlichen ({23})
- Drucksachen 17/6256, 17/7522, 17/7523,
17/7932, 17/7967, 17/8130 Berichterstatter:
Abgeordneter Jörg van Essen
ZP 6 Aktuelle Stunde
Demokratiebewegung in Russland
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon konsequent anwenden - Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten der
Europäischen Union weiter stärken
- Drucksache 17/8137 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({24})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Demokratie stärken - Parlamentarische
Rechte in EU-Angelegenheiten ausbauen
- Drucksache 17/8138 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({25})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 9 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu den Ergebnissen des Klimagipfels in Durban
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen im Ablauf.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 24. November 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss
({26}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Volker Beck ({27}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderrechte stärken
- Drucksache 17/7187 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({28})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Sind Sie mit diesen Änderungen einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Eigenverantwortung und Partnerschaft - Eine
neue Perspektive für Afghanistan
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({29}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({30}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
2011 ({31}) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/8166 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({32})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({33})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Tagen in Bonn
haben Afghanistan und die internationale Gemeinschaft
eine neue Partnerschaft besiegelt, eine Partnerschaft, die
einem souveränen Afghanistan über das Jahr 2014 hinaus eine Perspektive gibt. Der Einstieg in die Übergabe
der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte
hat begonnen - trotz aller Versuche, diesen Prozess
durch schreckliche Anschläge aus der Bahn zu werfen.
Die Ansätze für einen Versöhnungsprozess in Afghanistan entwickeln sich, auch wenn die Ermordung von
Professor Rabbani ein schmerzhafter Rückschlag war.
Von der Korruption über die Menschenrechte bis zur
Sicherheitslage: Nichts ist einfach in Afghanistan, und
doch steht Afghanistan heute besser da als vor einem
Jahr und erst recht besser als vor zehn Jahren. Dazu haben die Bundeswehr, die Polizei, die Wiederaufbauhelfer
und auch die deutschen Diplomaten einen Beitrag geleistet, für den wir danken.
({0})
Wir danken also gemeinsam unseren Landsleuten in
Uniform und ohne Uniform für ihren Einsatz. Wir verneigen uns vor den Soldaten, die den Einsatz mit ihrem
Leben bezahlt haben. Auch unschuldige afghanische
Kinder, Frauen und Männer haben ihr Leben verloren.
Wenn wir an die Zukunft Afghanistans in Sicherheit und
Frieden denken, dann trauern wir um alle Opfer.
2011 markiert einen Wendepunkt in der internationalen Afghanistan-Politik. Der strategische Konsens von
Bonn in der internationalen Gemeinschaft wird Baustein
für Baustein umgesetzt.
Erstens. Es wird keine militärische, sondern nur eine
politische Lösung geben. Deshalb unterstützen wir den
Prozess von Versöhnung und Reintegration, auch wenn
der Weg noch lang und schwierig sein wird. Die afghanische Regierung hat ernsthaft begonnen, an einem Friedens- und Versöhnungsprozess zu arbeiten. Dieses Ziel
hat die traditionelle Loya Jirga Mitte November 2011 in
Kabul bekräftigt. Davon konnte ich mir bei meinem letzten Besuch selbst ein Bild machen.
Zweitens. Im Juli hat der Transitionsprozess begonnen. Vor zwei Wochen hat Präsident Karzai die zweite
Tranche der Übergabe bekannt gegeben. Die afghanischen Behörden übernehmen schrittweise die Sicherheitsverantwortung. Im Februar werden sie die Verantwortung für fast die Hälfte der afghanischen
Bevölkerung haben. Dass die afghanischen Sicherheitskräfte dieses jetzt bei allen Mängeln leisten können, ist
auch das Ergebnis unserer Ausbildungsarbeit, die Anfang 2010 nach der Londoner Afghanistan-Konferenz
erheblich intensiviert worden ist.
({1})
Der Einstieg in die Transition - ich wähle das Wort „Einstieg“ bewusst - ist ein Erfolg trotz schwerster Anschläge.
Drittens. Für eine stabile Entwicklung Afghanistans
ist die Mitwirkung aller Nachbarstaaten erforderlich.
Am 2. November hat sich in Istanbul die afghanische
Regierung mit allen Nachbarn und anderen wichtigen
Akteuren auf einen Prozess verständigt, der langfristig
die ganze Region wirtschaftlich und politisch enger zusammenführen soll. Im September haben wir dazu in
New York das Konzept der sogenannten Neuen Seidenstraße bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgestellt. Dieser Prozess gründet auf gemeinsamen Prinzipien für Sicherheit und Stabilität in der
Region und auf einem ehrgeizigen Katalog von vertrauensbildenden Maßnahmen zur Förderung der regionalen
Zusammenarbeit. Das ist ein echtes Novum in der Region. Auch wenn Pakistan sich nach der Tötung von
mehr als 24 Soldaten nicht in der Lage sah, an der Bonner Konferenz teilzunehmen, war auch die pakistanische
Regierung an diesen Vereinbarungen, die ich eben genannt habe, konstruktiv beteiligt. Pakistan wurde auch
durch meine Reise nach Islamabad wenige Tage vor der
Bonner Konferenz in die Vorbereitung einbezogen. Ich
kann Ihnen berichten: Die pakistanische Außenministerin hat mir nach der Konferenz versichert, dass Pakistan
den politischen Prozess in Afghanistan auch weiterhin
unterstützen wird. Wir unsererseits sagen allen Nachbarländern: Eine stabile, friedliche und demokratische
Entwicklung Afghanistans liegt nicht nur im Interesse
Afghanistans und der Weltgemeinschaft, sie liegt ausdrücklich auch im Interesse der Nachbarregion, und
zwar aller Nachbarstaaten. Wir appellieren an alle Nachbarstaaten, diesen Prozess auch zu unterstützen.
({2})
Viertens. Wir werden eine stabile Entwicklung nur
schaffen, wenn wir Afghanistan auch nach 2014 weiter
unterstützen. Mit der Internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn haben wir die Partnerschaft zwischen Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft erneuert. Wir haben eine verlässliche Grundlage für eine
sogenannte Transformationsdekade von 2015 bis 2024
geschaffen. Das ist die neue Perspektive für die Zeit
nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen. Ich
will auch hier vor dem Deutschen Bundestag wiederholen, was die Bundeskanzlerin und was ich selbst bei der
Eröffnung der Afghanistan-Konferenz in Bonn gesagt
habe: Wir lassen die Menschen in Afghanistan nicht im
Stich, auch nicht nach 2014. Wir werden kein Vakuum
hinterlassen, in dem dann wieder neuer Terror gedeihen
kann. Wir tun das, was wir tun, für Afghanistan, für das
Land, aber wir tun es auch unverändert für uns und für
unsere eigene Sicherheit, und wir werden die früheren
Fehler in der Geschichte nicht wiederholen.
({3})
Dieses Ergebnis ist die Frucht mühevoller Arbeit von
vielen in den letzten zwei Jahren. Wir machen uns keine
Illusionen: Die Afghanistan-Konferenz war eine Konferenz des Möglichen. Die Bundesregierung verfolgt eine
Politik des Machbaren in Afghanistan. Wir haben uns
realistische Ziele gesetzt, haben uns realistische Mittel
und einen realistischen Zeitplan gegeben. Wir haben dies
mit Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft
vereinbart und setzen es mit unseren Partnern konsequent um. Nie hatten wir einen größeren internationalen
Konsens als heute; auch das haben wir in Bonn eindrucksvoll gesehen.
Im Vorfeld hat die Bonner Konferenz übrigens auch
geholfen, innenpolitische Blockaden in Afghanistan zu
überwinden, etwa die Parlamentskrise oder die Auseinandersetzung um die Kabul Bank.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, die neue Partnerschaft mit Afghanistan ist keine
Einbahnstraße. Sie beruht auf festen gegenseitigen Verpflichtungen zwischen der internationalen Gemeinschaft
und Afghanistan. Die afghanische Regierung hat sich zu
Verbesserungen bei der Regierungsführung, bei der Bekämpfung der Korruption und beim Aufbau des Justizsektors verpflichtet. Die Rolle der Verfassung und der
Menschenrechte als Fundament der afghanischen Gesellschaft soll gestärkt werden.
Auf der anderen Seite hat sich die internationale Gemeinschaft in bemerkenswert starker Form zu einem
langfristigen Engagement in Afghanistan über 2014 hinaus verpflichtet. Diese zivilen und entwicklungspolitischen Zusagen werden im kommenden Juli in Tokio
konkretisiert. Ich sage dem Deutschen Bundestag als
dem Haushaltsgesetzgeber in aller Offenheit: Es wird
noch länger finanzielle Belastungen geben. Entwicklung
und Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Die Wirtschaft
in Afghanistan muss auf die Beine kommen. Unsere
Hilfe beim Aufbau eines wettbewerbsfähigen Privatsektors wird noch über Jahre gefordert sein.
Besonders der Rohstoffsektor hat großes Potenzial
und kann Afghanistan langfristig unabhängiger von internationalen Geldzuwendungen machen. Die afghanischen Rohstoffvorkommen werden bisher kaum genutzt,
weil Investoren vor der Bedrohungslage und mangelnder
Rechtssicherheit in Afghanistan zurückschrecken. Auch
hier haben wir auf dem Weg nach Bonn mit der vorausgehenden Brüsseler Wirtschaftskonferenz Fortschritte
erreichen können. Angesichts dessen ist es auch wichtig,
dass wir unsere Afghanistan-Politik umfassend und vernetzt betreiben. Erlauben Sie mir, dass ich mich bei den
Kollegen dreier Häuser, beim Bundesinnenminister - ich
denke dabei an den Aufbau der Polizei -, beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und vor allen Dingen beim Bundesverteidigungsminister, für die
gemeinsame, gute und koordinierte Arbeit bedanke.
({4})
Afghanistan wird auch nach 2014 kein normales Partnerland der Entwicklungszusammenarbeit sein. Darauf
hat Entwicklungsminister Dirk Niebel immer wieder
hingewiesen. Der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan kommt auf Grundlage der besonderen Verantwortung, die wir in den letzten zehn Jahren übernommen
haben, ein besonderer Status zu. Diese neue Art der Partnerschaft manifestiert sich in der in Bonn beschlossenen,
bereits erwähnten Transformationsdekade. Die Europäische Union hat bereits Verhandlungen für ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Afghanistan
aufgenommen. Daneben wird die Bundesregierung im
kommenden Jahr auch ein bilaterales Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan verhandeln, das unsere Zusammenarbeit auf eine feste Grundlage stellt. So ist es
unmittelbar nach der Afghanistan-Konferenz zwischen
Staatspräsident Karzai und Bundeskanzlerin Angela
Merkel vereinbart worden.
Teil des strategischen Konsenses von Bonn ist, dass
die internationale Gemeinschaft nun gemeinsam hinter
der Notwendigkeit eines politischen Prozesses und von
Friedensgesprächen auch mit den Taliban steht. Mittlerweile sind sich alle einig, dass es keine militärische, sondern nur eine politische Lösung geben kann. Diese politische Lösung braucht aber auch klare Maßstäbe. In
Bonn hat sich die internationale Gemeinschaft deshalb
auf sieben Prinzipien geeinigt. Dazu gehört eine eindeutig afghanische Führungsrolle; niemand anders kann
eine Lösung erzwingen. Außerdem muss der Prozess die
legitimen Interessen aller Afghanen widerspiegeln und
ihnen die Chance geben, sich in ihrem Staat politisch
wiederzufinden.
Dauerhaften Frieden wird es in Afghanistan nur geben, wenn alle afghanischen Bevölkerungsgruppen sich
im Friedensprozess und in seinem Ergebnis wiederfinden können. Deshalb war es beeindruckend, dass zum
ersten Mal in so großer Zahl auch die Vertreter der Zivilgesellschaft im Vorfeld der Bonner Konferenz einbezogen wurden und an ihr teilgenommen haben. Darunter
waren übrigens auch sehr viele Frauen; sie machten
einen erheblichen Anteil aus. Ich sage das ausdrücklich,
weil es vor allen Dingen viele Frauen sind, die zu Recht
Sorge haben, dass nach 2014 ihre Rechte und ihre Möglichkeiten wieder vergessen werden könnten. Unsere
Solidarität und unsere klare Ansage, dass wir für die fundamentalen Menschenrechte, aber eben auch für die
Frauenrechte unverändert eintreten und uns dafür einsetzen, ist in meinen Augen wichtig, wenn der Übergabeprozess in Afghanistan gelingen soll.
({5})
Gleichzeitig formulieren diese Prinzipien klare Anforderungen an das Ergebnis, also an die Friedenslösung
selbst. Die Souveränität, die Stabilität und die Einheit
Afghanistans müssen gesichert sein. Gewaltverzicht,
Bruch mit dem internationalen Terrorismus und Anerkennung der Verfassung mit ihren fundamentalen Menschenrechten und - ich sage das abermals - vor allem
auch den Frauenrechten sind notwendige Bestandteile
einer Friedenslösung. Und: Eine politische Lösung in
Afghanistan muss auch von der Region akzeptiert und
unterstützt werden.
Eine Friedenslösung, die diesen Prinzipien entspricht,
wird die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft finden. Wir lassen uns dabei von dem klaren Ziel
leiten, dass von Afghanistan nicht noch einmal Gefahr
für die Welt ausgehen darf. Aus dem Krisenherd Afghanistan soll ein souveräner und verantwortlicher Staat
werden, ein Staat, der als gleichberechtigtes Mitglied der
Völkergemeinschaft zu Frieden und Stabilität in der
Region beiträgt. Kabul darf nie wieder die Hauptstadt
der Terroristen in der Welt werden.
({6})
Der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierung
zu Afghanistan, meine sehr geehrten Damen und Herren,
zeichnet ein ungeschminktes Bild der Fortschritte und
der Schwierigkeiten in Afghanistan. Wir brauchen eine
ehrliche Lagebeurteilung, ohne etwas schönzureden,
aber auch ohne die Fortschritte zu übersehen.
Ein Drittel der etwa 8 Millionen Schülerinnen und
Schüler sind Mädchen. Über 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu Gesundheitsleistungen. Straßen wurden gebaut, die Infrastruktur verbessert, vor allen Dingen auch die Versorgung mit Wasser.
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit 305 000
Mann ihre Sollstärke fast erreicht. Der Schwerpunkt
liegt jetzt auf der weiteren Qualifizierung von Polizei
und Armee. Diese Aufgabe wird auch nach dem Abzug
der internationalen Kampftruppen 2014 fortbestehen.
Der Trend einer sich von Jahr zu Jahr verschlechternden
Sicherheitslage konnte vorerst - ich betone: vorerst gestoppt werden. Trotz schrecklicher Anschläge hat sich
die Lage 2011 insgesamt konsolidiert. Aber auch das
gehört zum Bild dazu.
Die Menschenrechtslage in Afghanistan verbessert
sich, allerdings nur langsam. Die universellen Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung verankert, aber bei weitem noch nicht vollständig in der Praxis
verwirklicht. Im Hinblick auf Regierungsführung und
Demokratie bleibt in Afghanistan noch viel zu tun. Dazu
gehören auch Wahlreformen, zu deren Unterstützung wir
im europäischen Rahmen bereitstehen.
Korruption bleibt ein großes Hindernis für gute Regierungsführung in Afghanistan. Der Skandal um die
Kabul Bank ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Auch
die Drogenwirtschaft trägt zur Korruption bei. In Bonn
hat die afghanische Regierung eine wirtschaftliche Transitionsstrategie vorgestellt, mit der sie klare Verbesserungen schaffen möchte. Die Umsetzung der nationalen
Entwicklungsstrategie macht bescheidene Fortschritte;
allerdings bemessen sich die Zeitlinien der Entwicklungszusammenarbeit eher in Jahrzehnten als in Jahren.
Auch das zu erwähnen, gehört zu einer realistischen
Lagebeschreibung.
Unser deutsches Engagement hat sich auf sorgfältig
mit der afghanischen Regierung abgestimmte Programme und Projekte verlagert, die nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Diese Bundesregierung hat den
Mittelansatz für den Wiederaufbau und die Entwicklung
auf 430 Millionen Euro jährlich fast verdoppelt.
Deutschland ist damit das drittgrößte Geberland in
Afghanistan.
Mit den Ergebnissen aus Bonn beginnt nun eine neue
Phase unseres Einsatzes in Afghanistan. Gemeinsam mit
der afghanischen Regierung haben wir uns auf einen verantwortlichen Abbau aller internationalen Kampftruppen
in Afghanistan verständigt. Das deutsche militärische
Engagement hat in diesem Jahr seinen Scheitelpunkt
erreicht.
Mit dem Mandat, das wir heute einbringen, wird der
international vereinbarte Abzug der Kampftruppen aus
Afghanistan auch von unserer deutschen Seite aus verantwortungsvoll eingeleitet. Damit wird die in den letzten zwei Jahren erarbeitete Abzugsperspektive real. Die
Strategie der Übergabe der Sicherheitsverantwortung
wird umgesetzt. Klar ist, dass die langfristige Stabilisierung Afghanistans noch ein schwerer Weg wird, bei dem
wir auch weiter mit Rückschlägen rechnen müssen.
Wenn der Deutsche Bundestag dem Antrag der Bundesregierung folgt, dann werden ab dem 1. Februar 2012
noch bis zu 4 900 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz sein. Die deutsche Beteiligung an den
NATO-AWACS war bislang gesondert mandatiert. Sie
wird fortgesetzt; die Dienstposten werden in die neue
Personalobergrenze integriert. Die flexible Reserve entfällt.
Darüber hinaus ist es das Ziel der Bundesregierung,
das deutsche Kontingent im Rahmen des fortschreitenden Übergabeprozesses bis zum Ende des Mandatszeitraumes auf bis zu 4 400 Soldatinnen und Soldaten zu
reduzieren, soweit die Lage dies erlaubt und ohne die
Sicherheit des eingesetzten Personals oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden. Diese Einschränkung müssen wir auch in diesem Jahr weiter
machen. Alles andere wäre irreal. Niemand kann alles
vorhersagen. Deswegen hat dieses Mandat dieselbe
Konditionierung, die auch letztes Jahr in das Mandat
aufgenommen worden ist.
Machen wir uns nichts vor: Die Sicherheitslage in
Afghanistan ist weiter schwierig. Die Bedrohung ist
nach wie vor real. Die grausamen Anschläge in den letzten Monaten haben dies gezeigt. Allerdings sehen wir,
dass die afghanischen Sicherheitskräfte zunehmend in
der Lage sind, sich selbst dieser Herausforderungen
anzunehmen. Das ist der Kern unseres Auftrages: die
Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte voranzubringen. Dabei spielt der Aufwuchs dieser Kräfte eine
wichtige Rolle. Entscheidend jedoch ist die Verbesserung der Fähigkeiten, also der Qualität der afghanischen
Soldatinnen und Soldaten, der Polizistinnen und Polizisten. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Sie wird uns noch
fordern, auch wenn die internationalen Kampftruppen
nach 2014 abgezogen sind.
Meine Damen und Herren, ich sage deshalb: Unser
Einsatz hat von seiner Bedeutung nichts eingebüßt. Es
ging und es geht darum, eine tödliche Gefahr für unsere
Gesellschaften zu bannen. Afghanistan darf nicht wieder
zum Rückzugsraum für Terroristen werden. Diesem Ziel
hat sich die gesamte internationale Gemeinschaft verpflichtet. 50 Staaten beteiligen sich an ISAF. Auch
Deutschland stellt sich weiterhin dieser Verantwortung.
Wir haben manches erreicht, aber dennoch sind wir
vor Rückschlägen nicht gefeit. Ich bitte Sie deshalb,
meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete:
Stärken Sie den am Einsatz beteiligten Soldatinnen und
Soldaten den Rücken, indem Sie den Antrag der Bundesregierung mit breiter Mehrheit unterstützen!
Ich möchte an dieser Stelle neben den Angehörigen
der Bundeswehr auch unseren Polizeiausbildern und unseren Aufbauhelfern, unseren Diplomaten, aber vor allen
Dingen ihren Familien meinen Dank und meinen tiefen
Respekt bekunden.
({7})
Sie alle setzen ihren Ehrgeiz, ihre Gesundheit, ja ihr
Leben ein im Interesse unseres Landes.
Ich möchte mit einer persönlichen Betrachtung
schließen. Ich bin schon sehr oft in Afghanistan gewesen
und habe das Land besucht, lange bevor ich Mitglied der
Bundesregierung geworden bin. Wenn wir bei uns über
Afghanistan reden und über Afghanistan berichtet wird,
dann sehen wir schreckliche Bilder: Wir sehen
Anschläge. Wir trauern um Getötete. Wir sehen Bilder,
die wirklich schrecklich sind. Wir wissen um die Missstände. Wir alle teilen die Sorgen und hoffen doch
darauf, dass uns eine gute, friedliche und stabile Entwicklung in Afghanistan gelingt. Aber nicht nur die Bilder der Gewalt und des Terrors sind es, mit denen wir
uns befassen sollten.
Ich habe im Juli in Kabul ein Kinder- und Jugendzentrum besucht. Die Kinder dort spielen wie die Kinder
überall auf der Welt. In den Augen dieser Kinder - Mädchen und Jungs - habe ich Hoffnung gesehen. Ich
glaube, wir schulden es diesen Kindern, dass sich ihre
Hoffnungen auch erfüllen. Für mich sind auch und vor
allem diese Gesichter der Kinder das neue Gesicht
Afghanistans - und nicht nur die schrecklichen Bilder
von Tod und Terror. Diese Kinder - die nächste Generation - können nichts dafür, dass sie unter solchen Umständen groß werden. Auch sie haben nur ein Leben mit
denselben Hoffnungen. Die Mädchen blickten, als man
hereinkam, schüchtern zu Boden. Die Jungs wollten den
ausländischen Besuchern zeigen, was sie mit ihren acht,
neun, zehn, elf Jahren alles können.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es täte uns gut,
dass wir, wenn wir über Afghanistan reden, ab und zu
auch das Bild dieser Kinder bei unseren nüchternen
Beratungen mit im Kopf behalten. Was wir in Afghanistan tun, tun wir für die Kinder, wir tun es natürlich auch
für unsere eigene Sicherheit.
Nichts ist einfach in Afghanistan, und vieles ist noch
nicht so, wie es sein soll. Ich fürchte, vieles wird auch
schwierig bleiben. Aber am Ende dieses Jahres, nach der
Bonner Konferenz, bin ich überzeugt: Wir sind mit unserem Einsatz und mit der neuen Partnerschaft auf dem
richtigen Weg. Wir eröffnen Afghanistan die Chance auf
eine friedliche und freie Zukunft - im Interesse der Menschen dort und im Interesse der Sicherheit hier.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD hat im Jahr 2010 zwei große internationale Afghanistan-Konferenzen organisiert, mit Hunderten von Teilnehmern und mit konkreten Ergebnissen. Seitdem fordern wir einen Strategiewechsel vor Ort, der sich mit
folgenden Stichworten beschreiben lässt: Nur eine politische Lösung, das bedeutet: ein innerafghanischer Versöhnungs- und Reintegrationsprozess, kann den Konflikt
lösen. Die Sicherheitsverantwortung muss schrittweise
an die Afghanen übergeben werden, was nur geht, wenn
sich die internationale Gemeinschaft auf die Ausbildung
von Polizisten und Soldaten konzentriert. Im Zuge des
Übergabeprozesses, der bis 2014 abzuschließen ist, sollen bis Ende 2011 erste Reduktionen des Bundeswehrkontingents in Afghanistan eingeleitet sein.
Wo stehen wir heute? Es gibt die ersten Schritte des
Übergangsprozesses, der Transition genannt wird. Seine
Umsetzung scheint vorerst erfolgreich zu sein. Jedenfalls sorgen heute in den Provinzen Bamiyan, Pandschschir und Kabul sowie in den Städten Herat, Lashkar
Gah, Mehtar Lam und Masar-i-Scharif afghanische Sicherheitskräfte für Ordnung und behaupten sich gegen
zum Teil wütende Angriffe der Aufständischen.
In der Bundesregierung - das wissen wir - gab es erhebliche interne Auseinandersetzungen über das weitere
Vorgehen. Das, Herr Minister, haben Sie hier, vielleicht
wegen der heraufkommenden Weihnachtszeit, etwas anders dargestellt. Am Ende hat die Bundesregierung aber
ein Mandat vorgelegt, das unseren Forderungen weitgehend entspricht: Schon zu Beginn des neuen Mandats im
Januar 2012 soll die bisherige Obergrenze von 5 350
Kräften auf 4 900 herabgesetzt werden, bis zum nächsten Mandat weiter auf 4 400; Sie, Herr Minister, haben
das eben bestätigt.
Die uns vorgelegten Zahlen belegen, dass der Prozess
der Absenkung der Obergrenze bereits jetzt, zum Ende
des Jahres 2011, praktisch vollzogen wird. Noch am
23. November betrug die Anzahl der vor Ort eingesetzten Kräfte 5 324; das war ziemlich haarscharf an der bisher geltenden Obergrenze. Das ist übrigens ein Beweis
dafür, dass die Reserve von 350 Kräften zuletzt fast vollständig genutzt wurde. Doch schon am 7. Dezember waren nur noch 4 991 Bundeswehrkräfte vor Ort, womit die
neue, abgesenkte Mandatsobergrenze schon fast erreicht
ist. Die Truppenreduzierung ist also schon in vollem
Gange, noch im Jahr 2011. Das Funktionieren der Transition macht dies möglich, und das neue Mandat trägt
dieser Entwicklung mit den neuen Obergrenzen Rechnung.
Die endgültige Entscheidung fällt zwar erst im Januar; aber angesichts der von mir beschriebenen Entwicklung wird die SPD-Bundestagsfraktion diesem
Mandat zustimmen können. Das heißt nicht, dass wir
jetzt einem naiven Optimismus verfallen. Viele Sorgen
bleiben, manche haben sich verstärkt. Ich will hier nur
drei wichtige auf die Transition bezogene Sorgen skizzieren:
Erstens. Die Transition kann an der mangelnden Ausbildung und an den lückenhaften Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte scheitern. Wir hören gerne,
dass schon im Oktober dieses Jahres 305 600 afghanische Soldaten und Polizisten zur Verfügung standen und
somit das Sollziel bis Oktober nächsten Jahres erreicht
werden kann. Aber wir verfügen nur über vage Daten,
was die Qualität und die Schwundquote und damit die
Nachhaltigkeit der Einsatzfähigkeit dieser Kräfte angeht.
Man sollte keinen Tag vergessen, dass der eigentliche
Härtetest noch bevorsteht; denn vorerst unterliegen
- was auch Sinn macht - die eher ruhigen Gebiete der
Übergabe, dieser Transition. Erst am 27. November hat
Präsident Karzai die zweite Tranche für die Transition
verkündet. Nicht unerwartet benennt er dort erneut Provinzen und Städte, die eher unter einem schwachen
Druck der Aufständischen stehen. Aus dem deutschen
Regionalkommando Nord gehören dazu die kompletten
Provinzen Balkh, Takhar und Samangan sowie Teile der
Provinzen Sar-i-Pol und Badakhshan.
Diese Art des Transitionsprozesses bringt mich zu einer zweiten Sorge: Welche Kräfte zu Lande und in der
Luft werden die afghanischen Streitkräfte brauchen, um
bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in den jetzt noch
umkämpften Gebieten zu übernehmen, und wie können
die notwendigen Fähigkeiten aufgebaut werden, solche
Gebiete unter nachhaltige Kontrolle zu bringen? Für ein
verschlafenes Dorf reicht vielleicht ein verschlafener
Polizist, der auch einmal vergessen kann, seinen Dienst
anzutreten. Aber wie sieht das im Herzen der Provinz
Helmand aus, wenn starke afghanische Kräfte schon gebunden sind, um in der Fläche der ersten Übergabetranche Stellung zu halten?
Natürlich hängt der Erfolg nicht allein vom Ausbildungsstand und den Qualitäten der afghanischen Polizisten und Soldaten ab. Im neuen Fortschrittsbericht Afghanistan vom Dezember 2011 findet sich dazu ein
wichtiger Satz, den ich zitieren möchte:
Die Fortschritte im Aufbau von Polizei und Armee
müssen auch durch Verbesserungen der Regierungsführung sowie durch Fortführung der positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung untermauert werden …
Das ist eine zurückhaltende Ausdrucksweise. Ich formuliere es als unsere dritte Sorge in diesem Zusammenhang
anders: Wie lange soll es eigentlich noch dauern, bis Präsident Karzai und seine Leute verstehen, dass ohne eine
bessere Regierungsführung, ohne Erfolge im Zurückdrängen von Korruption und Alltagskriminalität, die immer mehr zur Gewalterfahrung der Bevölkerung vor Ort
beiträgt, und ohne eine Nulltoleranzpolitik gegen das
Netzwerk von Drogenanbau und Drogenhandel ein Regieren in Afghanistan ohne die Unterstützung von fremden Kampftruppen völlig unmöglich ist?
Wir zeigen Respekt für die Arbeit, die im zweiten
Fortschrittsbericht Afghanistan dargestellt wird, und wir
arbeiten mit dem Sonderbeauftragten, Herrn Botschafter
Steiner, gut zusammen. Ich glaube aber, die im Fortschrittsbericht mehrfach beschworene positive Trendwende, die auch Minister Westerwelle eben beschworen
hat, wird erst dann eintreten, wenn es überzeugende Antworten auf diese drei Fragen gibt. Daran müssen wir in
Zukunft gemeinsam verstärkt arbeiten. Wir sind dazu bereit.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Andreas Schockenhoff ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Afghanistan-Einsatz ist im Wandel. Nach zehn Jahren
werden wir erstmals die Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die dort einen tapferen Einsatz leisten, reduzieren.
Ihnen wie den vielen zivilen Helfern gilt auch von unserer Seite für ihren gefährlichen Einsatz unser Dank.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion ist davon überzeugt, dass jetzt
der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um die Zahl unserer
Einsatzkräfte in Afghanistan zu reduzieren; denn der Strategiewechsel, der Anfang 2010 von der internationalen
Gemeinschaft für ganz Afghanistan und von der Regierungskoalition für den deutschen Verantwortungsbereich
im Norden des Landes durchgesetzt wurde, verzeichnet
Erfolge.
Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände hat bereits im Sommer 2011 begonnen.
Trotzdem hat sich die Sicherheitslage verbessert, auch
wenn wir ohne Zweifel noch nicht an unserem Ziel, dort,
wo wir einmal stehen wollen, angelangt sind. Nach einer
stetigen Verschlechterung seit 2006 ging die Zahl der
Anschläge und Gefechte im Jahr 2011 erstmals insgesamt zurück. Auch dies ermöglicht die Umsetzung des
Konzepts der Übergabe in Verantwortung an afghanische Sicherheitskräfte. In wenigen Monaten wird bereits
mehr als die Hälfte Afghanistans von heimischen Sicherheitskräften kontrolliert werden. Davon sind auch Provinzen und Distrikte im deutschen Verantwortungsbereich im Norden betroffen. Das führt Schritt für Schritt
zu einer Reduzierung unserer Kräfte.
Deutschland arbeitet mit seinen Ausbildungsprogrammen mit Nachdruck daran, dass afghanische Kräfte
so schnell wie möglich selbst für Sicherheit in ihrem
Land sorgen können. Der Aufbau der afghanischen Armee- und Polizeikräfte verläuft nach Plan und wird nun
sogar über das ursprünglich gesetzte Ziel hinaus intensiviert werden.
Ferner hat die Zahl der Überläufer zugenommen.
Landesweit soll die Zahl der Überläufer bei fast 3 000
liegen. Ob sich diese nachhaltig von den regierungsfeindlichen Truppen abgewendet haben, bleibt abzuwarten.
Insgesamt verdeutlicht der Beginn der Reduzierung
unserer Kräfte eine Gewichtsverschiebung innerhalb der
internationalen Afghanistan-Politik von der militärischen Komponente zum politischen Prozess. Das spiegelte sich auch bei der Bonner Afghanistan-Konferenz
vergangene Woche wider; der Außenminister hat davon
berichtet.
Was muss bis 2014 geschehen, damit wir unser militärisches Engagement in der bisherigen Form beenden
können? Hier sage ich für meine Fraktion unmissverständlich: Verantwortbare Übergabe hat Vorrang vor der
Verwirklichung ehrgeiziger Zeitpläne.
({1})
Entscheidend ist, dass die Ausweitung der afghanischen
Sicherheitsverantwortung in den kommenden Monaten
erfolgreich ist. Erst dann ist eine weitere Rückführung
der deutschen Einsatzkräfte möglich und verantwortbar.
Um unser Ziel einer vollständigen Übergabe der Sicherheitsverantwortung bis 2014 erreichen zu können,
bleiben insbesondere fünf Dinge notwendig:
Erstens. Die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte müssen weiter verstärkt werden; daran wird
mit Nachdruck gearbeitet. Dazu gehören auch die Fragen einer gesicherten Bezahlung der afghanischen
Kräfte und einer adäquaten Ausbildung. Es nützt nichts,
wenn die afghanischen Kräfte gut ausgebildet sind, dann
aber zu den Warlords überlaufen, weil sie mehr bezahlen.
Zweitens. Die afghanische Seite muss mit uns an einem Strang ziehen und ihre bei der Kabuler Konferenz
eingegangenen und jetzt in Bonn bekräftigten Verpflichtungen einhalten, etwa zur guten Regierungsführung, zur
Korruptionsbekämpfung und hinsichtlich des Aufbaus
einer unabhängigen Justiz.
Drittens. Der politische Prozess ist von größter Bedeutung. Fragen von Versöhnung und Machtverteilung
müssen unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen und
ethnischen Gruppen gelöst werden. Dabei können wir
helfen, aber letztlich können nur die Afghanen selbst
hier Einigung erzielen.
Viertens. Ein regionaler Lösungsansatz muss weiter
mit aller Kraft verfolgt werden. Pakistan hat zwar die
Afghanistan-Konferenz in Bonn boykottiert, aber nicht,
weil es den politischen Prozess ablehnt. Deshalb ist es
richtig - wir unterstützen das mit Nachdruck -, dass wir
mit Islamabad weiter intensiv im Gespräch bleiben.
Schließlich fünftens. Die Menschen in Afghanistan
dürfen 2014 nicht im Stich gelassen werden. Wir müssen
unser Engagement beim Wiederaufbau und bei der Sicherheit in unserem eigenen Interesse fortsetzen.
Wie wird unser Engagement nach 2014 aussehen?
2014 wird unser Einsatz in Afghanistan in der bisherigen
Form beendet sein. Wir werden bis dahin schrittweise
unser militärisches Engagement zurückfahren; aber unser Engagement und unsere Verantwortung für Afghanistan sind und bleiben langfristig. Der Schwerpunkt
wird sich in Richtung zivile Zusammenarbeit verlagern.
Auch nach 2014 wird es darum gehen, die afghanischen
Sicherheitskräfte weiter auszubilden und sie weiterhin
zu unterstützen, auch wenn der ISAF-Einsatz beendet
ist. Zur Bewältigung dieser Ausbildungsaufgaben wird
die Bundeswehr in einem deutlich reduzierten Umfang
auch nach 2014 vor Ort präsent bleiben.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Wir
haben Anfang 2010 mit unseren internationalen Partnern
einen Strategiewechsel eingeleitet, der nun die Trendwende bringt. Jetzt gilt es, die realistischen Chancen für
eine verantwortbare Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände und damit die Voraussetzungen für einen weitgehenden Abzug der deutschen Streitkräfte weiter zu verbessern.
Wir haben immer größten Wert auf eine breite Unterstützung des Einsatzes im Deutschen Bundestag gelegt.
Das tun wir auch weiterhin. Gerade weil wir jetzt die
realistische Chance eines weitgehenden Abzugs unserer
Streitkräfte haben, sollten wir dies mit der gemeinsamen
Verantwortung für den Erfolg der Mission tun und uns
nicht von ehrgeizigen Zeitplänen treiben lassen. Dafür
bitte ich das ganze Haus, insbesondere die Kolleginnen
und Kollegen von SPD und Grünen, um Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will sofort über eine Grunddifferenz reden.
Man muss sich nicht an Nebensächlichkeiten aufhalten,
sondern man muss Grunddifferenzen benennen können.
Das, was der Außenminister für die Regierung hier
erklärt hat, bzw. das Mandat, das zur Entscheidung vorgelegt worden ist, enthält zwei Botschaften. Die erste
Botschaft ist: Die Bundeswehr bleibt in Afghanistan.
Die zweite Botschaft ist: Der Krieg wird fortgesetzt. Das
ist hier erklärt worden und Inhalt des Mandats. Ich füge
hinzu: Die militärische Strategie der Bundesregierung
und der NATO zielt sogar darauf ab, den Krieg zu verschärfen, weil man noch immer glaubt, dass über eine
Verschärfung des Krieges die Lage in Afghanistan
gewendet werden könnte. Das ist die Richtung, die hier
vorgegeben worden ist. Diese Richtung, Herr Außenminister, führt weg von dem, was Sie als politisches Ziel
erklärt haben. Sie haben hier deutlich gesagt, der Krieg
sei militärisch nicht zu gewinnen. Früher haben Sie
immer „nicht nur“ gesagt; jetzt sagen Sie schon, er sei
militärisch nicht zu gewinnen. Es muss eine politische
Lösung geben. Wer einen solchen Kurs fährt, wird aber
keine politische Lösung erreichen; er wird sie verhindern. Die Linke will eine politische Lösung.
({0})
Die Herabsetzung der Obergrenze der Zahl der eingesetzten Soldaten hat nur ein Ziel gehabt: Sie wollten
SPD und Grüne einbinden, Ihrem Mandat wieder zuzustimmen. Was die SPD angeht, ist das offensichtlich gelungen. Die Meinung der Grünen werden wir noch mit
Interesse hören. Die Fraktion Die Linke sagt Ihnen ganz
deutlich: Wir werden dem Club, der Deutschland am
Hindukusch verteidigen will, nicht beitreten. Wir werden diesem Mandat nicht zustimmen; das ist völlig klar.
Auf diese Grunddifferenz lege ich allergrößten Wert.
({1})
Herr Außenminister, ich fand Ihre Regierungserklärung ohne Mut und, ehrlich gesagt, auch ein bisschen
saft- und kraftlos - ohne Mut deshalb, weil es der
Anstand vor der Mehrheit unserer Bevölkerung verlangt
hätte, hier deutlich zu sagen, dass die bisherige Afghanistan-Politik, auch der Bundesregierung, gescheitert ist.
Es wäre erforderlich gewesen, dass man deutlich sagt:
Es war falsch, eine solche Entscheidung zu treffen. Wir
wollen diese Entscheidung korrigieren.
({2})
Aber zu all dem fehlt Ihnen persönlich und auch der
Bundesregierung der Mut. Wer im elften Jahr des Krieges noch immer nicht die Fähigkeit hat, so etwas auszusprechen, wird keine politische Wende herbeiführen.
Deutschland ist Teil des Krieges am Hindukusch. Wir
wollen, dass das beendet wird.
({3})
Sie haben hier ein persönliches Bild gebraucht, was
ich übrigens gut verstehen kann. Das geht mir schon sehr
nahe. Auch ich gebrauche ein persönliches Bild: Ich
denke an die 10 000, 30 000, bis zu 100 000 Menschen
in Afghanistan, die diesem Krieg zum Opfer gefallen
sind. Ich denke an die 35 000 Menschen, die in Pakistan
infolge des Krieges umgekommen sind; die pakistanische Außenministerin hat diese Zahl genannt. Ich denke
auch an die im Einsatz umgekommenen Soldatinnen und
Soldaten, auch Bundeswehrsoldaten. Die Angehörigen
der Opfer blicken uns an und fragen uns: Warum? Auf
diese Frage haben Sie hier keine Antwort gegeben. Die
Kinder von Kunduz haben das Recht, eine Antwort auf
die Frage zu erhalten, warum sie umgebracht worden
sind. Diese Antwort muss auch der Bundestag geben.
({4})
Ich will Ihnen erklären, warum Sie keine politische
Lösung erreichen werden. Solange in Afghanistan der
Eindruck entsteht, dass das Land besetzt ist - schauen
Sie sich einmal die Zahlen an -, so lange werden sich die
Menschen in Afghanistan wehren. Sie müssen doch
zumindest die Frage beantworten, warum eine Kriegsmacht von 134 000 ausländischen Soldaten, 100 000
sogenannten privaten Sicherheitskräften und 305 000
Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte bislang
nicht in der Lage war, diesen Krieg militärisch zu gewinnen. Darauf gibt es doch nur eine Antwort: Die Widerstandskräfte sind so stark in der Bevölkerung verankert,
dass sie bis heute starken militärischen Widerstand leisten können. Der Schlüssel, um diesen Krieg zu beenden
und eine politische Lösung zu finden, ist der Abzug der
Truppen. Der Abzug der Bundeswehr ist der Schlüssel,
um eine politische Lösung zu erreichen. Vor dieser
Schlussfolgerung drücken Sie sich.
({5})
Man bekommt ja nichts dafür, dass man recht gehabt
hat; das möchte ich auch gar nicht reklamieren. Ich
möchte Ihnen eine Äußerung von jemandem vortragen,
dessen Aussagen für Sie vielleicht etwas leichter zu
akzeptieren sind als Aussagen von Politikern der Linken.
Gorbatschow, der durchaus sehr unterschiedlich beurteilt
wird, hat sich in einem Interview, das er zusammen mit
meiner Kollegin Sahra Wagenknecht der Bild-Zeitung
gegeben hat, zu diesem Thema geäußert.
({6})
- Ja, darauf bin ich stolz. Das ist, wie ich finde, eine interessante Mischung.
({7})
Ich zitiere Gorbatschow:
Aus meiner bitteren Erfahrung von damals kann ich
nur raten: Raus aus Afghanistan! Diesen Krieg
kann niemand gewinnen!
Wenn Sie uns nicht glauben, dann glauben Sie
Gorbatschow. Raus aus Afghanistan, das ist die Losung,
die jetzt politisch umgesetzt werden muss.
({8})
Ich will noch einen weiteren Punkt kurz ansprechen.
Ohne tatsächliche Selbstbestimmung wird sich nichts
ändern. Sie sprechen ja von einer Übergabe. Das heißt,
jetzt liegt die Macht, politische Entscheidungen zu treffen, nicht in Afghanistan, nicht bei den Afghaninnen und
Afghanen. Das war auch auf der Konferenz in Bonn
nicht der Fall. Wenn Sie diese Selbstbestimmung nicht
wollen und nicht dafür eintreten - der Friede in Afghanistan wird von den Afghaninnen und Afghanen geschlossen werden müssen -, werden Sie nichts erreichen.
Wer Pakistan als eine Nebensächlichkeit abtut, der
weigert sich, einzusehen, dass der Krieg längst auf
Pakistan übergegriffen hat. Wo in der Welt darf man ein
anderes Land einfach so angreifen und bombardieren?
Ich sage Ihnen: Da ballt sich mehr zusammen, eine Verschärfung des Krieges, eine neue Katastrophe.
Ich will eine politische Lösung. Deswegen können
wir dem Kurs der Bundesregierung nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist seit
fast zehn Jahren eine jährliche Tradition, dass wir hier
im Deutschen Bundestag über den Fortgang des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan diskutieren. Doch dieses
Jahr ist die Diskussion anders; das muss man in dieser
Debatte deutlich betonen. Mit diesem Mandat ab 2012
beginnen wir mit der Reduzierung unseres Bundeswehrkontingents in Afghanistan. Es war ein langer und harter
Weg bis zur heutigen Debatte. Wenn wir heute diesen
Weg analysieren, so stellen wir fest: Es gibt in Afghanistan Erfolge, aber auch Misserfolge. Das müssen wir ehrlich eingestehen.
2001 hat sich Deutschland unter zum Teil falschen
Vorstellungen vom Einsatz und von seinen Zielen mit
der Bundeswehr in diesen Einsatz begeben. Daher mussten die Erwartungen im Laufe der Zeit genauso überdacht und angepasst werden wie die Einsatzstrategie
selbst. Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt
und auch in Zukunft geben wird, trägt die aktuelle Strategie zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation
im Land bei. Wir sehen: Insgesamt hat sich seit 2001
etwas Positives in Afghanistan getan. Daher stehen wir
jetzt vor der guten Aussicht auf den Abzug der militärischen Hilfe. Ungeduld, Herr Kollege Gehrcke, zahlt sich
jedoch nicht aus.
({0})
Ungeduld wäre sogar gefährlich und würde die erreichte
positive Entwicklung völlig kaputtmachen.
({1})
Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um
einen direkten Abzug aller Soldatinnen und Soldaten
geht. Es ist aber auch klar, dass aus Afghanistan keine
Hochburg der Demokratie werden wird. Es geht darum,
diesen Übergangsprozess verantwortungsvoll und ordentlich abzuschließen; das ist die heutige Sachlage.
Wir verlängern diesen Einsatz um ein weiteres Jahr.
Aber diese Verlängerung ist kein Weiter-so; denn gleichzeitig wird die Zahl der eingesetzten Soldatinnen und
Soldaten auf 4 900 reduziert. Zum ersten Mal nach zehn
Jahren Einsatz lässt die Sicherheitslage einen schrittweisen Abzug der internationalen Truppen zu. Damit beginnen wir direkt im Jahr 2012 und werden diese Entwicklung bis 2014 fortsetzen.
Deutschland wird sich auch nach dem Abzug der
militärischen Hilfe im Jahr 2014 weiter am zivilen Wiederaufbau Afghanistans beteiligen. Wir tragen dazu bei,
dass das Land nicht wieder eine Basis für internationalen
Terrorismus wird. Deutschland steht jetzt und auch in
Zukunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung,
meine Damen und Herren.
({2})
Eines ist klar: Es wird in Afghanistan keine militärische Lösung geben. Afghanistan wird nur eine Zukunft
haben, wenn sich dort eine kraftvolle und funktionierende Zivilgesellschaft entwickelt. In diesem Bereich
steht uns noch viel Arbeit bevor, die wir mit den Afghanen zusammen angehen müssen. Wir müssen weiter
erklären, wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in
Afghanistan konkret unterstützen können. Der innere
Aussöhnungsprozess muss allerdings zuerst von den Afghanen selbst vorangetrieben werden; denn Frieden in
Afghanistan kann nur zwischen den Parteien und Gruppierungen vor Ort geschlossen werden.
({3})
Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten würde allerdings
die vielen mühsam erreichten Erfolge vernichten und
wäre für viele Menschen vor Ort zum jetzigen Zeitpunkt
eine echte Katastrophe.
Wir müssen uns weiterhin mit den Problemfeldern
beschäftigen. Leider verbessert sich die Menschenrechtslage in Afghanistan nur schleppend; das hat die
Bundesregierung auf der Bonner Konferenz bereits deutlich kommuniziert. Hieran muss Afghanistan arbeiten,
und hier muss die afghanische Regierung mehr umsetzen. Gerade im Hinblick auf Demokratie und Regierungsführung gibt es weiterhin viel Arbeit.
Aber man muss auch über die Erfolge reden. Erstmals
seit Jahren hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan
trotz einiger schmerzhafter Rückschläge wieder verbessert. Der Strategiewechsel hin zur verstärkten Ausbildung der afghanischen Soldaten und der Polizei ist
bereits jetzt ein Erfolg. Sehr positiv fallen weiterhin die
Bereiche Bildung und Medizin auf. Hier hat es die größten Fortschritte gegeben. Für den größten Teil der Menschen gibt es erstmals eine flächendeckende medizinische Grundversorgung, und der flächendeckende
Ausbau der Bildungschancen für beide Geschlechter
macht ebenfalls weiter große Sprünge. Diese Erfolge
dürfen wir bei aller Kritik nicht vergessen und nicht
kleinreden lassen.
({4})
Ich danke der Bundesregierung für einen sehr ehrlichen und guten Fortschrittsbericht. Es ist völlig richtig
und wichtig, dass wir uns anschauen, was wir mit unserem Einsatz bisher erreicht haben. Dies ist auch Teil der
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldatinnen und Soldaten
und notwendig, wenn über das Mandat zu entscheiden
ist. Diese Fürsorgepflicht gilt für uns alle in diesem
Haus, unabhängig vom parteipolitischen Hintergrund.
Daher ist es grundsätzlich richtig, den Einsatz sachlich
und nüchtern zu bewerten.
Um mehr als eine Bewertung der Vergangenheit ging
es letzte Woche in Bonn. Auf der Afghanistan-Konferenz wurde beraten, wie die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft nach 2014 aussehen kann.
Zehn Jahre nach der ersten Konferenz auf dem Petersberg ist Deutschland nicht nur Gastgeber gewesen, sondern Deutschland hat erkennbar auch eine Führungsrolle
eingenommen. Ich halte die Bonner Afghanistan-Konferenz für einen großen Erfolg deutscher Außenpolitik,
und ich halte die Bonner Afghanistan-Konferenz für
einen großen Erfolg des deutschen Außenministers.
Darauf können wir alle in diesem Haus fraktionsübergreifend stolz sein.
({5})
Zusagen der internationalen Gemeinschaft müssen
allerdings mit verstärkten Forderungen nach Bekämpfung von Drogenhandel und Korruption sowie nach Stärkung der Menschenrechte verbunden werden. Der Erfolg
der Konferenz ruhte aber nicht zuletzt auf den Schultern
aller Teilnehmerländer. Die Nachbarstaaten Afghanistans haben auf der Konferenz sehr gut mitgewirkt. So
haben China und Indien konstruktive Vorschläge in die
Diskussion eingebracht. Ohne die Unterstützung der
regionalen Nachbarn wird Afghanistan nach dem Abzug
der internationalen Kampftruppen nicht lange eine ausreichende Sicherheitslage halten können. Das ist die
Realität in der Region.
Wir halten mit dem Mandatstext, der hier diskutiert
wird, am Vorhaben des Truppenabzugs fest, und wir versichern: Deutschland wird sich auch nach dem Abzug
der militärischen Hilfe weiter am zivilen Wiederaufbau
Afghanistans beteiligen.
Zum Abschluss finde ich es wichtig, dass wir mit
breiter Mehrheit eine Botschaft an unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten vor Ort senden: Wir zollen Anerkennung, Anerkennung für diese schwere Aufgabe,
Anerkennung für diesen guten Job, den sie dort täglich
unter harten und gefährlichen Bedingungen leisten.
({6})
Die Situation in Afghanistan wird von der Politik und
der Bevölkerung in Deutschland wahrgenommen und
gerät nicht in Vergessenheit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
der Diskussion über den Weg zum Frieden für Afghanistan geht es heute um drei grundlegende Bereiche: Wie
kann eine politische Lösung erreicht werden? Wie kann
der zivile Aufbau langfristig sichergestellt werden? Wie
wird der Abzug der internationalen Kampftruppen bis
2014 umgesetzt?
Die Rede des Kollegen Gehrcke von der Linken veranlasst mich hier schon zu einer Bemerkung: Sie ignorieren politisch, dass es um dieses dreifache „Wie“ für
den Frieden geht. Dass Sie zu dem „Wie“ hier praktisch
nichts sagen, sondern einfach nur wiederholen: „Sofort
raus, und dann mal sehen, was passiert“, ist schon ein
bemerkenswertes Stück an politischer Realitätsverweigerung.
({0})
- Doch, doch.
({1})
Es ist jetzt zwei Jahre her, dass Präsident Obama eine
Kehrtwende in der Afghanistan-Politik eingeleitet hat.
Er hat ausgesprochen, dass der Konflikt in Afghanistan
nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden
kann. Das war die Voraussetzung für den Strategiewechsel der internationalen Gemeinschaft auf der Londoner
Konferenz Anfang 2010. Das war richtig und wichtig. Es
ist aber offenkundig: Diese politische Lösung ist nicht
einfach zu erreichen, und sie wird vor allem einen unangenehmen politischen Preis haben.
Frieden schließt man mit Gegnern, das heißt in diesem Fall, auch mit den reaktionärsten Teilen der afghanischen Gesellschaft. Dennoch bleibt dieser Weg richtig.
Herr Außenminister, ich möchte Ihnen in dieser Hinsicht
ausdrücklich unsere Unterstützung anbieten. Wir haben
eine gemeinsame Verantwortung, den Bürgerinnen und
Bürgern zu erklären, warum dieser Weg beschritten werden soll und muss und warum es trotz aller Rückschläge
und Schwierigkeiten richtig ist, den schrittweisen Abzug
der internationalen Kampftruppen mit Verhandlungen
mit den Aufständischen zu verbinden.
Wir unterstützen ebenso die Anstrengungen, das
zivile Engagement der internationalen Gemeinschaft bis
2024 und länger unvermindert sicherzustellen. Die Bonner Afghanistan-Konferenz war hier sicherlich ein wichtiger Schritt in die notwendige Richtung. Das begrüßen
wir ausdrücklich, und wir hoffen, dass die vereinbarte
Geberkonferenz in Tokio im nächsten Juli dann auch zu
konkreten Vereinbarungen führt; denn auch das gehört
zur Wahrheit: Die fehlen bisher.
Es ist in diesem Zusammenhang auch richtig und notwendig, den politischen Druck auf die afghanische Seite,
auf die afghanische Regierung zu erhöhen. Hilfe kann es
nicht bedingungslos geben, und die afghanische Regierung muss vor allem in den Bereichen Good Governance
und Korruptionsbekämpfung umsteuern. Das fordern
gerade auch die afghanische Zivilgesellschaft und die
afghanischen Nichtregierungsorganisationen immer wieder ein, und das hat die afghanische Zivilgesellschaft
auch in Bonn nachdrücklich vorgetragen.
Wenn die Bundesregierung in dieser Hinsicht Druck
macht, dann werden wir sie auch dabei unterstützen.
({2})
Meine Damen und Herren von der Koalition, trotz
dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen, die wir
politisch wichtig finden, sind wir mit dem Mandat, das
Sie uns in diesen Tagen vorlegen, unzufrieden. Ich weiß,
das wird Sie jetzt nicht wirklich überraschen; denn wir
haben ja auch das jetzt auslaufende Mandat schon kritisiert.
In den letzten zwei Jahren haben die ISAF-Truppen
gemeinsam mit der afghanischen Armee eine großflächige offensive Aufstandsbekämpfung betrieben. Das
Ziel, insbesondere der amerikanischen Militärführung,
war es offensichtlich, die Taliban binnen 18 Monaten
sozusagen an den Verhandlungstisch zu bomben. Das hat
ebenso offensichtlich nicht funktioniert. Die Bundesregierung hat, insbesondere im Rahmen des sogenannten
Partnering, die Bundeswehr in diese offensive Aufstandsbekämpfung verstrickt. Sie hat damit den Einsatz
der Bundeswehr im Norden Afghanistans vom ursprünglichen Ansatz eines Stabilisierungseinsatzes weggeführt.
Wir finden, das war falsch, und das muss beendet werden.
Diese offensive Aufstandsbekämpfung geht einher
mit einer hohen Zahl an zivilen Opfern. Nach einer Studie des Afghanistan Analysts Network können 95 Prozent der bei den sogenannten Capture-or-kill-Operationen Getöteten nicht direkt den Aufständischen
zugeordnet werden - 95 Prozent! Es kommt dabei auch
offensichtlich zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Damit wird das Vertrauen in die ISAF-Truppen
untergraben. So entsteht Nährboden, aus dem die Aufständischen neue Kämpfer rekrutieren können. Diese
offensive Aufstandsbekämpfung blockiert die Versuche
zu einer politischen Lösung viel mehr, als sie zu ermöglichen. Sie muss so beendet werden.
({3})
Dafür müsste sich die Bundesregierung einsetzen.
Aber das tun Sie bisher nicht erkennbar. Wenn Sie das
schon nicht aus grundsätzlichen Erwägungen heraus tun,
dann sollten Sie zumindest zur Kenntnis nehmen, dass
die Erfolgsbilanz dieses militärischen Vorgehens düster
aussieht. Die Trendwende, von der Sie in Ihrem Fortschrittsbericht behaupten, dass es sie gibt, kann ich nicht
erkennen - übrigens die Konrad-Adenauer-Stiftung auch
nicht. Die kommt in ihrem aktuellen Afghanistan-Länderbericht zu der Formulierung:
Nach Angaben der Vereinten Nationen hat sich die
Sicherheitslage in Afghanistan im Vergleich zum
Vorjahr erheblich verschlechtert.
Dabei hatten wir schon im letzten Jahr einen traurigen
Höchststand an zivilen Opfern.
Nein, leider betreiben Sie mit dem Fortschrittsbericht
an diesem Punkt Schönfärberei. Das hilft nicht weiter,
und das bestätigt noch einmal, wie richtig die gemeinsame Forderung von uns und den Sozialdemokraten
nach einer unabhängigen Evaluierung war. Es bleibt ein
politischer Fehler, dass Sie das verweigern.
({4})
Es ist auch ganz unverständlich, wenn die Bundesregierung hier erneut die Perspektive einer fundierten
Abzugsplanung bis 2014 verweigert. Die erste Abzugsetappe, die Sie für dieses Mandat angekündigt haben, ist - leider - im Wesentlichen eine Luftbuchung.
Fast 1 000 Soldaten würden jetzt nach Hause kommen.
Das haben Sie Ihre Pressesprecher vermelden lassen.
Wenn man sich die Zusammensetzung dieser Zahlen
genauer anguckt, dann wundert man sich; denn verbindlich übrig bleiben etwa 200, die real abgezogen werden.
Sie lösen zum einen die flexible Reserve auf. Die wurde
jedoch zum größten Teil überhaupt nicht eingesetzt. Das
ist eine Mogelpackung. Real bleiben von den 450 Soldaten, die Sie in der ersten Tranche benennen, wenn man
es hochrechnet, 200 übrig.
Dann stellen Sie in Aussicht, dass im Jahr 2012 vielleicht, wenn es die Umstände zulassen, weitere 500 Soldaten abziehen könnten. Da kann ich nur sagen: Klarheit
sieht anders aus.
Dann kommt noch Herr de Maizière in dieser Woche
und erzählt, dass er meint, dass deutsche Kampftruppen
auch nach 2014 in Afghanistan sind. Sie stellen mal eben
eine zentrale Botschaft der internationalen Gemeinschaft
zum Abzug 2014 infrage, bevor Sie damit überhaupt
angefangen haben. So schafft man Unsicherheit bei Partnern, Soldaten und Bevölkerung, und das ist schlecht.
({5})
Wir hatten hier im Bundestag immer einen breiten
Konsens, dass ein überstürzter und ungeordneter Abzug
der internationalen Kampftruppen falsch ist, weil er zum
Anheizen eines Bürgerkrieges führen könnte.
Es muss deswegen vermieden werden, dass Ende
2014 schlagartig mehr als 4 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr den Norden Afghanistans verlassen.
Das hätte eine destabilisierende Wirkung, die vorhersehbar ist. Ein Abzug muss schrittweise durchgeführt werden, und sein Ende muss klar definiert sein.
Deshalb ist die Kritik an der Planungsverweigerung
der Bundesregierung für uns eine zentrale und wichtige
Frage.
Vor diesem Hintergrund kann ich meiner Fraktion die
Zustimmung zu dem hier von der Bundesregierung vorgelegten Mandat nicht empfehlen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung, Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat gestern beschlossen, das deutsche
militärische Engagement in Afghanistan um ein weiteres
Jahr verlängern und bis zum 31. Januar 2013 fortführen
zu wollen. Heute bitte ich gemeinsam mit dem Kollegen
Westerwelle dafür um Ihre breite Zustimmung.
Wir wollen mit diesem Beschluss den eingeschlagenen Weg einer Übergabe in Verantwortung konsequent
fortsetzen. Verantwortung beschreibt dabei den Weg und
das Ziel.
Wir sind seit 2002 an ISAF beteiligt, wie alle wissen.
Wir tragen in Afghanistan als Führungsnation für die
Nordregion und als drittgrößter Truppensteller eine
besondere Verantwortung. Es gibt außer den Vereinigten
Staaten von Amerika und uns kein anderes großes Land,
das eine solche regionale Verantwortung trägt.
Die Mandatsobergrenze beträgt derzeit 5 350 Soldatinnen und Soldaten. Wir sehen erstmals eine Verringerung der personellen Obergrenze vor.
Ich finde die Formulierung unseres Kollegen von der
FDP - wir machen weiter, aber das ist kein Weiter-so eine sehr präzise Beschreibung des Sachverhaltes.
({0})
Mit Beginn des neuen Mandatszeitraums, also im
Februar 2012, soll die personelle Obergrenze für das
gesamte deutsche Einsatzkontingent ISAF einschließlich
AWACS zunächst maximal 4 900 Soldaten betragen.
Herr Kollege Erler, Sie haben mit den Zahlen von
November/Dezember dieses Jahres argumentiert und
gesagt, das sei ja alles schon erreicht. Sie wissen es doch
eigentlich besser. Bei einem Kontingentwechsel - so
steht es auch im Mandat - gibt es immer Schwankungen
von mehreren Hundert. Das ist politischer Konsens; das
ist fachlich geboten; das steht im Mandat. So ist es auch
hier gewesen. Daher ist an sich kein Anlass für Ihre
Bemerkung gegeben.
({1})
Die Voraussetzungen für diese erste Reduzierung
unseres militärischen Beitrages sind in den letzten beiden Jahren geschaffen worden. Herr Schmidt, da haben
wir in der Tat einen Dissens. Wie sind sie geschaffen
worden? Auch durch Kampf. Die Amerikaner haben
33 000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten nach
Afghanistan geschickt, wir ein paar Hundert. In der Tat
sind in diesen zwei Jahren ganze Gebiete freigekämpft
worden. Das hatte einen großen Preis und einen hohen
Blutzoll - auch bei zivilen Opfern. Das ist wahr. Es war
aber auch eine notwendige Voraussetzung für die schrittweisen Erfolge der Sicherheit, die wir jetzt haben. Das
gehört zur Wahrheit. Wir haben da einen Dissens. Ich
verkleistere den Dissens gar nicht. Das ist aber so.
Wir wollen deswegen jetzt die Möglichkeit nutzen,
schrittweise zurückzuführen. Die Sicherheitslage ist besser geworden.
Was Sie von der Konrad-Adenauer-Stiftung zitiert
haben, kenne ich jetzt nicht. Ich werde der Sache einmal
nachgehen.
Wenn Sie sich die Zahlen angucken, sehen Sie, dass
wir in diesem Jahr einen Rückgang der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in ganz Afghanistan um 25 Prozent und im Norden, in dem wir Verantwortung tragen,
von 50 Prozent hatten. Das ist nicht unser Verdienst.
Dass der Unterschied so groß ist, liegt auch an den unterschiedlichen Gegebenheiten. Das ist allerdings ein wirklicher Fortschritt.
Ich füge aber auch hinzu, dass die Zahl der zivilen
Opfer unter den Afghanen höher ist als im letzten Jahr.
Das bedeutet, dass es auch eine Veränderung der
Anschlagstaktik gibt. Ich muss deutlich sagen:
Anschläge auf eigene Landsleute zu organisieren, wie
das hier der Fall ist, ist das Niederträchtigste, was Menschen sich ausdenken können.
({2})
Es gibt also Fortschritte. Sie sind labil. Deswegen ist
es völlig richtig, dass wir die gleiche Formulierung wie
bei der letzten Mandatsbeschreibung wählen und sagen:
Wir nehmen den Abzug vor, wenn die Sicherheitslage es
erlaubt und unsere eigenen Soldaten nicht gefährdet werden. - Es ist das Selbstverständlichste der Welt, dass
man eine Regelung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, um es einmal so auszudrücken, bereits formuliert.
Das haben wir gesagt, das sagen wir, und das bleibt so.
({3})
Herr Minister - Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung:
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen,
wenn Sie das meinten.
Nun zur Frage der Klarheit, Herr Schmidt. Es ist so:
Wir können keine Klarheit darüber haben, wie es weitergeht. Wir brauchen Flexibilität, gerade für das nächste
Jahr. Darum reden wir nicht herum. Warum ist das so?
Weil die Amerikaner ihre Pläne zum Abzug bis zum
30. September 2012 befristet haben. Unser Mandat wird
jetzt bis zum Januar 2013 gehen. Die Amerikaner sagen
uns erst im April, was sie nach dem 30. September machen werden. Deswegen können wir jetzt nicht genau
festlegen, was wir in der zweiten Jahreshälfte 2012 vorhaben. Deswegen ist die Zahl von 500 Soldaten, um die
die Truppe reduziert wird, flexibel auf das Jahr zu verteilen. Es bleibt dabei: Wir sind gemeinsam nach Afghanistan reingegangen, und wir gehen gemeinsam raus.
Nichts anderes wäre verantwortlich.
({0})
Die Planungen darüber werden wir vorlegen, Herr
Schmidt. Aber sie folgen einem Prinzip, das ich folgendermaßen beschreiben will: Wo wir sind, sind wir richtig. Wir werden keine Ausdünnung an Einsatzstandorten
dergestalt machen, dass wir die Sicherheit unserer Soldaten gefährden. Das ist die konsequente Umsetzung eines Transitionsprozesses. Wenn Afghanistan die Verantwortung für die Sicherheit in Gebieten übertragen
bekommt, dann bitte schön. Das ist die Konsequenz dieses Prozesses. Diesen werden wir Schritt für Schritt vollziehen.
Nun will ich noch ein Wort zu den Jahren danach oder
für den Weg bis 2014 sagen. Ich habe das gestern auch
schon im Verteidigungsausschuss gesagt. Einen Abzug
zu organisieren, ist so ungefähr das Komplizierteste, was
es militärisch gibt.
({1})
Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Von einem
Baum herunterzuklettern, ist manchmal komplizierter,
als auf einen Baum hinaufzuklettern. Deswegen werden
wir im Laufe des nächsten Jahres darüber diskutieren
und die Pläne transparent vorlegen. Ein Abzug muss
klug organisiert werden. Dazu braucht man gegebenenfalls andere Kräfte als die, die jetzt da sind. Das werden
wir besprechen.
Wir wissen auch nicht, ob möglicherweise der ganze
Norden wegen der Unsicherheit im Osten von Pakistan
das Abzugsgebiet für die Amerikaner, Franzosen, Briten
und alle anderen ist. Dann stellen sich die Fragen 2013
noch einmal anders. Ob sich die ganze Organisation des
Abzuges über den Norden vollziehen wird, können wir
jetzt noch gar nicht sagen, Herr Schmidt. Aber ich weise
darauf hin, dass ein Abzug andere Kräfte temporär bindet. Darüber werden wir in Ruhe zu reden haben.
Das Mandat, das wir erarbeitet haben und das wir
heute in erster Lesung diskutieren, ist militärisch verantwortbar und politisch zustimmungsfähig. Wir haben uns,
wie viele hier im Raum wissen, um eine Zustimmung
der Opposition, insbesondere der großen Oppositionsfraktion, bemüht. Ich bedanke mich, Herr Erler, für die
Zustimmung, die Sie heute vor dem Deutschen Bundestag signalisiert haben.
({2})
Diese breite Zustimmung des Parlaments wäre neben
dem Dank, den wir alle ausgesprochen haben, das beste
Zeichen des Respekts und der Anerkennung vor der
Leistung der Soldatinnen und Soldaten, der Polizisten,
der zivilen Aufbauhelfer und der Diplomaten. Je breiter
die Zustimmung hier ist, desto besser für sie. Deswegen
bitte ich nach einer gründlichen Diskussion Anfang des
nächsten Jahres um eine breite Zustimmung zu diesem
Weg.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele
das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Der Herr Minister hat meine
Frage leider nicht zugelassen. Ich habe mich gemeldet,
als er davon gesprochen hat, dass die Angriffe auf die
Zivilbevölkerung in Afghanistan durch Afghanen besonders niederträchtig sind. Ich kann dem nur zustimmen.
Sie sind heimtückisch und niederträchtig.
({0})
Aber was sind denn dann Angriffe von Killerdrohnen,
die übers Land fliegen und nach einer Liste Menschen
gezielt töten, während sie zu Hause schlafen, während
sie zu Hause essen, während sie im Auto sitzen, während
sie auf dem Feld sind, und die auf diese Weise Tötungslisten abarbeiten?
Was sagt der Minister dazu, dass das nicht nur eine
abstrakte Möglichkeit ist, sondern in ganz Afghanistan
und leider auch in Pakistan durch die US-Drohnen praktiziert wird? Was sagt er dazu, dass solche Drohnen ab
Januar 2012 im Verantwortungsbereich der Bundeswehr
in Masar-i-Scharif stationiert werden, von da aus operieren und damit den Krieg in Afghanistan grundsätzlich
zusätzlich eskalieren, statt zu deeskalieren und auf Frieden hinzuarbeiten?
Der Außenminister hat vorhin gesagt, dass er Verhandlungen für richtig hält und dass auf diesem Weg
fortgefahren werden muss. Ich sehe noch nicht, dass der
Weg begangen worden ist. Aber sind nicht solche gezielten Tötungen geradezu kontraproduktiv, und verhindern
sie nicht die Verhandlungen? Wird dadurch nicht nur
neuer Hass geschürt, und müssen die, die zu Verhandlungen bereit sind, wie es schon geschehen ist, nicht fürch17774
ten, dass sie anschließend durch solche Killerdrohnen
abgeschossen werden?
Ist das der richtige Weg? Wenn Sie es mit Verhandlungen ernst meinen, dann müssen Sie andere Wege gehen. Sie müssen möglichst bald wenigstens in dem Bereich zu einem Waffenstillstand kommen, in dem die
Bundeswehr Verantwortung trägt. Sie müssen mit allen,
die dazu bereit sind, darüber Verhandlungen führen.
Ich war im September selber in Afghanistan und habe
Gespräche darüber geführt. Es gibt eine Bereitschaft
zu solchen Gesprächen und Vereinbarungen. Herr
Westerwelle und Herr de Maizière, Sie kennen die
Adressen; wenn nicht, können Sie sie von mir bekommen. Fahren Sie dort hin und reden Sie mit den Leuten!
Reden Sie vor allen Dingen mit den US-Amerikanern,
damit sie die gezielten Tötungen einstellen, die jegliche
Verhandlungen und jeglichen Friedensprozess verhindern und unmöglich machen.
Abschließend komme ich zu der persönlichen Bemerkung von Herrn Westerwelle. Gestatten Sie mir auch
eine persönliche Bemerkung dazu.
Sie muss jetzt aber knapp ausfallen.
Ja, das geht noch schneller als beim Außenminister.
Ich war auch in Afghanistan und habe dort Zeichnungen und Gemälde von kleinen Kindern gesehen, denen
man Buntstifte gegeben hat. Es waren wunderschöne
bunte Blätter. Wenn man genau hinguckte, hat man gesehen, was sie für Bilder im Kopf haben: zerstörte Gebäude, angreifende Flugzeuge, Waffen, abgesprengte
und herumfliegende Arme und Beine. Das ist die Realität des grausamen Krieges in Afghanistan, von dem Sie
im Deutschen Bundestag leider überhaupt nicht reden.
({0})
Herr Abgeordneter Ströbele, vielleicht hätte ich doch
Ihre Zwischenfrage zulassen sollen. Das bereue ich jetzt.
Aber gut.
Was die Frage der Drohnen angeht, haben Sie gestern
in der Fragestunde von Staatssekretär Schmidt eine überzeugende und abschließende Antwort bekommen. Das
will ich nicht wiederholen.
Aber ich möchte eines sagen: In der Tat ist eine militärische und kriegerische Auseinandersetzung bitter und
bluternst. Ich war vor zwei Wochen mit dem amerikanischen Botschafter in Ramstein und habe Soldaten gesehen, deren Beine zerfetzt waren. Natürlich hat eine militärische Auseinandersetzung gerade dann, wenn man
Kollateralschäden vermeiden will, etwas mit gezieltem
Vorgehen zu tun.
({0})
- Jetzt hören Sie zu. - Es ist gerade das Dilemma des
modernen Krieges, dass man gezielter vorgeht als früher
mit Bombenteppichen, um zivile Schäden zu vermeiden.
Das ist die Ambivalenz des Zielens. Das ist aber eine
Auseinandersetzung zwischen Gegnern.
Was ich besonders niederträchtig finde, ist, dass
Landsleute, obwohl sie vielleicht die Gegner meinen,
aus psychologischen oder sonstigen, niederträchtigen
Gründen ihre eigenen Landsleute in die Luft jagen. Das
ist ein gewaltiger Unterschied. Es wäre nett, wenn Sie
das zur Kenntnis nähmen.
({1})
Herr Kollege, da Sie auch mich in Ihrer Kurzintervention angesprochen haben, möchte ich drei Bemerkungen
machen. Die erste ist: Ich glaube, dass die Bilder des
Krieges gerade für die Kinder schreckliche Bilder sind.
Was wir aber nicht verwechseln dürfen, sind Ursache
und Wirkung. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen in Afghanistan jahrzehntelang im Krieg leben, und
wir dürfen nicht vergessen, wie der Einsatz begonnen
hat, nämlich mit den schlimmsten Terroranschlägen in
New York und in Washington, die die Menschheit bisher
gesehen hat, und mit den Anschlägen, die übrigens auch
uns in Europa getroffen haben, in London und Madrid,
aber auch in Casablanca. Wenn ich an die Sicherheit unserer eigenen Bürgerinnen und Bürger denke, dann muss
ich feststellen: Wir haben nicht nur das Recht, sondern
wir haben auch die Pflicht, unsere eigene Sicherheit vor
solchem Terror zu verteidigen.
({0})
Das Zweite, was ich Ihnen sagen möchte, ist: Der
politische Prozess wird - da gibt es keine Alternative nur ein Prozess sein, der in Afghanistan selbst geführt
wird. Es ist ein politischer Prozess, der uns deutlich
macht, dass man Frieden nicht zwischen Freunden
schließt, sondern dass man Frieden zwischen Gegnern
schließen muss. Das ist der entscheidende Unterschied.
Dieser politische Prozess muss in Afghanistan stattfinden. Es muss ein afghanisch geführter politischer Prozess sein.
Das Dritte, was ich Ihnen nach der Debatte sagen
möchte, ist: Ich finde, es ist bemerkenswert, wie mit der
Geschichte des Afghanistan-Einsatzes in diesem Hause
umgegangen wird. Dieser Afghanistan-Einsatz ist hier
im Hause beschlossen worden - ich sage das, weil Sie
die schrecklichen Opfer beklagen -, und zwar vor zehn
Jahren. Es gibt nur drei Möglichkeiten: Entweder wir
setzen den Einsatz unbestimmt immer weiter fort - das
will doch wohl niemand -, oder wir beenden ihn sofort,
({1})
unüberlegt, und machen alles für einen sofortigen Abzug, oder aber wir organisieren verantwortungsvoll die
Rückführung unserer Kräfte und die Übergabe der Verantwortung in Verantwortung.
({2})
Ich begrüße sehr, dass sich die eine Oppositionspartei
noch daran erinnert, wer diesen Einsatz seinerzeit dem
Deutschen Bundestag vorgeschlagen hat. Dass Sie als
Grüne nicht mehr bei der verantwortungsvollen Abwicklung dieses Einsatzes mitwirken wollen, hat innenpolitische Gründe, unter denen Sie leiden und die ich nicht in
Ordnung finde.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist nicht ganz einfach nach der Debatte in den letzten Minuten, eine Rede zum Einsatz in Afghanistan zu halten,
weil wir an die Grundlagen der ethischen Bedingungen
gekommen sind. Herr Ströbele, wenn wir mit den Bürgerinnen und Bürgern über Afghanistan diskutieren, dann
geschieht es oft, dass jemand eine halbe Stunde erzählt,
wie schlecht alles ist, es geschieht aber auch oft, dass jemand eine halbe Stunde erzählt, wie gut alles ist. Ich
muss Ihnen sagen: Beide haben recht.
Afghanistan ist ein sehr kompliziertes und differenziert zu betrachtendes Land. Der Bericht der Bundesregierung spiegelt das durchaus wider. Weil Sie die Geschichte mit den Kindern angesprochen haben, sage ich
Ihnen, was ich mit einem Kind erlebt habe. Ich habe ein
13-jähriges Mädchen in der deutschen Schule getroffen.
Ich habe es gefragt, was man nun einmal so fragt: Was
willst du denn einmal werden? Das Mädchen sagte zu
mir: Staatsanwältin. - Warum? - Weil ich weiß, dass
Staatsanwälte in meinem Land am meisten fehlen. - Das
war ein 13-jähriges Mädchen. Auch das ist ein Teil der
afghanischen Wirklichkeit. Dieses Mädchen verlässt
sich darauf, dass die Staatengemeinschaft das einhält,
was vor zehn Jahren auf dem Petersberg zugesagt wurde,
nämlich Afghanistan beim Aufbau des Staates zu unterstützen.
Wir alle miteinander sollten Arroganz in der Diskussion vermeiden. In manchen Talkshows treten Leute auf,
die Afghanistan für mittelalterlich erklären und behaupten, die Lage sei nun einmal so, wie sie ist, und Afghanistan sei gescheitert. Nein, wir müssen darauf vertrauen, dass die afghanische Gesellschaft zum Wandel
bereit und selbst in der Lage ist, die Geschicke ihres
Landes in die Hand zu nehmen. Ich sehe die Chance,
dass sie das tut.
({0})
Wenn wir diese Chance nicht sähen, wäre es auch nicht
verantwortbar, deutsche Soldaten dorthin zu schicken.
Aber klar ist auch: Bei einer Mandatsverlängerung
nach zehn Jahren darf es keine Routine geben. Es muss
stets die Frage gestellt werden: Warum sind wir dort, wo
stehen wir, und wie wird es weitergehen? Natürlich hat
sich die Begründung, warum wir dort sind, verschoben.
Der internationale Terror bedroht uns nicht mehr aus
Afghanistan; er ist inzwischen leider in anderen Ländern
angekommen. Aber die regionale Stabilität hängt in
hohem Maße von der Stabilität Afghanistans ab. Ich will
mir nicht ausmalen, was passiert, wenn Afghanistan in
einen Bürgerkrieg zurückfällt, zu einem gescheiterten
Staat wird, und welche Auswirkungen dies auf die zentralasiatischen Staaten, vor allen Dingen auf Pakistan,
hätte. Das ist Grund genug dafür, dass die Bundeswehr
und Deutschland ihre Aufgaben dort weiterhin sorgfältig
erfüllen und zu dem geplanten Ende bringen.
Wo stehen wir in Afghanistan? Natürlich gibt es Fortschritte. Das Interessante ist: Möglicherweise trennen
den Fortschritt und die ernste Situation im Sicherheitsbereich nur eine Bergkette; das ist die Wirklichkeit in
Afghanistan. Dies sollten wir den Menschen ehrlich
schildern. Angesichts dessen ist es richtig, dass heute
auch der Verteidigungsminister gesprochen hat, obwohl
der Außenminister eine Regierungserklärung abgegeben
hat. Schließlich entscheiden wir heute über den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte.
An beide Minister gerichtet sage ich: Wir wissen ja,
dass Sie sich in der Frage „Wie wird es in Afghanistan
bis zum Jahr 2014 und darüber hinaus weitergehen?“
nicht immer einig waren. Ich kann Ihnen nur sagen: Das
Ergebnis zählt. Da bewegen Sie sich auf der Linie, die
die Sozialdemokraten gezeichnet haben. Deshalb ist es
schlüssig, wenn Sozialdemokraten diesem Mandat weiter zustimmen. Trotzdem müssen wir uns noch sehr
intensiv darüber unterhalten: Wie machen wir weiter bis
zum Jahr 2014, und was machen wir danach? Ich habe in
der Debatte manchmal ein bisschen Sorge, dass der Eindruck entsteht: 2014 ist das Ziel. - Nein, das Ziel ist, bis
zum Jahr 2014 so weit zu kommen, dass die Afghanen
mit den dann verbliebenen Problemen - sie werden ja
nicht weg sein - selbst fertig werden, selbst umgehen
können; das ist das Entscheidende. Dazu bedarf es
Sicherheitskomponenten, dazu bedarf es weiterer verstärkter Anstrengungen im zivilen Bereich.
Das, was in Bonn beschlossen wurde, ist ja schön; das
ist alles richtig. Aber im Kern wird es darum gehen - das
ist die Schlüsselfrage -, für eine nachhaltige Finanzierung der afghanischen Sicherheitsorganisationen zu sorgen. Das wird auch Deutschland viel Geld kosten; das
müssen wir den Menschen erklären. Wenn dies im
nächsten Jahr nicht gelingt, dann werden die Afghanen
erleben, dass die Sicherheitsorgane - wie schon einmal davonlaufen und ihr Staat zerfällt. Deshalb muss das im
nächsten Jahr erledigt werden. Ich bin durchaus froh,
dass der Außenminister das auch gesagt hat.
Zum Kernbereich der Bundeswehr. Herr Minister
de Maizière, wir haben gestern im Verteidigungsausschuss darüber gesprochen. Ich glaube, es ist richtig,
dass sich die Bundeswehr zunächst aus der Fläche zurückzieht, etwa von manchen Außenposten in Faizabad.
Aber ich habe ein bisschen Sorge, dass es zu einer Verstetigung unserer unterstützenden und logistischen Aufgaben kommt. Ich glaube, da müssen wir aufpassen und
ein Konzept entwickeln. Die Logistik in Masar-i-Scharif
ist angewachsen, weil der Umfang der Aufgaben größer
geworden ist. Jetzt muss aufgezeigt werden, welche
Zuständigkeiten und welche Aufgaben in den nächsten
zwei Jahren Stück für Stück abgegeben werden. Nur
wenn das vorgegeben wird, wird es möglich sein, die
Anzahl der Soldaten in Masar-i-Scharif - derzeit sind es
über 3 000 - zu verringern. An dieser Stelle müssen wir
aufpassen.
Ein weiterer Punkt ist die Debatte über Kampftruppen. Solange 100 Soldaten in Afghanistan sind, werden
sie natürlich auch kämpfen können; deshalb ist der
Begriff „Kampftruppen“ nicht so glücklich. Worum geht
es im Kern? Es geht darum, dass deutsche Soldaten ab
dem Jahr 2014 nicht mehr in den Dörfern, auf den Straßen, in den Städten die Verantwortung für die Sicherheit
haben. Dies müssen die Afghanen selbst leisten. Es geht
auch darum, dass Ausbildungskonzepte anders aussehen
müssen als heute. Partnering draußen kann es nach den
neuen Konzepten nicht mehr geben. Folglich erwarten
wir auch hier eine Debatte und Vorschläge zur Umstellung der Ausbildungskonzepte. Es kann keine Breitenausbildung durch IDAF-Kräfte mehr geben, sondern es
muss hier eher um die Spitze, um „Train the Trainer“
gehen. Alles andere werden die Afghanen selbst leisten
können und selbst leisten müssen.
Kurz vor Weihnachten sind wir ja in einer besinnlichen Zeit, und wir wissen alle, dass in diesen Tagen bei
den Soldaten und ihren Familien nicht einfach Alltagsroutine herrscht. Die Gedanken an die Familie und an
Freunde oder die Gedanken an die Soldaten im Einsatz
prägen sicherlich diese Tage der Soldaten und ihrer
Familien ganz besonders.
Wir alle, die wir viel mit Soldaten reden, hören ja oft:
Wir haben die Sorge, dass die deutsche Gesellschaft
unser Engagement nicht richtig sieht, nicht richtig anerkennt. - Ich glaube, diese Einschätzung ist falsch. Die
deutsche Gesellschaft streitet politisch über die Fortsetzung des Mandates und des Einsatzes. Das ist normal in
der Demokratie. Aber die Soldaten, die ihren Dienst tun,
erfahren nicht nur große Anerkennung, Respekt und
Dank vom Parlament, sondern - da bin ich mir sehr
sicher - auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wissen, dass die Soldatinnen und Soldaten für uns
alle eine schwierige Aufgabe wahrnehmen und dass sie
ihnen Dank schuldig sind. Mein Rat an die Uniformträger lautet also: Seien Sie da selbstbewusst! Seien Sie da
gelassen! - Soldatinnen und Soldaten haben in den
Umfragen das gleiche hohe Ansehen wie die Polizisten,
und das ist auch gut so.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss an dieser Stelle für die Qualität und den
Inhalt dieser Debatte wirklich große Anerkennung aussprechen. Mein Dank gilt besonders, Kollege Arnold,
den Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass sie die
Verantwortung, die sie damals zu Regierungszeiten für
unser Land übernommen haben, nun auch bis zum
Schluss, bis zu einem hoffentlich baldigen Abzug der
Truppen und bis zu einem hoffentlich baldigen Waffenstillstand, wenn nicht sogar Frieden, für eine schwierige,
gebeutelte und gequälte Region mittragen werden. Dafür
auch von meiner Fraktion ein ganz herzliches Dankeschön.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle auch ausdrücklich den
beiden Ministern, die hier heute die Inhalte des Mandates vorgetragen haben und vor allen Dingen auch die
Perspektive aufgezeigt haben, für ihre realistische Einschätzung danken. Sie haben keine Schönfärberei der
Lage betrieben. Sie haben auch auf die nach wie vor vorhandenen Risiken in diesem sehr sensiblen Prozess aufmerksam gemacht. Ich glaube, dass gerade das Engagement der Bundesrepublik, als Honest Broker, als
ehrlicher Vermittler, als ehrlicher Partner, in dieser
Region ein Mindestmaß an Stabilität herzustellen, ein
außerordentliches Kompliment und ein großes Lob verdient hat.
({1})
Es ist auch sehr deutlich geworden, dass wir eine tiefe
moralische Verpflichtung gegenüber der afghanischen
Bevölkerung haben. Ein überstürzter Abzug der Sicherheitskräfte, Kollege Gehrcke, würde genau denen wieder
die Bahn ebnen, die dazu beigetragen haben, dass sich
dieses Land und die Region heute in einer so desolaten
Lage befinden. Wir vergessen häufig, weil zehn Jahre ja
eine lange Zeit sind, den Grund für den Einsatz, nämlich
dass diese Region zum Opfer und zum Ziel von Kräften
geworden ist, die die internationale Staatengemeinschaft
an ihren sensibelsten Punkten herausfordern wollten und
wollen. Al-Qaida und die islamistische Bewegung führen diese Versuche ja nach wie vor uneingeschränkt fort.
Kollege Ströbele, ich bin erstaunt, dass gerade Sie als
jemand, der auch hin und wieder in der Fraktion querdenkt, in diese Falle hineintappen. Ich kann es nicht
nachvollziehen. Sie wissen, dass in den letzten Jahren
zivile Opfer fast überwiegend durch Aktivitäten der
Insurgency verursacht wurden. Natürlich hat es auch
Probleme gegeben. In diesem Hause gab es ja einen
Untersuchungsausschuss zu einem solchen Ereignis. Das
heißt, auch wir als Parlament gehen, wenn etwas in dieElke Hoff
ser Richtung passiert, verantwortungsvoll damit um. Ich
kann von daher nicht nachvollziehen, dass Sie nicht
bereit sind, wenn Sie auf der einen Seite die NATOTruppen kritisieren, auf der anderen Seite auch auf das
Verhalten von Taliban, al-Qaida und anderen Gruppen
aufmerksam zu machen. Das gibt ein schiefes Bild, und
es ist für mich persönlich, lieber Herr Ströbele, ein
Schlag ins Gesicht unserer Streitkräfte.
({2})
Darf der Kollege Ströbele noch eine Zwischenbemerkung machen? - Bitte.
Frau Kollegin, Sie verweigern sich einfach der Realität, wie das die Minister auch schon gemacht haben.
Realität ist, dass bei den Counter-Insurgency-Maßnahmen der Bundeswehr - vor allen Dingen aber der USStreitkräfte - im Norden, wo die Bundeswehr die Verantwortung trägt - das hat der Kollege Schmidt vorhin
ausgeführt -, ein Großteil der getöteten Menschen nichts
mit den Taliban zu tun hat. Diese Menschen sind Denunzierte, es handelt sich um fehlgeleitete Bomben.
Genauso verhält es sich nach allen Statistiken bei den
Getöteten, die durch die Killerdrohnen ums Leben
gekommen sind. Das sind extralegale Hinrichtungen,
wobei ein Großteil der Getöteten - der Anteil wird auf
einen Wert zwischen 30 und 50 Prozent geschätzt Menschen sind, die auf die Listen geraten sind, ohne je
irgendetwas mit al-Qaida oder so zu tun gehabt zu
haben. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis!
Das heißt, da werden - wenn Sie so wollen - Zivilisten getötet, nur weil sie auf eine solche Liste geraten
sind. Das muss doch eine Partei, die für sich in Anspruch
nimmt, der Gerechtigkeit und den Freiheitsrechten verbunden zu sein, auf die Palme treiben. Die muss doch
sagen: Das kann so nicht weitergehen. Es handelt sich
jedes Mal um Verstöße gegen das Völkerrecht. Extralegale Hinrichtungen sind verboten, auch im Krieg.
Lieber Herr Ströbele, durch ständige Wiederholung
der gleichen Argumente wird die Gesamtbetrachtung der
Lage durch Sie nicht besser. Vielleicht können Sie an
dieser Stelle zur Kenntnis nehmen: Ja, natürlich hat es
das gegeben. Ich glaube, dass im Gegensatz zu Organisationen wie den Taliban und al-Qaida die NATO zumindest in der Lage war, sich für diese Vorgänge zu entschuldigen
({0})
und für die Betroffenen Kompensation zu leisten.
Darüber hinaus hat man versucht, durch eine Änderung
der Einsatzregeln - die hat am Ende der Reise dazu
geführt, dass die Inkaufnahme eigener Verluste wesentlich höher geworden ist - diesem Ereignis Rechnung zu
tragen.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass es gerade in
einem asymmetrischen Umfeld zu den perfiden Taktiken
der Aufständischen gehört, die Zivilbevölkerung sozusagen zu einer Partei zu machen und zum Teil sogar
Deckung und Schutz in der Zivilbevölkerung zu suchen.
Wenn das, wie es Minister de Maizière richtig gesagt
hat, nicht niederträchtig ist, dann weiß ich nicht, was es
ist. Dazu, lieber Herr Ströbele
({1})
- jetzt bin ich dran! -, höre ich von Ihnen nie auch nur
ein einziges Wort.
({2})
Insofern ist für mich die Frage jetzt auch beantwortet.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen anderen
Punkt eingehen. Ich habe mich in der Vergangenheit,
auch in den letzten Wochen, zu einem Thema geäußert,
das mir sehr wichtig ist und das ich an dieser Stelle noch
einmal erwähnen möchte. Selbstverständlich schicken
wir nach wie vor unsere Soldatinnen und Soldaten in
einen gefährlichen Einsatz. Deswegen bin ich Ihnen,
Herr Minister de Maizière, für Ihre Klarstellung gestern
im Verteidigungsausschuss dankbar, dass es zurzeit
ernsthafte Bemühungen mit der wehrtechnischen Industrie und mit den Verbündeten gibt, sodass unsere Soldatinnen und Soldaten auch dann über entsprechenden
Schutz verfügen, wenn sie in eine schwierige Lage kommen.
Ich halte dies für gut und für richtig. Ich glaube, es ist
eine entscheidende Botschaft an unsere Soldatinnen und
Soldaten, dass wir im Parlament alles dafür tun, dass sie
heil und gesund an Leib und Leben wieder zu ihrer
Familie und zu ihren Freunden zurückkommen können.
({3})
Wir wissen, dass uns ganz schwierige Monate - wenn
nicht sogar Jahre - bevorstehen. Ich glaube, es ist gut,
dass inzwischen auch die Regionen, um die es letztendlich geht, begriffen haben, dass auch sie einen Beitrag
zur Stabilität und Sicherheit auf den Weg bringen müssen, wenn die westlichen Truppen abgezogen sein werden.
Wir haben uns immer vorgestellt, einen Prozess zu
initiieren, der in Europa erfolgreich war; ich nenne nur
OSZE und KSZE. Wenn es dann am Ende der Reise
dazu kommen sollte, dass Institutionen in der Region
einen solchen Prozess beginnen, wäre ich sehr froh und
zufrieden. Ich hoffe, dass Staaten wie China, Russland
und Indien sich ihrer Verantwortung bewusst sind, dass
sie sich aktiv an einem solchen politischen Prozess beteiligen und dass auch die Bundesrepublik Deutschland
weiterhin wie bisher mit aller Kraft daran arbeitet, dass
ein solcher politischer Prozess an dieser Stelle auf den
Weg gebracht wird.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Ausführungen
an dieser Stelle ganz besonders auch allen Soldatinnen
und Soldaten der NATO, der mit uns verbündeten
Armeen danken, die Leib und Leben für unsere Sicher17778
heit einsetzen. Ich bedanke mich bei unseren Polizisten,
bei unseren für die Entwicklungszusammenarbeit
Zuständigen und bei den Diplomaten, die auch in
schwieriger Lage ihre schwierige Arbeit vollführen müssen. Vor allen Dingen darf ich mich bei den Kolleginnen
und Kollegen bedanken, die dieses schwierige Mandat in
schwieriger Zeit unterstützen werden.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unter dem
Stichwort „Perspektiven in Afghanistan“ werden heute
die Ergebnisse der Bonner Afghanistan-Konferenz, der
sogenannte Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung und das neue Mandat für den Bundeswehreinsatz diskutiert. Wir sagen ganz klar: Herr Westerwelle,
Herr de Maizière, Sie haben den Menschen in Afghanistan keine Perspektive zu bieten. Die Bonner Afghanistan-Konferenz war eine reine Showveranstaltung. Es gab
keine konkreten Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan verbessern. Ihre
Bilanz ist unehrlich.
({0})
Das hat auch einen ganz konkreten Ausdruck in Bonn
gefunden: Regierungskritische Personen waren nicht
anwesend. Selbst die handverlesenen Vertreter der
afghanischen Zivilgesellschaft ziehen eine vernichtende
Bilanz. So sagt die Frauenrechtlerin Selay Ghaffar: Das
ist wie die ganzen Konferenzen zuvor, viele Versprechungen werden gemacht, aber nichts geschieht. - Ich
wiederhole: Die Bonner Afghanistan-Konferenz war
eine Showveranstaltung.
({1})
Aber noch schlimmer: Sie treten die Würde der Opfer
des Krieges mit Füßen.
({2})
Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, dass Sie in Kabul in
die Augen von Kindern geschaut und Hoffnung gesehen
haben. Ich glaube Ihnen das. Warum aber haben Sie es
noch nicht geschafft, in die Augen der Waisen des von
der Bundeswehr befehligten Kunduz-Massakers zu
schauen?
({3})
Mir ist die Geschichte von Qureischa aus Kunduz
zugetragen worden. Qureischa ist Witwe, eine der
Frauen, die durch den Befehl der Bundeswehr am Kunduz-Fluss ihren Mann verloren hat. Sie ist 35 und hat
sechs Kinder im Alter von 4 bis 16 Jahren. Qureischa hat
kein Einkommen und lebt beim Bruder ihres toten Mannes in einem kleinen Raum in einer Lehmhütte. Sie ist so
arm, dass sie sich noch nicht einmal eine Decke für jedes
ihrer Kinder leisten kann. Drei Kinder schlafen unter
einer Decke - und das, wo der harte Winter in Afghanistan bevorsteht. Ihr Schwager ist also ihre einzige Rettung; aber auch er ist bitterarm. Morgens um 4 Uhr geht
er los - 14 Kilometer zu Fuß -, um seine Arbeitskraft als
Tagelöhner auf dem Markt anzubieten.
Die Bundesregierung kümmert sich nicht um diese
Opfer des Krieges. Sie haben - wie alle Kunduz-Opfer keine anständige Entschädigung erhalten, auch nicht die
5 000 Dollar, die einige der Opfer, willkürlich ausgewählt, bekamen. Qureischa und ihre Kinder haben nichts
bekommen.
Ich sage Ihnen: Es sind nicht nur die Kommandoaktionen der NATO, die die Zivilbevölkerung gegen die
Besatzer aufbringen. Es ist diese Arroganz, mit der die
Regierung die Würde der Opfer immer mit Füßen tritt,
({4})
die die Bundeswehr und die NATO in Afghanistan zum
Feind macht.
({5})
Hier haben Sie nichts gelernt. Und ich sage Ihnen:
Menschlichkeit kann man nicht teilen.
({6})
Der Krieg in Afghanistan war von Anfang an falsch,
und weil Sie nicht weiterwissen, machen Sie weiter wie
bisher. Der Abzug ist eine Mogelpackung und eine
Lüge; denn - Sie haben es selbst noch einmal betont,
Herr de Maizière - die Bundeswehr wird nur dann wirklich abgezogen, wenn es die Sicherheitslage zulässt. Das
heißt, wenn sie es nicht zulässt, bleibt die Bundeswehr
dort. Auch das Mandat ist unverändert. Mit den
AWACS-Flugzeugen, den Tornado RECCEs und den
Spezialeinheiten wird - trotz Ihres Geredes vom Abzug weiter Krieg in Afghanistan geführt werden. Der Krieg
geht weiter, weitere drei Jahre, und dem werden wir
nicht zustimmen.
({7})
Der Truppenrückzug ist nicht die Lösung der Probleme, aber er ist die notwendige Voraussetzung für eine
politische Lösung. Deshalb: Truppen raus jetzt und nicht
erst 2014!
({8})
Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal nur ganz kurz zu Ihnen, Frau
Buchholz: Sie haben gesagt, die Afghanistan-Konferenz
sei eine Showveranstaltung gewesen. Abgesehen davon,
dass es sich dabei um eine vollkommen unpolitische
Bemerkung von Ihnen handelt, möchte ich fragen: Wer
hat dort überhaupt eine Show veranstaltet? Das waren
doch Sie persönlich.
({0})
Sie haben dort mit zwei weiteren Abgeordneten der
Linkspartei herumkrakeelt und den Konferenzfrieden
gestört. Ich finde, das ist einer internationalen Konferenz
nicht angemessen.
({1})
Wenn man von einer Showveranstaltung sprechen will,
dann Ihretwegen, Frau Buchholz, und wegen Ihrer beiden Kollegen, die dort aufgetreten sind. Dabei möchte
ich es dann aber auch belassen.
Wir reden hier über eine Entscheidung, die wir sehr
verantwortungsbewusst zu treffen haben. Nur ein paar
Flugstunden entfernt von hier erfüllen Soldatinnen und
Soldaten, Entwicklungshelfer, Diplomaten und andere,
die sich an unsere Seite stellen, für uns einen ganz wichtigen Auftrag. Meine Damen und Herren, Verantwortung
kann man nicht zu einem Politikum machen; Verantwortung ist Realität. Deshalb bin ich sehr froh, dass der
größte Teil dieser Debatte fraktionsübergreifend von dieser Verantwortung geprägt war.
Die von uns vor zehn Jahren gemeinsam getroffene
Entscheidung, in den Afghanistan-Einsatz zu gehen, ist
niemandem leichtgefallen; niemand hat sie gar leichtfertig getroffen - ganz im Gegenteil. Insofern ist es richtig,
dass wir uns hier alljährlich in großer Ernsthaftigkeit die
Frage stellen: Ist das, was wir in den vergangenen zwölf
Monaten getan haben, sinnvoll gewesen? Hat uns das im
Hinblick auf die Ziele, die wir uns gesetzt haben,
genutzt? Hat es zu einer Befriedung der Region, insbesondere Afghanistans, beigetragen?
Natürlich gibt es - das ist von vielen Vorrednern
schon gesagt worden - Licht und Schatten. Natürlich
gibt es Fortschritte, aber auch erhebliche Rückschritte.
Es gehört für diese Regierung und die sie tragenden
Fraktionen zur Ehrlichkeit dazu, dass im Fortschrittsbericht die Defizite deutlich angesprochen werden. Das
zeigt auch, dass wir uns diese Entscheidung keineswegs
leicht machen, meine Damen und Herren. Vielmehr plädieren wir dafür, den Weg, den wir eingeschlagen haben,
die Übergabe in Verantwortung, fortzusetzen und dafür
zu sorgen, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan dauerhaft in der Lage sein werden, selbst die Sicherheit vor
Ort zu gewährleisten.
Das heißt gleichzeitig aber auch, dass wir gegebene
Versprechen nicht brechen werden. Herr Kollege Arnold,
ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es vorhin auf die Intervention von Herrn Ströbele hin deutlich gesagt haben:
Wenn man ein Versprechen gegeben hat und sich einem
Land gegenüber verpflichtet hat, wie wir es gegenüber
den Menschen in Afghanistan getan haben - nicht gegenüber den Politikern in Afghanistan, was sogar zu vernachlässigen wäre, sondern gegenüber der Bevölkerung
Afghanistans -, dann muss man dieses Versprechen auch
erfüllen; dann muss man trotz großer Widerstände in der
eigenen Bevölkerung - ich glaube, keiner von uns
bekommt in seinem Wahlkreis großen Applaus dafür,
dass wir das Afghanistan-Mandat wieder verlängern ({2})
zu seinem Wort stehen. Wenn man einmal in ein Land
gegangen ist, muss man später verantwortungsbewusst
aus diesem Land hinausgehen.
({3})
Deshalb kann man keinen abrupten Abzug vornehmen,
so wie Sie von der Linkspartei es fordern.
Es ist klar, dass wir bei den Rückschlägen, die wir in
Afghanistan erkennen müssen, mit schwindender Unterstützung und mehr Kritik aus der deutschen Bevölkerung
zu rechnen haben.
({4})
Wir müssen uns bei jedem Militäreinsatz immer fragen:
Haben wir die Ziele in dem Umfang erreicht, wie wir sie
erreichen wollten? Deshalb hat Minister Westerwelle zu
Recht den wichtigsten Punkt der Debatte am heutigen
Tage angesprochen: Wir streben keine militärische
Lösung der Probleme Afghanistans an. Wir geben uns
nicht der Illusion hin, dass der Konflikt in der Region
insgesamt militärisch zu lösen sei, sondern streben eine
große politische, integrative Lösung an. Dabei haben wir
in den letzten zwei Jahren erhebliche Fortschritte
gemacht. Zu dem Ergebnis komme ich, wenn ich mir
den Prozess der Befriedung und Aussöhnung in der
gesamten Region vor Augen führe. Wir haben die Möglichkeit, auch Nachbarländer Afghanistans an unsere
Seite zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer eigenen Verantwortung in ihrer Region gerecht werden und
uns damit ein Stück weit entlasten. Das werte ich eindeutig als Fortschritt.
Vor dem Hintergrund ist es auch richtig, dass wir alle
unsere Bemühungen im zivilen, im diplomatischen und
im wirtschaftlichen Bereich verstärkt haben. Ich will
Herrn Botschafter Steiner und seinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern aus dem Auswärtigen Amt ausdrücklich danken, dass sie tatsächlich viele bürokratische Hürden überwunden und Maßnahmen gebündelt haben;
denn das ist nicht gerade einfach. Obwohl wir hier die
Minister in großer Eintracht erlebt haben, ist festzuhalten: Wir haben unsere eigenen Bürokratien, auch im
Bündnis selbst. Das macht es nicht einfach, die Maßnahmen so zu bündeln, wie es notwendig ist. Herr Botschafter Steiner, deshalb ein herzlicher Dank für Ihr großartiges Engagement, durch das Sie in den letzten Jahren
vieles auf den Weg gebracht haben, das ich ausdrücklich
unterstützen will.
({5})
Warum sind wir in Afghanistan? Warum sollen wir in
der Mandatszeit in Afghanistan bleiben und auch über
das Jahr 2014 hinaus, wenn auch in einem wesentlich
geringeren Umfang, Verantwortung übernehmen? Letztendlich um unsere eigenen Interessen zu schützen! Das
sind in erster Linie Sicherheitsinteressen. Man kann sich
in Deutschland natürlich in Sicherheit wiegen und sagen:
Hier ist noch nie ein solcher Anschlag passiert. Der
11. September 2001 ist lange her. Seitdem sind auf der
ganzen Welt zwar weiterhin Anschläge verübt worden,
aber die wurden an anderen Orten geplant und nicht
unbedingt von Afghanistan aus koordiniert.
Auch hier möchte ich an die Regierungserklärung von
Guido Westerwelle anknüpfen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Afghanistan wieder das Planungshauptquartier
für terroristische Aktivitäten in der Welt wird. Deshalb
wäre ein Wegschauen unverantwortlich, und deshalb
müssen wir unsere Bemühungen über das Jahr 2014
hinaus aufrechterhalten, auch wenn es einen wesentlich
geringeren militärischen Anteil geben wird. Dafür müssen wir wahrscheinlich mehr Anstrengungen beispielsweise bei der Entwicklungszusammenarbeit unternehmen. Da wird es mehr Bedarf geben, als das momentan
der Fall ist.
Eines ist klar: Wenn man seine Interessen einmal definiert hat - dazu gehören unsere Sicherheitsinteressen -,
dann muss man sie auch seriös verteidigen. Dazu gehört
eben auch, dass man den Menschen reinen Wein einschenkt. Das machen wir in dieser Debatte. Wir sagen:
Unser Ziel ist, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen,
aber wir wollen uns nicht kopflos aus Afghanistan
zurückziehen, sondern wir wollen durch eine Übergabe
in Verantwortung dafür sorgen, dass die Sicherheitsstrukturen in Afghanistan selbsttragend werden, dass die
afghanischen Streitkräfte und die Polizeikräfte in der
Lage sind, sich selber und ihre Bevölkerung zu schützen.
Klar ist auch: Wir werden Afghanistan in dieser schwierigen Aufbauphase, in der es sich befindet, nicht im
Stich lassen, sondern unserer Verantwortung gerecht
werden.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({6})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin
Buchholz das Wort.
Herr Mißfelder, Sie haben eben mir und damit auch
meinen Kolleginnen Heike Hänsel und Kathrin Vogler
vorgeworfen, wir hätten den Konferenzfrieden der Bonner Afghanistan-Konferenz gestört.
({0})
Wir haben nach der Rede von Hillary Clinton ein Plakat hochgehalten, auf dem darauf hingewiesen wurde,
dass die Politik der NATO für die Bevölkerung mit Terror gleichzusetzen ist. Wir haben in der Debatte hier über
die gezielten Tötungen, die Night Raids, gesprochen.
Die 19 Kommandoaktionen, die die NATO im Schnitt
am Tag durchführt, sind für die Zivilbevölkerung in
Afghanistan Terror. Wir haben gefordert, dass die Truppen nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern jetzt
abgezogen werden sollten. Ich finde, es ist besser, den
vermeintlichen Frieden einer Konferenz zu stören, als
der Friedenspropaganda, wie sie von Ihnen hier im Bundestag vertreten wird, das Wort zu reden.
({1})
Auf der Afghanistan-Konferenz waren keine Vertreter
der afghanischen Opposition zugelassen. Wir haben in
einem persönlichen Schreiben noch versucht, regierungskritische Vertreterinnen und Vertreter aus Afghanistan über Minister Westerwelle anzumelden. Das ist
nicht gelungen, obwohl die Besucherränge leer waren.
Das heißt, wir hatten keine oppositionellen Kräfte dort.
Wir haben deren Position auf die Konferenz getragen.
({2})
Wir haben uns dem offensichtlichen Anschein entgegengestellt, dass mit dieser Konferenz eine weitere Legitimation für den Krieg gegeben wird.
Interessanterweise ist gerade die durch die Bombardierung des Stützpunktes in Pakistan entstandene Situation in den ersten Reden auf der Konferenz überhaupt
kein Thema gewesen. Sie ist ausgeblendet worden. Ich
glaube daher, dass wir für unsere Partner in Afghanistan,
für demokratische und friedensorientierte Kräfte in Afghanistan, ein wichtiges Signal gesetzt und nicht den
vermeintlichen Frieden dieser Konferenz gestört haben.
({3})
Zur Erwiderung Kollege Mißfelder.
Nur ganz kurz dazu: Einerseits werfen Sie uns
Kriegspropaganda und Kriegstreiberei vor, und andererseits werfen Sie uns Friedenspropaganda vor. Alles, was
Sie sagen, Frau Buchholz, passt eigentlich nie zusammen.
({0})
Ich finde es wirklich eine Unverschämtheit, wenn Sie
die NATO mit Terror gleichsetzen.
({1})
Frau Buchholz, bitte beschäftigen Sie sich einfach einmal mit der Historie dieses Einsatzes und mit dem
11. September 2001. Dann werden Sie sehen, wer die
Terroristen waren.
Frau Buchholz, ich habe mich sehr dafür eingesetzt,
dass Parlamentarier, auch aus Deutschland, an dieser
Konferenz teilnehmen dürfen. Die Bundesregierung hat
diesem Ansinnen unserer Fraktion entsprochen. Dafür
bin ich sehr dankbar. Wenn Sie an solchen Konferenzen
teilnehmen, dann beschädigen Sie bitte nicht das Ansehen von Abgeordneten und damit des gesamten Hauses.
({2})
Wenn Sie schon hingehen dürfen, dann benehmen Sie
sich bitte so, wie sich ein Abgeordneter zu benehmen
hat.
({3})
Herzlichen Dank.
({4})
Der Kollege Johannes Pflug hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich teile nicht die Beurteilung der Kollegin
Buchholz, auch nicht hinsichtlich der Abqualifizierung der Konferenz als Show. Herr Außenminister
Westerwelle, ich denke aber, es ist nicht nur richtig, sondern auch wichtig, einmal zu fragen, wie erfolgreich die
Afghanistan-Konferenz in Bonn eigentlich gewesen ist.
Lassen Sie mich einmal versuchen, die Konferenz aus
der Sicht der Medien zu beurteilen.
Wie die Beurteilung der Medien aussieht, lässt sich
aufgrund der Tatsache erahnen, dass diese Konferenz bereits nach einem Tag wieder aus den Schlagzeilen verschwunden war. Ich denke, das ist Grund genug, sich ein
paar der behaupteten Konferenzerfolge einmal im Einzelnen anzuschauen. Dabei möchte ich vor allem auf
zwei Dinge eingehen, erstens auf die langfristige Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft gegenüber
Afghanistan und zweitens auf die Selbstverpflichtung
der afghanischen Regierung zur Durchführung von Reformen.
Wie steht es nun um das langfristige Engagement der
Welt in Afghanistan? In der Tat verpflichteten sich die
Konferenzteilnehmer zu einem langfristigen finanziellen
Engagement in Afghanistan. Ich weiß natürlich sehr genau, dass diese Konferenz nicht als Pledging-Konferenz
angelegt war. Dennoch werden diejenigen, die konkrete
Ergebnisse erhofft haben, auf die Geberkonferenz in Tokio im nächsten Jahr verwiesen. Das ist wohl ein Glück
für die Bundesregierung; denn die Ergebnisse einer solchen Geberkonferenz dürften so ernüchternd ausfallen,
dass der schöne Schein von Bonn gestört worden wäre.
„Die Botschaft von Bonn ist: Wir lassen Afghanistan
nicht im Stich“, verkündet lautstark der aktuelle Fortschrittsbericht der Bundesregierung. Die Botschaft der
USA klingt allerdings etwas anders: Wir lassen Afghanistan zwar nicht im Stich, aber die Zeiten unbegrenzter
Hilfen sind vorüber.
Zwei Beispiele verdeutlichen das: Zum einen werden
die USA ihre Entwicklungshilfe für Afghanistan von
4,5 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf 1 Milliarde Dollar im Jahr 2014 zusammenstreichen. Das entspricht einer Kürzung um fast 80 Prozent. Zum anderen gibt es
Anzeichen dafür, dass die Amerikaner von den mindestens 6 Milliarden Dollar, die jährlich für die Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte aufgebracht
werden müssen, noch höchstens 3 Milliarden Dollar
übernehmen werden. 3 Milliarden Dollar entsprechen
nämlich in etwa der US-Militärhilfe für Israel, und der
amerikanische Kongress hat angekündigt, keinem Staat
mehr Unterstützung als Israel gewähren zu wollen. Während sich die deutsche Entwicklungshilfe für Afghanistan in Millionen bemisst, drohen hier Milliardenbeträge
zu fehlen, auf die das Land dringend angewiesen ist.
Der aktuelle Fortschrittsbericht der Bundesregierung
stellt richtigerweise fest, dass der Finanzbedarf des afghanischen Staates zukünftig erheblich steigen wird. Mir
ist - das sage ich vor allem vor dem Hintergrund der genannten amerikanischen Kürzungspläne - durch die Ergebnisse der Konferenz in Bonn keineswegs klar geworden, wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann und
soll.
Herr Außenminister, Sie verweisen hinsichtlich konkreter Ergebnisse auf 2012, auf den NATO-Gipfel in
Chicago und auf die Konferenz in Tokio. Daran werden
Sie sich messen lassen müssen; denn wir erwarten für
diese Konferenzen aus Ihrem Haus tragfähige Konzepte
dafür, wie der Finanzbedarf Afghanistans und vor allem
seiner Sicherheitskräfte nach 2014 sichergestellt werden
soll.
Als Erfolg von Bonn haben Sie auch die „festen gegenseitigen Verpflichtungen“ verbucht, die der Abschlussbericht der Konferenz enthält. In der Tat: Die afghanische
Regierung verpflichtet sich überraschend eindeutig zu Reformen. Selbstverpflichtungen gab es aber auch schon früher. Selbst die Bundesregierung verweist in ihren Fortschrittsberichten seit 2010 bis heute darauf, dass seitens
der afghanischen Regierung nur ein geringer Wille zur
Umsetzung von Reformen erkennbar sei.
Trotzdem wurde in Bonn darauf verzichtet, ernsthafte
Reformen zur Vorbedingung für eine weitere finanzielle
Unterstützung zu machen. Daher befürchten wir, dass
wir auch zukünftig keine Meldungen über Korruptionsbekämpfung oder Wahlrechtsreformen aus Afghanistan
erhalten werden, sondern die Meldung, dass Präsident
Karzai möglicherweise eine verfassungswidrige dritte
Amtszeit anstrebt.
Herr Außenminister, können Sie uns erklären, wie Sie
sicherstellen wollen, dass die afghanische Regierung sich
an ihre Selbstverpflichtungen hält? Auch dafür erwarten
wir von Ihnen geeignete Vorschläge für die Konferenz in
Tokio. Im Zweifelsfall muss die weitere Unterstützung
von ernsthaften Reformbemühungen der Afghanen abhängig gemacht werden.
Finanzielle Hilfen allein werden die Dinge in Afghanistan nicht zum Guten wenden. Und mehr Geld muss
nicht notwendigerweise immer besser für Afghanistan
sein. Im Gegenteil: Es kann sogar schaden, wenn dadurch Korruption und Klientelnetzwerke gefördert werden.
Trotzdem gibt es Dinge in Afghanistan, die zwingend
einer robusten Finanzierung bedürften. Aber diese Finanzierung ist nach wie vor nicht einmal ansatzweise erkennbar. An erster Stelle dürften dabei die teuren afghanischen Sicherheitskräfte stehen, ohne die kein verantwortungsvoller Abzug unserer Bundeswehr und unserer
Verbündeten stattfinden kann. Aber auch zivile Hilfsprojekte werden noch lange auf Gelder der internationalen
Gemeinschaft angewiesen sein.
Die Frage, wie sich Afghanistan in Zukunft finanzieren soll, ist zu wichtig, als dass man bloß von einer Konferenz auf die nächste verweisen könnte. Diese Frage bedarf konkreter Planung und Absprachen mit unseren
internationalen Partnern. Bei beidem erwarten wir zukünftig deutlich bessere Ergebnisse von der Bundesregierung als bisher.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Wolfgang
Götzer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Oktober dieses Jahres hat der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen beschlossen, das ISAF-Mandat
bis zum 13. Oktober des nächsten Jahres zu verlängern.
Eine Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte
- auch deutscher - ist nötig, um den Prozess der Übernahme von Sicherheitsverantwortung durch die Afghanen nicht zu gefährden.
Erst vor wenigen Tagen hat die internationale Staatengemeinschaft auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn
ihr Engagement für Afghanistan über das Jahr 2014 hinaus bekräftigt. Die Aufgabe ist immens: Aus einem
Krisenherd soll ein souveräner Staat werden, der seinen
eigenen Beitrag zu Frieden und Sicherheit leisten kann.
Die Bonner Konferenz hat gezeigt: Die Bereitschaft,
Afghanistan zu unterstützen, ist auch nach zehn Jahren
ungebrochen. Mit dieser Konferenz haben wir die
Grundlage für ein langfristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan über 2014 hinaus
gelegt. Dieses langfristige Engagement erstreckt sich auf
die Bereiche gute Regierungsführung, Sicherheit, innerafghanischer Friedensprozess, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie regionale Zusammenarbeit.
Von der Bonner Konferenz geht somit ein eindeutiges
Signal aus: Die internationale Staatengemeinschaft lässt
Afghanistan nicht im Stich. Wir werden Afghanistan
auch nach der Übernahme der vollständigen Regierungsverantwortung durch die Afghanen zur Seite stehen.
({0})
Die einstimmige Annahme des Schlussdokuments durch
alle 100 Delegationen stellt dies eindrucksvoll unter Beweis. Dabei war und ist allen Beteiligten klar, dass es nur
- das ist heute schon angesprochen worden - eine politische Lösung geben kann.
Diese Unterstützung für Afghanistan leisten wir man muss es offensichtlich immer wieder ansprechen,
auch heute - auch im Interesse unserer eigenen Sicherheit;
({1})
denn der Terrorismus bedroht uns alle. Sicherheit war
ein zentrales Thema der Bonner Konferenz. Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische
Hände hat im Sommer dieses Jahres begonnen und soll
gemäß den Beschlüssen der Konferenzen in London und
Kabul im letzten Jahr bis Ende 2014 abgeschlossen sein.
Das Engagement deutscher Streitkräfte soll im Rahmen
des ISAF-Mandats entsprechend dieser Zielvorgabe fortgesetzt werden. Dabei wollen wir in einem ersten Schritt
zu Beginn des Jahres 2012 die Mandatsobergrenze von
derzeit 5 350 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten senken. Je nach Entwicklung der Sicherheitslage und dem
Verlauf des Übergabeprozesses - das ist also noch offen wollen wir die tatsächliche Truppenstärke 2012 weiter
reduzieren. 2014 soll der Einsatz in seiner bisherigen
Form - ich betone: in seiner bisherigen Form - beendet
sein.
Wir halten eine Reduzierung der Zahl der deutschen
Einsatzkräfte im Laufe des nächsten Jahres aus mehreren
Gründen für möglich. Zum einen werden Provinzen und
Distrikte im Norden Afghanistans, also im deutschen
Verantwortungsbereich, in absehbarer Zeit in afghanische Verantwortung übergeben. Zum anderen hat sich,
wie auch der aktuelle Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Lage in Afghanistan zweifelsfrei feststellt,
die Sicherheitslage verbessert. Nach zehn Jahren Hilfe
sind trotz eines immens schwierigen, oft lebensgefährlichen Umfeldes heute Fortschritte unübersehbar, wenngleich es noch ein weiter Weg bis zum Frieden ist.
Auch der Aufbau der afghanischen Armee und Polizei verläuft nach Plan, sodass bis Oktober nächsten Jahres über 350 000 afghanische Sicherheitskräfte bereit
sein werden, Sicherheitsverantwortung zu übernehmen.
Während des Prozesses der schrittweisen Übergabe in
Verantwortung gilt es, die Fähigkeiten der afghanischen
Sicherheitskräfte weiter zu stärken. Konkrete Pläne hierfür sollen bereits auf dem NATO-Gipfel im Mai 2012
beschlossen werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eines der für uns
wesentlichen Ergebnisse der Bonner Konferenz ist die
gegenseitige Verpflichtung zwischen der internationalen
Staatengemeinschaft und Afghanistan. Um es ganz klar
zu sagen: Die internationale Gemeinschaft sichert Afghanistan Hilfe über 2014 hinaus zu; zugleich aber nehmen wir die Afghanen in die Pflicht. Wir werden darauf
drängen, dass Afghanistan die in Bonn bekräftigten Verpflichtungen hinsichtlich guter Regierungsführung umsetzt und einen politischen Prozess rechtsstaatlicher Teilhabe in Gang setzt. Außerdem erwarten wir von
Afghanistan, dass ein landesweiter innerafghanischer
Aussöhnungsprozess auf der Basis der hierfür in Bonn
vereinbarten Prinzipien erfolgt. Ebenso werden wir von
der afghanischen Regierung echte Fortschritte im Kampf
gegen Korruption und Drogenanbau einfordern.
Wir müssen bereits jetzt den Blick über die Übergangsphase hinaus auf den sich anschließenden Transformationsprozess richten, der bis zum Jahr 2024 angesetzt ist. Auch das war ein wichtiger Aspekt der Bonner
Konferenz. Der im Rahmen dieses Mandats eingeleitete
Truppenabzug bis 2014 ist - das möchte ich an dieser
Stelle ganz klar sagen - keineswegs das Ende des Engagements der internationalen Streitkräfte.
({2})
Im Gegenteil: Um die Zukunft Afghanistans zu sichern
und die Region langfristig zu stabilisieren, muss das
ISAF-Mandat auf die Bewältigung neuer Aufgaben, vor
allem im zivilen Bereich und bei der Ausbildung der Sicherheitskräfte, über 2014 hinaus ausgerichtet werden.
Dabei wird die Bundeswehr weiterhin vor Ort eine wichtige Rolle spielen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle abschließend einmal
mehr unseren Soldatinnen und Soldaten danken, die ihren lebensgefährlichen Dienst in Afghanistan leisten.
Heute, wenige Tage vor Weihnachten, richte ich damit
verbunden einen Gruß an diejenigen, die dieses Fest weit
weg von ihren Familien feiern werden.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich zum Abschluss dieser Debatte ein paar Gedanken
aufgreifen. Wir haben eine sehr sachliche Debatte geführt. Ich glaube, wir haben der Bevölkerung auch sehr
viele Erklärungen geliefert, um klarzumachen, warum
wir in Afghanistan sind, warum wir dort noch eine Weile
bleiben müssen und warum Afghanistan unseren Einsatz
verdient.
Erstens haben wir deutlich gemacht: Verantwortung
geht vor Ehrgeiz. Es ist nicht unser Ehrgeiz, Afghanistan
so schnell wie möglich zu verlassen, sondern es muss
unser Ehrgeiz sein, Afghanistan in Verantwortung für
das Land zu stabilisieren und in der Region für mehr Stabilität und Verantwortung zu sorgen. Wenn die Botschaft
lautet: „Wir lassen Afghanistan nicht im Stich“, dann
heißt das also genauso: Afghanistan muss stabiler und sicherer werden.
Zweitens hat sich Afghanistan verpflichtet - wir müssen auf die Einhaltung dieser Verpflichtung bestehen -,
sich im Gegenzug intensiver um eine Stärkung seiner
Regierungsfähigkeit zu kümmern.
Drittens - der Bundesverteidigungsminister hat den
Abzug und die Gestaltung der Abzugsplanung schon angesprochen -: Die regionale Dimension ist ganz entscheidend für die Stabilisierung und Sicherung des Erreichten. Hier sind politische Lösungen gefragt. Obwohl
Pakistan an der Konferenz in Bonn nicht teilgenommen
hat, ist deutlich geworden, dass wir die Region einbinden. Mit Blick auf die Abzugsplanung geht es auch darum, dass wir mit den nördlichen Nachbarn Afghanistans Einvernehmen über die Art und Weise des Abzugs
und über deren Verantwortung in der Region herstellen.
Das halte ich für besonders wichtig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es sind,
glaube ich, vier Aspekte, die aus der Debatte herauszudestillieren sind.
Erstens: die Stärkung und Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Darüber ist hier viel gesprochen
worden. Wichtig ist, dass wir Qualität erreichen - wir
brauchen Qualitätssteigerungen und müssen vor allen
Dingen im Bereich der zivilen Verwaltung Fortschritte
erzielen - und dass die Finanzierung bis zum NATOGipfel in Chicago bzw. bis zur Geberkonferenz in Tokio
geklärt wird.
Zweitens: die Restrukturierung des deutschen Einsatzkontingents. Hier ein ganz kurzer Blick auf das
Mandat: Es beinhaltet flexible Kontingentwechselmöglichkeiten, und es wurden sowohl die AWACS-Aufklärungsflugzeuge als auch die Tornado-Aufklärungsflugzeuge mitberücksichtigt. Ich kann nur sagen:
Kompliment zu dieser Mandatsgestaltung!
({0})
- Für Sie vielleicht.
Drittens: die regionale Einbettung des Prozesses; ich
habe sie bereits angesprochen.
Lassen Sie mich viertens, weil es aufseiten der Linken
gerade laut geworden ist, die Ausrichtung des zivilen
Engagements ansprechen. Wir als Parlament waren in
Bonn ordentlich vertreten. Wir haben uns gekümmert
und viele Gespräche geführt. Wir haben die Chance genutzt, mit 27 Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zu sprechen. Was hat die Linke gemacht?
({1})
Sie hat Transparente ausgerollt. Als wir noch zwei Stunden drangehängt haben, um mit Botschafter Steiner und
den 27 Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zu sprechen, sind Sie mit fliegenden Rockschößen
und eingerollten Transparenten zum Bonner Hauptbahnhof geeilt.
({2})
In Bonn ist deutlich geworden, was die Zivilgesellschaft von uns erwartet. Sie erwartet, dass wir uns kümmern: um die Versehrten, um den Aufbau der Krankenhäuser und um das Bildungssystem. Gefordert wird auch
eine Intensivierung der akademischen und handwerklichen Ausbildung. Hier sind unsere Stärken. Diese Stärken müssen wir nutzen. Wir haben durch unsere Anwesenheit und durch unser Interesse gezeigt, dass uns
genau daran gelegen ist. Vielen Dank an die Kolleginnen
und Kollegen, die mit dabei waren!
({3})
Lassen Sie mich abschließend einen weiteren Punkt
ansprechen - Herr Minister de Maizière hat ihn vorhin
bereits erwähnt -: In Landstuhl befindet sich zurzeit eine
Reihe schwer Kriegsversehrter, die für wenige Tage hier
sind; ich hatte die Ehre, den Minister bei seinem Besuch
zu begleiten. Lassen Sie uns in der letzten Einsatzdebatte
in diesem Jahr in unseren Gedanken bei den Einsatzversehrten sein, bei den alliierten wie auch bei den deutschen Einsatzversehrten und Veteranen. Lassen Sie uns
in Gedanken bei unseren Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz sein, unter denen über 400 Reservistinnen und
Reservisten sind, bei unseren Polizistinnen und Polizisten und den zivilen Aufbauhelfern. Lassen Sie uns von
dieser Stelle einen Weihnachtsgruß in die Einsatzgebiete
schicken.
({4})
Lassen Sie uns den Kameraden dort versichern: Wir stehen an ihrer Seite, und wir unterstützen sie, und wir wollen unserer Bevölkerung den Einsatzwechsel und das
neue Mandat im neuen Jahr noch intensiver als bisher erklären. Sie haben all unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8166 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass heute Abend
eine weitere namentliche Abstimmung stattfinden wird,
und zwar zum Tagesordnungspunkt 11. Die Abstimmung wird vorbehaltlich aller Änderungen, die wir
selbst verursachen, etwa zwischen 19 Uhr und 19.30 Uhr
stattfinden.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rente erst ab 67 - Risiken für Jung und Alt
- Drucksachen 17/5106, 17/7966 Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
SPD und der Fraktion Die Linke vor. Über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke werden wir
später namentlich abstimmen.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, zu diesem
Tagesordnungspunkt eineinhalb Stunden zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit unserer Großen Anfrage wollen wir uns erneut mit der Rente erst ab 67 beschäftigen. Die Antwort,
die wir von der Bundesregierung auf über 380 Seiten bekommen haben, ist ein sehr umfangreiches Werk, das beweist, dass wir von der Rente ab 67, die ab 1. Januar des
nächsten Jahres eingeführt werden soll, dringend Abstand nehmen müssen.
({0})
- Die Beweise werde ich Ihnen jetzt vortragen.
Ich nenne drei Argumente:
Erstens. Auch Ihnen wird einleuchten, dass, wenn
man bis 67 arbeiten soll, eine Voraussetzung erfüllt werden müsste, nämlich die, dass man im Alter von 64 noch
eine Arbeit hat. Hat man im Alter von 64 keine Arbeit
mehr, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit
65 oder 66 wieder eingestellt wird, äußerst gering. Ich
glaube, selbst die FDP wird dem zustimmen. Um es einmal ganz deutlich zu sagen: In diesem Land bekommt
man mit 65 eher das Bundesverdienstkreuz als einen
Job.
({1})
Da das so ist, müssen wir uns die Frage stellen - darauf ist in der Antwort auf die Große Anfrage eingegangen worden -, wie viele Menschen im Alter von
64 Jahren eigentlich noch sozialversicherungspflichtig
beschäftigt sind. Die Antwort lautet: 8,7 Prozent der
Menschen im Alter von 64 haben noch eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Bei den
Frauen, Frau von der Leyen, sind es übrigens nur 5 Prozent.
Wenn das wirklich so ist, wie Sie es hier vorlegen,
dann bedeutet das im Ergebnis, dass Sie mit der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre 90 Prozent der
Menschen nichts anderes als eine ganz brutale Rentenkürzung verordnen.
({2})
Das hat Ihre Antwort auf unsere Anfrage eindeutig ergeben.
Es wird immer gesagt, die Rente mit 67 komme erst
später. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann erkennen wir, dass diese Rentenkürzung bereits ab dem 1. Januar 2012 wirken wird; das heißt, bereits im ersten
Quartal wäre eine Rentenkürzung von fast 1 Prozent für
die Menschen möglich, die nicht mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden können. 90 Prozent!
Das ist Ihre Rentenpolitik!
Nun ein paar Worte zur SPD. Sie machen den Vorschlag - ich habe das in Ihrem Parteiprogramm gelesen -,
die Rente mit 67 erst dann einzuführen, wenn die Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen zu 50 Prozent beschäftigt
ist.
({3})
- Sozialversicherungspflichtig. - Wenn also 50 Prozent
der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, dann wollen Sie sie einführen. Das bedeutet aber doch im Umkehrschluss, liebe
Genossinnen und Genossen von der SPD, dass ihr die
Rente mit 67 einführen wollt, wenn 50 Prozent dieser
Altersgruppe noch keine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung haben. Das bedeutet, Sie wollen die
Rente mit 67 einführen, obwohl Sie wissen, dass das bei
50 Prozent der Betroffenen zu einer reinen Rentenkürzung führt. Das ist absoluter Unfug, um es einmal ganz
deutlich zu sagen.
({4})
- Selbstverständlich ist das so; wir können doch rechnen.
Im Übrigen ist es die falsche Altersgruppe; denn es ist
völlig unerheblich, ob die Altersgruppe der 60- bis 64Jährigen einen Job hat. Ausschlaggebend ist nur die
Gruppe der 64-Jährigen; denn viele in der Altersgruppe
der 60- bis 64-Jährigen werden sicher vor dem Erreichen
des 64. Lebensjahres aus dem Beruf ausscheiden. Das
müsstet ihr von der SPD doch auch gemerkt haben. Also
bitte, kehrt auf den Pfad der Tugend und zu einer vernünftigen Rentenpolitik zurück!
({5})
Das zweite Argument ist nun wirklich hochinteressant. Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Rente mit
67 eingeführt wurde, war aus Ihrer Sicht, dass die Lebenserwartung der Menschen steigt, dass die Menschen
länger leben. Jetzt hat die Große Anfrage ergeben, dass
ausgerechnet bei der Gruppe der Geringverdiener dieser
Fakt überhaupt nicht zutrifft, dass deren Lebenserwartung gar nicht steigt. Im Gegenteil: Die Studie hat ergeben, dass die Geringverdiener zunehmend früher sterben.
({6})
Während sie im Jahre 2001 durchschnittlich mit
77,5 Jahren verstorben sind, verstarben sie im Jahr 2010
im Durchschnitt mit 76 Jahren. Das ist ein Fakt, den die
Studie ergeben hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gern.
Herr Ernst, weil Sie den Eindruck erwecken, dass hier
wissenschaftliche Ergebnisse zitiert würden, möchte ich
Sie fragen: Würden Sie mir, wenn Sie von einer Studie
sprechen, recht geben, wenn ich sage, dass es eine Studie
Ihres Kollegen Birkwald ist, die Sie hier zitieren, und
dass das sozusagen ein linker Zirkelschluss ist?
({0})
Herr Dr. Kolb, das ist eine sehr interessante Bemerkung. Das, was ich eben vorgetragen habe, ergibt sich
aus der Antwort der Bundesregierung.
({0})
- Aber selbstverständlich.
({1})
Es ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf
unsere Anfrage.
({2})
Ich bin gerne bereit, Herr Dr. Kolb, Ihnen hinterher
noch die Tabelle vorzutragen, damit Sie das noch einmal
nachvollziehen können. Ich gebe zu, die Antwort ist ein
bisschen dick geworden; sie ist sehr umfangreich. Aber
die Rentenpolitik der Bundesregierung ist ja auch sehr
schwierig. Fakt ist jedoch, Herr Dr. Kolb - auf diesen
Fakt müssen wir uns doch verständigen -: Wenn es so
ist, dass Geringverdiener inzwischen früher sterben,
({3})
dass man aber ausgerechnet den Geringverdienern zumuten will, länger zu arbeiten, dann bedeutet das, dass
eine Grundlage für die Rentenpolitik der Bundesregierung überhaupt nicht vorhanden ist. Deshalb muss die
Rente mit 67 zurückgenommen werden. Das ist die Konsequenz.
({4})
Im Übrigen - lassen Sie mich auch das noch sagen,
Herr Dr. Kolb - ist es so, dass wir offensichtlich ausgerechnet gegen die in diesem Land vorgehen, die wenig
verdienen. Sie weigern sich konsequent, den Mindestlohn einzuführen. Die Menschen mit geringeren Einkommen haben geringere Renten. Jetzt stellen wir fest,
sie sterben auch noch früher. Das ist nicht hinzunehmen.
Über diesen Vorgang sollten Sie sich einmal Gedanken
machen.
({5})
Meine Damen und Herren, ein drittes Argument
möchte ich noch anführen. Es heißt immer, wir müssten
die Rente mit 67 einführen; wir könnten uns die Rente
mit 65 nicht mehr leisten. Alle Antworten der Bundesregierung ergeben aber, dass der Beitragssatz nur um
0,5 Beitragssatzpunkte höher wäre, wenn wir bei der
Rente mit 65 blieben. Frau von der Leyen, das sind bei
einer paritätischen Finanzierung der Rente 0,25 Beitragssatzpunkte. Das sind bei einem Durchschnittsverdiener um die 6,30 Euro monatlich.
({6})
Ich habe noch niemanden in diesem Lande erlebt, der
wegen eines um 6,30 Euro höheren Beitrags im Monat
zwei Jahre länger arbeiten möchte. Aber Sie muten das
den Leuten zu, und das ist inakzeptabel.
({7})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir haben ja nun Weihnachten. Vor Weihnachten gibt es
den Nikolaus, und der Nikolaus hat eine Rute. Ich sage
Ihnen: Wenn Sie dem Nikolaus begegnet wären, hätte er
Ihnen wegen Ihrer Rentenpolitik so lange den Hintern
versohlt, dass Sie bis Weihnachten nicht mehr sitzen
könnten.
({8})
Das Wort hat die Bundesministerin Ursula von der
Leyen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Ernst, wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man den Eindruck, als ob die Rente mit 67 den Menschen tatsächlich
etwas wegnehmen würde.
({0})
- Da hört man die Linken schreien. - Es geht aber um
gewonnene Lebensjahre.
({1})
In den letzten 50 Jahren hat die Lebenserwartung um
11 Jahre zugenommen. Die durchschnittliche Rentenbezugszeit hat sich in den letzten 50 Jahren von 10 Jahren
auf 18 Jahre erhöht. Man muss schon so betonhart wie
die Linke in der Vergangenheit leben,
({2})
um diese Wirklichkeit nicht realisieren zu können, meine
Damen und Herren.
({3})
Ich habe mich wirklich gefragt, ob die Linke die Statistiken der Deutschen Rentenversicherung auch heute
noch einmal dazu missbrauchen würde,
({4})
um den Unsinn zu erzählen, dass bei Geringverdienern
in den letzten drei Jahren die Lebenserwartung entgegen
dem Trend gesunken sei.
({5})
Wir haben vorhin geklärt, dass es keine Studie ist, sondern dass die Deutsche Rentenversicherung Statistiken
geliefert hat, aus denen Sie etwas herausgelesen haben.
Die Deutsche Rentenversicherung hat klipp und klar gesagt, dass aus diesen kleinen Fallzahlen kein Trend abzulesen ist. Aber auch da bleiben Sie beinhart in der Vergangenheit.
Ich empfehle Ihnen einen ausgesprochen guten Artikel aus der Sächsischen Zeitung.
({6})
Diese Zeitung hat nämlich diesen Unsinn einmal aufgegriffen und mit der Technik der Linken die Miniaturfallzahlen so analysiert, dass man auch einen vermeintlichen anderen Trend herauslesen kann. Danach ergäbe
sich nämlich, dass sich die Lebenserwartung von geringverdienenden Frauen im Osten - oh Wunder! - um lockere sechs Jahre von 79 auf 85 verlängert hat.
({7})
Das Ergebnis ist also hervorragend, wenn man die Statistiken auf die Art und Weise interpretiert, wie die Linke
damit umgeht.
({8})
Das ist ein Paradestück dafür, dass die Linken mit Zahlen nicht umgehen können.
({9})
Es zeigt den tiefen Realitätsverlust der Linken. Ihnen
passt es nämlich nicht, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
Wirklichkeit Ihnen inzwischen etwas völlig anderes ins
Stammbuch schreibt.
({10})
Noch haben wir keinen einzigen Monat Arbeit mehr.
In diesem Jahr ist es noch so, dass mit 65 Jahren die abschlagsfreie Rente bezogen werden kann. Wenn die
Rente mit 67 Jahren greift, werden wir 5 Millionen Menschen mehr in der Rente und 6 Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter haben. Es ist schön, wenn
wir alle länger leben. Aber das heißt auch, dass die Mitte
schmilzt. Diese Veränderung in der Alterszusammensetzung der Bevölkerung hat längst stattgefunden. Dementsprechend entsteht jetzt auch ein neues Bild des Alters.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an. In den letzten
zehn Jahren hat sich schon enorm viel verändert. Die
Zahl der Erwerbstätigen im Alter von über 55 Jahren hat
sich um 1,5 Millionen erhöht. 57 Prozent der 55- bis 64Jährigen stehen inzwischen im Erwerbsleben. Das ist
hinter Schweden Platz zwei in Europa. Wir können stolz
darauf sein, dass diese Veränderung inzwischen stattgefunden hat.
({11})
Bei den 60- bis 64-Jährigen hat sich die Erwerbstätigenquote in den letzten zehn Jahren sogar verdoppelt.
Ich weiß, dass Sie immer nur auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten schauen. Dort ist die Erwerbstätigenquote deutlich mehr als doppelt so hoch.
Mit der Technik der Linken betrachtet, hat sie um
150 Prozent zugenommen. Auch dabei handelt es sich
um einen Erfolg des Arbeitsmarktes und einen Erfolg
der Älteren am Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren,
meine Damen und Herren.
({12})
Ich glaube, wenn im Jahr 2029 - erst dann greift die
Rente mit 67 - so viel mehr Menschen älter sind und so
viel weniger Menschen am Arbeitsmarkt sind, ist es
auch eine Frage der Fairness und der Gerechtigkeit der
schmelzenden Mitte gegenüber, zu sagen: Wenn wir
zehn Jahre Lebenserwartung dazugewonnen haben, dann
können wir zwei Jahre davon in Arbeit investieren.
({13})
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit den Jungen gegenüber. Auch das sollten wir einmal thematisieren.
({14})
Meine Bitte an die Linken ist: Hören Sie endlich auf,
die Alten so schwachzureden.
({15})
Die Älteren sind am Arbeitsmarkt unverzichtbar. Die Älteren, die später die Rente mit 67 erarbeiten werden, gehören meiner Generation an. Wir sind die Ersten, die die
Rente mit 67 dann auch tatsächlich mit Leben füllen
müssen.
Frau Ministerin, der Kollege Ernst äußert den
Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Nein, bitte keine Zwischenfrage. Ich möchte den Gedanken zu Ende führen. Er kann nachher eine Kurzintervention machen.
Es ist meine Generation, also die Generation der jetzt
über 50-Jährigen, die in die Rente mit 67 hineinwächst.
Ich würde es einfach einmal andersherum formulieren:
Wir werden gebraucht. Wir trauen uns auch etwas zu. Ja,
wir werden als Gesellschaft älter. Aber die Ältereren
bleiben auch länger jung. Es ist keine Frage des Alters,
sondern es ist eine Frage der Fähigkeiten und der Motivation, am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können.
({0})
Ich möchte einen zweiten Gedanken einführen. Wir
haben in den letzten Tagen intensiv über den Euro und
über Europa diskutiert. Wir haben uns alle miteinander
fest in die Hand versprochen, dass das nachhaltige Wirtschaften in Europa einer der Garanten dafür ist, dass
wieder Vertrauen in Europa entsteht. Europa ist insgesamt ein Kontinent auf dem Weg zum langen Leben. Darauf müssen wir reagieren. Großbritannien, Frankreich,
Spanien und Dänemark haben inzwischen die Rente mit
67 eingeführt. Sie werden sie sogar sehr viel früher als
wir erreichen. Italien wird wahrscheinlich nachziehen.
Alle handeln in dem Wissen: Wer sich der Wirklichkeit
nicht stellt, der ruiniert seine Sozialsysteme.
({1})
Warum sollten ausgerechnet wir jetzt eine Rolle rückwärts machen? Nein, wir bleiben standfest, weil wir das
den jungen Menschen in unserem Land schuldig sind.
({2})
Wir müssen in den nächsten Jahren nach vorne
schauen, bis die Rente mit 67 Jahren greift. Bis zum
Jahre 2029 müssen wir daran arbeiten, die Rente mit
67 mit Leben zu erfüllen. Mir ist wichtig, dass wir die
Frage eines guten Übergangs und der Gerechtigkeit beantworten. Wir möchten dazu die Kombirente vorschlagen, die bewirkt, dass man mit Teilzeitarbeit und Teilrente den Übergang in die Rente schon früher, also im
Alter zwischen 63 und 67 Jahren, schaffen kann.
Wenn wir über die Rente mit 67 im Jahr 2029 sprechen, ist es wichtig, die Frage zu stellen - das ist eben
eine Frage der Gerechtigkeit -, ob insbesondere Geringverdiener, wenn sie 30, 35 oder 40 Jahre Beiträge gezahlt haben, es schaffen, eine eigene auskömmliche
Rente zu erhalten. Darunter sind sehr viele Frauen, die
Teilzeit gearbeitet haben, aber nicht aus Bequemlichkeit.
Ich sage es noch einmal: Das ist meine Generation. Damals hat es keine Ganztagsschulen und nur wenig Kindergartenplätze gegeben, von Krippenplätzen war überhaupt nicht die Rede. Wenn diese Frauen gearbeitet
haben, dann haben sie sich wirklich krummgelegt, und
zwar ein Leben lang. Sie haben neben der Arbeit Kinder
erzogen und die Älteren gepflegt. Sie müssen, wenn sie
für ihr Alter vorgesorgt haben, am Ende des Lebens eine
eigene Rente haben. Deshalb streiten wir jetzt über die
Zuschussrente.
({3})
Diese Frage der Gerechtigkeit müssen wir jetzt im Interesse der betroffenen Menschen beantworten. Dafür
stehe ich hier.
({4})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir den jungen
Menschen gegenüber gerecht sein müssen und bereit
sein müssen, einen Teil unseres längeren Lebens in Arbeit zu investieren. Andererseits müssen wir den Geringverdienern, die sich wirklich krummgelegt und ein Leben lang alles richtig gemacht haben, eine eigene Rente
ermöglichen.
({5})
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ohne diese Gerechtigkeit verliert das Rentensystem seine Berechtigung,
und ohne Kinder verliert es seine Zukunft.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention der Kollege Klaus Ernst.
Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen - ich habe jetzt
doch noch die Gelegenheit, etwas zu sagen - eine ganz
konkrete Frage stellen. Ab 1. Januar nächsten Jahres,
also ab 1. Januar 2012, gibt es Abschläge bei der Rente
für langjährig Versicherte ab dem Jahrgang 1949, und
zwar in Höhe von 0,9 Prozent, also circa 1 Prozent,
wenn sie drei Monate früher in Rente gehen. Ist das richtig, oder ist das falsch? Wenn es richtig ist, heißt das
dann nicht, dass die Rentenkürzung nicht erst ab 2029
greift, was Sie eben zu vermitteln versuchten, sondern
eigentlich ab dem 1. Januar des Jahres 2012? Diese
Frage ist sehr konkret. Man braucht sie auch nicht mit
Hinweis auf England, Afrika oder Frankreich zu beantworten. Man kann sie mit Ja oder Nein beantworten.
Zu Ihrer Zuschussrente, Frau von der Leyen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Zuschussrente so gut
wie niemand erhält. Sie ist daran gebunden, dass jemand
privat vorgesorgt hat. Jetzt wissen wir ganz genau, dass
insbesondere Geringverdiener kaum in der Lage sind,
privat vorzusorgen, und das auch kaum tun. Übrigens
sind geringverdienende Männer laut dieser Statistik ganz
besonders betroffen, weil sie erstens inzwischen tatsächlich eine geringere Lebenserwartung haben und weil ihnen zweitens kaum die Möglichkeit zur Vorsorge gegeben ist. Das bedeutet aber, dass sie nicht in den Genuss
der Zuschussrente kommen, weil sie nicht privat vorgesorgt haben. Diese Zuschussrente ist ein Placebo. Sie
wollen den Menschen in diesem Land Sand in die Augen
streuen. Das möchte ich mit aller Klarheit sagen.
({0})
Frau von der Leyen zur Erwiderung, bitte.
Herr Ernst, an der Länge Ihrer verschwurbelten ersten
Frage konnte man sehen, dass Sie versucht haben, einen
einfachen Zusammenhang möglichst kompliziert darzustellen, damit er Ihrer Realitätsverweigerung standhält.
({0})
Meine einfache Antwort ist: Ab 2012 müssen die Menschen einen Monat länger arbeiten, Herr Ernst; mehr
nicht in diesem Jahr.
({1})
Ich glaube, es ist eine Frage der Gerechtigkeit den Jungen gegenüber, dass wir langsam, aber sicher monatsweise in die Rente mit 67 einsteigen.
({2})
- Sie haben eben das Wort gehabt. Jetzt habe ich es.
Zu Ihrer zweiten Frage: Die Zuschussrente ist auf die
Zukunft ausgerichtet. Das heißt, wir stellen die Bedingung der Vorsorge nicht für die Vergangenheit, sondern
für die Zukunft, auch um deutlich zu machen: Wenn unser Rentensystem auf Dauer halten soll, dann muss es
auf zwei Beinen stehen, nämlich der gesetzlichen Rente
und der privaten Vorsorge.
Schon heute sind 30 Prozent der Riester-Sparer Geringverdiener. 50 Prozent aller Riester-Sparer haben ein
jährliches Einkommen von unter 20 000 Euro. Mit
5 Euro im Monat ist man mit dem kleinsten Einkommen
dabei. Es gibt 13 Euro Zuschuss vom Staat für einen Erwachsenen.
({3})
Es gibt 25 Euro Zuschuss für ein Kind. Deshalb wollen
wir auf die Dauer die private Vorsorge als zweites Standbein ausbauen. Es muss sich aber zum Schluss für die
Geringverdiener lohnen, damit sie ihre Riester-Rente,
ihre betriebliche Altersvorsorge oder eine andere Vorsorge tatsächlich als eigene Rente haben. Das ist der
Grundgedanke der Zuschussrente. Deshalb werden wir
darum kämpfen.
({4})
Die Kollegin Elke Ferner hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau von der Leyen, das war ein Vortrag wie immer: viel
heiße Luft, nichts dahinter, keine eigenen Vorschläge
und den Leuten Sand in die Augen streuen. Das kennen
wir von Ihnen.
({0})
Ich werde noch auf einzelne Punkte zurückkommen.
Wir haben damals, als das Renteneintrittsalter gesetzlich angehoben worden ist, aus gutem Grund eine Überprüfungsklausel gesetzlich festgeschrieben. Dabei sollte
die Bundesregierung eine Einschätzung darüber abgeben, ob angesichts der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der sozialen und wirtschaftlichen Lage der
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine Anhebung
des Renteneintrittsalters vertretbar ist.
Sie, die Bundesregierung, aber auch die Koalitionsfraktionen, halten das für vertretbar. Sie erliegen damit
nicht nur einer groben Fehleinschätzung. Denn wer angesichts der Zahlen zu den Beschäftigungsquoten der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen, die von Ihnen selber in der dicken Drucksache als Antwort der Bundesregierung zur
Verfügung gestellt worden sind, zu einem solchen
Schluss kommen kann und gleichzeitig in derselben Woche die vergleichsweise großzügigen Bedingungen bei
der Pensionierung der politischen Beamten noch weiter
vergolden will, leidet an mehr als an Realitätsverlust,
liebe Kollegen und Kolleginnen.
({1})
Sie haben von der sozialen Lage der Menschen in diesem Land keine Ahnung. Das ist weder christlich noch
sozial; das ist beschämend. Man könnte auch sagen, Frau
von der Leyen: Das ist betonhart.
Ich möchte noch einmal auf Ihre eigenen Zahlen verweisen. Im letzten Jahr waren gerade einmal 19,1 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig
beschäftigt. Bei den 64-Jährigen waren es noch nicht
einmal 9 Prozent. Das ist übrigens die Steigerung um
150 Prozent, die Frau von der Leyen eben angesprochen
hat.
Das zeigt, dass das Leitbild der Erwerbstätigkeit bis
zum Renteneintritt derzeit nur eine Illusion ist. Nur jeder
fünfte Versicherte ist gegenwärtig vor dem Eintritt in die
Altersrente tatsächlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Ein Viertel kommt aus Arbeitslosigkeit oder
Altersteilzeit, und der Rest hat überwiegend keinen Erwerbsstatus. Ihre Aussage, Frau von der Leyen, es gehe
nur um einen Monat, trifft nur auf die knapp 9 Prozent
zu, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Es
trifft aber nicht auf die übrigen 91 Prozent zu, um die es
hier geht.
({2})
Was ist mit denen, die arbeitslos sind? Sie werden,
wenn sie langzeitarbeitslos sind, in eine abschlagsgeminderte Rente gezwungen. Das kann man doch nicht
wollen. Das kann man nicht ignorieren. Deshalb haben
wir damals eine Überprüfungsklausel gewollt, und deshalb schlagen wir heute in unserem Antrag vor, dass die
Anhebung des Renteneintrittsalters so lange ausgesetzt
wird, bis mindestens 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen
einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung,
nachgehen.
({3})
Das Schlimme ist, dass Sie trotz dieser Zahlen nicht
nur an der Anhebung des Renteneintrittsalters festhalten,
sondern dass Sie darüber hinaus Milliarde um Milliarde
bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik kürzen.
({4})
Das heißt, Sie vergrößern nicht, sondern Sie verringern
die Chancen der älteren Beschäftigten, im Arbeitsmarkt
zu bleiben und aus der Arbeit heraus in Rente zu gehen.
({5})
Das ist Ihre Politik, Frau von der Leyen. Ich sage Ihnen:
Gerade in Zeiten, in denen es wirtschaftlich besser geht,
muss man sich intensiv um die Langzeitarbeitslosen
kümmern; denn nur in den Zeiten haben sie überhaupt
eine Chance, wieder in Arbeit zu kommen. Stattdessen
kürzen Sie in den nächsten Jahren Mittel in Höhe von
über 24 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Das ist wirklich ein Armutszeugnis.
({6})
Weil Sie eben auf die Frage des Kollegen Ernst nicht
geantwortet haben, möchte ich deutlich machen, was die
Anhebung des Renteneintrittsalters für Langzeitarbeitslose bedeutet. Wer heute die Voraussetzungen erfüllt, um
mit 63 Jahren in Rente zu gehen, aber langzeitarbeitslos
ist, muss Abschläge in Höhe von 7,2 Prozent dauerhaft
hinnehmen. Mit jedem Monat der Heraufsetzung der Regelaltersgrenze erhöhen sich diese Abschläge um
0,3 Prozentpunkte, also, wie Herr Ernst eben gesagt hat,
innerhalb von drei Monaten um knapp 1 Prozent. In der
Endstufe reden wir über 14,4 Prozent insgesamt.
({7})
Die Menschen empfinden es zu Recht als Rentenkürzung, wenn sie nicht die Gelegenheit haben, selber zu
bestimmen, ob sie aus der Arbeit in die normale Rente
oder in eine vorgezogene Rente gehen. Die Situation,
dass die Menschen selber darüber entscheiden können,
haben wir leider immer noch nicht erreicht.
Sie haben eben über niedrige Rentenanwartschaften
gesprochen. Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Zuschussrente, die
mittlerweile außer Ihnen selbst überhaupt niemand mehr
gut findet, lösen Sie das Problem nicht. Sie als Arbeitsministerin müssten sich eigentlich für Mindestlöhne
nicht nur einsetzen, sondern sie einführen. Das wäre Ihre
Aufgabe.
({8})
Sie als Arbeitsministerin müssten sich dafür einsetzen,
dass die Entgeltdiskriminierung von Frauen beseitigt
wird. Auch das ist ein Grund, warum gerade Frauen so
niedrige Renten haben; denn sie haben niedrige Löhne.
Sie müssten eigentlich Ihren Kollegen von den Koalitionsfraktionen auf die Finger klopfen, wenn diese vereinbaren, die Minijobgrenze von 400 Euro auf 450 Euro
zu erhöhen. Denn was bedeutet das? Weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, mehr Altersarmut.
Das ist das Ergebnis einer solchen Politik.
({9})
Wenn Sie nur am Ende ansetzen, dann springen Sie zu
kurz. Die Brüche in den Erwerbsbiografien können wir
nicht ausschließlich über das Rentenrecht korrigieren.
Natürlich muss man auch da korrigieren, aber ausschließlich da zu korrigieren, funktioniert nicht. Ihre Zuschussrente ist eine Belohnung für diejenigen, die privat
vorgesorgt haben. Aber all denjenigen, die wegen der Situation auf dem Arbeitsmarkt in ihren Regionen, ob im
Osten oder im Westen, oder wegen fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder anderer Dinge keine vollständige Erwerbsbiografie haben, helfen Sie nicht, und
denen wollen Sie auch gar nicht helfen. Sie wollen nämlich nur denen helfen, die eine entsprechend große Anzahl von Jahren privater Vorsorge haben. Die anderen
lassen Sie außen vor. Damit springen Sie zu kurz.
Wir schlagen vor, dass die Rente nach Mindestentgeltpunkten so lange verlängert wird, bis wir einen flächendeckenden Mindestlohn in diesem Land haben. Wir
schlagen weiterhin vor, dass die Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit höher bewertet werden, wenn insgesamt
weniger als 30 Entgeltpunkte erworben worden sind.
Das sind Nachteilsausgleiche, die wir für notwendig halten, die wir dann aber auch über Steuern und nicht über
Beiträge finanzieren wollen.
({10})
Frau von der Leyen, Sie haben eben gesagt, Sie
kämpften um Ihre Zuschussrente. Das heißt im Klartext:
Sie haben sie noch lange nicht eingetütet. Ich bin einmal
gespannt, ob der Finanzminister, wenn im nächsten Jahr
an vielen anderen Stellen noch zusätzlicher Finanzierungsbedarf besteht, mit wehenden Röcken auf Sie zugelaufen kommt, um Ihnen das Geld zur Verfügung zu stellen. Denn das über Beiträge zu finanzieren, hielte ich in
der Tat für ganz schwierig, weil das nichts mit der Beitragsbezogenheit der Rente und mit Arbeitsleistung zu
tun hat.
Wer das Renteneintrittsalter erhöht, muss sich auch
darüber Gedanken machen, wie Menschen in Beschäftigung bleiben können. Dazu gehört auch ein betriebliches
Gesundheitsmanagement. Dazu gehört ebenfalls, denen
Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben, die lange gearbeitet haben, die vielleicht 60 und älter sind und eine
körperliche Beeinträchtigung haben, die zwar, Gott sei
Dank, noch nicht so schlimm ist, dass es zur Erwerbsminderungsrente reicht, die aber dennoch so groß ist,
dass man seine alte Beschäftigung nicht mehr ausüben
kann.
Wir möchten gerne - Herr Kollege Ernst, Ihre Aussage eben, dass uns die restlichen 50 Prozent egal sind,
ist falsch -, dass alle über 60-Jährigen gegenüber der
Bundesagentur für Arbeit einen Rechtsanspruch auf eine
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekommen,
damit sie eben nicht in der Arbeitslosigkeit und dann in
der vorgezogenen abschlaggeminderten Rente landen,
sondern damit sie aus der Erwerbsarbeit, also sozusagen
aus eigener Kraft, in Rente gehen können.
({11})
Das ist im Übrigen der Unterschied zwischen Ihnen und
uns: Sie sind grundsätzlich dagegen, während wir die
Auffassung vertreten, dass man unter bestimmten Bedingungen durchaus eine Anhebung des Renteneintrittsalters vertreten kann.
Wir sehen darüber hinaus Handlungsbedarf bei der
Erwerbsminderungsrente. Wir möchten gerne die Zurechnungszeiten in einem Schritt bis zum 62. Lebensjahr
anheben, und wir möchten gerne auch die rentenrechtlichen Abschläge auf die Erwerbsminderungsrenten abschaffen. Ich weiß nicht, wie Sie jemandem diese
Abschläge erklären können; ich konnte sie bisher niemandem erklären. Wer erwerbsgemindert ist, der geht
nicht freiwillig in Rente, weil er es sich nicht aussuchen
kann, sondern er geht in Rente, weil er körperlich beeinträchtigt ist und nicht mehr arbeiten kann. Angesichts
dessen halten wir an dieser Stelle Abschläge für nicht
geboten; sie gehören vielmehr schlicht und ergreifend
abgeschafft.
({12})
Es ist an der Zeit, die Übergänge in die Rente so zu
flexibilisieren, dass sie den Bedürfnissen und den Wünschen der Beschäftigten mehr entgegenkommen, als es
heute der Fall ist. Wir wollen Menschen ab dem 60. Lebensjahr eine Teilrente ermöglichen, die mit einer Teilzeitbeschäftigung einhergeht. Wir möchten, dass die Abschläge ausgeglichen werden können. Vor allen Dingen
möchten wir sicherstellen, dass bei Inanspruchnahme einer solchen Rente keine Altersarmut vorprogrammiert
ist. Wir möchten also, dass ein Schutz für die Beschäftigten aufgebaut wird, damit Arbeitgeber sie nicht über
die Teilrente aus der Beschäftigung herausdrängen können.
Letzter Punkt: Wer alles soll in die Rentenversicherung einzahlen müssen? Gerade weil die Erwerbsverläufe so vielfältig geworden sind, müssen dem auch die
sozialen Sicherungssysteme gerecht werden. Deshalb
wollen wir eine Erwerbstätigenversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung einführen. Einbezogen
werden sollen zunächst einmal die Soloselbstständigen,
die bekanntermaßen ebenfalls sehr stark von Altersarmut
bedroht sind, damit sie nach einem langen Arbeitsleben
eine entsprechende Absicherung im Alter haben.
Unterm Strich kann ich nur an Sie appellieren, liebe
Kollegen und Kolleginnen von der Koalition: Schauen
Sie sich die Zahlen einfach noch einmal an! Spielen Sie
nicht die drei chinesischen Affen - nichts sehen, nichts
hören und nichts sagen -, sondern ziehen Sie die Konsequenzen aus den Zahlen, die Sie selber vorgelegt haben!
Schönen Dank.
({13})
Der Kollege Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal - Frau Ferner, ich weiß, Sie mögen das
nicht -: Wir müssen hier die Verantwortungen klarstellen. Es war die SPD, die die Rente mit 67 in Deutschland
wollte und eingeführt hat.
({0})
Da beißt die Maus keinen Faden ab.
({1})
Sie wollten die Rente mit 67. - Frau Ferner, Sie dürfen
sofort eine Zwischenfrage dazu stellen.
Jetzt gleich? - Bitte, Frau Ferner.
Herr Kollege Kolb, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass in unserem Wahlprogramm 2005 ausdrücklich gestanden hat, dass wir keine Rente mit 67
wollen,
({0})
dass im Wahlprogramm der Union gestanden hat, dass
sie eine Anhebung der Regelaltersgrenze will und dass
im Koalitionsvertrag ein Kompromiss geschlossen worden ist, der für viele in meiner Partei schmerzhaft gewesen ist? Es ist zufällig ein SPD-Arbeitsminister gewesen,
der das umzusetzen hatte, was in der Koalitionsvereinbarung stand. Ich weise die Behauptung, dass das unsere
Erfindung gewesen ist, entschieden zurück. Im Gegenteil: Es ist die Erfindung der Christlich Demokratischen
Union und der Christlich-Sozialen Union gewesen.
Frau Kollegin Ferner, ich glaube, mit dem, was Sie da
gerade darzustellen versuchen, betreiben Sie jetzt ein
bisschen Geschichtsklitterung.
({0})
Es heißt ja in der Bibel: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. - Nicht an ihren Wahlprogrammen, sondern an
ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Sie können mich ja
gerne korrigieren, aber nach allem, was ich weiß, ist vor
einer denkwürdigen Kabinettssitzung der SPD-Minister
Franz Müntefering, der unter dem starken Druck stand,
einen Rentenversicherungsbericht vorzulegen, zu dessen
wesentlichem Bestandteil eine Beitragsprojektion gehört, an die Bundeskanzlerin herangetreten und hat sie
um Zustimmung zur Einführung einer Rente mit 67 gebeten,
({1})
weil nur so, Frau Kollegin Ferner, die Beitragsziele zu
realisieren waren, die man sich vorgenommen hatte und
die in diesem Rentenbericht ausgewiesen werden mussten.
({2})
So war es nach meiner Erinnerung.
({3})
- Ich war zwar nicht in der Kabinettssitzung dabei, aber
das ist damals alles sehr zeitnah und breit berichtet worden und von Franz Müntefering nie dementiert worden.
Ich finde es einfach feige,
({4})
wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Wir sind
es nicht gewesen. Die CDU war es. - Nein, die SPD war
federführend dabei und war treibende Kraft bei diesem
Projekt. Das muss man hier sehr deutlich sagen.
({5})
Wir haben damals übrigens dagegen gestimmt.
({6})
- Wir hatten unsere Gründe, dass wir dagegen gestimmt
haben. Aber wir haben uns natürlich auch die weitere
Entwicklung angeschaut. Dazu will ich gerne noch etwas sagen. Das kann ich wesentlich ausführlicher darlegen, wenn Sie, Herr Ernst, eine Zwischenfrage stellen.
Die Beitragsziele, die man erreichen wollte, Frau
Kollegin Ferner, waren damals also maßgebend. Der
entscheidende Satz in der Drucksache 17/7966, der
schon auf Seite 3 steht, lautet:
Würde auf die Anhebung der Altersgrenzen gemäß
dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verzichtet, fiele der Beitragssatz im Jahr 2030 um 0,5 Prozentpunkte höher aus. Gleichzeitig wäre das Sicherungsniveau vor Steuern um 0,6 Prozentpunkte
geringer.
Hier müssten Sie als eine Partei, die zu Regierungszeiten
entsprechende Maßnahmen ergriffen hat, jetzt, in Oppositionszeiten, doch eigentlich in ihrem Entschließungsantrag eine Antwort auf die Frage geben, wie das zukünftig aussehen soll, statt sich einen schlanken Fuß zu
machen.
Sie sagen jetzt einfach: Wir schieben das in die Zukunft. - Demografisch ändert sich aber dadurch überhaupt nichts. Die Probleme, die Franz Müntefering
damals verantwortungsvoll lösen wollte, bestehen unverändert fort. Sie wollen nun die Lösung wegnehmen,
sagen aber nicht, was an die Stelle dieser Lösung treten
soll. Das finde ich einfach unverantwortlich. Auch eine
Oppositionspartei hat ein Mindestmaß an Verantwortung
in diesem Haus wahrzunehmen.
({7})
Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch der Kollege
Ernst angesprochen hat. - Frau Kollegin Ferner, ich
wäre dankbar, wenn Sie mir Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken könnten.
({8})
- Das ist sehr schön. Gut. - Jetzt frage ich Sie: Welche
Entwicklung haben Sie denn damals eigentlich bei der
Erwerbsteilhabe und der Quote der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Älteren erwartet? Sie müssen
doch irgendeine Vorstellung gehabt haben. Ich könnte ja
verstehen, dass die SPD jetzt Bauchschmerzen bekommt, wenn es in den letzten Jahren ganz furchtbar und
katastrophal gelaufen wäre.
({9})
Nur: Die Zahlen sprechen doch eine vollkommen andere
Sprache, Frau Kollegin Ferner.
({10})
Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen hat sich
von 2000 bis 2009 auf mehr als 40 Prozent verdoppelt.
({11})
Es handelt sich übrigens, wie ich finde, um einen Fehler
in Ihrem Entschließungsantrag, dass Sie nur auf die
Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in
diesem Alter abstellen. Man muss fairerweise natürlich
auf die Erwerbstätigkeit insgesamt abstellen,
({12})
weil natürlich die Beamten mit dazuzählen, auch die
Soldaten, die bis zu ihrem 65. Lebensjahr Dienst tun,
({13})
und andere, die in der Gruppe der Erwerbstätigen eingeschlossen, aber aus der Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ausgeschlossen sind. Wenn Sie
sagen, von allen, die 64 oder 65 Jahre alt sind,
({14})
müssen 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein, dann legen Sie die Messlatte für die Gruppe der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten so hoch, dass
es nie zur Einführung der Rente mit 67 kommen könnte,
({15})
jedenfalls nicht in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Da
muss ich Ihnen sagen: Hier handelt es sich um einen
Versuch der Irreführung und Täuschung. Sie machen
sich hier wirklich vom Acker.
({16})
Das kann ich und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Sie stehen hier genauso in der Verantwortung.
({17})
Jetzt zu den Linken; denn eigentlich diskutieren wir ja
über Ihre Große Anfrage und die Antworten. Herr Kollege Ernst und auch Herr Kollege Birkwald - der sitzt ja
nicht nur zufällig dort, sondern hat das Ganze wesentlich
mit ausgearbeitet -:
({18})
Wir sind ja von den Linken einiges gewohnt. Aber dass
Sie es diesmal derart unseriös angehen, das ist auf der
nach unten offenen Birkwald-und-Ernst-Skala ein neuer
Tiefstand. Das muss man einmal klipp und klar sagen.
({19})
- Herr Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen, Frau
Präsidentin.
Herr Ernst, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?
Ich glaube, Herr Kolb freut sich sehr.
Ja, klar.
({0})
Bitte schön.
Herr Dr. Kolb, nur wegen der Seriosität: Sie haben
gerade versucht, darzustellen, dass die Bezugsgröße
falsch sei, wenn man die 60- bis 64-Jährigen nehme.
Stimmen Sie mir zu, dass Rentenansprüche ausschließlich diejenigen stellen, die sozialversicherungspflichtig
beschäftigt sind, die also in die Rentenkasse einbezahlt
haben?
Tatsächlich müssen wir, wenn wir nach den Voraussetzungen zur Einführung der Rente mit 67 fragen, die
Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
betrachten,
({0})
weil die anderen überhaupt nicht rentenbezugsberechtigt
sind.
Wenn Sie von Unseriosität reden, dann würde ich Sie
bitten, darauf zu achten, was Sie hier eigentlich sagen.
({1})
Sonst kann man Sie überhaupt nicht mehr ernst nehmen.
Ich schließe eine zweite Frage an: Stimmen Sie mir
denn zu - weil Frau von der Leyen diese Frage nicht beantwortet hat -, dass es tatsächlich so ist, dass langjährig
Versicherte, die jetzt, ab dem 1. Januar 2012, vor dem
67. Lebensjahr in Rente gehen - wenn sie nicht arbeiten,
weil sie keine Beschäftigung haben -, pro Monat
0,3 Prozent Abschläge hinnehmen müssen und damit bis
einschließlich März nächsten Jahres schon fast 1 Prozent
weniger Rente bekommen?
Ich bitte Sie, diese Frage nicht so kompliziert zu beantworten, wie es Frau von der Leyen versucht hat. Die
kann man nämlich wirklich mit Ja oder Nein beantworten.
({2})
Ihr erster Punkt war die Frage nach der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Es ist klar: Nur wer
Beiträge gezahlt hat, kann hinterher Rente beantragen.
({0})
Das ist ein wesentlicher Aspekt.
({1})
Das war aber nicht mein Punkt, auf den ich Frau
Ferner hingewiesen habe. Ich habe nur gesagt: Auch
wenn sie auf die Gesamtheit der 60- bis 64-Jährigen eine
50-prozentige Sozialversicherungsquote anlegt, meint
sie in Wirklichkeit noch deutlich mehr. Dann müssten
nämlich 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Nur darum
ging es mir.
Was Ihre zweite Frage anbelangt, so ist es wie bei Beton: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, ob die
Menschen in Arbeit sind oder nicht.
({2})
Aber auch dann geht Ihre Rechnung noch nicht auf; denn
Sie versuchen, eine Durchschnittsbetrachtung vorzunehmen. Sie müssen aber immer die individuellen Verhältnisse berücksichtigen.
Ob und wie sich die Rente für einen Versicherten
lohnt oder nicht - das klingt in dem Zusammenhang ein
bisschen blöd -, hängt natürlich immer von der Gesamtrentenbezugsdauer im Anschluss an den Renteneintritt
ab. Um eine effektive, individuelle Rentenrendite bestimmen zu können, müssten Sie fragen: Wie lange lebt
derjenige, der früher in Rente geht, hinterher tatsächlich?
({3})
Von daher hinkt Ihr Vergleich, den Sie hier vortragen.
Das kann ich nicht akzeptieren.
({4})
Sie haben sich mit der Großen Anfrage Mühe gegeben, das will ich anerkennen.
({5})
Sie enthält viele Fragen, die sind auch sehr detailliert
formuliert. Was aber inakzeptabel ist, ist die äußerst eigenwillige Interpretation der Ergebnisse.
({6})
Herr Ernst, Sie hatten jetzt zweimal die Gelegenheit
dazu: Sie müssen mir wirklich belegen, wo in der Studie
steht, dass die Lebenserwartung von Geringverdienern
sinken würde. Herr Kollege Birkwald, ich halte es für
unglaublich und ein Stück weit für unverschämt - ansonsten schätze ich Sie sehr -, wenn Sie hier den Eindruck erwecken, die Bundesregierung und die sie tragende Koalition sei an einem sozialverträglichen
Frühableben interessiert. Das ist nicht Bestandteil unserer Rentenpolitik,
({7})
sondern wir wollen, dass die Menschen möglichst lange
ihre Rente genießen können und das auf einem möglichst guten Niveau.
({8})
Dazu ist aber entscheidend, dass sie Arbeit haben und
eine möglichst ungebrochene Erwerbsbiografie vorweisen können.
Nein, Herr Birkwald, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich glaube, ein sozialistisches Gesellschaftssystem
ist ein höheres Lebensrisiko für die Menschen als die
Rente mit 67. Das will ich Ihnen sehr deutlich sagen.
({9})
Herr Ernst und Herr Birkwald, Sie sind nicht die
Menschenfreunde, als die Sie sich hier gerne ausgeben.
Nein, Sie kochen Ihr rotes Süppchen, und Zynismus und
selektive Wahrnehmung sind ganz wesentliche Bestandteile Ihres Rezeptes. So sieht nämlich die Wirklichkeit
aus.
({10})
Trotzdem ist zu begrüßen, dass wir heute wieder einmal die Möglichkeit haben, uns über rentenpolitische
Themen auszutauschen. Es gibt ja eine Agenda, die sozusagen im Raum steht. Natürlich müssen wir - Frau
Kollegin Ferner, da bin ich bei Ihnen - überlegen, wie
wir flexible Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand schaffen können. Da haben Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, schon ziemlich viel von den FDPVorschlägen, die in diesem Haus früh eingebracht wurden, übernommen.
({11})
Vielen Punkten könnten wir zustimmen.
Nicht mit gehen wir aber bei Ihrem Konzept einer Erwerbstätigenversicherung. Auch sind wir dafür, dass
Selbstständige eine Pflicht zur Versicherung haben.
({12})
Ich will hier sehr deutlich sagen: Wir wollen für sie aber
keine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dass wir uns um die Probleme, die durch Erwerbsminderung und Erwerbsunfähigkeit entstehen,
kümmern müssen, will ich hier ausdrücklich konzedieren. All das aber muss geschehen im Geiste der Verantwortung für unser Rentensystem und auch für die Beitragsziele, die Sie ins Gesetz geschrieben haben und
denen wir uns unverändert verpflichtet fühlen.
(Elke Ferner ({13}): Ah ja, „im Geiste der Verantwortung“ wäre für Sie etwas Neues!
So wird ein Schuh daraus, und auf der Basis können wir
vielleicht in den weiteren Beratungen vorankommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir brauchen mehr Ehrlichkeit in der Politik.
({0})
Wir müssen ehrlich sagen, wo die Chancen liegen, und
wir müssen ehrlich sagen, wo die Probleme sind. Auch
müssen wir ehrlich sagen, was noch zu tun ist.
Die Linke spricht in ihrer Großen Anfrage ganz am
Anfang von einer ehrlichen Bestandsaufnahme und einer
echten Abwägung der Risiken, ist dann aber - das haben
wir vorhin wieder erlebt - ebenso wenig ehrlich wie die
Bundesregierung in ihrer Antwort.
({1})
Die Bundesregierung ist viel zu schönfärberisch, was
die Probleme angeht: Es ist ja alles gut. Die Linke verschweigt völlig die Vorteile der Anhebung der Regelaltersgrenze. Beides verstärkt die Ängste in der Bevölkerung. Nur wenn wir in beide Richtungen ehrlich sind,
gewinnen wir das Vertrauen zurück.
({2})
Das gilt nicht nur für die Rentendebatte - aber gerade bei
der Rente, weil hier langfristiges Vertrauen besonders
wichtig ist.
Zunächst zu den Vorteilen: Die Linke spricht die Wirkung auf der Beitragsseite an: ein um 0,5 Prozentpunkte
niedrigerer Beitragssatz. Das klingt zwar nicht nach
wahnsinnig viel, stellt aber immerhin eine Entlastung
von 12,50 Euro pro Monat dar. Insgesamt macht das 4
bis 5 Milliarden Euro aus, um die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entlastet werden. Das ist schon mal
nicht nichts.
Die Linke verschweigt vor allem, dass nicht nur die
Beiträge sinken, sondern dass auch das Rentenniveau
durch die Rente mit 67 steigt. Ohne Anhebung der Regelaltersgrenze wäre das Rentenniveau - Kollege Kolb
hat schon darauf hingewiesen - um 0,6 Prozentpunkte
geringer. 0,6 Prozentpunkte bedeuten, dass die Standardrente durch die Rente mit 67 um etwa 1,5 Prozent steigt.
Wenn wir es darüber hinaus hinkriegen, dass die Menschen tatsächlich zwei Jahre länger arbeiten, sind das bei
einer Durchschnittsrente 60 bis 70 Euro pro Monat.
({3})
Die Erhöhung des Rentenniveaus bewirkt übrigens
auch eine Erhöhung der Rente für alle, die bereits in
Rente sind. Von wegen allgemeine Rentenkürzung! Es
profitieren alle Bestandsrentnerinnen und -rentner. Sie
profitieren zunächst nur ganz wenig, weil die Kurve erst
sachte ansteigt, dann aber immer weiter nach oben
geht. - Der Kollege Troost nickt, stimmt mir also zu.
Sehr schön!
Es profitieren auch alle, die länger arbeiten können.
Im nächsten Jahr ist das nur ein Monat. Das dürfte vieDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
len, die erwerbstätig sind, auch möglich sein. Selbst bei
den Arbeitslosen, Herr Ernst, muss genau hingeschaut
werden; denn auch wer Arbeitslosengeld I bezieht, bekommt im Regelfall eine höhere Rente. Beim Arbeitslosengeld II ist das schon nicht mehr ganz eindeutig, weil
die Rentenhöhe hier von der Gesamtleistungsbewertung
abhängt.
Eine Rentenkürzung erhalten allerdings - da haben
Sie recht - auch schon im nächsten Jahr diejenigen Arbeitslosen, die von den Jobcentern frühzeitig in Rente
geschickt werden. Besonders problematisch finde ich
das im Hinblick auf Erwerbsgeminderte und Schwerbehinderte, weil die Altersgrenze, ab der diese ohne Abschlag in Rente gehen dürfen, im nächsten Jahr ebenfalls
um einen Monat ansteigt. Das ist aus unserer Sicht ein
schwerer Fehler, der dringend korrigiert werden muss.
({4})
Zusammenfassend sage ich: Im Durchschnitt ist die
Rente mit 67 eine Verbesserung. Deshalb sind wir
grundsätzlich für die Rente mit 67: Der Kuchen für die
Rentnerinnen und Rentner wird größer. Die Rente mit 67
bedeutet aber ausgerechnet für die Schwächsten - für
Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte, Erwerbsgeminderte und andere, die frühzeitig in Rente müssen - eine
Rentenkürzung; auch das ist richtig. Die Rente mit 67
führt dazu, dass die Einkommensschere im Alter weiter
auseinandergeht; auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Unsere Schlussfolgerung ist, anders als bei den Linken
und in Teilen der SPD, aber nicht: Weg damit! Unser Bestreben ist es, dass möglichst alle von dem größeren Kuchen profitieren. Hier müssen wir ansetzen, und da gibt
es noch viel zu tun.
({5})
Wir halten es für ein wichtiges Signal an die Gesellschaft, dass die Rente mit 67 kommen wird; denn 2031
- nicht 2029, Frau Ministerin; das Rechnen fällt der
Bundesregierung sowieso schwer - brauchen wir sie.
Eine Abschaffung oder Aussetzung hilft nicht weiter.
Wir müssen jetzt an die Probleme heran und insbesondere an die Unternehmen ein Signal senden, damit sie
endlich mehr Arbeitsplätze für Ältere schaffen.
({6})
Ich möchte drei Bereiche ansprechen, in denen dringend gehandelt werden muss:
Erstens. Wir brauchen flexible Übergänge in den Ruhestand. Eigentlich ist die Bezeichnung „Rente mit 67“
Quatsch: Kein Mensch will exakt mit 67 in den Ruhestand. Es ist unserem Rentenberechnungssystem geschuldet, dass wir eine Regelaltersgrenze brauchen. Als
Partei der Freiheit ist es aber unser Ziel,
({7})
dass jeder und jede freier und selbstbestimmter entscheiden kann, wann er oder sie in Rente gehen will, in welchem Umfang er oder sie noch arbeiten will.
({8})
Niemand soll gezwungen sein, bis 67 zu arbeiten; es soll
aber auch niemand gezwungen sein, mit 67 aufzuhören.
Wer nicht mehr kann und will, soll nach unserer Vorstellung ab 60 in Rente gehen können; wer kann, soll aber
auch länger arbeiten dürfen.
({9})
Es ist viel besser, die Barrieren für Gesunde, die länger
arbeiten wollen, abzubauen, als die Schwachen zu zwingen, länger zu arbeiten.
({10})
Wer erwerbsgemindert oder schwerbehindert ist, muss
auch weiterhin ab 63 ohne Abschläge in Rente gehen
können.
({11})
Wir brauchen eine Teilrente ab 60. Wir brauchen eine
Kultur der Altersteilzeit in den Betrieben, aber auch in
den Köpfen der Beschäftigten, insbesondere der Männer.
Wir brauchen mehr Arbeitszeitsouveränität, nicht nur,
aber vor allem im Alter: Wir brauchen nicht nur altersgerechte Arbeitsplätze, sondern auch altersgerechte Arbeitszeiten.
Zweitens. Wir müssen das Arbeitsleben insgesamt so
verändern, dass die Menschen bis 67 arbeiten können.
Das heißt: weniger psychische Belastungen, mehr Arbeitsschutz, mehr Gesundheitsprävention am Arbeitsplatz, mehr Weiterbildung, eine bessere Work-Life-Balance. Die Rente mit 67 bietet da aus unserer Sicht eher
eine Chance, weil sie den Lebensverlauf etwas entzerrt
und weniger Druck in der Rushhour des Lebens verursacht.
({12})
Drittens. Last, not least brauchen wir ein Mindestniveau in der Rente. Wir wollen, dass die Menschen im
Regelfall eine Rente erhalten, die zum Leben ausreicht,
und fordern deswegen die Grüne Garantierente: Wer
mehr als 30 Versicherungsjahre aufweist, muss sich darauf verlassen können, dass die Rente über dem Grundsicherungsniveau liegt. Die Zuschussrente von Frau von
der Leyen soll aber erst nach 45 Versicherungsjahren
und zusätzlich 35 Jahren privater Altersvorsorge gezahlt
werden.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Schutz vor
Armut, sondern Armutsbekämpfung für Auserwählte.
({14})
Aber es ist noch schlimmer: Erst werden 45 Versicherungsjahre in der Rentenversicherung und 35 Jahre Eigenvorsorge verlangt; danach wird die Eigenvorsorge
gegebenenfalls komplett wieder abgezogen: Alle, die die
Zuschussrente kriegen, erhalten 850 Euro. Das ist völlig
absurd.
({15})
Unsere Vorstellung ist das nicht. Die Grüne Garantierente garantiert ein Mindestniveau; sie garantiert auch:
Wer mehr einzahlt, bekommt auch eine höhere Rente.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der ökonomischen Vernunft.
Wir Grüne sind überzeugt, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze sinnvoll und für eine nachhaltige Finanzierung der Rente notwendig ist und sie den Beitragszahlerinnen und -zahlern sowie den Rentnerinnen und
Rentnern nützt, Herr Ernst. Wir brauchen aber flankierende Maßnahmen: mehr Freiheit und Selbstbestimmung
beim Übergang in den Ruhestand, eine andere Arbeitswelt, damit die Menschen länger arbeiten können, und
eine Rente, die effektiv vor Armut schützt. Daran sollten
wir alle gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Karl Schiewerling hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Herrn
Dr. Strengmann-Kuhn ausdrücklich dafür,
({0})
dass er in weiten Teilen seiner Darstellung gute sachliche Analysen geliefert hat. Wir stimmen zwar nicht in
allen Punkten überein, aber es war schon einmal wesentlich differenzierter als das, was wir vorher von der Opposition gehört haben.
({1})
Ich möchte einen Punkt aufgreifen, von dem ich
glaube, dass es notwendig ist, dass wir ihn in unser
Blickfeld rücken. Es geht um die Frage, in welcher Situation wir uns eigentlich befinden. Wir dürfen nicht
- wie Frau Ferner gesagt hat - die Augen und die Ohren
zumachen und nichts sehen und nichts hören wollen.
Wenn ein System gesellschaftlich stärker akzeptiert
und damit insgesamt gestärkt aus der Krise herausgekommen ist, dann ist es die Rentenversicherung.
({2})
Die Rentenversicherung genießt in der politischen Debatte eine so hohe Akzeptanz wie lange nicht mehr, und
darüber sind wir froh.
({3})
Ich sage Ihnen sehr deutlich, dass dies nur erhalten werden kann, wenn wir gegenüber den Grundlagen der Rentenversicherung nicht die Augen verschließen.
Es gelten einige Wahrheiten. Die erste Wahrheit ist:
Immer weniger junge Menschen müssen für immer mehr
ältere Menschen bezahlen.
({4})
Die zweite Wahrheit ist: Die Menschen zahlen immer
weniger Jahre in die Rentenkasse ein, werden aber immer länger aus der Rentenkasse versorgt. Die dritte
Wahrheit ist: Die Menschen bekommen monatlich vielleicht weniger Rente, aber bezogen auf ihre Lebenszeit
bekommen sie mehr Rente. Deswegen ist es notwendig,
dass wir die wenigen Stellschrauben, die wir in der gesetzlichen Rentenversicherung haben, richtig nutzen.
In Bezug auf die Stellschrauben haben wir mehrere
Möglichkeiten. Erstens. Wir erhöhen den Rentenversicherungsbeitrag, was die Arbeitskosten und die Arbeitnehmer belastet. Dazu sind in den vergangenen Jahren
Grundsatzentscheidungen herbeigeführt worden.
({5})
Zweitens. Wir erhöhen den Bundeszuschuss und damit
die Steuermittel, was all die Auswirkungen nach sich
zieht, die wir mittlerweile vor dem Hintergrund der
Staatsverschuldung kennen. Die dritte Möglichkeit, die
wir haben: Wir senken das Rentenversicherungsniveau
ab, sodass die Menschen im Alter noch weniger haben;
aber das ist nicht akzeptabel.
({6})
Es gibt noch eine vierte Möglichkeit: Wir verkürzen die
Rentenlaufzeit. Die Rente mit 67 ist nichts anderes.
Die Rente mit 67 ist in der Großen Koalition nicht mit
Hurra eingeführt worden, als etwas, mit dem wir mit
großer Begeisterung vor die Presse getreten sind, sondern aus der Erkenntnis, dass wir für die Zukunft der
Menschen in unserer Gesellschaft die Verantwortung tragen. Es sind nicht nur angenehme Antworten, die wir zu
geben haben, sondern Antworten, die sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientieren.
({7})
Der guten Ordnung halber will ich noch einmal darauf verweisen, was die Rente mit 67 bedeutet. Ab
nächstem Jahr arbeiten die Menschen einen Monat länger. Sie gehen nicht mit 65 Jahren in Rente, sondern mit
65 Jahren und einem Monat. Ich prophezeie Ihnen, dass
dadurch nicht das blanke Elend in Deutschland ausbrechen wird. Ich halte diesen Schritt für zwingend notwendig, weil wir ohne ihn keine schlüssigen Antworten auf
die Frage geben können, wie wir in Zukunft die für alle
wichtige umlagefinanzierte Rente erhalten können.
Wir haben mit dem Beschluss zur Einführung der
Rente mit 67 ein Begleitpaket geschnürt. Darin ist auch
die Frage geregelt, wie wir die Wirkung überprüfen könKarl Schiewerling
nen. Man kann natürlich zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, aber ich kann doch nicht die Augen davor verschließen, dass immer mehr ältere Menschen
immer länger erwerbstätig sind. Noch vor einigen Jahren
lag das Renteneintrittsalter bei 61 Jahren, heute liegt es
bei über 63 Jahren.
({8})
Die Menschen werden älter, sie können immer länger in
den Betrieben arbeiten. Das ist auch ein Teil der Wahrheit. Wir werden die Rente mit 67 in ihrer vollen Entfaltung erst im Jahre 2029 - je nach Rentenanrechnungszeit
2031, das will ich gerne konzedieren - erreicht haben.
Das müssen wir auch in den Blick nehmen.
({9})
Wir haben ferner beschlossen, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. So ist das Programm „50 plus“
aufgelegt worden. Es gab zahlreiche Initiativen, um
Menschen weiterhin in Beschäftigung zu halten oder in
Beschäftigung zu bringen, und das ist gelungen. Es gibt
viele Dinge, die sich gut entwickeln. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verschließen die Augen nicht davor, dass es auch Probleme gibt. Das wäre ja
Schönfärberei. Es ist doch nicht so, dass wir nicht mitbekommen, dass es Berufsfelder gibt, die große Probleme
hätten, wenn das Renteneintrittsalter heute vollumfänglich bei 67 Jahren liegen würde.
({10})
In diesen Berufsfeldern geht es darum, sich umzustellen.
Deswegen sind wir mit der Wirtschaft aufgefordert
- diese Forderung ist wichtig -, zum Beispiel im Bereich
der körperlich sehr anstrengenden Pflege und im Bereich
der körperlich sehr anstrengenden handwerklichen Berufe alles zu tun, damit die Menschen länger arbeiten
können; denn auch die Wirtschaft ist darauf angewiesen,
dass die Menschen länger arbeiten.
({11})
Wir diskutieren über Fachkräftemangel,
({12})
und wir diskutieren darüber, dass immer weniger Kinder
geboren werden. Aber es darf sich nichts ändern, und es
kann sich nichts ändern? In welcher Welt leben Sie denn
eigentlich?
({13})
Die Betriebe sind auf ihre Fachkräfte angewiesen.
Der Vertreter eines großen Industriebetriebes mit
25 000 Beschäftigten hat mir vor kurzem dargelegt, dass
2019 in seinem Betrieb über die Hälfte der Belegschaft
50 Jahre und älter sein wird, weil sie die Jüngeren nicht
bekommen. Maximal 8 Prozent der Beschäftigten in
dem Betrieb sind jünger als 20 Jahre.
({14})
Davor kann ich die Augen doch nicht verschließen.
Auch die Wirtschaft weiß dies. Deswegen muss sich die
Wirtschaft in diesem Bereich anstrengen, und sie wird
sich anstrengen; denn es ist, wie Konrad Adenauer gesagt hat: Sie müssen die Menschen nehmen, wie sie sind,
es gibt keine anderen. - Das ist die Realität, mit der wir
umgehen müssen.
({15})
Lassen Sie mich wagen, wenigstens noch einen Satz
zum Rentendialog zu sagen, zu dem immerhin der Präsident der Deutschen Rentenversicherung, Herbert Rische,
auf der letzten Bundesvertreterversammlung gesagt hat,
dass diese Form des Rentendialogs allen Respekt hervorzurufen hat; denn hier würden die Menschen auf breiter
Basis einbezogen. Ich glaube, dass die von der Ministerin auf den Weg gebrachte Zuschussrente Teil dieses
Dialoges ist.
({16})
Ich mache aber überhaupt keinen Hehl daraus, dass wir
hinter dem Anliegen der Bundesarbeitsministerin stehen,
dass gerade diejenigen unterstützt werden sollen, die in
ihrem Leben getan haben, was sie konnten, die Kinder
erzogen und ihre alten Angehörigen gepflegt haben und
deswegen keine auskömmliche Rente haben, das heißt,
keine Rente, die über dem Grundsicherungsniveau liegt.
Sie sollen entsprechend der Lebensleistung, die sie erbracht haben, unterstützt und gefördert werden.
({17})
Daran lasse ich keinen Zweifel. Es ist wichtig, dass auch
diese Menschen in Zukunft von der Rentenversicherung
eine Rente erhalten. Die Rentenversicherung muss für
den Teil, der steuerfinanziert ist, vonseiten des Bundes
die notwendigen Mittel erhalten, um diese Renten auszahlen zu können.
({18})
Herr Kollege, ist Ihnen bewusst, dass die Zeit mehr
als abgelaufen ist?
({0})
Ich sehe, dass Sie mich freundlich anblinken.
Wenn in dieser Diskussion eine Botschaft rüberkommen muss - danach höre ich auf -, dann ist es diese: Wir
haben allen Grund, auf diese Rentenversicherung stolz
zu sein. Sie hält unsere Gesellschaft zusammen. Sie fordert unsere Generationen aber auch heraus, und wir haben alles zu tun, was notwendig ist, damit sie ihre Leistungsfähigkeit behält. Dazu gehört auch die Rente mit 67.
({0})
Unser Kollege Anton Schaaf hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Karl Schiewerling, ich schätze dich ja sehr, aber, um ehrlich zu sein, so viel Unfug, wie du jetzt gerade in Bezug
auf die Zuschussrente und ihre Wirkung erzählt hast,
habe ich selten von dir gehört.
({0})
Wir überprüfen das einmal.
Frau von der Leyen, was mich wirklich umtreibt, ist
das, was in dieser Woche geschehen ist - Sie müssen
entschuldigen, dass ich nicht sofort auf die Rente mit 67
eingehe, aber das, was in dieser Woche geschehen ist, ist
wirklich einmalig -: Die Art und Weise, wie Sie den Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung abgemeiert
haben, weil er sich fachlich und sachlich zu Ihrem Vorschlag geäußert hat, ist unglaublich. Das ist ein unglaublicher Vorgang.
({1})
Sie haben vor dem Hintergrund Ihres Modells der Zuschussrente Dr. Rische allen Ernstes vorgeworfen, er
würde sozusagen mit einem Schulterzucken hinnehmen,
dass die Geringverdiener altersarm werden. Das haben
Sie ihm vorgeworfen.
Ihre Zuschussrente erreicht die Leute, die Geringverdiener, von denen Sie reden, jedoch überhaupt nicht.
({2})
Die Voraussetzungen sind nämlich so hoch, dass fast
niemand sie in Anspruch nehmen kann. Ich höre jetzt
aus Ihrem Hause, dass Sie vielleicht noch die Anerkennung der Erziehungs- und Pflegezeiten herausnehmen
wollen, damit die Zuschussrente mit dem Rentenversicherungssystem überhaupt noch irgendwie kompatibel
ist. Aber wenn Sie das machen, erreichen Sie noch weniger Menschen. Das, was Sie da betreiben, ist keine aktive Bekämpfung der Altersarmut.
Wie Sie sich gegenüber Dr. Rische verhalten haben,
halte ich für in dem Fall nicht nur sachlich und fachlich
falsch, sondern sogar für eine Unglaublichkeit. Das sage
ich Ihnen ganz deutlich, Frau Ministerin.
({3})
Schauen wir uns die Zuschussrente doch einmal an:
45 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zusätzlich 35 Jahre privat vorgesorgt - und dann kommt
Tante Ursula und sagt: Weil du so fleißig warst und mit
deiner Rente nicht auskommst, lege ich ein bisschen
was, sozusagen ein Almosen, obendrauf. - Ich sage: Wer
45 Jahre lang geklebt und selbst ein bisschen vorgesorgt
hat - das war zumindest immer unser Anspruch -, muss
von sich aus eine vernünftige, auskömmliche Rente haben und darf keine Zuschussrente brauchen.
({4})
Wo ist denn Ihr Beitrag, Frau von der Leyen, die gesetzliche Rentenversicherung zu stabilisieren und zukunftsfest zu machen? Genau das ist die Frage, die Sie
überhaupt nicht beantworten. Sie stellen sich mit viel Pathos hier hin und reden über diejenigen, die es verdient
haben, die zu Hause Kinder erzogen und die Eltern gepflegt haben. Natürlich haben die es verdient, aber mit
Armutsbekämpfung hat das nichts zu tun.
Ich erinnere nur an den Koalitionsvertrag, Karl
Schiewerling, und zwar an euren, nicht an unseren. Darin haben die Alterssicherung und die Bekämpfung der
Altersarmut Priorität. Irgendjemand muss einmal versuchen, mir zu erklären, wie diese Zuschussrente tatsächlich Altersarmut bekämpft.
Eigentlich ist es ziemlich zynisch, zu sagen: Wenn die
ein Leben lang gering verdient haben, dann helfe ich ihnen am Ende, wenn sie in Rente gehen, mit einem Almosen, damit sie über dem Sozialhilfeniveau sind.
({5})
Tun Sie lieber etwas gegen die Geringverdienerei! Tun
Sie etwas gegen prekäre Beschäftigung in diesem Land!
({6})
Sorgen Sie endlich dafür, dass die Menschen einen Mindestlohn haben und sich ordentliche Ansprüche erarbeiten können! Aber an dieser Stelle machen Sie überhaupt
nichts.
Der Eingliederungstitel ist schon erwähnt worden.
Insbesondere Menschen, die Handicaps und Schwächen
haben und deshalb nicht in den ersten Arbeitsmarkt
kommen, in einer konjunkturell guten Lage noch Gelder
wegzunehmen, statt sie noch mehr an die Hand zu nehmen und ihnen die Chance zu bieten, am Arbeitsmarkt
teilzuhaben, ist zynisch, Frau von der Leyen.
Zum Kollegen Kolb:
({7})
Herr Kolb, die Idee, dass man alle verpflichtet, sich zu
versichern und für das Alter vorzusorgen, ist prinzipiell
nicht verkehrt. Aber wer vor dem Hintergrund dessen,
was sich an den Finanzmärkten getan hat - wir wissen,
dass beispielsweise in den Vereinigten Staaten Hunderttausende, die sich für das Alter nur privat absichern
konnten, jetzt arm und pleite sind und sich Almosen vom
Staat holen müssen -, sagt: „Es ist egal, wo sie sich versichern. Aber wir wollen auf keinen Fall, dass sie sich in
der gesetzlichen Rentenversicherung versichern“,
({8})
der handelt entweder ziemlich fahrlässig, oder er ignoriert die Wirklichkeit.
({9})
- Ich lasse Ihre Zwischenfrage nicht zu, Herr Kolb.
({10})
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Versicherungspflicht.
Aber Sie wollen keine Verpflichtung dafür, sich in der
gesetzlichen Rentenversicherung versichern zu lassen.
Genau da sind wir anderer Meinung. Wir sind nämlich
der Meinung, dass alle die, die in irgendeiner Form erwerbstätig sind, gefälligst in die Rentenversicherung
einbezahlen sollten,
({11})
weil das nämlich der beste Schutz vor Altersarmut ist,
den wir in unserem System haben.
({12})
Herr Strengmann-Kuhn, viele Ihrer Argumente teile
ich; das ist überhaupt nicht die Frage. Ich bin auch nicht
grundsätzlich gegen ein höheres Renteneintrittsalter; darum geht es nicht. Aber Sie haben es doch selbst gesagt:
Wenn wir ab dem 1. Januar ein höheres Renteneintrittsalter haben, dann sind auf jeden Fall zumindest diejenigen gestraft, die nicht entscheiden können, ob sie in
Rente gehen oder nicht, sondern die in Rente gehen müssen, die quasi zwangsverrentet werden müssen, weil sie
nach dem SGB II Renten beantragen müssen. Dazu sagen Sozialdemokraten: Das machen wir nicht mit!
({13})
Deswegen sind wir der Meinung: Wir verschieben die
Einführung des höheren Renteneintrittsalters und regeln
erst einmal diese Sachverhalte.
Ich will einfach nicht hinnehmen, dass Menschen, die
dies nicht beeinflussen können, ab dem nächsten Jahr
dauerhaft höhere Rentenabschläge hinnehmen müssen.
Sozialdemokraten sagen: Zumindest bis wir solche Sachen geregelt haben, muss die Einführung eines höheren
Renteneintrittsalters verschoben werden. Das betrifft
übrigens auch gleitende Übergänge und Ähnliches.
Klaus Ernst, das ist nicht nur die Frage eines Prozentsatzes, sondern auch andere Bedingungen müssen schlichtweg stimmen.
Eine Bedingung kenne ich aus meiner Praxis. Ich
habe bei der Müllabfuhr gearbeitet. Die Arbeit dort ist
ziemlich hart; die Menschen arbeiten bei Wind und Wetter. Als Betriebsrat habe ich immer gesagt: Schwere Arbeit muss besser bezahlt werden. Irgendwann waren
diese Menschen kaputt und konnten nicht mehr arbeiten.
Daraufhin hat derselbe Betriebsrat, der diese schwere
Arbeit zugelassen hat, gesagt: Der Sozialstaat muss sich
jetzt um sie kümmern. Vielleicht hätten wir einmal darüber diskutieren sollen, wie wir die Menschen, die
schwer arbeiten, zum Beispiel auch in der Rente vernünftig absichern. Vielleicht hätten wir darüber diskutieren sollen, wie wir gute Arbeit schaffen, damit die
Menschen möglichst lange, bis nah an das Renteneintrittsalter, arbeiten können. Alle diese Probleme wollen
wir jetzt sozusagen über die Rentenversicherung lösen.
Auf dem Arbeitsmarkt, in den Betrieben, überall haben
wir Probleme geschaffen, die wir nun über die Rentenversicherung lösen wollen. An dieser Stelle können wir
einfach nicht mitmachen; wir müssen dies ändern.
({14})
Ich empfinde es nicht als dramatisch, dass man später
in Rente gehen soll, aber für diejenigen, die nicht mehr
arbeiten können, müssen wir vernünftige Übergänge
schaffen.
({15})
Elke Ferner hat völlig recht, wenn sie sagt, dass die Abschlagsregelung bei der Erwerbsminderungsrente abgeschafft werden muss. Die Menschen können nichts dafür, dass sie nicht mehr arbeiten können. Man darf sie
nicht zusätzlich zu ihrem gesundheitlichen Handicap belasten, indem man ihnen die Rente kürzt. Die Abschaffung dieser Regelung ist eine Voraussetzung dafür, dass
man ein höheres Renteneintrittsalter einführt.
({16})
Elke Ferner hat unseren Antrag ausführlich dargestellt. Wir werden bei dem Antrag der Linken mit Nein
stimmen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass es
keine Frage der Finanzierbarkeit ist; 0,5 Beitragssatzpunkte sind finanzierbar, auf die lange Strecke bis 2029
allemal. Eines ist klar: Wenn wir die Erhöhung des Renteneintrittsalters jetzt verschieben würden, Herr Kolb,
dann hätte man sozusagen nur Vorfinanzierungskosten;
denn irgendwann wird das Renteneintrittsalter erhöht.
Das würde also finanziell nichts ausmachen.
Mich treibt eher die Frage der Leistungsfähigkeit der
Gesellschaft um. Wir werden weniger Arbeitsfähige in
der Gesellschaft haben, wir werden unseren Wohlstand,
der verteilt werden soll, aber nach wie vor erarbeiten
müssen. Dies können wir mit kürzeren Lebensarbeitszeiten nicht schaffen. Wir müssen die Gesellschaft leistungsfähig halten. Darum geht es mir. Wenn man die Gesellschaft leistungsfähig halten möchte, kommt es in erster
Linie darauf an, dass man für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gute Bedingungen schafft, damit sie Leistung
erbringen können.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den
Kollegen Kolb.
Herr Kollege Schaaf, Sie haben meine Zwischenfrage
bedauerlicherweise nicht zugelassen. Deswegen muss
ich diese Kurzintervention nutzen, um eine falsche Wiedergabe unseres Konzepts für die Altersvorsorge der
Selbstständigen zu korrigieren. Sie haben gesagt, wir
wollten auf keinen Fall zulassen, dass Selbstständige in
die Rentenversicherung kommen. - Das ist so nicht richtig.
({0})
Unser Konzept sieht vor, dass es keine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung flächendeckend für jeden geben soll.
({1})
Vielmehr wollen wir, dass es eine Pflicht zur Versicherung gibt. Selbstverständlich müssen auch Selbstständige angehalten werden, in jedem Jahr ihrer Selbstständigkeit in einem ausreichenden Umfang vorzusorgen.
Ausreichender Umfang heißt, dass man so viel anspart,
dass es am Ende des Erwerbslebens zum armutsfreien
Leben im Alter reicht. Das ist unser Konzept.
Wir trauen den Menschen zu, selbst zu entscheiden,
wo sie sich versichern wollen. Jemand kann auch sagen:
Ich zahle freiwillig Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung. Ich persönlich tue das übrigens auch, weil
ich die gesetzliche Rentenversicherung als eine wichtige
Säule jeder persönlichen Altersvorsorge ansehe. Menschen, die selbstständig sind, die ein eigenes Unternehmen führen können, sind auch in der Lage, eine solche
Entscheidung zu treffen.
Übrigens lehnt auch der Sachverständigenrat der
Bundesregierung in seinem aktuellen Gutachten eine
Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung erneut ab. Er hat dies bereits in 2006 getan - das
war zu Ihrer Regierungszeit - und bekräftigt nun diese
Ablehnung. Unsere Ablehnung hat also durchaus kundige Fürsprecher.
({2})
Im Übrigen warne ich vor der Idee, jetzt eine Erwerbstätigenversicherung oder was auch immer einzuführen, um auf diese Weise neue Beitragszahler in die
gesetzliche Rentenversicherung zu holen. Das führt natürlich zunächst dazu, dass viele zusätzliche Beitragseinnahmen generiert werden. Aber auf lange Sicht entstehen dadurch auch Verpflichtungen für die gesetzliche
Rentenversicherung. Es spricht einiges dafür, dass die
Probleme 2030, 2035 kulminieren werden, weil sie dann
demografisch bedingt besonders gravierend sein werden.
Deswegen ist Ihr Vorschlag, die Erwerbstätigenversicherung, keine Lösung des Problems. Eine Pflicht zur Versicherung zu installieren, wäre aber, glaube ich, sehr zielführend.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Herr Schaaf zur Antwort, bitte.
Sehen Sie, Herr Kolb: Mich treibt um, dass es mittlerweile eindeutige Zahlen gibt, wie hoch die Rendite der
Riester-Rente ist.
({0})
- Ja. Aber man muss auch dazulernen dürfen und zur
Kenntnis nehmen: Die Rendite der Riester-Rente ist im
Moment der staatliche Zuschuss und sonst gar nichts. An
zusätzlicher Rendite kommt für die Menschen, die in
eine Riester-Rente investieren, nicht viel heraus. Die
Menschen, die privat vorgesorgt haben, haben in den
letzten Monaten und Jahren höllische Angst gehabt, dass
ihre Altersvorsorge flöten geht, weil die Finanzmärkte
zusammengebrochen sind.
({1})
In Amerika, wo das System der Altersvorsorge fast
ausschließlich privat organisiert ist, sind Hunderttausende von Menschen aufgrund der Finanzkrise altersarm. In so einer Zeit zu sagen: „Die Menschen sollen
selbst überlegen, was sie machen, und sich irgendwie
privat absichern“, halte ich für fahrlässig. Das ist der
Punkt.
({2})
Das System, das den Menschen in der Vergangenheit
am meisten Sicherheit geboten hat und bei dem sich jeder sicher sein konnte, dass es funktioniert, war das Rentenversicherungssystem - paritätisch und solidarisch. An
dieser Stelle wird es spannend. Sie haben nämlich ein
Problem mit dem Wort „solidarisch“. Sie glauben, jedem
ist geholfen, wenn er sich selber hilft. Wir glauben, dass
eine große, starke Gemeinschaft wie die Rentenversicherung, die auf Parität und Umlageverfahren beruht, den
Menschen auch in Zukunft viel mehr Sicherheit bietet.
({3})
Der Kollege Pascal Kober hat das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
glaube, Sie unterschätzen die Menschen.
({0})
Ich denke, die Menschen wissen sehr genau, dass uns die
zu erwartende demografische Entwicklung, die unabwendbar ist, zum Handeln zwingt. Lieber Herr Ernst, ich
möchte Ihnen das an zwei Zahlen deutlich machen.
Im Jahr 2009, also vor zwei Jahren, sind ganz genau
651 000 Kinder geboren worden. Wir wissen, dass rückwirkend kein einziges hinzugefügt werden kann. Wenn
die Rente mit 67 im Jahr 2029 vollumfänglich zur Geltung kommt, werden diese Kinder 20 Jahre alt sein, ihre
Berufsausbildung abgeschlossen oder gerade ein Studium begonnen haben. In diesem Jahr, 2029, werden
1,35 Millionen Menschen in den Ruhestand gehen. Allein dieses Zahlenverhältnis zeigt, dass wir handeln müssen.
Ich kann Ihnen das auch an einer anderen Zahl deutlich machen. Im Jahr 1970 waren es fünf Beitragszahler,
die eine Rente finanziert haben, im Jahr 2000 nur noch
drei. Wenn sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern
und Rentnern nicht weiter zuungunsten der Beitragszahler verschieben soll, dann müssen wir handeln. Die Menschen verstehen das und werden sich von Ihnen keine
Angst machen lassen. Aus Gründen der Generationengerechtigkeit war es richtig, hier zu handeln. Wir werden
uns von diesem richtigen Weg nicht abkehren.
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Ernst. Es ist
nicht so, dass wir den Menschen Rentenzeit bzw. Lebenszeit stehlen würden. Vor 50 Jahren betrug die durchschnittliche Rentenbezugsdauer 10 Jahre, heute sind es
18 Jahre. Ich halte es auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit für vertretbar, dass wir das Renteneintrittsalter maßvoll und in kleinen Schritten bis 2029 erhöhen - wohlgemerkt, die Rente mit 67 trifft erst die
Jahrgänge ab 1964, also diejenigen, die heute 47 Jahre
alt sind -, damit die Rentenversicherung auch in Zukunft
stabil und finanzierbar bleibt.
Ich glaube, dass die Politik auf dem richtigen Weg ist.
Wir dürfen den Menschen allerdings keine Angst machen. Ich glaube nicht, dass wir das Rad rückwärts drehen müssen. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass der
unabweisbare Trend, dass immer mehr ältere Menschen
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, anhalten
und sich in Zukunft weiter verstärken wird. Wir müssen
die Menschen und die Betriebe dabei unterstützen, sich
darauf einzustellen, dass in Zukunft mehr ältere Menschen arbeiten wollen. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung - die Bundesarbeitsministerin Ursula von
der Leyen vorneweg - Initiativen wie beispielsweise das
Demografie-Netzwerk unterstützt. In diesem Rahmen
haben sich über 220 Unternehmen zusammengeschlossen, um Wissenstransfer zu leisten und Tipps, wie Menschen bei guter Gesundheit längere Zeit in einem Betrieb
arbeiten können, auszutauschen.
Was wir jetzt brauchen, sind neue Konzepte, beispielsweise eine innovativere Berufsbildungspolitik, mit
der es in Zukunft vielleicht möglich sein kann, auch in
einem höheren Alter noch einmal einen neuen Beruf zu
lernen, damit, wenn es in dem einen Beruf nicht mehr
weitergeht, in einem neuen Beruf eine Erwerbstätigkeit
bis ins hohe Alter möglich ist.
Lieber Herr Ernst, ich glaube, Sie sollten den Menschen lieber Mut statt Angst machen. Sie sollten in die
Zukunft schauen, statt rückwärtsgewandte Politik zu betreiben. Lieber Herr Ernst, wenn Sie das machen, dann
werden Sie meine Unterstützung haben.
Vielen Dank.
({1})
Matthias Birkwald hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Als Erstes möchte ich einmal
ein paar Worte zur SPD sagen.
({0})
Ihr Kollege, unser Bundestagskollege Ottmar Schreiner,
hat auf Ihrem Bundesparteitag eine hervorragende und
engagierte Rede zur Rentenpolitik und gegen Altersarmut gehalten. Man muss deutlich sagen: Die SPD ist seinen vernünftigen Vorschlägen leider nicht gefolgt.
({1})
Deshalb müssen die Menschen wissen - wir haben das
gerade noch einmal gehört -: Die SPD hält weiterhin
grundsätzlich an der Rente erst ab 67 fest. Sie will sie
nur so lange aussetzen, bis die Hälfte aller 60- bis
64-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung steht.
Wenn alles so weiterliefe wie bisher, dann wäre das frühestens in 16 Jahren, also 2027, der Fall. Frau Ministerin, auch einmal zu Ihren Zahlen: Das wäre ein Aufwuchs von 1,5 Prozentpunkten pro Jahr. Mehr ist das
nicht! Ich sage nur: Das ist Wischiwaschi. Entscheiden
Sie sich, liebe SPD!
({2})
So traurig es auch ist: Wer SPD sagt, wird auch weiterhin an Rentenkahlschlag denken müssen. Das ist die
Wahrheit.
({3})
Besonders hart würden die geforderten zwei Jahre Arbeit zusätzlich bis zur Rente jene treffen, die schon heute
aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie als ältere
Menschen einfach keinen Job mehr finden, vorzeitig in
Rente gehen müssen. Chemiearbeiter, Chemiearbeiterinnen, Elektriker und Elektrikerinnen gehen heute zum
Beispiel im Durchschnitt mit 62 Jahren in die Rente.
Knapp 70 Prozent von ihnen müssen Rentenkürzungen
hinnehmen. Bauarbeiter gehen mit knapp 63 Jahren in
die Rente - drei von fünf mit Abschlägen.
Auf diese bereits schlechte Ausgangslage setzen Sie
mit der Rente erst ab 67 nun noch einen obendrauf. Das
heißt, Sie werden Arbeitgebern Milliarden in die Tasche
spülen, und vor allem werden die Renten der Betroffenen massenhaft gekürzt werden. Das ist die drohende
Wirklichkeit der Rente erst ab 67, und genau das will die
Linke verhindern.
({4})
Es heißt ja - wir haben das heute wieder gehört -, wer
länger lebt, könne länger arbeiten. Das ist an sich schon
falsch; denn die Rente erst ab 67 wird die Menschen weder gesünder machen noch haufenweise neue Jobs für
Ältere hervorbringen. Wo sollen die denn herkommen?
({5})
Es kommt aber noch viel schlimmer. Die Lebenserwartung steigt nicht für alle Menschen, Herr Kolb. Im
Gegenteil!
({6})
- Hören Sie jetzt bitte gut zu, damit Sie nicht wieder so
einen Unsinn erzählen.
({7})
Die durchschnittliche Lebenszeit von Männern mit niedrigen oder niedrigsten Löhnen hat sich in den vergangenen zehn Jahren nämlich nicht etwa erhöht, sondern sie
hat sich um zwei Jahre verkürzt.
({8})
Im Osten hat sich die durchschnittliche Lebenszeit geringverdienender Männer sogar um fast vier Jahre verringert.
({9})
Herr Kollege.
All diese Zahlen können Sie in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage nachlesen, und
die Deutsche Rentenversicherung hat sie bestätigt.
({0})
Der Herr Weiß würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön, Herr Weiß.
Bitte, Herr Weiß.
Herr Kollege Birkwald, nachdem bereits die Vorrednerin, Frau Bundesministerin von der Leyen, und auch
die Vorredner der Regierungsfraktionen Sie darauf hingewiesen haben, dass Sie die Zahlen schlichtweg falsch
wiedergeben,
({0})
frage ich Sie: Würden Sie jetzt endlich einmal zugestehen, dass das, was Sie vortragen, schlichtweg falsch ist?
({1})
Es ist schlichtweg falsch, und Sie haben eine üble
Falschmeldung in die Presse gesetzt, weil Sie die Sterbetafeln der Deutschen Rentenversicherung mit den Untersuchungen zur Lebenserwartung verwechseln.
({2})
Das ist der grundlegende Fehler, den Sie gemacht haben.
Die Untersuchungen der Deutschen Rentenversicherung, die Sie nachlesen können, bestätigen für alle Einkommensgruppierungen eine steigende Lebenserwartung. Genauso bestätigt das Statistische Bundesamt
({3})
steigende Lebenserwartungen für alle Bevölkerungsgruppen in Deutschland.
({4})
Ich bitte Sie jetzt herzlich, hier im Plenum des Deutschen Bundestages endlich diesen Fehler einzugestehen.
Sterbetafel hat nichts mit Lebenserwartungstafel zu tun.
Lesen Sie bitte die richtige Statistik, und geben Sie die
bitte hier wieder.
Herr Weiß, Sie müssen jetzt wirklich sehr tapfer sein,
und Sie auch, Herr Kolb. Jetzt passen Sie einmal auf.
Schauen Sie doch bitte alle einmal auf Seite 19 der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage nach.
Da heißt es in der Antwort der Bundesregierung:
Die durchschnittliche Bezugsdauer … ist … gestiegen … Dies spiegelt … die Zunahme der Lebenserwartung … wider.
Damit beziehen Sie sich auf den Durchschnitt über
alle. Wenn dieser Satz richtig ist, dann ist eine gesunkene Rentenbezugsbedauer natürlich auch ein Beleg für
eine gesunkene Lebenserwartung.
({0})
- Selbstverständlich! Jetzt hören Sie einmal zu. Sie müssen rechnen können.
({1})
- Wollen Sie jetzt eine Antwort haben oder nicht? Schauen Sie in den Anhang auf Seite 46 ff. Schauen Sie
sich in der PDF-Datei die Seiten 96 ff. an. Da geht es um
fast 16 400 Fälle, Männer. Das sind diejenigen, die nach
dem 65. Lebensjahr als langjährig Versicherte Rente bezogen haben. Da müssen Sie nur ganz einfach rechnen.
Wenn Sie ein durchschnittliches Sterbealter ausrechnen
wollen, dann müssen Sie sich ansehen, wie lange die
Rentenbezugsdauer war. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bei geringverdienenden Männern nach dem
65. Lebensjahr betrug im Jahr 2001 12,5 Jahre. Im Jahre
2010 waren es 10,5 Jahre. Das sind zwei Jahre weniger
oder minus 16 Prozent. Wer rechnen kann, ist klar im
Vorteil.
({2})
Wenn jetzt behauptet wird, Herr Weiß, das seien zu
geringe Fallzahlen: Diese über 16 000 Männer sind
7,4 Prozent aller Betroffenen. Sie können das gerne
nachrechnen. Die Zahlen stimmen. Das haben auch Journalisten gemacht und anschließend schreiben können.
Das Dementi der Regierung war sehr verhalten. Denn es
stimmt selbstverständlich, was ich Ihnen hier erzähle.
({3})
Bleiben wir dabei: Sie wollen den Menschen unter
diesen Bedingungen noch zwei Jahre länger Arbeiten
oder gekürzte Renten zumuten. Da sage ich: Das ist eine
Verhöhnung der Betroffenen und ein sozialpolitischer
Super-GAU, ein Super-GAU, den Union, SPD, FDP und
Grüne zu verantworten haben; denn de facto wird die
Rentenzahlung gerade für Männer mit geringen Einkommen mit der Rente erst ab 67 um bis zu sechs Jahre verkürzt, wenn es bis zum Ende gerechnet wird. Das ist Sozialpolitik mit dem Hackebeil. Auch deswegen fordert
die Linke: Weg mit der Rente erst ab 67, ohne Wenn und
Aber.
({4})
Meine Damen und Herren, eine drastische Rentenkürzung, wie es Herr Schiewerling eben gesagt hat, ist nicht
die Alternative zur Rente erst ab 67. Das wird ja fälschlicherweise immer wieder behauptet. Im Gegenteil: Sie ist
die unvermeidliche Folge der verordneten längeren Lebensarbeitszeit.
Die von Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen, als
drastisch bezeichneten höheren Beiträge, die nötig wären, um die Rente erst ab 67 zu verhindern, schrumpfen
bei genauerer Betrachtung - das ist hier schon gesagt
worden - auf einen halben Beitragssatzpunkt bis zum
Jahre 2030 zusammen. Bei einem heutigen Durchschnittsverdienst wären das knapp 6,30 Euro im Monat.
Das wäre allemal besser als gekürzte Renten im Alter.
({5})
Aber selbst das muss in diesem Umfang nicht sein.
Deswegen fordere ich Sie auf: Verzichten Sie auf die geplanten Beitragssatzsenkungen. Dann kann in den kommenden Jahren die Rente finanziert werden, ohne dass
das Renteneintrittsalter angehoben werden muss.
Meine Damen und meine Herren, es ist nicht sinnvoll,
starr an einer Altersgrenze als Voraussetzung für eine
Rente festzuhalten. Die Linke sagt, wir brauchen auch
flexible Übergänge in den Ruhestand. Denken Sie beispielsweise an Fliesenleger, Altenpfleger, Krankenschwestern und Erzieherinnen, oder denken Sie an
Gerüstbauer und Sanitäter. Die Linke will, dass beispielsweise Menschen wie diese, die 40 Jahre Beiträge
in die Rentenkasse eingezahlt haben, vor dem 65. Geburtstag in Rente gehen dürfen, und zwar ohne Kürzungen. Das wäre gerecht.
({6})
Meine Damen und Herren, unsere Rentenpolitik geht
weit über die notwendige Kritik an der Rente erst ab 67
hinaus. Das linke Rentenkonzept werden wir im kommenden Jahr hier zur Diskussion stellen. Drei Punkte
werden dabei von zentraler Bedeutung sein: Erstens.
Linke Rentenpolitik sichert den Lebensstandard. Zweitens. Linke Rentenpolitik schützt vor Altersarmut. Drittens ist unsere linke Rentenpolitik
({7})
geprägt vom Prinzip der Solidarität
({8})
und bezahlbar.
({9})
Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Max
Straubinger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Rechenkünste des Kollegen Birkwald sind hier wieder dargelegt worden. Sie zeigen letztendlich: Sie sind
immer noch kommunistisch angehaucht,
({0})
und mit den kommunistischen Rechenkünsten hat man
noch nie gute Ziele und erst recht keine richtigen Ergebnisse erreicht.
({1})
Wir reden wiederum, zum x-ten Mal, über das Thema
„Rente mit 67“. Ich möchte vorweg feststellen, dass die
Rente mit 67 eine Antwort auf die demografische Entwicklung in Deutschland ist.
Herr Kollege Birkwald, Sie können gerne Äpfel mit
Birnen und Sonstigem in Vergleich setzen. Dabei kommt
immer Falsches heraus. Das führt zum Beispiel zu der
Behauptung, die Rentenbezugsdauer hätte abgenommen,
die Leute würden früher sterben. Eine sinkende Rentenbezugsdauer kann auch damit zu tun haben, dass die
Menschen später in Rente gehen, weil wir die Frühverrentungsmöglichkeiten reduziert bzw. abgeschafft haben. Auch deshalb mag unter Umständen eine kürzere
Rentenbezugsdauer herauskommen.
({2})
Herr Straubinger, möchten Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Birkwald zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Straubinger, es ist natürlich nicht so,
wie Sie sagen. Es sind ausschließlich die Fallzahlen von
Menschen, die ihr Leben bereits gelebt haben, verwendet
worden,
({0})
und zwar mit den Rentenbezugsjahren nach dem 65. Geburtstag.
Ich bitte Sie, mir jetzt, bitte schön, einmal einen Fall
zu nennen - außer dem Sterbefall -, der ein Grund für
den Wegfall einer Rente von geringverdienenden Männern sein könnte, die nach dem 65. Geburtstag Rente bezogen haben.
({1})
Herr Kollege Birkwald, es ist auch sehr schön in der
Sächsischen Zeitung wiedergegeben. Ich zitiere daraus:
Ein Lehrbeispiel, wie auch mit korrekten statistischen Zahlen - vorsichtig formuliert - unseriös
Politik gemacht werden kann, lieferte gerade die
Linksfraktion im Deutschen Bundestag.
({0})
Das zeigt sehr deutlich: Das ist letztendlich - ({1})
- Das ist die Antwort.
({2})
- Herr Kollege Ernst, weil Sie gerade dazwischenrufen:
Ich würde Ihnen gerne einen guten Rat geben. Sie sind ja
derzeit im Kampf um den Parteivorsitz. Da geht es auch
darum, dass Sie irgendwo wieder Zustimmung erhalten.
Aber Sie sollten nicht kritiklos alles unterschreiben.
Es ist ja toll, was den Linken alles einfällt, um Begründungen zu liefern, warum die Rente mit 67 unsozial
sei. In Ihrem Entschließungsantrag steht als eine dieser
Begründungen auch - ich zitiere -:
Die Zahl der Ausbildungsplätze sinkt, die jungen
Menschen verbleiben immer länger in Warteschleifen und die Qualität der Arbeitsplätze lässt immer
mehr zu wünschen übrig.
Werte Kolleginnen und Kollegen der linken Fraktion,
dann sollten Sie aber einmal die Ergebnisse in diesem
Bereich betrachten. Vorhin ist die Meldung gekommen,
dass im Jahr 2011 540 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden. Das ist ein Plus von 4 Prozent bzw.
von 20 700 Verträgen. Außerdem hat der DIHK jüngst
gemeldet, dass 70 000 Ausbildungsplätze nicht besetzt
werden konnten. Das ist die Realität.
Sie wollen dazu beitragen, in unserer Gesellschaft ein
Zerrbild dieser Realität zu erzeugen.
({3})
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Lieber
Kollege Ernst, deshalb sollten Sie besser darauf schauen,
was Sie mit unterschreiben. Sonst kommen Sie in denselben Sog.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich hatte meine
Rede mit der Feststellung begonnen, dass die Rente mit
67 eine Antwort auf die demografische Entwicklung in
Deutschland ist. Das ist unbestritten. Bis zum Jahr 2029
wird die Lebenserwartung bei uns um drei Jahre steigen.
({4})
Das bedeutet auch, dass dann natürlich länger gearbeitet werden muss. Toni Schaaf hat zumindest in gewisser Weise anerkannt, dass länger gearbeitet werden
muss. Allerdings drückt sich die SPD dann um die AntMax Straubinger
wort und will die Rente mit 67, die sie in der Großen Koalition unter dem tatkräftigen Einsatz des damaligen
Bundesarbeitsministers Franz Müntefering mit verabschiedet hat, nicht mehr mittragen.
Das Ganze ist auch ein Gebot der Generationengerechtigkeit. Es geht natürlich auch um Beiträge. Die
Linke-Fraktion hat hier so einfach gesagt - das hat auch
der Kollege Schaaf ganz locker gemacht -: Das sind
doch nur 0,5 Prozent. Aber es geht darum, dass die junge
Generation nicht grenzenlos mit Beiträgen, mit Abgaben, mit Steuern zu belasten ist,
({5})
denn sie will auch netto etwas in der Tasche haben.
({6})
Deshalb geht es bei der Entscheidung über die Rente
mit 67 darum, die Demografiefestigkeit unseres Rentenversicherungssystems herauszustellen, und darüber hinaus auch um Generationengerechtigkeit gegenüber den
jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft. Ich frage
mich, wie die SPD begründen will, dass die Rente mit 67
jetzt nicht umsetzbar sei und erst dann umgesetzt werden
könne, wenn 50 Prozent der Menschen vom 60. bis zum
64. Lebensjahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt
seien.
Herr Kollege Schaaf, Frau Kollegin Ferner, wenn sie
noch da ist, Eurostat hat für September 2010 ermittelt,
dass 48,6 Prozent der Menschen in Deutschland zwischen 40 und 60 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sind. Das zeigt sehr deutlich, dass Sie
sich knallhart und nur mit etwas schöneren Worten von
der Rente mit 67 verabschieden und damit den gleichen
Fehler wie 1998 begehen wollen, als Sie die Einführung
des demografischen Faktors in der gesetzlichen Rentenversicherung verhindert bzw. ausgesetzt haben und
plötzlich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder
aufgewacht ist und festgestellt hat, dass das sein größter
Fehler war.
Sie haben möglicherweise damit zwar die Bundestagswahl gewonnen, aber nichts für die älteren Menschen und für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland getan, nämlich dafür zu sorgen, dass es weiterhin
eine sichere und verlässliche Versorgung im Alter gibt,
gestützt auf die gesetzliche Rentenversicherung, auf die
betriebliche Altersversorgung und zusätzlich auf die private, kapitalgedeckte Versorgung, die mit anzustreben
ist.
Bei der Zuschussrente, die die Frau Ministerin vorgeschlagen hat, Herr Kollege Schaaf, müssen die Versicherungszeiten nicht nur Beitragszeiten sein, sondern hierzu
zählen auch Zeiten der Arbeitslosigkeit, des Mutterschutzes, der Ausbildung und andere relevante Zeiten.
Damit ist es ein Leichtes, 45 Versicherungsjahre zu erreichen.
({7})
In diesem Sinne: Lasst uns die kommenden Aufgaben
angehen. Die Rente und vor allen Dingen die Rentenpolitik sind bei dieser Bundesregierung am besten aufgehoben.
Danke schön.
({8})
Johannes Vogel hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
haben uns mit Ihrer Großen Anfrage diese erneute Rentendebatte beschert, aber in der Tat wird sie von dieser
wirklich bemerkenswerten
({0})
- nein! - Verhetzung überlagert, die Sie in den letzten
Tagen in die Presse gebracht haben, Herr Birkwald. Es
ist schon mehrfach ausgeführt worden, welcher Quatsch
das ist. Die einzige Stelle, die in Deutschland wirklich
belastbare und seriöse Daten über die Lebenserwartung
erhebt, ist das Statistische Bundesamt. Das Bundesamt
sagt ganz klar: Die Lebenserwartung ist über alle Einkommensgruppen hinweg gestiegen, Herr Birkwald.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Frage der politischen
Auseinandersetzung und des Stils unserer Auseinandersetzung. Der Kollege Fricke rief mir eben bei Ihrer
Rechnung zu: Jetzt wissen wir wenigstens, warum die
DDR damals pleite gegangen ist. Aber auf dem Niveau
will ich mich mit Ihnen gar nicht weiter unterhalten.
({1})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Sie haben heute oft
genug versucht, zu erklären, wie Sie zu dieser Rechnung
kommen. - Ich will ganz offen sagen: Man kann Fakten
politisch unterschiedlich bewerten. Aber Fakten zu verdrehen, Herr Birkwald, ist - das finde ich ganz persönlich - unter Ihrem Niveau. Das ist schade.
({2})
Viel interessanter finde ich, was die SPD in dieser Debatte abgeliefert hat. Wie Sie hier um das Thema Rente
mit 67 herumgetanzt sind, ist wirklich interessant.
Ein Punkt ist: Sie wollen es nicht gewesen sein. Es sei
ja nur die CDU/CSU gewesen.
({3})
- Doch. Sie haben gesagt, die CDU/CSU habe es durchgesetzt, und Sie hätten den Kompromiss unter Schmerzen vertreten.
({4})
- Das ist das, was Sie behaupten.
Johannes Vogel ({5})
Ich erinnere mich hingegen auch, dass der damalige
Arbeits- und Sozialminister Müntefering das Thema
Rente mit 67 aus Überzeugung und sehr offensiv vertreten hat. Er hat das ja aus gutem Grund getan, Frau Kollegin Ferner: weil die Lebenserwartung gestiegen ist. Das
ist eine gute Nachricht.
Als das Renteneintrittsalter mit 65 festgelegt wurde,
lag die Lebenserwartung von Frauen 20 Jahre unter der
heutigen, die von Männern 30 Jahre darunter. Dass wir
die Menschen zwei von diesen gewonnenen 30 Jahren
arbeiten lassen wollen, ist ein selbstverständlicher
Schluss, und es ist eine gute Nachricht.
({6})
Frau Kollegin Ferner, Sie haben immer wieder gesagt,
man müsse das darauf überprüfen, ob es mit der Arbeitsmarktlage zusammenpassen würde.
({7})
Interessant ist, welche Voraussetzungen Sie dafür nennen. Sie sagen plötzlich, 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen müssten sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sein. Interessant ist, dass Sie diese Forderung nie erhoben haben, als Sie in der Regierung waren. Sie haben sie
plötzlich aus dem Hut gezaubert.
({8})
Das ist völlige Willkür. Sie schauen sich nämlich die
Zahlen nicht richtig an. Frau Kollegin Ferner, lassen Sie
uns ansehen, wie sich die Zahlen wirklich entwickelt haben. Sie können nicht die Gesamtquote nehmen - die
kannten Sie schon -, sondern wir müssen den Blick darauf richten, wie die Entwicklung in den letzten fünf Jahren war. Die Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt war doch grandios: Es gibt mehr Perspektiven für
Ältere. Den Weg müssen wir fortsetzen.
Wie gesagt: Es gibt mehr Perspektiven. Bei den 60bis 65-Jährigen hat sich in den letzten fünf Jahren die
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um
40 Prozent erhöht.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was
haben Sie sich denn gewünscht? Wenn Sie ehrlich wären, dann müssten Sie zugeben: Die Entwicklung ist besser, als Sie es sich je erhofft haben. Der einzige Grund,
warum Sie von der Rente mit 67 wegtänzeln, ist, dass
Sie den Kollegen Rechenkünstlern von den Linken hinterherlaufen. So kann man aber keine verantwortungsvolle Politik machen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition.
({10})
Sie denken an Ihre Redezeit.
Ich denke an die Redezeit.
({0})
Nicht nur denken.
Ich komme zum Schluss.
Wir bekennen uns zu einem generationengerechten
Rentensystem. Deshalb bekennen wir uns zu den Beitragszielen. Wir bekennen uns zur Rente mit 67. Wir sorgen für mehr Flexibilität im aktuellen Rentendialog,
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, statt nur darüber zu reden. Und wir investieren auch in die Qualifikation der
Beschäftigten, um den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass
er zu einer Rente mit 67 passt, wenn wir sie 2030 haben
werden.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das wirklich Bemerkenswerte in der deutschen Rentenpolitik ist, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, die schon einige sogenannte
Experten für krank und nicht mehr zu retten erklärt haben,
besser dasteht denn je. Wir haben 1,4 Monatsausgaben auf
der hohen Kante. Eine so hohe Rücklage hat es in der
Rentenversicherung selten gegeben.
Wir haben zum 1. Januar 2012 die Möglichkeit, den
Rentenversicherungsbeitrag von 19,9 auf 19,6 Prozent
zu senken und damit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bares Geld in der Tasche zu belassen. Das ist
ein großer Erfolg.
({0})
Wir werden aller Voraussicht nach die Möglichkeit haben, dass ab 1. Juli nächsten Jahres die Renten im Westen um 2,3 und im Osten um 3,2 Prozent steigen.
Dass wir seit langem so hervorragend dastehen, ist
auf die Reformpolitik in der Rente und gleichzeitig auf
die gute wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre
zurückzuführen. Darauf sollten wir stolz sein.
Peter Weiß ({1})
({2})
Es muss ein Motto geben: Keine Rolle rückwärts in
der Rentenpolitik. Denn damit gefährden wir die Erfolge, die wir bis heute erreicht haben.
({3})
Das Statistische Bundesamt sagt uns: Die Lebenserwartung für jeden von uns steigt kontinuierlich um etwa
sechs Wochen pro Jahr an.
({4})
Wenn diejenigen, die in den kommenden Jahren in Rente
gehen, die Chance haben, fünf oder zehn Jahre länger
Rente zu beziehen, als es ihre Großeltern und Eltern
konnten, dann ist es doch eine Frage der Gerechtigkeit,
ob man bereit ist, eventuell etwas länger zu arbeiten und
nicht alle Kosten bei den Jungen abzuladen.
({5})
Solidarität ist das Prinzip unserer Sozialversicherung,
Solidarität zwischen Jung und Alt. Die wollen wir stärken, die Linken wollen sie in Wahrheit zerstören.
({6})
Das Schlimme ist, dass die Linken heute in der Debatte
und zuvor in ihrer Presseerklärung schlichtweg eine
Falschmeldung in die Welt gesetzt haben. Würden die
Linken sich die Mühe machen, die Veröffentlichungen der
Deutschen Rentenversicherung regelmäßig zu lesen, und
zwar genau, wäre ihnen zum Beispiel auch die Untersuchung der Deutschen Rentenversicherung zur Lebenserwartung der Rentnerinnen und Rentner aufgefallen, in der
festgestellt wird, dass für alle Bevölkerungsgruppen die
Lebenserwartung steigt. Auch für die sogenannten Geringverdiener ist sie zum Beispiel nach dieser Untersuchung zwischen 1994 und 2001 um 1,5 Jahre gestiegen.
Deswegen muss an dieser Stelle klargestellt werden: Die
Linke lügt und will mit diesen falschen, verlogenen Behauptungen hier Politik machen. Das weisen wir mit aller
Entschiedenheit zurück.
({7})
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
aus der Fraktion Die Linke?
Gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Weiß, den Vorwurf der Lüge weise ich
natürlich in aller Schärfe zurück.
({0})
Ich will Sie darauf hinweisen, dass Sie in der Antwort
der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage nachlesen können, dass bei einer Fallzahl von fast 16 400 Männern mit weniger als 0,75 Entgeltpunkten, also Männern,
die weniger als drei Viertel des Durchschnitts verdient
haben, 14 570 in der Untersuchung sind, die zwischen
der Hälfte und drei Viertel des Durchschnitts verdient
haben. Diese Zahlen sind aussagekräftig. Es handelt sich
nicht um Erwartungen, es ist keine Theorie, sondern es
sind Fakten. Diese Männer haben gelebt, sie haben lange
Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet, und sie
sind gestorben. Sie hatten eine verkürzte Rentenbezugsdauer. Ich sage es Ihnen noch einmal: Bei den Männern,
die zwischen der Hälfte und drei Viertel des Durchschnitts verdient haben, ist die Bezugsdauer von 2001
bis 2010 von 12,5 auf 10,5 Jahre gesunken und das Sterbealter von 77,5 Jahre auf 75,5 Jahre. Da können Sie
nicht sagen, dass wir lügen. Wenn Sie diese Zahlen zurückweisen, dann schämen Sie sich offenkundig, und
dann fällt der Vorwurf der Lüge auf Sie zurück.
({1})
Einige wenige könnten überhaupt nicht einen solchen
Trend beeinflussen; denn die sinkende Rentenbezugsdauer findet sich nicht nur zwischen dem Jahr 2001 und
dem Jahr 2010, sondern über die Kalenderjahre hinweg
bei der unteren Einkommensgruppe, und zwar fast konstant. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen. Sie
können die Zahlen nachlesen. Sie sind signifikant. Keiner von uns bezweifelt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland gestiegen ist. Auch das
haben Sie wieder erzählt. Das gilt aber eben nicht für
alle. Es gibt Gruppen, deren Lebenserwartung sinkt.
Dazu gehören geringverdienende Männer. Erkennen Sie
das bitte endlich an.
({2})
Herr Birkwald, ich habe schon mit meiner Zwischenfrage versucht, Ihnen zu erklären, dass Sie schlichtweg
Sterbetafeln - diese geben die Zahl der Gestorbenen an mit Erhebungen über die Lebenserwartung vergleichen.
({0})
Genauso hat Ihnen Herr Straubinger gesagt, dass es
falsch ist, die Rentenbezugsdauer mit der Lebenserwartung zu vergleichen. Jetzt will ich Ihnen die entscheidende Antwort der Rentenversicherung geben. Ich bitte
Sie, unter den Veröffentlichungen der Deutschen Rentenversicherung den Artikel von Rembrandt Scholz und
Anne Schulz mit dem Titel „Zum Trend der differentiellen Sterblichkeit der Rentner in Deutschland“ nachzulesen. Dort steht als Ergebnis, dass in allen der zehn untersuchten Einkommensgruppen, in die die Autoren die
Rentner ab 65 einteilen, die Lebenserwartung steigt.
Auch in dem sogenannten dritten Dezil - also in der
Gruppe, die wahrscheinlich den geringsten Verdienst hat stieg die Lebenserwartung über 65-Jähriger 2006 im
Peter Weiß ({1})
Vergleich zu 1994 - damals hatten sie eine Lebenserwartung von 13,5 Jahren - auf 15 Jahre.
Damit belegt diese Untersuchung der Rentenversicherung: Auch bei den unteren Einkommensschichten haben wir es mit einer steigenden Lebenserwartung zu tun.
({2})
Das sind die Fakten der Rentenversicherung, die Sie
schlichtweg nicht lesen und die Sie hier verkehrt darstellen. Deswegen muss ich Ihre Behauptung mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Sie machen eine Privatrechnung auf, die falsch ist
({3})
und die den offiziellen Untersuchungen der Deutschen
Rentenversicherung widerspricht. Die Deutsche Rentenversicherung ist ein solides Unternehmen, das solide
rechnet. Auf ihre Berechnungen beziehen wir uns. In allen Einkommensgruppen steigt die Lebenserwartung.
Das ist ein großer Erfolg für die Bevölkerung in
Deutschland.
({4})
In der Tat interessiert die einzelne Arbeitnehmerin und
den einzelnen Arbeitnehmer nicht so sehr, wie es in den
Statistiken aussieht, sondern ob man persönlich in der
Lage ist, länger zu arbeiten. Wir haben in den vergangenen Jahren eine dramatische Veränderung erlebt bei der
Beantragung von Erwerbsminderungsrenten durch Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht länger arbeiten können. Rund 40 Prozent aller Anträge auf Erwerbsminderungsrente werden heute wegen psychischer
Erkrankungen gestellt. Da muss ich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dass eine so hohe Zahl von Personen aufgrund einer psychischen Erkrankung einen Frühverrentungsantrag stellen muss und diese Zahl weiter
steigt, dürfen und sollten wir nicht einfach weiter hinnehmen. Hier kann man gezielt Gegenstrategien entwickeln.
Es ist nicht so, dass wir die Menschen mit dem Thema
„Länger arbeiten in Deutschland“ alleinlassen; vielmehr
handelt diese Bundesregierung. Der Bundesgesundheitsminister hat für seine nationale Präventionsstrategie die
betriebliche Gesundheitsförderung zum Topthema gemacht - richtig so!
({5})
Die Bundesarbeitsministerin hat die vom paritätisch von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzten Arbeitsschutzausschuss erstellte Empfehlung zur psychischen
Gesundheit am Arbeitsplatz herausgegeben - hervorragend! Mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit werden
zielgerichtet Projekte in Betrieben zur Weiterbildung
und zum lebenslangen Lernen, zur Gestaltung moderner,
gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, zum besseren Arbeitsschutz und zur besseren betrieblichen Gesundheitsvorsorge gefördert. Wir handeln. Die Bundesforschungsministerin setzt einen starken Akzent bei der
Gesundheitsforschung. Also gilt: Wir lamentieren nicht,
sondern wir handeln, um längeres Arbeiten in Deutschland möglich zu machen.
({6})
Richtig ist: Wer lange gearbeitet hat, der sollte auch
von seiner Rente leben können. Deswegen schlägt die
Bundesarbeitsministerin vor, dass wir unser Rentenrecht
ergänzen, und zwar an der Stelle, wo Rot-Grün bei seinen Rentenreformen, die ja zu einer Senkung des Rentenniveaus in Deutschland führten, nicht gehandelt hat.
Rot-Grün hat bei der Senkung des Rentenniveaus keine
untere Auffanglinie vorgesehen, und deswegen werden
wir so etwas einführen. Der Vorschlag der Bundesarbeitsministerin ist, dass, wer lange eingezahlt hat - zunächst 30 Jahre, später 35 Jahre -, einen Anspruch erwirbt, sodass zu geringe Rentenansprüche in Form der
Zuschussrente aufgewertet werden.
({7})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition aus CDU/CSU und FDP verschließt nicht die Augen
vor der Frage: Was passiert mit denjenigen, die eventuell
zu geringe Rentenansprüche erworben haben? Wir wollen die Frage beantworten, die Rot-Grün damals bei seinen Rentenreformen vergessen hat. Deswegen können
wir guten Gewissens sagen: Länger arbeiten in Deutschland lohnt sich. Wir wollen die Voraussetzungen dafür
schaffen.
Vielen Dank.
({8})
Nächster und letzter Redner in unserer Debatte ist unser Kollege Frank Heinrich für die Fraktion der CDU/
CSU. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine ganze Menge gesagt
und vieles ausgetauscht worden. Es bleibt fast nichts
übrig.
({0})
Trotzdem möchte ich einige Gedanken noch einmal aufgreifen und einiges noch einmal extra betonen.
Ich finde es richtig und wichtig - das haben verschiedene Redner heute schon gesagt -, über dieses Thema zu
diskutieren. Es ist nämlich ein Thema, das die Menschen
bewegt. Ich danke Ihnen insofern dafür, dass Sie dieses
Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ich danke
aber auch der Regierung, dass sie eine solche Anfrage
mit so viel Mühe bearbeitet hat und eine so gute Abwägung der in Ihrer Großen Anfrage genannten Risiken
vorgenommen hat. Das Gute an der parlamentarischen
Debatte ist ja, dass man hinterfragen darf, ja sogar muss.
Der Titel der Großen Anfrage lautet: „Rente erst
ab 67 - Risiken für Jung und Alt“. Mir kam an dieser
Stelle sofort der Gedanke, dass bemerkenswerte Unterschiede zwischen den möglichen Formulierungen bestehen. Die Formulierung „Rente erst ab 67“ beinhaltet ja
eine Konnotation, die Sie schon mit dem entsprechenden
Gesetz verbanden, als es 2007 von Ihnen unter Herrn
Müntefering mit auf den Weg gebracht wurde. Frau von
der Leyen versah gleich zu Beginn ihrer Amtszeit diesen
Sachverhalt mit einer anderen Konnotation: Wir reden,
ich rede von „Arbeit bis 67“. Das ist ein viel konstruktiverer Ansatz und beinhaltet den Anspruch, diese Zeit zu
gestalten und Strategien zu entwickeln, um damit umzugehen.
({1})
Wir sollten also - Herr Strengmann-Kuhn hat das vorhin schon angesprochen - nicht bei den Risiken stehen
bleiben, sondern auch von den Chancen reden. Diese
wurden in der heutigen Debatte von Ihnen, Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, sehr einseitig dargestellt.
({2})
Die Rente ab 67 bzw. - so wird das heute genannt die Arbeit bis 67 bringt sehr viele Chancen für ältere Erwerbstätige mit sich: Möglichkeiten zur Teilhabe, Steigerung des Selbstwertgefühls, gutes Einkommen,
({3})
sozialer Status - um nur einige zu nennen. Das hat die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf Ihre Große Anfrage auch ausdrücklich betont. Erwerbsarbeit ist ein wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Lebens.
Wenn wir also tatsächlich Beteiligung wollen - in den
letzten Wochen haben wir dieses Wort ja sehr häufig gebraucht -, dann müssen wir neben den wirtschaftlichen
Bedingungen in unserem Land und den wirtschaftlichen
Bedingungen jedes Einzelnen auch diese Tür öffnen
bzw. offen halten. Viele wollen auch in Zukunft ganz bewusst und gern ihrer Arbeit nachgehen.
Gestern Abend sprach ich mit einem jungen Mann,
der aus einem europäischen Land kam. Er erzählte, dass
in seinem Land ein 66-Jähriger gegen den Staat klagt,
weil dieser ihn in den Ruhestand schicken will. Er begründet seine Klage damit, dass er sich diskriminiert
fühlt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Siegfried Kauder?
Sehr gerne.
Bitte schön, Herr Kollege Siegfried Kauder.
Herr Präsident, ich möchte keine Zwischenfrage stellen, sondern ich habe die Bitte, dafür zu sorgen, dass
man auch auf den hinteren Rängen das versteht, was der
Redner vorne spricht. Ich könnte mir vorstellen, dass die
Schüler oben auf der Galerie auch gerne zuhören würden. - Danke.
({0})
Vielen Dank für den Hinweis. Der Hinweis richtet
sich natürlich auch an all diejenigen, die im Augenblick
in den hinteren Reihen stehen und in tiefe Gespräche
verwickelt sind.
Bitte schön, Herr Kollege Heinrich.
Ich danke Ihnen, Herr Kollege. - Da fühlt sich also
ein 66-Jähriger in einem europäischen Partnerland dadurch diskriminiert, dass er in Ruhestand gehen muss.
Für Unternehmer, Anwälte, Architekten, Landwirte
- der eine oder andere Redner ist vorhin darauf eingegangen - ist es selbstverständlich, oft weit über das von
uns festgesetzte Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten.
Sie haben oft die größeren Erfolge in den späteren Lebensjahren. Ein deutscher Wissenschaftler, der nach Erreichung seines 70. Lebensjahrs seine Karriere in Dänemark fortsetzen möchte, sagte: Da kann ich so lange an
der Universität bleiben, wie sie findet, dass ich meinen
Job gut mache.
Interessant, dass Sie heute von der „Rente erst ab 67“
sprechen. Es werden oft Ängste - Herr Kollege
Strengmann-Kuhn hat vorhin darauf hingewiesen - dadurch verstärkt, dass die Sachlage einseitig dargestellt
wird.
({0})
Ich zitiere beispielhaft die Bremer Altersforscherin
Ursula Staudinger:
Oft wird der Eindruck erweckt, Arbeit sei etwas,
wovon die Politik
- also wir den Menschen befreien müsste.
In dieser Aussage ist eine Konnotation enthalten, die aus
unserer Sicht eine falsche Sicht auf das Problem zum
Ausdruck bringt. Meines Erachtens braucht es dabei ein
Umdenken. Eine Veränderung benötigt allerdings Zeit.
Deshalb braucht es eben 18 Jahre, um diese zwei Jahre
Verlängerung der Lebensarbeitszeit hinzubekommen. Es
ist gut, dass das langsam geht und sich alle Beteiligten
darauf einstellen können.
Die Daten der letzten Jahre - wir haben jetzt viele gehört - belegen den positiven Trend, auch wenn wir - das
betone ich ganz bewusst - noch ein ganzes Stück Weg
vor uns haben. Eine Zahl ist mir in dem Zusammenhang
wichtig: Deutschland konnte die Erwerbstätigenquote
der 55- bis 65-Jährigen in den letzten zehn Jahren von
38 Prozent auf 57 Prozent steigern. Trotz dieser beachtlichen Erfolge bleibt noch eine Menge zu tun, woran wir
als Politik auch beteiligt sein müssen. Wichtig ist in dem
Zusammenhang, beim Gestalten der Bedingungen, das
„Auch“.
({1})
Die Bundesregierung beteiligt sich mit veränderten
Vorgaben, die den Verbleib von Älteren im Erwerbsleben besser ermöglichen sollen. Es braucht aber alle in
unserer Gesellschaft, um den Herausforderungen, die
heute mehrfach genannt wurden, gerecht zu werden, wie
zum Beispiel der Demografie.
({2})
Eine längere Lebensarbeitszeit ist eben auch eine
Chance für die Wirtschaft und für die Unternehmen,
Stichwort „Fachkräftemangel“.
({3})
Viele Unternehmen nutzen das schon. In meiner Stadt
Chemnitz merke ich, dass ein Bewusstseinswandel stattgefunden hat und immer noch stattfindet, besonders in
kleineren und mittleren Unternehmen, die die Fähigkeiten der 50-Jährigen eben nicht kleinreden oder - wie
Frau von der Leyen das vorhin gesagt hat - schlechtreden, sondern nutzen und entwickeln, wobei sie sich natürlich darauf einstellen müssen, Maßnahmen im Gesundheitsbereich oder in der Ausbildung zu treffen.
({4})
Positive Zusatzeffekte dieser Regelaltersgrenzenanhebung sind zum Beispiel, dass ein höherer Rentenanspruch entsteht - auch wenn Sie das immer anders darstellen - und dass dann, wenn mehr Versicherte in das
System einzahlen, der Nachhaltigkeitsfaktor zu höheren
Anpassungen führt.
Ich komme zum Schluss.
({5})
Für die Anhebung des Rentenalters spricht eine Reihe
von guten Gründen: außer der Demografie, dem Geburtenrückgang, der steigenden Lebenserwartung, der
wachsenden Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Älteren auch der drohende Fachkräftemangel, aber vor allem - und das wollte ich betonen - die Erweiterung der
Teilhabemöglichkeiten für ältere Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft.
Wir glauben, dabei sind wir auf dem richtigen Weg,
trotz der von Ihnen genannten Risiken.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Uns liegen Erklärungen zur Abstimmung nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Zunächst Entschließungsantrag der Fraktion der So-
zialdemokraten auf Drucksache 17/8150. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Das ist die Fraktion der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Koalitionsfraktionen
und Teile von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? -
Fraktion Die Linke und Teile der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich komme nun zum Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/8151. Die Fraktion
Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt?
Kein gegenteiliger Hinweis? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)
Wenn Sie sich wieder auf die Plätze begeben, haben
wir eine Chance, die gemeinsamen Beratungen fortzu-
setzen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 3 a bis g auf:
33 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des
Elterngeldvollzugs
- Drucksache 17/1221 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialen Fortschritt und regionale Integration
in Lateinamerika unterstützen
- Drucksache 17/3214 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
1) Anlage 3
2) Seite 17816 C
Vizepräsident Eduard Oswald
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Teilprivatisierung bei der Hochschul-
zulassung
- Drucksache 17/7642 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Beate Müller-Gemmeke, Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prekäre Situation von Lehrbeauftragten an
Musikhochschulen sowie Hochschulen für
Musik und Theater beenden - Rahmenbedingungen zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe
schaffen
- Drucksache 17/7825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für alle gesetzlich verankern
- Drucksache 17/8141 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Federführung strittig
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({6}) gem. § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({7})
Innovationsreport
Zukunftspotenziale und Strategien nichtforschungsintensiver Industrien in Deutschland Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit und
Beschäftigung
- Drucksache 17/4983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die europäische Energieeffizienzrichtlinie wirkungsvoll ausgestalten
- Drucksache 17/8159 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen der Nanotechnologien nutzen und
Risiken für Verbraucher reduzieren
- Drucksache 17/8158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({11})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken
und eine wirksame Reduktionsstrategie umsetzen
- Drucksache 17/8157 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Marlene Rupprecht ({14}), Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht wirksam anpassen
- Drucksache 17/8156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen
- Drucksache 17/8155 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Eduard Oswald
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für die Einführung eines transparenten und
unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens
- Drucksache 17/8162 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechtssicherheit für verwaiste Werke herstellen und den Ausbau der Deutschen Digitalen
Bibliothek auf ein solides Fundament stellen
- Drucksache 17/8164 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({18})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu zwei Vorlagen, bei denen
die Federführung strittig ist.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die beiden Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
zu überweisen.
Ich komme zunächst zum Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/8141. Die Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim
Finanzausschuss, die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Rechtsausschuss, und die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion der SPD, also Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, also
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Schließlich stimmen wir über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab: Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind
die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine.
Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8158.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung. Die Fraktion der Sozialdemokraten wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion der SPD abstimmen: Federführung beim
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Sozialdemokraten, Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen?
- Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Wir stimmen über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab: Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen,
Tagesordnungspunkt 33 a bis d und 33 f sowie Zusatzpunkt 3 a und 3 c bis g. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisungen
sind so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis m sowie
Zusatzpunkt 4 a bis m auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 ({20}) entwickeln
- Drucksachen 17/4199, 17/5033 Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias Lietz
Vizepräsident Eduard Oswald
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5033, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4199 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Verbot von Koka-Blättern - Für die völkerrechtliche Anerkennung als schützenswerte Kultur der indigenen Völker im AndenRaum
- Drucksachen 17/6120, 17/7291 Berichterstattung:
Abgeordnete Erich G. Fritz
Marina Schuster
Hans-Christian Ströbele
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7291, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({23}),
Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Weniger Bürokratie und Belastungen für
den Mittelstand - Den Erfolgskurs fortsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({24}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden - Neue Schwerpunktsetzung für den
Mittelstand umsetzen
- Drucksachen 17/7636, 17/7610, 17/8167 Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Bögel
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/
7636 mit dem Titel „Weniger Bürokratie und Belastungen für den Mittelstand - Den Erfolgskurs fortsetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der Sozialdemokraten
auf Drucksache 17/7610 mit dem Titel „Stagnation beim
Bürokratieabbau überwinden - Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand umsetzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen der
Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die Grünen.
Enthaltungen? - Wie hat die Linksfraktion gestimmt? Die Linksfraktion hat zugestimmt. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 354 zu Petitionen
- Drucksache 17/7969 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 354 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 355 zu Petitionen
- Drucksache 17/7970 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Linksfraktion. Sammelübersicht 355 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 356 zu Petitionen
- Drucksache 17/7971 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 356 ist angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 357 zu Petitionen
- Drucksache 17/7972 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? Keine. Sammelübersicht 357 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 358 zu Petitionen
- Drucksache 17/7973 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 358 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 359 zu Petitionen
- Drucksache 17/7974 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/
Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 359 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 360 zu Petitionen
- Drucksache 17/7975 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 360 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 361 zu Petitionen
- Drucksache 17/7976 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die
Sammelübersicht 361 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 362 zu Petitionen
- Drucksache 17/7977 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Sammelübersicht 362 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 363 zu Petitionen
- Drucksache 17/7978 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 363 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbot der Haltung wildlebender Tierarten im
Zirkus
- Drucksache 17/8160 Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erneuerbare Energien und Energieeffizienz
als Alternative zum polnischen Atomprogramm fördern und fordern
- Drucksache 17/8163 Wer stimmt für diesen Antrag? - Bündnis 90/Die
Grünen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer
stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({7})
Übersicht 6
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/8165 Vizepräsident Eduard Oswald
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und
die Linksfraktion. Gegenprobe! - Keine. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 364 zu Petitionen
- Drucksache 17/8168 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 364 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 365 zu Petitionen
- Drucksache 17/8169 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 365 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 366 zu Petitionen
- Drucksache 17/8170 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Keine. Die Sammelübersicht 366 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 367 zu Petitionen
- Drucksache 17/8171 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Linksfraktion. Die Sammelübersicht 367 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 368 zu Petitionen
- Drucksache 17/8172 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? Keine. Die Sammelübersicht 368 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 369 zu Petitionen
- Drucksache 17/8173 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Sammelübersicht 369 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 370 zu Petitionen
- Drucksache 17/8174 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Sammelübersicht 370 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 371 zu Petitionen
- Drucksache 17/8175 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Die
Sammelübersicht 371 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 372 zu Petitionen
- Drucksache 17/8176 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Sammelübersicht 372 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 373 zu Petitionen
- Drucksache 17/8177 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die Sozialdemokraten, Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? Keine. Die Sammelübersicht 373 ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({18}) zu dem Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und
Jugendlichen ({19})
- Drucksachen 17/6256, 17/7522, 17/7523,
17/7932, 17/7967, 17/8130 Berichterstatter:
Abgeordneter Jörg van Essen
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/8130? - Das sind die
Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung zu dem Entschließungsantrag der Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke bekannt
- es geht um die Große Anfrage mit dem Titel „Rente
erst ab 67 - Risiken für Jung und Alt“ -: abgegebene
Stimmen 575. Mit Ja haben gestimmt 72, mit Nein haben
gestimmt 488, Enthaltungen 15. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 71
nein: 487
enthalten: 16
Ja
SPD
Klaus Barthel
Wolfgang Gunkel
Hilde Mattheis
Werner Schieder ({20})
Rüdiger Veit
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({21})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Sabine Zimmermann
Nein
CDU/CSU
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({22})
Manfred Behrens ({23})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({24})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({25})
Dirk Fischer ({26})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({27})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({28})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Alois Karl
Siegfried Kauder ({29})
Vizepräsident Eduard Oswald
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({30})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({31})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({32})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({33})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({34})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({35})
Anita Schäfer ({36})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({37})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({38})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({39})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({40})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({41})
Peter Weiß ({42})
Sabine Weiss ({43})
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({44})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({45})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({46})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({47})
Hubertus Heil ({48})
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({49})
Frank Hofmann ({50})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({51})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({52})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({53})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({54})
Marlene Rupprecht
({55})
Axel Schäfer ({56})
Bernd Scheelen
({57})
Ulla Schmidt ({58})
Silvia Schmidt ({59})
Carsten Schneider ({60})
Swen Schulz ({61})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({62})
Vizepräsident Eduard Oswald
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({63})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({64})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({65})
Michael Link ({66})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({67})
Burkhardt Müller-Sönksen
({68})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({69})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({70})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({71})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({72})
Volker Beck ({73})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({74})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({75})
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({76})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({77})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Willi Brase
Michael Gerdes
Michael Groß
Stefan Rebmann
Uta Zapf
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Agnes Brugger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Hans-Christian Ströbele
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
Demokratiebewegung in Russland
Erster Redner in dieser von allen Fraktionen des Hauses beantragten Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Dr. Andreas Schockenhoff. Bitte schön, Kollege Dr. Schockenhoff.
({78})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ereignisse der letzten Tage in Russland haben das zynische Modell der gelenkten Demokratie widerlegt. Demokratie mit Attributen funktioniert nicht. Diese Vorstellung wirft Russland nur immer weiter zurück. Viele
Russen haben das erkannt und dem jetzt eine klare Absage erteilt. Für sie bedeutet der inszenierte Ämtertausch
des Tandems Putin/Medwedew nicht Stabilität, sondern
Stillstand und Stagnation. Immer mehr verstehen, dass
Stagnation eben nicht Stabilität bedeutet, sondern in
Wahrheit ein Zurückfallen Russlands, das sie ihrer Zukunft beraubt.
Der letzte Samstag hat Russland verändert. Die friedlichen Massendemonstrationen haben auch das Bild verändert, das viele im Westen von Russland haben. Bis zu
diesen Wahlen schien es trotz der Reden von Präsident
Medwedew in Russland keinen Modernisierungskonsens
zu geben. Im Gegenteil: Die Eliten und die Gesellschaft
schienen Veränderungen und Reformen mehr zu fürchten als eine neue Ära der Stagnation. Die Proteste haben
jedoch gezeigt, dass viele Menschen mehr wollen als nur
den Status quo und rhetorische Versprechungen. Nach
individuellen Freiheiten wollen sie nun auch politische
Rechte: demokratische Mitsprache, politischen Wettbewerb und Transparenz.
({0})
Russland steht nun am Scheideweg zwischen einem
autoritär geführten Staat und einer wirklichen Demokratie. Das Erste würde Russland in die Vergangenheit zurückwerfen; diese Gefahr besteht durchaus. Das Zweite
wäre die Chance auf ein modernes, rechtsstaatliches
Russland, und zwar innenpolitisch, wirtschaftlich und
außenpolitisch. Es ist klar, dass wir das Letztere wollen
und dafür auch unseren Beitrag leisten müssen.
Die Proteste waren ein Sieg über die Angst vor dem
Kreml. Sie waren vor allem ein Sieg über die politische
Apathie, die die russische Gesellschaft in den letzten
Jahren gelähmt hat. Sie haben eine neue Generation, eine
veränderte Gesellschaft gezeigt, viele junge Menschen,
Aktivisten und eine wachsende Mittelklasse. Für mich
sind das die neuen Russen - demokratisch gesinnt, aktiv,
engagiert und gut vernetzt, also alles, was Russland für
seine Modernisierung braucht. Es sind nicht Wutbürger,
sondern genau die Mutbürger, die jeder Staat braucht.
Wenn der russische Ministerpräsident heute im Fernsehen sagt, dass ein Teil der Demonstranten das Land
destabilisieren wolle, dann hat er noch nicht verstanden,
dass diese Aufbruchsstimmung dem Land nutzt und
nicht, wie er sagt, falsch und inakzeptabel ist.
({1})
Im Gegenteil: Diese Menschen sind die wichtigste Reformkraft und der wichtigste Modernisierungspartner
des russischen Staates und damit auch ein wichtiger
Partner für uns. Mit ihnen muss der russische Staat eine
Modernisierungspartnerschaft aufbauen, und wir müssen
sie gezielter als bisher in die Modernisierungspartnerschaft mit Russland einbeziehen.
Die jüngsten Demonstrationen haben den Nichteinmischungsvertrag zwischen Staat und Gesellschaft aufgekündigt, den viele als Markenzeichen der gelenkten Demokratie Putins sehen. Dieser hat zu Apathie, Zynismus
und einer gefährlichen Entfremdung zwischen Macht
und Gesellschaft geführt, die die Duma-Wahlen jetzt
aufgedeckt haben. Die Revitalisierung der russischen
Gesellschaft ist eine große Chance, vielleicht die letzte
Chance für eine bessere Zukunft Russlands. Um sie zu
nutzen, muss die russische Führung klare Antworten auf
die Wahlfälschungen geben, das heißt eine glaubwürdige
Überprüfung der Wahlergebnisse vom 4. Dezember, die
Freilassung aller inhaftierten Demonstranten und die
rechtliche Bestrafung derer, die Wahlmanipulationen zu
verantworten haben.
Russlands Zukunft entscheidet sich dann bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März. Sie müssen zeigen,
dass der nächste russische Präsident durch freie und faire
Wahlen legitimiert ist. Wenn für diese Wahlen 90 000 Internetkameras in den Wahlbüros installiert werden, wie
Putin es vorgeschlagen hat, dann begrüßen wir das, weil
dies den organisierten Wahlfälschungstourismus unterbinden könnte. Aber entscheidend ist, dass auch vor den
Wahlen Fairness herrscht, dass die Kandidaten zugelassen werden und dass sie die Chance haben, sich genau
wie Putin im staatlichen Fernsehen zu präsentieren.
Wir müssen die russische Zivilgesellschaft und die
wachsende Mittelschicht in den Mittelpunkt unserer Kooperationsangebote an Russland rücken. Sie sollte in alle
Arbeitsfelder der deutschen und europäischen Modernisierungspartnerschaft stärker eingebunden werden.
Wichtig wäre, in Russland den Status der Gemeinnützigkeit aufzubauen. Davon würden vor allem Nichtregierungsorganisationen profitieren. Die wichtigste Grundlage für Russlands Modernisierung ist eine nachhaltige
Stärkung der Verbindung zwischen drittem Sektor und
Wirtschaft, also zwischen Zivilgesellschaft und neuer
Mittelklasse. Dort, wo wir einen Beitrag leisten können,
sind wir gefordert, zu helfen. Das ist im Interesse der russischen Bevölkerung, aber auch in unserem Interesse für
eine gemeinsame europäische Zukunft.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Schockenhoff. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Franz Thönnes.
Bitte schön, Kollege Franz Thönnes.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über ein Land, mit dem uns eine
ganz besondere Verantwortung verbindet. Dieser Verbindung kommt gerade vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Geschichte im letzten Jahrhundert bis hin
zur deutschen Einheit eine besondere Bedeutung zu. Wir
tragen gemeinsam Verantwortung für die Sicherheit in
Europa und in der Welt. Diese Verbindung ist auch bezüglich unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Beziehungen wichtig.
Der Dezember scheint nicht nur in diesen Tagen für
Russland ein sehr wichtiger Monat zu sein. Vor knapp
20 Jahren, am 8. Dezember 1991, wurde die Auflösungsurkunde der Sowjetunion unterzeichnet. Vor 41 Jahren,
am 12. August 1970 und am 7. Dezember 1970, wurden
der Warschauer und der Moskauer Vertrag unterzeichnet.
Grundlage hierfür war die von Willy Brandt entwickelte
Entspannungs- und Ostpolitik, für die er am 10. Dezember vor 40 Jahren den Friedensnobelpreis in Oslo erhielt.
Der Kern dieser Politik, Wandel durch Annäherung, gilt
nach wie vor und heute ganz besonders in Russland.
({0})
Russland hat sich in den letzten 20 Jahren gewandelt.
Es entwickelte sich - mit rasanten Veränderungen für
das Leben der Menschen - von einer kommunistischen
Diktatur hin zu einem Gesellschaftssystem, das aus unserer Sicht auf der Demokratieskala noch erheblichen
Spielraum nach oben hat. Russland hat sich auch in den
letzten Tagen verändert. So ist es gleichermaßen ein Erfolg für die Demonstranten wie auch für die Sicherheitskräfte bei der Großdemonstration in Moskau am letzten
Wochenende, dass die Kundgebung gewaltfrei verlief.
Dieser Maßstab der Gewaltfreiheit muss auch in Zukunft
in Russland gelten.
({1})
Es ist ebenso ein Erfolg, dass es nicht nur die alten Reflexe gab, die wir teilweise erlebt haben, zum Beispiel
Verhaftungen, Behinderungen, Verbote, an der Demonstration teilzunehmen, oder die Ansetzung von Schulunterricht, sondern dass es zwischenzeitlich auch Berichterstattungen in den privaten Medien und im staatlichen
Fernsehen über diese Großdemonstration gab. Auch
diese Entwicklung darf nicht zurückgedreht werden.
({2})
Der Grund für die Menschen, an der Demonstration
am 4. Dezember teilzunehmen, bestand nicht nur darin,
dass 7 000 Wahlverstöße reklamiert worden sind und die
OSZE die Wahlen als nicht fair und nicht frei bezeichnet
hat. Die Menschen haben auch nicht nur aus sozialen
Gründen protestiert. Vielmehr geht es den Menschen
- das sagen Einzelne von ihnen auf Nachfrage - um ihre
Würde. Sie haben das Gefühl, getäuscht worden zu sein.
Es geht ihnen darum, gegen Rechtswillkür, gegen Rechtlosigkeit, gegen Korruption und gegen politische Gängelung auf die Straße zu gehen. Viele junge Menschen,
Akademiker und Wissenschaftler, waren bei der Demonstration. Die Demonstranten waren eine Abbildung der
vielschichtigen Gesellschaft: Kommunisten, Liberale,
Aktivisten aus Vereinen und Verbänden. Das zeigt deutlich, dass der Ruf nach Freiheit und Menschenwürde
sich immer wieder Bahn bricht.
Präsident Medwedew sagt, dass es dort, wo es Verstöße gegeben hat, gerechte Entscheidungen geben wird.
Der Sprecher von Ministerpräsident Putin sagt, dass man
die Ansichten der Demonstranten respektiere, dass man
höre, was gesagt wird, und dass man auch weiter zuhören werde. Dem ist hinzuzufügen, dass wir die politisch
Verantwortlichen an genau diesen Aussagen messen
werden, wobei ich hoffe, dass der Ruf der Menschen
nach Dialog und Partizipation von den Regierenden
nicht nur gehört, sondern auch verstanden wird.
({3})
Deswegen stellen wir berechtigte Forderungen. Es geht
darum, dass in Zukunft in Russland Meinungsfreiheit,
Demonstrations- und Pressefreiheit gewährleistet werden, dass die friedlichen Demonstranten, die verhaftet
wurden, freigelassen werden, dass unverzüglich eine
Untersuchung der Verstöße gegen das Wahlrecht durchgeführt wird, dass die Vorfälle transparent aufgearbeitet
werden und dass dort, wo es notwendig ist, Nachwahlen
stattfinden.
Der Beobachtungsbericht der OSZE, in dem beschrieben ist, wie Wahlgesetze auszusehen haben, und die
Standards, die der Europarat formuliert hat, müssen in
Russland eingehalten werden. Es geht darum, freie und
demokratische Präsidentschaftswahlen zu ermöglichen,
mit gleichen Chancen für alle Kandidaten, mit Transparenz und echter Konkurrenz. Es geht auch darum, dass
Wahlbeobachter bei den Wahlen nicht behindert werden
dürfen. Eine Demokratie lebt von lauten und gehörten
Stimmen und nicht von Stummheit.
Aber es richten sich auch Forderungen an uns selbst.
Wir dürfen im Rahmen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kooperationen, die wir mit Russland haben,
nicht nachlassen. Sie müssen auf gleicher Augenhöhe
stattfinden. Bei diesen Kontakten müssen wir die Forderungen des Europarates nach Achtung der Menschenwürde, der Bürgerfreiheiten und der Bürgerrechte mit
einbeziehen. Gesellschaft und Wirtschaft brauchen gemeinsam Rechtsstaatlichkeit. Wir selbst sind angesprochen, wenn es darum geht, den Petersburger Dialog zu
modernisieren und auf die neuen Herausforderungen
auszurichten. Das Deutsch-Russische Jahr der Bildung,
Wissenschaft und Innovation 2011/2012, das Deutschlandjahr in Russland 2012 bis 2013 und das Russlandjahr in Deutschland 2012 bis 2013 sind gute Gelegenheiten hierfür.
Auf europäischer Ebene gilt es das Partnerschaftsabkommen mit Russland weiterzuentwickeln und den heutigen Gipfel in Brüssel dazu zu nutzen, diese Kritik offen
anzusprechen, aber auch die Hand zur Kooperation in
diesem Sinne zu reichen. Dabei spielt die Vereinbarung
gemeinsamer Schritte auf dem Weg zur Visafreiheit eine
ganz zentrale Rolle.
({4})
Über Visaerleichterungen können wir erreichen,
Kommen Sie bitte zum Schluss.
- dass die Menschen zusammenkommen und Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern entstehen:
in Wissenschaft und Forschung, unter jungen Leuten und
im Bereich des Sports. Nur das wird dazu führen, dass
man gegenseitig voneinander lernt und gemeinsam an
der Umsetzung der Werte arbeiten kann.
Für Russland, die dortige Opposition und die Machthaber wie für uns gilt, was damals schon Willy Brandt
gesagt hat:
Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von
Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und
darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und
man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt
werden soll.
({0})
Vielen Dank, Kollege Thönnes. - Nächster Redner in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP
unser Kollege Michael Link. Bitte schön, Kollege
Michael Link.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In Anbetracht dessen, was nach der letzten Duma-Wahl geschehen ist, und insbesondere angesichts der Demonstrationen haben sich in der Tat viele
die Augen gerieben. Offen gesagt: Auch viele von uns
hätten nicht gedacht, dass es zu einem so enormen Aufschrei in der Zivilgesellschaft in Russland kommt. Das
ist ein Lebenszeichen der Zivilgesellschaft, dem wir
heute durch diese vereinbarte Aktuelle Stunde Rechnung
tragen; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Marieluise Beck
hat dies angestoßen. Alle anderen Fraktionen sind ihrem
Vorschlag gerne gefolgt und haben gesagt: Wir müssen
über dieses Thema diskutieren. - Dies soll auch ein Zeichen der Unterstützung sein, das wir aus dem Deutschen
Bundestag an die russische Zivilgesellschaft senden.
({0})
Wir unterstützen sie in ihrem Kampf um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und freie Wahlen; denn nichts weniger
hat Russland verdient.
({1})
Die Augen gerieben hat man sich mit Sicherheit auch
im Kreml. Man wird sich noch wundern, was für eine
Eigendynamik die Ergebnisse der beiden Wahlen - der
Duma-Wahl, die gerade stattgefunden hat, und der Präsidentschaftswahl im März nächsten Jahres - entwickeln
können.
Weshalb gibt es diese Eigendynamik und diese Entwicklung? Es ist sicherlich ganz wichtig, immer wieder
darauf hinzuweisen, dass das Machtkartell, das am
24. September dieses Jahres durch die erneute Rochade
zwischen Putin und Medwedew endgültig sichtbar
wurde, sich aber schon lange vorher angedeutet hat, die
Leute schlicht und einfach - ich sage es einmal ganz salopp und unparlamentarisch - anwidert. Es ist für junge
Leute, die nicht mehr sowjetisch geprägt sind und nicht
mehr biografisch eingeschüchtert werden können, auch
nicht durch den jetzigen Machtapparat, keine attraktive
Vorstellung, Putin erneut sechs, sieben Jahre als Präsidenten zu haben und Jedinaja Rossija, die Regierungspartei, die dem puren Machterhalt dient, sozusagen vor
die Nase gesetzt zu bekommen, egal wer tatsächlich gewählt wird. Wir sind hier in einer schwierigen Situation.
Deshalb muss man die Gründe verstehen.
Wir sind insbesondere sehr dankbar, dass die OSZE
und ihr Wahlbeobachtungsarm ODIHR sehr genau hingeschaut haben. Wir sind gespannt auf den endgültigen
Bericht, der uns bald vorgelegt wird, und wir als FDPFraktion möchten uns ganz ausdrücklich bei Heidi
Tagliavini bedanken, der sehr professionellen Chefleiterin und -beobachterin der ODIHR-Mission in Moskau.
Sie verdient unsere volle Unterstützung.
({2})
Oft wird darauf hingewiesen, dass die kommunistische Partei ein besonders gutes Ergebnis gehabt hat. Ja,
das stimmt. Sie hat ein erstaunlich gutes Ergebnis gehabt,
({3})
aber vielleicht auch deshalb, lieber Kollege Gehrcke,
weil alle anderen Alternativen, die man vielleicht noch
lieber gewählt hätte, verboten worden sind.
({4})
- Richtig, das kann sein. - Das zeigt aber zumindest
- hier stimme ich Ihnen zu -, dass es auf jeden Fall den
Wunsch gibt, auszuwählen, also nicht nur zu wählen und
zu akklamieren; denn so haben sich Medwedew und
Putin die Wahl sicherlich vorgestellt. Eine Wahl ist aber
keine Akklamation.
Wir wünschen uns, dass eben nicht nur die Kommunisten und nicht nur die Liberaldemokraten dort, die sich
nur so nennen und alles andere als liberal und demokratisch, sondern nationalistisch und großrussisch sind, als
Alternative zugelassen sind. Wir wünschen uns, dass
insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen es die Liberalen unterschiedlichster Prägung endlich einmal
schaffen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen,
alle ihre Teilungen und Spaltungen zu überwinden und
mit einem gemeinsamen Kandidaten, einer demokratischen Alternative zu Putin, anzutreten. Das erwarten wir
uns dringend von der russischen liberalen Opposition.
({5})
Wir appellieren aber auch an uns selbst - Kollege
Thönnes hat völlig richtig darauf hingewiesen -, dass
wir uns beim Thema Visum, also bei der Frage, wie wir
uns zu Russland verhalten, dringend endlich öffnen müssen. Es gibt eine Initiative der Außenpolitiker der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion, die dieses Jahr
gerade auch im Kontakt mit den Innenpolitikern schon
intensiv daran gearbeitet haben - natürlich auch interfraktionell unterstützt -, um bei den Verfahren zur Visaerteilung zu echten Verbesserungen zu kommen. Ich
sage es deutlich: Ziel muss langfristig die Visafreiheit
mit Russland sein.
({6})
Michael Link ({7})
Auf dem Wege dahin müssen wir jetzt die ersten
Schritte gehen und konkret liberalisieren. Wir brauchen
eine Willkommenskultur, die sich nicht in Debatten hier
erschöpft, sondern die für junge Russinnen und Russen
ganz konkret eine Perspektive eröffnet,
({8})
hier zu studieren, hier für einige Jahre zu arbeiten, dann
zurückzugehen und Erfahrungen zurückzubringen auch Erfahrungen, wie Demokratie streitig funktionieren
kann; das tut sie nämlich in Deutschland.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, nämlich zur
Stabilität, und zum Schluss, Herr Präsident. Die Stabilität wird heute sicherlich noch oft angesprochen werden.
Es wird immer gesagt: Wir brauchen Stabilität in Russland. Das ist ja auch das Schlüsselwort, das wir von
Putin hören, wenn er selber sozusagen daran erinnert,
nach dem Motto: Wählt mich wieder, ich bin der Stabile.
Stabilität ist aber mehr als die Beibehaltung des Status
quo.
Kollege Schockenhoff hat völlig richtig darauf hingewiesen: Es bedeutet nicht Stabilität, wenn eine Regierung stabil im Sattel sitzt und sich ein Machtkartell
durchsetzen kann. Stabilität zeigt sich vor allem dann,
wenn ein Regierungswechsel tatsächlich friedlich durchgesetzt werden kann: mit freien Wahlen, mit dem gesamten Prozess von der Kandidatenaufstellung bis zur Wahl,
natürlich mit der Stimmenauszählung und mit dem friedlichen Wechsel von Regierung und Administration. Das
ist wirkliche, nachhaltige Stabilität.
Wir sind überzeugt, dass Russland genau das schaffen
kann, wenn man dem russischen Volk mehr zutraut. Das
ist die große Chance; denn wir sind für Russland ein
Partner, auf den es sich verlassen kann. Wir erwarten
umgekehrt von Russland aber auch, dass es nicht permanent unter seinen eigenen Möglichkeiten bleibt, wie das
jetzt - das zeigt sich am Wahlverlauf - leider wieder geschehen ist. Wir setzen deshalb auf die Präsidentschaftswahlen und auf mehr als ein Machtkartell. Wir setzen
auf die russische Zivilgesellschaft und unterstützen sie
dabei nach unseren Kräften mit allen Möglichkeiten.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Michael Link. - Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang
Gehrcke. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir über dieses
Thema hier im Parlament diskutieren und dass wir das
auf der Basis einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen tun. Ich sage ganz deutlich: Wir haben ein Recht,
das hier zu diskutieren. Dieses Recht kann uns auch niemand absprechen.
Ich bitte aber darum, dass wir darüber nachdenken, in
welchem Stil wir diese Debatte führen. Ich möchte nicht,
dass wir von oben herab andere belehren, sondern ich
möchte, dass wir eine solche Debatte partnerschaftlich
und auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte, unserer Kooperation und unserer Verantwortung für die besonderen Beziehungen, die wir zwischen Deutschland
und Russland immer zu beachten haben, zusammen mit
unseren russischen Kollegen führen. Das ist diesem Parlament angemessen.
({0})
Es gibt eine gemeinsame Verantwortung. Ich möchte,
dass wir das bedenken. Andere Kollegen haben auch darauf aufmerksam gemacht. Da muss man erst einmal ein
paar Punkte festhalten, die, wie ich finde, völlig unstrittig sein müssen.
Mein erster Punkt ist: Demonstrationsfreiheit muss
überall, also auch in Russland, als ein Grundrecht gewährleistet werden.
({1})
Demonstrationsfreiheit heißt auch, dass man demonstrieren kann, ohne Angst vor Repressionen haben zu
müssen. Zu demonstrieren in dem Wissen, man landet
am Abend im Knast, macht ja nicht besonders viel Sinn.
Das muss gewährleistet werden. Ich bin froh, dass es bislang gewaltlos ausgegangen ist.
Ich bin unbedingt dafür, dass man debattiert, wie man
Medienfreiheit verbessern kann. Das spielt in allen Gesellschaften eine erhebliche Rolle.
Ich verlange auch, dass über den Vorwurf der Wahlfälschung aufgeklärt wird. Kein Staat sollte mit dem
Vorwurf der Wahlfälschung leben müssen. Das ist aufzuklären. Das ist zu dokumentieren. Daraus sind Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist völlig unstreitig.
({2})
Ich sage aber auch: Lasst uns genau hinschauen.
Nicht jeder, der demonstriert, muss inhaltlich unsere Solidarität haben. Ich nehme wahr, wie nationalistische
Gruppen - das geht bis hin zu rechtsextremistischen
Gruppen - in diesem Feld agieren. Ich finde - das sage
ich ganz deutlich, und ich wäre dankbar, wenn das hier
im Parlament Übereinstimmung fände -, solchen Gruppen, auch wenn sie regierungsamtlich gefördert worden
sind oder gefördert werden, muss man eine Absage erteilen.
({3})
Auch für Russland ist Nationalismus keine sinnvolle Alternative; das muss klar sein.
Dann lohnt es sich, sich das Ergebnis gründlich anzuschauen. Das ist natürlich vor allem eine Sache der russischen Kolleginnen und Kollegen selber. Ich habe mit
meinen Freunden in Russland telefoniert, gesprochen,
debattiert, weil mich sehr interessiert hat: Warum haben
die Menschen so gewählt, wie sie gewählt haben? Da
werden mir vor allen Dingen drei Gründe genannt.
Der erste Grund, den man bedenken muss, ist, dass in
diesen Wahlen auch ein Stück weit sozialer Protest
steckt. Die Regierungspartei sollte sich klar darüber
sein: Nicht nur die Neureichen in Russland sind interessant. Sie sollten einmal in die Metrostationen in Moskau
und woandershin schauen, wo die armen Menschen ihr
Überleben sichern. Da steckt sozialer Protest drin.
Es ist ein Protest der Mittelschicht. Das ist völlig eindeutig ablesbar. Das erfordert doch politische Schlussfolgerungen, für Russland selber, aber auch für die deutsche Politik gegenüber Russland.
Ferner ist es ein Protest - und das nicht wenig - gegen
den Zynismus der Macht. Dieses Jobsharing zwischen
Putin und Medwedew musste den Protest herausfordern.
({4})
Ich bin froh, dass dieser Protest auch in dieser Art gegen den Zynismus der Macht gerichtet worden ist. Was
das für die Präsidentschaftswahlen bedeutet, kann noch
ziemlich spannend werden.
Ich kann der deutschen Politik, also uns selber, nur
anraten: Möglicherweise ist die Kommunistische Partei
Russlands sehr sperrig - das ist sie mit Sicherheit -, aber
schauen Sie einmal genau hin. Sie ist die stärkste Oppositionspartei. Wenn man Politik verändern will, muss
man mit einer starken Oppositionspartei kooperieren.
({5})
Das Letzte ist eine Bitte, die ich an uns richte. Wenn
wir nicht jetzt und langfristig auf die russische Gesellschaft zugehen, dann werden wir nichts bewegen. Ich
möchte, dass die Visafreiheit jetzt ganz deutlich im Rahmen eines fraktionsübergreifenden Votums von diesem
Parlament unterstützt und in den Vordergrund gebracht
wird.
({6})
Das ist für Deutschland vernünftig. Das wäre für
Russland vernünftig. Ich bin davon überzeugt worden,
dass die Frage der Visafreiheit zu einer der zentralen
Fragen auch im Präsidentschaftswahlkampf werden
wird. Wo man übereinstimmt, kann man wohl auch irgendwann etwas Übereinstimmendes machen.
Denken Sie auch einmal darüber nach - damit will ich
zum Schluss kommen -, ob nicht gemeinsame Netzprogramme sinnvoll sind. Ich möchte nicht, dass Überwachungsprogramme deutscher Technik an Russland verkauft werden, mit denen Netze kontrolliert werden. Ich
möchte gemeinsame Netzprogramme mit offener Debatte haben.
({7})
Das ist eine Hilfe für die russische Zivilgesellschaft
und für die russische Kooperation. Mein Vorschlag ist,
dass wir über solche Fragen nachdenken und diskutieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Gehrcke. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Marieluise Beck. Bitte schön, Frau
Kollegin Marieluise Beck.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat: Es hat eine atemberaubende Entwicklung in
Russland gegeben, und niemand hat das vorhergesehen wir nicht und wohl auch nicht die Herren im Kreml und
im Weißen Haus.
Sie haben auf die historische Verpflichtung hingewiesen, Herr Gehrcke. Unsere historische Verpflichtung ist,
dass wir an der Seite der Demokraten in Russland stehen
und nicht an der Seite, die Sie eben mit „Zynismus der
Macht“ beschrieben haben.
({0})
Diese jungen Menschen haben auch das Recht, uns Fragen zu stellen.
Es hat hier Aussprüche und Einschätzungen gegeben,
dass Präsident Putin ein lupenreiner Demokrat sei. Er ist
von vielen Seiten hofiert worden. Es kann nicht darum
gehen, aus Wandel durch Annäherung einen Wandel
durch Anbiederung zu machen.
War es angemessen, dass der Ost-Ausschuss der
Deutschen Wirtschaft vor den Wahlen ohne jegliche Not
bereits seine tiefe Genugtuung darüber ausgedrückt hat,
dass ein zukünftiger Präsident Putin wieder am rechten
Ort in Russland sein wird? Ist das unsere Angelegenheit?
Muss die deutsche Wirtschaft sich in Russland so bewegen? Ich glaube, nicht.
({1})
Es hat schon einmal einen großen historischen Irrtum
aus Politik und Wirtschaft gegeben, und zwar gegenüber
Polen. Der Westen hat nämlich noch das Militärregime
Jaruzelski gestützt, als sich in Polen bereits die Demokratie- und Bürgerbewegung Solidarnosc formiert hatte,
an deren Seite Deutschland sich zu spät gestellt hat.
({2})
Das alles ist immer mit dem Wunsch und dem Mythos
von Stabilität zu erklären. Diese ist immer mit dem Namen Putin verbunden worden. Ich aber sage: Putin steht
Marieluise Beck ({3})
nicht für Stabilität. - Vielleicht beginnt uns das langsam
zu dämmern.
Ein Land, in dem der Rechtsnihilismus vom Präsidenten selbst diagnostiziert wird, ein Land, das in der Korruption versinkt - darunter leiden nicht nur Ausländer,
sondern auch Bürgerinnen und Bürger, die in Moskau
für jeden Cappuccino 8 Euro bezahlen müssen, weil die
Kette davor aus Abdrücken von Schutzgeldern besteht -,
ein Land, in dem Zehntausende russische Unternehmer
staatlicher Willkür ausgesetzt sind und mit der Justiz zusammenstoßen - unter anderem, weil ihr Unternehmen
von jemand anderem aus dem Apparat der Macht begehrt wird -, ein Land, in dem die freie Presse massiv
eingeschränkt ist, ein Land, in dem kritische Journalisten
und Journalistinnen sowie Menschenrechtlerinnen und
Menschenrechtler um ihr Leben fürchten müssen, ist
nicht stabil.
({4})
Herr Kollege Schockenhoff hat zu Recht ausgeführt,
dass Modernisierung - auch das wird ja aus Russland
selbst formuliert - nicht geht ohne eine Gesellschaft, in
der sich freie Kräfte entfalten können, und zwar in jeder
Hinsicht von Demokratie: über das Unternehmertum,
über die freie Debatte, über die Presse und damit natürlich auch über die Bekämpfung von Korruption.
Dieser Protest - das hat Kollege Link eben gesagt hat eigentlich am 24. September dieses Jahres begonnen.
Es war der russischen Bevölkerung schlichtweg „too
much“: dieses dreiste Schauspiel, das Medwedew und
Putin da im Fernsehen der Bevölkerung gezeigt haben.
Damit bin ich auch bei der Frage der Wahlfälschungen. Man kann davon ausgehen, dass das Absacken der
Kreml-Partei Einiges Russland noch viel höher ist als die
15 Prozent, die jetzt zugegeben werden mussten.
({5})
Dieses Foto stammt aus dem Wahllokal 2077 in Moskau. Man sieht hier eine junge Frau, die 17 Wahlscheine,
angekreuzt für Geeintes Russland, in die Urne stecken
wollte. Verhindert werden konnte das nur durch aufmerksame russische Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter, die unsere internationale Unterstützung und
unseren Schutz brauchen.
Es kann nicht angehen, dass eine Organisation wie
Golos, die angefangen hatte, ein flächendeckendes Netz
für eine Wahlbeobachtung aufzubauen, nunmehr vom
Staatsanwalt bedrängt wird und dass die Vorsitzende dieser Organisation nicht mehr nach Deutschland ausreisen
kann.
Das ist die Realität. Sie ist anders als das, was Herr
Putin heute Morgen in seiner Fernsehschau dargestellt
hat. Das heißt, wir müssen fordern, dass diese Schikane
von Wahlbeobachtungen eingestellt wird.
({6})
Wer jetzt Neuwahlen fordert, muss wissen, dass wirklich freie Wahlen nicht möglich sind, wenn vorher eine
freie Zulassung von Parteien gar nicht stattgefunden hat.
Auch die Orientierung auf die Präsidentschaftswahl
muss uns klarmachen, dass überhaupt gar keine Kandidaten mehr eine Chance haben. Sie brauchen nämlich
2 Millionen Unterschriften, bis zum 15. Januar gesammelt, um zu dieser Wahl zugelassen zu werden. Das wird
es wohl nicht geben.
Was ist unsere Aufgabe? Unterstützung gerade für die
jungen Menschen. Es darf keinen chinesischen Weg für
das Internet geben.
({7})
Der FSB hat bereits angekündigt, dass er dem Internet an
die Gurgel will. Vor allen Dingen brauchen wir - das ist
das Wichtige - Reisefreiheit für junge Menschen. Dass
meine junge Übersetzerin sagt: „Es ist mir bis zum heutigen Tag nicht gelungen, auch nur einmal in das englischsprachige Ausland zu reisen, weil ich einfach kein Visum bekomme“, ist ein Skandal. Unsere Innenpolitiker
müssen aufhören, die Außenpolitik zu machen.
({8})
Wir brauchen Visafreiheit für die Außenpolitik.
Schönen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Beck. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Philipp Mißfelder. Bitte schön,
Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es richtig, dass wir hier mit dieser Aktuellen Stunde zeigen, dass die Solidarität in unserem
Haus denjenigen gilt, die sich demokratisch und friedlich an einer Demokratisierungsbewegung in Russland
beteiligen wollen, und eben nicht denjenigen, die offensichtlich Wahlen fälschen.
Vor diesem Hintergrund ist schon jetzt anzumerken,
dass wir hier nicht in Hochnäsigkeit verfallen und die
Debatte mit erhobenem Zeigefinger gegenüber Russland
führen, sondern mit großer Gemeinsamkeit sagen, dass
uns nicht diejenigen am Herzen liegen, die zu einer Radikalisierung im politischen Spektrum in Russland beitragen wollen, sondern diejenigen, die dazu beitragen
wollen, dass sich eine demokratische Mitte oder auch
liberale Parteien, die sich am Westen orientieren, herausbilden.
({0})
Man muss allerdings einschränkend sagen: Unsere
Sympathie gilt dort vor allem denjenigen, die demonstriert haben, und nicht unbedingt denjenigen, die bei
den Wahlen aus Protest vielleicht viel besser abgeschnitten haben, als sie es verdient hätten.
({1})
Immer wieder wird gefragt: Was ist die Alternative zu
Putin oder zur Putin-Partei? Die Alternative ist häufig
Separatismus, Rechtsradikalismus, Nationalismus oder
eben Kommunismus. Das ist nicht in unserem Interesse,
weder außenpolitisch noch von unserem Grundverständnis für Demokratie her.
Allerdings muss ich auch sagen - das muss man sich
bei dieser Wahl genau anschauen -: Viele der jungen
Menschen, die demonstriert haben, haben bei den Wahlen Kommunisten oder andere Parteien gewählt, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen, weil sie keine andere Möglichkeit hatten; denn der Parteienbildungsprozess ist noch nicht in dem Zustand, wie wir ihn uns
wünschen, dass es also tatsächlich demokratische Alternativen gibt, die man wählen kann und die in der Mitte
des politischen Spektrums angesiedelt sind, anstatt in nationalistischer Art und Weise die separatistischen Bestrebungen einer Kleinstregion zu unterstützen, womit sie
gegen vitale außenpolitische Interessen unsererseits verstoßen und damit Russland in Instabilität stürzen würden.
Vor diesem Hintergrund muss man sich genau anschauen, wer dort demonstriert. Man kann jetzt schon
positiv bilanzieren, dass die Art und Weise der Demonstration vom Samstag - und auch die Teilnehmer dieser
Demonstration - auf jeden Fall ein großer Schritt in
Richtung Demokratisierung Russlands war.
({2})
Diesen Schritt müssen wir weiter unterstützen. Wir
blicken jetzt mit Spannung auf den 24. Dezember dieses
Jahres, um zu sehen, wie viele Menschen zusammenkommen werden. Ich sage: Es spielt wahrscheinlich gar
keine so große Rolle, ob es wesentlich weniger oder wesentlich mehr als letzten Samstag sein werden.
Wünschenswert ist vielmehr, dass jeder, der plant, zu
einer solchen Demonstration zu gehen, die Möglichkeit
hat, dies angstfrei zu tun, dort friedlich zu demonstrieren
und den Demonstrationsplatz ohne Sorge - Herr
Gehrcke hat es angesprochen - zu verlassen, ohne Angst
an seinem Arbeitsplatz, in seinem Studienumfeld oder
im privaten Umfeld haben zu müssen. Das muss garantiert werden. Deshalb müssen wir mit großer Aufmerksamkeit auf diese Demonstration schauen und sehen,
was dabei herauskommt.
Tatsächlich wäre es wünschenswert, dass die Hürden
zur Parteiengründung den politischen Realitäten angepasst werden, sodass auch demokratische Parteien eine
Chance haben, zusätzlich zur Wahl zugelassen zu werden. Der Beitrag, den wir dazu leisten können - er dürfte
relativ gering sein -, ist, dass wir über die politischen
Stiftungen den Austausch intensivieren, den Dialog suchen, aber auch mit denjenigen reden, die jetzt im politischen System in Russland sind. Denn ich glaube nicht,
dass dieses Wahlergebnis spurlos an allen Parteien in
Russland vorbeigehen wird. Ich glaube, dort sind die Signale in die eine oder andere Richtung schon sehr wohl
gesehen worden. Es ist immer die Frage, welche Konsequenzen der eine oder andere zieht, aber ich glaube, der
Denkzettel, den die russische Regierung bekommen hat,
kann nicht übersehen werden.
Das Allerwichtigste, das wir leisten können - Franz
Thönnes hat es vorhin dankenswerterweise angesprochen -, ist in einem viel größeren Rahmen der Willkommenskultur unseres Landes zu sehen und betrifft die
Frage: Wie gehen wir mit der Visapraxis um? Michael
Link hat vorhin gesagt - dem möchte ich mich anschließen -: Visafreiheit mit Russland ist ein politisch erstrebenswertes Ziel. Das werden wir nicht kurzfristig erreichen. Ich halte allerdings das Ziel auch für erstrebenswert, und wir sollten daran arbeiten.
Was wir kurzfristig tun können, ist, die Visapraxis
massiv zu erleichtern. Denn was für eine Enttäuschung
muss es für jemanden sein, der in diesem politischen
System unter Repressionen lebt, nach Deutschland kommen und sich beispielsweise mit uns austauschen will,
aber nicht die Möglichkeit dazu bekommt! Deshalb sage
ich ganz klar: Die Willkommenskultur gegenüber all
denjenigen in der russischen Bevölkerung, ob politische
oder unpolitische Menschen, muss ausgeprägter werden.
Es darf nicht mit Vorurteilen argumentiert werden. Russland ist unser Nachbar und soll unser stabiler, uns
freundschaftlich gesonnener Partner bleiben. Das Beste,
was wir tun können, um dazu einen Beitrag zu leisten,
ist, den Austausch zwischen den Menschen zu vertiefen
und zu verbessern. Deshalb bin ich für eine liberalere
Visapraxis und Visavergabe. Vor diesem Hintergrund
sollten wir gemeinsam die Initiative ergreifen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Mißfelder. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Gernot Erler.
Bitte schön, Kollege Gernot Erler.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
1919 hat der amerikanische Autor John Reed ein Buch
veröffentlicht: „Ten Days that Shook the World“, in der
deutschen Übersetzung „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Dieser Titel ist zu einer Art Epitheton für
die Oktoberrevolution von 1917 geworden. Aus der russischen Szene erreichen uns in diesen Tagen dramatische
Nachrichten. Manche Kommentatoren erwecken den
Eindruck, dass wieder eine solche Situation da ist.
Ich teile diese Einschätzung nicht, aber wenn überhaupt, dann könnte man vielleicht von „Sechs Tagen, die
Russland verändern werden“ sprechen. Dieses Buch
müsste allerdings erst noch geschrieben werden. Es
würde anfangen mit dem Wahlsonntag am 4. Dezember,
als die Machtpartei Einiges Russland so viele Federn lassen musste: 15 Prozentpunkte weniger und der Verlust
von 77 Mandaten, und das trotz der vielen Unregelmäßigkeiten vor allen Dingen vorher bei der Nutzung der
sogenannten administrativen Ressourcen, über die berichtet wurde, trotz zahlreicher und konkreter Hinweise
auf Unregelmäßigkeiten am Wahltag und beim Auszählungsprozess und trotz solcher Superergebnisse wie in
Tschetschenien von über 90 Prozent, zu denen man sarkastischerweise seinen Dank dafür aussprechen muss,
dass nicht über 100 Prozent gemeldet worden sind.
Es ließe sich fortsetzen mit den Tagen danach, in denen sich erwies, dass die Menschen in Russland, die solche Unregelmäßigkeiten beobachtet haben, diesmal
nicht mehr bereit sind, ein solches Ergebnis hinzunehmen. Es waren erst nur wenige, die auf die Straße gingen, sich reihenweise verhaften ließen und Geld- und
Arreststrafen hinnahmen,
({0})
die aber weiter in den sozialen Netzwerken kommunizierten und sich zu der Demonstration am Samstag, dem
10. Dezember, verabredeten, für die erst nur 300 Teilnehmer gemeldet wurden. Aber dann begann über Facebook eine Anmeldewelle: erst 10 000, dann 20 000,
30 000, 40 000 und dann immer mehr. Dann passierte ein
kleines Wunder. An anderer Stelle in Moskau wurde eine
Demonstration mit 30 000 Teilnehmern zugelassen, und
die 52 000 mobilisierten Polizisten wurden nicht gegen
die Demonstranten eingesetzt, sondern zu einer Kontrolle des Ablaufs dieser Großveranstaltung. Die nächste
große Protestversammlung - das ist schon mehrfach erwähnt worden - ist für den 24. Dezember, unseren Weihnachtstag, angemeldet, und es erfolgte schon die Einberufung einer Sondersitzung des Menschenrechtsrats
beim Präsidenten für den 23. Dezember, um über diese
ganzen Vorgänge zu beraten.
Dieses gar nicht so kleine Wunder in Moskau lässt
vielleicht auf einen Lernprozess an der Spitze schließen.
Ich finde, es wäre wünschenswert, wenn dieser stattfinden würde; denn ein solcher Lernprozess ist in der Tat
überfällig.
({1})
Für mich hat sich diese Notwendigkeit allerdings
schon am 24. September gezeigt, als der Ämtertausch
von Medwedew und Putin vereinbart wurde. Der geschah in der sicheren Annahme, dass das Publikum applaudieren würde. Das hat es aber nicht gemacht, im Gegenteil. Danach begannen Diskussionen, auch in der
Öffentlichkeit, über zweimal sechs Jahre Sastoi, Stillstand, in der russischen Gesellschaft. Dann gab es noch
diese Riesenpanne am 21. November bei dem Auftritt
Putins in dem olympischen Sportcenter, als er einen
Boxkampf für seinen Wahlkampf instrumentalisieren
wollte und dafür viele Pfiffe hinnehmen musste.
Was für eine Fehleinschätzung, was für ein Realitätsverlust bei der Einschätzung gesellschaftlicher Stimmungen! Das ist eine Lektion in Sachen Demokratie und
Stabilität. In der gelenkten Demokratie, in der Wahlen
nicht als Seismografen für gesellschaftliche Meinungsbildung, sondern als bloße Herausforderung für entsprechende Machtapparate gesehen werden, gehen wichtige
Signale und Informationen verloren. Wer diese Signale
und Informationen einfach ignoriert, wirkt plötzlich
ohne Bodenhaftung, geradezu ratlos und alles andere als
Stabilität organisierend.
({2})
Das ist die Lehre, die von diesen sechs Tagen eigentlich
für die Führung ausgehen sollte. Nur über Demokratisierung kann eine nachhaltige Stabilisierung, an der bei vielen Nachbarn Russlands, aber auch in Russland selbst
großes Interesse besteht, erreicht werden.
({3})
Es ist unsere Aufgabe, durch unsere Angebote, vor allen
Dingen über die Modernisierungspartnerschaft, genau
diesen Lernprozess zu unterstützen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Gernot Erler. - Jetzt für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Marina Schuster.
Bitte schön, Frau Kollegin Schuster.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einer Grundsatzrede vor seinem Amtsantritt beklagte
Präsident Medwedew, dass sich in Russland kaum jemand an existierende Gesetze halte. Der studierte Jurist
Medwedew nannte dieses Problem Rechtsnihilismus,
von dem Russland so betroffen sei wie kein zweites
Land. Diesen Rechtsnihilismus wollte Medwedew entschlossen bekämpfen. Von diesem neuen Wind im
Kreml erhofften sich damals viele Verbesserungen.
Nun, fast vier Jahre und eine Duma-Wahl später, müssen wir Bilanz ziehen. Wie sieht denn der angekündigte
Fortschritt aus? Die Bilanz ist erschreckend. Hier von einer Verbesserung in Sachen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sprechen, verbietet sich
gerade mit Blick auf die jüngsten Ereignisse.
Ich möchte auf die Korruption - viele Kollegen haben
sie schon erwähnt - zu sprechen kommen, die Russland
nach wie vor fest im Griff hat. Wer sich Bestechlichkeit,
Vetternwirtschaft oder organisierter Kriminalität widersetzt, weil er an das Richtige glaubt, nämlich an Recht
und Gesetz, dem ergeht es wie Sergej Magnitskij. Der
Rechtsanwalt Sergej Magnitskij hat einen Steuerbetrug
von mehreren Hundert Millionen US-Dollar zulasten des
russischen Volkes aufgedeckt und angeprangert. Statt
ihm zu danken, seinen Vorwürfen ernsthaft nachzugehen
und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wurden ebendiese Personen mit der Verhaftung von Magnitskij beauftragt. Während die Täter frei waren, starb Magnitskij
am 19. November 2009 in der Haft einen qualvollen Tod
infolge von Folter, Misshandlung und Vorenthaltung von
medizinischer Hilfe.
Dies hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bereits
im Jahr 2009, als Magnitskij noch lebte, in ihrem Bericht
für die Parlamentarische Versammlung des Europarates
kritisiert, ganz klar benannt, und sie hat sich mehrmals
an die Behörden gewandt. Wir erleben nun eine unzureichende Aufarbeitung, wenn man bei dem, was
Medwedew eingeleitet hat, überhaupt von einer Aufarbeitung sprechen kann. Diese Aufarbeitung zeigt auch
die Absurdität des Systems: Das Opfer wurde zum Täter
verunglimpft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Fall steht
exemplarisch dafür, dass der Rechtsnihilismus in Russland nicht ernsthaft bekämpft wird;
({0})
denn im Grunde haben sich viele mit diesem System
arrangiert. Wir werden hier auch nicht wegschauen;
denn wir müssen Russland an seinen Taten messen und
nicht nur an seinen Worten. Die Taten haben wir bei den
letzten Wahlen gesehen: massive Wahlfälschungen im
Vorfeld, aber auch während des Wahlprozesses. Meine
Kollegin Marieluise Beck hat es angesprochen - sie war
selber für die Parlamentarische Versammlung des Europarates Wahlbeobachterin -: Wir erlebten befüllte Wahlurnen bereits vor Öffnung des Wahllokals, Soldaten, die
für ihre Kameraden abstimmten, ganze Belegschaften,
denen man mit Kündigung drohte, falls sie nicht für die
Regierungspartei Einiges Russland stimmen, und organisierte Mehrfachstimmabgaben. Dazu kommen die Beeinflussungen und Einschränkungen vor der Wahl. So ist
die Partei PARNAS wieder nicht zugelassen worden;
man hat ihre Zulassung verhindert. Insofern muss man
gerade ODIHR und Heidi Tagliavini für ihren klugen
Bericht loben, in dem sämtliche Verfehlungen bereits
vor der Wahl aufgedeckt wurden.
({1})
Putin hat unabhängige Wahlbeobachter schon im Vorfeld der Wahlen als Judasse bezeichnet. Das zeugt natürlich von einem großen Demokratiedefizit. Das zeugt
aber auch von großer Nervosität und Angst vor Verlust
an Einfluss.
Ich möchte auch die unabhängige Wahlbeobachterorganisation Golos erwähnen. Sie wurde von der Staatsanwaltschaft aufgesucht, deren Mitarbeiter wurden eindringlich befragt und unter Druck gesetzt. Diese
Einschüchterung erfuhr leider eine weitere Steigerung:
Lilija Schebanowa, Vorsitzende von Golos, fand am
Abend des 12. Dezember Schmierereien, unter anderem
mit Todesdrohungen, im Hausflur neben ihrer Wohnung.
Ich sage hier klar vor diesem Haus: Frau Schebanowa,
Sie haben unsere Unterstützung und unseren Schutz.
({2})
Aber auch die politische Konkurrenz wird massiv angefeindet. Erst gestern wurden Konstantin Smirnow und
andere Mitglieder von Jabloko sowie oppositionelle
Journalisten inhaftiert. Das ist eine Eskalation, die ich
sehr erschreckend finde.
Umso erfreulicher ist es, dass so viele Menschen den
Mut gefunden haben, den Protest auf die Straße zu bringen und den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Die
Demonstranten zeigen damit eine Beharrlichkeit, die
auch das Regime in ernste Probleme bringen könnte.
Das sieht man auch daran, wie die Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vorgehen.
Ich fordere deswegen ganz klar: Russland muss zurück auf den Weg der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese Konvention hat Russland selbst durch
die Mitgliedschaft im Europarat anerkannt, und es sollte
die Prinzipien des Europarats auch endlich verinnerlichen. Russland sollte an der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention arbeiten, statt sie zu
negieren. Das ist das Signal, das wir heute nach Russland senden Aber viel mehr ist es das Signal unserer Unterstützung für die Demonstranten, die für Demokratie
und Menschenrechte und gegen Stillstand, Stagnation
und Rechtsnihilismus auf die Straße gehen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Marina Schuster. - Jetzt
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Stefan Liebich.
Bitte schön, Kollege Stefan Liebich.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
stehen an der Seite der Hunderttausenden Russinnen und
Russen auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, in Sankt Petersburg und Perm, die sich für freie und faire Wahlen
und mehr Demokratie in ihrem Lande aussprechen.
Russland ist ein wichtiges europäisches Land, und
Russland ist ein entscheidender Akteur auf der internationalen Bühne, gerade wenn es um gemeinsame globale
Herausforderungen geht. Wir in Deutschland haben ein
Interesse an einer guten Partnerschaft mit Russland, gerade auch mit Blick auf die deutsch-russische Geschichte, wie es Herr Thönnes vorhin schon richtig erwähnt hat. Wir setzen dabei nicht auf eine falsch
verstandene Stabilität, die Veränderung durch Stillstand
oder autoritäre Regierungen ausschließt, sondern auf
Stabilität, die durch die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger nachhaltig gestaltet wird. Die geplante Rochade
zwischen Präsident und Ministerpräsident ist das Gegenteil davon. Die Demokratie wird so behandelt, als sei sie
das Privatspielzeug zweier Herren.
Deswegen finde ich es gut, dass mit der Parlamentswahl ein Zeichen gesetzt wurde, nämlich dass die Bürgerinnen und Bürger in Russland eben nicht immer autoritäre Regierungen wählen oder ihnen folgen, weil das in
Russland so Tradition habe, wie gern gesagt wurde. Das
wiegt ja umso schwerer, als die Wahlen und der Wahlkampf nicht fair geführt wurden und der Verlauf selbst
Fragen aufgeworfen hat, wie es die Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihrem Mitgliedstaat Russland vorhalten musste. Auch der zunächst
erfolgte Einsatz staatlicher Gewalt gegen Demonstrantinnen und Demonstranten und die Einschränkung politischer Rechte wie der Versammlungs- und Medienfreiheit
unmittelbar nach der Wahl sind nicht akzeptabel. Es ist
absurd, wenn Ministerpräsident Putin das Ausland für
die Proteste verantwortlich machen möchte. Nationalismus und Wiederaufgreifen von Feindbildern zu Recht
vergangener Zeiten sind die falschen Reaktionen auf die
Proteste.
({0})
Ich hatte kürzlich Besuch von Jewgenija Tschirikowa.
Sie ist eine junge Frau, die um einen Wald, den ChimkiWald in der Nähe von Moskau, kämpft. Dieser Wald soll
durch eine Autobahn zerstört werden. Sie kämpft um
Beteiligungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern und
damit gegen die Arroganz der Macht. Sie kämpft gegen
Baufirmen, die eher als eine Baumafia anzusehen sind.
Sie kämpft gegen Korruption und Vetternwirtschaft, aber
eben auch gegen die Interessen von dubiosen Tarnfirmen
im Bunde mit einer großen Firma aus der Europäischen
Union, dem französischen Konzern Vinci.
Frau Schuster, wenn Sie sagen, viele hätten sich mit
dem System arrangiert, so ist festzustellen, dass dazu leider auch Firmen aus Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gehören. Da schadet der Westen der Demokratie.
Denn gegen Umweltaktivisten und engagierte Bürger
vor Ort reichte nicht die massive bürokratische Schikane, die es ohnehin gab. Nein, rechte Schlägertrupps
sind gegen die Zelte friedlich demonstrierender Protestierer vorgegangen. Frau Tschirikowa und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter geben nicht auf. Sie kämpfen
weiter. Diese junge, mutige Frau, die den Bürgerprotest
dort seit vielen Monaten anführt, gibt Anlass zur Hoffnung. Das ist die Zivilgesellschaft, die ein modernes
Russland braucht.
({1})
Die Zahl derer, die sich ihre Bürgerrechte nicht mehr
einschränken lassen wollen, wächst. Im Wahlergebnis
zeigt sich weiter - das hat mein Kollege Wolfgang
Gehrcke vorhin schon erwähnt -, dass auch die wachsende soziale Spaltung immer weniger akzeptiert wird.
Dass die Armen immer ärmer und die Oligarchen immer
reicher werden, trifft auf Widerstand. Das finden wir
sehr gut. Deshalb ist es ein wichtiges Zeichen, wenn der
Bundestag den Demokratinnen und Demokraten Russlands, und zwar nicht den „lupenreinen“, sondern den
echten auf der Straße, zeigt, dass wir mit ihnen solidarisch sind.
Aber - die Vorrednerinnen und Vorredner haben es
angesprochen - wir können mehr tun als reden. Wir
müssen auch handeln.
({2})
Die Menschen müssen sich begegnen können. Das fördert Verständnis, Vertrauen und Solidarität. Das verändert vielleicht auch ein wenig in Russland. Eine ganz
wesentliche Voraussetzung für mehr Kontakte ist die Erteilung von mehr Visa. Ich kann allen recht geben, die
das bisher gesagt haben. Ich muss aber Sie, Herr
Mißfelder, da konkret ansprechen: Es liegt letztlich an
Ihnen, an der CDU/CSU-Fraktion. Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, dass sich die konservativen Innenpolitiker
Ihrer Fraktion endlich einen Ruck geben
({3})
und zügig den Weg freimachen für mehr Freiheit der
Bürgerinnen und Bürger Russlands. Hier können wir real
handeln. Ich bitte Sie - ich weiß, viele in Ihrer Fraktion
kämpfen dafür, aber es sind offenkundig noch nicht genug -: Handeln Sie dort endlich!
({4})
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Putin
und Medwedew können nicht mehr so weitermachen wie
bisher. Der Druck der Straße, aber auch bleibende internationale Aufmerksamkeit sind dazu wichtig. Ich hoffe,
dass wir dazu hier heute einen kleinen Beitrag geleistet
haben.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Kollege Liebich. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Bernhard
Kaster. Bitte schön, Kollege Bernhard Kaster.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ja, es ist viel in Bewegung in Russland.
Die russische Gesellschaft ist in Bewegung. Viele spreBernhard Kaster
chen davon, wie überrascht man von dem Umfang der
Proteste und Demonstrationen und von dem Mut sei.
Ja, man kann von dem Mut überrascht sein; aber überrascht von der Unruhe und dem Aufbruch in der russischen Gesellschaft kann man eigentlich nicht sein, wenn
man in den letzten Monaten und Jahren in Russland in
der Zivilgesellschaft unterwegs war. Es wächst das Bedürfnis nach Mitsprache und nach echter Demokratie. Es
wächst der Wille, sich als Bürger zu engagieren und sich
aktiv einzubringen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in
Russland hat sich in den letzten Jahren sehr wohl gravierend verändert, steht aber immer stärker im Widerspruch
zu den tatsächlichen politischen Strukturen. Dieser Widerspruch ist immer stärker geworden.
Eine eigene Beobachtung dazu: Ich war vor einigen
Wochen Teilnehmer einer Veranstaltung in Moskau zum
Thema: Staat und Bürger, Bürgerengagement, Bürgerbeteiligung. Sie fand statt in der „Gesellschaftskammer“.
Wie in Russland insgesamt üblich, hat man auch die
Zivilgesellschaft in einen gesetzlich genau fixierten Rahmen eingeordnet. Ich sage Ihnen: Ob nun „Gesellschaftskammer“ oder das Gesetz zur Registrierung von
Nichtregierungsorganisationen - das alles ist ein Widerspruch in sich. Bei dieser Veranstaltung ist sehr deutlich
geworden, was unter der Oberfläche brodelt. Dort wurde
nicht nur über Bürgerengagement bei den Feuerwehren
gesprochen, sondern das Ganze war viel breiter angelegt.
Dabei hat man das gespürt.
Das Bedürfnis nach mehr Demokratie, nach mehr
Bürgerengagement, man spürt es in Gesprächen mit
Austauschstudenten, man spürt es in der ganzen Breite
der Gesellschaft - von Künstlern genauso wie von Wirtschaftsvertretern -, man spürt es und hört es, wenn man
in den zwischenzeitlich rund 100 russischen Städten unterwegs ist, die enge, freundschaftliche Städtepartnerschaften nach Deutschland unterhalten. Auch in Russland hat die kommunale Selbstverwaltung schon viele
Freunde gefunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist die Botschaft der jetzigen Proteste und Demonstrationen? Ist es
alleine die Wahlauszählung im engeren Sinne? Nein, sie
ist nur der Anlass, sie ist der Auslöser. Das hat das Fass
eben zum Überlaufen gebracht. Oder ist es eine konkrete
andere politische Parteienkonstellation, deren Wahlniederlage vielleicht angezweifelt wird? Nein, auch das ist
es nicht; denn die politischen Alternativen sind sehr unklar.
Die Botschaft der Proteste ist sehr eindeutig: Es geht
um mehr Demokratie, es geht um mehr Bürgergesellschaft. Die Menschen in Russland möchten sich engagieren für ihre Städte vor Ort, für die russische Gesellschaft, für ihr Land. Die Bürger selbst - das Engagement
dieser Bürger - sind immer die eigentliche Stärke eines
Landes. Bürgerengagement aber bedingt eine unabhängige Justiz, eine freie Presse sowie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.
({0})
Man kann es übersetzen: Bürgerengagement bedingt
Vertrauen in einen Staat.
Warum ist dieses Fass übergelaufen anlässlich der
Duma-Wahlen, anlässlich der bevorstehenden Präsidentenwahl? Es ist deshalb übergelaufen, weil bei den Wahlen selbst - das haben auch die Wochen davor deutlich
gemacht - der wesentliche Kernbestandteil der Demokratie gänzlich fehlte. Dieser Kernbestandteil heißt: die
Chance auf einen Wechsel. Die Menschen haben es gespürt: Dieser Kernbestandteil hat gefehlt.
({1})
Deutschland und Russland sind ja sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft partnerschaftlich und
freundschaftlich eng miteinander verbunden. Deutschland genießt in Russland großes Ansehen als wichtigster
europäischer Partner. Deshalb sollten wir uns unserer besonderen Verantwortung bewusst sein - und zwar klug,
besonnen und verantwortungsvoll -, wenn Russland an
einem politisch-gesellschaftlichen Scheideweg steht.
({2})
Lassen Sie mich sagen: Konkret sollten wir den Menschen in Russland Mut machen, ihr bürgerschaftliches
Engagement nach Kräften stärken, den Rechtsstaat mit
unabhängiger Justiz und Meinungsfreiheit unterstützen.
Wir sollten die Grundregeln der Demokratie einfordern,
um Demokratie in ihren Kernbestandteilen - das heißt:
echtes Wahlrecht - auch zu praktizieren. Hier wurden
vor Jahren riesige Fehler gemacht, als das Wahlrecht
noch einmal verändert und mit neuen Hürden versehen
worden ist. Echter Wettbewerb sollte ermöglicht werden.
Wir sollten die Zivilgesellschaft insgesamt stärken durch
weitere kommunale Partnerschaften, durch den Ausbau
des Jugendaustauschs - eben durch gesellschaftliche Zusammenarbeit und Austausch.
Ich stimme allen Vorrednern zu: Wir können das
Thema Visafreiheit und Visabedingungen konkret auf
den Weg bringen. Da sind wir schon Schritte weiter.
Auch dem stimme ich aber zu: Maßstab dürfen hierbei
nicht kriminelle Minderheiten sein, sondern Maßstab
muss die russische Gesellschaft in der Breite sein.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir sprechen immer gerne von den
deutsch-russischen Beziehungen im Sinne einer strategischen Partnerschaft bzw. einer Modernisierungspartnerschaft. Vielleicht sollten wir eine Demokratiepartnerschaft, eine Partnerschaft auch der Werte anstreben.
({4})
Leo Tolstoi hat so schön gesagt: „Es sind immer die
einfachsten Ideen, die außergewöhnliche Erfolge haben.“ Ja, die Idee der Freiheit ist ganz einfach. Die Menschen in Russland sehen das auch so. Wir sollten Gesellschaft und Politik dabei unterstützen.
({5})
Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck.
Bitte schön, Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese von
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam
beantragte Aktuelle Stunde ist ein starkes Signal an die
Demokratiebewegung in Russland. Wir als Deutscher
Bundestag zeigen damit: Wir stehen an der Seite des russischen Volkes, an der Seite der Demokratinnen und Demokraten in Russland und gegen eine Macht, die, wie
Sie es gesagt haben, keinen Wechsel zulässt und letztlich
keine Demokratie in der Zivilgesellschaft anerkennt.
({0})
Präsident Putin hat das heute in seiner Rede wieder
dokumentiert, indem er die Opposition insgesamt diffamierte. Er rief allen Demonstrantinnen und Demonstranten zu: Es gibt sicher auch Menschen mit russischem
Pass, die im Interesse fremder Staaten und für fremdes
Geld handeln. - Das ist infam. Damit wird versucht, den
Protest in die Ecke des Unpatriotischen und des ausländischen Einflusses zu stellen. Ich befürchte auch, dass
das der Beginn einer Kampagne gegen die demokratische Opposition sein könnte.
({1})
Wir als Deutscher Bundestag sollten uns den Forderungen des Europäischen Parlaments anschließen: Die
Wahlen müssen unabhängig und international untersucht
werden. Wenn sich die Wahlverstöße bestätigen, muss es
zu Neuwahlen kommen. Neuwahlen setzen aber auch eines voraus: Bei den Duma-Wahlen und bei den Präsidentschaftswahlen müssen sowohl neue Bewerber als
Kandidaten wie auch neue Parteien zugelassen werden.
Das setzt eine massive Herabsetzung der Hürden für die
Registrierung voraus. Ansonsten können neue demokratische Kräfte das faktisch nicht schaffen.
({2})
Deshalb brauchen wir hier ein generelles Umdenken,
und wir müssen, glaube ich, gerade in diesen Tagen genauer hinschauen.
Es war gut, dass es auf Moskaus Straßen nicht zu Gewalt gekommen ist, dass die Polizei besonnen gehandelt
hat. In vielen Provinzstädten aber - einschließlich der
Metropole Sankt Petersburg - gab es über 400 Festnahmen.
({3})
100 von diesen Menschen sitzen noch in Haft, andere
müssen in den nächsten Wochen mit Administrativhaft
rechnen. Auch diese Menschen haben unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung im internationalen
Dialog verdient.
({4})
Es ist auch nicht so, dass in Moskau nichts passiert. In
dieser Woche wurden der Chefredakteur Maxim
Kowalski von Kommersant und der Leiter der MediaHolding von Kommersant, Andrej Galijew, entlassen,
weil sich die Zeitung erlaubt hat, dieses Foto zu veröffentlichen, das ich Ihnen hier zeige. Das ist ein Wahlzettel mit einem Spruch, der Herrn Putin etwas beleidigt.
Es ist aber ein Zeitdokument. So etwas dürfen Journalisten dokumentieren, wenn Pressefreiheit herrscht. Wenn
das der Grund ist, dass Journalisten ihre Stelle verlieren,
dann zeigt dies, wie es um die Pressefreiheit in Russland
bestellt ist. - Auch das passiert dieser Tage. Deshalb sind
wir auch jetzt in der Weihnachtszeit aufgefordert, wachen Auges nach Russland zu schauen und zu reagieren,
wenn - trotz der Besonnenheit der letzten Tage - die Repression dort wieder zuschlagen sollte.
({5})
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sowohl
von der Politik als auch von der deutschen Wirtschaft
etwas weniger Naivität in der Betrachtung der innenpolitischen Verhältnisse in Russland. Rainer Lindner, der
Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen
Wirtschaft, hat zu den Wahlen Anfang Dezember gesagt:
Ich glaube, dass wir in Russland die ersten freien
Wahlen gesehen haben.
Da wird mir eigentlich nur noch übel.
Sein Chef, Herr Cordes, hat noch einen draufgesetzt
und gesagt, er wünsche Herrn Putin Erfolg bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.
Das ist ein Schlag ins Gesicht der russischen Demokratinnen und Demokraten. Es darf nicht sein, dass wir
wegschauen, bloß weil der Rubel rollt.
({6})
Ich muss sagen: Auch wir vonseiten der deutschen
Politik sind da nicht immer klar und deutlich. Im Zusammenhang mit der Ermordung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten in den letzten Jahren haben wir immer wieder vonseiten der
Bundesregierung gehört, man begrüße, dass Herr
Medwedew eine unverzügliche und energische Aufklärung der Taten verspreche. Wir haben dabei immer ausgeklammert, dass wir diesen Satz schon hundertmal gehört haben und die Täter jedes Mal nicht ermittelt, vor
Gericht gestellt und verurteilt wurden. Da darf man nicht
Volker Beck ({7})
wegschauen und sich auf solche Sprachformeln der russischen Propaganda einlassen. Vielmehr muss man sagen, dass man daran nicht glaubt, bis es tatsächlich zur
Aufklärung solcher Taten kommt und die Straflosigkeit
der Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger in Russland ein Ende findet.
Der Kollege Erler ist leider weg. Ich muss aber sagen:
Auch ich war über seine Pressemitteilung zu den russischen Wahlen ein wenig erstaunt, weil sie mich ein bisschen an die Sätze aus der Diskussion in der deutschen
Wirtschaft erinnert hat. Er bezeichnete die Wahlen als
Ausdruck einer gewissen Normalisierung der politischen
Zustände in Russland und forderte, Putin müsse den
Nachweis erbringen, dass er die dringend erforderliche
Modernisierung des Landes voranbringen kann. Ich
glaube nicht, dass Putin die Modernisierung des Landes
voranbringen will. Ich glaube auch nicht, dass Putin oder
Medwedew ernsthaft gegen die Korruption und die
Rechtlosigkeit vorgehen wollen. Die Korruption ist immanenter Bestandteil des Systems der Partei Einiges
Russland.
({8})
Die kommunistische Ideologie wurde durch korrupte
Verhältnisse ersetzt, und das hält die Maschinerie am
Laufen. Die Simonie in diesen Organisationen macht
keinen Sinn, wenn man die errungenen Positionen nicht
für Korruption ausbeuten kann. Deshalb brauchen wir
eine klare Sicht auf die Dinge.
Bei aller Diplomatie - Russland ist ein wichtiger Partner auf der Welt, ist unser Nachbar, ist Mitglied im UNSicherheitsrat - sollten wir in den russischen Verhältnissen nicht die Wahrheit übersehen. Das ist der erste
Schritt, den wir tun können - neben dem wichtigen
Schritt, jetzt etwas für die Visafreiheit zu tun: für die russische Jugend, die russischen Intellektuellen und die russischen Demokraten. Ich würde mir wünschen, dass sich
die Rednerinnen und Redner in dieser Debatte für einen
diesbezüglichen Gruppenantrag zusammentun.
({9})
Wir sind gemeinsam, fraktionsübergreifend davon überzeugt. Es geht hier nicht darum, eine Partei, eine Regierung vorzuführen, sondern konkret darum, etwas für die
Russinnen und Russen zu bewirken.
({10})
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich
Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Es ist gut, dass diese Debatte
stattfindet. Deutschland und Russland verbindet so viel:
Es gibt so viele Notwendigkeiten, dass Europa und
Russland zusammenarbeiten; wir haben gemeinsam so
viele Höhen und Tiefen, so viel schreckliche Gewalt und
so viele kulturelle Höchstleistungen gemeinsam, dass
wir gegenüber dem jeweils anderen nicht unaufmerksam
sein können.
({0})
Deshalb müssen wir auf das schauen, was in Russland
geschieht.
Bei diesen Wahlen ist nicht weniger geschehen, als
dass der Putin‘sche Ansatz, vom Kreml aus ein Parteiensystem zu etablieren, es für eine gelenkte Demokratie zu
nutzen, die Vertikale der Macht auszubauen und damit
sowohl eine erfolgreiche Veränderung des Landes als
auch alte Stärke und altes Ansehen zu erreichen, gescheitert ist. Die Menschen haben gemerkt, dass das
nicht von ihnen ausgeht und dass es ihnen nichts nutzt,
sondern dass es nur einer Schicht nutzt, die maximal
10 Prozent der russischen Bevölkerung ausmacht.
Russland ist ein reiches Land mit 80 Prozent wirklich
armen Menschen. Zu den anderen 20 Prozent gehören
wahnsinnig Reiche in einem korrupten System - Herr
Beck hat das gerade wunderbar beschrieben -, wo der
eine auf den anderen angewiesen ist und so das System
weiter verstärkt.
({1})
Es ist der wirtschaftlich freigesetzte, gut ausgebildete,
erfolgreiche und mit Lebenszielen versehene junge Mittelstand. Es ist doch selbstverständlich, dass sich die
Menschen, mit denen man das Land wirklich positiv verändern könnte - als Präsident, als Regierung, als Parlament -, auf Dauer eine weitere Entmündigung nicht gefallen lassen.
({2})
Wenn eine Regierung und ein Präsident so deutlich
zeigen, dass sie nicht nur kein Vertrauen zu den Menschen haben - sonst würden sie dazu beitragen, dass
politische Entscheidungsstrukturen von unten wachsen -,
sondern dass sie sogar glauben, ihnen eine Rochade zwischen Präsident und Ministerpräsident zumuten zu können, so als wenn es der Wahl gar nicht mehr bedürfte,
dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn der Schuss
nach hinten losgeht. Deshalb haben wir allen Grund, denen zu danken, die jetzt zeigen, dass demokratische Substanz in Russland vorhanden ist, die zu unterstützen es
wert ist.
({3})
Natürlich hat Kollege Erler recht. Auch mir ist ein
Stein vom Herzen gefallen, dass es in Moskau nicht zugegangen ist wie in Minsk oder in Damaskus. Aber das
ist nur die halbe Wahrheit. Die gesetzlichen Grundlagen
für den Umgang mit Demonstranten, wie er jetzt zu be17832
obachten ist, wurden gerade erst geschaffen. Das ist kein
Überbleibsel aus einer alten Zeit. Es passiert eben, dass
der Repressionsapparat dennoch funktioniert. Natürlich
war es schön, dass Demonstranten, die auf einem falschen Platz gelandet sind, von der Polizei zum richtigen
geleitet und nicht wegen einer unangemeldeten Demonstration verhaftet wurden. Natürlich war es gut, dass vor
der Wahl Oppositionsparteien zum ersten Mal überhaupt
die Möglichkeit gehabt haben, sich auch in den staatlichen Medien darzustellen. Natürlich ist es gut, dass sogar im staatlichen Fernsehen über Wahlfälschung berichtet wird. Aber wer genau hinschaut, der weiß, dass die
Schere im Kopf funktioniert, weil man weiß, dass man
nicht sicher ist, wenn man es zu deutlich macht.
Die Forderung nach Transparenz ist allgegenwärtig.
Ohne zusätzliche Transparenz wird sich dieses Land
auch nicht ändern. Der Putin‘sche Gesellschaftsvertrag
lautet: Ihr lasst mich mit meinem Netzwerk alles regeln,
({4})
und ich verteile dafür so viel, dass alle irgendwie zurechtkommen.
({5})
Keiner soll dabei stören, und wer stört, der kann sich anschließend mit Chodorkowski die Zelle teilen.
({6})
Diese Art und Weise wird sich die russische Bevölkerung nicht mehr gefallen lassen. Die Menschen, die jetzt
zeigen, dass sie politische Partizipation wollen und nicht
mehr manipuliert werden wollen, sind die, die Russland
für eine positive Veränderung, für Stabilität und Prosperität braucht. Das sind diejenigen, die die Zukunft dieses
Landes darstellen. Das sind diejenigen, auf die man setzen muss. Deshalb sollten wir sie mit unserer ganzen
Solidarität und allen Möglichkeiten, die wir haben, unterstützen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lars Klingbeil.
Bitte schön, Kollege Lars Klingbeil.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte überfraktionell führen. Wir alle blicken in diesen Tagen nach Russland und schauen auf die Ereignisse, die wir alle nicht
vorausgeahnt haben, auch nicht hinsichtlich der Dynamik. Wir haben eine interfraktionelle Arbeitsgruppe, die,
sicherlich auch aufgrund der Aufforderung des Kollegen
Beck, einen Antrag dazu erarbeiten wird.
({0})
Wir wünschen uns auf jeden Fall gemeinsam, dass es
diesbezüglich vorangeht.
Wenn man diese Debatte verfolgt, erkennt man, dass
wir alle um den richtigen Ton ringen. Hier war vorhin
von Anbiederung die Rede und auch von Anklage. Ich
glaube, wir versuchen, genau dazwischen einen Weg zu
finden. Als Mitglieder des deutschen Parlaments und als
Mitglieder der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe bauen wir immer wieder Kontakte auf und versuchen, den Dialog zu fördern. Wir weisen auf Missstände
hin, versuchen aber vor allem, Gesprächskanäle aufzubauen, sodass wir unseren russischen Freunden mit auf
den Weg geben können, was uns hinsichtlich der Entwicklung des Landes besorgt und an welchen Stellen wir
uns Veränderungen wünschen.
Russland ist ein Land mit einer bewegenden und
komplexen Geschichte. Die russische Bevölkerung hat
viele Herausforderungen zu meistern gehabt. Die Geschichte zeigt, dass dieses Land es oft nicht leicht gehabt
hat. Aber die Menschen haben sich diesen Herausforderungen immer wieder gestellt, und sie sind heute stolz
auf vieles, was sie in Russland erreicht haben. Die russische Gesellschaft befindet sich seit 20 Jahren auf dem
Weg in Richtung Demokratie. Mir ist es deshalb besonders wichtig, dass wir uns, wenn wir heute über die aktuellen Entwicklungen reden, bewusst machen, in
welchem Ton wir reden. Wir sehen mit unserem demokratischen Selbstverständnis, dass es richtig ist, Fehlentwicklungen in aller Deutlichkeit anzusprechen und sie
zu kommentieren. Aber wir müssen aufpassen, dass wir
das nicht von oben herab tun, sondern wir müssen die
Augenhöhe suchen. Wir haben eine gemeinsame Geschichte mit Russland, aus der für uns eine große Verantwortung resultiert, wenn es um die Entwicklung dieses
Landes geht. Wir sollten uns daher selbst nicht erhöhen.
Wir sollten aufpassen, wie wir aus der Distanz beurteilen, und wir sollten nicht pauschalisieren. Russlands
Weg in die Demokratie war nicht immer einfach. Wir
Deutsche wissen selbst, wie schwierig, wie steinig Wege
hin zu einer Demokratie sein können und wie viele
Rückschläge man in Kauf zu nehmen hat.
Wenn wir die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Prozesse in Russland sehen, dann wissen wir: Das
braucht Zeit. Wenn wir heute wahrnehmen, wie viele
Menschen in Russland den Willen haben, mehr Demokratie zu erfahren, dann sollten wir nicht den Zeigefinger
erheben, sondern versuchen, den richtigen Ton zu finden. Wir brauchen keine neunmalklugen Ratschläge.
Das hilft den deutsch-russischen Beziehungen nicht, das
hilft der russischen Bevölkerung nicht, und das hilft
auch der russischen Demokratie nicht.
({1})
Der Frust der russischen Bevölkerung ist nachvollziehbar. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
ist in eine Krise geraten, die in diesen Tagen sichtbar
wird. Bilder im Internet und im Fernsehen haben die
Wahlfälschung offensichtlich gemacht. Hohe Zustimmungsraten waren in Russland keine Seltenheit, aber
jetzt erleben wir die Offensichtlichkeit der Wahlfälschung. Das Internet spielt dabei eine große Rolle. Hierauf will ich gleich noch eingehen.
Große Teile der russischen Bevölkerung haben das
Gefühl, dass sie nicht mehr ernst genommen werden,
({2})
dass zwischen Staat und Gesellschaft ein Missverhältnis
besteht, dass die Legitimität der russischen Regierung
schwindet. Legitimität ist eine Voraussetzung für zivilgesellschaftliche Entwicklungen, ist Voraussetzung für
eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und ist Voraussetzung für ein verlässliches politisches Handeln. Es liegt
daher im Interesse Deutschlands und der Europäischen
Union, dass jetzt Aufklärung geleistet wird, dass Verantwortlichkeiten benannt werden und dass die Legitimation wieder gestärkt wird.
Die russische Parlamentswahl hat ebenso wie viele
andere Fälle in diesem Jahr gezeigt, welche Rolle das Internet mittlerweile spielt, wenn es um die Stärkung demokratischer Prozesse geht. Internet bedeutet Freiheit,
Internet stärkt die Demokratie, und Internet stärkt die
Meinungsfreiheit. Noch am Tag der Wahl erschienen
Videos auf Youtube, die Wahlfälschung zeigen. Internetvideos sind mittlerweile ein wichtiges Medium, wenn es
um Aufklärung, Transparenz und zivilgesellschaftliche
Kontrolle geht. Die Wahlbeobachtergruppe Golos hat
zusammen mit einer Internetzeitung eine Plattform eingerichtet, auf der Verstöße gegen das Wahlgesetz dokumentiert werden konnten.
({3})
- Lassen Sie mich bitte ausreden.
({4})
7 700 Verstöße wurden dort gemeldet. Die Informationen über Wahlfälschungen konnten in Echtzeit über
Twitter verbreitet werden, und Demonstrationen wurden
über Facebook organisiert.
Das alles zeigt uns, welche Rolle soziale Netzwerke
heute spielen. Das ist auch eine Aufforderung an uns
selbst, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als
deutsches Parlament darauf achten, dass das Internet gestärkt wird, dass wir ein freies Internet haben, dass wir
einen freien Zugang zum Internet haben, dass wir die
Freiheit des Netzes auch auf globalen Konferenzen und
in globalen Abkommen stärken und dafür sorgen, dass
es hier keine Zensur gibt. Leider ist meine Redezeit jetzt
um. Ich hätte gerne noch einiges mehr gesagt. Frau
Beck, ich verstehe manchen Zwischenruf, den Sie hier
gemacht haben, nicht; denn ich glaube, dass wir in den
Ausführungen nicht weit auseinanderliegen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({5})
Das Wort hat nun Staatsministerin Cornelia Pieper.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich diese Aktuelle
Stunde, die Sie interfraktionell beantragt haben.
Ich teile im Übrigen Ihre Auffassung, Frau Kollegin
Beck, dass wir nicht von einer russischen Demokratie
nach unserem Verständnis sprechen können. Ich glaube,
Russland ist noch weit davon entfernt.
({0})
Aber umso mehr haben mich persönlich, wie wahrscheinlich auch Sie, die Bilder der vergangenen Tage bewegt, die wir aus Russland lange nicht mehr gesehen haben. Zehntausende versammeln sich friedlich, um ihrer
Forderung nach freien Wahlen Ausdruck zu verleihen.
Wir waren Zeugen der größten Demonstration in Russland seit den frühen 90er-Jahren. Mich hat das an den
Herbst 1989 im Osten Deutschlands erinnert. Das sollte
uns allen Hoffnung machen auf eine fortschrittliche, bessere Entwicklung hin zu einer Demokratie in Russland.
({1})
Wir können aus meiner Sicht nur begrüßen, dass die
Versammlungen in Moskau und vielen anderen Städten
am vergangenen Wochenende weitgehend friedlich verlaufen sind. Dies ist ein Verdienst aller Beteiligten gewesen: der friedlich Demonstrierenden, aber auch der Sicherheitskräfte.
Auch in Zukunft muss gewährleistet sein, dass sich
russische Bürger frei und friedlich versammeln und ihre
Meinung frei äußern können. Keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten - das ist die klare Botschaft der
Bundesregierung, übrigens nicht nur an die Adresse der
russischen Regierung.
Wir appellieren außerdem an die russischen Behörden, Versammlungen nicht durch allzu enge Auflagen zu
beschränken. Die Verlegung der Demonstration in Moskau an einen Ort, der Zehntausenden Platz bietet, war ein
gutes Zeichen, aber das erwarten wir auch in Zukunft.
Denn nicht in allen Städten zeigte sich die Verwaltung so
offen für die Gewährleistung des Versammlungsrechts.
Mancherorts kam es auch am vergangenen Wochenende
noch zu Verhaftungen. Hunderte von friedlichen Demonstranten sind verhaftet worden, auch wenn Amnesty
International meldet, dass die meisten Inhaftierten inzwischen wieder auf freiem Fuß sind. Die Bundesregierung meint: Friedlich demonstrierende Demonstranten
gehören nicht in Haft, sondern sie müssen sofort freigelassen werden.
({2})
Wie wir wissen, richten sich die aktuellen Proteste,
Herr Gehrcke, in Russland gegen den Verlauf der DumaWahlen vor zehn Tagen. Wir begrüßen, dass - im Gegensatz zu den Wahlen vier Jahre zuvor - Russland dieses
Mal eine Wahlbeobachtermission der OSZE zugelassen
hat, wenngleich sie mit nur 200 Wahlbeobachtern, darunter auch 15 Deutsche, noch unter der von der OSZE
geforderten Mindestzahl lag.
Bedauerlicherweise sind die Wahlbeobachter zu dem
Ergebnis gekommen, dass die für einen fairen Wahlkampf notwendigen Bedingungen nicht erfüllt wurden.
Kritik fanden insbesondere die unzureichende Trennung
zwischen Staatsorganen und der Partei Einiges Russland,
die fehlende Unabhängigkeit der Wahlkommissionen
und die Einseitigkeit der Medien. Zu beobachten waren
zahlreiche Verfahrensfehler und offensichtlich auch Manipulationen. Bundesminister Westerwelle hat in seiner
Rede vor dem OSZE-Ministerrat in Wilna seine Sorge
hierüber ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Wir erwarten, dass die russische Staatsführung diese Sorge
ernst nimmt, allen Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten
nachgeht und diese sofort und mit Entschiedenheit beseitigt.
({3})
Freie und faire Wahlen abzuhalten, das ist eine Verpflichtung, die sich für alle OSZE-Staaten aus den
Kopenhagener Kriterien der Organisation ergibt. Alle
OSZE-Teilnehmer haben sich dazu verpflichtet und haben auch das Recht, auf Mängel im Wahlverlauf in einem anderen Land hinzuweisen.
Die Bundesregierung ist überzeugt, dass Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit Grundvoraussetzung für eine
dauerhafte positive staatliche Entwicklung sind. Das gilt
auch für Russland und insbesondere für die Modernisierungspartnerschaft. Es gibt eben nicht nur wirtschaftliche Freiheit. Für uns sind wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit zwei Seiten einer Medaille.
({4})
Die Bundesregierung spricht die Fragen der Menschenrechte und der Freiheitsrechte in bilateralen Gesprächen mit russischen Politikern offen an. Eine politische und gesellschaftliche Modernisierung ist Teil der
Modernisierungspartnerschaft, die wir seit einigen Jahren erfolgreich mit Russland betreiben. Die EU ist eine
Werteunion. Wir wollen die Zivilgesellschaft stärken.
Ich glaube, gerade wir Deutschen, die Einheit und Freiheit mit einer friedlichen Revolution erreicht haben, wissen um den Wert von Freiheits- und Bürgerrechten. Deswegen müssen wir in unserer Partnerschaft, in unserer
Zusammenarbeit hier einen ganz besonderen Akzent setzen. Wir müssen uns mit Nachdruck dafür einsetzen,
dass Demokratie und Menschenrechte in Russland gestärkt werden.
({5})
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen; denn Herr
Gehrcke ruft dazwischen und fragt, was die Bundesregierung für die Stärkung von Bürgerrechten und Menschenrechten tut.
({6})
Ich glaube, es ist durchaus erwähnenswert, dass wir den
Wandel auch durch die Rechtszusammenarbeit vorantreiben. Das Bundesjustizministerium und das Auswärtige Amt haben gerade in diesem Bereich in diesem Jahr
einen Schwerpunkt gesetzt. In diesem Jahr hat im November ein Symposium zur Korruptionsbekämpfung
stattgefunden sowie am 18. und 19. Mai in Sankt Petersburg ein großes Symposium zur wirtschaftsrechtlichen
Zusammenarbeit. Es gibt eine gemeinsame Juristenausbildung, ein bilaterales Kooperationsprogramm mit dem
Deutschen Akademischen Austauschdienst und einen
Studentenaustausch. Das Ziel muss sein, eine neue Generation von Juristen in Russland zu fördern. Das halte
ich für einen ganz wichtigen Beitrag zu dem Wandel, der
in Russland stattfinden soll.
Ich will auch erwähnen, dass es uns wichtig ist, die
Zivilgesellschaften zusammenzubringen. Hier wurden
schon - ich glaube, von Ihnen, Herr Thönnes - das
Deutschlandjahr in Russland und das darauffolgende
Russlandjahr in Deutschland erwähnt. Wir wollen die
Menschen zusammenbringen. Wir wollen die jungen
Menschen unserer Länder zusammenbringen. Ich bin der
Auffassung, dass wir zum Beispiel das Deutsch-Russische Jugendwerk ausbauen müssen.
({7})
Es ist im Vergleich zum Deutsch-Französischen und zum
Deutsch-Polnischen Jugendwerk stark benachteiligt.
({8})
Gerade wenn wir die junge Generation ansprechen, dann
setzen wir auf die Zukunft Russlands; denn die jungen
Menschen werden die Zukunft ihres Landes gestalten.
({9})
Ich könnte Ihnen noch viele Beispiele nennen. Ich
will ausdrücklich unterstreichen, was alle, zum Beispiel
Kollege Link, hier zur Visaliberalisierung gesagt haben.
Ich bin froh, dass die Bundesregierung gemeinsam mit
den polnischen Nachbarn während der EU-Ratspräsidentschaft den kleinen Grenzverkehr zu Kaliningrad
durchgesetzt hat. Das ist ein Schritt voran. Aber wir dürStaatsministerin Cornelia Pieper
fen da nicht stehen bleiben. Wir müssen diesen Weg weitergehen. Wir alle wissen, dass die Visaliberalisierung
Brücken zwischen den Zivilgesellschaften schafft. Darauf kommt es an.
Meine Damen und Herren, wenn ich hier über die fehlende Rechtsstaatlichkeit in Russland rede - es wurden
schon viele Beispiele genannt -, will ich noch ein Ereignis erwähnen, das uns beunruhigen muss. Wenn ein Archivar zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt wird,
weil er einem Historiker biografische Informationen
über Russlanddeutsche zugänglich gemacht hat, die in
der Sowjetunion nach Sibirien deportiert worden waren,
dann finde ich das alarmierend. Auch die Menschenrechtsorganisation Memorial sieht das so. Sie hat deutlich gesagt:
Mit diesem Präzedenzfall besteht die Gefahr, dass
historische Forschungen zur Geschichte der Repression in der stalinistischen Sowjetunion fortan
unter dem Damoklesschwert juristischer Konsequenzen stehen.
({10})
Das ist nur ein Beispiel, aber eines von vielen, die uns
ins Bewusstsein rufen sollten, dass wir in Russland sehr
viel mehr für die Rechtsstaatlichkeit tun müssen.
Putin hat die Opposition heute in der Tat scharf angegriffen, indem er behauptet hat, sie sei vom Westen gesteuert und sie würde Russland destabilisieren. Ich
glaube, es besteht die Gefahr, dass er nicht in der Lage
sein wird, die Werte, die uns wichtig sind, in Zukunft als
Regierungschef in die russische Gesellschaft zu tragen.
Er ist der, der er immer war. Er achtet Bürgerrechte
nicht. Er achtet Freiheitsrechte nicht. Er ist in dieser Hinsicht Autokrat. Das sollte man auch so deutlich sagen.
({11})
Wir sollten das auch im Dialog mit russischen Politikern
- nicht nur mit solchen der Opposition, sondern auch mit
solchen der Regierung - deutlich machen.
Meine Damen und Herren, wir werden die weitere
Entwicklung in Russland natürlich aufmerksam verfolgen. Ich würde mich freuen, wenn wir solche Debatten
des Öfteren auch hier im Deutschen Bundestag führen
würden. Die nächsten Wahlen in Russland stehen bevor,
die Präsidentschaftswahlen im März nächsten Jahres.
Wir erwarten, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen erneut nachkommt und frühzeitig Wahlbeobachter der OSZE und des Europarates einlädt. Russland muss im Hinblick auf diese Wahlen Lehren aus den
Feststellungen der OSZE ziehen.
({12})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie
haben schon sehr deutlich überzogen.
Vielen Dank, Herr Präsident, für den Hinweis.
Ein letzter Satz. Meine Damen und Herren, Freiheit
braucht Mut. Ich glaube, wir alle haben den friedlichen
Demonstranten, die in Russland auf die Straße gegangen
sind, mit der heutigen Aktuellen Stunde Mut gemacht,
indem wir uns, was ihre Forderung nach mehr Demokratie und Freiheit betrifft, an ihre Seite gestellt haben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Rolf Mützenich für die Fraktion der
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat: Solch wichtige, möglicherweise
sogar epochale Ereignisse wie jetzt in Russland brauchen Bilder. Wir haben der Debatte, oft aber auch der
veröffentlichten Meinung entnommen, dass diese Ereignisse mit dem arabischen Frühling vergleichbar seien. Es
sind durchaus wichtige Demonstrationen, die dort stattgefunden haben. Aber ich warne davor, an dieser Stelle
Parallelen zu ziehen. Die sozioökonomischen Bedingungen, die Geschichte und die Kultur sind dort andere. Gemeinsam ist den Demonstranten allerdings, dass sie für
eine freiere und demokratischere Gesellschaft eintreten.
Insbesondere fordern sie, dass vom Staat bzw. von der
Regierung der Respekt gegenüber dem Einzelnen gewährleistet wird. In dieser Hinsicht stimmt der Vergleich; das ist in der Tat richtig.
Allerdings glaube ich - auch darauf möchte ich hinweisen -, dass wir die Entwicklung in Russland wachen
Auges beobachten müssen. Dies gilt im Hinblick auf die
Demonstranten, aber insbesondere im Hinblick auf die
Regierung und die Mächte im Kreml, die sich in den
letzten Jahren immer wieder gegen die russische Gesellschaft gerichtet haben. Wir dürfen nicht die Augen davor
verschließen, dass es auch bei den Demonstrationen den
einen oder anderen Teilnehmer gegeben hat, der sich für
einen russischen Sonderweg eingesetzt hat.
({0})
Das ist nicht gut für Europa, und das ist nicht gut für
Russland.
({1})
Ich finde, zu einer Debatte, in der es im Grunde genommen darum geht, dass wir uns um die russische Gesellschaft Sorgen machen müssen, gehört auch, einen solchen gerechtfertigten Hinweis zu geben.
({2})
Der springende Punkt ist: Die Menschen wollen gut bzw.
besser regiert werden, und sie wollen in einer solchen Situation geachtet werden. Ein freies Parlament wie der
Deutsche Bundestag muss darauf hinweisen.
Warum gibt es diese Erwartungshaltung? Ich finde,
wir sollten eine differenzierte Debatte über Russland
führen. Ich bekenne für mich persönlich ganz offen: Ich
habe gehofft, dass mit Präsident Medwedew jemand die
Präsidentschaft übernimmt, der sich für eine freiere, offenere und respektvollere Gesellschaft und für einen
Staat, der sich gegenüber seinen Bürgern respektvoller
verhält, einsetzt. Er hat diese Hoffnung enttäuscht.
({3})
Er hat auch mich persönlich enttäuscht. Ich glaube, einer
der Gründe, warum die Demonstranten sagen: „Wir fühlen uns hinters Licht geführt“, ist, dass die Verabredung
zwischen Medwedew und Putin zwar erst vor wenigen
Wochen öffentlich geworden ist, dass es aber hieß: Das
haben wir schon vor langer Zeit verabredet. So kann
man mit einer Gesellschaft nicht umgehen, die freier leben will. Ich finde, diese Kritik ist gerechtfertigt, und
deswegen muss man hinter dieser Politisierung der russischen Gesellschaft letztlich auch das erkennen, was sie
bedeutet: Die Menschen wollen freier, gerechter und respektvoller behandelt werden.
({4})
Deswegen verlangen wir von dieser Stelle aus, dass
die Wahlergebnisse überprüft und korrigiert werden. Ich
erinnere auch daran: Es sind noch nicht alle Wahlergebnisse bekannt. Es sind ja auch Regionalwahlen durchgeführt worden. Ein ganz wichtiger Punkt ist, ob auch hier
solche Wahlmanipulationen stattfinden und die Ergebnisse korrigiert werden. Die nächste Frage wird sein:
Wie wird die Präsidentschaftswahl durchgeführt?
({5})
Ich muss sagen: Ich war wirklich bitterlich enttäuscht - ich habe nicht viel erwartet, aber ich war dennoch enttäuscht - über das, was Putin in der Fernsehdiskussion gesagt hat. Dieser Ministerpräsident, dieser Präsidentschaftskandidat muss Kritik akzeptieren. Er muss
sie sozusagen auch fordern, weil das letztlich zu der Entwicklung in Russland gehört,
({6})
und das verlangen wir vonseiten des Deutschen Bundestages auch.
Deswegen finde ich es richtig, der Bundesregierung
zu sagen: Fordern auch Sie ihn, und sagen Sie ihm dies
deutlich! Ich finde, das kann man nicht nur hinter verschlossenen Türen machen. Er muss lernen, mit Kritik
umzugehen und mit Menschen, die Kritik äußern wollen,
zu leben. In den heutigen Äußerungen gab es dafür leider kein Zeichen, was man nach den Demonstrationen
hätte erwarten können.
Deswegen müssen wir ganz klar sagen: Ja, wir wollen, dass die Demonstranten, die verhaftet und verurteilt
worden sind, unverzüglich freigelassen werden. Auch
das müssen die Bundesregierung und nach meinem Dafürhalten auch die EU-Beauftragte Lady Ashton deutlich
machen.
Ich finde, dass es der Bundesregierung in den letzten
zwei Jahren leider nicht gelungen ist, das zu übernehmen, was ihre Vorgängerregierungen zumindest versucht
haben, nämlich sowohl in der russischen Gesellschaft als
auch gegenüber der dortigen Regierung ein Verhältnis
zur russischen Politik zu entwickeln, auf dessen Grundlage wir eine stärkere Transparenz und Zusammenarbeit
hätten einfordern können. Genau das muss ich dem Bundesaußenminister als Versagen in den letzten zwei Jahren attestieren. Er hat es nicht geschafft, auf die Signale
von Präsident Medwedew einzugehen, als es um einen
neuen Sicherheitsvertrag für das Gebiet von Wladiwostok bis Vancouver ging. Wir hätten Medwedew fordern
und ihm sagen müssen: Hier muss mehr auf den Tisch.
Das hat die Bundesregierung versäumt.
Leider haben wir uns jetzt aus wichtigen Abrüstungsverträgen verabschiedet.
({7})
Auch das war kein gutes Signal an die russische Politik.
Ich finde, die Bundesregierung muss gegenüber der russischen Regierung nicht nur stärker demokratische Verhältnisse einfordern, sondern insbesondere an ihre Verantwortung für die internationale Politik appellieren.
Sie haben jetzt vielleicht noch ein bisschen Zeit, dies
zu tun. Ich wünsche mir das zumindest. Vonseiten des
Deutschen Bundestages werden wir das weiter einfordern.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Manfred Grund für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Parteitag von Edinaja Rossija im September hat Wladimir Putin in seiner Rede viel von Stabilität
gesprochen. Er sprach von einem stabilen politischen
System und von einer stabilen Entwicklung, die Russland unter seiner Führung nehmen würde. Er hat die
Frage gestellt: „Was sind unsere Ziele?“, und selbst beantwortet: die Wahrheit, die Würde des Menschen und
die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.
Das Wahlergebnis, die Proteste nach der Wahl und die
Art und Weise, wie die russische Führung mit dem Wahlergebnis bis heute umgeht, zeigen: Die Menschen trauen
ihrer politischen Führung nicht mehr. Sie lassen sich
nicht mehr hinters Licht führen. Sie halten es für Potemkinsche Versprechen, dass Würde, Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziele genannt wurden.
Die Proteste zeigen ein großes Misstrauen der Zivilgesellschaft gegenüber der politischen Führung und
auch, dass eine aufwachsende, sich selbst wieder wahrnehmende russische Zivilgesellschaft mit der gelenkten
Demokratie von Wladimir Putin nichts mehr anfangen
kann.
({0})
Dabei war Stabilität durchaus etwas, was Putin in seinen ersten Jahren nach dem politischen und wirtschaftlichen Chaos der Jelzin-Zeit den Menschen in Russland
gebracht hat, Stabilität, die allerdings für viele Menschen in eine Stagnation hineinzuführen scheint. Auch
deswegen werden die Worte von Putin nicht mehr ernst
genommen.
Zudem herrscht Enttäuschung über Dmitrij Medwedew, der angetreten ist, viele Dinge, viele Übel in Russland zu benennen, der auch Abhilfe in Aussicht gestellt
hat, aber auf weniger als dem halben Weg steckengeblieben ist. Auch diese Modernisierungsversprechen sind ins
Leere gelaufen. Es ist nichts daraus geworden. Das hat
mit - Herr Kollege Mützenich, Sie haben es angeführt zu den Enttäuschungen der Zivilgesellschaft über die
Regierenden geführt.
Nicht zuletzt hat die Art und Weise, wie auf dem Parteitag im September diese Rochade zwischen Medwedew
und Putin angekündigt und inszeniert wurde, hat dieses
Bäumchen-wechsel-dich-Spiel die Menschen regelrecht
beleidigt. Auch aus dieser Beleidigung heraus entwickelten sich die Proteste.
Die Frage an uns ist: Welche Auswirkungen können
dieses Wahlergebnis und der Umgang damit auf uns haben? Ich denke zum einen, wir müssen uns sorgen, dass
es durch die Legitimitätskrise, durch den Legitimitätsverlust zu einer defensiven Verhärtung des politischen
Systems kommen könnte. Das ist etwas, was man in
Russland durchaus befürchten muss.
Zum anderen sind die Proteste auf den Straßen Zeichen eines erstarkenden Mittelstands, einer erstarkenden
Zivilgesellschaft. Sie sind der Ausdruck einer selbstbewusster werdenden Bürgergesellschaft. Das können wir
nur begrüßen. Das haben wir auch heute hier begrüßt.
Mehr Demokratie aber wird sich nicht automatisch
einstellen. Es wird ein Prozess sein, der aus der Gesellschaft heraus noch viel stärker wachsen muss. Deswegen
müssen wir uns auch klarmachen: Demokratie wird nicht
schlagartig einsetzen. Aber das, was jetzt zu beobachten
ist, ist auch für uns sehr ermutigend.
Wir müssen fordern, dass neue Strukturen, auch neue
Parteien, neue Bewegungen zugelassen werden, um sich
zu organisieren.
({1})
Hierzu haben wir sicher einiges beizutragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
uns aber auch nicht der Illusion hingeben, dass die Probleme Russlands sich begründen und erschöpfen im System Putin. Die Probleme gehen tatsächlich weit darüber
hinaus. Aber das System von Wladimir Putin hat zu einer Stärkung autoritärer Strukturen geführt. Fest steht,
dass durch die Vertikale der Macht die Korruption vermutlich weniger bekämpft als gefördert wurde. Putins
staatskapitalistischer Ansatz hat nicht zu einer nachhaltigen Modernisierung der russischen Wirtschaft geführt.
Modernisierung, Modernisierungspartnerschaft ist etwas, was wir anbieten und was sich bisher leider auch in
der deutschen Wirtschaft zu stark in einem zum gegenseitigen Vorteil erfolgenden Austausch von Rohstoffen
und Technologie erschöpft hat. Modernisierungspartnerschaft muss darüber hinausgehen. Sie muss in die Zivilgesellschaft hineinwirken. Sie muss ein Angebot sein in
Bezug auf Demokratisierung, auf Korruptionsbekämpfung und auf ein gemeinsames Wirken auch in außenpolitischen Konflikten, die ohne oder gegen Russland
nicht zu lösen sind.
Ich nenne die Vereinbarung, die die Bundeskanzlerin
mit Medwedew in Meseberg getroffen hat, um den
Transnistrien-Konflikt einer Lösung zuzuführen. Es geht
auch um andere Konflikte. Die Abrüstungsverträge sind
angesprochen worden. Alles das funktioniert nicht gegen
Russland, sondern nur mit Russland. Auch deswegen haben wir ein außenpolitisches Interesse an einem demokratischen, gut geführten und mit uns zusammenarbeitenden Russland. Das Angebot ist da. Es geht aber nicht
ohne eine Demokratisierung im Land.
Vielen Dank.
({2})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung der Mediation und anderer
Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung
- Drucksachen 17/5335, 17/5496 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/8058 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Christian Ahrendt
Ingrid Hönlinger
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Christian
Ahrendt für die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der
Mediation. Wir tun dies vor dem Hintergrund eines in
der vorletzten Sitzung des Rechtsausschusses einstimmig angenommenen Beschlussvorschlags. Der heutigen
Beschlussfassung ist eine intensive Beratung durch die
Fraktionen, die Berichterstatter und das Bundesministerium der Justiz vorausgegangen. Ich darf mich für die
gute Beratung ganz herzlich bedanken. Denn wir verabschieden heute den Entwurf eines Gesetzes, das ein Meilenstein in der außergerichtlichen Streitbeilegung in
Deutschland sein wird. Wir regeln dieses Gebiet das
erste Mal. Der Gesetzentwurf hat es verdient, die breite
Zustimmung des Hohen Hauses zu erfahren, sodass die
außergerichtliche Mediation starke Rückendeckung erhält.
Die Gesetzesberatungen wurden von einer Debatte
begleitet, die nach wie vor fortdauert. Die entscheidende
Frage lautet: Soll es neben der außergerichtlichen Mediation eine gerichtliche Mediation geben? Wir haben
von vielen Landesjustizministern gehört, dass das gewünscht wird. Ich darf ganz offen sagen: Wenn man sich
das Gesetz genau anschaut, dann stellt man fest, dass es
weiterhin eine gerichtliche Mediation gibt. Wir haben sie
quasi in ein Güterichtermodell eingekleidet, das genauso
gut funktioniert und ausgestaltet ist wie das, was die
Länder in den vergangenen Jahren ohne rechtliche
Grundlage im Rahmen praktischer Tätigkeit mediativ an
den Gerichten geleistet haben.
Der Kernpunkt der gerichtlichen Mediation oder
- besser gesagt - des Güterichtermodells ist die Änderung des § 159 der Zivilprozessordnung. Die Vertraulichkeit der Mediationsverfahren wird weiterhin gewährleistet. So darf beispielsweise ein Protokoll über eine
Güterichterverhandlung nur geführt werden, wenn beide
Parteien das wünschen, damit das, was dort in vertraulicher Atmosphäre besprochen wird, nicht später durch
eine Zeugenvernehmung in einem Streitverfahren, das
notwendig werden würde, wenn man sich nicht vernünftig hat einigen können, verwendet werden kann. Das ist
ein wichtiger und entscheidender Punkt. Deswegen ist es
falsch - das muss man an dieser Stelle ganz deutlich sagen -, davon zu reden, mit diesem Gesetz werde die gerichtliche Mediation abgeschafft. Sie wird nicht abgeschafft, sondern in ein neues Kleid gesteckt.
({0})
Der entscheidende Fortschritt ist, dass es daneben ein
klares Konzept für eine außergerichtliche Mediation, für
eine außergerichtliche, vertrauensvolle und strukturierte
Streitschlichtung gibt. Kern der Mediation ist, dass die
Parteien, bevor sie einen Richter anrufen, um eine Entscheidung in einem Streitfall herbeizuführen, versuchen,
sich außergerichtlich und einvernehmlich über die Lösung der Probleme zu verständigen. Das ist der Kernpunkt dieses Gesetzes. Das Gesetz beinhaltet in § 1 eine
ganz klare Definition für diese Aufgabe. Ich will kurz einige Argumente vortragen, die deutlich machen, warum
wir heute ein Gesetz verabschieden, das dazu beitragen
kann, die außergerichtliche Streitschlichtung in Deutschland zu stärken und dort einen neuen, nachhaltigen Weg
zu gehen.
Der Mediator muss eine unabhängige Person sein. Er
muss zu Beginn des Verfahrens sagen, dass er mit keiner
der Parteien in irgendeiner Form verbunden ist, damit er
die Parteien unabhängig, vertrauensvoll und strukturiert
zu einer Streitschlichtung führen kann.
Auch die außergerichtliche Mediation unterliegt der
Verschwiegenheit. Keiner, der sich in einem Mediationsverfahren öffnet, soll später im Rahmen einer Beweisaufnahme vor Gericht mit Äußerungen, zu denen er sich
in einem solchen Mediationsverfahren hat hinreißen lassen, konfrontiert werden. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit des Mediators mit den Parteien ist ein wichtiger Punkt.
({1})
Über den nächsten Punkt haben wir sehr lange gerungen. Es geht um die Ausbildung. Wir haben die Ausbildung im Mediationsgesetz stärker geregelt, als es das
Justizministerium ursprünglich wollte. Wir haben klare
Vorgaben gemacht, wie die Mediation aussehen soll.
Denn wir wollen, dass die Menschen, die sich vorgerichtlich an einen Mediator wenden, auf Personen treffen, die vernünftig ausgebildet sind, die wissen, was sie
tun, die ihr Handwerk verstehen und dann in der Lage
sind, aufgrund ihrer Ausbildung eine Streitschlichtung
außergerichtlich zu erreichen.
Es gibt einen weiteren Punkt. Wenn wir dieses Gesetz
jetzt auf den Weg bringen, dann sind wir noch nicht am
Ende. Wir sind an einem Punkt, bei dem es um Haushaltsfragen geht. Wir wissen: Haushaltsfragen sind
schwierig,
({2})
insbesondere wenn es um das Thema der Mediationshilfe geht. Es kann nicht sein, dass die Mediation am
Ende des Tages nur demjenigen zur Verfügung steht, der
Geld hat. Vielmehr müssen wir überlegen, wie wir die
Mediation als außergerichtliches Streitschlichtungsverfahren auch denjenigen zugänglich machen, die nicht
unmittelbar über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, sich einen Mediator oder ein Mediationsverfahren
leisten zu können. Deswegen ist in den Gesetzentwurf
ein Forschungsprojekt eingekleidet, mit dem die Möglichkeiten sondiert werden sollen, wie Mediation außergerichtlich gefördert werden kann. Das müssen wir gemeinsam mit den Ländern machen, weil das eine Frage
ist, die in erster Linie die Länderhaushalte tangiert.
Der letzte Punkt, auf den wir schauen müssen, ist,
dass wir das Gesetz einer Evaluierung unterwerfen.
Denn: Wir bringen ein neues Gesetz auf den Weg und
schaffen endlich einen strukturierten Rahmen für eine
außergerichtliche Streitbeilegung. Wir stärken die außergerichtliche Mediation. Aber wir wissen auch, dass wir
damit noch nicht am Ende sind. Weil wir wissen, dass
dieser Weg noch weitergegangen werden muss und dass
wir an der einen oder anderen Stelle noch feilen müssen,
damit die außergerichtliche Mediation wirklich erfolgreich wird, haben wir gesagt: Wir wollen das Gesetz einer Evaluierung unterwerfen.
All diese Argumente zeigen, dass wir hier ein Kompendium geschaffen haben, das ausgewogen ist und das
die Richter mit der gerichtsinternen Mediation in Form
des Güterichtermodells mitnimmt. Die Richter können
also sehen: Das, was sie früher in diesem Bereich an hervorragender Arbeit geleistet haben, können sie im Rahmen des Güterichtermodells weiter leisten; das, was sie
als Mediatoren erlernt haben, geht nicht verloren, sondern kann weiter angewendet werden.
Wir schaffen auch den Regelungsrahmen für die Mediation als außergerichtliche Streitbeilegung. Diese außergerichtliche Streitbeilegung wollen wir stärken. Wir
wollen, dass die Menschen, bevor sie den Richter anrufen, versuchen, sich zu einigen und einen vernünftigen
Konsens herbeizuführen. In diesem Sinne ist der Gesetzentwurf ausgewogen. Er wird ein erfolgreiches Gesetz.
Ich hoffe, wir kommen heute in der zweiten und dritten
Beratung zu dem Ergebnis, zu dem auch der Rechtsausschuss gekommen ist, und können diesen Gesetzentwurf
gemeinsam mit einer klaren Mehrheit verabschieden. Ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns
noch gute Beratungen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Ahrendt, ich teile Ihre Euphorie. Wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker feiern den heutigen Tag als einen kleinen Meilenstein in der Geschichte der Rechtspolitik - auch Sie haben das so gesagt -; denn in Zukunft
wird es ein Mediationsgesetz geben, das - so optimistisch bin ich gerne - zu einer wesentlichen Verbesserung
der Streitkultur beitragen wird.
Mittlerweile haben 65 Prozent der Menschen in
Deutschland den Begriff der Mediation schon einmal gehört. Sie verwechseln ihn auch nicht mehr mit der Meditation. Im letzten Jahr waren es übrigens noch 8 Prozent
weniger. Das zeigt uns, dass die öffentliche Diskussion
über das Gesetzgebungsverfahren und auch die Tatsache,
dass inzwischen zwei Drittel der Rechtsschutzversicherer die Mediation anbieten, den Bekanntheitsgrad der
Mediation in der letzten Zeit wesentlich erhöht haben.
Leider sind jedoch wir als streitlustig geltende Deutsche vom Ergebnis noch nicht unbedingt überzeugt. Augenblicklich ist es so, dass 41 Prozent der Befragten
noch skeptisch sind, wenn sie nach dem vermuteten Erfolg der Mediation gefragt werden. Nun liegt es an den
Mediatorinnen und Mediatoren, an den beteiligten Anwälten, an der Gerichtsbarkeit und natürlich auch an den
miteinander streitenden Parteien, dafür zu sorgen, dass
die Mediation zukünftig Erfolgsgeschichte schreiben
und dazu führen wird, dass viele Streitigkeiten einvernehmlich beendet werden können.
Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes soll die Mediation in rechtlichen Konflikten zukünftig Standard
werden. Dabei hilft es sehr, denke ich, dass zukünftig in
der Klageschrift zwingend aufgeführt werden muss, ob
der Klageerhebung der Versuch einer außergerichtlichen
Konfliktlösung vorausgegangen ist. Falls vor Klageerhebung keine Mediation stattgefunden hat, muss dargelegt
werden, welche Gründe der Mediation entgegenstehen.
Es wird aber immer noch Fälle geben, in denen beispielsweise das fehlende Kräftegleichgewicht verhindert, dass eine Mediation erfolgreich sein kann. Dann
kann man auch direkt den Weg in die Klage beschreiten.
Ich denke, das ist gut so.
In der ersten Lesung des Mediationsgesetzes habe ich
in meiner Rede den Wunsch geäußert, dass wir alle im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens konstruktiv zusammenarbeiten und zu einem guten Ergebnis kommen werden. Ich hatte damals drei Punkte erwähnt, die meiner
Fraktion besonders am Herzen liegen: zunächst die Ausbildung der Mediatoren, dann der Schwerpunkt auf der
außergerichtlichen Streitbeilegung und schließlich die
Mediationskostenhilfe. Erfreulicherweise hat es im Laufe
des parlamentarischen Verfahrens in allen drei Punkten
viel Bewegung gegeben.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf legt über den Weg der
Rechtsverordnung Mindestvoraussetzungen für die Ausund Fortbildung von Mediatoren fest. Denn selbstverständlich braucht Mediation Qualität, um ihr Schattendasein in Deutschland zu beenden.
Wir legen darüber hinaus fest, dass die ursprünglich im
Regierungsentwurf vorgesehenen Unterscheidungen zwischen gerichtsinterner, gerichtsnaher und außergerichtlicher Mediation entfallen. Im Interesse einer Abgrenzung
der richterlichen Streitschlichtung von der Mediation
wird die gerichtsinterne Mediation in ein erweitertes Güterichtermodell überführt. Dieses Güterichtermodell soll
zukünftig nicht nur für die Arbeits- und die Zivilgerichtsbarkeit gelten, sondern beispielsweise auch für Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte.
An dieser Stelle - Kollege Ahrendt hat es schon erwähnt - gab und gibt es vonseiten der Richterinnen und
Richter, die in der Vergangenheit mit der richterlichen
Mediation viele Erfolge erzielt haben, erhebliche Beden17840
ken, die uns in den Berichterstattergesprächen viel Kopfzerbrechen bereitet haben. Aber wir erinnern uns: Die
gerichtsinterne Mediation war immer nur als Instrument
geplant, um der Mediation bei ihrer allgemeinen Einführung zu helfen. Sie ist als Modell von Anfang an nicht
auf Dauer angelegt gewesen.
Ich meine, wir haben nun eine gute Lösung gefunden:
Durch das nun bundesweit installierte Güterichtermodell
wird einerseits Rollenklarheit geschaffen. Andererseits
bleibt aber die Möglichkeit erhalten, auch noch im laufenden Gerichtsverfahren mithilfe des Güterichters eine
einvernehmliche Beilegung des Konfliktes zu erreichen.
Der Güterichter muss sich nicht - wie der frühere gerichtliche Mediator - jeder rechtlichen Bewertung enthalten, sondern er kann eine rechtliche Bewertung vornehmen und den Parteien konkrete Vorschläge zur
Lösung des Konfliktes anbieten. Viele Parteien suchen
nach einem solchen Vorschlag. Der Güterichter ist damit
zukünftig zwar kein klassischer Mediator mehr, aber er
kann in der Güteverhandlung zahlreiche Methoden der
Mediation einsetzen.
Die Richtermediatoren haben in den letzten Jahren
bereits einen wichtigen Beitrag zur Etablierung der Mediation geleistet. Die Erfahrung, die hier an vielen Gerichten erlangt wurde, kann bei dem neuen Güterichtermodell weiter genutzt werden. Es liegt nun in der Hand
der jeweiligen Gerichte, dieses Modell mit Leben zu füllen.
Der letzte Punkt, der meiner Fraktion besonders wichtig war, war die Einführung der Mediationskostenhilfe.
Diese hat zu unserem Bedauern keinen verbindlichen
Eingang in den Gesetzentwurf gefunden, sondern es ist
lediglich die Möglichkeit eines Forschungsvorhabens
zwischen Bund und Ländern vorgesehen. Dabei ist es
meiner Meinung nach ein verfassungsrechtlicher Auftrag, für eine Angleichung der Situation von wohlhabenden und mittellosen Personen im Bereich des Rechtsschutzes zu sorgen.
({1})
Den ärmeren Parteien wird durch die fehlende Möglichkeit der Mediationskostenhilfe eine wesentliche
Chance der Rechtewahrnehmung genommen. Im Familienrecht kann man dies vielleicht mithilfe des § 135
FamFG kompensieren; denn darin ist die Möglichkeit
der kostenfreien Mediation vorgesehen. In allen anderen
Bereichen geht dies gegenwärtig aber nicht.
Ich hoffe, dass dieses Forschungsvorhaben erfolgreich durchgeführt wird und dass wir dann in Zukunft,
nach der Evaluierung des Gesetzes, vielleicht auch die
Mediationskostenhilfe gesetzlich einführen können.
({2})
Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass wir mit der
außergerichtlichen einvernehmlichen Streitschlichtung
nicht nur eine viel größere Zufriedenheit der Parteien
erreichen, sondern wahrscheinlich auch Kosten der gerichtlichen Auseinandersetzung einsparen werden. Daher wäre das Geld für die Mediationskostenhilfe wirklich sinnvoll und gut angelegt.
Abschließend möchte ich sagen, dass dieses Gesetzgebungsverfahren für mich ein sehr positives Beispiel
für eine wirklich gute fraktionsübergreifende Zusammenarbeit war. Ich denke, das sehen alle Berichterstatterinnen und Berichterstatter der übrigen Fraktionen auch
so. Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Dr. Stadler
und seinen sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken, die uns in der ganzen Zeit sehr unterstützt haben.
({3})
Meine Fraktion wird dem Gesetz zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Rechtspolitiker - das wissen alle, die anwesend sind leiden immer darunter, dass unsere Debatten meistens in
den späten Abendstunden bzw. zu einer nicht unbedingt
attraktiven Plenarzeit stattfinden. Auch heute ist es
durch die Verschiebung relativ spät geworden. Die Debatte war zu einem früheren Zeitpunkt geplant. Es ist gut
und richtig, einmal zu einer etwas früheren Zeit über dieses so wichtige Thema diskutieren zu können.
({0})
Wir kennen den Spruch, dass jeder vermiedene Prozess ein guter Prozess ist. Diese Aussage ist nicht nur
allgemein anerkannt, sondern mit der Verabschiedung
des heutigen Gesetzentwurfs leisten wir zur Verwirklichung dieses Ziels einen ganz wesentlichen Beitrag. Das
ist gut und richtig so. Der Kollege Ahrendt erwähnte
vorhin, dass wir mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs einen Meilenstein auf dem Weg zu einer veränderten Streitkultur in Deutschland setzen. Auch das kann
man nur unterstreichen.
Die Deutschen sind nicht nur ein Volk der Dichter
und Denker, sondern sie gelten auch als besonders streitfreudig. Konflikte zwischen Nachbarn, zwischen Teilnehmern am Straßenverkehr, aber auch innerhalb von
Familien münden nicht selten in ausweglose Gerichtsverfahren, weil man meint, mit der Befassung der Gerichte recht zu bekommen. Solche Streitigkeiten werden
meist bis zum bitteren Ende ausgetragen. Selbst wenn
ein rechtskräftiges Urteil einer Seite in der Sache formal
recht gibt, sind oftmals alle Seiten Verlierer. Der Kollege
Silberhorn aus meiner Fraktion hat in der ersten Lesung
zu diesem Gesetzentwurf gesagt, dass die Klärung einer
Rechtsfrage eben leider nicht immer mit der Befriedung
der Parteien einhergeht.
Vor diesem Hintergrund können Mediatoren helfen,
Konflikte auf andere Art und Weise als durch ein Urteil
zu beenden, nämlich in einem Verfahren, in dem die Parteien mit Unterstützung des Mediators - das ist schon
gesagt worden - nach einer Lösung suchen und diese
dann - das ist besonders wichtig - eigenverantwortlich
ausgestalten und besiegeln. Damit können Streitigkeiten
häufig frühzeitiger, friedlicher und nachhaltiger gelöst
werden als mit einem Urteil.
({1})
Frühzeitiger deshalb, weil eine Lösung gefunden
wird, bevor ein Rechtsstreit eskaliert und sich zwingend
Anwälte und Richter damit befassen müssen; friedlicher,
weil die Parteien selbst Herr des Verfahrens sind und daher eine Lösung, wenn sie denn gefunden wird, bewusst
akzeptieren; nachhaltiger, weil eine dem äußerlichen
Konflikt zugrunde liegende Interessenlage und Spannungslage erkannt, aber auch - das ist wichtig - gelöst
wird.
Dass Mediation kein Allheilmittel ist und nicht auf
alle Fälle passt, ist sicherlich nachvollziehbar. Mit Interesse nehmen wir zur Kenntnis, dass die Berliner Grünen
die Mediation in der Politik gerade intern testen, interessanterweise, meine Damen und Herren Kollegen von
den Grünen, gar mit zwei Mediatoren. Wir haben gesagt,
dass wir nach geraumer Zeit die Entwicklung dieses Gesetzes evaluieren werden. Wir schauen also mit sehr viel
Sorgfalt darauf, wie das mit zwei Mediatoren bei den
Berliner Grünen klappt.
Was wir heute verabschieden - das ist hier schon von
meinen Vorrednern gesagt worden, und ich muss es nicht
in aller epischen Breite wiederholen -, nämlich in erster
Linie die Installierung der außergerichtlichen Mediation,
ist ein sehr wichtiger und wesentlicher Schritt. Es ist gut
und richtig, dass wir in dieser Frage über die EU-Richtlinie, die das nur für grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten vorsah, hinausgehen.
Ich möchte in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit aber auch noch einmal betonen - der Kollege Ahrendt und die Kollegin Steffen haben es vorhin
gesagt -: Uns ereilen im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahren, das heute zum Abschluss kommt,
auch kritische Bemerkungen, insbesondere der Länderjustizminister. Mit Verlaub, über das eine oder andere
Schreiben ärgert man sich als Parlamentarier schon - jedenfalls von der inhaltlichen Diktion her -, weil der Eindruck erweckt wird, die gerichtsinterne Mediation werde
ersatzlos abgeschafft, und das stimmt schlicht nicht.
Richter, die bisher als Mediatoren tätig waren, können
ihre Erfahrung, ihr Wissen in dieser Frage im erweiterten
Güterichtermodell - das ist hier von den Kolleginnen
und Kollegen schon gesagt worden - weiterhin mehr
oder weniger einbringen. Demzufolge ist es misslich
- man muss es ja nicht gut finden, was wir hier
machen -, den Eindruck zu erwecken, wir schafften die
gerichtliche Mediation ab. Aber genau das ist nicht der
Fall.
({2})
Wenn wir die gerichtsinterne Mediation, also das eigentliche Instrument der Mediation, als neues Leistungspaket in die Justiz integriert hätten, dann hätten wir auch
die Frage der Kostenregelung im Sinne der Wettbewerbsgleichheit mit der außergerichtlichen Klärung
regeln müssen. Gerade das wollten wir nicht, auch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die von dem Angebot, das wir künftig zur Verfügung stellen, nachhaltig
Gebrauch machen sollen.
Demzufolge ist es nur zu begrüßen - vieles ist von
meinen Vorrednern gesagt worden -, dass dieses Gesetz
in einem guten halben Jahr sehr intensiv beraten wurde.
Frau Ministerin, wir hatten eine gute Vorgabe aus dem
Ministerium. In erster Linie darf ich meinem Berichterstatterkollegen von der FDP, Herrn Ahrendt, aber auch
dem Kollegen Sensburg ganz herzlich danken, die, wie
ich glaube, einen guten Entwurf aus dem Ministerium
noch besser gemacht haben. Offenbar ist der heute in
diesem Hause vorgelegte Gesetzentwurf, auch dank der
Mitberatungen der Berichterstatter der Opposition, so
gut, dass er hoffentlich - wie im Rechtsausschuss heute einstimmig angenommen wird. Auch das ist nicht
immer an der Tagesordnung. Es könnte ein gutes Vorbild
für weitere Initiativen sein. Die Opposition kritisiert die
Koalition oft genug für das, was sie vorlegt. Angesichts
dessen ist das beste Lob für die Arbeit der Koalition die
einstimmige Zustimmung zu einem Gesetzentwurf. In
diesem Sinne kann ich nur hoffen und wünschen, dass es
so kommt.
Ich bitte auch das Justizministerium, für dieses Gesetz
aktiv in Form von Informationsbroschüren und Offensiven zu werben. Die Kollegin Steffen sagte es: Nach einer
Allensbach-Studie können nur 65 Prozent der Bevölkerung zumindest etwas mit dem Begriff „Mediation“ anfangen. Ich habe aber auch gelesen, dass 41 Prozent der
Mediation skeptisch gegenüberstehen. Deshalb sollten
wir für dieses hervorragende Gesetz sehr offensiv werben - da setze ich auch auf das BMJ -, damit es bei den
Bürgern Akzeptanz findet. Vielleicht können wir in fünf
Jahren im Großen und Ganzen zufrieden feststellen, wie
gut es war, dass wir heute einstimmig ein sehr gutes Gesetz auf den Weg gebracht haben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was lange währt, sollte schlussendlich gut werden. Diese Formel kann man mit Fug und
Recht auch für das heute zu Ende gehende Gesetzgebungsverfahren bemühen. Es wird hoffentlich heute seinen Abschluss im Bundestag finden; ich bin da sehr optimistisch.
Frau Ministerin, der Entwurf aus Ihrem Haus ist gegenüber der ursprünglichen Drucksache so weit nachgebessert, dass heute auch die Linke zustimmen kann. Das
hatte ich bereits in der ersten Lesung in Aussicht gestellt,
und da lasse ich mich gern beim Wort nehmen.
Der vorliegende Text ist ein Kompromiss, der die Interessen der Beteiligten weitgehend berücksichtigt und
vor allem aufgrund wesentlicher Impulse aus dem Parlament selbst zustande gekommen ist. Daher lohnt sich ein
Blick in die Historie.
Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat und
das Europäische Parlament den Mitgliedsländern den
Auftrag, für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivilund Handelssachen den Zugang zur Mediation zu fördern und innerhalb von drei Jahren ein entsprechendes
Landesgesetz auf den Weg zu bringen. Am 4. August
2010 veröffentlichte das Ministerium dann den ersten
Referentenentwurf, dem acht Monate später ein durchaus
ambitionierter Gesetzentwurf folgte. Im Rechtsausschuss führten wir dann zeitnah eine Sachverständigenanhörung durch, der sodann eine Reihe von Berichterstattergesprächen folgte.
Mit dem jetzt vorliegenden Änderungsantrag hat die
Koalition die Vorschläge der Berichterstatter weitgehend
aufgegriffen und umgesetzt. Eingeflossen ist dabei übrigens auch ein Entschließungsantrag der Linksfraktion
vom 11. April 2011. Zentrale Fragen der Berufsausbildung, der -zulassung und -ausübung sowie der Fort- und
Weiterbildung der Mediatoren sind nunmehr sachgerecht
geregelt. Die für die sachkundige Durchführung der Mediation erforderliche Qualifikation wird damit zukünftig
gewährleistet sein.
Mit der geplanten Zertifizierung, einer Art TÜV für
Mediatoren, wird es außerdem bundesweit einheitliche
Standards geben. Hinsichtlich der bislang unzureichend
beantworteten Frage der Mediationskosten zeigt § 7 des
Entwurfs in Anlehnung an die Regelungen zur Prozesskostenhilfe einen Weg zur Förderung der Mediation auf.
Die Zuweisung von Bundesmitteln ist daran geknüpft,
dass zwischen dem Bund und den Ländern Forschungsvorhaben vereinbart werden, auf deren Grundlage dann
im Einzelfall eine Mediationskostenhilfe gezahlt werden
kann. Ob tatsächlich ein Rechtsanspruch des Hilfebedürftigen besteht, ergibt sich daraus leider nicht. Er ist
damit nicht hundertprozentig gewährleistet. Es bleibt
aber zu hoffen, dass der Bund ausreichende Mittel zur
Verfügung stellt und die Länder sodann auf diese Mittel
auch zurückgreifen. Sollte dies nicht gelingen, droht eine
soziale Schieflage, da der Zugang zur Mediation für sozial Schwache erschwert würde.
Die bisherige Regelung in § 4 zur Verschwiegenheitspflicht wirft eine Reihe von Auslegungsfragen auf, zum
Beispiel, ob ein als Zeuge benannter und geladener Mediator allgemein nach dem Prozessrecht aussagen muss.
Außerdem gibt es Unterschiede zwischen anwaltlichen
und nichtanwaltlichen Mediatoren. Der anwaltliche Mediator ist zum Beispiel zur Zeugnisverweigerung nach
Zivil- und Strafprozessordnung berechtigt. Ob dies auch
für den nichtanwaltlichen Mediator gilt, ist höchst umstritten und wird in einer Vielzahl von Fachaufsätzen
kontrovers diskutiert. Das betrifft auch den Umgang mit
Urkunden, Zeugen und die Vertraulichkeit von Aussagen.
Die Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens wird
sich letztlich nur durch eine Mediationsvereinbarung,
die ein ganzes Bündel notwendiger Vertragsklauseln enthalten muss, sicherstellen lassen. Eine klare gesetzliche
Regelung wäre hier sicher hilfreich gewesen. An dieser
Stelle wird die Praxis zeigen, ob mit den gewählten Formulierungen den Interessen der Rechtsanwender ausreichend Rechnung getragen wurde.
Neben den Regelungen zur außergerichtlichen Mediation sieht der Entwurf auch vor, die bisher praktizierten
unterschiedlichen Modelle der gerichtsinternen Mediation mit einer Übergangsfrist zu beenden und stattdessen
ein erheblich erweitertes Institut des Güterichters einzuführen und auch die Verfahren der Fachgerichtsbarkeit
zu erweitern. Die bereits in einigen Bundesländern praktizierten Güterichtermodelle werden somit bundesweit
auf alle Gerichtsbarkeiten übertragen.
An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass
der nun vorliegende Kompromiss sowohl bei Richterverbänden als auch bei einigen Justizministern zu erheblicher Kritik geführt hat. Das ist hier schon von verschiedenen Kollegen angeführt worden. Ich stimme mit den
Kritikern insoweit überein, als es zu den Aufgaben der
Gerichte gehört, schlichtend tätig zu werden. Sicher haben die bisherigen Modelle einer gerichtsinternen Mediation diesem Anliegen Rechnung getragen, aber eben
auch nur dort, wo derartige Modelle tatsächlich installiert und praktiziert worden sind. Das passierte eher zufällig und stellte kein flächendeckendes Angebot sicher.
Mit der bundesweiten Einführung eines Güterichtermodells in allen Gerichtsbarkeiten wird dem Rechtsuchenden nun qualitativ und quantitativ ein neues Angebot der konfliktlosen Streitbeilegung unterbreitet. Das
ist eine echte Innovation.
An den Gerichten, an denen Erfahrungen mit gerichtsinterner Mediation gemacht wurden, werden diese
Erfahrungen weiter im Rahmen des Güterichterverfahrens genutzt werden können. Das wurde von den Vorrednern schon gesagt. Auch ich bin davon überzeugt, dass
das gelingt.
Den Befürwortern der gerichtsinternen Mediation ist
noch entgegenzuhalten, dass mit einer Tätigkeit als
Richtermediator ungeklärte und höchst strittige verfassungsrechtliche Fragen, wie die der Vereinbarkeit der
Tätigkeit als Mediator mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und der Gewaltenteilung, verbunden waren. Rechtsvergleichende Studien haben belegt,
dass die Mediation überwiegend nicht gerichtsintern angeboten wird. Ich halte es dennoch für notwendig, mit
den Kritikern des vorliegenden Entwurfes den Dialog zu
suchen und dabei insbesondere die kritischen Fragen
hinsichtlich der Vereinbarkeit der Richtermediation mit
dem Verfassungsrecht zu erörtern. Da sehe ich mich mit
Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Denn eines hat die parlamentarische Diskussion um
den vorliegenden Gesetzentwurf gezeigt: Nur verständnisvolles Zuhören und Eingehen auf die Argumente des
jeweils anderen können zu einem Interessenausgleich
führen. In diesem Sinne ist das heute zu beschließende
Gesetz eine kleine Erfolgsgeschichte und darf sich auch
unserer Zustimmung erfreuen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort erhält nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin! Der heutige Tag ist ein Festtag. Der
heutige Tag ist ein Feiertag für alle Bürgerinnen und
Bürger, die in unserem Land eine andere Konfliktkultur
und eine bessere Streitkultur wollen.
({0})
Mit der Verabschiedung dieses ersten Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung in Deutschland läuten
wir eine neue Ära im Bereich alternativer Konfliktlösungen ein.
Wenn wir dieses Gesetz mit seinen Chancen in der
Praxis ausschöpfen, haben wir ungeahnte Möglichkeiten, das Rechtsempfinden unserer Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zu stärken. Wir ermöglichen Konfliktpartnern - ob Einzelpersonen, Unternehmen oder Verwaltungen - die Anwendung eines neuen zwischenmenschlichen und juristischen Koordinatensystems. Mit diesem
Gesetz erleichtern wir Konfliktpartnern, die Lösung ihres Konflikts selbstverantwortlich in die eigene Hand zu
nehmen.
Ich sage - und das auch als Juristin - mit großer
Überzeugung: Wir haben in Deutschland eines der besten juristischen Systeme. Und: Es gibt Konfliktfälle, die
brauchen eine klare und konsequente Aufarbeitung in juristischer Hinsicht. Aber: Nicht jeder Konfliktfall ist ein
juristischer Konflikt. Bei unseren Gerichten landen jedes
Jahr Zigtausende von Gerichtsverfahren, die im Kern
keinen juristischen, sondern einen anderen Lösungsweg
brauchen.
Wir alle wissen doch aus eigener Lebenserfahrung
- ganz gleich, welchen Beruf wir haben -: Es geht sehr
oft ums Prinzip. Sprachlosigkeit führt häufig zum Rechthabenwollen, und dann geht es nicht mehr darum, die
beste Lösung zu finden. An dieser Stelle können Mediatoren helfen, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Denn bei Konflikten gilt der Satz von Paul Watzlawick:
„Der Beziehungsaspekt dominiert … den Inhaltsaspekt.“ Das bedeutet, dass eine echte Konfliktlösung in diesen
Fällen die Kommunikations- und Beziehungsebene mitberücksichtigen muss.
In der Mediation sitzen die Kontrahenten an einem
Tisch. Sie suchen unter Vermittlung eines freigewählten
Mediators eine Lösung für ihren Konflikt. Auseinandersetzungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern in einem Unternehmen können oft im Gespräch gelöst werden. Auch Streitigkeiten zwischen Mietern und Vermietern, Zank zwischen Nachbarn um die Thujahecke, Forderungen zwischen Firmen aufgrund von Qualitätsmängeln oder Interessenunterschiede zwischen Gesellschaftern eines Unternehmens - all diese Konflikte müssen
nicht zwangsläufig vor Gericht landen.
Und wer einmal eine hochstreitige Erbauseinandersetzung durchgeführt hat oder wer in nervenaufreibenden Scheidungsfällen Schriftwechsel, Gutachten und
Kindesanhörungen miterlebt hat, der weiß, dass hier neben juristischen Kompetenzen sehr stark auch kommunikative und professionelle Mediationskompetenzen gefragt sind.
Mit dem Mediationsgesetz regeln wir jetzt das Wer,
Wo und Wie der Mediation. Wir regeln die Qualitätsstandards für Mediatoren. Wir legen als Voraussetzung
eine anspruchsvolle Ausbildung für sie fest; denn Mediatoren brauchen eine hohe Kompetenz.
({1})
Um hinsichtlich dieser Kompetenzen die Möglichkeiten voll auszuschöpfen, brauchen wir Mediatoren mit
unterschiedlichen Quellberufen. Juristen, Psychologen,
Pädagogen oder auch Mitglieder anderer Berufsgruppen
können und sollen exzellente Mediatoren werden; sie
sollen mit menschlichen Beziehungen und auch hohen
Sachwerten professionell umgehen können.
In den letzten Monaten haben wir interfraktionell
- leidenschaftlich und sachlich zugleich - um die besten
Ergebnisse gerungen. Wir haben Fachgespräche und Anhörungen durchgeführt. Wir haben über den Tellerrand
geschaut und uns Anregungen aus anderen Ländern
- aus den Niederlanden, Österreich, Norwegen, den
USA und weiteren Staaten - geholt. Auch haben wir
heiße Eisen angepackt und uns der Verantwortung gestellt, um hier klare Vorgaben zu machen.
Es gibt einige Bundesländer, in denen richterliche
Mediation praktiziert wird. In vielen anderen Bundesländern aber findet diese Praxis überhaupt nicht statt. Aus
Gründen der Klarheit, der Transparenz und auch einer
juristisch eindeutigen Aufgabenverteilung haben wir uns
im Gesetz für das Güterichtermodell entschieden, wie es
schon in Bayern und Thüringen erfolgreich praktiziert
wird. Richter können hier als Güterichter auch weiterhin
all ihre mediativen Kompetenzen zum Wohle der Streitparteien einsetzen.
({2})
Eine vollumfängliche Mediation mit dem hierfür nötigen Setting - wie zum Beispiel ausreichend Zeit für Gespräche, hierarchiefreie Rahmenbedingungen, freie Me17844
diatorenwahl und Einbeziehung von Stakeholdern braucht aber ihren eigenen privatautonomen Raum und
Rahmen. Diese Erkenntnis haben wir im Laufe der Beratungen gewonnen. Deshalb müssen wir hier auch begrifflich eindeutig und unmissverständlich sein, und wir
müssen dafür sorgen, dass keine unnötigen Konfliktlinien entstehen.
Deshalb möchte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, und auch die verehrten Richterinnen und Richter
bitten, diese Entscheidung mitzutragen und auch in die
Länder zu kommunizieren. Richter, die Mediation als alternative Konfliktlösung praktizieren wollen, können
das im Rahmen ihrer richterlichen Kompetenz weiterhin
tun. Einen Streit um Worte sollten wir hier wirklich nicht
entfachen.
({3})
Meine Damen und Herren Kollegen, mit dem Mediationsgesetz gehen wir einen großen Schritt nach vorn.
Weitere müssen zügig folgen. Die nächste große Herausforderung besteht in der Einführung einer Mediationskostenhilfe. Es ist, wie wir alle wissen, so: Streitparteien,
die sich Gerichtsverfahren finanziell nicht leisten können, haben Anspruch auf Prozesskosten- oder Verfahrenskostenhilfe. Mit der Mediationskostenhilfe sollten wir
dafür sorgen, dass Mediation für alle - unabhängig vom
Einkommen - möglich ist. Wir sehen hier eine erhebliche Chance zur Entlastung der Gerichte und auch zur
Kostendämpfung. Deshalb wäre es wünschenswert, dass
sich möglichst viele Bundesländer möglichst schnell an
den Forschungsvorhaben zur Mediationskostenhilfe, die
wir im Gesetz auch vorgesehen haben, beteiligen. Der
Erfolg des Gesetzes hängt davon ab, dass die Justiz in
den Ländern die neuen Chancen und Möglichkeiten dieses Gesetzes zielstrebig nutzt.
Mit diesem Mediationsgesetz haben wir das momentan Bestmögliche erreicht. Wir stellen hier dem Hoheitsakt der Konfliktaustragung durch eine Entscheidung des
Gerichts eine alternative, konsensuale und selbstregulierende Form der Konfliktlösung zur Seite. Damit schaffen wir eine Win-win-Situation für die Bürgerinnen und
Bürger, die Gerichte und die Mediatoren. Damit eröffnen
wir allen die Möglichkeit, Konflikte auf neue Art zu lösen.
Ich danke ganz herzlich allen: der Ministerin, ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Kolleginnen und
Kollegen im Rechtsausschuss und den Verbänden. Ihnen
allen danke ich dafür, dass wir in einer überfraktionellen
und sachorientierten Zusammenarbeit ein gutes Gesetz
geschaffen haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Fast kein Gesetz verlässt den
Deutschen Bundestag so, wie die Bundesregierung es
eingebracht hat.
({0})
Das mag nicht bei jedem Gesetz so sein, es ist aber bei
diesem Gesetz der Fall gewesen. Obwohl der Referenten- und der Kabinettsentwurf - sie haben sich in Details
unterschieden - gute Voraussetzungen lieferten, eine
Weichenstellung im deutschen Rechtssystem zu ermöglichen, waren es die Fraktionen, die gearbeitet, verbessert und Lösungen gefunden haben, um das Mediationsgesetz, das wir heute verabschieden wollen, zu einem
Erfolgsgesetzeswerk werden zu lassen.
({1})
Das Gesetz ist eine Weichenstellung - ja! -; aber Mediation ist nun wirklich kein neues Verfahren. Es ist für
uns neu, dass wir es jetzt in Gesetzesform gießen; aber
es geht hier um ein Verfahren, das sich viele Jahrhunderte, teilweise Jahrtausende zurückverfolgen lässt:
Bereits im Jahre 594 vor Christus gab es in Athen den
Titel „Archon und Diallaktes“, also höchster Beamter
und zugleich Schiedsrichter oder, wie man vielleicht
besser sagen sollte, Versöhner. Auch da findet sich schon
der Gedanke, dass es nicht immer nur kontradiktorische
Entscheidungen geben darf, sondern es Interessen gibt,
die man besser zum Ausgleich bringt, wenn man den
versöhnenden Ansatz wählt.
Es wäre auch beim Westfälischen Frieden nicht gelungen, die unterschiedlichsten Interessen der Kriegsparteien in Einklang zu bringen, wenn es nicht Alvise
Contarini gegeben hätte, der dies geschafft hat, weil er
von allen Parteien anerkannt war und das Vertrauen der
Parteien genoss, an dieser Stelle einen Ausgleich der Interessen zu erreichen.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hat der Gedanke
der Mediation, des Ausgleichs der Interessen gerade im
wirtschaftlichen Bereich, in den Vereinigten Staaten Fuß
gefasst, um einen besseren Weg zu finden und, wie es
Kollegin Hönlinger gerade gesagt hat, zu einer Win-winSituation zu kommen, also nicht eine Partei obsiegen zu
lassen und die andere unzufrieden von dannen ziehen zu
lassen, sondern herauszuarbeiten, wo in einem Konflikt
die wirklichen Interessen liegen, und dann möglicherweise - in vielen Fällen, in viel mehr Fällen, als man
denkt, geht das - zu einem Ergebnis zu kommen, bei
dem beide Parteien erkennen, dass ihre Interessen berücksichtigt worden sind.
Auch die Europäische Union hat beim Europäischen
Rat von Tampere 1999 erkannt, dass die außergerichtliche Streitbeilegung in den Mitgliedstaaten befördert
werden muss. Über einzelne Schritte, vom Grünbuch bis
hin zur Richtlinie, die wir heute mit leichter Verspätung
umsetzen wollen, ist es gelungen, diesen neuen Weg zu
beschreiten und diese Weichenstellung vorzunehmen.
({2})
Was ist nun das Besondere an diesem Gesetz? Es ist
schon an vielen Stellen angesprochen worden: Das Besondere ist die Entscheidung, die außergerichtliche Streitbeilegung bzw. Mediation zu stärken und zu sagen: Wir
wollen bundesweit ein Güterichtermodell etablieren und
wissen, dass auch in diesem Rahmen alle mediativen
Elemente, die bisher in vielen guten Projekten in den
Bundesländern angewendet worden sind, angewendet
werden können.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Bank des Bundesrates heute etwas besser gefüllt wäre.
({3})
Denn es gab im Vorfeld viele Diskussionen, Anrufe und
Schreiben. Ich wundere mich, dass die Bundesratsbank
heute leider nicht voll besetzt ist.
({4})
Gleichzeitig muss ich aber sagen: In den Gesprächen,
die ich geführt habe, ist deutlich geworden, dass die
Bundesländer erkannt haben, dass dieser Gesetzentwurf
sehr ausgewogen ist, dass die Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Rahmen der Projekte, die gute Arbeit geleistet haben, die die Mediation vorangebracht haben,
weil Richter dafür begeistert worden sind, entwickelt
worden sind, auch in Zukunft genutzt werden können.
Dafür haben wir gesorgt; auch das war uns wichtig.
Die Alternative wäre nämlich ein Kostenmodell gewesen. Dazu haben wir am 25. Mai eine Anhörung
durchgeführt, auf der die Experten und Sachverständigen die Meinung geäußert haben, dass ein Kostenmodell
nicht der bessere Weg ist. Dies entspricht der Rückmeldung aus den Bundesländern, dass hier das Güterichtermodell zu bevorzugen ist. Wir haben schon die Hoffnung, dass die mediativen Elemente auch weiterhin von
den Richtern genutzt und gefördert werden.
Die Kollegin Steffen und der Kollege Petermann haben es gesagt: Wir dehnen die Mediation auch auf die
Bereiche aus, in denen teilweise Skepsis herrschte: auf
die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit. Denn wir wissen:
Mediation ist ein freiwilliges Verfahren; wenn die Parteien die Mediation nicht akzeptieren, können sie gar
nicht dazu gezwungen werden. Insofern ist es gut, diese
Chance in jedem Bereich zu eröffnen, also zu sagen:
Wenn Interessen im Rahmen einer Mediation zum Ausgleich gebracht werden können, dann nutzen wir die
Chancen, die uns das Mediationsverfahren bietet.
Wir haben versucht, die Brüche, die natürlich vorhanden sind, weil Güterichtermodell und Mediation nicht
eins zu eins das Gleiche sind, möglichst gering zu halten,
und zwar - das hat der Kollege Ahrendt angesprochen durch § 159 Abs. 2 ZPO, wo wir sagen: Wenn die Besorgnis besteht, dass die Vertraulichkeit, die bei der Mediation gegeben ist, im Güterichtermodell nicht gegeben
ist, wird ein Protokoll nur dann verfasst, wenn dies beide
Parteien wirklich wollen. Damit haben wir die Unterschiede so gering wie möglich gehalten, sodass beide
Modelle akzeptiert werden und nebeneinander stehen
können. Aber es ist das erklärte Ziel - auch das sage ich
deutlich -, die außergerichtliche Mediation zu stärken;
denn jeder Prozess, der vermieden werden kann, weil es
zu einem gütlichen Ausgleich, zu einer Win-win-Situation kommt, ist ein Vorteil; das ist unser Ziel.
({5})
Wir wollen die Qualitätssicherung durch Mindeststandards erreichen. Über Mindeststandards kann man
natürlich hinausgehen. Wir haben uns auf 120 Stunden
geeinigt. Hinzu kommen hinterlegte Inhalte, die wir in
einer Verordnung regeln wollen, die es noch zu verabschieden gilt. Wir haben auch Sorge dafür getragen, dass
die Altfälle, die bisherigen Mediatoren, berücksichtigt
werden, die bisher noch nicht die 120 Stunden erreichen
konnten, um sich zertifizierter Mediator nennen zu können, in der Praxis bisher aber gute Arbeit geleistet haben.
Diese erfahren damit auch Anerkennung.
Wir haben eine weitere Änderung im Bereich der
Vollstreckbarkeit vorgesehen - eines der drei Vs der europäischen Richtlinie -, indem wir gesagt haben: Wir
wollen die Vollstreckbarkeit über die bestehenden Normen der ZPO erreichen, nämlich durch die Protokollierung bei einem deutschen Gericht, die Beurkundung bei
einem Notar oder die Vereinbarung in Form eines anwaltlichen Vergleichs. Damit erfüllen wir die Richtlinie
und erreichen die Vollstreckbarkeit der im Rahmen der
Mediation erzielten Ergebnisse. Das ist eine sehr ausgewogene Regelung, die dem Mediationsgesetz und der
Mediationsrichtlinie Rechnung trägt.
Ich möchte an dieser Stelle allen Berichterstattern für
die exzellente Zusammenarbeit danken. Wir haben über
alle Fraktionen hinweg das Ziel gehabt, ein gutes Gesetz
zu verabschieden. Ich möchte Herrn Kollegen Ahrendt
danken, dass er immer wieder auf die Frage wert gelegt
hat: Wer zertifiziert die Zertifizierer?
({6})
Er hat auch die Qualitätssicherung im Blick behalten.
Ich möchte der Kollegin Steffen danken, die dafür gesorgt hat, dass wir die Mediationskostenhilfe nicht aus
den Augen verlieren.
({7})
Ich möchte der Kollegin Hönlinger danken, die sich auf
verschiedene Fragen konzentriert hat, zum Beispiel darauf, welche Ausbildung die Zertifizierer mitbringen
müssen. Sie hat auf die Qualitätssicherung geachtet und
auch auf die Beantwortung der Frage, wie lange es dauern wird, bis wir das neue Modell einführen können. Der
Kollege Petermann hat auch noch in den letzten Gesprächen auf die wissenschaftlichen Forschungsvorhaben
nach § 6 hingewiesen. Alle Fraktionen haben sich eingebracht. Dieses Ergebnis wäre nicht erzielt worden, wenn
das Bundesministerium der Justiz uns nicht immer wieder in Bezug auf unsere Wünsche zugearbeitet hätte. So
ist in der Gesamtheit ein exzellentes Gesetz zustande gekommen. Zum Abschluss schließe ich mich meinen Vorrednern an. Jetzt liegt es an den Verbänden und den Mediatoren, daraus gelebte Praxis zu machen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es ist so richtig schön vorweihnachtlich, dass wir uns
alle so einig sind und uns gegenseitig so sehr loben.
({0})
Witz beiseite: Das Gesetz ist wirklich Grund genug,
dass wir uns gemeinsam loben und unsere Freude darüber zum Ausdruck bringen; denn der Gesetzentwurf,
den wir heute abschließend beraten, ist ein hervorragendes Beispiel für gute Rechtsetzung. Darauf können wir
hier im Deutschen Bundestag richtig stolz sein. Das ist
in der bisherigen Debatte auch zum Ausdruck gekommen.
Da ich selbst keine Berichterstatterin war, schließe
ich mich ausdrücklich dem Dank an alle Berichterstatter
an. Ich habe das alles staunend aus einiger Entfernung
beobachtet. Ich finde, es ist Hervorragendes geleistet
worden; denn das Gesetz ist entscheidend verbessert
worden.
Auch als Europapolitikerin habe ich mich sehr gefreut
- ich schließe an das an, was Herr Sensburg schon gesagt hat -; denn der vorliegende Gesetzentwurf ist ein
gutes Beispiel für die vollständige und gelungene Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Da wir in diesen
Tagen so wenig gute Nachrichten aus Europa erhalten
- wenn ich das hier so sagen darf -, finde ich es wichtig,
zu betonen, dass das Gesetz einen Beitrag dazu leistet,
das Recht in Europa fortzuentwickeln, und dass wir
nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa
durch gemeinsame Regeln einheitliche, gesetzliche Standards für die Mediation sichern. Auch das ist ein Grund,
Freude zum Ausdruck zu bringen.
({1})
Ich finde nicht nur die Inhalte vorbildlich, sondern
auch den Prozess. Wir haben hier im Deutschen Bundestag unsere Verantwortung wahrgenommen. Wir haben
einen Gesetzentwurf der Bundesregierung unter Berücksichtigung der Anregungen des Bundesrates - dessen
Vertreter heute leider nicht da sind, aber bestimmt wird
das, was wir hier zum Ausdruck bringen, verfolgt - und
vor allen Dingen unter Einbeziehung zahlreicher Expertinnen und Experten entscheidend weiterentwickelt und
verbessert.
Ich wünsche mir, dass heute viele auf den Bundestag
schauen oder sich das im Nachhinein anschauen; denn
dieser Gesetzentwurf ist so ein gutes Beispiel, dass es
sich lohnt, ihn sich anzuschauen. Auch außerhalb des
Kreises der Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker
und Mediationsexperten sollte zur Kenntnis genommen
werden, dass wir hier gemeinsam etwas Gutes auf den
Weg gebracht haben, dass wir zum Jahresende einen gelungenen Abschluss hinbekommen haben.
Ich möchte mich kurz auf einen Punkt konzentrieren,
der für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Debatte besonders wichtig war und immer
noch besonders wichtig ist: die Aus- und Fortbildung für
Mediatoren und die Sicherung der Qualität der Mediation. Am 14. April dieses Jahres fand hier die erste Lesung statt. In der Debatte haben nahezu alle Kolleginnen
und Kollegen übereinstimmend zum Ausdruck gebracht,
dass das, was damals in § 5 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgesehen war, nämlich die Aus- und
Fortbildung nicht zu regeln, sondern den Verbänden
selbst zu überlassen, unseren Ansprüchen an die Sicherung der Qualität der Mediation nicht genügt. Frau
Ministerin, Sie haben sich damals noch dafür ausgesprochen, das nicht zu regeln. Sie haben gesagt, dass Sie gewährleisten wollen, dass der Mediation als einem noch
stark in der Entwicklung begriffenen Verfahren genügend Entfaltungsspielraum verbleibt. Das war damals
Ihr Argument. Ich hoffe, dass Sie sich von uns ein bisschen davon haben überzeugen lassen, dass die Regelung,
die jetzt in § 5 vorgesehen ist, der bessere Weg ist, um
die Qualität zu sichern. Das würde mich freuen; denn
wir haben damals schon gesagt: Die Selbstregulierung
des Mediationsmarktes reicht nicht aus, um diesen Interessen gerecht zu werden.
Auch der Bundesrat hat damals kritisiert, dass wir an
diesem Punkt nicht genügend regeln. Er hat uns, den
Deutschen Bundestag, explizit aufgefordert, das zu regeln. Er hat gesagt:
Der Gesetzgeber sollte nicht hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben.
Das steht in der Stellungnahme des Bundesrates, und das
haben wir uns zu Herzen genommen.
Die Anhörung hat Ähnliches ergeben. Auch da haben
wir auf die Praxis gehört. Ich begrüße für meine Fraktion
ganz ausdrücklich das - das ist auch in den anderen
Wortbeiträgen schon zum Ausdruck gekommen -, was
jetzt in § 5 geregelt worden ist. Durch die Einführung eines zertifizierten Mediators und durch klare Regeln zum
Ausbildungsinhalt und zum Ausbildungsumfang gewährleisten wir die Qualität, und zwar sowohl was die
theoretischen Kenntnisse angeht, als auch was die praktischen Erfahrungen angeht. Ich finde, das ist ein wirklicher Erfolg.
({2})
Diese Regelung steht auch im Einklang mit Art. 12
des Grundgesetzes. Auch darüber wurde im Vorfeld diskutiert. Ich begrüße ganz ausdrücklich, dass der Gesetzentwurf in einem Arbeitskreis erarbeitet worden ist und
das Justizministerium über § 6 die Möglichkeit hat, nähere Bestimmungen über die Aus- und Fortbildung in
Form einer Rechtsverordnung zu erlassen. Das, was wir
jetzt schon vereinbart haben, die Mindeststundenzahl
von 120 Stunden für die Ausbildung, ist - Herr
Sensburg, Sie haben das schon gesagt - ein Mindeststandard. Ich meine, wir können an der einen oder anderen
Stelle noch etwas hinzupacken, wenn es um eine spezielle Qualifikation oder den Nachweis von praktischer
Erfahrung geht, etwa um Supervision. Das ist sicherlich
noch etwas ausbaufähig, aber ich bin auf jeden Fall sehr
froh, dass wir uns entschieden haben, das in dieser Art
und Weise zu regeln.
Ich begrüße ganz ausdrücklich auch § 8 des neuen
Gesetzes, die Berichtspflicht. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Aus- und Fortbildung explizit erwähnt
wird, dass nicht nur gesagt wird: „Wir evaluieren das
Gesetz“, sondern direkt hineingeschrieben worden ist:
„Wir achten dabei auch auf die Aus- und Fortbildung“,
und das Justizministerium in fünf Jahren darüber Bericht
erstatten muss. Wir alle werden sicherlich ganz genau
hinschauen, wie sich das entwickelt, und dann gemeinsam schauen, ob die Regelungen, die wir heute vereinbaren, ausreichen oder noch etwas verbessert werden müssen.
Ich finde auch den Vorschlag, der in der Diskussion
ist, eine Institution damit zu beauftragen, auf die Ausund Fortbildung genau zu achten und zu schauen, wie
die beteiligten Akteure agieren, gut. Eine Stiftung dafür
einzurichten, halte ich für eine gute Idee. Ich finde, das
sollten wir in der weiteren Debatte auf jeden Fall noch
einmal besprechen.
Ich will ganz kurz auf die Richtlinie hinweisen. Ich
bin der Auffassung, wenn wir § 5 nicht so formuliert hätten, wie wir ihn formuliert haben, dann hätten wir die
Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Das wird
deutlich, wenn man sich die Richtlinie ganz genau anschaut. Die Richtlinie schreibt ganz klar vor, dass wir die
Qualitätskontrolle sichern müssen und die Mediation für
die Parteien wirksam, unparteiisch und sachkundig
durchgeführt werden muss und das im Zusammenhang
mit der Aus- und Fortbildung zu sehen ist. Deswegen
freue ich mich, dass wir bei der Umsetzung der Richtlinie keinen Punkt offengelassen haben.
Also: ganz viel Freude, ganz viel Zufriedenheit und
ein schönes Gesetz, dem die SPD auf jeden Fall - so hat
es meine Kollegin Sonja Steffen gesagt - heute sehr
gerne zustimmt. Ich möchte uns gemeinsam ermuntern,
weiter an den Themen Qualitätssicherung und -kontrolle
im Bereich Aus- und Fortbildung zu arbeiten und das
Gesetz in diesem Sinne, wenn nötig, weiterzuentwickeln. Wir haben durch die Evaluierung die Möglichkeit
dazu. Heute können wir ein bisschen stolz sein. Die
Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker können an dieser Stelle zufrieden in die Weihnachtspause gehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es kommt nicht allzu oft vor, dass wir ein Gesetz mit einem so großen Konsens verabschieden können. Wir haben eine echte konsensuale Regelung gefunden.
({0})
Hier waren hervorragende Mediatoren am Werk, denen
wir zu Dank verpflichtet sind. Das gilt für die beiden Berichterstatter der Koalitionsfraktionen, aber natürlich
auch für die Berichterstatter der Opposition. Dank aller
ist ein gutes Gesetz zustande gekommen. Ihnen, Frau
Ministerin, gebührt Dank dafür, dass die Initiative überhaupt gekommen ist und dass wir auf diese Weise eine
gute Ergänzung unseres Instrumentenkastens gefunden
haben, um Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft herzustellen.
Die deutsche Justiz genießt ein hohes Ansehen - im
Ausland wie auch in unserer Bevölkerung. Die Verfahren werden von fachkundigen Richterinnen und Richtern
zügig durchgeführt, von Ausnahmen einmal abgesehen.
Unsere Justiz genießt nicht ohne Grund ein so hohes
Vertrauen, sodass sie jetzt sehr stark belastet ist; denn
aufgrund ihres Vertrauens finden viele Menschen den
Weg zur Justiz. Deswegen ist eine so hohe Belastung
entstanden. Daher haben die Länder schon sehr frühzeitig darüber nachgedacht, wie wir Wege finden, um die
Justiz zu entlasten. In diesem Zusammenhang ist man
bereits sehr frühzeitig auf den Gedanken der Mediation
gekommen.
Bei dieser Frage geht es aber nicht allein um die Bebzw. Entlastung der Justiz, sondern es geht auch um die
Möglichkeit, einen größeren Rechtsfrieden in die Gesellschaft hineinzubringen. Das erleben wir bei einem Urteil
nicht unbedingt. Ein Urteil entscheidet einen Streit zwischen zwei Parteien. Natürlich hat es auch die Aufgabe,
Rechtsfrieden herzustellen. Aber ich habe in meiner
langjährigen Tätigkeit als Anwalt eigentlich noch nicht
erlebt, dass eine unterlegene Partei mit der Erkenntnis
aus dem Gerichtssaal gekommen ist, soeben ihren
Rechtsfrieden gefunden zu haben. Das Gegenteil ist oft
genug der Fall. Wir erleben immer wieder, dass ein Urteil gerade Anlass für einen noch vertiefteren Streit ist,
insbesondere wenn es um Familienstreitigkeiten, Erbschaftsstreitigkeiten oder Nachbarschaftsstreitigkeiten
geht und die Nachbarn oft generationenlang in gegenseitiger Verärgerung und sogar Abscheu leben. Da ist es
schon eine Überlegung wert, ob wir nicht eine andere
Form der Streitbeilegung finden. Das Mediationsgesetz
bietet hier eine Struktur, die dies, wie ich meine, ermöglicht.
Es gibt gewissermaßen zwei Bereiche dieser Mediation, zum einen im gerichtlichen Bereich. Darüber ist
hier schon geredet worden. Wir haben den sogenannten
Richtermediator bereits sehr früh eingesetzt. Viele Länder sind längst dazu übergegangen, den Güterichter einzusetzen, weil der Richtermediator nur eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit hat. Der Güterichter hat
bereits sehr erfolgreich gewirkt.
Der Güterichter tritt in Erscheinung, wenn der jeweilige Spruchkörper einen Rechtsstreit an ihn verweist. Er
hat dann die Aufgabe, die Parteien zusammenzuführen
und wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Gegensatz zum Richtermediator hat er auch die Möglichkeit, Belehrungen zu erteilen und Beratungen durchzuführen, was oft genug notwendig ist. Zudem hat er die
Möglichkeit, einen Lösungsvorschlag zu machen, der
dann, wenn er protokolliert wird, auch vollstreckbar sein
kann. Insofern ist die Entscheidung in Zusammenhang
mit diesem Gesetzentwurf, das Güterichterkonzept ganz
besonders zu stärken und den Richtermediator gewissermaßen wieder abzuschaffen, eine richtige Entscheidung
gewesen.
Für die Parteien ist es sehr oft wichtig, dass sie untereinander einen Ausgleich finden, bevor sie überhaupt
zum Gericht gehen. Dafür ist der zweite große wichtige
Teil dieses Gesetzentwurfs zu verabschieden, nämlich
die Mediation außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens.
Insbesondere sie soll durch dieses Gesetz große Bedeutung bekommen. Ich meine, die Chance dazu besteht.
Es wird ein strukturiertes Verfahren angeboten, in
dem die Parteien mithilfe eines Mediators, der gut ausgebildet ist - das ist natürlich notwendig, da sonst kein
Vertrauen besteht -, versuchen, zueinanderzukommen.
In einem vertrauensvollen Raum gegenseitigen Verständnisses, das erst geweckt werden muss, in Freiwilligkeit und Selbstverantwortung sollen sie eine Lösung
finden. Wenn diese Lösung gefunden ist, kann sie natürlich protokolliert werden und gemäß § 794 ZPO - das
sieht der Gesetzentwurf ja vor - sogar einen vollstreckbaren Titel ermöglichen.
Erstens ist die Vollstreckbarkeit einer in einem Mediationsverfahren gefundenen Vereinbarung wichtig.
Zweitens ist natürlich sehr wichtig, dass die Mediatoren
gut ausgebildet sind; denn sonst wächst kein Vertrauen.
Drittens sollte man sich Gedanken machen - das ist in
diesem Gesetzentwurf noch nicht berücksichtigt worden -,
dass die Durchführung eines Mediationsverfahrens außerhalb des Gerichtes finanziell unterstützt werden
muss. Bei Gericht gibt es die Prozesskostenhilfe. Das
Mediationsverfahren außerhalb des Gerichtes soll ja
dazu führen, dass Prozesse vermieden werden; das ist
die Absicht des Gesetzes. Daher ist es logisch und richtig, dass man das Mediationsverfahren fördert. Ich
meine, wir sollten bei einer Evaluierung überlegen, ob
wir diesen wichtigen Schritt gehen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren
Gedanken anführen, der jetzt nicht ganz zu der großen
Zustimmung passt. Wir müssen ein wenig darauf achten,
dass durch die Mediationsverfahren nicht eine Privatisierung der Justiz einsetzt. Das ist nach meiner Auffassung
ein gewichtiges Argument.
({1})
Die Justiz hat erstens die Aufgabe, über einen Streit zwischen zwei Parteien zu entscheiden. Sie hat, wie ich eingangs sagte, zweitens die Aufgabe, Rechtsfrieden herzustellen; das wird nicht immer gelingen. Sie hat drittens
die Aufgabe, eine Entscheidung nach Gesetz und Recht
zu fällen und so das gesellschaftliche Zusammenleben
zu ordnen. Diese Aufgabe kann die Justiz nicht mehr erfüllen, wenn zu viele Mediationsverfahren eingeleitet
werden. Deswegen müssen wir bei der Evaluierung darauf achten, dass dies nicht zum Nachteil gerät. Das wäre
schade. Ich hoffe sehr, dass die Mediation außerhalb des
Gerichtes, aber auch während des gerichtlichen Verfahrens ein großer Erfolg sein wird.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Förderung der Mediation und anderer Verfahren der au-
ßergerichtlichen Konfliktbeilegung. Zu dieser Abstim-
mung liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung der Kollegin Dyckmans, des Kollegen
van Essen und der Kollegin Kopp vor.1)
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8058, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/5335 und
17/5496 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Marianne Schieder ({0}), Ulla
Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes
Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Krista Sager, Kerstin
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft
und Forschung
- Drucksachen 17/5541, 17/7756 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marianne Schieder für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wie wird sie wohl ausgefallen sein, die Antwort
der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum
Thema Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und
Forschung?
({0})
Ich glaube, Sie alle ahnen es. Es ist wie auch sonst in unserer Gesellschaft: Es gibt sie, die qualifizierten Frauen,
auch in Wissenschaft und Forschung. Doch in den Führungsetagen sind sie nicht zu finden.
({1})
Sie kommen nicht nach oben. Alle Beteuerungen und
Selbstverpflichtungen haben daran nicht viel geändert.
Inzwischen schließen sogar mehr Frauen als Männer
erfolgreich ein Hochschulstudium ab. Sie promovieren
auch. 44,1 Prozent derjenigen, die promovieren, sind
Frauen, wie die Statistik besagt. Blickt man auf die Zahl
der Professorinnen, stellt man aber fest: Hier beträgt der
Frauenanteil 18,2 Prozent. Leider steigen immer noch
überproportional viele Frauen nach der Promotion aus
dem Wissenschaftssystem aus. Das ist nicht nur den
Frauen gegenüber ungerecht, sondern auch volkswirtschaftlich gesehen eine absolut schlechte Entwicklung.
Wir erlauben uns an dieser Stelle eine massive Verschwendung intellektueller Potenziale.
({2})
So geht die Prognos AG in einer aktuellen Studie davon aus, dass der volkswirtschaftliche Schaden durch die
unzureichende Ausschöpfung des Arbeitsmarktpotenzials von Frauen allgemein - kumuliert bis 2030 - bei
rund 2 Billionen Euro liegt. In der Studie wird der mögliche volkswirtschaftliche Gewinn durch die Erhöhung
der Erwerbsbeteiligung von Hochschulabsolventinnen
bis 2015 auf 70 Milliarden Euro beziffert.
In der Antwort auf unsere Große Anfrage wird leider
mehr als deutlich, dass die Bundesregierung keine Vorstellung davon hat, was getan werden kann und muss,
um die Entwicklung auf einen besseren Weg zu bringen.
Dabei ist es höchste Zeit, tätig zu werden. Denn im
Zeitraum zwischen 2010 und 2019 werden insgesamt
11 653 Professorinnen und Professoren das 65. Lebensjahr erreichen. Damit wird fast ein Drittel aller Professorinnen und Professoren aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Bei der Neubesetzung dieser Stellen gilt es, die
entscheidenden Weichen für die Frauen zu stellen. Dieses Zeitfenster muss genutzt werden, wenn es uns mit
der Sache der Frauen ernst ist.
({3})
Auf unsere Fragen nach Initiativen und Planungen
gibt es lediglich den Verweis auf Programme der Vorgängerregierungen, es gibt Appelle ohne Konsequenzen,
({4})
und es wird von Evaluierungen gesprochen, aus denen
Handlungsansätze folgen sollen. Wie diese Ansätze aussehen sollen, bleibt aber äußerst nebulös. Bei mir entsteht der Eindruck - allerdings nicht nur bei mir -, als sei
die Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und Forschung für diese Bundesregierung eine völlig neue Herausforderung. Ich sage: Das ist Perspektivlosigkeit auf
der ganzen Linie.
({5})
Schlimmer noch: Da und dort erkennt die Bundesregierung nicht einmal den Handlungsbedarf. So ist es
beispielsweise Fakt, dass Frauen in Wissenschaft und
Forschung deutlich häufiger als Männer befristet oder in
Teilzeit beschäftigt sind
({6})
und dass immer mehr Nachwuchswissenschaftlerinnen
mit schlecht oder gar nicht bezahlten Lehraufträgen abgespeist werden.
({7})
Davor verschließt die Bundesregierung gänzlich die Augen und suggeriert eine intakte Situation. Aufgrund fehlender Daten, heißt es da, nehme man an, dass es keinen
Unterschied zu anderen Branchen gebe und deshalb kein
Handlungsbedarf bestehe.
Ähnlich problematisch sieht es dort aus, wo die Bundesregierung direkten Einfluss hätte, zum Beispiel in
den von ihr eingerichteten Beratungsgremien. Von
88 Gremien sind gerade einmal drei paritätisch und weitere zwei annähernd paritätisch besetzt. In der ReaktorSicherheitskommission des BMU sitzt überhaupt keine
Frau. Im Deutschen Komitee Katastrophenvorsorge e. V.
des Auswärtigen Amtes liegt der Frauenanteil bei
2,94 Prozent. Wieso nutzt die Bundesregierung hier
nicht ihre Einflussmöglichkeiten?
({8})
- Ich finde das nicht besonders lustig und sehe keinen
Grund, sich albern darüber zu amüsieren.
Marianne Schieder ({9})
({10})
Es ist doch wirklich nicht nachvollziehbar, dass man
nicht nach Frauen sucht, die diesen Gremien angehören
könnten. Es gibt solche Frauen nämlich. Hier muss sich
dringend etwas ändern.
Ich möchte persönlich, aber auch im Namen von Frau
Kollegin Ulla Burchardt dir, liebe Krista Sager, und dir,
liebe Petra Sitte, ganz herzlich danken, und zwar für die
fraktionsübergreifende und wirklich sehr gute Zusammenarbeit und vor allen Dingen für die Bereitschaft, in
dieser so wichtigen Frage an einem Strang zu ziehen.
({11})
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Union und FDP: Ziehen Sie mit uns am gleichen Strang,
und lassen Sie uns für die Perspektiven von Frauen in
Wissenschaft und Forschung mehr tun!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Helge Braun.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesregierung ist die Steigerung des
Frauenanteils in Wissenschaft und Forschung ein wirklich wichtiges Anliegen.
({0})
Frau Schieder, Sie haben es eben schon gesagt: Es geht
hier zwar zuallererst, aber nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, sondern es geht auch um die Qualität und
die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems; denn wir wissen, dass die Leistungen von Frauen
im Studium und in der Schule im Durchschnitt häufig
höher sind als die von Männern.
Deshalb hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Frauenquote nachhaltig zu erhöhen, doch Sie
müssen mit mir gemeinsam darin übereinstimmen - Sie
schimpfen hier und machen die Bundesregierung dafür
verantwortlich, indem Sie sagen, dass es ihr Versagen sei -,
dass es natürlich zuallererst eine Aufgabe der autonomen
Hochschulen ist, sich hierum zu bemühen. Bei aller
Wahrung der Autonomie müssen wir deshalb auch die
Hochschulen und die Forschungseinrichtungen bitten,
ihre eigenen Initiativen zu verstärken.
({1})
Liebe Frau Sitte, in zweiter Linie ist es auch wichtig
- deshalb schlägt das auf viele von Ihnen zurück -, die
Länder zu bitten, genauso tätig zu werden.
({2})
Das, was die Bundesregierung getan hat, ist in beeindruckender Weise erfolgreich: Bundesministerin Annette
Schavan hat in einem ersten Schritt dafür gesorgt, dass
im Wissenschaftszeitvertragsgesetz zwei zusätzliche
Vertragsjahre pro Kind für Qualifikationszeiten aufgenommen wurden. Das ist ein wichtiger Schritt für die
Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlicher Karriere.
({3})
Zum zweiten Schritt. Das Professorinnen-Programm
hat dazu geführt, dass wir 260 Professorinnen feste Professorenstellen geben konnten - 81 davon im Bereich
der Natur- und Ingenieurwissenschaften.
({4})
Auch das ist ein großer Erfolg, den Bund und Länder in
gemeinsamer Finanzierung erreicht haben.
({5})
Ich darf Ihnen heute ankündigen, dass die Bundesregierung bereit ist, das Professorinnen-Programm in einer
neuen Periode weiter fortzuführen, wenn Bund und Länder gemeinsam bereit sind, die Finanzierung hierfür zu
übernehmen. Das Professorinnen-Programm ist eine der
zentralen Säulen unserer Gleichstellungspolitik.
({6})
Wenn Sie sich einmal die Gesamtzahl der Frauen im
außeruniversitären und im universitären Bereich anschauen, dann werden Sie sehen, dass wir da, wo die
Bundesregierung Verantwortung trägt, zum Beispiel bei
den Pakten und Programmen - ich greife aus Zeitgründen heute nur die Exzellenzinitiative heraus -, von denjenigen, die Anträge gestellt haben, immer auch erwartet
haben, dass sie mit ihren Anträgen eine konsistente
Gleichstellungsstrategie verbinden. Der Frauenanteil in
den Graduiertenschulen beträgt 37 Prozent und in den
Exzellenzclustern 35 Prozent. Damit ist der Frauenanteil
in diesen Programmen im Rahmen der Exzellenzinitiative fast doppelt so hoch wie an den Hochschulen im
Durchschnitt. Ich glaube, die Bundesregierung hat in ihren Programmen durchaus vorbildlich gewirkt.
({7})
Ich kann Ihnen heute etwas mitteilen, was Sie in der
vorliegenden Beantwortung der Großen Anfrage noch
nicht finden können, weil die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern dies erst vor
wenigen Wochen beschlossen hat: Wir haben gemeinsam beschlossen - das ist dem Gleichstellungsmodell
der DFG ähnlich -, dass für die Forschungseinrichtungen von Bund und Ländern zukünftig für alle QualifikaParl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
tionsstufen ein Kaskadenmodell angewendet werden
muss.
({8})
Damit folgen wir der Überzeugung, dass es dafür,
Frauen in Führungspositionen aufzubauen, natürlich erforderlich ist, den Anteil der Frauen in jeder Qualifikationsstufe signifikant zu erhöhen, wodurch auch deutlich
wird, dass wir diesen Prozess nicht nur anstoßen, sondern auch kontrollieren und gegenüber dem Deutschen
Bundestag transparent machen wollen. Deshalb wird bereits im „Paktbericht 2012“ hierüber ein erster Bericht an
Sie erfolgen.
Aus dem Bereich, für den die Bundesregierung zuständig ist, könnte ich Ihnen noch viele Programme nennen. Aus Zeitgründen muss ich darauf verzichten. Ich
will nur einige Beispiele nennen, wie das Programm
„Effektiv!“ des „Kompetenzzentrums Frauen in der Wissenschaft“, in dem viele Best-Practice-Beispiele dafür,
wie man Hochschulen familienfreundlicher gestalten
kann, erarbeitet wurden und allen Hochschulen zur eigenen Anwendung empfohlen worden sind.
Ich nenne den Pakt für Frauen in MINT-Berufen, an
dessen Programmen bereits 170 000 junge Mädchen teilgenommen haben, und das mit einem durchschlagenden
Erfolg: Rund zwei Drittel dieser jungen Frauen haben
sich dann tatsächlich entschieden, einen MINT-Beruf zu
ergreifen. Das ist, glaube ich, gerade für diesen Bereich,
in dem der Frauenanteil bisher besonders gering ist, ein
großer und durchschlagender Erfolg.
({9})
Meine Damen und Herren, keine Bundesregierung
zuvor - Frau Schieder, auch Ihre Partei hat in der Vergangenheit häufig Verantwortung in diesem Bereich getragen - hat so viel aufgewendet, um Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft zu verwirklichen. Noch
nie war die Dynamik der Zunahme der Zahl der Frauen
in den Funktionen der Wissenschaft so hoch wie im Moment. Die Zunahme in Form einer runden Verdoppelung
in den letzten zehn Jahren, denke ich, kann mit Fug und
Recht auch als ein beeindruckender Erfolg bezeichnet
werden.
({10})
Damit da kein Missverständnis entsteht: Die absoluten Zahlen von Frauen in der Wissenschaft sind auch für
die Bundesregierung bei weitem noch nicht zufriedenstellend.
({11})
- Sie sind bei weitem noch nicht zufriedenstellend.
Aber, Frau Schieder, so ist das ja, christlich und vor
Weihnachten: An ihren Taten sollt ihr sie messen.
({12})
Angesichts der Tatsache, dass wir in den vergangenen
Jahren so viel erreicht haben, hat auch, glaube ich, diese
Bundesregierung die besondere Glaubwürdigkeit, wenn
sie sagt: Wir werden auf dem Weg fortfahren, und wir
werden dafür sorgen, dass sich der Anteil von Frauen in
der Wissenschaft auch in den kommenden Jahren deutlich erhöht. Die derzeitige Dynamik lässt da außerordentlich positiv hoffen.
Vielen herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Braun, so ist das eben: Was des einen Decke, ist des anderen Fußboden.
Die Bundesregierung will Deutschland zu einem
Land der Ideen machen. Da kann man nur sagen: Gut so,
weiter! Immer arbeiten. Aber warum wollen Sie in diesem Prozess auf die Ideen von so vielen kreativen Frauen
verzichten? Machen wir in diesem Tempo weiter - das
geht aus der Antwort auf die Große Anfrage hervor -,
dann wird es gerechte Verhältnisse für Frauen in der
Wissenschaft und Forschung eben erst am Ende des
Jahrhunderts geben. Ich wollte es aber eigentlich schon
noch erleben.
({0})
Bereits vor 17 Jahren hat der Bundestag beschlossen,
die Teilhabe von Frauen an Beratungsgremien auf Bundesebene zu erhöhen. Darunter sind auch knapp 100 einflussreiche wissenschaftliche Beiräte. Was zeigt sich
jetzt nach 17 Jahren? Weniger als ein Viertel der Mitglieder dieser Beiräte sind Frauen. In einigen Gremien
- Frau Schieder hat es ja schon gesagt - sind bis heute
gar keine Frauen. Das ist eine interessante Entwicklung
und ein ganz toller Erfolg.
Man fragt sich: Wieso konnte das überhaupt so kommen? Das ist so gekommen, weil die Beschlüsse von damals schlicht und ergreifend zu unscharf, zu unverbindlich waren. Sie hatten die Qualität von weichgespülten
und dadurch eben auch vielfach wirkungslosen Selbstverpflichtungen.
Was ist die Folge davon? Es fehlen vielen Empfehlungen aus diesen Beratungsgremien der spezifische Blickwinkel von Frauen und die spezifische Bewertung von
Frauen.
Was heißt das wiederum weiterführend? Ich bringe
ein Beispiel: das Gesundheitsforschungsprogramm. Förderprogramme, wissenschaftliche Methoden sind nach
unserer Auffassung dort zu eng ausgelegt. Es ist zu technikzentriert, und es wird zu wenig auf die Spezifik von
Frauen bezogen geforscht.
Nun haben sich Bund und Länder auf ein sogenanntes
Kaskadenmodell geeinigt. Quoten sollen entsprechend
dem Frauenanteil der jeweils vorausgehenden Stufe in
der Karriere des Wissenschaftssystems einordnen. Wenn
dieses Modell konsequent umgesetzt werden soll, dann
muss auch mit Anreizen gearbeitet werden, und es muss
vor allem endlich auch einmal mit Sanktionen gearbeitet
werden, wenn ein Ziel nicht erreicht wird.
({1})
Wir denken, dass das Kaskadenmodell allemal ausbaufähig ist. Aber es ist immerhin ein erster Schritt hin
zu mehr Gerechtigkeit in der Wissenschaft. Bislang galt
die Maxime, Frauen fit für die Institutionen zu machen.
Jetzt sind sie fit für die Institutionen. Und was ist mit den
Institutionen? Sie sind nicht fit für die Frauen. Deshalb
muss man sie eben fit für die Frauen machen.
({2})
Das heißt: Weg mit den ollen, verfilzten Puschen! Förderprogramme und Imagekampagnen des Bundesministeriums beispielsweise in den Naturwissenschaften sind
allemal sinnvoll; Sie selber haben das erwähnt. Aber erst
wenn auch die strukturellen Barrieren in den Institutionen fallen, hören Frauen auf, über diese ollen, blöden,
verfilzten Puschen zu stolpern. Immerhin liegt der Anteil
von Frauen bei den Promotionen zum Beispiel im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich bereits
heute bei 40 Prozent; das ist ein interessanter Befund der
vom BMBF herausgegebenen Studie. Das entspricht nun
fast dem Durchschnitt aller Wissenschaftsbereiche und
bei den Juniorprofessuren. Aber wie hoch ist der Anteil
der Frauen bei den Professuren insgesamt? Er liegt bei
peinlichen 18 Prozent. Bei den höher dotierten Stellen
sind es sogar nur 11 Prozent. Das kann ja wohl nicht angehen.
({3})
Das Wissenschaftssystem ist also noch immer höchst
ungerecht und bietet Frauen und Männern bei gleicher
Leistung eben nicht die gleichen Perspektiven. Das gilt,
Herr Braun, insbesondere für die außeruniversitären Bereiche; für die ist der Bund verantwortlich. Die Quoten
könnten aus unserer Sicht zusätzlich gestärkt werden.
Wir schlagen vor, sie mit dem Hochschulpakt zu verknüpfen. Das heißt, wenn man das Soll erfüllt, dann
kann man mehr Mittel eintreten. Wenn es nicht erreicht
wird, sollte man Mittel abziehen. Das Gleiche kann man
bei der institutionellen und projektorientierten Forschungsförderung des Bundes machen. Man kann auch
diese an die Erfüllung des Gleichstellungskonzepts binden.
({4})
Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass damit
echte Innovationsschübe ausgelöst werden können.
Wir brauchen weiterhin transparentere Personalentscheidungen. Wir brauchen familienfreundlichere Arbeitsbedingungen und mehr wissenschaftliche Selbstständigkeit im Mittelbau, also für den Nachwuchs. Die
von Frau Schieder geschilderte Qualität der Beschäftigung von Frauen insbesondere im wissenschaftlichen
Mittelbau, also im Nachwuchsbereich, ist ein Skandal.
({5})
Nicht einmal in der Leiharbeit sind die Bedingungen so
schlecht wie für Frauen im Wissenschaftsbereich. Das
kann nicht angehen. Deshalb sind wir der Meinung, dass
man zwar nicht mit den Befristungen generell, wohl aber
in dieser spezifischen Form aufhören muss. Wenn
58 Prozent der Betroffenen in diesem Bereich Verträge
haben, die weniger als ein Jahr gelten, dann kann man
nicht von verlässlicher Planung sprechen.
({6})
Wir brauchen Mindestvertragslaufzeiten und müssen
10 000 unbefristete Stellen im akademischen Mittelbau
einrichten, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Diese
Stellen sollen dann ruhig mit Männern und Frauen gleichermaßen besetzt werden.
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Schluss
kommen.
Ich bin dabei. - Abschließend möchte ich sagen:
Deutschland ein Land der Ideen? Wunderbar! Zeigen Sie
sich endlich auch bei der Gleichstellung von Frauen im
Wissenschaftssystem ideenreich! Das wäre ein echter
Fortschritt.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich sage es gleich vorab - auch an die Adresse
von Frau Sitte -: Ohne eine gleichberechtigte Teilnahme
von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem würde
Deutschland seine Exzellenz und seine Wettbewerbsfähigkeit in den konkurrierenden Wirtschafts- und Wissenschaftssystemen der Welt aufs Spiel setzen; das ist meine
tiefe und feste Überzeugung.
({0})
Wir sind auf einem guten Weg und kommen unserer
Verantwortung nach. Ich will das gleich anhand der verschiedenen Positionen begründen, die sich ergeben haben. Die uns aus der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage vorliegenden Zahlen belegen die gute
Entwicklung sehr deutlich. Wir haben - auf diesen Punkt
Dr. Martin Neumann ({1})
müssen wir immer wieder hinweisen - eine Daueraufgabe auf diesem Gebiet zu bewältigen; denn wir können
uns Zurückhaltung bei der Einbeziehung von Frauen
schlichtweg nicht leisten.
Meine Fraktion hat sich immer für das Kaskadenmodell - ich sage ganz bewusst nicht Quotenmodell ausgesprochen. Stellen Sie sich einmal eine Kaskade
vor: Sie beginnt immer an der Spitze. Die Übertragung
von Verantwortung und Leitungsaufgaben an Frauen ist
eine Führungsaufgabe ersten Ranges.
({2})
Daher werden wir in einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz
die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in Wissenschaft und Forschung als Grundsatz verankern.
({3})
- Frau Burchardt, warten Sie ab. Sie werden das
erleben. - Bereits vor 20 Jahren hat die FDP-Bundestagsfraktion die Forderung erhoben und durchgesetzt,
eine wirkliche Chancengleichheit für Frauen in der Wissenschaft schrittweise umzusetzen. Es hat sich seitdem
wirklich viel getan. Seit Beginn der 90er-Jahre hat sich
der Anteil von Frauen, die sich für eine wissenschaftliche Karriere entscheiden, deutlich erhöht. Es zeigt sich
aber auch - das muss ich an dieser Stelle deutlich sagen -,
dass kurzlebige Kampagnen eben nicht zum Erfolg führen. Gerade weil es im Bereich der Wissenschaft um
Nachhaltigkeit geht, muss man eine Daueraufgabe lösen
und einen langen Atem haben.
Jetzt noch einmal zurück zur Kaskade. Was nutzt die
beste Quote, wenn in der jeweiligen Vorstufe, also in der
vorhergehenden Stufe, keine befähigten Studentinnen
und Doktorandinnen herangebildet werden? Bund und
Hochschulen haben hier eine ganze Reihe von Aktivitäten unternommen, um genau an dieser Stelle zu fördern.
Die erzielten Ergebnisse zeigen ganz deutlich eine beachtliche Trendwende. Ich glaube, auf diesem Weg kann
man weitergehen.
Ich möchte ein paar Zahlen zu dem Ergebnis nennen,
die hier schon angesprochen worden sind: Fast 48 Prozent aller Studierenden sind heute Frauen. 51 Prozent
der Studierenden, die einen Abschluss erreichen, sind
Frauen. Aber - jetzt komme ich auf die Fragestellung
der Großen Anfrage zurück, die dabei eine Rolle gespielt
hat -: Eine wirkliche Teilhabe von Frauen auf allen Stufen ist noch nicht erreicht. Darin sind wir uns einig. Wir
müssen in der wissenschaftlichen Forschung tatsächlich
noch viel tun, weil Frauen hier noch unterrepräsentiert
sind.
Alle Verantwortlichen müssen den stetig wachsenden
Anteil von Frauen mit qualifizierten Berufsabschlüssen
in der Forschung und in der Wissenschaft stärker nutzen.
Aber - auch das müssen wir an dieser Stelle deutlich
hervorheben - die Vorbereitung dafür beginnt bereits in
der Schule, also nicht erst dann, wenn wir am Ende der
Kaskade sind. Sehr früh muss das Interesse auf derartige
Entwicklungen gelenkt werden.
({4})
Schauen wir uns noch einmal die Zahlen an: 52,7 Prozent - die Zahl kann man noch einmal nennen - der
Schulabgänger mit Hochschulzugangsberechtigung sind
junge Frauen. Bei den Studienanfängern - auch das ist
für diese Kaskade wichtig; ich sage es immer wieder beträgt der Anteil von Frauen fast 50 Prozent. Das ist
eine sehr gute Zahl. Ich glaube, das ist ein Beleg dafür,
dass hier wirklich viel getan wurde.
Zum Ende will ich das Thema mit Blick auf die Universitäten genauer beleuchten. Da beträgt der Anteil an
Frauen 52,3 Prozent. Ein Blick auf die OECD-Staaten:
Schweden mit 25 Prozent, Finnland mit 23 Prozent,
OECD-Durchschnitt bei 20 Prozent Frauenanteil. Ich
glaube, wir haben an dieser Stelle ein richtig starkes
Potenzial. Mit diesem Potenzial müssen wir in Zukunft
deutlich besser umgehen.
So weit, so gut. Der Teufel steckt im Detail. Wir müssen versuchen, Frauen besonders in den MINT-Fächern
zu fördern, um die Voraussetzungen für Führungsaufgaben in der Wissenschaft und in der Forschung zu schaffen. Nutzen wir also die guten Ausgangsbedingungen für
eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in
unserer Gesellschaft!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier
wurde festgestellt, dass der Anteil der Frauen mit Hochschulabschluss bei über 50 Prozent und unter den Promovierenden bei über 44 Prozent liegt. Trotzdem liegt
der Anteil der Frauen bei den W-3- und C-4-Professuren
nur bei 13,6 Prozent, bei den Rektoren und Präsidenten
der Hochschuleinrichtungen bei nur 11,3 Prozent, und
bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen
liegt der Frauenanteil beim Führungspersonal auch nur
bei 11,4 Prozent. Daraus folgt doch zwingend, dass die
Spitzenpositionen im Wissenschaftsbereich immer noch
vorrangig aus einer Geschlechtergruppe rekrutiert werden.
({0})
Wenn das so ist, dass es eine einseitige Rekrutierung der
Spitzenleute aus einer Gruppe gibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie dem gleichen Geschlecht angehört,
dann folgt daraus schon rein logisch, dass das eines nicht
sein kann: eine Bestenauslese.
({1})
Herr Neumann, Sie haben völlig recht: Wir haben im
Wissenschaftsbereich nicht nur offenkundig ein massives Gerechtigkeitsproblem, sondern auch ein Innovations- und Qualitätsproblem. Bei mangelndem Erfolg in
der Gleichstellungspolitik im Wissenschaftsbereich stellt
sich die Frage nach der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems. Der demografische Wandel macht die Frage umso dringlicher: Wie
können wir die besten weiblichen Kräfte für die Wissenschaft gewinnen, sie dann aber auch dort halten?
({2})
Es hat niemand behauptet: Da findet nichts statt.
Oder: Es passiert nichts. Aber Frau Sitte hat doch vollkommen recht: Es geht viel zu langsam.
({3})
Wer von uns will bis zum Ende des Jahrhunderts warten,
bis wir Parität erreicht haben? Daraus folgt logisch: Wir
müssen mehr Schwung hineinbringen.
Die Wissenschaftsorganisationen haben das Thema
Gleichstellung glücklicherweise zunehmend in den Fokus gerückt. Die Gleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft zeigen im universitären
Bereich Wirkung. Das bestreitet hier ja auch niemand.
Nur, Teile des Wissenschaftsbereichs und der Hochschulen verharren in gleichstellungspolitischer Rhetorik und
lassen dem wenige Taten folgen. Auch das ist leider eine
Tatsache.
Herr Neumann, niemand bestreitet, dass es in den verschiedenen Fachdisziplinen unterschiedliche Voraussetzungen gibt. Nur, wenn ich feststelle, dass die Fraunhofer-Gesellschaft es in 20 Jahren gerade einmal geschafft
hat, ihren Frauenanteil beim Führungspersonal von 2 Prozent auf 2,8 Prozent zu steigern,
({4})
möchte ich sagen: Ich erwarte von einer leistungsstarken
Forschungsorganisation auch mehr Leistung bei frauenpolitischen Zielen.
({5})
Meine Schlussfolgerung ist: Wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Wir brauchen Zielquoten, die sich am Kaskadenmodell orientieren, eine Überprüfung der Zielerreichung, und wir brauchen Anreize, Sanktionsmechanismen und gezielte Rekrutierungsmaßnahmen.
Es ist in der Tat bedenklich, dass viele junge Leute
nach der Promotion den Wissenschaftsbereich verlassen,
nicht weil sie für diesen ungeeignet sind, sondern weil
ihnen die Perspektiven für den Nachwuchs zu unsicher
und die Beschäftigungsverhältnisse zu schlecht sind.
Aber wenn junge Frauen noch stärker die Tendenz haben, den Wissenschaftsbereich zu verlassen, weil sie in
höherem Maße teilzeitbeschäftigt sind und prekäre befristete Verträge bzw. befristete Teilzeitverträge haben,
dann müssen wir feststellen, dass unser Wissenschaftssystem für die besten weiblichen Köpfe nicht attraktiv
genug ist. Das muss sich dringend ändern.
({6})
Herr Braun, Sie haben gesagt, wir sollen Sie an Ihren
Taten messen. Ich finde es gut, dass Sie heute gesagt haben, dass das Professorinnen-Programm weitergeht.
Aber die Frage, warum Sie Ihre eigene Projektforschungsförderung nicht mit den Gleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft verbinden, haben Sie nicht beantwortet.
({7})
Warum verbinden Sie die Ressortforschung des Bundes nicht mit verbindlichen Gleichstellungsstandards?
Warum haben Sie beim Pakt für Forschung und Innovation nicht für eine verbindliche Gleichstellungspolitik
gesorgt? Erklärungsbedürftig ist auch, warum Sie es
nicht einmal bei den eigenen wissenschaftlichen Gremien schaffen, auch nur annähernd so etwas wie eine Parität zu erreichen.
({8})
Alle diese Fragen haben Sie nicht beantwortet. Deswegen können Sie dankbar sein, dass sich die wissenschaftspolitisch engagierten Frauen der Opposition untergehakt haben,
({9})
um deutlich zu machen: Hier brauchen wir mehr frischen
Wind und Schwung für die Gleichstellungspolitik in der
Wissenschaft. Dabei müssen wir dem Bund ein bisschen
auf die Sprünge helfen.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Anette Hübinger das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Aus der Debatte heute Abend ist schon deutlich geworden: Weihnachten ist für Frauen noch nicht,
aber das Fest der Freude bringt Hoffnung, und Hoffnung
haben auch die Antworten der Bundesregierung bei mir
geweckt. Dennoch zeigen die Zahlen - das wurde heute
Abend schon öfter gesagt -, dass bei Immatrikulationen
und Abschlüssen Frauen spitze sind; aber wenn die Luft
oben dünner wird, ist der Anteil der Frauen kaum noch
mit dem Fernglas zu erkennen.
({0})
Deswegen muss etwas getan werden. Aber wir müssen
auch zugeben: Ganz bei null beginnen wir nicht. Nur
muss der eklatante Sprung bei den Karrierewegen aufgehoben werden. Dass keine Frauen in Spitzenpositionen
sind, findet seinen Grund mit Sicherheit nicht darin, dass
es keine Frauen gibt. Das sieht man an den Abschlüssen:
Da sind wir spitze.
({1})
Allerdings zeigen die Antworten der Bundesregierung auch, dass in den letzten zehn Jahren schon eine
Dynamik eingetreten ist und dass es zu mehr Chancengerechtigkeit zwischen Männern und Frauen im Wissenschaftssystem gekommen ist. Den Grund dafür sehe ich
im Gegensatz zur Opposition auch darin, dass die Bundesregierung die Verbesserung der Repräsentanz von
Frauen als ein strategisches Erfordernis ansieht und dass
das BMBF die Erhöhung des Anteils von Frauen in Spitzenpositionen in der Wissenschaft als wichtigen Bestandteil in seine Fördermaßnahmen integriert. Professorinnen-Programm, Exzellenzinitiative, Pakt für Forschung
und Innovation und Hochschulpakt haben mit Sicherheit
ihren Teil dazu beigetragen. Ein weiterer Grund - auch
das wurde heute Abend schon erwähnt - ist die freiwillige Selbstverpflichtung der DFG, der auch viele Hochschulen, die der DFG angeschlossen sind, beigetreten
sind. Trotz dieser Dynamik sind wir uns einig, dass diese
Fortschritte noch nicht ausreichen und wir als Frauen mit
Sicherheit nicht noch einmal 20 Jahre warten wollen, bis
vielleicht noch einmal eine Verdoppelung der Habilitationszahlen eingetreten ist. Das wäre Ressourcenverschwendung.
({2})
Wo setzen wir an? Aus meiner Sicht gibt es erst einmal zwei Faktoren, die entscheidend sind. Erstens haben
wir weiter mit dem Phänomen der „leaky pipeline“
- Frau Sager hat das auch schon erwähnt - zu kämpfen.
Sobald Frauen die Promotion haben, brechen sie ihre
Karriere im Wissenschaftssystem ab. Hier brauchen wir,
so sage ich, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Wissenschaft - das ist das A und O -, genau wie in der
Wirtschaft. Der Bund hat die ersten Schritte eingeleitet,
indem er das Krippenausbauprogramm beschleunigt hat,
damit Frauen ihre Kinder unterbringen können. Genauso
ist aber erforderlich, dass eine spezifische Frauenförderung stattfindet; denn Frauen sind in Bewerbungen zurückhaltender, wie die Forschung festgestellt hat. Sie bewerten sich oft sehr selbstkritisch und fühlen sich nicht
wie die Männer als Hecht im Karpfenteich. Auch hier tut
der Bund das Seine zur Unterstützung von Karrierewegen, zum Beispiel durch das Professorinnen-Programm
oder Monitoringprogramme.
Zweitens. Das Ausscheiden von Professorinnen und
Professoren in den nächsten Jahren muss genutzt werden. Laut Statistischem Bundesamt scheiden bis 2019
ungefähr 11 000 Professorinnen und Professoren aus,
und zwar aus Altersgründen. Bei der Berufung in den
nächsten Jahren können die Akteure im Wissenschaftssystem beweisen, dass sie es mit dem Anspruch auf
Chancengleichheit wirklich ernst meinen.
({3})
Natürlich gibt es fachspezifische Unterschiede, und
die müssen auch bei der Gleichberechtigungsfrage eine
Rolle spielen. Dort, wo aufgrund vergangener Ausbildungsstrukturen noch keine Frauen sind, kann man keine
rekrutieren. Aber man muss schlicht und ergreifend dafür sorgen, dass mehr Frauen in diese Bereiche hineinkommen. Ich denke dabei an die weitere Förderung von
Frauen in MINT-Berufen. Aber wir dürfen auch nicht
nachlassen, Frauen auf ihren Karrierewegen mit einer
besonderen Unterstützung zu begleiten.
Damit komme ich zur Quote, die die Opposition in
der Presse gefordert hat. Heute Abend wurde das Kaskadenmodell mehrfach angesprochen. Das hatten wir
schon in unseren Antrag zu Zeiten der Großen Koalition
aufgenommen. Dieses Kaskadenmodell ist für mich ein
sehr guter Ansatz. Es setzt aber voraus - auch das wurde
heute Abend gesagt -, dass man bei der Abfolge vom
Studienabschluss bis hin zu den einzelnen Karrierestufen
darauf achtet, dass auch genügend Frauen kommen.
Wenn nämlich keine Frauen unten sind, können auch nie
welche nach oben befördert werden. Diese Kaskade
muss mit Zielvorgaben auf den einzelnen Karriereleiterstufen versehen werden, um die Parität von Frauen künftig zu erreichen. Wenn diese Zielorientierung in den
nächsten Jahren nicht sichtbar greift und eine Selbstverpflichtung des Wissenschaftssystems keine Fortschritte
bringt, dann befürworte auch ich die gesetzliche Einführung des Kaskadenmodells.
Die Akteure des Wissenschaftssystems haben die Entwicklung in den kommenden Jahren selbst in der Hand.
Ich bin deshalb gespannt, was der Wissenschaftsrat
- Herr Braun hat die entsprechende Studie genannt - an
Themen und an Verbesserungsvorschlägen aufführen
wird. Ich muss zugeben: Für die christlich-liberale Koalition und für mich sind Lösungen, die aus dem Wissenschaftsbereich kommen, immer noch die besten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Burchardt von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Neumann, ich finde es wirklich rührend - ich
meine das ganz ehrlich und unironisch, auch wenn Sie
mir das vielleicht nicht glauben -, wie ernsthaft Sie Ihr
Anliegen zum Ausdruck gebracht haben. Ich glaube Ihnen das auch. Nur muss ich sagen: Wenn man sich die
Antwort der Bundesregierung auf die von SPD, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam gestellte
Große Anfrage anschaut, dann kann man eine Quint17856
essenz formulieren: Nicht wissen, nicht wollen, nicht
können.
({0})
Was das Nichtwissen betrifft, zum Beispiel bei der
Implementierung von Genderaspekten in der Ressortforschung: Es wird auf formale Prüfungsakte von Vorhaben
verwiesen; aber evaluiert wird überhaupt nichts. Das bedeutet doch nichts anderes, als dass man aus Erfahrung
nicht lernen will; schließlich erhebt man diese Daten
überhaupt nicht und schaut nicht, was passiert ist und
was man besser machen kann.
„Wir wissen das nicht“, das ist auch die Antwort auf
unsere Frage nach einer möglichen Diskriminierung bei
den Einkommen in Spitzenpositionen. Die strukturelle
Benachteiligung von Frauen manifestiert sich nicht nur
bei der Repräsentanz in Leitungspositionen, sondern insbesondere auch in der Beschäftigungssituation. Die Kolleginnen haben es schon angesprochen: Prekäre Beschäftigung in der Wissenschaft trifft überwiegend
Frauen. Das ist übrigens ein Grund für die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen. Die Elternzeit, Herr Braun,
kann in den meisten Fällen praktisch überhaupt nicht in
Anspruch genommen werden. Insofern haben Sie an dieser Stelle ein totes Pferd geritten.
Was die Einkommenssituation angeht: Viele Wissenschaftlerinnen, gerade in leitenden Positionen, gehen davon aus, dass es sehr unterschiedliche Leistungsbewertungen in Form von Einkommen gibt, wenn es um hochdotierte Posten in den Hochschulen, um die höchstbezahlten Professuren mit Leistungszulagen und um die
Leitungspositionen in der Forschung geht. Dazu sagt die
Bundesregierung: Wir wissen das nicht; wir haben überhaupt keine Zahlen. - Das ist immer das Tollste: Wenn
man nichts weiß, dann ist man auch nicht verantwortlich.
Wenn man will, könnte man diese Zahlen aber durchaus
erheben. Man könnte zum Beispiel Entgeltberichte erstellen, wie sie im Übrigen im Rahmen des GWK-Abkommens vorgesehen sind. Machen Sie das doch einfach
einmal!
({1})
Was das Können betrifft, das heißt eine ambitionierte,
strategisch angelegte Politik, um Frauen in Wissenschaft
und Forschung zu fördern, muss ich Ihnen sagen: Ministerin Bulmahn und die rot-grüne Regierungskoalition haben damals die Messlatte gelegt. Die Grundsatzabteilung
wurde mit Strategieentwicklung beauftragt. Das Leitziel
Chancengleichheit wurde im Haushalt verankert. Mit
dem Programm „Chancengleichheit“ wurden Promotionen und Professuren von Frauen gefördert; das ist keine
neue Idee von Ihnen. Kindereinrichtungen in Forschungseinrichtungen wurden ermöglicht. Juniorprofessuren wurden als Karriereschub für junge Wissenschaftlerinnen eingeführt. Das Center of Excellence Women
and Science wurde zu Zeiten der rot-grünen Koalition
gegründet. Schön, dass auch Sie gut finden, dass es das
gibt. Die Förderung von Frauen in MINT-Berufen, die
Einrichtung des Girls’ Day und die Verbindung von Exzellenzinitiative und Frauenförderung sowie der Pakt für
Forschung und Innovation stammen aus unserer Regierungszeit. Ich finde es klasse, dass Sie wenigstens einiges davon weiterführen.
({2})
Keine Frage: Es ist gut und lobenswert, dass in der
Nachfolge im BMBF manches weitergeführt wurde.
Aber, mit Verlaub, das Professorinnen-Programm und
das Förderprogramm „Frauen an die Spitze“ sind so
dünn ausgelegt, dass sie nicht mehr sind als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Sie sollten sich
gut überlegen, ob Sie das als Säule Ihrer Arbeit darstellen. Denn Sie sollten dabei beachten: Die Decke wird
ganz schnell einbrechen, so dünn wie das Ganze ist.
Man fragt sich, ob die Durchbrüche wirklich überhaupt gewollt sind. Es ist darauf hingewiesen worden:
Da, wo Sie selber zuständig sind, etwa in wissenschaftlichen Beratungsgremien, in Ressortforschungseinrichtungen, ist wirklich nicht viel los; da ist mit der Durchsetzung von Gleichstellung kein Staat zu machen, Herr
Braun und Herr Neumann. Das muss man doch sagen.
Da hat die Regierungskoalition doch schlicht und ergreifend versagt. Da könnten Sie mehr machen.
({3})
Natürlich ist in den letzten zehn Jahren einiges
erreicht worden. Das ist dank unserer Vorarbeiten
geschehen. Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion
auch bei den vielen Frauen und Männern bedanken, die
an führender Stelle in Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftsinstitutionen dafür gearbeitet
haben. Es ist eine Menge erreicht worden; aber das
reicht nicht. Die Dynamik ist zu schwach. Der Aufholprozess beispielsweise gegenüber den USA, was das
Ausschöpfen all dieser Potenziale angeht, ist völlig
unzureichend. Da hängen wir gnadenlos hinterher. Deswegen muss mehr passieren. Ich sage Ihnen: An der
sofortigen Einführung von Zielquoten führt kein Weg
vorbei.
({4})
Wir warten, Frau Hübinger, nämlich schon 20 Jahre. Es
ist jetzt wirklich an der Zeit, dass endlich Nägel mit
Köpfen gemacht werden.
Bei allem Respekt gegenüber der Offensive Chancengleichheit von DFG und außeruniversitären Forschungseinrichtungen: Das alles reicht nicht. Mit so schlappen
Fortschritten können wir uns doch nicht ernsthaft zufrieden geben. Das, was Bund und Länder in der GWK
beschlossen haben, ist völlig unmissverständlich. Dort
heißt es, dass
Zielquoten … unverzichtbar sind und die Anwendung des „Kaskadenmodells“ … unbedingt erforderlich ist.
({5})
Es reicht eben nicht mehr, nur auf Selbstverpflichtung zu
setzen, auf Sonntagsreden und schöne Worte. Man muss
jetzt auch über Sanktionen reden. Anders funktioniert
die ganze Geschichte nämlich überhaupt nicht.
({6})
Wenn Sie jetzt kommen und sagen, das alles gehe
nicht, empfehle ich Ihnen eine wunderbare Lektüre, falls
Sie noch nicht genug zum Lesen unterm Weihnachtsbaum haben. Es handelt sich um eine Broschüre, die
vom BMBF herausgegeben wurde und die ein Gutachten
enthält, das von Ihrem Ministerium - Herr Braun, Sie
kennen es vielleicht - in Auftrag gegeben wurde, um die
rechtlichen Grundlagen für Maßnahmen zur Förderung
der Chancengleichheit in der Wissenschaft zu prüfen.
Dieses Gutachten wurde von Frau Professor Susanne
Baer verfasst. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass aus
europarechtlichen Gründen und Vorgaben, aber auch aus
verfassungsrechtlichen Gründen
({7})
und aufgrund von Maßgaben aus allen Rechtsgebieten,
die Deutschland überhaupt zu bieten hat, die Förderung
von Maßnahmen und die Einführung von Zielquoten mit
entsprechender Sanktionierung notwendig und auch
machbar sind.
Frau Professor Susanne Baer ist seit Februar dieses
Jahres Richterin am Bundesverfassungsgericht.
({8})
Mir kann jetzt keiner mehr sagen, dass es sich hierbei
nur um irgendwelche illusionären Dinge handelt, mit
denen sich eine Bundesregierung nicht befassen muss.
Ich stelle für heute fest, dass wir an vielen Stellen ja
gar nicht so weit auseinander sind, und zwar nicht nur
wegen der weihnachtlichen Harmonie. Die Wissenschaftlerinnen in unserem Lande haben es nämlich verdient, dass sie mehr Unterstützung bekommen. Über
60 Jahre nach Verabschiedung des Art. 3 im Grundgesetz ist es höchste Zeit, dass sich mehr bewegt und sich
der Deutsche Bundestag etwas intensiver als in der Vergangenheit mit diesem Thema beschäftigt, nach Stellschrauben sucht und schaut, was man machen kann,
damit in den nächsten fünf Jahren große Fortschritte
erreicht werden. Deswegen hielte ich es für eine wunderbare Sache, wenn sich unser Ausschuss Anfang nächsten
Jahres ein sehr konkretes Programm geben würde, wie
nach entsprechenden Wegen und Möglichkeiten gesucht
werden kann. Wir sollten nicht erst wieder 50 Jahre warten, bis wir hier ein paar kleine Fortschritte beklatschen
können.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe an meine Studienzeit zurückgedacht.
Über 30 Jahre ist das her. Ich kann mich nicht erinnern,
dass es damals auch nur eine Professorin in der Juristischen Fakultät gegeben hat. In den letzten zehn Jahren
hat sich die Situation sicherlich deutlich verbessert, aber
es besteht immer noch eine eklatante Unterrepräsentanz
von Frauen im Wissenschaftssystem. Es ist immer noch
erkennbar, dass die Wissenschaftskarrieren von Frauen
nach der Promotion abbrechen. Nur jede vierte Habilitation wird von einer Frau abgelegt. Bei den Professuren
liegt der Frauenanteil bundesweit bei unter 20 Prozent.
Es gibt vielfältige Maßnahmen, um diesem Trend entgegenzuwirken.
Wir müssen sicherlich für eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf sorgen; wir brauchen eine Veränderung der Arbeitskulturen und -strukturen, nicht nur im
Bereich von Wissenschaft und Forschung.
Begrüßenswert ist auch, dass Bund, Länder, Hochschulen und Forschungseinrichtungen bereits verschiedenste Initiativen ergriffen haben. Ich erinnere nur an
das Professorinnen-Programm, von dem schon mehrfach
die Rede war. Dadurch wird deutlich, dass Gleichstellung an den Hochschulen eine Leitungsaufgabe ist, auf
der Leitungsebene verortet werden muss. So ist die Zahl
der Professorinnen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, aber auch messbar gestiegen.
Meine Damen und Herren, Frauenförderung ist auch
in der Wissenschaft eine Führungsaufgabe.
({0})
Dass Frauen immer noch an die gläserne Decke stoßen,
ist eben auch ein Beispiel von Vergeudung volkswirtschaftlichen Potenzials, was wir uns in Anbetracht des
globalen Wettbewerbs überhaupt nicht mehr leisten können.
Im Fünften Gremienbericht wird dargelegt, dass auch
in wissenschaftlichen Beratungsgremien der Frauenanteil nach wie vor zu niedrig ist. Das Bundesgremienbesetzungsgesetz bedarf insofern meiner Ansicht nach
einer Überarbeitung, um das Ziel der Gleichstellung und
der gleichwertigen Besetzung von Gremien dort, wo wir
unmittelbar Einfluss haben, zu fördern und wirklich eine
strukturelle Veränderung zu erreichen.
Es ist außerordentlich zu begrüßen, dass in den im
Jahr 2008 beschlossenen forschungsorientierten Gleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der DFG, die Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Wissenschaft
explizit als Anliegen formuliert ist.
Die Einführung der Gleichstellungsstandards hat zu
einer grundsätzlich neuen Situation geführt, in der die
wissenschaftliche Reputation von Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen - ebenso wie die Forschungsförderung selbst - an die Bemühungen um die
Beseitigung von strukturellen und personellen Nachteilen für Frauen geknüpft ist. Es ist also ein Qualitätsmerkmal, Frauenförderung nachzuweisen.
Insofern habe ich den Eindruck, dass im Wissenschaftsbereich zumindest versucht wird, tatsächlich eine
Frauenförderung auf den Weg zu bringen. Man sieht es
ja auch an der Diskussion, die wir heute führen: Das
Kaskadenmodell ist von Herrn Professor Neumann sehr
plastisch dargestellt worden, und selbst der Staatssekretär hat von der Frauenquote gesprochen. An einem Tag,
an dem wir - zwar außerhalb des Parlaments, aber doch
mit einer Reihe von Parlamentarierinnen aus allen Fraktionen - eine Berliner Erklärung zur Förderung von
Frauen in Führungsaufgaben verabschiedet haben, ist
das, denke ich, ein gutes Signal dafür, dass in der Forschung möglicherweise doch schon etwas weiter gedacht
wird. Dennoch bleibt viel zu tun.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Monika Grütters von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen! „Eine Frau, die so gut sein will wie
ein Mann, hat einfach nicht genug Ehrgeiz.“ - Wer auch
immer diese Einsicht, die ja häufig zitiert wird, zuerst
formuliert hat - eines ist jedenfalls klar: Die Wege der
Frauen an die Spitze der Gesellschaft - auch in der Wissenschaft - sind eben oft mühsamer als die von euch,
den Herren der Schöpfung.
({0})
Es ist offensichtlich, dass dieser Befund nicht nur für
die Gesamtgesellschaft, sondern leider eben auch für die
Wissenschaftsgemeinschaft gilt. Wir haben es heute
schon ein paarmal gehört: 52 Prozent der Studierenden
in Deutschland sind weiblich, der Promotionsanteil liegt
bei 44 Prozent, der Habilitationsanteil bei 24 Prozent,
aber nur 18 Prozent schaffen es auf einen Professorinnenplatz. Immerhin, das fand ich doch bemerkenswert
bei dieser Studie - wir reden ja bei dem heutigen Thema
über die Zehnjahreszeiträume, so wie bei der Quotierung
von Frauen in den Aufsichtsräten -: In der Wissenschaft
ist in den letzten zehn Jahren wesentlich mehr passiert
als bei den DAX-Unternehmen. Der Anteil der Professorinnen hat sich immerhin verdoppelt.
({1})
- Ich finde es zu wenig. Aber, Frau Burchardt, bei den
DAX-Unternehmen war es ein klägliches, lächerliches
Prozent. Deshalb ist das hier schon fast beglückend.
Dass nur jeder fünfte Lehrstuhl von einer Professorin
besetzt ist, ist natürlich trotzdem beschämend.
Selbst wenn wir uns in der Analyse einig sind: Bei
den Mitteln und Instrumenten sind wir - wenn wir einmal ehrlich sind - alle ein bisschen ratlos. Man kann
Gleichstellung nicht verordnen
({2})
- nein, das glaube ich nicht -, weder mit Quoten noch
mit Sanktionen. Hier gilt, dass das Ganze nicht nur den
Bund betrifft, sondern dass auch die Länder mitmachen
müssen und - das hat Herr Staatssekretär Braun gesagt natürlich in erster Linie die Hochschulen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis: Die
Programme, die es gibt, sind ja sinnvoll. Das Land Berlin ist das einzige Bundesland, das tatsächlich ein eigenes Programm zur Förderung der Chancengleichheit in
Forschung und Lehre hat.
({3})
Das haben wir in der Großen Koalition aufgelegt. Das
Land gibt dafür immerhin 3,5 Millionen Euro aus. Deshalb wird da jede vierte Professur von einer Frau wahrgenommen; ansonsten ist es im Durchschnitt nur jede
fünfte. Es geht also. Ich kann nur sagen: Nachahmung
ausdrücklich empfohlen.
({4})
Ob das ein Tropfen auf den heißen Stein oder, wie
Herr Braun sagt, eine Säule ist: Das ProfessorinnenProgramm hat 200 Professuren mehr für Frauen geschaffen. Das Programm „Zeit gegen Geld“ sorgt immerhin dafür, dass Stipendiengelder in die Kinderbetreuung gesteckt werden können. Ich glaube aber auch,
dass es vor allen Dingen - wie überall - darum geht,
dass man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern muss. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in Berlin - hier schaffen wir 23 000 neue
Kindergartenplätze - ist, glaube ich, in dieser Hinsicht
sehr wichtig. Es ist auch schon gesagt worden, dass die
sensible Phase die zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr
- das heißt nach der Promotion - ist. Da beginnt die Familienbetreuung, und ab da ist es besonders schwierig.
({5})
Der Kinderbetreuungszuschlag beim BAföG war
richtig. Das Elterngeld spielt hier - es kommt auch Studierenden mit Kindern zugute - eine wichtige Rolle. Zu
nennen sind weiter: der garantierte Betreuungsplatz und
das Förderprogramm „Betrieblich unterstützte Kinderbetreuung“. Es gibt also viele Möglichkeiten. Ich finde
übrigens auch, Frau Burchardt, dass man da noch viel
mehr machen muss.
Wir sind uns einig: Gerade auch aufgrund der demografischen Entwicklung können wir auf die Potenziale
der Frauen nicht verzichten. Und auch diese Erkenntnis
haben wir - auch wir von der CDU; jedenfalls viele,
gerade aber die Frauen - inzwischen alle: Da, wo Freiwilligkeit nicht weiterführt, muss es eben doch ein bisschen Druck sein - manchmal vielleicht auch ein bisschen mehr. Ich bin nicht immer eine Quotenfreundin und
schon gar nicht eine Kampfhenne; wir haben aber bei
den DAX-Unternehmen deutlich gemerkt: Da geht es
nur mit Druck. Sanktionen sind, finde ich, immer problematisch.
({6})
Es gibt intelligentere Programme. Ich habe gerade ein
paar genannt.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wenn „Advent“
Erwartung heißt, dann ist und bleibt dieses Thema ein
sehr adventliches.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum besseren Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher vor Kostenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr
- Drucksache 17/7745 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin LeutheusserSchnarrenberger.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einigen Zahlen beginnen. Über
55 Millionen Bundesbürger haben regelmäßigen Zugang
zum Internet. Pro Tag werden Hunderte von Millionen
Suchanfragen gestellt. Das Netz ist für viele, vor allem
jüngere Menschen bereits jetzt alleiniges Leitmedium.
Das Internet bietet Information, Kommunikation und
Unterhaltung.
85 Prozent aller Internetnutzer in Deutschland haben
bereits online eingekauft. 68 Prozent haben bislang
keine negativen Erfahrungen mit dem Internet gemacht.
Das zeigt: Immer mehr Menschen vertrauen diesem
Medium. Dieses Vertrauen noch besser zu schützen, ist
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes der Bundesregierung.
Wie in jedem Markt gibt es auch im Internet dubiose
Geschäftsmodelle, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher in Kostenfallen gelockt werden sollen. Wie
jeder Markt braucht auch das Internet in diesem Bereich
eine Marktordnung. Wenn bestimmte Internetleistungen
beispielsweise als „gratis“ angepriesen, als unverbindliche Gewinnspiele deklariert oder als Möglichkeit zum
Herunterladen von Freeware getarnt werden, in Wirklichkeit aber ein Abonnement abgeschlossen wird, ist die
Grenze zur Täuschung überschritten.
Auch wenn hier in den meisten Fällen kein wirksamer
Vertrag besteht, zahlen dennoch viele Internetnutzer aus
Unkenntnis oder weil sie sich teilweise durch eine etwas
aggressive Verfolgung der vermeintlichen Zahlungsansprüche unter Druck gesetzt fühlen. Die Zahl der Geschädigten wächst in dem Ausmaß, in dem sich der
Onlinehandel entwickelt. Nach einer aktuellen Untersuchung des Sozialforschungsinstituts Infas sollen bereits
über 5 Millionen deutsche Internetnutzer in eine Abofalle getappt sein; das wäre mehr als jeder zehnte Internetnutzer in Deutschland.
Derartige Vorfälle sind für die Betroffenen nicht nur
eine finanzielle Belastung.
({0})
Sie gefährden das Vertrauen der Verbraucher in den elektronischen Geschäftsverkehr insgesamt. Das wissen wir
aus zahlreichen Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern.
Mit diesem Gesetzentwurf greift die Bundesregierung
bei genau diesem Sachverhalt ein und schiebt der „Internetabzocke“ einen Riegel vor.
({1})
Ein Vertrag im Internet kommt zukünftig nur zustande,
wenn der Verbraucher bei der Bestellung ausdrücklich
bestätigt, dass er sich zu einer Zahlung verpflichtet. Die
Schaltfläche für das Aufgeben der Bestellung, der Bestellbutton, muss unmissverständlich und gut lesbar auf
die Zahlungspflicht hinweisen. Eine Schaltfläche mit der
Aufschrift „kostenpflichtig bestellen“ macht jedem die
Rechtsfolge seines Tuns klar.
({2})
Dies gilt immer, wenn Waren oder Dienstleistungen online bestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob
eine Bestellung mit dem heimischen Computer, dem
Smartphone oder dem Tablet-PC aufgegeben wird.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir diesen Bereich
des Geschäftsverkehrs im Internet ein Stück sicherer machen. Wir sind damit Vorreiter in Europa. Ich bin sicher:
Andere europäische Staaten werden und müssen schnell
nachziehen; denn diese Form von Geschäftsgebaren endet natürlich nicht an nationalen Grenzen. Deshalb haben wir, die Bundesregierung, uns sehr dafür eingesetzt,
dass diese sogenannte Buttonlösung Teil der Verbraucherrechterichtlinie der Europäischen Union geworden
ist;
({3})
sie ist Anfang dieser Woche in Kraft getreten. Wir wollen nicht warten, bis wir am Ende der zweijährigen Umsetzungsfrist angelangt sind, sondern wollen mit unserem Gesetzentwurf zügig vorangehen.
Wir begrenzen den Gesetzentwurf bewusst auf Verträge zwischen Unternehmern und Verbraucherinnen
und Verbrauchern. Damit halten wir uns eng an die Vorgaben der Verbraucherrechterichtlinie. Die Informationspflichten auf Verträge zwischen Unternehmern auszuweiten, würde zusätzliche bürokratische Hemmnisse
für die Wirtschaft schaffen. Wir halten eine solche Regelung in diesem Rechtsverkehr für nicht geboten und für
nicht notwendig. Die Erfahrungen zeigen, dass fast ausschließlich Verbraucher auf solche Angebote hereinfallen und Opfer einer Kostenfalle werden. Dies haben wir
im Vorfeld der Erarbeitung des Gesetzentwurfs auch im
Rahmen einer Anhörung feststellen können, die wir mit
beteiligten Kreisen und vielen Vertretern von Verbänden
durchgeführt haben. Im reinen Geschäftsverkehr halten
wir eine solche Regulierung also für nicht notwendig,
und da, wo wir Gesetze für nicht notwendig halten, sollten wir sie auch vermeiden. Deshalb legen wir Ihnen den
Gesetzentwurf in dieser Fassung vor.
({4})
Ich hoffe, dass wir bei den Gesetzgebungsberatungen
mit diesem Gesetzentwurf am Ende so konstruktiv umgehen, wie es heute schon bei einem anderen Thema, bei
der Mediation, der Fall war.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat die Kollegin Marianne Schieder von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich glaube, alle von uns kennen das schöne, alte
Weihnachtslied Alle Jahre wieder. Die Bescherung, die
unzähligen Verbraucherinnen und Verbrauchern auch in
diesem Jahr wieder zuteilgeworden ist oder noch zuteilwird, bringt aber keine guten Gaben, sondern Forderungen von zumeist dubiosen Inkassofirmen, die häufig mit
betrügerischen Abofirmen unter einer Decke stecken.
Über Anzeigen auf Suchmaschinen locken unseriöse
Unternehmen Internetnutzerinnen und -nutzer auf ihre
Seiten. Viele rechnen nicht damit, dort für Dienste oder
Software, die es im Internet im Normalfall kostenlos
gibt, zum Beispiel Kochrezepte, bezahlen zu müssen. In
gutem Glauben geben sie Namen und Adresse für eine
vermeintliche Kundenregistrierung an und haben dann
ein teures Abo oder einen kostenpflichtigen Zugang abgeschlossen. Dabei werden die Verbraucherinnen und
Verbraucher in irreführender Art und Weise über die
Kostenpflichtigkeit getäuscht, zum Beispiel weil ein entsprechender Hinweis in den AGBs oder im Kleingedruckten versteckt ist oder erst sichtbar wird, wenn es
schon zu spät ist.
Vor zwei Wochen hat die Verbraucherzentrale Bundesverband eine Untersuchung veröffentlicht, die belegt,
dass unseriöse Inkassomethoden mit Kostenfallen im Internet Hand in Hand gehen. Bereits im August letzten
Jahres haben wir seitens der SPD-Fraktion den Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüssen im Internet eingebracht. Wir
wollten bereits damals gesetzlich regeln, dass ein im Internet geschlossener Vertrag nur dann wirksam sein soll,
wenn mittels eines besonders grafisch hervorgehobenen
Hinweises, eines sogenannten Buttons, explizit auf den
Preis aufmerksam gemacht wird und der Vertrag durch
Anklicken bewusst bestätigt worden ist.
({0})
Vor fast genau einem Jahr, am 2. Dezember 2010, haben wir darüber in diesem Hause abschließend diskutiert.
({1})
Aber statt unserem Gesetzentwurf zuzustimmen, Herr
Staatssekretär, und eine schnelle Lösung auf den Weg zu
bringen, haben Sie ihn abgelehnt. Seit einem Jahr könnten wir Kostentransparenz im Internet haben. Unseriösen
Anbietern wäre es erschwert worden, die Konsumenten
im Internet durch unklare oder versteckte Preisangaben
oder an Benutzerregistrierungen gekoppelte Verträge in
Kostenfallen zu locken. Bedenkt man, dass zu diesem
Bereich monatlich über 20 000 Beschwerden bei den
Verbraucherzentralen eingehen und bei den Betroffenen
jährlich ein mehrstelliger Millionenschaden angerichtet
wird, müssen Sie sich, Frau Ministerin, den Vorwurf gefallen lassen, die Menschen ein weiteres Jahr mit dem
Problem und den finanziellen Folgen alleingelassen zu
haben.
({2})
- Sie hätten vor einem Jahr umsetzen können, wozu Sie
jetzt endlich bereit sind, weil Ihnen nichts anderes übrig
bleibt.
Umfragezahlen des Infas-Instituts vom August 2011
zeigen klar, was Sache ist: 8,5 Millionen Menschen sollen
demnach in den vergangenen zwei Jahren Opfer eines Internetbetrugs geworden sein. 5,4 Millionen Menschen
- das sind 11 Prozent aller deutschen Internetnutzer sind in eine Abofalle geraten. Es ist sehr bedauerlich, dass
Sie erst jetzt bereit sind, das Problem zu erkennen, sich
Marianne Schieder ({3})
ihm anzunehmen und unseren Vorschlägen zu folgen. Das
sind wir aber von Ihnen gewöhnt.
({4})
Wir sind bereit, den vorliegenden Gesetzentwurf zügig, aber mit der nötigen Sorgfalt zu beraten, damit diesen kriminellen Machenschaften endlich der Boden entzogen werden kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Marco Wanderwitz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ministerin hat schon skizziert, worüber wir
sprechen: über unseriöse Angebote, die getarnt im Internet auf diejenigen warten, die durchaus mit vielen seriösen Angeboten in Kontakt gekommen sind. Frau Kollegin Schieder, Sie haben schon darauf hingewiesen, dass
es eben nicht nur schwarze Schafe gibt. Abofallen funktionieren deshalb so gut, weil man sie leider oft auf den
ersten und auch auf den zweiten Blick nicht von seriösen
Angeboten unterscheiden kann.
({0})
Die Folge ist Inkasso-Stalking. Das heißt, man wird mit
Forderungen überzogen, die sich schnell zu größeren
Summen anhäufen. Viele zahlen unter Druck, weil sie
die Sorge haben, dass es noch teurer werden kann oder
weil sie vielleicht überhaupt keine Erinnerung mehr daran haben; denn eine solche Forderung kommt meist
nicht eine Woche danach, sondern mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Viele scheuen den Gang zum Anwalt.
Zwar sind die Summen teilweise erheblich - 100 Euro
kommen da schnell zusammen -; aber trotzdem überlegt
man, ob die anwaltliche Beratung nicht wahrscheinlich
genauso viel kostet.
Die politischen Aktivitäten, die es in den letzten Jahren hier im Hause im Zusammenhang mit dem Verbraucherschutz im Internet gegeben hat, sind zahlreich.
({1})
Ich will als Beispiel die unerlaubte Telefonwerbung nennen; das haben wir gesetzlich geregelt. Wir haben auch
die Verbraucherzentralen gemeinsam unterstützt, und ich
nenne Softwareprogramme als Abzockschutz.
Wir haben schon vor einem Jahr gesagt - das ist der
Grund, warum wir jetzt tätig werden -: Wir streben eine
europäische Lösung an.
({2})
- Hören Sie einfach einmal zu. Das ist nicht zu viel verlangt. Wir haben doch auch schön zugehört. - Wir haben
gesagt: Es hat wenig Sinn, ein europäisches Phänomen
mit nationaler Gesetzgebung allein bekämpfen zu wollen. Viele Betreiber dieser Abzockseiten haben ihren
Sitz eben nicht in Deutschland. Deswegen hätte es wenig
Sinn gemacht, wenn wir ein deutsches Einzelgesetz auf
den Weg gebracht hätten, um dieses Phänomen zu bekämpfen.
({3})
Wir haben stattdessen eine europäische Regelung befördert. Genau diese Verbraucherrechterichtlinie hat nun
den Rat passiert, federführend vorangetrieben von der
deutschen Seite. Insofern haben wir uns überhaupt nichts
vorzuwerfen; denn wenn wir nicht Gas gegeben hätten,
wäre es in Europa nicht so schnell gegangen.
({4})
Wir sind in Europa - das hat die Ministerin schon gesagt - so ziemlich die Ersten, die die Richtlinie in nationales Recht umsetzen. Jetzt haben wir den Zeitpunkt erreicht, an dem es Sinn macht, ein Gesetz auf den Weg zu
bringen; denn wir werden es nicht ein paar Wochen oder
Monate nach Verabschiedung das erste Mal korrigieren
müssen.
({5})
- Frau Schieder, Sie wussten natürlich, wie die europäische Regelung genau aussehen wird, nicht wahr?
({6})
- Sie haben sie formuliert. Das ist, finde ich, ein sehr
amüsanter Einwurf. Ich habe Ihren Gesetzentwurf aus
dem letzten Jahr noch einmal gelesen. Der sah etwas anders aus als die jetzige Regelung.
({7})
- Doch, es stimmt. Wir können das außerhalb der Debatte gerne noch einmal übereinanderlegen.
Wir orientieren uns, weil wir das Gesetz nicht in
Bälde wieder verändern wollen, hinsichtlich des Gesetzentwurfs weitestgehend an der Richtlinie. Wir werden
die sogenannte Schaltflächenlösung verankern und aus
genau diesem Grund nur das Verhältnis zu Verbraucherinnen und Verbrauchern regeln. Auch daran ist im Vor17862
feld Kritik geäußert worden. Es wurde gesagt, dass man
das Ganze auch auf die sogenannten B2B-Verträge ausweiten könnte. Die Richtlinie sieht aber gerade den Verbraucherschutz vor. Deshalb wollen wir auch nur im
Verhältnis zu Verbrauchern tätig werden.
Die rechtlichen Konsequenzen sind klar: Wer die
neuen Gestaltungspflichten nicht beachtet, insbesondere
hinsichtlich der Schaltfläche, mit der man ausdrücklich
bestätigt, dass man zur Kenntnis genommen hat, dass es
sich um eine kostenpflichtige Bestellung handelt - es
geht auch darum, wie sie beschaffen ist, und um noch ein
bisschen mehr -, der hat künftig keinen Vertrag.
Sie haben vorhin angesprochen, Frau Kollegin
Schieder, dass Millionen Menschen in solche Fallen geraten sind. Ich glaube, wir müssen zur Kenntnis nehmen,
dass auch das neue Gesetz nicht dafür sorgen wird, dass
es künftig keine solchen Seiten mehr gibt. Wer eine Zahlungsaufforderung künftig bezahlt, ob im guten Glauben
oder aus vorauseilendem Gehorsam, kann auch künftig
in eine solche Falle tappen; denn dieses Gesetz wird
nicht dafür sorgen, dass es keine schwarzen Schafe mehr
gibt, die versuchen, eine Abzockfalle zu installieren. Im
Übrigen gilt auch nach derzeitigem Recht - das ist ausgeurteilt -, dass in solchen Fällen kein Vertrag zustande
kommt. Das ist deutsches Zivilrecht. Das steht im BGB.
({8})
Wenn die betrügerische Absicht nachweisbar ist, wofür
es des subjektiven Tatbestands bedarf, haben wir es
möglicherweise auch mit einer Straftat zu tun. Dieses
Gesetz sorgt natürlich dafür - schon allein deshalb ist es
gut -, dass die Öffentlichkeit für diese Thematik sensibilisiert wird; es wird aber nicht verhindern können, dass
Menschen in eine aufgestellte Falle tappen.
({9})
Mit diesem Gesetzentwurf nehmen wir - das ist ein
Kritikpunkt, der zwar nicht in diesem Haus, aber von
Unternehmern geäußert wird - einen gewissen Mehraufwand für die Unternehmen in Kauf. Das ist ein relativ
kleiner Aufwand. Im Regelfall ist es damit getan, den
Webshop einmal umzustellen. Das halten wir für zumutbar. Gleichwohl - das muss man sagen - kostet der gesteigerte Verbraucherschutz die Unternehmen ein bisschen Geld. Gerade bei kleinen Shops wird sich das
möglicherweise am Ende bei den Produkten niederschlagen. Das muss man in diesem Zusammenhang zumindest einmal erwähnt haben.
Ich sehe - zumindest dieses Thema möchte ich im
Zuge des parlamentarischen Verfahrens ansprechen - ein
behebbares praktisches Problem: Wir wollen, dass die
Schaltfläche so aussieht, dass die gesamte Bestellung auf
dem Bildschirm erkennbar ist, ohne dass man scrollen
muss, wenn man am Ende den entscheidenden Klick auf
„Ja, ich kaufe“ macht. Das ist regelmäßig unproblematisch, wenn wir uns einmal einen Internetshop mit einem
Warenkorb vorstellen, in den ich vielleicht zwei Bücher
gelegt habe. Wenn ich aber sehr kleinteilig bzw. schlicht
sehr viel eingekauft habe, dann könnte es problematisch
sein, das alles auf eine Seite zu bekommen. Das ist eine
Sache, für die wir im parlamentarischen Verfahren noch
eine Lösung finden müssen. In manchen Fällen wird es
wahrscheinlich schlicht nicht ohne Scrollen gehen.
Noch eine Botschaft zum Schluss, weil dies schon ein
Stück weit in direkter Verbindung zu dem heutigen Gesetzentwurf steht: Zu der ganzen Thematik gehört nicht
nur seriöses Inkasso, sondern auch unseriöses Inkasso.
Auch bei diesem Thema sind wir innerhalb der Koalitionsfraktionen schon erheblich vorangekommen. Wir
haben das Thema identifiziert und werden uns ihm auf
Sicht widmen.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Caren Lay von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Internet ist aus der modernen Welt nicht
mehr wegzudenken. Leider ist es auch ein Tummelplatz
für Abzocker geworden. Wer kennt nicht diese Mails,
die so vielversprechend lauten: Sie haben 500 Euro gewonnen. - Aber wenn man nicht aufpasst, hat man am
Ende eine Waschmaschine gekauft. Geködert wird mit
Spielen, Handys, Glücksspielen, Digitalkameras oder
auch angeblich kostenlosen Diensten wie Kochrezepten,
Hausaufgabenhilfen und Softwareprogrammen. In
Deutschland liegt der Schaden durch diese unseriösen
Anbieter im mehrstelligen Millionenbereich. Das ist hier
schon mehrfach thematisiert worden.
Während die Liste der Verfahren gegen unseriöse Anbieter immer länger wird, schießen neue Angebote wie
Pilze aus dem Boden. Eine neue Website ist leicht programmiert, eine neue Firma schnell gegründet. So weit
scheinen wir alle uns in diesem Hohen Hause einig zu
sein. Das alles ist aus meiner Sicht in den letzten Jahren
dadurch möglich gewesen, weil die Bundesregierung
dieses Thema viel zu lange verschlafen hat.
Was die Bundesregierung uns heute vorlegt, ist längst
überfällig. Meine Kollegin von der SPD hat schon etwas
dazu gesagt, dass die Chance vertan wurde, einem SPDAntrag zu diesem Thema zuzustimmen. Auch Die Linke
hatte schon vor einer ganzen Weile im Zusammenhang
mit dem TKG die Einführung eines Internetbuttons gefordert.
({0})
Sie haben die Chancen verpasst. Leidtragende sind auch
die Verbraucherinnen und Verbraucher, die seit dieser
Zeit sehr viel Geld verloren haben. Im Endeffekt sind
schon viel zu viele Verbraucherinnen und Verbraucher in
die Internetkostenfalle getappt. Wären Sie nicht so zöCaren Lay
gerlich gewesen, hätte das alles verhindert werden können.
({1})
Des Weiteren sind die Regelungen, die jetzt vorgeschlagen worden sind, aus unserer Sicht nicht weitreichend genug. Wir wünschen - das können wir im Laufe
der Debatte weiter diskutieren - zum Beispiel wirksamere Bußgelder. Die Gewinnmöglichkeiten für unseriöse Internetanbieter sind riesengroß. Man hat per Internet
schnell Zugriff auf ein Riesenpublikum. Die bisherigen
Bußgelder sind dagegen ein Witz und müssen tatsächlich
deutlich erhöht werden.
({2})
Weiter sagen wir als Linke: Wer von Internetabzocke
spricht, der darf auch über Inkassoangstmache nicht
schweigen. Ich habe sehr wohl vernommen, dass auch
die CDU/CSU dieses Thema heute angesprochen hat.
Ich bin gespannt, wie wir uns hier im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens verständigen werden. Beides gehört
unmittelbar zusammen; denn das Zusammenspiel von
Internetabzockern und unseriösen Inkassofirmen ist gängige Praxis.
Viele Menschen zahlen heute aus Angst selbst unberechtigte Forderungen. Oft lassen Phantasiepreise, Aufschläge und Zinsen die Gesamtkosten explodieren. Eine
Schuldnerberatung hat beispielsweise von folgendem
Fall berichtet: Es gab eine ursprüngliche Forderung in
Höhe von 20,84 Euro. Am Ende wurden 1 200 Euro verlangt.
({3})
Eine Auswertung der Verbraucherzentralen von 4 000
Verbraucherbeschwerden über Inkassofirmen hat ergeben: 99 Prozent der Verbraucherbeschwerden waren berechtigt.
Es kann doch nicht sein, dass die Politik auf diese organisierte Abzocke nur alle paar Jahre mit wenigen zaghaften Schritten antwortet. Ich finde, die Bundesregierung hinkt den immer neuen Anbietertricks hoffnungslos
hinterher. Das halte ich aus verbraucherpolitischer Sicht
für eine Zumutung.
({4})
Wir als Linke fordern Maßnahmen, die konsequent und
vorausschauend sind. Wir werden die Bundesregierung
und die Koalition nicht an ihrer Rhetorik, sondern an der
Wirksamkeit ihrer Maßnahmen messen.
Vielen Dank.
({5})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Nicole Maisch.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Problem, über das wir heute beraten,
haben meine Vorrednerinnen und mein Vorredner erschöpfend dargestellt; das will ich nicht weiter auswalzen. Millionen von Menschen sind betroffen. Die benutzten Internetseiten, die auf diesem Geschäftsfeld tätig
waren, sagen vielleicht auch etwas über die Hobbies der
Deutschen aus: rezepte.de, routenplaner-service.de, genealogie.de. Quer durch die Hobbies der Deutschen sind
diese dubiosen Firmen tätig.
Der Abzocke durch diese Abofallen möchten Sie jetzt
mit der sogenannten Buttonlösung einen Riegel vorschieben.
({0})
Das begrüßen wir ausdrücklich; wir finden das gut.
Diese Lösung ist schon länger auf dem politischen
Markt. Es hat etwas gedauert, bis sich Schwarz-Gelb
diese Lösung zu eigen gemacht hat. Die Buttonlösung ist
richtig, weil sie Folgendes anerkennt: Zwar kommt, wie
die Ministerin richtigerweise gesagt hat, oft überhaupt
kein Vertrag zustande, das heißt, niemand müsste zahlen;
aber juristische Laien, also alle, die nicht Jura studiert
haben, wissen das oft nicht. Dieser Button ist also sinnvoll, weil er auch für den juristischen Laien verständlich
ist.
Natürlich stellen wir als Opposition immer dar, was
wir nicht gut finden oder was man noch zusätzlich regeln
könnte. Herr Wanderwitz hat ausgeführt, dass sich dieser
Gesetzentwurf an dem orientiert, was durch die europäische Verbraucherrechterichtlinie vorgegeben ist. Wir
stellen uns deshalb die Frage, warum ein wesentlicher
Teil der Informationspflichten, die in der Richtlinie zum
Thema Button aufgeführt sind, nicht umgesetzt werden
soll.
Über den Button werden verschiedene Informationen
gegeben. Es wird informiert, dass Kosten entstehen und
in welcher Höhe. Man erfährt aber nichts über die Kündigungsmodalitäten. Wenn man über einen solchen Button ein Abo für Klingeltöne oder anderes abschließt,
wäre es aber sinnvoll, nicht nur zu wissen, dass dies zum
Beispiel 5 Euro pro Monat kostet, sondern es wäre auch
logisch, dass darüber informiert wird, wie man aus diesem Abo wieder herauskommt. Dies wird durch die
Richtlinie ohnehin ab 2013 vorgeschrieben. Deshalb
schlagen wir vor, dass Sie in den Beratungen zum Gesetzentwurf die vorvertraglichen Informationspflichten,
die Sie aufgenommen haben, um die Kündigungsmodalitäten erweitern. So viel im Detail zum Gesetzentwurf.
Wir kritisieren natürlich auch, dass es so lange gedauert hat, bis dieser Gesetzentwurf vorlag. Die Buttonlösung ist, wie gesagt, schon lange auf dem politischen
Markt. Millionen von Fällen, Tausende Beschwerden jeden Monat bei den Verbraucherzentralen waren nötig,
bis Sie sich dazu entschlossen haben, eine Lösung vorzuschlagen.
Ich habe schon davon gesprochen: Die rechtliche Situation ist das eine, die Realität in den Augen der juristischen Laien, also der meisten Verbraucherinnen und
Verbraucher, ist das andere. Zu einem solchen untergeschobenen Vertrag gehört natürlich auch das Inkassounternehmen. Entscheidend ist ja nicht, welcher Vertrag
zustande kommt, sondern, ob der Kunde wirklich zahlt.
Durch die deutliche Buttonlösung werden wir bestimmt
viele Verbraucherinnen und Verbraucher schützen, aber
das Problem mit den unseriösen Inkassounternehmen ist
dadurch nicht gelöst. Es gehören immer zwei dazu: der
eine, der den dubiosen Vertrag in irgendeiner Form anbahnt, und der andere, der den Verbrauchern das Geld
aus der Tasche zieht.
Im ELV-Ausschuss haben wir in dieser Woche mit
Freude zur Kenntnis genommen, dass zumindest Eckpunkte für eine Regulierung der dubiosen Inkassounternehmen geplant sind. Man muss aber sagen, dass inoffizielle Eckpunkte bei den meisten schwarzen Schafen auf
dem Markt nicht unbedingt das große Zittern auslösen.
({1})
Da muss man schon etwas mehr tun. Wir warten also auf
einen Gesetzentwurf statt inoffizieller Eckpunkte.
({2})
Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Das
Tempo, in dem sich im digitalen Zeitalter die Märkte
und damit auch dubiose Geschäftspraktiken entwickeln,
stellt an uns Politiker als Regulierer höhere Anforderungen bezüglich der Geschwindigkeit, mit der wir reagieren. Mein Eindruck hinsichtlich dieser Buttonlösung,
aber auch hinsichtlich der Maßnahmen gegen diese Inkassounternehmen ist, dass die Politik mit Ihnen als
schwarz-gelbe Regierung vorweg bei diesem Tempo
nicht mithalten kann. Das finde ich schade. Wir können
nicht mit der Geschwindigkeit des analogen Zeitalters
auf verbraucherpolitische Herausforderungen der digitalen Zeit reagieren. Das ist zu langsam. Das ist die Kritik,
die in diesem Zusammenhang geäußert werden muss.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Mechthild Heil.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der heute zu treffenden Entscheidung zur
Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches lösen wir ein
weiteres wichtiges Verbraucherschutzversprechen des
Koalitionsvertrages ein. CDU/CSU und FDP haben vereinbart, ein verpflichtendes Bestätigungsfeld für alle
Vertragsabschlüsse im Internet zu schaffen. Wir wollen
den Betrug im Internet eindämmen. Der Gesetzentwurf
dazu liegt heute auf dem Tisch.
({0})
Worum geht es? Wir sprechen von einer Buttonlösung. Was ist das, und was wollen wir damit erreichen?
({1})
Laut einer aktuellen Untersuchung von Infas sind bereits
5,4 Millionen deutsche Internetnutzer in eine Abofalle
getappt; das sind immerhin 11 Prozent aller deutschen
Internetnutzer. Bei den Verbraucherzentralen gehen bundesweit rund 22 000 Beschwerden im Monat ein.
({2})
Es geht um Kochrezepte, Horoskope, Fun-Videos und
lustige Klingeltöne, die vom Nutzer als scheinbar kostenlose Dienste heruntergeladen werden. Oft steht auf
der Seite ganz prominent „gratis“ oder „free“. Weiter unten - versteckt - steht dann „kostenpflichtig“ oder vielleicht auch „Nur frei für die erste von weiteren Lieferungen“. Andere Seiten ködern mit Sach- oder
Geldgewinnen. Da werden Handys, Spielekonsolen oder
Digitalkameras versprochen. Manch einer glaubt, der
einzige Schritt, der ihn noch vom Hauptgewinn trennt,
sei das Eintragen seiner persönlichen Daten in die
Maske.
Auf die teilweise beträchtlichen Kosten wird meist
nur versteckt im Kleingedruckten hingewiesen. Bei einigen Anbietern muss man bis an das Ende der Seite scrollen bzw. blättern, um dann, versteckt zwischen zahlreichen anderen Informationen, im Fließtext den
Preishinweis zu finden. Leicht hat man, ohne es zu wollen, mit einem Klick ein ganzes Abo bestellt. Auch versierte Internetnutzer lassen sich so überrumpeln. Darauf
legen es diese Firmen an. Es geht ums schnelle Geldverdienen. Die Geschäftsidee ist Verschleiern, Verstecken,
Verschweigen.
Klar ist: Schon heute müsste der Verbraucher meist
nicht zahlen, weil kein rechtmäßiger Vertrag zustande
gekommen ist. Aber wer weiß das schon? So etwas können Juristen gut beurteilen; aber die meisten Verbraucher
sind nun einmal keine Juristen. Als Verbraucher fühlt
man sich dann hilflos, wenn eine Rechnung ins Haus
flattert. Man ärgert sich vielleicht über sich selber, gibt
am Ende aber zermürbt auf und zahlt, auch weil man den
Gang vors Gericht scheut. Doch damit, meine Damen
und Herren, ist heute Schluss. Zukünftig gilt: Der Vertrag kommt nur zustande, wenn der Kunde auf eine gesonderte Schaltfläche, also auf einen Button, klickt. Dort
muss zu lesen sein: „zahlungspflichtig bestellt“. Es müssen Angaben zum Preis, zur Vertragslaufzeit und zu den
Gesamtlieferkosten zu finden sein. Diese einfache und
klare Lösung schützt die Kunden vor Kostenfallen und
stärkt das Vertrauen der Kunden ins Internet.
Wir wählen für die Schaltflächenlösung einen technikneutralen Ansatz. Sie funktioniert auf Tablet-PCs und
Smartphones genauso wie auf Spielekonsolen. Dies bedeutet für den Handel erheblich niedrigere Umsetzungskosten.
Ein schwieriger Punkt im Hinblick auf Abofallen waren in den letzten Wochen und Monaten vor allen Dingen Smartphones. Hier gab es ein weiteres Schlupfloch.
Schon ein Klick auf ein Werbebanner konnte dazu führen, dass unseriöse Anbieter über den Telefonprovider
Beträge für eine fiktive Dienstleistung in Rechnung
stellten und sie einfach vom Konto der Mobilfunknutzer
abzogen, in der Fachsprache „WAP-Billing“ genannt.
Dieses Schlupfloch haben wir bereits vor einigen Wochen im Telekommunikationsgesetz erfolgreich geschlossen.
({3})
Jeder Smartphonenutzer kann diese Form der Abrechnung jetzt sperren lassen, um sicherer im Internet zu surfen.
({4})
Die Verbraucherzentralen tragen unsere Lösung uneingeschränkt mit. Wir haben in Brüssel durchgesetzt,
dass diese Buttonlösung europaweit zum Standard wird.
({5})
Nur die Freunde der Opposition meckern weiter herum auch heute. Schade, dass Sie nicht gutheißen können,
was wirklich gut gemacht ist.
({6})
Wir helfen den Internetnutzern, und das ist das, was
zählt. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Vom Grundsatz her begrüßen wir diesen Gesetzentwurf, und wir werden ihm auch zustimmen. Das
können wir an dieser Stelle sagen; denn es ist ja ganz
eindeutig, dass unser Vorschlag, den wir hier vor sage
und schreibe 525 Tagen eingebracht haben, von Ihnen
abgelehnt worden ist. Ich finde, nach 525 Tagen kann
man sehr wohl einmal sagen: Das hat aber lange gedauert, Frau Ministerin.
({0})
Als wir das hier vor über 500 Tagen debattiert haben,
hat ein Kollege aus der CDU gesagt, man wolle das mit
Europa regeln, aber wenn das so lange dauert, dann
wolle man im Herbst einen eigenen Entwurf vorlegen.
({1})
Die Rede war vom Herbst des Jahres 2010.
({2})
Heute, kurz vor Weihnachten des Jahres 2011, kommen
wir endlich zu einem Gespräch über einen völlig notwendigen Gesetzentwurf. Aber wir wissen ja, dass die
Bundesregierung immer ein wenig mehr Zeit braucht,
als man das erwarten kann, wenn es darum geht, die Abzocke und die Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher zu minimieren.
Die Baustellen sind groß. Ich nenne zum Beispiel die
Regelungen zur Einführung eines Rechts auf ein Girokonto für jedermann, die Gebühren für ein Pfändungsschutzkonto, die Gebühren für das Onlinebanking, die
Gebühren für das Geldabheben an Bankautomaten, die
überzogenen Dispozinsen und die Einführung von Honorarberatungen. Allüberall gibt es offene Baustellen
und geht es um die Abzocke von Verbraucherinnen und
Verbrauchern und um Kosten, die ihnen entstehen, ohne
dass es gesetzlich reglementiert werden würde.
({3})
Die Kosten, die dadurch entstanden sind, dass so lange
gewartet wurde, wurden hier mehrfach angedeutet.
Dieser Gesetzentwurf ist aber eben nur ein Teil des
Problems. Die Inkassounternehmen, die mit ihren Methoden dazu beitragen, dass die Kosten der Verbraucher
noch um ein Vielfaches steigen, sind die andere Seite
derselben Medaille. Die Inkassounternehmen verhalten
sich teilweise wie im Wilden Westen und bewegen sich
- darin sind wir alle uns hier sehr einig - jenseits von
Gut und Böse.
Auch das will ich deutlich sagen: Eckpunktepapiere
reichen hier nicht aus.
({4})
Als es um die Honorarberatung ging, haben wir gesehen,
wie die Bundesregierung mit einem vorgelegten Eckpunktepapier umgeht. Die Aussage zum Zeitplan ist:
Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
({5})
Ich glaube nicht, dass es noch in dieser Wahlperiode, wie
lange sie auch noch gehen mag, zu einer Regelung für
Honorarberater kommt, und ich nehme Ihnen auch nicht
ab, dass aus dem Eckpunktepapier zur Reglementierung
der Inkassounternehmen noch in dieser Wahlperiode
eine Regelung hervorgehen wird.
({6})
Darüber können wir uns gerne unterhalten, wenn ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, sodass wir über geeignete
Maßnahmen reden können.
Ich glaube, dass Maßnahmen gegen Kostenfallen im
Internet überfällig sind. In der Tat werden Opfer von
Kostenfallen sehr häufig die Menschen, die an ganz vielen Stellen, mehrfach, zum Opfer werden, also nicht nur
durch Kostenfallen im Internet oder durch Inkassounternehmen. Das sind ganz häufig Leute, die aufgrund ihrer
eigenen Situation immer wieder eines besonderen Schutzes bedürfen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir bei diesem Gesetzentwurf nicht nur darüber reden, wie die Verbraucherinnen und Verbraucher vor einer Abzocke geschützt werden können, sondern auch darüber, dass für uns der
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher auch in
anderen Bereichen vor den Interessen der Unternehmen
und der Wirtschaft steht. Hier warten wir auf Ihre Vorschläge, auch für all die anderen Baustellen, die ich gerade genannt habe.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind darauf
angewiesen, dass Sie tätig werden. Also, bitte schön, legen Sie vor!
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7745 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Das Bildungs- und Teilhabepaket - Leistungen
für Kinder und Jugendliche unbürokratisch,
zielgenau und bedarfsgerecht erbringen
- Drucksache 17/8149 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist Weihnachten, die Zeit, um
Pakete zu packen. Auch Frau von der Leyen hat - schon
vor einigen Monaten - ein Paket gepackt, nämlich das
Bildungs- und Teilhabepaket. Es zeigt sich jetzt vor
Weihnachten, nach nicht einmal einem Jahr: Es ist ein
Paket, das man überhaupt nicht auspacken kann.
({0})
Bei der Inanspruchnahme von Leistungen aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket zeigt sich nach den Umfragen auch des Deutschen Städte- und Gemeindebundes
vom Oktober dieses Jahres ein erschreckendes Bild.
Beim Mittagessen etwa sind es ganze 27,4 Prozent der
Anspruchsberechtigten, die in den Genuss der Leistung
kommen. Nun könnte man da noch sagen: Gut, es sind
nicht in allen Schulen und Kindertagesstätten die entsprechenden Infrastrukturen - Küchen, Essen - vorhanden.
Aber schauen wir einmal auf die sogenannte Teilhabepauschale, also die 10 Euro, die monatlich für Sportverein, Musikschule, kulturelle Bildung und anderes
mehr zur Verfügung stehen sollen. Da ist es gerade einmal jedes sechste Kind, das in den Genuss dieses Betrages kommt. Bei der Lernförderung sieht es noch viel bitterer aus. Da sind es ganze 5 Prozent der Kinder, die
diese Förderung in Anspruch nehmen.
Das ist die Situation fast zwei Jahre nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen. Das
muss man sich einmal vor Augen führen. Ein Jahr haben
Sie gebraucht, um ein Gesetz zu machen. Dann folgte
ein Krisengipfel dem nächsten. Am 18. April war bereits
der erste, am 28. Juni der nächste. Zuletzt gab es einen
am 2. November 2011. Jedes Mal wurden Verbesserungen versprochen.
Ich habe auch angesichts der Zahlen des Städte- und
Gemeindebundes einmal eine eigene Umfrage bei Ratsfraktionen und Kreistagsfraktionen gemacht. Ich habe
einen ganz guten Rücklauf bekommen. Es ist wirklich
ein Befund, der einen nicht kaltlassen kann.
Natürlich läuft nicht alles schlecht. Viele geben sich
wirklich Mühe, das trotz der unzulänglichen Rahmenbedingungen, die Sie gesetzt haben, umzusetzen. Aber dieser Antrag ist notwendig; denn die Kinder können nicht
warten.
({1})
Eine Ursache für die schlechte Umsetzung ist wirklich die Bürokratie. Ich zitiere einmal zwei, drei Sätze
aus den Rückmeldungen, die ich erhalten habe. Der Sozialamtsleiter von Dortmund sagt:
Die Stunde der Bürokraten hat geschlagen.
Aus der Ratsfraktion Hamm bekomme ich die Rückmeldung:
Die Vorgaben der Bundesregierung verhindern
mehr, als sie fördern. Ein Hoch auf die Bürokratie.
Die Verwaltung verschlingt nach meinen Hochrechnungen bis zu 30 Prozent der gesamten Mittel. Das Einzige, was wirklich boomt, sind die Neueinstellungen in
den Sozialämtern, um das Ganze abzuwickeln.
Es gibt etliche Widersprüche und Verfahren, weil es
unbestimmte Rechtsbegriffe gibt. Nehmen wir zum Beispiel die Lernförderung, bei der überhaupt nicht richtig
klar ist, zu welchem Zeitpunkt vor dem Schuljahreswechsel man überhaupt in den Genuss der Lernförderung kommt. Muss man schon kurz vor „ungenügend“
oder „mangelhaft“ stehen, oder reicht auch die Gefahr,
dass man in den Bereich „ausreichend-minus“ oder
„mangelhaft“ kommt? Es gibt Verwaltungsstellen, die
sagen: Warten wir erst einmal ab. Wir machen die Lernförderung im Mai, zwei Monate vor der Zeugnisvergabe. - Es
gibt einen Flickenteppich von unterschiedlichen Rechtsverhältnissen und einen ganz hohen bürokratischen Aufwand bei Antragstellern, Schulen, Vereinen und Behördenmitarbeitern.
Sehr treffend, finde ich, hat es ein Lehrer vom Neuköllner Albert-Schweitzer-Gymnasium ausgedrückt - das
war vorgestern im Tagesspiegel nachzulesen -, der sagte:
Im Verhältnis zu den Summen, die bewilligt werden, ist das
- er meint den bürokratischen Aufwand schlicht Wahnsinn.
So ist es auch.
({2})
Was macht diese Bundesregierung? - Sie stiehlt sich
aus der Verantwortung. Frau von der Leyen steht hier
und verkündet und verkündet. Der Staatssekretär Ralf
Brauksiepe antwortet auf meine Frage am 30. November
2011:
Die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes
obliegt nicht der Bundesregierung; denn Träger …
sind die Kreise und kreisfreien Städte.
Er schließt:
Der Bund hat hierbei keine Regelungs- und Entscheidungskompetenz.
Sie stehlen sich aus der Verantwortung. Ich fordere Sie
auf: Beraten Sie unseren Antrag! Wir machen sehr zielgenau und differenziert Vorschläge, was man auszahlen
und was man über die Infrastruktur abwickeln kann. Machen Sie endlich einen Schritt, damit wir nicht nächstes
Jahr zu Weihnachten wieder sagen müssen: Das ist ein
Paket, das man nicht auspacken kann.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die
Kollegin Heike Brehmer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben uns diesen Tagesordnungspunkt beschert. Aber, Herr Kurth, wie sagten Sie so
schön? Wir sollen Ihr Paket auspacken. Aber wir wollen
Ihr Paket gar nicht auspacken.
({0})
Denn, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, eine echte Chance, wie Sie es nennen, haben
wir Kindern und Jugendlichen gegeben, als wir von der
christlich-liberalen Koalition gemeinsam mit der SPD
das Bildungspaket im Frühjahr beschlossen haben. Wir
haben rund 2,5 Millionen Kindern Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten und Bildungsangeboten ermöglicht. Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes erhält nahezu jedes zweite Kind in unserem Land eine
Leistung aus dem Bildungspaket.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
insbesondere Herr Kurth, vielleicht waren Sie mit Ihren
Gedanken bei der Ausformulierung Ihres Antrags noch
in der vorletzten Legislaturperiode, als Sie die Hartz-IVGesetze auf den Weg gebracht haben. Anders als die
SPD haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen, als
es in diesem Frühjahr darum ging, wie das Bildungspaket bzw. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
umgesetzt werden kann.
({2})
Mit dem Gesetz zum Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erstmals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze eine sachbezogene, zielgerichtete Leistung auf den
Weg gebracht, die dorthin fließt, wohin sie direkt soll:
direkt zum Kind.
({3})
Es ist erfreulich, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
nach ersten Anlaufschwierigkeiten inzwischen von immer mehr Familien in Anspruch genommen wird. Bis
Oktober 2011 haben 44 Prozent der Anspruchsberechtigten für ihre Kinder Leistungen aus dem Bildungspaket
beantragt. Einen Monat später ist die durchschnittliche
Antragsquote sogar auf mehr als 45 Prozent gestiegen.
Die Tendenz steigt. Das zeigt: Es gibt eine Bereitschaft
bei den Familien, das Bildungspaket zu beantragen und
zu nutzen.
({4})
Dass diese Bereitschaft noch mehr zunimmt, wünsche
ich mir für die Zukunft.
Bedauerlicherweise verläuft die Antragstellung in der
Praxis trotz positiver Entwicklung schleppend. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat diese Entwicklung beobachtet und sehr schnell reagiert.
({5})
- Hören Sie doch einmal zu! Dann lernen Sie vielleicht
dazu. - Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr hat unsere Ministerin Frau von der Leyen einen runden Tisch
einberufen und gemeinsam mit Vertretern von Bund,
Ländern und Kommunen die Umsetzung des Bildungspaketes beraten. Der beim letzten runden Tisch vereinbarte Globalantrag geht in die richtige Richtung. Mit
ihm soll die Beantragung des Bildungspaketes für die Eltern einfacher gestaltet werden. Die Kommunen feilen
derzeit daran, diesen vereinfachten Antrag nach ihren
Möglichkeiten umzusetzen. Dort, wo durch das Bildungspaket zusätzlicher Aufwand entsteht, können die
Behörden mehr Personal einstellen. Der Bund stellt dafür 163 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Die
christlich-liberale Koalition ermöglicht damit Teilhabe
und beugt Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen
vor.
Aus meinem Wahlkreis Harz und dem Salzlandkreis
kann ich berichten, dass die meisten Zuschüsse zum Mittagessen und zum Schulbedarf genutzt werden. Diese
Leistungen wurden vom Kitaalter bis zum Abitur beantragt. Die Nachfrage steigt. Dies beweist die wachsende
Zahl der Anträge seit dem Sommer.
Frau Kollegin Brehmer, der Kollege Kurth möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Nein.
({0})
Nein, keine Zwischenfrage.
({0})
Die Kommunen sind bemüht, die Möglichkeit der
Antragstellung an die Eltern vor Ort heranzutragen. Einige Landkreise haben sogar jeden einzelnen Hartz-IVHaushalt angeschrieben und eine Telefonhotline eingerichtet. Zusätzlich werden Eltern über Kindergärten,
Schulen und die kommunalen Einrichtungen angesprochen. Es liegt im Verantwortungsbewusstsein der Eltern,
ihrem Kind mit Hilfe eines Antrages die Chance auf
Teilhabe zu geben. Die christlich-liberale Koalition
möchte die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass es regional unterschiedlich ermäßigte Musikschulbeiträge
oder freies Mittagessen gibt oder in manchen Vereinen
sogar keine Beiträge gezahlt werden und so Kindern und
Jugendlichen eine Teilhabe ermöglicht wird.
Es ist uns gelungen, das Bildungspaket bei voller
Kostenerstattung durch den Bund in kommunale Zuständigkeit zu überführen. Was Sie in Ihrem Antrag äußern,
liebe Kollegen, ist schlichtweg ungerechtfertigt. Schließlich haben wir uns beim Bildungspaket bewusst für das
Sachleistungsprinzip entschieden. Mit der Vereinfachung des bürokratischen Aufwands sind wir Eltern und
Behörden auf praktischem Weg entgegengekommen.
Nun ist es an ihnen, diese Chance auch zu nutzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Markus Kurth das Wort.
({0})
Da viele zu Weihnachtsfeiern müssen, mache ich es
kurz. - Ich möchte Sie darauf hinweisen, Frau Brehmer,
dass die Inanspruchnahmequote von 45 Prozent, die Sie
genannt haben, vor allen Dingen deswegen zustande
kommt, weil das sogenannte Schulbasispaket, das es
schon vorher gegeben hat, also etwa Zuschüsse zu
Schulbüchern, natürlich weiterhin in Anspruch genommen wird. Wenn wir uns das differenziert anschauen,
Mittagessen, Teilhabepauschale, Lernförderung, dann
kommen wir auf eine wesentlich geringere Quote.
Sie haben gesagt: Der Bund stellt noch mehr Geld für
Verwaltungskosten zur Verfügung. Ich wollte Sie während der Debatte fragen, ob Sie auch nur eine andere Sozialleistung kennen, bei der das, was ausgereicht wird,
zu dem, was für die Verwaltung verwendet wird, in einem derart grotesken Missverhältnis steht, nämlich dass
überschlägig für jeden Euro, der ausgegeben wird,
30 Cent an Verwaltungskosten entstehen.
Zur Erwiderung Frau Brehmer.
Herr Kurth, Sie haben sicher recht: Es ist regional
sehr unterschiedlich, wie die Angebote genutzt werden.
Einige Einrichtungen bieten kostenfreies Mittagessen für
alle Kinder an. Deswegen kann man das nicht pauschal
auf die ganze Bundesrepublik beziehen und alles über einen Kamm scheren.
Auf der anderen Seite muss man sagen: Sie können
sich daran erinnern, dass ursprünglich die Bundesagentur diese Aufgaben in voller Zuständigkeit übernehmen
wollte. Die Kommunen wollten aber Träger sein. Jetzt
sollen sie diese Aufgaben umsetzen und verantworten.
Auch haben sie die Kostenerstattung gefordert. Dem
sind wir nachgekommen und haben dem Rechnung getragen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
gibt uns Gelegenheit, am Ende des Jahres nach der Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes eine erste
Bilanz zu ziehen und zu schauen: Was ist gut gelaufen
und was nicht? Haben wir Kinder und Jugendliche überhaupt erreichen können, denen wir mehr Chancen für
Bildung und Teilhabe geben wollten? Wie sieht es in den
Jobcentern und in den Grundsicherungsämtern aus?
Müssen wir gegebenenfalls etwas ändern? Meine spontane Antwort darauf - ich bin Ihnen für den Antrag
dankbar - ist: Erstens. Es tut not, dass wir darüber reden.
Zweitens. Ganz im Gegensatz zu der Vorrednerin muss
ich sagen: Wir müssen Veränderungen vornehmen.
Reden wir zunächst über das Bildungs- und Teilhabepaket im ersten Jahr. Ministerin von der Leyen ist mit einem Paradigmenwechsel angetreten und hat verkündet:
Jedes bedürftige Kind bekommt Bildungs- und Teilhabeleistungen als Rechtsanspruch unter dem Motto: Kinder
sollen schnell zu ihrem Recht kommen. - Im Übrigen
kann das jeder auf der Internetseite des BMAS nachlesen.
Wie sieht es in der Praxis damit aus? Die Zahlen sprechen eine deutlich andere Sprache. Im Oktober konnte
registriert werden, dass erst 45 Prozent aller Anspruchsberechtigten Leistungen beantragt haben. Das ist weniger als die Hälfte. Damit kann selbst eine Ministerin
nicht zufrieden sein, und unsere Fraktion ist damit noch
lange nicht zufrieden. Uns ist das einfach zu wenig.
Es entspricht auch nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, allen bedürftigen Kindern den Zugang zu Bildung und Teilhabe zu garantieren. Angesichts dieser Bilanz muss man sich die Frage stellen:
Warum bleiben eigentlich so viele Kinder und Jugendliche auf der Strecke? Was läuft da falsch?
Ich finde, dafür lässt sich eine Reihe von Ursachen
finden. Erstens ist das Bildungs- und Teilhabepaket kein
Gesamtpaket zum Beispiel in Form einer pauschalen
Geldleistung. Diese Leistung ist auch nicht mit einem
Gesamtantrag zu beantragen. Wir sprechen von fünf
kleinen Einzelpäckchen: Nr. 1 Mittagsverpflegung, Nr. 2
Ausflüge und Klassenfahrten, Nr. 3 Schülerbeförderung,
Nr. 4 Lernförderung und Nr. 5 Teilhabe am sozialen und
kulturellen Leben.
({0})
Diese Päckchen hat die Ministerin wortreich und blumig - wir erinnern uns - gepackt und verschnürt, so als
wäre schon damals Weihnachten gewesen. In der Umsetzung vor Ort ergeben sich daraus erhebliche Probleme.
Einige Päckchen lassen sich relativ leicht aufschnüren,
zum Beispiel die Mittagsverpflegung, die Ausflüge und
die Klassenfahrten. Das wird am meisten beantragt.
Andere sind dagegen fest verschlossen oder lassen
sich nur unter erschwerten Bedingungen öffnen: Schülerbeförderung, Lernförderung und soziale und kulturelle Teilhabe. Gerade das letzte Päckchen ist außerhalb
der großen Städte ein Riesenproblem, weil im ländlichen
Bereich geeignete Angebote schlichtweg fehlen.
Aber es gibt auch bürokratische Hürden, die erst einmal überwunden werden müssen, um an den Inhalt eines
Päckchens zu kommen. Dazu zählen das umfangreiche
Antragsverfahren, das viele abschreckt, und ein Mehr an
Personal zur Beratung und Bearbeitung der Anträge.
Nachweise müssen erbracht und mit den Trägern Verträge geschlossen werden; es kommen Widerspruchsverfahren hinzu, und es gibt zusätzliche Belastungen für die
Sozialgerichte. Kurzum: In der Sozialgesetzgebung unseres Landes ist dieser Bürokratieaufbau einmalig.
({1})
Ich kann Frau von der Leyen, die leider nicht hier ist,
nur sagen: Sie nimmt eine Spitzenstellung ein, und zwar
eine sehr negative. Denn 30 Prozent der Mittel gehen in
die Verwaltung, und nur 70 Prozent stehen Kindern und
Jugendlichen zur Verfügung. Das ist ein krasses Missverhältnis zwischen Kosten und Nutzen. Die Leidtragenden sind Kinder und Jugendliche, die an dieses Paket
herankommen sollten. Ich finde, das kann nicht so weitergehen.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis
nennen: Die achtjährige Sahra möchte gerne wie ihre
Freundin Mitglied in einem Judoverein werden. Dafür
muss sie einen Mitgliedsbeitrag von 26 Euro im Monat
zahlen. Sie braucht als Grundausstattung einen Judoanzug für 54 Euro. Für die Teilnahmegebühr für Wettkämpfe braucht sie jährlich 40 Euro. Wenn sie eine Prüfung bestanden hat und einen neuen Gürtel braucht, dann
kostet das 7 bis 10 Euro. Ihre Eltern, beide ALG-II-Bezieher, haben einen Antrag gestellt. Aber letztendlich
reichen die 10 Euro aus dem Teilhabepäckchen nicht
aus. Sahra bleibt also der Judosport im Verein verwehrt.
Damit bleibt sie ausgegrenzt und bekommt keine echte
Chance.
Ähnlich sieht es mit dem Päckchen der Lernförderung
aus. Ich kann mich der Meinung von Herrn Kurth nur
anschließen: Allein die bescheinigte Versetzungsgefährdung zur Grundlage der Entscheidung zu machen, ist
viel zu kurz gedacht. Auch hier muss es Veränderungen
geben.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ja, vielen Dank. - Der letzte runde Tisch im November hat der Ministerin die Auflage erteilt, im SGB II
nachzujustieren. Ich denke, es ist an der Zeit, zum Beispiel über einen Globalantrag nachzudenken. Dessen
Bearbeitung würde Zeit sparen, er würde entbürokratisieren und auch die Hürden für den Antragsteller senken.
Dann könnte Frau Ministerin wirklich ihr Ziel erreichen:
Kinder sollen schnell an die Hilfen aus dem Bildungsund Teilhabepaket kommen.
Ich danke.
({0})
Jetzt spricht der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die
Grünen, Sie scheinen mir schon ein sehr eigenartiges Politikverständnis zu haben. Mit Ihrem heutigen Antrag
und vor allen Dingen mit der Geschichte, die zu diesem
Antrag geführt hat, erwecken Sie den Eindruck, als würden Sie erst selbst die Probleme schaffen wollen, die Sie
nachher lösen wollen. Ich möchte Ihnen einmal in Erinnerung rufen, wie sich das alles historisch zugetragen
hat.
({0})
Vielleicht erinnern Sie sich, dass es der ursprüngliche
Vorschlag der Bundesregierung war, die Administration
des Bildungs- und Teilhabepakets bei der Bundesagentur
für Arbeit und den Jobcentern anzusiedeln. Ich bin mir
sicher, dass eine einheitliche Regelung im gesamten
Bundesgebiet mit einem einheitlichen Antragsverfahren
und einem einheitlichen Abrechnungssystem geholfen
hätte, den Start des Bildungs- und Teilhabepakets zu erleichtern. Aber unter anderem Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, wollten das
nicht. Sie wollten ausdrücklich die Verantwortung für
das Bildungs- und Teilhabepaket an die Kommunen
übertragen.
({1})
Sie wollten lokale Lösungen, und Sie haben geglaubt,
dass damit Bürokratie verhindert werden könnte.
({2})
Ich darf Sie einmal an Ihre eigenen Worte erinnern.
Während der Hartz-IV-Verhandlungen, als Sie die Verantwortung gescheut und die Verhandlungen fluchtartig
verlassen haben, haben Sie in Ihrem Parteirat einen Beschluss gefasst. Ich darf Ihnen die entsprechende Passage zitieren. Das Zitat aus Ihrem einstimmig im Parteirat gefassten Beschluss lautet:
Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen
bis zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von
den Kommunen organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies die Arbeitsministerin vorstellte.
({3})
- Seien Sie doch nicht so nervös, Herr Kurth.
({4})
Ich zitiere weiter:
Hier haben wir … Bürokratie verhindert. … Und
die Kommunen haben
- passen Sie jetzt einmal auf eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten Umsetzung der Leistungen vor Ort …
({5})
Dieses Zitat stammt aus einem einstimmigen Beschluss des Parteirats des Bündnisses 90/Die Grünen
vom 21. Februar 2011.
({6})
Nur noch einmal zur Erklärung: Im Februar rühmen
Sie sich, dass Sie eine angeblich überbordende Bürokratie verhindert haben,
({7})
und heute beschweren Sie sich in dem vorliegenden Antrag über eine angeblich überbordende Bürokratie des
Bildungs- und Teilhabepakets. Hier, liebe Kolleginnen
und Kollegen, zeigt sich wieder Ihre grüne Doppelmoral.
Sie haben die einheitliche, unbürokratische Umsetzung
des Bildungs- und Teilhabepakets in den Verhandlungen
explizit nicht gewollt.
({8})
Sie wollten explizit, wie ich gerade vorgelesen habe,
„eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten
Umsetzung der Leistungen vor Ort“. Jetzt wundern Sie
sich, dass die Kommunen gerade diese hohe Gestaltungsmöglichkeit der Leistungen vor Ort, inklusive eigenes Formularwesen und eigenes Abrechnungssystem,
selbst wahrnehmen und jede Kommune selbstständig
vorgeht. Dieser Flickenteppich, den Sie, Herr Kurth, gerade in Ihrer Rede bemängelt haben, war vorauszusehen.
({9})
Aber Sie wollten ihn explizit.
({10})
Wenn Sie diese Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen wollten, dürfen Sie sie heute nicht kritisieren. Es ist,
als ob Sie selber Feuer legen würden, um sich dann zu
beschweren, dass es brennt.
({11})
Das aber ist keine seriöse Politik, und das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
({12})
Mit dem Antrag, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, heute hier zur Beratung vorgelegt haben, versuchen Sie, das Bildungs- und
Teilhabepaket wesentlich schlechter zu machen, als es
ist. Es steht außer Frage, dass das Bildungs- und Teilhabepaket Anlaufschwierigkeiten hatte und dass dies vor
allem mit seiner dezentralen Ausgestaltung zusammenhängt.
({13})
Aber, wie gesagt, Sie wollten das so.
Anfang November hatten wir eine Inanspruchnahme
von 43,5 Prozent. Das ist deutlich besser als zu Beginn
und zeigt, dass die Nachsteuerungen, die der Runde
Tisch zum Bildungspaket, den die Bundesministerin ins
Leben gerufen hat, vorgenommen hat, förderlich sind.
Die Bundesregierung nimmt sich also der Probleme an.
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel. Beim letzten Treffen des Runden Tisches zum Bildungspaket wurde verabredet, dass mit einem sogenannten Globalantrag beim
regelmäßigen Routinebesuch der Eltern im Jobcenter
erst einmal per Ankreuzen der allgemeine Anspruch der
bedürftigen Kinder auf das Bildungspaket festgehalten
werden kann. Wird später eine konkrete Leistung wie
Kosten für Mittagessen in Schule und Kita oder der Beitrag für den Sportverein abgerufen, so kann das Geld direkt erstattet werden. Zudem sollen Kinder und Jugendliche auch nachträglich Geld für Ausflüge erstattet
bekommen, wenn eine rechtzeitige Antragstellung nicht
möglich war. Das alles zeigt, dass wir mit den Kommunen tatsächlich zusammenarbeiten und sie dabei unterstützen, gute Lösungen zu finden.
Lieber Herr Markus Kurth, fragen Sie einmal Ihre
Nachbarin, meine Wahlkreiskollegin Beate MüllerGemmeke! In unserem Landkreis Reutlingen können wir
eine bisherige Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets von sage und schreibe 85,8 Prozent verzeichnen.
({14})
„Außerordentlich gut gearbeitet“, kann ich die Menschen vor Ort, bei uns in Reutlingen, nur beglückwünschen.
Von diesen Best-Practice-Beispielen müssen andere
Kommunen - Sie haben einige angeführt, Herr Kurth,
die anscheinend in Ihrem Umfeld sind - lernen. Ich lade
Sie, aber auch Ihre Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen gerne einmal nach Reutlingen ein. Sie können dann
mit den Verantwortlichen vor Ort sprechen und von diesen guten Beispielen lernen.
({15})
Im Übrigen, lieber Markus Kurth, eine hundertprozentige Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets werden wir nicht erreichen können; denn nicht alle
Kinder benötigen das Bildungspaket und werden deshalb
auch in Zukunft nicht für jede Leistung des Bildungsund Teilhabepakets einen Antrag stellen. Beispielsweise
ist vielerorts das Schulmittagessen bereits kostenfrei.
Die Schülerbeförderung kostet nichts, und auch viele
Vereine nehmen bedürftige Kinder ohne Beiträge auf.
Deren Eltern werden dann keinen Antrag stellen und
werden damit von der Statistik nicht erfasst. Insofern ist
es falsch, anzunehmen, dass 100 Prozent der Anspruchsberechtigten am Ende die Leistungen dieses Bildungsund Teilhabepakets zu 100 Prozent abrufen werden. Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.
Ich bitte Sie: Wenn Sie Politik gestalten wollen, dann
sollten Sie in Zukunft auch das Ende bedenken. Wenn
Sie die kommunale Hoheit über das Bildungs- und Teilhabepaket fordern, dann sollten Sie auch wissen, was das
Ergebnis und die entsprechenden Schwierigkeiten sind.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am Montag fand sich in der Magdeburger Volksstimme ein kleiner Artikel über die
Schließung des Lerntreffs in Olvenstedt, einem Stadtteil
von Magdeburg. Das Jobcenter hatte diesen bisher finanziert, und es hat nun die Finanzierung eingestellt. Eine
der betreuten Schülerinnen hat sich seitdem in ihrem Notendurchschnitt von 2,8 auf 3,9 verschlechtert.
Was hat das mit dem vorliegenden Antrag zu tun?
Sehr viel. Es zeigt nämlich die Untauglichkeit des von
der Regierung beschlossenen Paketes für Bildung und
Teilhabe. Für den Fall der Schülerin aus Olvenstedt ist es
nämlich nicht gemacht. Erst wenn sie sich so weit verschlechtert hat, dass sie versetzungsgefährdet ist - da ist
die Aussage der Bundesregierung leider sehr klar -, können die Eltern Lernförderung beantragen. Ob der Betreuer des Lerntreffs ihr dann allerdings noch helfen
kann, ist völlig unklar. So funktioniert das. Funktionierende Strukturen werden einfach abgeschafft. Das ist nur
ein Beispiel. Ich will weitere nennen.
Vereine, die Mitgliedschaften für sozial Benachteiligte bisher kostenfrei angeboten haben, nehmen nunmehr Beiträge. Essenanbieter erhöhen die Preise, damit
sie nicht auf den Verwaltungskosten sitzen bleiben. Anträge bleiben, vor allen Dingen in den Jobcentern, wochenlang liegen, weil die Bearbeiterinnen und Bearbeiter
überlastet sind. Zudem werden gleiche Anträge in
gleichartigen Fällen sehr unterschiedlich beschieden,
weil zwei verschiedene Bearbeiter gleiche Fälle eben
nicht gleich entscheiden. Die Zuständigkeiten sind unklar, zum Beispiel: Wer bezahlt das Schulmittagessen,
das in den Schulferien im Hort ausgereicht wird?
Was die Schülerbeförderung betrifft, haben Sie recht
- das muss ich zu meinem Vorredner sagen -: Natürlich
bieten einige Länder kostenfreie Beförderung mindestens bis zum Ende der zehnten Klasse, manche sogar bis
zur elften oder zwölften Klasse. Andere Länder gewähren Vorteile dieser Art gar nicht oder nur sehr mäßig.
Nicht abgedeckt sind aber jene Fälle, in denen Schülerbeförderungskosten entstehen, weil zum Beispiel Auszubildende einen sehr weiten Weg zum Blockunterricht haben. So etwas ist nicht vorgesehen; dafür gibt es keine
Leistungen aus diesem Paket.
Die 10 Euro für soziale Teilhabe decken viele Bedarfe
nicht ab; Beispiele dafür hat Frau Krüger-Leißner vorhin
genannt. In der Musikschule Magdeburg kostet die günstigste Unterrichtsstunde im Monat 42 Euro. 7 Euro Instrumentengebühr kommen hinzu. Solche Kosten sind
im Paket gar nicht berücksichtigt. Vielleicht liegt es auch
daran, dass dieser Teil nur von etwa 15 Prozent abgerufen wird.
Man kann es sehr knapp zusammenfassen: Das Bildungs- und Teilhabepaket geht an der Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen vorbei. Das ist das
Schlimme daran.
({0})
Das ist auch die Ursache dafür, dass nach einem halben
Jahr noch nicht einmal die Hälfte der Berechtigten Anträge gestellt hat, selbst noch nicht einmal für eine oder
mehrere Leistungen, geschweige denn für alle Leistungen. Dabei ist das Mittagessen noch Spitzenreiter. Lernförderung funktioniert am schlechtesten; Herr Kurth hat
die Zahlen genannt.
({1})
Dabei ist es offensichtlich, dass die Antragszahlen bei
den Jobcentern durchgängig prozentual etwas niedriger
liegen als die bei den Sozialämtern. Ich frage mich, warum. Aber auch wenn entsprechende Leistungen beantragt werden, ist es noch lange nicht sicher, dass sie auch
bewilligt werden.
Was für ein Fazit kann man daraus ziehen? Die Politik, insbesondere die der Bundesregierung, ist eben nicht
die bessere Anwältin der Kinder. Besser wäre es gewesen, das gesamte Geld samt Verwaltungskosten gleich
den Familien und Kommunen zu übereignen. Diese hätten das mit Sicherheit besser hinbekommen und damit
ordentlich etwas anfangen können, und es wäre zu
100 Prozent bei den Kindern angekommen.
({2})
Die Bundesregierung sollte zügig daraus lernen; denn
2013 ändert sich die Berechnungsgrundlage. Der Antrag
der Grünen bietet sicherlich eine gute Gelegenheit dazu.
Die Linke fordert seit Jahren eine Erhöhung der Regelsätze, noch besser wären eine bedarfsdeckende
Grundsicherung und eine bessere Ausstattung der Kommunen.
Bei dem Dilemma mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ist mir ein Märchen in den Sinn gekommen, nämlich das vom Fischer, der auf Geheiß seiner Frau Ilsebill
dreimal zum Butt ging und „Manntje, Manntje, Timpe
Te“ rief. Ich fand, dass es da zur heutigen Situation ein
paar Parallelen gibt, nur dass es sich bei den Forderungen der Kinder nicht um überzogene Forderungen handelt. Deshalb habe ich mich hingesetzt und ein Märchen
geschrieben, das sich darauf bezieht. Ich habe es auf
meine Internetseite gestellt, weil ich hier so viele Beispiele gar nicht nennen kann. Das Schlimme ist: Es ist
fast nichts erfunden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Das Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht Kindern und Jugendlichen aus Familien, die Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialhilfe, Kinderzuschlag
oder Wohngeld beziehen, mitzumachen, gemeinsam mit
den anderen zu musizieren und gemeinsam mit den anderen in der Schulkantine zu essen. Die Leistungen für bedürftige Kinder wurden im Rahmen des Bildungs- und
Teilhabepaketes massiv ausgeweitet.
Erlauben Sie mir zu Beginn der Rede, auch darauf
hinzuweisen, dass diese Leistungen bei Einführung der
Hartz-IV-Regelungen unter Rot-Grün, lieber Herr Kurth,
schlichtweg vergessen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 aber
einen entsprechenden Sozial- und Teilhabeanspruch festgeschrieben. Wir versuchen, diesen bestmöglich zu erfüllen:
So können nun bedürftige Kinder bei Sport und Kultur mitmachen. Jedes Kind kann dank des Pakets Vereins-, Kultur- und Ferienangebote nutzen. Bedürftige
Schülerinnen und Schüler können Lernförderung in Anspruch nehmen. Es gibt Zuschüsse zu einem warmen
Mittagessen in Kita, Schule und Hort. Es gibt 100 Euro
pro Schuljahr für Lernmaterialien; das wurde früher als
Schulbedarfspaket bezeichnet.
({0})
- Das gab es früher schon. Das ist richtig.
({1})
Aber das ist in dieses Paket, in diesen großen Weihnachtssack, mit hineingepackt worden.
({2})
Zudem ist die Erstattung der Kosten für eintägige Schulausflüge möglich.
Meine Damen und Herren der Grünen, Sie schreiben
in Ihrem Antrag, dass ein pauschaler Kinderregelsatz bürokratieärmer wäre. Das mag richtig sein; doch das Ziel,
gerade die bedürftigen Kinder gezielt dort zu fördern,
wo Bedarf besteht, würde auf diese Weise in vielen Bereichen weit verfehlt werden.
({3})
Würde man beispielsweise jedem bedürftigen Kind, unabhängig davon, ob es eine Lernförderung braucht oder
nicht, einen statistisch ermittelten Pauschbetrag für
Lernförderung gewähren, so würde dies bedeuten, dass
Familien, für die tatsächlich Förderstunden bezahlt werden müssen, keine ausreichende Unterstützung erhalten.
({4})
Die bestehende Regelung erlaubt es doch gerade, jedes
Kind individuell dort zu fördern, wo Förderbedarf besteht.
({5})
- Ich habe den Antrag sehr wohl gelesen. Ich gehe schon
noch auf einige Passagen ein, Herr Kurth. Keine Angst!
Meine Damen und Herren, grundsätzlich ist es so,
dass alle Beteiligten an einem einfachen, unbürokratischen Verfahren interessiert sind. Elementare Grundsätze eines ordnungsgemäßen Verwaltungshandelns
müssen allerdings eingehalten werden.
Folgende Verfahrensvereinfachungen wurden bereits
umgesetzt: So gewährleistet ein Globalantrag durch Ankreuzen auf dem Antragsfeld, dass der Bedarf aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket nicht übersehen wird. Zudem besteht die untergesetzliche Möglichkeit einer
nachträglichen Erstattung der Aufwendungen.
Erlauben Sie mir eine Anmerkung: Ich habe bei der
Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets im Frühjahr darauf hingewiesen, dass es zu Anlaufschwierigkeiten kommen kann. Natürlich muss bei den Bedürftigen,
also den Eltern und den Kindern, erst ein gewisser Bekanntheitsgrad dieses Pakets vorhanden sein, damit es
beantragt wird.
({6})
Darüber hinaus betreibt gerade vor diesem Hintergrund die Bundesregierung eine intensive Öffentlichkeitsarbeit und informiert über die Möglichkeiten des
Bildungs- und Teilhabepakets. Durch den Runden Tisch
zum Bildungspaket, der bereits vom Vorredner angesprochen wurde, wird das Programm begleitet und bewertet.
Im Frühjahr werden weitere Kommunikationsmaßnahmen durchgeführt werden. So werden Motivationsanzeigen in Verbands- und Vereinszeitschriften der Bereiche Sport, Musik und Kultur publiziert werden.
Darüber hinaus wird im direkten Umfeld zu Discountsupermärkten auf Plakaten für das Bildungs- und Teilhabepaket geworben.
({7})
Jedes Kind soll die Möglichkeiten des Bildungs- und
Teilhabepakets wahrnehmen können.
Es ist wichtig, einen Appell an die Verantwortung der
Eltern zu richten, die Angebote wahrzunehmen und die
Fördermöglichkeiten für ihre Kinder zu nutzen. Eltern
haben hier eine ganz entscheidende Schlüsselrolle, die
sie ausfüllen müssen.
Dass viele Kinder ihren Anspruch auf Bildung und
Teilhabe nicht wahrnehmen können, ist schlichtweg
falsch. Inzwischen profitieren rund 43 Prozent der Kinder in den Städten und Landkreisen, die in Grundsicherung leben, von diesem Angebot; im Juni waren es in
den Landkreisen noch 29 Prozent und in den Städten nur
25 Prozent.
({8})
An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es durchaus normal ist, wenn das Bekanntwerden einer neuen
Förderung etwas Zeit braucht, um sich zu etablieren.
({9})
Sie haben es selbst angesprochen, Frau Kollegin
Krüger-Leißner: Haben wir genügend Kinder erreicht?
Sie haben natürlich recht: Wir haben sie noch nicht alle
erreicht. Die Zahl reicht bislang noch nicht aus. Hier
müssen wir noch etwas tun; das habe ich bereits angesprochen. Die Zahlen beweisen aber, dass wir auf einem
guten und richtigen Weg sind.
Herr Kurth, Sie haben eine Umfrage gemacht. Ich
habe mich auch erkundigt, und zwar bei meiner Kommune, in meinem Wahlkreis Würzburg. Hier leben 2 200
bezugsberechtigte Kinder. Seit Inkrafttreten des Bildungs- und Teilhabepakets gingen beim dortigen Jobcenter 1 700 Anträge ein. Sie sehen, das Paket kommt
an.
({10})
Ich freue mich, dass bei Ihnen die Erfolgsquoten ähnlich
hoch sind. Das heißt: Sie sprechen wider besseres Wissen von einer anderen Situation als der, die Sie in Ihrem
Wahlkreis tatsächlich wahrnehmen. Das muss auch einmal gesagt werden.
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition sorgt dafür, dass bedürftige Kinder gefördert werden und Chancen haben, genau wie andere Kinder auch.
Wir begleiten den Erfolg des Programmes und erwarten
im Frühjahr 2012 die Ergebnisse einer in Auftrag gegebenen unabhängigen Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik. Denn der gute Wille allein reicht hier nicht aus; das Programm muss ankommen
und angenommen werden. Und genau dafür setzen wir
uns ein.
Lieber Kollege Kurth, ich bin für Ihre konstruktiven,
kritischen Anmerkungen immer sehr dankbar. Wir beachten, was Sie in Ihrem Antrag schreiben; aber wir werden diesen Antrag heute natürlich ablehnen.
({11})
Ihnen wünsche ich ein gesegnetes Weihnachtsfest und
besinnliche Stunden mit Ihren Familien.
Herzlichen Dank.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind mit der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets für bedürftige Kinder überhaupt nicht zufrieden.
({0})
Ja, es ist ein bürokratisches Monster. In manchen Städten
sind bis zu fünf unterschiedliche Behörden zuständig.
({1})
Kein Wunder, dass sich viele Antragsteller in diesem Labyrinth verirren und die Leistungen dann nicht bei den
Kindern ankommen! Das müssen wir ändern!
({2})
Schade, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
dass Sie sich im letzten Jahr im Vermittlungsausschuss
zurückgezogen haben
({3})
und nicht mit uns gemeinsam bei der Gestaltung des Bildungs- und Teilhabepakets gekämpft haben. Wir hingegen haben viele Verbesserungen für die Kinder und Jugendlichen durchgesetzt. Einsatz zur richtigen Zeit und
am richtigen Ort lohnt sich also.
({4})
Wir haben im Vermittlungsausschuss auch Ideen vorgestellt, wie die Leistungen diskriminierungsfrei und
unbürokratisch bei den Kindern und Jugendlichen ankommen können. Diese Vorschläge wurden von der
Ministerin allerdings nicht aufgegriffen.
In meinem Wahlkreis in Lübeck beispielsweise gab es
bereits vor dem Bildungs- und Teilhabepaket einen gut
funktionierenden Bildungsfonds für bedürftige Kinder.
Dieser wird von Schulen und Kitas selbst verwaltet.
Lehrkräfte und Erzieherinnen kennen ihre Kinder
schließlich am besten und wissen, wo Förderbedarf besteht. In Hamburg gibt es übrigens ein ähnlich gutes Modell ohne riesigen Verwaltungsaufwand. Warum, so
frage ich Sie, greift die Ministerin diese Vorschläge nicht
auf? Sie muss den Prozess steuern. Wer denn sonst?
({5})
So wie es jetzt aussieht, wird Frau Ministerin von der
Leyen zu Weihnachten auf ihren Bildungs- und Teilhabepaketen sitzen bleiben, und die Kinder gehen bei der
Bescherung leer aus. Ist das der Plan, um den Haushalt
der Ministerin zu schonen? Wo, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen, bleibt Ihr Einsatz
für die Kinder? Von Bildungsgerechtigkeit keine Spur!
Immer noch verlässt jeder zehnte Jugendliche die
Schule ohne Abschluss.
({6})
Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Ministerin von der
Leyen trotzdem zum Beispiel die Gelder für das so wichtige Programm „Schulverweigerung - die 2. Chance“
drastisch gekürzt. Unglaublich ist das!
({7})
Wir fordern gute Bildungschancen für alle Kinder.
Auch wollen wir, dass jedes Flüchtlingskind, das bei uns
lebt, das Bildungs- und Teilhabepaket bekommt. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, haben dies abgelehnt. Hartherziger geht es ja wohl
gar nicht mehr.
({8})
Ein trauriges Weihnachten für Deutschlands Kinder!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das ändern.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8149 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung
im Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7142 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/8178 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Michael Hartmann ({2})
Frank Tempel
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 17/8185, 17/8178 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Katja Dörner
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir später namentlich
abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Armin Schuster von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Laut der aktuellen McKinsey-Studie Wettbewerbsfaktor Fachkräfte werden in Deutschland bis 2025
6,5 Millionen Arbeitskräfte benötigt, darunter etwa
2,4 Millionen Akademiker. Arbeitgebern wird in dieser
Studie empfohlen, bereits heute ihre Personalplanung
langfristiger auszurichten und eine klare, mit Zielkennzahlen hinterlegte Fachkräftestrategie zu verfolgen. Die
Engpässe von morgen sind längst nicht mehr Rohstoffe
und Absatzmärkte, sondern gut ausgebildetes Personal
wird fehlen.
„Uns geht nicht die Arbeit aus, uns gehen im Augenblick die Fachkräfte aus“, hat Bundesarbeitsministerin
Ursula von der Leyen die Situation zutreffend zusammengefasst. Für den öffentlichen Dienst bedeutet das, in
den nächsten zehn Jahren 700 000 Nachwuchsstellen besetzen zu müssen. Wir stehen hier zusammen mit der
Wirtschaft unter Zugzwang, aber eben auch in Konkurrenz zur Wirtschaft. Deshalb wollen wir mit dem von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund die Wettbewerbsfähigkeit des Bundes gegenüber anderen Dienstherren und der Wirtschaft entscheidend stärken; denn
das ist notwendig.
Die CDU/CSU ist seit jeher die Partei des öffentlichen Dienstes. Wir stehen zu den Grundwerten des Berufsbeamtentums, wollen sie aber gleichwohl maßvoll
weiterentwickeln. Deshalb ist es unser Ziel, eine langfristige Strategie zur Fachkräftegewinnung im Bund umzusetzen. Begonnen haben wir in der vergangenen
Legislaturperiode mit der damals geschaffenen Dienstrechtsneuordnung. Darauf folgte in dieser Legislaturperiode das Bundesbesoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz, in dem wir zum Beispiel die Arbeitszeiten
für ältere Beschäftigte flexibilisiert haben.
Mit der heute vorliegenden Gesetzesinitiative schaffen wir - wie in der vergangenen Woche mit der Wiedergewährung der Sonderzahlung - nochmals deutliche Anreize auch im monetären Bereich für eine attraktive
Bundesverwaltung.
Wir stärken aber auch unsere soziale Vorbildfunktion
als familienfreundlicher Arbeitgeber. Künftig werden im
Bundesdienst die Zeiten der Kinderbetreuung und der
Pflege von Angehörigen bei der ersten Stufenfestsetzung
wie berufliche Erfahrungszeiten angerechnet.
({0})
Einige Beamte auf Probe alten Rechts, zum Beispiel
in eher gefahrengeneigten Tätigkeiten, warten bereits
sehnlichst auf die Möglichkeit einer Lebenszeitverbeamtung vor dem 27. Lebensjahr. Es war überfällig, das zu
ermöglichen; wir machen das mit dem heute vorliegenden Gesetz.
Armin Schuster ({1})
Um die Attraktivität spezieller Berufsbilder im öffentlichen Dienst zu steigern, gibt es einen ganzen Fächer
von Maßnahmen, zum Beispiel den Personalgewinnungszuschlag, mit dem wir mit finanziellen Anreizen
systematisch auf Personalengpässe reagieren. Gezielt
sollen Fachkräfte, insbesondere Ärztinnen und Ärzte bei
der Bundeswehr oder IT-Fachkräfte bei der Polizei, gewonnen werden können. Ob und, wenn ja, wie dieser
Zuschlag zum Einsatz kommt, liegt im Ermessen der
Personalstellen. Er ersetzt und erweitert die bisherigen
Sonderzuschläge und kann immerhin bis zu 20 Prozent
des Grundgehalts betragen, in Besoldungsgruppe A 13
zum Beispiel 690 Euro im Monat für längstens 48 Monate; das kann einmal verlängert werden. Ich glaube, das
ist ein starkes Anreizprogramm.
Ebenso werden wir Besoldungsverluste beim Wechsel
in den Bundesdienst ausgleichen. Landes- oder Kommunalbeamte erleiden bei ihrem Einstieg im Bund oft Einkommenseinbußen, beispielsweise der Rechtspfleger,
der aus Baden-Württemberg zum Bundesamt für Justiz
in Bonn wechselt. Diese Einkommenseinbußen werden
wir ausgleichen.
Ganz besonders freut mich, dass es uns gelungen ist,
verbesserte Einstiegsmöglichkeiten für IT-Fachkräfte
und Ingenieure im gehobenen Dienst zu ermöglichen.
Wie sehr dort der Schuh drückt, zeigt sich allein schon
bei der Bundeswehr: Im November 2011 waren 700 Stellen für Ingenieure unbesetzt. Künftig wollen wir deshalb, dass IT-Fachkräfte im Eingangsamt A 10 und Ingenieure fakultativ im Eingangsamt A 11 eingestellt
werden können. Das ist ein sehr starkes Signal.
Die Wehrpflicht hat einen spürbaren Beitrag zur ärztlichen Versorgung in der Bundeswehr geleistet; das ist
vielen vielleicht gar nicht bewusst. Durch die Aussetzung der Wehrpflicht wird es jetzt aber notwendig, die
Vergütung der Sanitätsoffiziere in den Bundeswehrkrankenhäusern zu verbessern und an die Vergütung im zivilen Gesundheitssystem anzugleichen. So werden wir die
ärztlichen Bereitschaftsdienste nunmehr deutlich attraktiver vergüten.
Auch die Polizeizulage in der Bundesfinanzverwaltung wird durch dieses Gesetz neu geordnet. Über die
zulagenberechtigten Bereiche - ein nicht ganz einfaches
Verfahren - entscheidet künftig das BMF selbst. Das ist
deutlich unbürokratischer.
Eines war mir selbst sehr wichtig: Wir werden eine
Verpflichtungsprämie für polizeiliche Auslandsverwendungen einführen und dadurch endlich die Vergütungsunterschiede zwischen bilateralen und europäischen Projekten beseitigen können. Das war überfällig; das weiß
jeder, der einmal draußen im Einsatz war.
({2})
- Danke für die Mühe, Clemens.
({3})
Ich verspreche, dass es jetzt etwas interessanter wird.
Meine Damen und Herren, zu diesen und einigen anderen Inhalten des Gesetzentwurfs gab es am Montag
dieser Woche eine von der SPD beantragte Sachverständigenanhörung. Ich habe jetzt die große Freude, Ihnen
ganz kurz Zitate aller sechs Sachverständigen mit Bezug
auf das hier zu beratende Gesetz wiedergeben zu dürfen.
({4})
Peter Heesen vom dbb beamtenbund sagte: insgesamt
ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. - Karsten
Schneider vom Deutschen Gewerkschaftsbund meinte:
richtiger Schritt. - Hans-Ulrich Benra vom VBOB und
Bernd Niesen von der Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft begrüßten den Gesetzentwurf. Die Exstaatssekretäre Lutz Diwell und Johann Hahlen bezeichneten die Verbesserungen als gut, erforderlich und
angemessen. - Da man eine solche im Wesentlichen
übereinstimmende Zustimmung von allen Sachverständigen in einer Anhörung selten erfährt, fühlt sich die
christlich-liberale Koalition in ihrer Strategie sehr bestätigt. Wenn ich das so sagen darf: Wir sind wirklich sehr
zufrieden mit uns.
Das gilt natürlich auch für den vornehmlich von der
SPD kritisierten Punkt der Verbesserung der Versorgung
von Beamten, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Meine Damen und Herren, wir sprechen
hier über einen Personenkreis von 422 Spitzenführungskräften, also von Staatssekretären, Abteilungsleitern,
Botschaftern, dem Generalbundesanwalt, den Präsidenten der Sicherheitsbehörden BKA, BfV und BND. Für
diese Positionen suchen wir verständlicherweise die
Besten. Aber genau jene, die bereits eine entsprechende
Karriere und Laufbahn vorweisen können, zögern immer
öfter, vor allem wegen der geltenden Versorgungsregelung; denn wer ein solches Amt übernimmt, hat durch
das Maß an übertragener Verantwortung ein deutlich gesteigertes Risiko, nach verhältnismäßig kurzer Verwendung ohne seinen Willen in den einstweiligen Ruhestand
versetzt zu werden.
Nur wer dann mindestens fünf Jahre im Amt war, erhält heute für drei Jahre 71,75 Prozent seiner Bezüge.
Danach bekommt er nur noch den deutlich geringeren
Versorgungssatz, der sich an seinen vorherigen Dienstzeiten orientiert, und zwar für den Rest seines Lebens.
Dagegen würde ein normaler Beamter, der vorher beispielsweise in B 6 war und bleibt, mit größter Wahrscheinlichkeit den Höchstpensionssatz aus diesem Amt
erreichen. Ein Beispiel: Ein 49-jähriger Beamter mit B 6
würde so im Fall einer Berufung nach B 9 und Versetzung in den einstweiligen Ruhestand nach sechs Jahren
über die gesamte Lebenszeit gerechnet über 400 000
Euro verlieren.
({5})
Klingt das für Sie attraktiv für die Besten, die wir suchen?
Armin Schuster ({6})
({7})
Die sehr nachteilige Regelung wurde im Jahr 1998
verabschiedet.
({8})
Wir werden mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz nicht
die vor 1998 geltende Regelung wieder einführen, sondern lediglich die ersten drei Jahre im einstweiligen Ruhestand, in denen der Beamte einen Teil seiner Besoldung als Spitzenbeamter weiter erhält, für seine Pension
berücksichtigen. Es handelt sich also um eine sehr moderate Verbesserung. Der Vorwurf der SPD, es handele
sich um einen goldenen Handschlag, ist deutlich übertrieben. Heute ist das ein Handschlag aus verrostetem
Blech. Wenn wir das Gesetz verabschiedet haben, ist es
ein Handschlag aus zinkfreiem Edelstahl. Ich glaube, das
sind wir den verdienten Beamten auch schuldig.
Herr Hartmann, gestatten Sie mir eine persönliche
Anmerkung. Wir wollen attraktive Bewerber für Spitzenfunktionen gewinnen.
({9})
Vorzugsweise haben sie in der Verwaltung bereits erfolgreich Karriere gemacht und wollen dies auch perspektivisch weiterhin tun. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir
jedoch keine Bewerber, die leichtfertig damit einverstanden sind, bei hohem Verantwortungsrisiko im ungünstigen Fall schlecht versorgt zu sein. Das können am Ende
eigentlich nur Jobhopper sein, denen das Risiko gleichgültig ist, weil sie sowieso nur eine kurzfristige Station
planen, bevor sie in die nächste Großkanzlei weiterziehen.
Herr Hartmann, wenn Sie die Rückkehrmöglichkeit in
die Privatwirtschaft begrenzen möchten, wenn Sie die
Zahl der Externen in der Bundestagsverwaltung reduzieren möchten, dann überlegen Sie bitte, was das heißt.
Wenn Sie es logisch durchdenken, dann stellen Sie fest,
dass unsere Lösung die richtige ist.
({10})
Die wollen Sie auch, Sie haben es nur noch nicht richtig
verstanden. Vielleicht wird das noch etwas. Es sind ja
noch ein paar Minuten.
Damit die Grünen nicht ganz leer ausgehen, komme
ich auf die zweite kritische Frage zu sprechen: das Amt
des Direktors beim Sachverständigenrat für Umweltfragen.
({11})
Mit unseren umwelt- und energiepolitischen Zielen stehen wir vor einer Herkulesaufgabe.
({12})
Was ist eigentlich so ungewöhnlich daran, dass wir mit
dem Fachkräftegewinnungsgesetz eine Institution personell und akademisch aufwerten wollen, die in diesem
Themenfeld eine zentrale Rolle spielt?
({13})
Sie erlauben mir sicher auch die Feststellung, dass die
öffentliche Einschätzung des Vorsitzenden des Sachverständigenrates für uns Parlamentarier nicht das ausschlaggebende Kriterium sein kann.
({14})
An dem Sturm im Wasserglas, den die Grünen hier wegen eines schon gefühlten künftigen Dienstposteninhabers veranstalten, beteiligen wir uns nicht. Die Regierung wird im kommenden Jahr unabhängig von
irgendwelchen herumgeisternden Vermerken ein reguläres Stellenbesetzungsverfahren mit Ausschreibung
durchführen.
Herr Kollege Schuster, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ja.
Bitte schön.
Herzlichen Dank für die Möglichkeit, eine Frage zu
stellen. - Sie haben den Sachverständigenrat für Umweltfragen angesprochen. Ich begrüße es, dass im Umweltbereich neue Stellen geschaffen werden sollen. Als
Vorsitzende des Umweltausschusses kann ich mich darüber nur freuen. Ich muss hinzufügen: Gerade um den
sozial-ökologischen Wandel zu begleiten, gehört noch
viel mehr dazu. Das wissen Sie alle. Ich denke, dieser
Wandel wird auch unterstützt. Wir wissen aber, dass der
Vorsitzende des Sachverständigenrates keine Stelle fordert und dass eine Stellenforderung auch nicht begründet ist. Ich halte es für sehr seltsam, wenn Sie eine Stelle
besetzen, die von einem Gremium gar nicht gefordert
wurde. Wenn man sich die Zeitungsartikel der letzten
Zeit dazu ansieht, muss man feststellen - ich sage das
als Bayerin -: Das Ganze riecht sehr nach Amigos oder
Seilschaften.
({0})
Eine Frage habe ich nicht gehört. Ich versuche, trotzdem zu antworten. Ich will versuchen, zu erspüren, was
Sie denken.
Armin Schuster ({0})
({1})
Wir reagieren - das dürfte allen Parlamentariern einleuchten - eigentlich nie darauf, wenn Behördenleiter
etwas fordern oder eben nicht fordern. Stellen Sie sich
einmal vor, wir würden immer eine Stelle einrichten,
wenn ein Behördenleiter des Bundes sie fordert.
Genauso wenig interessiert uns im Parlament, wenn ein
Behördenleiter nichts fordert. Das ist nicht unser Thema.
Für mich ist das politische Thema:
({2})
Passt es in den Masterplan „Energie- und Umweltwende
in diesem Land bis 2022“?
({3})
Wir sind zu der Erkenntnis gekommen: Wir brauchen
derartige Aufwertungen, derartige Verbesserungen. Deswegen erlauben wir uns, ganz unabhängig vom Sachverständigenrat, etwas Gutes zu tun, was sich vielleicht erst
später bemerkbar macht.
({4})
Darf auch Frau Höhn Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Guten Tag, Herr Präsident!
Einen wunderschönen guten Abend! Sie achten offenkundig besonders auf den Wechsel des amtierenden Präsidenten. - Bitte schön.
Herr Abgeordneter, uns liegt ein Vermerk vor, der der
Schaffung dieser Stelle auf dubiose Art und Weise zugrunde liegt. Hier steht: Diese neue Stelle soll den Sachverständigenrat für Umweltfragen nach außen vertreten.
Hierdurch soll der SRU auch in seiner Außendarstellung dem unmittelbaren politischen Einfluss
von Rot-Grün entwunden und dauerhaft in den
({0}) politischen Einfluss- und Steuerungsbereich der Koalitionsfraktionen gebracht werden.
({1})
Sind Sie mit mir der Meinung, dass ein Sachverständigenrat eigentlich unabhängig sein sollte, wie auch das
Bundesumweltministerium es definiert? Hat es Sie nicht
verwundert, dass der Bundesumweltminister diese Stelle
nicht gefordert hat, dass er sie sogar für überflüssig hält
und sagt: „Wenn die Abgeordneten das unbedingt wollen, dann werde ich gegen meine eigene Überzeugung
diesen Beschluss umsetzen“?
({2})
Frau Höhn, herzlichen Dank für die Frage. - Sie sprechen mit einem ehemaligen Behördenleiter, der Erfahrung damit hat. Wenn man darüber nachdenkt, eine neue
Stelle zu schaffen, haben viele Menschen Interesse
daran, auf diese Stelle zu kommen. Was sich in der
Phase bis zum Stellenausschreibungsverfahren - das
sind etwa drei Monate - in einer Behörde normalerweise
regulär hinter den Kulissen abspielt, entspricht ungefähr
dem Verfahren, das wir jetzt gerade im Deutschen Bundestag erleben.
({0})
Erstens. Es ist egal, ob jemand nachts davon träumt,
dass er gut auf diese Stelle passt. Das spielt keine Rolle.
Wir werden ein reguläres Ausschreibungsverfahren
durch den Bundesumweltminister durchführen lassen.
({1})
Zweitens, Frau Höhn.
({2})
Es ist das Recht des Parlaments - ich hoffe, Sie stimmen
mir diesbezüglich zu -, eigene Ideen zu haben, die die
Regierung umzusetzen hat, sobald wir eine Mehrheit
dafür haben.
({3})
Die Umweltpolitiker von CDU/CSU und FDP hatten
gemeinsam die Idee, dass das für den Masterplan von
Herrn Röttgen eine gute Sache sein könnte. Deswegen
werden wir das umsetzen.
({4})
Ich glaube, dass der Bundesumweltminister die Sache
sehr konstruktiv begleiten wird.
({5})
Jetzt haben Sie noch eine halbe Minute fürs Finale,
Herr Kollege.
Toll. Ich mache es kurz.
({0})
Liebe Freunde von der Opposition, wenn man bei
über 20 Einzelmaßnahmen zwei Dinge so an den Haaren
herbeizieht, dann muss die Not groß sein.
({1})
Armin Schuster ({2})
Ich verstehe das ja. Die Koalition liefert im monatlichen
Rhythmus Attraktivitätssteigerungen für den öffentlichen Dienst.
({3})
Dass Sie das ärgert, ist mir völlig klar. Ich empfehle
Ihnen: Halten Sie es mit einem bekannten Münchener
Fernsehstarkoch, der in Situationen, in denen er das
Essen anderer Kollegen beurteilen soll und es eigentlich
gut findet, das aber nicht äußern will, sagt: „Ja, was
willst’n da meckern?“
({4})
Das wäre eine schöne Haltung gewesen. Das gleicht
einer Zustimmung.
Ich kann für meine Fraktion und für die Koalition
sagen: Wir werden den öffentlichen Dienst erfolgreich
weiterentwickeln. Das ist nicht die letzte Maßnahme;
wir haben weitere in der Pipeline. Am Ende wird ein
attraktives Angebot für den Einstieg in die Bundesverwaltung stehen. Wir stimmen dem Antrag der Grünen
natürlich nicht zu, aber begeistert unserem eigenen
Antrag.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Hartmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ehrlich gesagt, Herr Schuster, da wir uns kollegial
gut verstehen: Manchmal bedauere ich Sie, dass Sie diesen merkwürdigen Politikzickzackkurs der Koalitionsfraktionen im Bereich des öffentlichen Dienstrechts zu
vertreten haben. Manchmal ist es geradezu zu spüren,
wie schwer Ihnen das fällt. Aber immerhin: Sie haben in
aller Redlichkeit dargestellt, was an Großartigem, Schönem und Gutem in diesem Gesetz steht.
({0})
Deshalb brauche ich das nicht zu wiederholen oder zu
ergänzen. Vielmehr darf ich Ihnen sagen: Wir haben
bereits bei der Einbringung des Gesetzes klar erklärt,
dass wir ihm zustimmen möchten.
({1})
Denn in der Tat brauchen wir Fachkräfte in einer Zeit
des demografischen Wandels und einer größeren Konkurrenz auch im öffentlichen Dienst und müssen dafür
gute und positive Anreizsysteme schaffen.
({2})
Das ist in dem Gesetz geschehen.
Nun begab es sich aber zu jener Zeit, dass von der
ansonsten gar nicht so handlungsfähigen Koalition - nicht
etwa von Kaiser Augustus - die Initiative ausging, nun
doch einen Änderungsantrag einzubringen. Dieser
Änderungsantrag wurde dann eingebracht. Er war in
großen Teilen so, wie das üblicherweise der Fall ist.
Kleine Veränderungen wurden vorgenommen, und technische Details wurden neu beschrieben. Aber siehe da:
Schamhaft versteckt auf Seite 10 stand, dass man für die
politischen Beamten eine ganz andere Regelung als die
bisherige finden müsse. Das ist der Grund, warum die
SPD heute Abend dem Gesetz in der durch diesen
Antrag geänderten Fassung leider nicht mehr zustimmen
kann.
({3})
Denn Sie wollen, dass eine kleine Gruppe hochbezahlter Beamtinnen und Beamten mit dem goldenen
Handschlag nach Hause geht. Es sind - Sie haben die
Zahl dargestellt - auf dem Papier 422 Personen. Im
Ernstfall sind es in der Regel unter 100 Personen. Diesen
422 oder unter 100 Personen - welchen Parameter auch
immer Sie wählen möchten - steht ein Beamtenapparat
von 320 000 Personen gegenüber, wenn ich die Soldaten
und unsere Richter hinzunehme. Wir reden hier über die
Gruppe dieser, so sage ich, weniger als 100 Personen,
die allenfalls betroffen sein könnten und die im Regelfall
zwischen 9 000 und 11 000 Euro plus verdienen - nur
um einmal die Dimensionen klarzumachen, nachdem
Sie, Herr Schuster, vorhin Armut und Elend dieser
armen politischen Beamten beweint haben.
Jetzt wollen Sie dafür sorgen, dass nach einem - anscheinend von Ihnen erwarteten - Regierungswechsel
diese Beamten, die dann unter Umständen in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden, bis zu drei Jahre
versorgungserhöhend und damit zusätzliche Zahlungen
von bis zu 635 Euro fürs Nichtstun erhalten.
({4})
Das machen wir nicht mit. Das ist und bleibt ein goldener Handschlag.
({5})
Zum einen hat das nichts, aber auch gar nichts mit
Fachkräftegewinnung zu tun. Das ist ja der Titel des an
sich guten Gesetzes. Wir reden hier über Beamtinnen
und Beamte, die ab dem nächsten Jahr ausscheiden würden, und die sind, mit Verlaub gesagt, im Regelfall
weder lebensjünger, wie Sie in Ihrer Begründung anführen, noch neugewonnene Fachkräfte, bei denen eine
harte Konkurrenz gegenüber der gewerblichen Wirtschaft besteht. Nein, es geht um etwas ganz anderes: Es
geht um die Privilegierung einer kleinen Gruppe. Diese
Privilegierung ist nicht begründbar, zumal im einstweiligen Ruhestand - ich sage das wegen der Armutspredigt
von Herrn Schuster vorhin - neben den Bezügen reichlich Zuverdienstmöglichkeiten vorhanden sind, die im
Regelfall auch weidlich genutzt werden, wie wir alle
wissen. Das möchte ich niemandem verwehren, verden17880
Michael Hartmann ({6})
ken oder zum Vorwurf machen; aber wir werden keinem
Gesetzentwurf zustimmen, in dem vorgesehen ist, dass
für diese kleine Gruppe Sondertatbestände geschaffen
werden, während gleichzeitig - das ist das Problem der
Leihbeamten und anderer - im öffentlichen Dienst
immer mehr Personal abgebaut wird, zum Beispiel im
Sicherheitsbereich, sodass die Beamten dort auf dem
Zahnfleisch gehen.
({7})
Ich rate allen, nicht zu behaupten, dies sei eine Neiddiskussion; dies war an mancher Stelle zu vernehmen.
Erstens nehmen Sie mit dem, was Sie jetzt vorhaben,
Ihre eigene Entscheidung aus Ihrem letzten Regierungsjahr 1998 zurück. Das heißt, der Vorwurf träfe Sie selbst.
Zweitens ist dies die einzige der damals getroffenen
Regelungen, die jetzt korrigiert wird. Ich sage Ihnen,
geschätzter Herr Schuster, mit Verlaub: Das verstehe ich
in der Tat intellektuell nicht.
Wie erklären Sie das einem Kollegen - Sie sind Bundespolizist -, der durch dienstliche Verrichtungen
erwerbsunfähig geworden ist und durch die damals vollzogenen Änderungen Abschläge in Höhe von 10,8 Prozent hinnehmen musste? Wie erklären Sie ihm, dass die
politischen Beamten nun einen goldenen Handschlag
erhalten sollen?
({8})
Und wie erklären Sie zum Beispiel allen Bundesbeamten, die Sie bei der ausstehenden oder nicht vollzogenen
Rücknahme einer Kürzung um mindestens ein Jahr
Weihnachtsgeld geprellt haben, dass nun endlich
Gerechtigkeit für die politischen Beamten herrschen
müsse? Oder wie erklären Sie das zum Beispiel jungen
Menschen - es geht ja um Fachkräftegewinnung -, die
sich tatsächlich für den öffentlichen Dienst interessieren,
aber dann erfahren, dass es noch immer keine Mitnahmefähigkeit ihrer Ansprüche gibt? Über Neid zu sprechen, hilft an dieser Stelle nicht weiter. Wenn Sie wirklich etwas Substanzielles für qualifizierte Fachkräfte
machen wollen, dann regeln Sie die Portabilität und verweigern Sie sich diesem Thema nicht länger.
({9})
Es geht hier also nicht um eine Neiddiskussion, sondern um eine Gerechtigkeitsdiskussion. Nachwuchskräfte wirbt man nicht durch einen Hinweis auf einen
goldenen Handschlag für Spitzenverdiener, sondern
durch Anreize für Junge und Neue.
Bei der ganzen Argumentation hören wir immer wieder ein ganz triftiges Argument: Weil sie später so
schlecht dastehen, findet man niemanden mehr, der politischer Beamter werden will. Vielleicht findet diese
Koalition niemanden mehr, der politischer Beamter werden will; das ist eine Möglichkeit.
({10})
Eine andere Möglichkeit ist die, dass das stimmt, was
der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes bei der
Anhörung gesagt hat; dieses Zitat hatten Sie vorhin leider vergessen, Kollege Schuster. Er hat gesagt: Wer
nicht bereit ist, das Risiko einzugehen, politischer Beamter zu werden, der ist von vornherein auch charakterlich
nicht qualifiziert, eine solche Position zu übernehmen.
({11})
Ich schließe mich dem CDU-Mitglied Peter Heesen in
dieser Sache gerne an.
Es passt in die Gesamtszenerie, dass jene, um die es
geht - es geht zweifelsohne um hochqualifizierte und
hochengagierte Menschen im öffentlichen Dienst -, aus
dieser Diskussion nicht positiv herausgehen werden. Das
haben Sie verursacht. Sie werden als Absahner mit einer
Vollkaskomentalität wahrgenommen werden.
Es gibt zu dieser abendlichen Stunde - da bekommen
das nicht viele Menschen mit - immer noch die Chance,
dieses Vorhaben zurückzunehmen. Dann würden wir
dem Gesetzentwurf zustimmen, und der gesamte Beamtenapparat und nicht nur eine Gruppe von wenigen Personen wäre zufriedener und könnte dem Weihnachtsfest
glücklicher entgegengehen.
Vielen Dank.
({12})
Stefan Ruppert ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Jammer,
dass ein so kompetenter und angenehmer Kollege wie
Herr Hartmann
({0})
in seiner Rede zum öffentlichen Dienstrecht und zur
Fachkräftegewinnung im Bund kein Wort dazu gesagt
hat, dass der einfache Dienst, der mittlere Dienst und der
gehobene Dienst von der geplanten Regelung in diesem
Bereich sehr stark profitieren.
({1})
Herr Hartmann, Sie haben die Gegenargumente selbst
vorweggenommen. Sie haben eine typische Debatte geführt. Wenn es um den höheren Dienst geht, wird mit gezielten Argumenten Neid gegenüber hochqualifizierten
Kolleginnen und Kollegen geschürt.
({2})
Das ist besonders betrüblich.
({3})
Was werden wir mit diesem Gesetz erreichen? In Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen
Wandels sorgt es dafür, dass viele Menschen im öffentlichen Dienst, die Tag für Tag wunderbare Arbeit leisten,
bessergestellt werden. Ich nenne beispielsweise das Eingangsamt für IT-Fachkräfte und Ingenieure. Ein anderes
Beispiel sind die Zulagen für Mannschaftsdienstgrade in
der Bundeswehr. Viele dieser Punkte sind in diesem Gesetzentwurf enthalten. Es hätte Ihnen gut angestanden,
wenn Sie dazu etwas mehr gesagt hätten.
Aber nein, Sie widmen sich ausschließlich einem
Punkt.
({4})
Jeder Abgeordnete, der eine solche Regelung in Bezug
auf höhere Besoldungsgruppen verteidigen muss, fragt
sich in der Tat: Hat das Potenzial zur Skandalisierung?
({5})
Dieses Potenzial zur Skandalisierung haben Sie aus meiner Sicht leider in populistischer Manier zu nutzen versucht.
({6})
Wie ist der zugrunde liegende Sachverhalt? Ich nenne
Ihnen ein Beispiel. Ein 49-Jähriger, der sich auf eine Abteilungsleiterstelle bewirbt - so ergeht es übrigens auch
Parteifreundinnen und Parteifreunden von Ihnen -, geht
das Risiko ein, auf seine Lebenszeit gerechnet eine halbe
Million Euro zu verlieren. Jetzt kann man natürlich sagen: Das sind sehr reiche Menschen. - Aber es ist festzustellen, dass immer mehr Unterabteilungsleiter sagen, sie
würden zwar gerne die Aufgabe, nicht aber das Besoldungsamt übernehmen. Nun behaupten Sie: Wer so etwas sagt - weil er vielleicht zwei Kinder hat, die studieren -, sei charakterlich schlicht nicht geeignet. - In
Anbetracht dessen, dass sich Menschen reihenweise anders entscheiden, finde ich, das ist ein bisschen zu pauschal beurteilt.
({7})
Man kann natürlich immer sagen: Das sind hochbezahlte Beamte. Am besten nehmen wir denen sogar noch
Geld weg. - Aber man sollte auch einmal überlegen, ob
sich eine Beförderung für den Betreffenden nicht positiv
auswirken muss. Ich kenne niemanden, der von dieser
Regelung betroffen ist. Mit mir hat niemand darüber gesprochen. Ich habe mir die Sache in Ruhe überlegt, und
der Sachverhalt hat mich überzeugt.
({8})
Meine These lautet: Was die Fachkräftegewinnung
betrifft, dürfen wir beim gegenwärtigen Stand nicht aufhören. Bei der Portabilität, der Mitnahme von Altersversorgungsansprüchen beim Wechsel in die Privatwirtschaft, müssen wir noch etwas tun. Wir müssen dafür
sorgen, dass wir dauerhaft die besten Leute für den öffentlichen Dienst gewinnen.
Herr Kollege Ruppert, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn zulassen?
Ja, gern.
Herr Kollege Ruppert, stimmen Sie mir zu, dass es
die schwarz-gelbe Regierung war, die diese Regelung,
über die wir gerade sprechen und die von den Oppositionsparteien kritisch beurteilt wird, am 3. April 1998
selbst aufgehoben hat? Ihre Begründung lautete damals
wie folgt - ich zitiere -:
Die Änderung stellt vor dem Hintergrund der gebotenen Einschränkung der Versorgung politischer
Beamter sicher, daß die Zeit im einstweiligen Ruhestand selbst nicht mehr als ruhegehaltfähige Dienstzeit gilt.
So lautete damals Ihre Begründung. Sie ist und bleibt
richtig.
Würden Sie mir weiterhin zustimmen, dass in Ihrem
jetzt vorgelegten Gesetzentwurf steht, dass die Mehrausgaben für die privilegierten Beamten mit einem Einkommen zwischen 9 000 und 11 000 Euro, die diese Zuschläge erhalten sollen, zu keinen Mehrkosten führen
werden, weil sie vom Ministerium selbst, nämlich aus
dem Gesamtetat, finanziert werden müssen, was nichts
anderes bedeutet, als dass im Endeffekt die Mitarbeiter,
die einer der unteren Lohngruppen angehören, durch
Einsparungen, die bei ihnen vorgenommen werden, dazu
beitragen, dass diese Spitzengehälter finanziert werden
können, zum Beispiel beim Sachverständigenrat - über
ihn haben wir vorhin gesprochen -, wo die umstrittene
B-4-Stelle unter anderem zulasten der Mitarbeiter, die
im Sekretariatsbereich dringend gebraucht würden, gegenfinanziert werden muss?
Sehr geehrte Kollegin, ich stimme Ihnen zu, dass es
1998 in der Tat die schwarz-gelbe Regierung war, die
dieses Gesetz erlassen hat. Ich möchte aber deutlich machen: Man muss nach einigen Jahren überprüfen, ob sich
ein Gesetz bewährt hat. Wir setzen die alte Regelung ja
nicht wieder instand, sondern wir sagen: Es muss eine
Risikoteilung geben. Derjenige, der ein politisches Beamtenamt anstrebt, muss ein Risiko eingehen. Wir machen es eben nicht so, dass wir den Zustand von 1998
wiederherstellen, sondern wir verteilen das Risiko auf
halber Strecke anders, weil wir die Erfahrung gemacht
haben, dass immer mehr Beamte den Wechsel vom Unterabteilungsleiter zum Abteilungsleiter nicht mehr vollzogen haben oder beantragt haben, in der Besoldungsgruppe B 6 zu verbleiben. Das führt in der Tat zu Problemen in den einzelnen Häusern.
({0})
Ein letzter Punkt, der mich als jemand, der durchaus
ein Freund von Anhörungen ist, besonders interessiert
hat: Die SPD hat eine Anhörung beantragt. In dieser Anhörung ging es um die politischen Beamten und um den
Sachverständigenrat für Umweltfragen. Bereits in der
gestrigen Fragestunde wurde hier nachhaltig versucht,
dieses Thema zu skandalisieren. Das Interessante war,
dass von denjenigen, die an diesem Thema vermeintlich
sehr interessiert sind, nämlich den Grünen, kein einziger
Kollege an dieser Anhörung teilgenommen hat.
({1})
Ich finde, wenn Sie nicht an der Anhörung teilnehmen,
dann können Sie hier auch nicht so vehement Kritik
üben.
({2})
Es ging Ihnen anscheinend nur darum, die Dinge im Plenum und vor laufenden Kameras zu besprechen, anstatt
sich den Sachverstand zu erwerben, der dort hätte erworben werden können.
Ich sage das an dieser Stelle sonst nicht, weil man auf
Kollegen nicht in dieser Form einschlägt;
({3})
aber wer so austeilt, der muss auch einstecken können
und es sich gefallen lassen, wenn hier darauf hingewiesen wird, dass er an der Anhörung überhaupt nicht teilgenommen hat.
({4})
Insofern: Das ist ein guter Gesetzentwurf. Herr von
Notz, wenn Sie in der Anhörung gewesen wären, dann
hätten auch Sie heute zugestimmt.
({5})
So werden Sie wahrscheinlich leider ablehnen; aber das
werden wir nicht mehr verhindern können.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Frank Tempel für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es geht hier um ein wichtiges Thema, nämlich um eine verbesserte Fachkräftegewinnung im Bund.
({0})
Um die Verständlichkeit zu erhöhen, gibt es zwei
Möglichkeiten, nämlich erstens, dass der Redner etwas
lauter spricht, und zweitens, dass sich diejenigen, die etwas hören wollen, etwas weniger laut unterhalten. Ich
empfehle die Verbindung beider Verfahren.
({0})
Zu diesem wichtigen Thema gehören die finanziellen
Anreize, die Überalterung in den Bundesbehörden, der
Fachkräftemangel im Bundesgebiet insgesamt - es sind
ja mehrere Branchen betroffen - und die Antwort auf die
Frage, wie die Maßnahmen des Bundes auch einmal
nicht auf Kosten der Länder organisiert werden können.
Wir hätten an dieser Stelle die Erkenntnisse aus der
Debatte zur Berufszufriedenheit in der Bundespolizei
sehr gut nutzen können. Dort hat sich gezeigt, dass es
eben nicht nur um die Bezahlung der Fachkräfte geht,
sondern auch um Themen, die Sie noch nicht ausreichend behandeln, wie Überstunden, Aufgabenhäufung,
Beförderungsstau, Vereinbarkeit von Familie und Beruf
usw. Hier gäbe es viel zu reden. Aber nein, wir sind
durch Ihre Art und Weise, hier zu agieren, gezwungen,
eine Debatte zu führen, die Ihre Mauscheleien offenlegt.
({0})
Sie haben es ja nicht öffentlich gemacht; aber unter
der Teilüberschrift „Änderung weiterer dienstrechtlicher
Vorschriften“ haben Sie solche Dinge wie den finanziellen Nachschlag für politische Beamte versteckt. Das hat
der Herr Hartmann hier wunderschön vorgerechnet. Deswegen kann ich auch gleich zum nächsten Thema übergehen.
Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf ganz neue Versorgungsposten schaffen. Ja, für die Linke ist das ein
Skandal. Das, was Sie hier zum Jahresende betreiben, ist
für die Linke ein Weihnachtsmarkt.
({1})
Sie wollen einen Versorgungsposten, einen Direktorenposten, mit einer B-4-Besoldung schaffen. So weit,
so schlecht. Der Gipfel aber ist, dass Sie damit einen
parteipolitisch angebundenen Direktorenposten schaffen wollen. Dieser Direktor soll dem Sachverständigenrat für Umweltfragen, kurz: SRU, vorangestellt werden.
Für diejenigen, die das nicht wissen: Der SRU ist ein
Gremium aus sieben Professoren, das die Politik und natürlich auch die Regierung in Umweltfragen beraten soll,
und zwar parteipolitisch unabhängig. Das geschah zuletzt in wichtigen Fragen, wie zum Beispiel beim Atomausstieg, wobei der Rat Ihnen nicht unbedingt geholfen
hat. Doch dieser Direktorenposten war, wie bereits erwähnt, mit dem Rat selbst weder besprochen, noch war
er erwünscht.
({2})
Einen Augenblick, Herr Kollege. - Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die aus nachvollziehbaren Gründen jetzt allmählich in den Plenarsaal kommen, bitten,
erstens Platz zu nehmen und zweitens für einen Aufmerksamkeitspegel zu sorgen, der dem Beratungsgegenstand angemessen ist. Erst dann setzen wir die Debatte
fort.
({0})
Ich bitte noch einmal darum, Platz zu nehmen. Es gibt
doch noch genügend freie Plätze.
({1})
Bitte schön.
Danke schön. - Ich finde es gut, dass sich so viele für
dieses Thema interessieren.
({0})
Ein guter Vorschlag kam übrigens gerade zu dieser
Problematik. Wenn Geld in die Hand genommen werden
soll, so finden wir das nicht schlecht. Aber mit zusätzlichen Referentenstellen wäre diesem Sachverständigenrat
wesentlich mehr geholfen.
({1})
Im Plenum wird ja manchmal viel geredet. Sie haben
sich in den letzten Tagen auch Mühe gegeben, neue Begründungen zu finden. Aber ich möchte Sie nicht entlassen, ohne noch einmal aus diesem FDP-Papier zu zitieren:
Hierdurch
- also durch den Direktorenposten soll der SRU auch in seiner Außendarstellung dem
unmittelbaren politischen Einfluss von Rot-Grün
entwunden und dauerhaft in den ({2})politischen Einfluss- und Steuerungsbereich der Koalitionsfraktionen gebracht werden.
Das ist der Grund und nichts anderes.
({3})
Sie wollen ein neutrales Beratungsgremium auf Parteilinie bringen. Das ist das Ziel, und das muss hier auch
so gesagt werden.
({4})
In dem Papier ist übrigens noch mehr zu lesen. Darin
steht auch, dass die Schaffung zunächst keine Konsequenzen hätte und kaum Beachtung finden würde. Das
ist schiefgegangen, und zwar gründlich.
Aus dem Papier können wir auch erfahren, dass das
für Sie nicht einmal eine Besonderheit darstellt, dass ein
solches Verfahren schon häufiger von Ihnen angewandt
wurde. Das heißt, es ist bei Ihnen sogar alltäglich, sich
auf diese Weise Kontrolle und Posten zu verschaffen.
({5})
Die Linke fordert Sie auf, diese Änderung sofort zurückzunehmen. Das geht auch, indem Sie dem Antrag
der Grünen zustimmen, der hier noch zur Abstimmung
steht. Ich hätte mich gefreut, wenn noch etwas zu den
politischen Beamten enthalten gewesen wäre.
Die Linke hätte übrigens diesem Gesetzentwurf in
Bezug auf den Fachkräftebedarf, zu dem er richtige
Schritte enthält - auch wenn sie noch nicht ausreichend
sind -, sehr gerne zugestimmt. Nun werden wir uns,
wenn der Änderungsantrag der Grünen nicht durchkommt, aber enthalten müssen.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Entwurf - das wurde hier gesagt - verfolgt im Grundsatz ein richtiges Anliegen. Der
Bund muss für qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber attraktiv bleiben und attraktiver werden. Das Grundkapital unseres Staates sind vor allem die Menschen, die
für ihn arbeiten. Der Entwurf bietet einen bunten Strauß
an Verbesserungen, zumeist in Gestalt von finanziellen
Anreizen. Das reicht natürlich nicht. Wer Interesse hat,
für den Bund zu arbeiten, den lockt primär eben nicht
das Geld. Wir dürfen die Interessierten jedenfalls nicht
durch starre Hierarchien abschrecken, sondern brauchen
überzeugende Behördenstrukturen, flache Hierarchien
und durchgehende Aufstiegsmöglichkeiten.
({0})
Insofern bleibt viel zu tun. Aber von Ihren eventuell
einmal vorhandenen lauteren Absichten zur Verbesserung der Fachkräftegewinnung wird öffentlich - das
sage ich Ihnen, Herr Kollege Ruppert - wenig bleiben;
denn als ginge es Ihnen darum, selbst hier bei grundsätzlich sinnhaften Vorhaben ein bisschen MövenpickAtmosphäre zu erzeugen, nutzen Sie diesen Gesetzentwurf als Trojanisches Pferd für Ihre unlauteren Absichten.
({1})
Der Änderungsantrag der schwarz-gelben Koalition
zu diesem Gesetzentwurf ist von bemerkenswerter
Dreistigkeit; er ist gespickt mit sachfremden Vorstößen,
die mit der Fachkräftegewinnung rein gar nichts zu tun
haben. - Herr Kollege Ruppert, da können Sie noch so
ungläubig gucken. Es geht um Ämterpatronage. Da sind
Ihre Ausreden einfach zu dünn, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
Zur Wiedereinführung der Ruhebezüge bei einstweiligem Ruhestand hat der Kollege Hartmann hier schon etwas gesagt. Wer wie die Koalition bestehende Regelungen als drastische Einbuße bezeichnet, zeigt sein Herz
nur für die topverdienenden Spitzenbeamten. Das soziale Grundverständnis dieser Koalition bei der Beamtenversorgung ist: unten immer weiter streichen, oben
ordentlich draufschaufeln.
({3})
Hier werden Fallschirme für eine FDP-Besatzung
aufgespannt, deren Maschine lichterloh brennt und die
offenbar jeden Moment herunterkommt.
({4})
Das ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein handfester Fall
von Selbstbedienung im Amt. Die Politik wird in Verruf
gebracht, und die Politikerverdrossenheit wird weiter gefördert. Das darf sich dieses Parlament nicht gefallen
lassen, meine Damen und Herren.
({5})
Schließlich der Fall der Direktorenstelle beim Sachverständigenrat für Umweltfragen: Hier wird mit leeren
Behauptungen versucht, die Notwendigkeit einer neuen
Stelle zu begründen. Man spricht von akademischer
Aufwertung. Die betroffene Institution selbst hat man zu
dieser akademischen Aufwertung vorsichtshalber vorher
nicht befragt. Warum eigentlich nicht? Ich kann es Ihnen
allen sagen: Die Stelle ist unnütz, und der SRU will sie
nicht.
({6})
Der Bundesumweltminister hat in dieser Woche auch
noch ausdrücklich die Unabhängigkeit dieses Sachverständigenrats gewürdigt. Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, argumentieren hingegen
genau wie in dem geleakten Vermerk der FDP-Fraktion
beschrieben. Da unterscheiden Sie nämlich zwischen
dem Ziel und der Begründung nach außen. Bei der Begründung nach außen sprechen Sie wider besseres Wissen von der akademischen Aufwertung. Bezüglich des
Ziels heißt es aber - der Kollege Tempel hat es wortwörtlich zitiert -, dass das Gremium „dauerhaft in den … politischen Einfluss- und Steuerungsbereich der Koalitionsfraktionen“ gebracht werden soll.
Ihr Ziel ist also, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
Versorgungsposten für die FDP zu schaffen und gleichzeitig die Unabhängigkeit dieses Gremiums aufzubohren. Wie peinlich kann es politisch eigentlich noch werden, meine Damen und Herren?
({7})
In der gestrigen Fragestunde hat die zuständige
Staatssekretärin des Umweltministeriums ausdrücklich
erklärt, es handele sich bei der Schaffung dieser Stelle
um einen Wunsch der Koalitionsabgeordneten, dem sich
das Ministerium lediglich beuge.
({8})
Zur Vergewisserung, ob die Schaffung dieser unsinnigen Stelle tatsächlich dem Wunsch der Abgeordneten
dieses Hauses entspricht, haben wir daher die namentliche Abstimmung beantragt.
({9})
Unser Änderungsantrag, über den wir namentlich abstimmen, zielt auf die direkte Streichung dieser mit
nichts zu begründenden Stelle. Daher bitte ich Sie ganz
herzlich um Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.
Ganz herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und
zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8178, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/7142 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8184 vor, über den wir zuerst abstimmen. Dazu
ist namentliche Abstimmung beantragt.
Die Abstimmung beginnt, sobald alle Urnen besetzt
sind. - Das ist der Fall. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.
Gibt es noch jemanden im Saal, der seine Stimmkarte
nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Die Abstimmung ist geschlossen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche
ich die Sitzung. Das ist deswegen unvermeidlich, weil
wir das Abstimmungsergebnis kennen müssen, um über
Präsident Dr. Norbert Lammert
den Vorschlag des Ausschusses im Ganzen abstimmen
zu können.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den vorhin angesprochenen Änderungsantrag zur zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung - Drucksachen 17/7142, 17/8178 und
17/8184 - bekannt: abgegebene Stimmen 536. Mit Ja,
also für den Änderungsantrag, haben gestimmt 239. Mit
Nein haben gestimmt 296. Ein Kollege oder eine Kollegin hat sich der Stimme enthalten. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 536;
davon
ja: 239
nein: 296
enthalten: 1
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({0})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({1})
Hubertus Heil ({2})
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({3})
Frank Hofmann ({4})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({5})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({6})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({7})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({8})
Marlene Rupprecht
({9})
Axel Schäfer ({10})
Bernd Scheelen
({11})
Werner Schieder ({12})
Silvia Schmidt ({13})
Carsten Schneider ({14})
Swen Schulz ({15})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({16})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({17})
Volker Beck ({18})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({19})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Präsident Dr. Norbert Lammert
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({20})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({21})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({22})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({23})
Manfred Behrens ({24})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({25})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({26})
Dirk Fischer ({27})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({28})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({29})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({30})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({31})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({32})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({33})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({34})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({35})
Anita Schäfer ({36})
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({37})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({38})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({39})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({40})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({41})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({42})
Peter Weiß ({43})
Sabine Weiss ({44})
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({45})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({46})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({47})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({48})
Michael Link ({49})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({50})
({51})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({52})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({53})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({54})
Enthalten
CDU/CSU
Josef Göppel
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? Das ist die Opposition, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthält sich jemand? - Die Linke. Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Folgen von Kassenschließungen - Versicherte
und Beschäftigte schützen, Wettbewerb stärken, Zusatzbeiträge abschaffen
- Drucksache 17/6485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({55})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Vorge-
sehen als Rednerinnen und Redner waren die Kollegin-
nen und Kollegen Erwin Rüddel, Bärbel Bas, Heinz
Lanfermann, Harald Weinberg und Birgitt Bender. - Das
scheint einvernehmlich unter den Beteiligten zu sein.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6485 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie auch damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 9 a und b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenwürde ist nicht verhandelbar - Be-
dingungen in griechischen Flüchtlingslagern
sofort verbessern
- Drucksache 17/7979 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechtliche Situation für Flüchtlinge
in Griechenland verbessern - Für eine solidarische Flüchtlingspolitik der EU
- Drucksache 17/8139 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({56})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 5
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese
Aussprache 30 Minuten andauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Stephan Mayer für die CDU/CSU das Wort.
({57})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist wirklich keine Selbstverständlichkeit, dass vier Fraktionen dieses Hauses
heute einen gemeinsamen Antrag vorlegen. Es ist zudem
alles andere als selbstverständlich, wenn dies im Bereich
der Innenpolitik erfolgt.
({0})
An sich sind die Themen, mit denen wir uns in der Innenpolitik beschäftigen, sehr konfliktträchtig. Vor dem
Hintergrund erachte ich es wirklich als große Leistung
und großen Erfolg, dass es uns, den vier Fraktionen, gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu einem Thema
zu erarbeiten, das uns alle gleichermaßen besorgt und
besorgen sollte.
({1})
Der Antrag geht zurück auf eine Delegationsreise des
Innenausschusses im September sowohl nach Griechenland als auch in die Türkei. Wir haben uns intensiv mit
der Flüchtlingssituation im griechisch-türkischen Grenzgebiet beschäftigt. Ich glaube, es erging allen Teilnehmern der Delegation gleichermaßen: Wir waren erschüttert und sind nach wie vor außerordentlich besorgt, wie
die Situation vor Ort in den Flüchtlingslagern ist. Wir
haben das Aufnahmelager in Filakio und die Polizeistation in Tychero besucht.
Ich sage hier ganz offen und in keiner Weise anklagend, sondern wirklich sehr besorgt und nachdenklich:
Ich halte es für ein Land, das Mitglied der Europäischen
Union ist, für nicht würdig, dass derartige humanitäre
Zustände dort herrschen. Deswegen sollte von dieser
Debatte und auch von diesem Antrag ein klarer Appell
an die griechische Adresse, insbesondere an die der griechischen Regierung, ausgehen, hier schnellstmöglich,
also ohne weitere Verzögerung, für humane, menschenwürdige Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland zu sorgen.
({2})
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Es geht nicht darum, Griechenland an den Pranger zu stellen. Es geht
auch nicht darum, hier eine Anklage zu erheben, sondern
es muss innerhalb der Europäischen Union das gemeinsame Interesse bestehen, für diejenigen Flüchtlinge, die
den schweren Weg über die türkisch-griechische Grenze
auf sich nehmen, zu sorgen.
Ich sage auch in aller Deutlichkeit: Die Verbesserung
der Lage in diesen Flüchtlingslagern ist in erster Linie
die Aufgabe der griechischen Seite; aber es ist natürlich
auch ein europäisches Thema. Es bedarf hier der notwendigen europäischen Solidarität. Wir alle haben Verständnis dafür, dass Griechenland momentan in außerordentlich schwierigen Verhältnissen steckt, dass die
Haushaltssituation, die Konsolidierungsmaßnahmen
Griechenland vor enorme Herausforderungen stellen.
Um es ganz klar zu sagen: All diese - teilweise sogar
existenziellen - Probleme, die die griechische Regierung
derzeit beschäftigen, dürfen sie nicht ihrer Verantwortung entheben, schnellstmöglich für ordentliche, für
vernünftige und für menschenwürdige Zustände zu sorgen.
Ich sage dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass
uns deutlich avisiert wurde, dass es ausreichend Mittel
seitens der Europäischen Union gibt. Griechenland stünden aus vier verschiedenen Fonds, insbesondere aus dem
Flüchtlingsfonds der Europäischen Union, für die Jahre
2010 bis 2012 insgesamt 223 Millionen Euro zur Verfügung. Wie uns von vielen Seiten bestätigt wurde, werden
diese Mittel aber leider Gottes entweder nicht abgerufen
oder nicht beantragt, auf jeden Fall nicht in Anspruch
genommen. Es gilt also nicht die Ausrede, dass es keine
ausreichenden finanziellen Mittel gibt; vielmehr fehlt es
ganz konkret an politischem Willen auf der griechischen
Seite. Das betrifft alle politischen Parteien in Griechenland. Diesem Thema wird durchaus Bedeutung beigemessen, wenn man die Griechen darauf anspricht. Die
griechischen Gesprächspartner, die wir in Athen getroffen haben, haben uns, vielleicht sogar ehrlich, zu verstehen gegeben, dass sie besorgt sind über diese Situation
und dass sie sich dafür womöglich sogar schämen; aber
es ist leider Gottes bisher nichts passiert.
Wir dürfen deswegen nicht müde werden, hier immer
wieder deutlich zu machen, dass Griechenland in der
Verantwortung steht. Wir haben uns bei diesem Antrag
in erster Linie auf die schnellstmögliche Herstellung humanitärer, menschenwürdiger Zustände konzentriert.
Wenn es darum geht, sich Gedanken darüber zu machen,
welche Konsequenzen man aus dieser Situation zieht,
kann man mit Sicherheit unterschiedlicher Auffassung
sein. Ich glaube aber, es sollte in diesem Haus ein gemeinsames Ansinnen sein, dass wir zusammen mit den
Griechen - es gibt ein klares Bekenntnis der Europäischen Union, sich dieses Themas anzunehmen - dafür
sorgen, dass Flüchtlinge in ordentlichen Unterkünften
untergebracht werden, dass ihnen hygienische Hilfe zuteil wird, dass sie ärztliche Versorgung bekommen und
dass sie zumindest ein paar Stunden am Tag aus ihren
Zellen - es sind wirklich Zellen, in die sie eingepfercht
sind - herauskönnen. Ich glaube, das muss unser gemeinsames Anliegen sein.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der
Bundesregierung sehr dankbar, dass sie gerade in den
letzten Monaten, auch in den entsprechenden Sitzungen
des JI-Rates, immer wieder deutlich gemacht hat, dass
das Ganze ein Anliegen der Bundesregierung und damit
der Bundesrepublik Deutschland ist. Ich möchte insbeStephan Mayer ({4})
sondere Ihnen, sehr geehrter Herr Staatssekretär
Dr. Schröder, danken, dass Sie in mit Sicherheit nicht
einfachen Gesprächen mit Ihrem griechischen Kollegen,
mit dem griechischen Bürgerschutzminister, immer wieder insistiert haben. Sie haben deutlich gemacht, dass
wir uns mit dem, was bisher gemacht wurde, nicht zufriedengeben - ganz im Gegenteil. Wir fordern, dass gerade angesichts des anbrechenden Winters im Evros-Gebiet, wo die Temperaturen teilweise sehr niedrig sind,
schnellstmöglich für Verbesserungen gesorgt wird.
Ich bin der Bundesregierung auch dafür sehr dankbar,
dass sie insbesondere vor zwei Wochen noch einmal
deutlich gemacht hat, dass die Dublin-II-Verordnung gegenüber Griechenland weiterhin ausgesetzt ist, solange
in den Unterkünften auf griechischer Seite keine ordentlichen, humanen Bedingungen vorherrschen, und dass
sie von Rückführungen aus Deutschland nach Griechenland absieht.
({5})
Ich bin dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich sehr
dankbar, dass er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass für das gesamte kommende Jahr bis zum
12. Januar 2013 von Rückführungen nach Griechenland
abgesehen wird. Es wäre nicht akzeptabel und es wäre
nicht hinnehmbar, wenn unter den jetzigen Bedingungen
Flüchtlinge nach Griechenland zurücküberstellt werden.
Hier gilt es wirklich, schnellstmöglich Vorsorge zu treffen.
Ich sage ganz offen: Das ist natürlich nicht nur eine
Aufgabe der griechischen Seite, sondern es gibt auch einen Verantwortungsbereich, der die Türken betrifft. Es
gibt ein Rückführungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, das von der türkischen
Seite bislang leider Gottes nicht ratifiziert wurde. Die
Türken weigern sich unnachgiebig, ihrer Verpflichtung
nachzukommen. Man muss bei aller Fairness also auch
sehen, dass es nicht nur eine Verantwortung der griechischen Seite gibt, sondern dass genauso auch die türkische Seite in der Verantwortung steht.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist wichtig, dass von der heutigen Debatte der klare Appell ausgeht, dass wir uns nicht mit dem zufriedengeben,
was in der Vergangenheit geschehen ist - ganz im Gegenteil. Allerdings sehen wir es aber weiterhin für sinnvoll an, dass die deutsche Seite Verantwortung insoweit
wahrnimmt, als Bundespolizeibeamte im Rahmen von
Frontex im griechischen Grenzgebiet eingesetzt werden.
Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass es gut ist, dass
Frontex vor Ort ist. Frontex hat nämlich dazu beigetragen, dass die Spannungen, die zwischen der griechischen
und der türkischen Seite bestehen, etwas abgebaut wurden.
Ich halte es aber zugleich für richtig, dafür zu sorgen,
dass deutsche Beamte, die dort im Rahmen des FrontexEinsatzes tätig sind, weder die Transporte von Flüchtlingen in Aufnahmelager begleiten noch in diesen Lagern
selbst präsent sind. Die Zustände in diesen Aufnahmelagern sind derzeit inhuman; diese Lager weisen keine
menschenwürdigen Zustände auf. Hier muss - das ist in
diesem Zusammenhang noch einmal klar zu sagen schnellstens Abhilfe geschaffen werden. Dazu soll unser
Antrag dienen. Ich bitte um größtmögliche Unterstützung dieses Hauses.
({6})
Lieber Kollege Mayer, ich nutze die Gelegenheit
gerne, Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Wir freuen uns, dass Sie sich entschlossen haben, den
größeren Teil des Abends mit uns gemeinsam hier zu
verbringen,
({1})
und wünschen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute.
Nun hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
- Wir machen es selbstverständlich so, wie Sie es untereinander verabredet haben. Jetzt redet also zuerst Frau
Kolbe, und später folgt der Kollege Veit. Bitte schön,
Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann mich noch sehr gut an das Gefühl der Hilflosigkeit erinnern, das mich befallen hat, als
wir auf unserer Delegationsreise erst das Aufnahmelager
Filakio und später die Polizeistation Tychero besucht haben. Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was
wir dort gesehen haben, möchte ich Ihnen ein wenig beschreiben, wie es in Tychero zugeht.
Es handelt sich um eine Polizeistation, in der Menschen, die die türkisch-griechische Grenze übertreten haben - zum Teil sind das Asylsuchende, zum Teil sind es
sogenannte illegale Migrantinnen und Migranten -, bis
zu sechs Monate festgehalten werden. Wir haben dort einen Zellenraum gesehen und auch betreten können. In
Deutschland würde man ihn als einen 100 Quadratmeter
großen dunklen Kellerraum beschreiben. In diesem waren etwa 40 Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Geschlafen haben sie auf Matratzenfetzen, die unangenehm rochen. Die sanitären
Anlagen waren in einem unbeschreiblichen Zustand.
Man konnte fast froh sein, dass in dem Raum kein elektrisches Licht war. Es gab kein Warmwasser, es gab
keine Heizung, es gab keine Fensterscheiben.
Die Menschen klagten über schlechte medizinische
Versorgung und schlechtes Essen. Am schlimmsten war
aus unserer Sicht diese unglaubliche Enge und die fehlende Möglichkeit, diese Zelle auch nur einmal am Tag
irgendwie zu verlassen. Das heißt, die Menschen waren
Daniela Kolbe ({0})
dort unter diesen schlimmen Bedingungen rund um die
Uhr eingesperrt, und zwar bis zu sechs Monate.
Ich kann mich an einen gebildeten Mann aus dem Iran
oder aus Syrien erinnern, der, als er mit uns gesprochen
hat, mit der Genfer Flüchtlingskonvention auf Englisch
vor uns herumwedelte und darauf hinwies, dass ihm als
Flüchtling doch auch Rechte zustünden. Ich kann mich
noch gut erinnern, wie hilflos ich mich gefühlt habe, als
ich ihm bloß sagen konnte: Wir werden uns um Verbesserungen bemühen. Wir werden beim Minister insistieren. Wir werden versuchen, irgendetwas zu tun, damit
diese Zustände abgestellt werden.
Dass daraus jetzt ein interfraktioneller Antrag geworden ist, beweist zunächst einmal, wie unbeschreiblich
die Situation war, wie sehr sie uns erschüttert und berührt hat und wie bewegend das für uns alle war. Menschenrechte sind nicht verhandelbar, in keiner Situation.
({1})
Griechenland ist hier in der Pflicht. Das ist das Signal,
das heute von dieser Debatte ausgehen muss und ausgehen wird.
Wir müssen uns zugleich immer bewusst sein, dass
wir an Griechenland das Signal senden müssen: Ihr seid
in der Verantwortung; aber wir sehen auch die schwierige Situation, in der ihr euch befindet. Denn ein Großteil der Flüchtlinge, die derzeit zu Hunderttausenden
nach Europa strömen, wählen die Grenze zwischen der
Türkei und Griechenland. Sie kommen in ein Land, das
von einer verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise
erschüttert wird; ein Land mit 11 Millionen Einwohnern,
das sich damit konfrontiert sieht, dass dort über 1 Million Menschen illegal lebt.
Darüber, wie man damit umgeht, gibt es keinen Konsens in diesem Haus. Die SPD würde sagen: Wir müssen
endlich darüber sprechen, wie wir eine europäische Verantwortungsteilung hinbekommen und dass wir Griechenland und auch Malta in dieser Situation nicht allein
lassen können.
({2})
Darüber gibt es hier keinen Konsens. Ich würde aber
sagen: Es gibt noch keinen Konsens; denn dass wir
irgendwie agieren müssen, liegt, glaube ich, auf der
Hand.
Es gibt aber einen Konsens, dass wir niemanden mehr
nach Griechenland zurückschicken, auch 2012 nicht.
Das ist ein großer Erfolg. Es gibt überdies den Konsens,
dass wir die Griechen auffordern, in diesen Lagern umgehend menschenwürdige Bedingungen herzustellen.
Wir appellieren an Griechenland, das endlich zu gewährleisten, und verweisen dabei noch einmal auf die europäischen Hilfen, die zur Verfügung stehen.
Dass das etwas bringt, konnten wir von NGOs erfahren, die uns nach unserem Besuch berichtet haben, dass
sich einige Kleinigkeiten verbessert haben - sei es nur
die Farbe an den Wänden, seien es nur neue Matratzen,
aber es bewegt sich etwas. Deshalb sage ich: Lassen Sie
uns heute gemeinsam ein ganz starkes Zeichen in Form
eines Appells an Griechenland setzen. Griechenland
muss endlich handeln, damit sich diese für Europa
beschämenden Bedingungen endlich verbessern.
({3})
Das Wort hat der Kollege Serkan Tören für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! An der griechisch-türkischen Grenze werden Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in griechischen Haftlagern festgehalten. Dieser
interfraktionelle Antrag ist ein gemeinsamer Appell an
die griechische Regierung zu einem humanitären
Umgang mit Flüchtlingen.
Unsere Forderungen in diesem Antrag sind ganz klar:
Es ist erforderlich, die menschenunwürdigen Zustände
in den Auffanglagern des Landes endlich zu beenden.
Dazu sollten die hierfür bereitstehenden Mittel aus dem
EU-Flüchtlingsfonds endlich beantragt werden. Außerdem sollte Griechenland zügig mit dem Aufbau eines
funktionierenden Asylsystems beginnen und die Migranten anderweitig unterbringen, solange sich die Situation
in den Auffanglagern nicht gebessert hat.
Die Bundesregierung möchten wir ermuntern, sich in
bilateralen Verhandlungen mit Griechenland weiter für
ein Ende dieser unhaltbaren Zustände einzusetzen. In
diesem Zusammenhang möchte ich mich für die bisherigen Bemühungen bedanken. So hat sich die Bundesregierung am 27. und 28. Oktober dieses Jahres im Brüsseler Rat für Justiz und Inneres gegenüber Griechenland
für eine Verbesserung der Situation eingesetzt. Auch laufen auf bilateraler Ebene zwischen dem Auswärtigen
Amt und der griechischen Seite bereits intensive Gespräche zur Lösung dieser Problematik.
Im Jahr 2010 reisten schätzungsweise 90 Prozent der
Flüchtlinge, die nach Europa strebten, über die türkischgriechische Landesgrenze ein. Dort werden sie in Auffanglagern teilweise bis zu sechs Monate festgehalten.
Sie sind in großer Enge, ohne Warmwasser und Heizung
und ohne Zugang zu medizinischer Versorgung untergebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland dafür bereits mehrfach wegen
Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt.
Als FDP-Bundestagsfraktion möchten wir betonen:
Griechenland ist trotz Finanzkrise und allen damit
zusammenhängenden Problemen verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten. Deutschland bietet auf EUEbene seine Hilfe vor Ort an. Dies kann für Griechenland aber nicht bedeuten, aus der Pflicht und der Verantwortung entlassen zu werden.
({0})
Über die griechisch-türkische Landesgrenze gelangen
aktuell pro Tag 200 bis 300 Flüchtlinge in die EU. Nach
der Festnahme durch die Polizei werden diese zunächst
in Flüchtlingslager verbracht. Der massive Zustrom in
die Lager führt zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen für die Migranten. Die katastrophale Situation
vor Ort macht eine weitgehende Überforderung der griechischen Stellen deutlich.
Grundsätzlich positiv einzuschätzen ist dagegen aus
Sicht der FDP der Einsatz der Agentur Frontex an der
Grenze. Die Beamten - gerade auch die der Bundespolizei - tragen zum Know-how-Transfer bei. Auch gewährleisten die Beamten eine humanitäre Situation beim
Übertritt. Ferner ermöglichen sie eine weitestgehend
offene Kooperation zwischen der Türkei und Griechenland. Dennoch sollten Einsätze von Frontex - wie unter
Umständen die Screenings der Flüchtlinge in den Lagern differenziert betrachtet werden.
Frontex kann und darf allerdings nicht für das Versagen von einzelnen Mitgliedstaaten verantwortlich
gemacht werden. Das Mandat von Frontex ist eng. Es
umfasst nicht die Verantwortung für die Flüchtlingslager. Diese Verantwortung liegt voll und ganz bei den
griechischen Behörden. Bei Gesprächen mit der griechischen Seite hat die Delegation des Bundestagsinnenausschusses eindringlich die Beseitigung gravierender menschenunwürdiger Zustände angemahnt.
Griechenland stehen, wie vorhin schon erwähnt,
genug EU-Fördermittel zur Verfügung, die bisher aber
nicht abgerufen wurden. Die Reform des griechischen
Asylrechts - welche unter anderem eine Verlagerung der
Zuständigkeit von der Polizei auf eine eigenständige
Asylbehörde vorsieht - kommt zudem nur in kleinen
Schritten voran.
Alle Teilnehmer der Bundestagsdelegation waren sich
einig - dies war das Resümee der Reise -: Es sollte mehr
Druck auf Griechenland ausgeübt werden, um die
Zustände in den Flüchtlingslagern zu verbessern und
schnellstmöglich eine menschenwürdige Situation zu
schaffen.
Ich möchte allerdings auch offen ansprechen: Trotz
dieses interfraktionellen Antrags besteht kein überfraktioneller Konsens hinsichtlich der Konsequenzen, die aus
der aktuellen Situation zu ziehen sind. Dies betrifft vor
allem die Form der europäischen Solidarität. Hierzu zählen die europäische Verantwortungsteilung, ein etwaiger
Reformbedarf bei der Dublin-II-Verordnung sowie eine
Verlängerung laufender Frontex-Missionen in Griechenland. Auch gibt es Unterschiede bei der Bewertung des
europäischen Drucks auf die Türkei, damit das europäisch-türkische Rückübernahmeabkommen ratifiziert
und das bilaterale Rückübernahmeabkommen mit Griechenland umgesetzt wird.
({1})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion setzen uns dafür ein,
dass beide Abkommen effektiv implementiert werden.
Mit diesem interfraktionellen Antrag hoffen wir, neben
den vonseiten der Bundesregierung bereits vorhandenen
Bemühungen weitere positive Ansätze zur Verbesserung
der humanitären Situation der griechischen Flüchtlingslager geben zu können.
Vielen Dank.
({2})
Nun spricht die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich war bei dieser Reise als Delegationsteilnehmerin
dabei. Ich kann die Erschütterung, die meine Kolleginnen und Kollegen hier bereits geäußert haben, nur teilen.
Insbesondere in dem Lager Filakio, das wir besuchten,
herrschen menschenunwürdige Zustände. Ich habe noch
nie erlebt, dass Menschen an die Gitterstäbe klopfen und
rufen: Holt uns hier raus! Holt uns hier raus! - Es wurde
hier beschrieben, wie die kellerartigen Räume dort aussehen und wie die Menschen dort hausen müssen. Sie
dürfen diese Zellen ein halbes Jahr lang nicht verlassen.
Das ist zutiefst unmenschlich. Von daher ist der Druck
auf Griechenland voll berechtigt. Das zum einen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einmal abgesehen
davon, dass die rechte Seite des Hauses sowieso nicht
wollte, dass die Linke an diesem Antrag mitarbeitet und
beteiligt werden soll, bin ich der Meinung, dass Deutschland nicht Griechenland allein die Verantwortung übertragen kann. Selbstkritisch muss gesehen werden - einige
Kollegen, wie es beispielsweise der Kollege Tören eben
getan hat, haben es zumindest angedeutet -, dass es auch
eine Mitverantwortung der EU gibt.
Die EU-Flüchtlingspolitik hat in den vergangenen
Jahren vor allen Dingen auf Abschottung gesetzt. Ich
nenne hier Frontex und das Schengener Abkommen, wodurch vor allem die Außengrenzen dichtgemacht werden
sollen. Vor allen Dingen nenne ich auch die Dublin-IIVerordnung und die neuen, sich in Planung befindlichen
Maßnahmen wie beispielsweise das EUROSUR. Es wird
so getan, als habe man damit jetzt neue große Möglichkeiten, die Grenzen abzuschotten.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat zum Beispiel gerade eine Presseerklärung herausgegeben. Dort
heißt es:
Anlässlich des letzten EU-Innenministertreffens in
diesem Jahr zieht PRO ASYL flüchtlingspolitische
Bilanz: 2000 tote Flüchtlinge
- nur in diesem Jahr 2011 17892
an den europäischen Außengrenzen, keine Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme, Dauerblockade bei
der Schaffung gemeinsamer Asylrechtsstandards
und populistische Debatten, die selbst die innereuropäische Freizügigkeit zur Disposition stellen das waren die zentralen Merkmale der EU-Flüchtlingspolitik im Jahr 2011. Diese desaströse Bilanz
des Jahres 2011 zeigt aus Sicht von PRO ASYL,
dass die Europäische Union in Fragen des Flüchtlings- und Menschenrechtsschutzes politisch und
moralisch versagt.
Diese Einschätzung kann die Linke voll unterstützen.
Wir können viele Beispiele dafür bringen.
Tatsächlich ist es so: Die Europäische Union müsste
wirklich darüber diskutieren, eine Umverteilung in
Europa vorzunehmen. Griechenland ist gegenwärtig das
Hauptzielland der Flüchtlinge; sie versuchen dann, von
dort aus in andere EU-Staaten zu kommen. Man könnte
im Grunde genommen sehr schnell Abhilfe schaffen.
Dafür müsste man nicht nur - davon sprechen Sie jetzt 300 Flüchtlinge pro Jahr aus den gesamten EU-Staaten,
die kein Asylsystem haben, im Rahmen eines Resettlement-Verfahrens in Deutschland aufnehmen, sondern
wirklich dafür sorgen, dass die Staaten je nach Höhe des
Bruttosozialprodukts mehr Flüchtlinge aufnehmen.
Damit könnte man Griechenland sehr solidarisch unterstützen. Es geht hier in erster Linie um Solidarität, unter
den EU-Staaten, vor allen Dingen aber mit den schutzsuchenden Flüchtlingen, die von Europa insgesamt
alleingelassen werden.
({1})
Das kann einfach nicht hingenommen werden.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Auch
der UNHCR hat in diesen Tagen einen Lagebericht
herausgegeben. Auch er kritisiert Deutschland und sieht
dringenden Handlungsbedarf „bei der Durchführung des
sogenannten Dublin-Verfahrens in Deutschland, in dem
entschieden wird, welches Land für die Prüfung eines
Asylantrages zuständig ist. So sei es notwendig, von der
bisher geltenden Gesetzeslage abzurücken, nach der ein
einstweiliger Rechtsschutz gegen die Überstellung in ein
anderes Land ausdrücklich ausgeschlossen sei. Auch aus
der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebe
sich, dass ein Zugang zum einstweiligen Rechtsschutz
vorhanden sein müsse.“
Hier muss man ganz deutlich sagen: Deutschland hat
mit verhindert, dass eine Regelung getroffen wird, nach
der man im Rahmen des Dublin-Abkommens nicht in
Länder wie beispielsweise Italien, Griechenland und
Zypern, aber auch andere europäische Staaten, die kein
Asylsystem haben, zurückschiebt. Es wird vielmehr weiter zurückgeschoben.
Ich nehme einmal das Beispiel Malta. Einerseits nahmen Sie im vorletzten Jahr 50 und jetzt noch einmal 150
Flüchtlinge aus Malta auf. Malta läuft quasi über; die
Flüchtlingszahl ist für Malta nicht zu bewältigen. Andererseits jedoch werden Flüchtlinge im Rahmen der Dublin-II-Verordnung zurückgeschoben. Das kann einfach
keine humanitäre Flüchtlingspolitik sein.
({2})
Kollegin Jelpke, es ist zweifellos ein wichtiges
Thema. Achten Sie bitte trotzdem auf das Signal, und
kommen Sie zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. - Die Linke hat einen
eigenen Antrag eingebracht, den wir überweisen lassen,
um weiterhin im Innenausschuss über dieses Thema diskutieren zu können. Denn ich denke, die aktuellen Vorkommnisse sowie die Kritik vom UNHCR und anderen
Flüchtlingsorganisationen müssen weiter thematisiert
werden. Wir müssen uns vor allen Dingen dafür einsetzen, dass es eine solidarische Lösung auf europäischer
Ebene gibt, vor allen Dingen für die Flüchtlinge, die
Schutz suchen.
Danke schön.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Josef Winkler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, es ist ein gutes und wichtiges
Signal, dass hier vier Fraktionen des Hauses einen
gemeinsamen interfraktionellen Antrag formuliert
haben, auch wenn die Linksfraktion nicht dabei ist;
wenn ich es richtig verstanden habe, enthalten Sie sich
bei diesem Antrag, sodass wir durch einen einstimmigen
Beschluss ein starkes Signal in Richtung der griechischen Regierung, aber auch des griechischen Parlamentes und der griechischen Öffentlichkeit senden können.
Es kann nicht angehen, dass wir es in einem Europa des
Jahres 2011 zulassen, dass solche Zustände in den
Flüchtlingslagern eines Mitgliedstaates herrschen, dass
keine humanitären Mindestbedingungen gegeben sind
und kein Zugang zu einem fairen Asylverfahren eingeräumt wird. Das darf nicht sein, das muss sofort ein
Ende haben.
({0})
Es kommt mir selten über die Lippen, aber es ist tatsächlich so, dass der Innenminister zum zweiten Mal
eine sehr richtige Entscheidung getroffen hat, indem er
die Regelung, keine Flüchtlinge nach Griechenland zurückzuüberstellen, um ein Jahr verlängert hat. Die Bundesregierung hat sich ausweislich der Protokolle der Tagung des Rates für Justiz und Inneres sehr intensiv für
die Beseitigung dieser Problematik eingesetzt, was sicherlich nicht nur zur Erheiterung der anderen BeteiligJosef Philip Winkler
ten beigetragen hat. Dafür von meiner Fraktion einen
herzlichen Dank. Ich denke aber auch, dass es eine
Selbstverständlichkeit ist, dass eine deutsche Regierung
in dieser Frage deutlich auftritt.
Die ganze Systematik des europäischen Flüchtlingsrechts - so wie es sich durch die Dublin-II-Verordnung
darstellt -, dass wir die Flüchtlinge, die in andere Länder
weitergegangen sind, in die Länder rückverteilen, in die
sie zuerst eingereist sind, kann nur funktionieren - wenn
man es politisch als Systematik akzeptiert -, wenn in den
Ländern, in die man zurückschiebt, die Bedingungen genauso qualitativ hochwertig sind und den menschenrechtlichen Standards entsprechen, wie das in Deutschland der Fall wäre. Sonst wäre es unverantwortlich,
Menschen in eine Lage zu bringen, in die sie eigentlich
nicht geraten dürfen. Wenn das Dublin-II-System und
das europäische Asylsystem, so wie es bisher organisiert
ist, so bleiben sollten - wenn man das denn will -, ist es
unerlässlich, dass die griechische Regierung handelt und
die Lage umgehend verbessert.
Ich teile viele der Kritikpunkte, die Kollegin Jelpke
vonseiten der Linksfraktion gegen das System vorgebracht hat. Aus grüner Sicht hat es sich in der derzeitigen
Krisensituation nicht bewährt. Es ist nicht in der Lage,
bei solchen Massenzuströmen, wie sie manchmal auftreten, wenn es zum Beispiel in Nordafrika Volksaufstände
gibt oder wenn Flüchtlingsströme über die Türkei kommen, ein faires Umverteilungsverfahren zu garantieren.
Meine Fraktion sieht auch in diesem Bereich Reformbedarf. Wir werden nicht locker lassen.
Jetzt geht es uns um das starke und gemeinsame Signal an das griechische Volk. An und für sich wäre das
im historischen Griechenland ein klassischer Fall für den
Ostrakismos gewesen: die Verantwortlichen für solche
Zustände gehörten längst vor das Scherbengericht und
zehn Jahre in die Verbannung. Wenn Sie das nicht wollen, können Sie die Lage verbessern. Das wäre aus unserer Sicht die humanere Variante für alle Beteiligten.
({1})
Wir als Fraktion finden es durchaus bedenklich, dass
deutsche Beamte über die Frontex-Einsätze mittelbar an
der Unterbringung - wenn man das überhaupt so nennen
will - der Menschen in Flüchtlingslagern beteiligt sind.
Das haben wir immer deutlich gemacht. Wir werden das
auch weiterhin kritisch durchleuchten. Wir würden uns
auch wünschen, dass die deutsche Seite in Richtung der
etwa 10 000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge,
die in Griechenland zum Teil auf der Straße leben, ein
humanitäres Signal senden und sie aufnehmen würden.
Das werden wir auch im nächsten Jahr im Innenausschuss mit Nachdruck begleiten. Heute bedanke ich
mich zunächst für die breite Unterstützung unseres Anliegens.
({2})
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! In den vergangenen Monaten wurde im
Zuge von Delegationsreisen und auch durch Berichte der
NGOs sowie des Hohen Flüchtlingskommissars - wir
haben das hier anschaulich gehört - deutlich, dass die
Zustände in Griechenland trotz unserer Unterstützung
und der Unterstützung der Europäischen Union nach wie
vor chaotisch sind. Trotz der angebotenen und auch geleisteten Hilfe herrschen in den Flüchtlingslagern menschenunwürdige Zustände. Die griechische Regierung ist
nicht in der Lage - ich sage: wohl auch nicht willens -,
sich für eine deutliche Verbesserung der Lage der
Flüchtlinge einzusetzen.
Zwar gibt es tendenziell einige Verbesserungen - so
ist in den letzten Monaten die Quote der Anerkennungen
von Asylbewerbern im Erstverfahren von 1 auf 12 Prozent angestiegen und die durchschnittliche Bearbeitungszeit verkürzt worden -, aber das ist nur ein Tropfen
auf den heißen Stein. Damit sind die Probleme nicht gelöst. Insgesamt zeichnen NGOs und der Flüchtlingskommissar sowie unsere Delegationsteilnehmer ein düsteres
Bild der dortigen Zustände. Kritisiert wird immer insbesondere die hier eben dargestellte menschenunwürdige
Lebenssituation der Flüchtlinge.
Eine Bereitschaft Griechenlands, diese Zustände zu
verbessern - ich wiederhole es -, ist für uns nicht erkennbar. Die Vertreter Griechenlands bekunden stets den
guten Willen, die Lage in den Griff zu bekommen, berufen sich aber gleichzeitig darauf, dass die hohe Flüchtlingszahl gemessen an der Einwohnerzahl Griechenlands
kaum zu bewältigen sei.
({0})
Auch wird immer sofort darauf hingewiesen, dass die
Türkei ihrer Rücknahmeverpflichtung nicht nachkommt.
Aber das sind für mich keine Argumente, die die ernsthafte Bereitschaft unterstreichen, das Asylverfahren zu
verbessern und zu beschleunigen und ein menschenwürdiges Dasein für die Flüchtlinge zu schaffen. Dieses Bemühen ist schlicht nicht zu erkennen.
({1})
Gegen eine ernsthafte Bereitschaft spricht in meinen
Augen außerdem, dass Griechenland bislang immer noch
nicht die EU-Mittel, die eigens für die Verbesserung der
Unterkünfte zur Verfügung gestellt wurden, abgerufen
hat. Aufgrund der menschenunwürdigen Zustände in den
Flüchtlingslagern hat der vormalige Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, im Januar dieses Jahres entschieden, dass im laufenden Jahr keine Überstellungen
stattfinden. Wir haben eben gehört - wir begrüßen das
ausdrücklich -, dass Minister Friedrich diese Regelung
verlängert hat, bis in das Jahr 2013 hinein. Das ist eine sicherlich notwendige und richtige Entscheidung.
({2})
Ich sage aber auch, dass dies keine Dauerlösung sein
kann. Grundsätzlich ist Griechenland nach der Dublin-IIVerordnung für die Durchführung der Asylverfahren zuständig. Eine grundsätzliche Veränderung dieses Verfahrens - auch das mache ich deutlich - lehnen wir ab; denn
das Dublin-II-Abkommen war und ist der Garant dafür,
dass wir keinen unkontrollierten und auch für uns nicht
mehr zu bewältigenden Asylbewerberstrom haben. Aus
diesem Grund lehnen wir den vorliegenden Antrag der
Fraktion Die Linke ab.
Ich habe Verständnis dafür, dass Griechenlands derzeitige finanzielle Lage vieles überlagert. Ich verstehe
auch, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen
Lage von vielen Migranten als Einfallstor genutzt wird,
um von dort aus nach Mittel- und Nordeuropa zu gelangen. Dies entbindet Griechenland jedoch nicht von seiner Verantwortung, die ihm aufgrund der Dublin-II-Verordnung zukommt. Je weniger Griechenland bereit oder
in der Lage ist, für ein geordnetes und zügiges Asylverfahren zu sorgen, desto attraktiver wird der Weg über
Griechenland für die Schleuserbanden. Für die Schleuserbanden ist es doch ganz einfach: Wenn die Situation
in Griechenland so bleibt, können Länder wie Deutschland die über Griechenland zu ihnen Gelangten nicht zurückschieben. Man muss sich doch fragen - dieser Eindruck drängt sich auf - ob dies nicht im Endeffekt so
gewollt ist.
Deshalb müssen wir - das ist hier von allen zu Recht
gefordert worden - von der Bundesregierung verlangen
- diese Erwartung wird ja auch erfüllt -, dass sie auf
Griechenland weiterhin intensiv einwirkt, schnellstmöglich die in unserem Antrag formulierten Dinge umzusetzen.
Hinsichtlich der Frage, wie die Mitgliedstaaten Griechenland bei dieser Mammutaufgabe unterstützen können und welche Reformen im Bereich der europäischen
Flüchtlingspolitik notwendig sind - auch das ist hier
deutlich geworden -, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Eines steht für mich jedoch fest: Ein solch menschenunwürdiges Dasein der Flüchtlinge, das gegen alle
internationalen Standards verstößt, können wir nicht länger dulden.
({3})
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in bilateralen Verhandlungen weiterhin die bestehende inakzeptable Situation zu thematisieren und auf eine schnelle
Verbesserung hinzuwirken. Außerdem muss geprüft
werden, welche Hilfen Griechenland zur Verfügung gestellt werden können, um es in die Lage zu versetzen, die
vorhandenen Mittel abzurufen.
Ich will meinen Vortrag mit der Bitte abschließen, unserem Antrag, dem gemeinsamen Antrag der vier Fraktionen, Ihre Zustimmung zu geben. Das wäre zum jetzigen
Zeitpunkt das richtige Zeichen, auch für Griechenland.
Besten Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn Sie mir vorausgesagt hätten, dass ich heute in einer ausländerrechtlichen bzw. flüchtlingspolitischen
Frage dem Kollegen Stephan Mayer, dem Vorredner aus
der CSU, ausdrücklich für seine Ausführungen danken
und sie Wort für Wort unterschreiben würde, dann hätte
ich das nicht unbedingt für höchst wahrscheinlich gehalten, sondern für eher ungewöhnlich, genauso wie auch
unseren Antrag, an dessen Zustandekommen meine Kollegin Daniela Kolbe maßgeblich beteiligt war, der ich
auch dafür danke.
({0})
Die Entschiedenheit hinsichtlich des Eintretens in der
Sache traf auch für Stephan Mayer in seiner Funktion als
Delegationsleiter zu, als wir gemeinsam in Griechenland
waren. Sie dürfen nicht glauben, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass wir uns mit der Schilderung unserer Eindrücke und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen
bei den Gesprächen mit griechischen Parlamentariern
oder beim Gespräch mit dem dafür zuständigen Innenminister etwa zurückgehalten hätten. Vielmehr haben
wir uns tendenziell eher sehr undiplomatisch und innerlich noch aufgewühlt von den Eindrücken, die wir dort
gesammelt haben, sehr kritisch mit ihnen auseinandergesetzt.
Da ich Sozialdemokrat bin, habe ich mir im Einvernehmen mit meinen Kolleginnen und Kollegen erlaubt,
dem Innenminister von der PASOK zu sagen: Als europäischer Sozialdemokrat muss ich mich dafür schämen,
dass ein anderer europäischer Sozialdemokrat für solche
Zustände verantwortlich ist. - Er hat sich übrigens nicht
nur die ursprünglich zugesagten 20 Minuten, sondern
annähernd zwei Stunden Zeit genommen, um mit uns zu
sprechen. Aber wir haben ihn nicht sehr optimistisch
verlassen, was die Frage angeht, ob sich nun wirklich etwas Grundlegendes ändert.
Die Zustände sind beschrieben worden, obwohl sie in
Wahrheit unbeschreiblich sind. Aber mit Rücksicht auf
die Wahrung der Intimsphäre und die Sicherheitsbelange
versteht es sich wohl von selbst, dass man in der Situation
von diesen Unterbringungsmöglichkeiten, wenn man das
überhaupt so bezeichnen kann, und auch von den Menschen dort keine Videoaufnahmen macht, um das dann
eindrucksvoll zu dokumentieren. Sie müssen sich also
schon auf das übereinstimmende Urteil derjenigen verlassen - Sie können sich auch darauf verlassen -, die die Delegationsreise unternommen haben. So weit, so gut.
Übereinstimmung gibt es im Grunde genommen auch
mit allen übrigen Redebeiträgen. Ich will Ihnen nur saRüdiger Veit
gen, wo wir als Sozialdemokraten - das gilt möglicherweise auch für die Grünen, tendenziell auch für einige in
der Partei Die Linke und für einen Teil Ihres Antrages uns ein wenig von den anderen unterscheiden.
Ich möchte die mir noch verbliebene Redezeit nutzen,
um Ihnen die Dimension des Problems deutlich zu machen. Nach seriösen Schätzungen, die uns in Griechenland, in der Türkei, aber auch von Frontex-Mitarbeitern
in Piräus genannt wurden, gibt es derzeit eine Flüchtlingsbewegung von außerhalb Europas nach Europa vor
allen Dingen mit dem Ziel Zentral- und Nordeuropa in
der Größenordnung von 400 000 bis 500 000 Menschen
pro Jahr. 90 Prozent, so lauten die ernstzunehmenden
Schätzungen, kommen über Griechenland. Griechenland
hat 11 Millionen Einwohner. Ich stelle Ihnen anheim,
das einmal nachzurechnen: Hochgerechnet auf unsere
Bevölkerungszahl würde das eine unkontrollierte Zuwanderung in der Größenordnung von rund 3 Millionen
Menschen pro Jahr bedeuten. Ich erinnere nur an die
Diskussion Anfang der 90er-Jahre um die Asylbewerberzahlen und die Spätaussiedler, wo wir auf insgesamt
900 000 Menschen gekommen sind. Das war nur zwei
Jahre lang so, dann war das wieder vorbei. Aber in Griechenland ist das seit vielen Jahren so.
In der Situation kann man nicht sagen: Griechenland
ist sozusagen der Pförtner des Hauses Europa. Es hat
zwar die Verpflichtung, die Menschen hereinzulassen,
darf sie aber nur in der Pförtnerloge unterbringen und
nicht ins Haus lassen. - Das kann man sinnvollerweise
nicht als europäische Flüchtlingspolitik bezeichnen. Das
kann auch jenseits aller ökonomischen Belange, die
noch dahinterstehen, nicht gut gehen. Das ist auch von
der Bevölkerung in Griechenland selber irgendwann
nicht mehr zu tolerieren. Das führt zu politischen Verwerfungen, die wir alle uns nicht wünschen können.
Ich darf klipp und klar sagen: Wir als Sozialdemokraten sind davon überzeugt, dass wir eine echte europäische Verantwortungsteilung brauchen.
({1})
Dies darf nicht nur bedeuten, dass wir versuchen, das mit
Geld gutzumachen oder abzufedern, sondern das muss
auch heißen: Entsprechend der Wirtschaftskraft und der
Größe der Bevölkerung sollten sich alle EU-Staaten
dazu verpflichten, Flüchtlinge, die im Moment vorzugsweise in Griechenland den europäischen Boden betreten,
bei sich aufzunehmen. Wenn ich sage, dass sie sie bei
sich aufnehmen sollen, dann heißt das automatisch - das
sollte klar sein -: Wir müssen bereit sein, die Verfahren
durchzuführen. Wir können nicht sagen, dass die anderen die Verfahren durchführen sollen und wir diejenigen,
die dann übrig bleiben, verteilen. Wir müssen bereit sein,
die Verfahren hier in Deutschland durchzuführen.
Denjenigen, die Angst haben, dass sich Menschenmassen in unsere Richtung in Bewegung setzen, sage
ich: Wenn Sie das auf Bevölkerungszahlen und Wirtschaftskraft in der gesamten EU umrechnen, dann sehen
Sie, dass das nicht automatisch heißt, dass Deutschland
mehr Flüchtlinge aufnehmen muss, als es im Augenblick
der Fall ist. Wir liegen dabei sowieso im Durchschnittsbereich. Von daher wäre das ein sinnvoller Weg.
({2})
Frau Präsidentin, ich bin gleich am Schluss meiner
Rede. Gestatten Sie mir noch einen Satz bzw. einen Hinweis. Es muss natürlich klar sein, dass Dublin II mit dieser merkwürdigen Teilung der Verantwortung - ich erwähne es noch einmal -, dass Griechenland sozusagen
der Pförtner ist und alle in der Pförtnerloge behalten
muss, egal, wie viele es sind, so nicht fortgesetzt werden
darf. Deswegen setzen wir uns nachhaltig dafür ein, dass
Dublin II auf europäischer Ebene im Sinne echter Teilung der Verantwortung novelliert und verbessert wird.
Den Teil des Antrags der Linken, der in die gleiche
Richtung geht, begrüßen wir, aber die pauschale Ablehnung von Frontex, die auch in dem Antrag enthalten ist,
findet nicht unsere Billigung. Deswegen können wir diesem Antrag leider nicht zustimmen.
Ich bedanke mich noch einmal für das einmütige Votum bei allen Rednern, das jetzt in der Abstimmung hoffentlich entsprechend deutlich wird. Ich bitte Sie eindringlich im Interesse der Menschen, die unter solchen
Bedingungen leben müssen: Helfen Sie mit. Machen Sie
die Situation publik, sagen Sie, wie die Verantwortung
verteilt ist, und helfen Sie den Menschen. Das ist unser
Anliegen.
Danke sehr.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/7979 mit dem Titel
„Menschenwürde ist nicht verhandelbar - Bedingungen
in griechischen Flüchtlingslagern sofort verbessern“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Frak-
tion der SPD
Bei der Vergabe von Exportkreditgarantien
auch menschenrechtliche Aspekte prüfen
- Drucksachen 17/7810, 17/7988 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Erich G. Fritz für die Unionsfraktion, Christoph Strässer
für die SPD, Dr. Martin Lindner für die FDP, Ulla Lötzer
für die Fraktion Die Linke und Ute Koczy für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7988, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7810 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon konsequent anwenden - Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten der
Europäischen Union weiter stärken
- Drucksache 17/8137 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Demokratie stärken - Parlamentarische Rechte
in EU-Angelegenheiten ausbauen
- Drucksache 17/8138 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
1) Anlage 6
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind auch damit einverstanden. Es handelt
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Jürgen Hardt und Alois Karl für die Unionsfraktion,
Dr. Eva Högl für die SPD, Dr. Stefan Ruppert für die
FDP, Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke und
Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8137 und 17/8138 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer ({4}), Wolfgang
Nešković, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Widerruf der gemäß § 8 des Parlamentsbetei-
ligungsgesetzes erteilten Zustimmungen zu den
Anträgen der Bundesregierung vom 28. Januar
2011 und 23. März 2011
Bundeswehr aus Afghanistan abziehen
- Drucksachen 17/7547, 17/8027 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Hans-Christian Ströbele
Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu nehmen. - Ich sehe, Sie sind da-
mit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgen-
der Kolleginnen und Kollegen: Sibylle Pfeiffer und
Florian Hahn für die Unionsfraktion, Lars Klingbeil für
2) Anlage 7
Vizepräsidentin Petra Pau
die SPD, Dr. Bijan Djir-Sarai für die FDP, Stefan Liebich
für die Linke und Tom Koenigs für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8027, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/7547 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({6}), Christoph Poland, Dorothee
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner
Deutschmann, Patrick Kurth ({7}),
Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ratifizierung der UNESCO-Konvention
zum immateriellen Kulturerbe vorantreiben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt
({8}), Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede,
Claudia Roth ({9}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen
Kulturerbes vorbereiten und unverzüglich
umsetzen
- Drucksachen 17/6314, 17/6301, 17/8121 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Börnsen ({10})
Ulla Schmidt ({11})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion.
({12})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen mit
überdurchschnittlichem Durchhaltevermögen und ge-
1) Anlage 8
sundem Sitzfleisch, die Sie um diese Zeit noch hier sind!
Was veranlasst den Präsidenten des Zentralverbandes
des Deutschen Handwerks, der fast 1 Million Betriebe
repräsentiert, sich vehement für den Beitritt der Bundesrepublik zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes einzusetzen, zu einem Abkommen, dem bereits 139 Staaten beigetreten
sind? Was bewegt den Präsidenten des Bäckerhandwerks, dem über 300 000 Beschäftigte angehören, in
klug gefassten Briefen darum zu ersuchen, dass auch
Deutschland dieses internationale Bündnis für bedrohte
Kulturgüter unterzeichnet? Warum erscheint der oberste
Vertreter des Schaustellerverbandes persönlich zu einer
Anhörung im Bundestag, um engagiert auf eine weltumspannende Idee der Kulturpolitik hinzuweisen, die in anderen Ländern zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist?
Aus welchen Gründen fordert der BHU, der Bund Heimat und Umwelt, mit seinen über 500 000 Mitgliedern
aktives Parlaments- und Regierungshandeln im Hinblick
auf eine friedenschützende Weltidee, die auch unser Kulturerbe umfassen sollte?
Sie alle und viele mehr wollen, dass nicht nur in Stein
gemeißelte großartige Zeugnisse der Vergangenheit wie
der Dom zu Köln, die Berliner Museumsinsel oder Lübecks Altstadt geschützte Weltbewahrung erfahren. Vielmehr wollen sie auch ein Bekenntnis der Bundesrepublik
zu dem Kulturerbe unseres Landes, das die Strahlen der
Kultursonne bisher nicht erreicht haben, den Kulturmauerblümchen gewissermaßen, die in fast 140 Staaten unserer Erde aber Akzeptanz und Anerkennung gefunden und
das UNESCO-Siegel für Schutz und Förderung erhalten
haben. Sie wollen, dass wir uns solidarisch zeigen und
auch unsere kulturellen Traditionen in das Weltkulturerbe
einbringen: die Märchen und Mythen unseres Landes, die
Sprachen, Sagen und Volksfeste, Bräuche und Gebrauchstechniken, Tänze, Trachten, regionale Traditionen, jahrhundertealte Handwerksfähigkeiten oder auch
die Kultur der Wandergesellen.
Sie stellen darauf ab, dass neben Epen, Erzählungen
und dem Volkstheater auch unser Wissen von Naturheilmethoden und der Nahrungsmittelzubereitung als Kulturleistung respektiert werden sollte. Da das traditionsreiche
Ingwergebäck aus Kroatien und auch die französische
Küche den Status eines Weltkulturerbes erhalten haben,
frage ich: Warum sollte dieser Rang nicht auch für das
einzigartige deutsche Schwarzbrot bzw. die 300 Brotsorten gelten?
Was unterscheidet die von der UNESCO registrierten
Drachenbootfeste in China von der gleichfalls jahrhundertealten Kirmes- und Jahrmarktkultur bei uns? Wäre
es nicht auch angemessen, dass wir uns für den Schutz
und die Sicherheit von Minderheitensprachen einsetzen,
für Sorbisch, Friesisch, Romani oder auch das Plattdeutsche, die sich alle auf der Roten Liste der bedrohten
Sprachen befinden?
Unser Land tut sich schwer, sich für einen umfassenden Kulturbegriff zu öffnen, wie er weltweit praktiziert
wird. Viele denken bei Kultur vor allen Dingen an Musik
und Literatur. Faust und Fidelio, ja, auch Bach, Brahms
Wolfgang Börnsen ({0})
und Beethoven, die Klassiker in Weimar, natürlich,
Goethe und Schiller: Das ist wahre Weltkultur - auch!
({1})
Aber der Tango aus Argentinien, die Makishi-Maskerade
in Sambia, Aserbaidschans Teppichkunst, Akupunktur in
China und die Spanische Hofreitschule in Wien? Diese
wie auch 210 weitere kulturelle Ausdrucksformen aus
aller Welt sind von der UNESCO anerkannt und gelten
als bedroht. Die Bundesrepublik ist mit keiner Kulturtradition vertreten.
Eine erste Initiative von uns, der Union, im Jahre
2007 scheiterte. In den Ländern wie in der Bundesregierung gab es damals zu viele Skeptiker. Die Vorbehalte
reichten von den Kosten über die Bedenken aufgrund der
Unkalkulierbarkeit von kuriosen Anträgen bis hin zu ungeregelter Bund-Länder-Kompetenz. Ernst zu nehmen
waren Hinweise auf unsere Diktaturvergangenheit, in
der man mit der Regional- und Volkskultur Schindluder
getrieben hatte.
Doch durch die Erfolge unserer europäischen Nachbarn wurde viele Bedenken zerstreut. Dort erlebt man
auf allen Ebenen - auch bei den Bürgern - eine neue
Aufgeschlossenheit gegenüber der Brauchtumskultur.
Man erkennt die immaterielle Kultur als Quelle von Inspiration und Identität, als Ausgangspunkt für interkulturellen Austausch, als Möglichkeit zur Integration von
Migranten.
Die Auffassungen, die in den hier vorliegenden Anträgen zum Ausdruck kommen, sind ähnlich, fast deckungsgleich. Sie dokumentieren eine grundsätzliche
Übereinstimmung unter Kulturpolitikern. Wir wollen,
dass unser lebendiges kulturelles Erbe unseren Alltag
und unser Leben auch in Zukunft mitprägt. Wir wollen
den Menschen, die in der Brauchtumskultur ihre Heimat
finden, eine Perspektive bieten.
In Österreich und in der Schweiz hat deren Beitritt zur
UNESCO-Konvention zu einem neuen Kulturinteresse
geführt, zur Revitalisierung mancher Kulturtraditionen
und auch zu der Erkenntnis, dass für das immaterielle
Kulturerbe mehr getan werden muss. Auch wir hier in
Deutschland besitzen ein bedeutendes, kraftvolles und
kreatives Kulturerbe auf allen Ebenen. Manche Kulturtradition ist auch bei uns gefährdet.
Ein Beitritt zu dieser Konvention wird das Ableben
mancher Brauchtumskultur nicht verhindern. Die
UNESCO-Konvention ist keine künstliche Beatmung,
aber dieses Übereinkommen, das die Bedeutung der immateriellen Kulturgüter für die Menschheit herausstellt,
schafft eine gerechte, solidarische und faire Ausgewogenheit zwischen den Staaten unserer Welt, die einen
Reichtum an materiellen Kulturgütern besitzen, wie wir
in Europa, und denen, die ihre Identität in der Volks- und
Brauchtumskultur erfahren.
Stimmen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für
unseren Antrag. Geben Sie damit unserem Kulturerbe
die Möglichkeit, weltweit anerkannt und geschützt zu
werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Schmidt für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Börnsen, ich teile vollkommen Ihre
Begeisterung für das immaterielle Kulturerbe, und ich
stimme Ihnen zu, dass wir hier nach vorne kommen
müssen. Aber wenn Sie wirklich wollen, dass wir nicht
nur darüber reden, die Ratifizierung des Übereinkommens zum immateriellen Kulturerbe voranzutreiben,
sondern dass die Ratifizierung unverzüglich vorgenommen wird und konkrete Maßnahmen auf den Weg
gebracht werden, und zwar noch in dieser Legislaturperiode, dann stimmen Sie dem Antrag von SPD und
Grünen zu - dazu lade ich sie herzlich ein -; denn wir
machen damit einen wichtigen Schritt nach vorn. Wir
wissen, auch aus Erfahrung in den anderen Ländern, wie
wertvoll dieses Übereinkommen ist. Sie haben es an vielen Punkten aufgezeigt. Wir verstehen, dass die Menschen in Deutschland, die sich für immaterielles Kulturerbe einsetzen und dieses in ihren Traditionen, in ihren
Regionen leben, wollen, dass wir schnell entscheiden.
Denn es ist ein Zeichen für nationale und regionale Identitäten, für die Bewahrung der Vielfalt und auch für eine
lebendige Alltagskultur.
Wenn man Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, dann stellt man fest, dass wir wirklich vieles einzubringen haben, was spezifisch deutsch ist. Das sind die
vielfältigen Praktiken und Traditionen, die wir in den
verschiedenen Bundesländern, in den verschiedenen
Regionen haben. Es ist die gesamte föderale Vielfalt, aus
der wir schöpfen können. Hier kann das Übereinkommen eine wichtige Rolle spielen, damit regionale Identitäten gefestigt werden und die Zusammengehörigkeit
insgesamt gefördert wird.
Am Sonntag wurde ein Buch vorgestellt - das wird
Ihnen gefallen - von Richard Wagner und Thea Dorn mit
dem schönen Titel Die deutsche Seele. Es enthält wunderbare Beispiele für das immaterielle Kulturerbe
Deutschlands von A bis Z, von Abendrot über Musik bis
hin zu Weihnachtsmarkt und Winnetou und was man
sich alles noch denken kann. Wenn man das liest, stellt
man fest: Jeder Bürger und jede Bürgerin verbindet
etwas mit diesen Worten. Sie sind uns bekannt und
wecken Assoziationen.
Hier wird in liebenswerter Art und Weise gezeigt, wie
reich eigentlich das kulturelle Gedächtnis und die Praxis
in unserem Land sind, die uns gemein sind, und zwar
egal aus welchem Bundesland wir kommen, egal ob es
Menschen aus anderen Ländern sind, die zu uns kommen und unsere Kultur kennenlernen wollen, die Interesse an unserer Kultur haben oder die ihre Kultur in
unsere Tradition mit einbringen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Reichtum wollen wir bewahren.
Ulla Schmidt ({0})
({1})
Herr Kollege Börnsen, Sie haben selbst darauf hingewiesen, dass andere Länder schon weiter sind und dass
manche Dinge aufgelistet sind, die uns fremd sind, so bei
der letzten Liste der indonesische Saman-Tanz. Aber es
gibt auch Bekanntes, wie Flamenco oder französische
Esskultur. Ich hätte gerne meine Aachener Printen auch
endlich auf dieser Liste. Es tut mir wirklich weh, bei
jeder Liste, die veröffentlicht wird, feststellen zu müssen, dass das Land der Dichter und Denker nicht dabei
ist. Ich finde, es wird Zeit, dass sich das ändert. Wir
haben genug diskutiert. Die Bedenken, die Sie selber in
Ihrem Antrag erwähnen, nämlich dass vielleicht die
ganze Konvention zu konservativ ausgerichtet ist, dass
es möglicherweise Missbrauch durch ideologisch ausgerichtete Interessen geben könnte oder neue Rechtsansprüche entstehen könnten, sind alle ausgeräumt. Es gibt
eine gute Praxis in anderen Ländern, die uns zeigt: Das
geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, wenn wir das UNESCO-Übereinkommen für das
immaterielle Kulturerbe noch in dieser Legislaturperiode
ratifizieren wollen, müssen wir schon heute die konkreten Punkte vor Augen haben, die abzuarbeiten sind. Ich
lade Sie ein, mitzumachen und unsere Forderungen zu
unterstützen.
Wir fordern erstens einen konkreten Zeitpunkt, zu
dem die Ratifizierung spätestens vollzogen sein soll:
Ende 2012.
Wir fordern zweitens die Bundesregierung auf, umgehend zu überprüfen, ob das Übereinkommen Gegenstände der Bundesgesetzgebung im Sinne des Art. 59 des
Grundgesetzes berührt und damit ein Vertragsgesetz
erforderlich ist, und ergänzend zu prüfen, ob es auch
Umsetzungs- bzw. Ausführungsgesetze braucht.
Wir fordern drittens, schon jetzt parallel eine Verständigung über eine qualitätsgesicherte Methodik zur
Erstellung der Bestandsaufnahme des immateriellen
Kulturerbes vorzunehmen.
Wir fordern viertens die Verständigung über ein bundesweit einheitliches Verfahren und klare Entscheidungskriterien für die Erstellung der nationalen Inventarliste.
Wir fordern fünftens ein Konzept für einen angemessenen Schutz der immateriellen Kulturgüter.
Wir fordern sechstens die Einrichtung eines gemeinsamen Fachforums wie in Österreich und der Schweiz,
um den Prozess der Ratifizierung vorzubereiten und die
Umsetzungspraxis zu begleiten.
Wir tun gut daran, dies so konkret zu benennen; denn
wenn wir bis Ende 2012 die Ratifizierung umgesetzt
haben wollen, müssen diese Dinge auf den Weg gebracht
werden. Dann muss man auch genaue Aufträge geben:
Fangt bitte sofort an und geht diese einzelnen Schritte
durch.
Das ist eben das Problem. Wir vermissen in Ihrem
Antrag diese konkreten Schritte. Uns ist es zu vage, jetzt
noch zu fordern, „die Gespräche … fortzuführen“, „für
eine Zustimmung … zu werben“, „zu einem Forum …
einzuladen“ oder „das formelle Ratifizierungsverfahren
… in Gang zu setzen“, ohne einen konkreten Zeitpunkt
zu nennen.
Ich habe lange Erfahrung, auch in unserem föderalen
System. Ich sage Ihnen: Man muss ganz konkrete
Schritte gehen, damit man möglichst nicht noch ein Jahr
oder zwei Jahre diskutiert. Diskutieren können wir schon
lange. Wir müssen es jetzt aber in Gang setzen.
Jedenfalls wir vonseiten der SPD werden uns dafür
einsetzen, dass die UNESCO auch weiterhin die gebührende Anerkennung erfährt, sowohl national als auch
international, dass Deutschland seinen internationalen
Verpflichtungen für die UNESCO, über die wir uns ja
einig sind, auch nachkommt, und dass Deutschland die
Umsetzung der UNESCO-Übereinkommen fördert,
besonders im eigenen Land.
Wir wollen, dass das Übereinkommen für das immaterielle Kulturerbe unverzüglich ratifiziert und umgesetzt wird. Diskutiert haben wir genug, finde ich. Es gibt
keinen Grund, noch lange abzuwarten. Wir wollen uns
beim nächsten Mal endlich darüber freuen können, dass
auch unsere Kulturgüter mit auf dieser wunderbaren
Liste stehen. Dann kommt das Norddeutsche hinein und auch die Aachener Spezialitäten.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Reiner Deutschmann hat für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Eine der wesentlichen Aufgaben der UNESCO ist die Bewahrung des kulturellen
Erbes.
Schon in der ersten Lesung des uns heute vorliegenden Antrags haben wir zum Ausdruck gebracht, welche
Bedeutung dem Schutz des kulturellen Erbes zukommt.
Dazu stehen der Weltgemeinschaft eine Vielzahl von
Werkzeugen - wie die UNESCO-Welterbekonvention zur Verfügung.
Das kulturelle Erbe hat viele Facetten. Mit der heute
von uns debattierten UNESCO-Konvention zum Schutz
des immateriellen Kulturerbes betreten wir Neuland und
schließen zugleich eine Lücke im Schutzsystem. Wir
vervollständigen den Schutz des Weltkulturerbes.
Viele Länder - das wurde bereits gesagt - haben diese
Konvention schon ratifiziert. Darunter sind auch unsere
Nachbarländer Schweiz, Österreich und Frankreich. In
unseren parlamentarischen Debatten in der 16. und
17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wurde
deutlich, dass unsere Nachbarn durchweg positive
Erfahrungen mit der Konvention sammeln konnten.
Ich selbst stamme aus dem Siedlungsgebiet der Sorben. Die Sorben in Sachsen und Brandenburg konnten
ihre Identität im Laufe der Geschichte nur durch die
Pflege ihrer Tradition und ihrer Sprache erhalten. Dies
war und ist nicht leicht in einem Umfeld, in dem die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die Hauptmedien und auch der größte Teil des kulturellen Angebots
an der deutschen Sprache und Kultur ausgerichtet sind.
Aber gerade da zeigt sich, welche Bedeutung Kultur und
Brauchtumspflege im Leben der Menschen haben. So ist
die Förderung von nationalen Minderheiten eine Angelegenheit, die unserer speziellen Aufmerksamkeit bedarf.
Dies gilt insbesondere für das sorbische Volk, das keinen
eigenen Staat im Hintergrund hat.
Trotzdem sollten wir unser Augenmerk in abgeschwächter Form auch auf die oftmals überraschend
unterschiedlichen regionalen Traditionen und Bräuche
richten. Schließlich macht gerade die Vielfalt der Regionen auch die Vielfalt Deutschlands aus. Als Kulturnation
brauchen wir diese Vielfalt, um daraus Kraft zu schöpfen, Rückhalt zu gewinnen und Ideen für Neues zu entwickeln. Deswegen müssen wir die Kräfte nutzen, die
durch die Ratifizierung der Konvention in Deutschland
frei werden und wirken können.
({0})
Das Schutzsiegel „UNESCO“ ist ein Gütenachweis
ersten Ranges. Wer sich damit schmücken kann, dem ist
die besondere Aufmerksamkeit im In- und Ausland
gewiss. Laut UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa
liegt jedes Jahr eine sehr hohe Anzahl an Anmeldungen
vor. Sie denkt darüber nach, die Zahl der Neuanmeldungen auf 60 pro Jahr zu begrenzen. Käme es zu einer solchen Begrenzung, dann könnte Deutschland nicht einmal jedes zweite Jahr einen Titel anmelden. Gerade auch
deswegen ist es wichtig, dass Deutschland mit der Ratifizierung nicht länger zögert. Wir sind schon durch die
Nichtratifizierung in den letzten Jahren zurückgefallen.
Zwischenzeitlich hat Frankreich, wie schon erwähnt, das
gastronomische Mahl, Portugal die Fado-Musik und
Brasilien den Samba durch die Konvention schützen lassen. Allein Spanien steht zwölfmal auf der Liste, Brasilien fünfmal und Frankreich neunmal.
Ich denke, wir sind es den Bewahrern der verschiedensten immateriellen Kulturgüter in Deutschland schuldig, dafür zu sorgen, dass diese Form des deutschen Kulturgutes unter den Schutz der Konvention fällt. Deshalb
ist es für uns wichtig, dass dieser Antrag heute diskutiert
wird und die Reden nicht zu Protokoll gegeben werden.
({1})
Eigentlich besteht die Liste der UNESCO-Welterbekonvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes
aus drei Listen mit eigenen Schwerpunktsetzungen. Es
gibt die Repräsentative Liste, die die Vielfalt der immateriellen Kulturformen deutlich machen soll. Es gibt das
Register der guten Praxisbeispiele, in das Projekte aufgenommen werden können, die modellhaft die in der
Konvention enthaltenen Bestimmungen umsetzen. Und
es gibt die Liste, die das dringend erhaltungsbedürftige
immaterielle Kulturerbe aufführt, das vom Aussterben
bedroht ist. Diese Schwerpunktsetzung macht deutlich,
dass die UNESCO gerade auch dem bedrohten kulturellen Erbe eine Sonderrolle im Schutzgefüge der
UNESCO beimisst. Diesen Ansatz unterstützen wir als
Liberale in besonderem Sinne.
Die Anträge der Koalition sowie von SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegen nicht weit auseinander. Ich
begrüße, dass wir uns darin einig sind, dass die Konvention alsbald ratifiziert werden muss. Über den Weg kann
man gewiss unterschiedlicher Meinung sein. Wir wollen
die Ratifizierung möglichst unbürokratisch und effizient
begleiten. Dazu geben wir den handelnden Akteuren den
nötigen Spielraum, der für eine erfolgreiche Ratifizierung und vor allen Dingen für die Umsetzung der Konvention gebraucht wird.
Ich denke, dass insbesondere den Ländern hier eine
Schlüsselrolle zukommt. Hier ist sicherlich einige Arbeit
zu leisten. Aber die Länder haben bereits eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die seit einigen Monaten
vorliegt und viele Fragen der Opposition beantwortet.
Im Auswärtigen Amt ist die Angelegenheit in guten
Händen und wird dort positiv begleitet.
({2})
Ich bin zuversichtlich, dass uns im kommenden Jahr die
erfolgreiche Ratifizierung gelingt und alle Beteiligten
mit den Ergebnissen zufrieden sein werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Deutschmann. - Jetzt für
die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau
Dr. Lukrezia Jochimsen. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber, verehrter Kollege Börnsen, die Bäcker wollen es,
die Handwerker wollen es, die Schausteller wollen es,
({0})
ich frage mich: Wieso wollen die Koalitionsfraktionen
mit ihrem Antrag nicht, dass diese Konvention alsbald,
wenigstens im Jahre 2012, ratifiziert wird?
({1})
Warum wollen Sie das nicht? Sie führen den Wortschwall all derer aus, die das wollen, aber das passt nicht
zu dem Antrag, den Sie uns hier vorlegen.
Acht Jahre, nachdem die UNESCO die Konvention
beschlossen hat, fünf Jahre, nachdem die notwendigen
30 Staaten sie ratifiziert haben, und nachdem mehr als
139 Staaten - ich wiederhole: 139 Staaten! - beigetreten
sind, legen Sie uns einen zu nichts entschlossenen Antrag unter dem Titel vor: „Ratifizierung … vorantreiben“. „Vorantreiben“ klingt gut, sagt aber gar nichts aus,
zum Beispiel wann denn ratifiziert werden kann, soll,
darf.
Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen steht
ein festes Datum: Ende 2012. Davon enthält der CDU/
CSU-FDP-Antrag kein Wort. Er will ja auch nur „vorantreiben“ und meint, uns mit einem großen Wortschwall
klarzumachen, was alles erledigt werden muss: Man
muss werben. Man muss Interessierte und Betroffene
einladen. Man braucht Verständnis und Zustimmung. Unsere Zustimmung haben Sie, und zwar schon seit fünf
Jahren, als wir uns mit der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“ für eine Ratifizierung ausgesprochen
haben.
Die Zustimmung der anderen beiden Oppositionsparteien haben Sie auch. Also: Warum solch ein unbestimmter, im Grunde nichtssagender Antrag? Hier braucht
Deutschland doch nicht das Rad neu zu erfinden.
Unter den 139 Ländern, die bereits ratifiziert haben,
befinden sich unsere Nachbarn Schweiz und Österreich.
Da lässt sich gut und schnell lernen, wie man solch eine
Konvention umsetzt, statt sie irgendwie „voranzutreiben“.
Wie lange und wie oft noch wollen Sie uns eigentlich
versprechen, die Ratifizierung in Abstimmung mit den
Ländern zu prüfen und zu prüfen und nochmals zu prüfen? Seit 2007 hören wir dieses Argument immer wieder ohne irgendein Ergebnis.
Warum ist die Ratifizierung dieser Konvention so
wichtig und so dringend? Weil es um den Schutz und Erhalt von Traditionen und Ritualen in unserem Land geht,
die in Vergessenheit geraten, und dies schneller als man
denkt. Denken Sie nur an Volksfeste, Brauchtum, auch
religiöse Rituale!
Es heißt oft, die Weltkulturerbestätten seien materieller Ausdruck unseres kulturellen Gedächtnisses. Das immaterielle Kulturerbe entspricht unserem ganzen Leben
in all seinen Ausdrucks-, Erinnerungs- und Genussformen. Lassen Sie es uns tatsächlich jetzt schützen und
fördern, statt nur die Idee dazu irgendwie weiter voranzutreiben. Wenn schon die Aachener Printen auf die
Liste kommen, dann plädiere ich auch sehr für die Thüringer Klöße.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Herzlichen Dank. Jeder hat so seine Anregungen. Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Agnes Krumwiede. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
2006 haben bereits 136 Staaten das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes
ratifiziert. Eine Ratifizierung von deutscher Seite ist also
längst überfällig. Aber - das wurde schon angesprochen ein Bekenntnis zur Beteiligung, vor allem ein so vages
Bekenntnis, allein genügt uns nicht.
Entscheidende Verfahrensfragen werden im Antrag
der Koalition ausgespart.
({0})
In unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD fordern
wir die Bundesregierung auf, Rahmenbedingungen zur
Umsetzung festzulegen. Wir brauchen ein mit dem in der
Schweiz vergleichbares Verfahren, das die Zivilgesellschaft bei der Erstellung von Inventarlisten immaterieller Kulturgüter für das UNESCO-Übereinkommen unmittelbar beteiligt.
({1})
Immaterielle Kulturgüter sind fester Bestandteil unseres Alltags. Kinderlieder, Märchen, das Kunsthandwerk
genauso wie unsere Ess- und Trinkkultur prägen unsere
Identität.
({2})
Immaterielle Kulturgüter lassen sich schwer eingrenzen;
denn sie befinden sich in ständiger Veränderung durch
generationsbedingte, soziale und interkulturelle Einflüsse. Die Debatte um die Nominierung immaterieller
Güter ist in vollem Gange. Allein schon dieser gemeinsame Suchprozess ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft; denn die Auseinandersetzung mit der Bedeutung
immaterieller Kulturgüter stärkt das kollektive Bewusstsein für ihren Wert. Mittlerweile kursieren zahlreiche
Vorschläge, von den Kneippkuren bis hin zum Thüringer
Kloß und dem Reinheitsgebot für das deutsche Bier. Den
Ideen sind keine Grenzen gesetzt.
({3})
Wir brauchen dringend verbindliche Kriterien für das
Auswahlverfahren in Deutschland. Das gesamte Spektrum unseres Reichtums an immateriellen Gütern muss
berücksichtigt werden. Ich halte es aber für eine Denkfalle, bei der Auswahl das Kriterium „typisch deutsch“
als hauptsächlichen Maßstab anzulegen; denn Kunst und
Kultur kennen keine nationalen Grenzen. Zahllose
Werke deutschsprachiger Komponisten, Autoren und
Künstler sind inspiriert durch multikulturelle Einflüsse.
({4})
Der Christopher Street Day oder auch Balkan-Partys
sind heute in Deutschland ebenso etablierte Traditionsfeste wie das Münchener Oktoberfest.
Immaterielle Kulturgüter kennzeichnen die Einzigartigkeit und Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen. Ideologisch und politisch motivierte Ausgrenzungstendenzen
haben beim Auswahlverfahren genauso wenig verloren
wie rein kommerzielle Überlegungen. Kulturtraditionen
aller kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen müssen
bei der Auswahl gleichberechtigt berücksichtigt werden.
({5})
Auch das traditionsreiche Kulturgut der deutschen
oder in Deutschland lebenden Minderheiten muss eine
Rolle spielen. Ein Auswahlkriterium könnte daher die
Schutzbedürftigkeit sein. In Österreich zum Beispiel
wurde die Sprache der Burgenland-Roma in die Vorschläge mit aufgenommen. Auch unser Kulturleben ist
geprägt durch die mündlichen Überlieferungen der Geschichten und Lieder und der von Generation zu Generation weitergegebenen Instrumentalmusik der Sinti und
Roma.
Mit der Nominierung immaterieller Kulturgüter von
deutscher Seite muss ein angemessener Schutz gewährleistet sein. Mittlerweile hat die UNESCO dafür auch einen internationalen Fonds eingerichtet. Wie dieser angemessene Schutz konkret umgesetzt werden kann, dazu
gibt es von der Bundesregierung leider noch keine Vorschläge. Deshalb fordern wir die Entwicklung solcher
Konzepte.
({6})
Hier liegt auch eine der zukünftigen politischen Hauptaufgaben mit großer Tragweite. Wenn wir zum Beispiel
die mündlichen Überlieferungen der Kulturtradition von
Sinti und Roma unter Schutz des UNESCO-Übereinkommens stellen, müssen Sinti und Roma selbst auch
angemessenen Schutz erhalten. Das bedeutet auch: Sinti
und Roma müssen Bleiberecht erhalten in den Ländern,
wo sie langjährigen Duldungsstatus haben.
Wenn unsere Opern-, Konzert- und Theatertradition
als immaterielles Kulturgut vorgeschlagen und anerkannt werden sollte, dann müssen wir dafür sorgen, dass
sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für
Kulturschaffende verbessern,
({7})
damit der künstlerische Beruf auch für nachfolgende Generationen attraktiv ist und sich die Tradition fortsetzen
kann.
Die Ratifizierung der UNESCO-Übereinkunft ist also
mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Genau
darin liegt auch die große Chance für unsere Gesellschaft und für die Weiterentwicklung unserer kulturellen
Vielfalt.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Krumwiede. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Christoph
Poland. Bitte schön, Kollege Poland.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich werde hier nicht Wiederholungen vermeiden können; denn wir haben uns mit Blick auf das immaterielle Kulturerbe wahrscheinlich auf viele gleiche
Beispiele konzentriert. Ich glaube, es ist heute, kurz vor
Weihnachten, eine gute Zeit - es ist ja eine Zeit, in der
man Brauchtum besonders pflegt -, darüber zu reden.
Vielleicht kommen die Nürnberger Lebkuchen oder der
Thüringer Kloß zum Gänsebraten. Das ist in dieser Zeit
ja zu erwarten.
({0})
Diese UNESCO-Konvention ist ein Pendant zu den
UNESCO-Welterbestätten. Diese sind ja materiell greifbar. Hier geht es um immaterielles Kulturgut, das wir
schützen wollen. Wegen der Umsetzung gab es in den
letzten Jahren bei uns Bedenken. Die guten Ergebnisse
in Österreich, das zum Beispiel die Aufnahme des Weihnachtsliedes „Stille Nacht“ als Kulturgut beantragt hat,
und auch die Beispiele der Schweiz haben uns überzeugt, die Ratifizierung der Konvention zum immateriellen Kulturerbe voranzutreiben. Es hilft uns, wenn wir in
den Nachbarländern gute Erfolge sehen. Die 139 Staaten, die bis jetzt dem Übereinkommen beigetreten sind,
sind ein gutes Beispiel. Wir würden uns isolieren, wenn
wir es diesen Staaten nicht gleichtun würden.
({1})
Ihren Antrag jedoch müssen wir ablehnen, weil in ihm
übersehen wird, dass von Bundesseite bereits alle Vorbereitungen getroffen sind. Wir haben Kostenermittlungen
vorgenommen und Abstimmungen mit den Ländern und
der UNESCO-Kommission getroffen. Wir haben im
Haushalt 2012 des Staatsministers für Kultur 100 000
Euro zur Finanzierung der notwendigen Koordinierungsstelle eingestellt.
({2})
Das ist doch ein Zeichen dafür, dass die Bundesregierung diese Ratifizierung will,
({3})
dass wir uns zu der Verpflichtung bekennen, der
UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe
endlich beizutreten.
({4})
- Ja, das ist so.
Ich kann mir gut vorstellen, dass wir viele Anträge, in
die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen
zu werden, zu erwarten haben, zum Beispiel aus dem
Handwerk. Denken Sie einfach nur einmal an die Handwerksgesellen, die ihre Heimat verlassen haben, um
fremde Bräuche kennenzulernen und sie in ihre alte Heimat zu tragen. Gesellenwanderschaft erweitert den Horizont und bereichert den Erfahrungsschatz.
Stichwort „Handwerk in seinen verschiedensten Aspekten“: Ich würde das nicht so eng sehen. Frau
Krumwiede, Sie sprechen nur vom Kunsthandwerk, nur
von Kunst und Kultur. Das Handwerk der Böttcher ist
dabei, auszusterben.
({5})
Kaum noch einer weiß, was das ist. Ich erinnere auch an
das Netzknüpfen der Fischer und ähnliche Dinge. All
das ist schützenswert. Handwerk dieser Art sollten wir
nicht vergessen. Ein Viertel aller angemeldeten Gewerbe
entfällt nämlich auf das Handwerk.
({6})
12,2 Prozent aller Erwerbstätigen und 30,3 Prozent aller
Auszubildenden sind im Handwerk beschäftigt. In diesem Bereich gibt es ganz viel Traditionelles und Schützenswertes.
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das Bäckerhandwerk. Wir haben heute schon von verschiedenen Seiten gehört: Unser täglich Brot gib uns heute. Wir
haben in Deutschland 300 Brotsorten und mehr als 1 200
verschiedene Kleingebäcksorten. In Gesprächen mit der
Bäckerinnung erfährt man, dass sie darüber nachdenkt,
nach der Ratifizierung dieser UNESCO-Konvention die
Anerkennung des Brotes als immaterielles Kulturerbe zu
beantragen.
Ich möchte aus meinem zweiten Berufsleben sprechen: Als Brauer und Mälzer bin ich relativ schnell dem
Deutschen Institut für Reines Bier beigetreten. Die Initiative, die Herbert Frankenhauser und der Deutsche
Brauer-Bund im Frühjahr dieses Jahres ergriffen haben,
nämlich das deutsche Reinheitsgebot unter Schutz zu
stellen, kann ich nur unterstützen. Glauben Sie mir: Das
Brauen ist ein schönes Handwerk.
({7})
Das Risiko einer Folklorisierung oder einer Kommerzialisierung des immateriellen Kulturerbes sehe ich
nicht. An meinen Beispielen erkennen Sie, dass es sich
beim immateriellen Kulturerbe um eine gelebte Kulturtradition handelt und dass es nicht um museale Erhaltung
geht; das ist überhaupt nicht unsere Absicht. Wir wollen
auch keine rein touristische Präsentation von Brauchtum.
Das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes von 2003 ist ein wichtiges Bindeglied
zwischen der Welterbekonvention von 1972 und dem
Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der
Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005. Wenn
wir dieser Konvention beitreten, dann ist das eine vertrauensbildende Maßnahme. Sie wissen bereits, dass wir
das Vorgehen mit den Ländern abstimmen. Die Kultusministerkonferenz hat dem schon zugestimmt. Wir wollen den Verlust überlieferten Kulturerbes nicht befürchten müssen. In dieser Konvention sehen wir die Chance,
volkstümliche Traditionen zu pflegen und neu zu entdecken.
Kulturelle Vielfalt spiegelt sich nicht nur in Museen,
Kirchen und erhaltenswerten Stadtensembles wider. Das
haben wir vorhin bereits gehört; ich will das nicht wiederholen. Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir unterstützen unsere Bundesregierung mit diesem Antrag ausdrücklich.
Vielen Dank. Ein schönes Weihnachtsfest!
({8})
Bis dahin müssen wir schon noch ein bisschen was
schaffen. Morgen ist auch noch Plenarsitzung. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 17/8121. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/6314 mit dem Titel „Ratifizierung der
UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe
vorantreiben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der Sozialdemokraten und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6301 mit dem Titel „Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur
Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vorbereiten
und unverzüglich umsetzen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Krista
Sager, Wolfgang Wieland, Kai Gehring, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung des Doktorgrades aus
dem Passgesetz, dem Gesetz über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis, der Personalausweisverordnung sowie
dem Aufenthaltsgesetz und der Aufenthaltsverordnung
- Drucksache 17/8128 17904
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind alle damit einverstanden. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/8128 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf soll federführend beim Innenausschuss beraten
werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung
({1}) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011
über die Bürgerinitiative
- Drucksache 17/7575 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 17/8029 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Jimmy Schulz
Wolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind hier in der Sitzungsleitung bereits bekannt.
Europa befindet sich durch die Staatsschuldenkrise in
seiner schwersten Bewährungsprobe. Es stellt eine ge-
waltige Herausforderung dar, diese zu meistern und die
Wirtschafts- und Währungsunion wieder zu einer Stabi-
litätsunion zu machen. Mit den Beschlüssen des europäi-
schen Gipfels der vergangenen Woche haben die Staats-
und Regierungschefs einen Weg aufgezeigt, die Ursa-
chen der Krise zu bekämpfen und ein Auseinanderbre-
chen der Eurozone zu vermeiden. Gleichzeitig haben sie
das Tor zur vertieften politischen Integration weit aufge-
stoßen. Das ist ohne Zweifel ein großer Erfolg für unsere
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die deutsch-franzö-
sische Partnerschaft, die diesen Durchbruch ermöglicht
hat.
Der Weg zu einer weiteren Vertiefung der europäi-
schen Einigung kann nur erfolgreich beschritten
werden, wenn Europa - als demokratischer Zusammen-
1) Anlage 9
schluss verschiedener Länder - von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wird. Die täglichen
Hiobsbotschaften über die Schuldenkrise waren hier gewiss nicht förderlich, sondern haben die Menschen in
Deutschland und in Europa verständlicherweise tief verunsichert.
Für die Politik gilt es, wieder Vertrauen herzustellen.
Dazu muss den Menschen zum einen vermittelt werden,
dass sich die mit der Stärkung Europas verbundenen Anstrengungen lohnen. Dabei ist zunächst an den grundlegenden Wert und die ursprüngliche Zielsetzung Europas
zu erinnern. Nach langen Zeiten des Hasses, des Blutvergießens und von kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem schrecklichen Tiefpunkt des Zweiten Weltkriegs sollte in Europa durch eine wirtschaftliche und
politische Vereinigung der Länder endlich ein friedliches Zusammenleben wachsen. Nach über fünfzig Jahren des Friedens und Wohlstands in Europa wäre es ein
Fehler, zu glauben, dass dieser Erfolg heutzutage und
für die Zukunft selbstverständlich ist.
Den Menschen muss außerdem klargemacht werden,
dass es handfeste Vorteile für die Länder in Europa und
seine Bürger mit sich bringt, wenn die Mitgliedstaaten
der Europäischen Union versuchen, sich den Herausforderungen insbesondere der Globalisierung gemeinsam
zu stellen. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:
- Der europäische Binnenmarkt mit seinen Absatzmärkten für Deutschland schafft und sichert Arbeitsplätze in unserem Land.
- Der größere Wettbewerb sorgt in vielen Fällen für
günstigere Preise und besseren Verbraucherschutz.
- Europa ermöglicht in hohem Maße die Freizügigkeit
von Menschen und den Austausch von Ideen und sichert damit die Grundlage für einen wettbewerbsfähigen und dynamischen Wirtschaftsraum.
- Die europäische Kooperation ermöglicht, Umweltprobleme intensiv und effektiv zu bekämpfen und zu
verhindern.
- Eine intensive, grenzübergreifende Zusammenarbeit
der Polizei und Strafverfolgungsbehörden sorgt für
eine effiziente Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Terrorismus, Drogenhandel oder illegaler
Zuwanderung und damit für mehr Sicherheit auch in
Deutschland.
- Gemeinsames Handeln verschafft Europa schließlich
bei außenpolitischen Fragestellungen Gewicht in der
Welt.
Zum anderen muss es gelingen, die Identifizierung
der Menschen mit Europa zu stärken. In diesem Zusammenhang ist das offensichtliche Demokratiedefizit auf
der europäischen Ebene, das nicht nur von einer großen
Zahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beklagt wird, sondern das auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, ein großes Hindernis.
Das Instrument der europäischen Bürgerinitiative,
das mit Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die Europäische
Union neu geschaffen wurde, kann dazu beitragen, dieIngo Wellenreuther
ses Defizit abzubauen. Denn es gibt den Bürgern in Europa erstmals die Möglichkeit, direkt und nicht vermittelt über Wahlen oder eine Petition an der europäischen
Gesetzgebung mitzuwirken. Mit dieser unmittelbaren
Mitwirkungsmöglichkeit verbindet sich die Hoffnung,
dass die Menschen die Politik und das Gesetzgebungsverfahren in Europa besser kennenlernen und verstehen.
Das Interesse an Europa soll gesteigert werden, und für
Europakritiker soll es schwieriger werden, zu argumentieren, dass ausschließlich ferne EU-Bürokraten über
angeblich machtlose Unionsbürger entscheiden. Aufgrund der Tatsache, dass die Unterstützer aus mehreren
Mitgliedstaaten kommen müssen, ist eine Vernetzung
von nationalen Bewegungen und Organisationen erforderlich, wodurch ein transnationales, europäisches Bewusstsein vertieft werden soll.
Dabei liegt die Zielrichtung der europäischen Bürgerinitiative nicht darauf, dass sich Lobbygruppen diese
zunutze machen, sondern - wie der Name schon sagt darauf, dass sich idealerweise Bürgerinnen und Bürger
grenzübergreifend zusammenfinden, um ein nach ihrer
Ansicht drängendes Thema auf die Agenda der Europäischen Kommission zu setzen. Dass ein solches grenzüberschreitendes Bündnis von Bürgern gelingt, ist
zugegebenermaßen nicht einfach. Jedenfalls ist Grundvoraussetzung dafür, dass die Bürger in Europa über
dieses neuartige Instrument der direkten Demokratie gut
informiert sind. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit
nutzen, um einige wichtige Voraussetzungen und die Abfolge der Verfahrensschritte dafür kurz darzustellen.
Die europäische Bürgerinitiative wird den Unionsbürgern ab 1. April 2012 zur Verfügung stehen. Ein Gremium von mindestens sieben Personen aus sieben Mitgliedstaaten reicht aus, um das entsprechende Verfahren
in Gang zu setzen. Es war ein großer Erfolg für das Europäische Parlament, dass diese erste Hürde so niedrig
angesetzt ist. Die Europäische Kommission wollte ursprünglich die Zulässigkeit von Bürgerinitiativen erst
prüfen, wenn 300 000 gesammelte Unterschriften vorgelegt worden wären.
Inhalt einer Bürgerinitiative muss die Aufforderung
an die Europäische Kommission sein, im Rahmen ihrer
Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und
Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die europäischen Verträge umzusetzen. In nahezu allen Politikbereichen, die in den Kompetenzbereich der Union
fallen, hat die Kommission das Initiativrecht. Dementsprechend können Bürgerinitiativen zu fast allen Themen angestoßen werden. Allerdings gibt es zwei Einschränkungen: Erstens darf der Rechtsakt, der mit der
Bürgerinitiative erreicht werden soll, höherrangigem
europäischem Recht nicht widersprechen und die
Grundrechte der Union nicht verletzen. Zweitens ist eine
Änderung des Primärrechts, also der grundlegenden
Verträge der EU, ebenfalls ausgeschlossen.
Als nächster Schritt erfolgt die Registrierung der Bürgerinitiative durch die Europäische Kommission auf
einer Webseite. Danach können die Organisatoren der
Initiative beginnen, innerhalb eines Jahres Unterstützungsbekundungen zu sammeln. Im Zeitalter des Internets und von Onlinenetzwerken erhöht es den
Wirkungsgrad ungemein, dass die Sammlung von Unterstützungsbekundungen nicht nur in der Papierform, sondern auch online möglich ist. Bürgerfreundlich ist zudem, dass die Europäische Kommission dafür bis zum
1. Januar 2012 kostenfrei eine Open-Source-Software
bereitstellen wird.
Mindestens eine Million Unionsbürger müssen die
Bürgerinitiative unterzeichnen, um diese gültig zu machen. Im Verhältnis zu den sonst üblichen Quoren bei direktdemokratischen Elementen ist diese Zahl sehr niedrig angesetzt, denn sie entspricht lediglich 0,2 Prozent
der Unionsbürger. Die Unterzeichner müssen nach dem
jeweiligen nationalen Recht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wahlberechtigt sein. Berechtigt
dazu, eine Bürgerinitiative zu unterzeichnen, sind in
Deutschland also alle Deutschen, die am Wahltag das
18. Lebensjahr vollendet haben und irgendwann nach
dem 23. Mai 1949 mindestens drei Monate lang ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland oder der
Deutschen Demokratischen Republik gelebt haben, sowie auch alle anderen in Deutschland lebenden Bürger
der Europäischen Gemeinschaft, die am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sind und seit mindestens drei Monaten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wohnen.
Die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten überprüfen innerhalb von drei Monaten die Unterstützungsbekundungen.
Weitere Voraussetzung ist, dass die Unterstützer aus
mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten, derzeit
also aus sieben Mitgliedstaaten, kommen. Dies korrespondiert mit Art. 76 des Vertrags über die Arbeitsweisen
der Europäischen Union und damit wird im Sinne der
Gleichwertigkeit von Parlament und Bürgerschaft das
gleiche Prinzip angewendet, das bei der Bildung europäischer Parteien zu berücksichtigen ist. Auch in diesem
Punkt hatte sich das Europäische Parlament mit seiner
Forderung nach einer einfachen Handhabung der Bürgerinitiative durchgesetzt. Der Entwurf der Europäischen Kommission sah nämlich noch vor, dass die Unterschriften aus einem Drittel der EU-Ländern kommen
müssten, also aus zurzeit neun Mitgliedstaaten. Zugleich
wird mit dem Erfordernis einer Mindestzahl der Länder
sichergestellt, dass nicht lediglich regional bedeutsame
Initiativen zum Zug kommen, sondern dass die jeweiligen Angelegenheiten europaweit relevant und interessant sind. Erforderlich ist auch eine jeweilige Mindestzahl an Unterstützern aus diesen sieben Staaten, die sich
nach der Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament richtet. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments aus dem jeweiligen Land werden mit 750 multipliziert, sodass man auf Grundlage der 99 aus Deutschland
entsandten Europaabgeordneten auf die Zahl von mindestens 74 250 Unterzeichnern aus unserem Land
kommt, die eine Bürgerinitiative unter Beteiligung
Deutschlands unterzeichnen müssten.
Wenn all diese Voraussetzungen vorliegen, ist die
Bürgerinitiative zulässig, und die Europäische Kommission prüft dann das Begehren. In diesem Verfahren wird
den Organisatoren die Möglichkeit gegeben, ihre BürZu Protokoll gegebene Reden
gerinitiative innerhalb einer öffentlichen Anhörung im
Europäischen Parlament vorzustellen. Innerhalb von
drei Monaten legt die Kommission ihr beabsichtigtes
Vorgehen und die Gründe dafür dar. Falls sie nicht beabsichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, begründet sie dies
ebenfalls.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung werden, wie es die EU-Verordnung über die
Bürgerinitiative verlangt, für das Institut der europäischen Bürgerinitiative nationale Zuständigkeiten zugewiesen und Verfahren festgelegt. Dabei handelt es sich
im Wesentlichen um folgende Regelungen:
Als national zuständige Behörde, die die Unterstützungsbekundungen überprüft und die Bescheinigungen
über die Zahl der gültigen Bekundungen in Deutschland
ausstellt, wird das Bundesversicherungsamt benannt.
Außerdem wird das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik als die zuständige Behörde benannt, die bescheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit
den technischen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der EU-Verordnung über die Bürgerinitiative vereinbar ist.
Die EU-Verordnung sieht die Möglichkeit vor, die Zulässigkeit der gesammelten Unterstützungsbekundungen
stichprobenartig zu überprüfen. Davon machen wir in
Deutschland Gebrauch, um den Verwaltungsaufwand
gering zu halten. Zudem wird die Überprüfung von Unterstützungsbekundungen durch einen automatisierten
Datenaustausch zwischen Bundesversicherungsamt und
Meldebehörden erleichtert. Zu diesem Zweck wird die
Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung ergänzt.
Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die
Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen
die EU-Verordnung sanktionieren.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Instrument
der europäischen Bürgerinitiative durchaus bürgerfreundlich ausgestaltet und dazu geeignet ist, einen Beitrag für eine bessere Identifikation der Unionsbürger
mit Europa und zur Verminderung des Demokratiedefizits in der EU zu leisten.
Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der europäischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt werden. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den
Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden,
sind begrenzt: Die Europäische Kommission kann das
Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurückweisen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen absehen.
Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist auch
keine Volksabstimmung vorgesehen.
Ob die europäische Bürgerinitiative ein Erfolgsmodell wird und die in sie gesetzten Erwartungen wird erfüllen können, wird entscheidend davon abhängen, wie
die Europäische Kommission mit den Begehren umgehen wird, ob sie also in einen echten Dialog mit den
Unionsbürgern eintreten wird, um die vielfach kritisierte
Bürgerferne in Europa zu vermindern. Das ist jedenfalls
meine Erwartungshaltung an die Kommission, wenn die
ersten Bürgerinitiativen ab April nächsten Jahres gestartet werden.
Werfen wir erneut einen Blick auf Europa. In Zeiten,
wo die Zeitungen voll von drohenden Staatspleiten und
Diskussionen für und gegen eine Finanztransaktionsteuer sind, stellt die Einführung einer europäischen
Bürgerinitiative eine positive Entwicklung und eine
enorme Chance dar. Europa ist nicht nur in einer
Finanz- und Schuldenkrise, es ist auch in einer Legitimationskrise. Die Bürger fühlen sich anonymen Finanzmächten und nächtlichen Gipfelrunden hilflos ausgeliefert. Es muss eine der Lehren aus der Krise sein, dass
wir mehr direktdemokratische Elemente und damit mehr
direkte Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene brauchen.
Bürgerwille und Bürgerprotest sind bereits jetzt wichtiger Initiator, um politische Entscheidungen zu korrigieren. Denken wir nur an die Massenproteste gegen die
Dienstleistungsrichtlinie. Es gibt Themen, die viele
Menschen in Europa bewegen, für oder gegen die sich
Bürger länderübergreifend einsetzen. Bei den Massenprotesten gegen die Dienstleistungsrichtlinie sind Zehntausende Menschen in Straßburg auf die Straße gegangen und haben gegen die schrankenlose Liberalisierung
der Arbeitsmärkte demonstriert. Nicht zuletzt die Proteste und länderübergreifenden Aktionen haben dazu geführt dass, das Europäische Parlament sich darauf einigte, das von der Kommission vorgeschlagene und
umstrittene Herkunftslandprinzip zu streichen, das zu
gnadenlosem Unterbietungswettbewerb geführt hätte.
Hier wurde etwas bewegt! Die Occupy-Bewegung ist ein
aktuelles Beispiel dafür, wie sich Menschen über Ländergrenzen hinweg gegen die Macht der Finanzmärkte
wehrten und für eine Regulierung kämpfen. Die europäische Bürgerinitiative ist ein erster wichtiger Schritt in
Richtung mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Als
zweiter wichtiger Schritt müssen aber auch die Rechte
und Befugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt
werden - sonst geht der erste Schritt ins Leere. Das Europäische Parlament als Vertretung der Bürger der Europäischen Union ist zwar am Gesetzgebungsprozess
beteiligt, hat aber kein eigenes Initiativrecht. Das hat
nur die Europäische Kommission. Wir brauchen mehr
Demokratie auf EU-Ebene.
Sollten sich die Regierungen Europas erneut nicht
darauf verständigen können, eine wirksame Regulierung
der Finanzmärkte in Europa durchzusetzen, dann haben
künftig die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der europäischen Bürgerinitiative die Möglichkeit, ein Wort
dabei mitzureden und den Europäischen Gremien
„Beine zu machen“.
Die europäische Bürgerinitiative ist eine Möglichkeit
für die Bürger, stärker an der europäischen Politik teilzuhaben und die Entscheidungen aus den Hinterzimmern der Gipfeldiplomatie herauszuholen! Insofern sind
wir gut beraten, die europäische Bürgerinitiative schnell
und unbürokratisch umzusetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sozialdemokraten in Europa sind gewillt, dieses Instrument auch zu nutzen, sollten sich erneut die Lobbyisten der Börsen, Banken und Spekulanten durchsetzen
und die Einführung einer europäischen Finanztransaktionsteuer auf die lange Bank schieben.
Wieder darf ich gute Neuigkeiten zur europäischen
Bürgerinitiative berichten. Der Innenausschuss hat in
seiner Sitzung am 30. November 2011 dem Gesetz zur
Durchführung der Verordnung zugestimmt, und das sogar überfraktionell: mit den Stimmen von den Fraktionen CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD und
natürlich mit unseren Stimmen. Lediglich die Linke hat
sich enthalten - na wenigstens waren sie nicht dagegen.
Alles in allem also gute Nachrichten.
Das EU-Parlament hat bereits im Dezember 2010 die
Grundlagen für die Umsetzungsgesetze der Länder gelegt. Rechtzeitig können wir nun verkünden, dass
Deutschland für die europäische Bürgerinitiative bereit
ist. Meine Kollegin aus dem EU-Parlament, Alexandra
Thein, sagte so schön, dass sie stolz sei, damals im Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments,
AFCO, an der historischen Abstimmung über die EBI
dabei gewesen zu sein. Es sei eine feierlich-andächtige
Stimmung gewesen. Hier im Deutschen Bundestag dürfen wir nun ebenfalls stolz sein, ein Gesetz zu beschließen, das die Bürgerinitiative ermöglichen wird.
Mit diesem Gesetz ist es aber nicht getan. Das Gesetz
ist nämlich nur das Gerüst, nur die Anleitung, wie Bürgerinitiativen umgesetzt werden. Das schafft zwar beste
Voraussetzungen, garantiert aber nicht, dass dieses
Instrument zur Teilhabe auch genutzt wird. Wir alle,
liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, in den Landtagen und in den Kommunen, sind aufgerufen, für die europäische Bürgerinitiative zu werben
und Bürgerinnen und Bürger, die dieses neue Beteiligungsinstrument nutzen möchten, mit Rat und Tat zu unterstützen. Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu ermutigen und zu motivieren, sich über politische
Entscheidungen zu informieren, zu diskutieren und sich
direkt an politischen Entscheidungen zu beteiligen.
Hierfür müssen wir die Grundlagen schaffen. Es ist
unsere Aufgabe, Strukturen zur barrierefreien Information, zum Dialog und zur Teilhabe durch Abstimmungen
auch in Deutschland zu schaffen. Hier sehe ich das
Internet als besondere Chance für eine neue Partizipationskultur.
Wir stehen derzeit am Anfang einer Entwicklung, die
mithilfe der Digitalisierung der Partizipation ein neues
Gesicht verleihen kann. Durch den digitalen Fortschritt
und die damit einhergehenden veränderten Möglichkeiten eröffnen sich neue, kreative Chancen der Mitbestimmung und der Integration der Bürger in die politische
Debatte. Meiner Ansicht nach sind hierbei drei Stufen
relevant, die es zu berücksichtigen gilt:
Erstens zeigen jüngste Entwicklungen immer wieder,
dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht ausreichend
informiert fühlen. Die Fülle an Informationen, die fast
unmöglich aufzubereiten ist, ist hierbei genauso entscheidend wie das Problem, zu wenig oder widersprüchliche Details über gewisse Themen zu erfahren. Wir
müssen uns deshalb als Ziel setzen, durch transparente
Information präventiv Unzufriedenheit entgegenzuwirken. Das Internet kann zur Steigerung der Transparenz
sehr gut genutzt werden.
Zweitens findet nicht genügend „echter Dialog“ statt.
Mündige Bürger erwarten, in einen Dialog mit Vertretern der Politik treten zu können und ihre Forderungen
zu erklären, zu diskutieren und an der Meinungsbildung
ihrer gewählten Vertreter mitzuwirken. Ich bin davon
überzeugt, dass Dialog präventiv hinsichtlich dem
Wunsch vieler Bürger, über Themen selbst abzustimmen,
wirken kann. Denn ich sage es noch einmal: Dialog generiert Verständnis. Auch hier eröffnet das Netz uns
neue Möglichkeiten, zum Beispiel durch Konsultationsseiten oder auch soziale Netzwerke.
Als dritte Stufe betrachte ich die Möglichkeit, über
bestimmte Themen abzustimmen. Dies ist zwar in weiten
Teilen in Deutschland vorhanden - beispielsweise Volksbegehren, Volksentscheid auf Länderebene -, aber
alleine nicht mehr zeitgemäß. Reichen Information und
Dialog als Partizipationselemente nicht aus, setze ich
mich dafür ein, den Souverän selbst per Abstimmung
entscheiden zu lassen. Hier zeigt uns die EBI, dass eine
digitale Sammlung von Unterstützungsbekundungen
möglich ist.
Wir haben zwar auf Länder- und kommunaler Ebene
einiges vorzuweisen, was beispielsweise Volksentscheide betrifft. Auch die Grundlagen für die EU-Ebene
wurden nun gelegt. Die europäische Bürgerinitiative
bietet die Möglichkeit, einen Dialog anzustoßen, indem
sie Themen, die die Bevölkerung als wichtig erachtet,
quasi auf die Tagesordnung der EU-Politik setzt; zudem
können die Bürgerinnen und Bürger abstimmen.
Auf Bundesebene aber fehlt uns hier leider noch die
Übung. Da hinken wir noch hinterher. Wir sollten diskutieren, wie wir auch auf Bundesebene eine verbesserte
Teilhabe erreichen können.
Wir stimmen heute über das Gesetz zur Durchführung
einer europäischen Verordnung, die einen kleinen, aus
unserer Sicht aber wichtigen und längst überfälligen
Schritt in Richtung Beteiligungsdemokratie darstellt.
Die EU-Verordnung 211/2011 ermöglicht ab April 2012,
dass mindestens 1 Million Staatsangehörige aus mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten die Europäische Kommission auffordern, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen.
Für uns Linke ist die Demokratisierung der europäischen Strukturen ein wesentliches Anliegen. Europa ist
vielen Menschen fremd geblieben oder fremd
geworden - ein bürokratisches, undurchschaubares
Konstrukt, eine Angelegenheit, in die sie sich außerhalb
von Wahlen nicht einmischen dürfen und können. Was in
und für Europa entschieden wird, ist häufig intransparent und hat viel zu oft viel zu wenig mit ihren eigenen
Interessen und Problemen zu tun.
Zu Protokoll gegebene Reden
Daran wird - dessen sind wir uns sehr wohl bewusst auch die europäische Bürgerinitiative, die im LissabonVertrag verankert ist, nichts grundlegend ändern. Zu
groß sind gegenwärtig die Defizite in Sachen Beteiligungsdemokratie, zu klein das Engagement politischer
Akteure, daran etwas zu ändern.
Aber es wäre falsch nicht anzuerkennen, dass die
europäische Bürgerinitiative ein erster, kleiner Schritt
hin zu mehr Beteiligungsdemokratie ist. Sie ermöglicht
Menschen erstmals, sich zusammenzutun und ihre Interessen zu artikulieren. Sie verbrieft das Recht, die Europäische Kommission aufzufordern, zu einem Thema eine
Gesetzesinitiative in Gang zu bringen. Damit wird noch
keine gute, aber eine neue und eine bessere Qualität erreicht. Deshalb werden wir dem Gesetz zustimmen. Es
ist besser als gar nichts und es eröffnet die Möglichkeit,
dass sich Bürgerinnen und Bürger grenzüberschreitend
ihrer Interessen bewusst werden und zur Durchsetzung
dieser Interessen organisieren.
Wir wünschen uns und werden weiterhin dafür kämpfen, dass die Menschen in Europa mittels Volksabstimmungen mitregieren können. Es gibt aus unserer Sicht
keinen einzigen Bereich, bei dem Bürgerinnen und Bürger nicht mitreden sollten. Sie sind der Souverän und es
ist dringend notwendig, ihnen unter Ausnutzung aller
Instrumente der Demokratie diese Souveränität auch zuzugestehen.
In Bezug auf die europäische Bürgerinitiative wünschen wir uns und werden dafür kämpfen, dass auch jene
Mitbürgerinnen und Mitbürger mitmachen und unterschreiben können, die erst 16 oder 17 Jahre alt sind oder
die in einem europäischen Land leben, ohne über die
EU-Staatsbürgerschaft zu verfügen.
Wir wollen und werden uns dafür einsetzen, dass die
europäische Bürgerinitiative ausgebaut und weiterentwickelt wird im Hinblick auf Transparenz in der Finanzierung.
Direkte oder indirekte Finanzierung durch Firmen
muss aus unserer Sicht ausgeschlossen, stattdessen über
eine Kostenbeteiligung der Kommission geredet werden.
Die Fristen für das Sammeln der Unterschriften müssen
verlängert, Formulare müssen vereinfacht und von bürokratischem Ballast befreit werden.
All diese Aufgaben stehen an, brauchen Mehrheiten
und Engagement, um erledigt zu werden. Am Ende muss
aus unsere Sicht ein Initiativrecht für Bürgerinnen und
Bürger stehen, das handhabbar und transparent ist und
keine Hürden aufbaut.
Die europäische Bürgerinitiative ist kein Element direkter Demokratie im Sinne von Bürgerbegehren und
Bürgerentscheiden. Dies nicht klar und deutlich zu sagen, wäre Augenwischerei. Aber es wäre auch nicht zu
verantworten, die Gelegenheit verstreichen zu lassen,
wenigstens einen Anfang in Richtung mehr demokratische Teilhabe zu machen. Zu groß ist inzwischen das Legitimationsproblem der Europäischen Union gegenüber
ihren Bürgerinnen und Bürgern.
Die europäische Bürgerinitiative ermöglicht, dass
sich Menschen über Grenzen hinweg zu einem wichtigen
Thema nicht nur verständigen, sondern zur Durchsetzung ihrer Interessen auch initiativ werden. Sie können
ihre Erwartungen und Forderungen artikulieren und
politisches Handeln unmittelbar einfordern.
Meine Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. Er ist
nicht weitreichend genug und deshalb nicht ausreichend. Aber er eröffnet Möglichkeiten, die es bisher
nicht gab.
Uns allen ist bewusst, die EU befindet sich im Moment in schwierigem Fahrwasser. Dennoch gibt es heute
einen Grund zu großer Freude. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf setzen wir zwei Jahre nach Inkrafttreten
des Vertrags von Lissabon das erste staatenübergreifende Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit um. Mit
der europäischen Bürgerinitiative können sich die Bürgerinnen und Bürger ab April 2012 direkt in die Politik
der EU einmischen, zusätzlich zu den Wahlen zum Europäischen Parlament.
Demokratie lebt von Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement. Für mich und meine Fraktion war
und ist die europäische Bürgerinitiative deshalb stets von
herausragender Bedeutung. Ich bin sicher, die Einflussnahme möglichst vieler Unionsbürgerinnen und -bürger
auf die politische Willensbildung wird die demokratische Arbeitsweise der Europäischen Union bereichern.
Das neue Instrument bietet der EU eine einzigartige
Chance, näher an ihre Bürgerinnen und Bürger zu rücken, grenzüberschreitende Debatten über europäische
Fragen zu fördern und zum Aufbau einer europäischen
Öffentlichkeit beizutragen.
Diese Chance wollen wir Grüne nutzen. Deshalb haben wir uns hier im Bundestag gegenüber der Bundesregierung von Anfang an für ein verbindliches, nutzerfreundliches und unbürokratisches Verfahren zur
Durchführung von EU-Bürgerinitiativen eingesetzt und weitestgehend durchgesetzt. Nur ein Beispiel: Die
Bundesregierung - genauer gesagt: das federführende
Bundesinnenministerium - hatte ursprünglich vorgesehen, die Kosten für die Zertifizierung der Onlinesammelsysteme auf die Initiatorinnen und Initiatoren von
Bürgerinitiativen abzuwälzen. Man stelle sich das nur
mal vor, engagierte Bürgerinnen und Bürger hätten erst
mal mehrere Tausend Euro aufbringen müssen, um sich
an einem demokratischen Prozess überhaupt beteiligen
zu können. Eine absurde Überlegung, die an Hohn nicht
zu überbieten war. Das hatte ich Bundesinnenminister
Friedrich auch noch vor der Sommerpause mitgeteilt.
Zudem setzten sich die Europa-Union, Mehr Demokratie
e. V. und Citizens for Europe vehement für eine kostenlose EU-Bürgerinitiative ein - mit Erfolg: Wie wir alle
im vorliegenden Gesetzentwurf lesen können, ist die
Nutzung der EU-Bürgerinitiative nun kostenlos. Gratulation, Herr Bundesinnenminister Friedrich, für diese
unabdingbare Kehrtwende.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei meinen
Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament
Zu Protokoll gegebene Reden
bedanken. Auf Initiative der Grünen hat es das Europäische Parlament geschafft, die von der EU-Kommission
vorgesehenen hohen Hürden abzubauen. Die Anzahl der
Mitgliedstaaten, in denen Unterschriften gesammelt
werden müssen, konnte von neun auf sieben gesenkt werden; die Prüfung, ob eine EU-Bürgerinitiative überhaupt zugelassen wird, findet gleich am Anfang und
nicht erst nach 300 000 bereits gesammelten Unterschriften statt; Initiatorinnen und Initiatoren erfolgreicher Bürgerinitiativen haben ein Recht auf Anhörung
und können nicht mit einem Brief der EU-Kommission
abgespeist werden. Außerdem muss die Europäische
Kommission den Initiatorinnen und Initiatoren eine kostenlose Software für die Onlineunterschriftensammlung
zur Verfügung stellen und eine Kontaktstelle für Beratung und Nachfragen einrichten.
Ich freue mich, dass die europäische Bürgerinitiative
schon im ersten Anlauf ein bürgerfreundliches, unbürokratisches und praktikables Instrument geworden ist. Ab
April 2012, wenn die ersten Initiativen starten, müssen
wir schauen, wie gut die derzeitige Ausgestaltung funktioniert. Wenn erforderlich, kann in drei Jahren nachgebessert werden. Auch dafür haben sich die Grünen eingesetzt. Diese Gelegenheit der Nachbesserung werden
wir nutzen, um uns beispielsweise erneut für die Herabsetzung der Altersgrenze auf 16 Jahre einzusetzen. Und
außerdem ist klar: Wir Grüne sind offen für Ideen zur
Weiterentwicklung der europäischen Demokratie. Dabei
ist und bleibt jedoch wichtig: Wenn die Bürgerinitiative
ein Anfangspunkt der Entwicklung von direkter Demokratie auf europäischer Ebene werden soll, muss sie in
der Praxis von Politik und Zivilgesellschaft ernsthaft
und seriös behandelt und genutzt werden. Aber bis dahin
hoffe ich auf einen fulminanten Startschuss im April
2012 und viele erfolgreiche Initiativen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der europäischen Bürgerinitiative
in Europa ein Instrument gewonnen haben, mit dem sich
die Bürgerinnen und Bürger stärker Gehör im Brüsseler
Politikbetrieb verschaffen und damit die Debatte über
die Weiterentwicklung der EU enorm bereichern können. Und darauf freue ich mich.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8029, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/7575 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt
dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 4. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Französischen Republik über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft
- Drucksache 17/5126 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/8059 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind hier im Präsidium bekannt.
Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs haben sich im Januar 2010 im Rahmen eines bilateralen
völkerrechtlichen Vertrages auf die Einführung eines
neuen deutsch-französischen Wahlgüterstandes verständigt. Mit dem heute von uns abschließend beratenen Gesetz soll dieser Vertrag nunmehr ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt werden.
Erlauben Sie mir eingangs einen kurzen Exkurs ins
Güterrecht, um die Zielsetzung des Gesetzes zu veranschaulichen.
Das eheliche Güterrecht regelt zum einen, ob die von
den Ehepartnern in die Ehe eingebrachten und die während der Ehezeit erworbenen Vermögensgegenstände in
ein gemeinsames Vermögen der Ehegatten einfließen
oder weiterhin allein dem jeweiligen Ehepartner gehören, der sie eingebracht bzw. erworben hat. Darüber hinaus enthält das Güterrecht Regelungen, wie die Vermögensgegenstände und etwaige Vermögenszuwächse im
Falle der Scheidung - hier liegt naturgemäß die größte
praktische Bedeutung - zwischen den Eheleuten aufzuteilen und auszugleichen sind.
Sofern vertraglich nichts Abweichendes vereinbart
wurde, leben die Eheleute im gesetzlichen Güterstand
der Zugewinngemeinschaft. Das ist in Deutschland der
Regelfall. Die Zugewinngemeinschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass alle in die Ehe eingebrachten oder
während der Ehe erworbenen Vermögensgegenstände
im Alleineigentum des jeweiligen Ehepartners verbleiben. Im Falle der Scheidung findet dann lediglich ein finanzieller Ausgleich des während der Ehezeit erzielten
Vermögenszugewinns statt - der sogenannte Zugewinnausgleich. Dabei werden die Zugewinne der beiden Ehepartner bilanziert. Besteht zugunsten eines Ehegatten
eine Differenz, muss dieser dem anderen die Hälfte des
Differenzbetrages im Wege einer Einmalzahlung aus17910
gleichen. Damit soll gewährleistet werden, dass beide
Ehepartner an dem wirtschaftlichen Erfolg in der Ehe
gleichermaßen partizipieren. Der Zugewinnausgleich
berücksichtigt fast alle während der Ehezeit erzielten
Vermögenszuwächse mit Ausnahme von Ansprüchen, die
der Altersvorsoge dienen und daher dem Versorgungsausgleich vorbehalten bleiben.
Darüber hinaus sieht das deutsche Recht weitere Güterstände vor, die die Eheleute vertraglich vereinbaren
können. Das sind im Wesentlichen die Gütergemeinschaft, bei der alle eingebrachten und erworbenen Vermögensgegenstände gemeinsames Vermögen der Ehepartner sind, sowie die Gütertrennung, die - wie der
Name schon sagt - durch eine strikte Trennung der Vermögensmassen der Eheleute gekennzeichnet ist, ohne
dass im Falle einer Scheidung irgendein Ausgleich zwischen ihnen erfolgt.
In Frankreich stellt hingegen die Errungenschaftsgemeinschaft den gesetzlichen Normalfall dar. Dabei handelt es sich vereinfacht gesprochen um eine Mischform
aus der deutschen Gütertrennung und Gütergemeinschaft. Alle in die Ehe eingebrachten Vermögensgegenstände bleiben dabei zunächst im Alleineigentum der
Ehepartner. Im Unterschied zur Zugewinngemeinschaft
fließen jedoch die während der Ehe erwirtschafteten
Vermögensgegenstände, die sogenannten Errungenschaften, kraft Gesetzes in ein gemeinschaftliches Vermögen der Ehepartner ein, das dann im Falle einer
Scheidung zwischen ihnen hälftig aufgeteilt wird.
Die Unterschiede zwischen den gesetzlichen Güterständen in Deutschland und Frankreich sind also signifikant. Dies führt im Scheidungsfall bei binationalen
Ehen, aber auch bei Ehepartnern mit gleicher Nationalität, die in einem anderen Staat leben, häufig zu Problemen. Welches nationale Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht zur Anwendung kommt, regelt sich in diesen
Fällen nach dem jeweils anzuwendenden nationalen
Kollisionsrecht. In der Praxis kommt es dabei immer
wieder vor, dass für die Rechtsfolgen der Ehe das materielle Familienrecht eines anderen Staates gilt, das den
Beteiligten am Rechtsverkehr unter Umständen völlig
unbekannt war und ist.
Mit Blick auf eben diese Fallkonstellationen und die
damit verbundenen praktischen Schwierigkeiten wollen
Deutschland und Frankreich nun den betroffenen Ehepartnern die Möglichkeit geben, einen neuen Güterstand
zu wählen, der sowohl Elemente des deutschen als auch
des französischen Rechtssystems miteinander verbindet
und unabhängig vom jeweils geltenden Kollisionsrecht
zur Anwendung kommt.
Dieser neue und heute zur Abstimmung stehende
Wahlgüterstand orientiert sich dabei im Wesentlichen an
der deutschen Zugewinngemeinschaft. Das ist keine
Selbstverständlichkeit und ganz offensichtlich Ergebnis
einer guten Verhandlungsführung der Bundesregierung.
Gleichwohl berücksichtigt der neue Wahlgüterstand
auch einige französische Besonderheiten. So soll beispielsweise die Trennung des Ehegattenvermögens einige Beschränkungen erfahren. Anders als im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft wird zudem
das Schmerzensgeld privilegiert und dem Anfangsvermögen zugerechnet.
Der neue Wahlgüterstand kann sowohl vor als auch
während der Ehe vertraglich vereinbart werden. Die
Ehegatten haben des Weiteren die Möglichkeit, durch
Vertrag von den Vorschriften zur Festsetzung der Zugewinnausgleichsforderung abzuweichen. So können sie
beispielsweise die Zusammensetzung der Vermögen, die
Bewertungsregeln für die Vermögensgegenstände, die
Höhe der Beteiligung am jeweiligen Vermögenszuwachs
und die Verteilung des Zugewinns abweichend regeln.
Hinsichtlich des örtlichen und persönlichen Anwendungsbereiches des neuen Güterstandes gilt Folgendes:
Er kann zunächst immer dann gewählt werden, wenn die
Eheleute beide Deutsche sind und in Frankreich leben
oder beide Franzosen sind, aber in Deutschland leben.
Ferner können alle deutsch-französischen Ehegatten
den neuen Wahlgüterstand wählen, wenn sie in Frankreich oder Deutschland leben. Darüber hinaus steht der
neue Wahlgüterstand auch allen ausländischen Ehegatten zur Verfügung, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt
entweder in Deutschland oder in Frankreich haben.
Schließlich steht er grundsätzlich auch allen deutschen
Ehepaaren zur Verfügung, die in Deutschland leben und
keinerlei Auslandsbezug aufweisen. Insofern erfährt
also das deutsche materielle Familienrecht mittels eines
völkerrechtlichen Vertrages eine nicht unerhebliche Änderung.
Prüfungsbedarf haben wir bei der negativen Publizität des Güterrechtsregisters, die im deutschen Güterrecht eigentlich den gutgläubigen Dritten schützt und
damit dem Schutz des Rechtsverkehrs dient, gesehen.
Laut Umsetzungsgesetz kommt diese güterrechtliche
Vorschrift im neuen Wahlgüterstand nicht zur Anwendung, und zwar auch in den Fällen, in denen zwei deutsche, in Deutschland lebende Ehegatten den deutschfranzösischen Güterstand wählen. Der gutgläubige Erwerber ist also auch bei Rechtsgeschäften mit Eheleuten, die im neuen Wahlgüterstand leben, aber das nicht
ins Güterrechtsregister eingetragen haben, künftig nicht
mehr geschützt. Dieser völkerrechtlich bedingte Systembruch ist rechtspolitisch nicht unproblematisch. Aus unserer Sicht wäre daher eine konsequente Anwendung der
Schutzvorschrift auch im neuen Wahlgüterstand vorzugswürdig gewesen. Leider mussten wir jedoch feststellen, dass eine Anwendung der besagten Vorschrift im
Rahmen des deutsch-französischen Wahlgüterstandes
mit dem Staatsvertrag nicht vereinbar und insofern völkerrechtlich unzulässig wäre. Dies hat ein von uns beim
Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages eingeholtes
Gutachten ergeben. Aus diesem Grund mussten wir in
den Ausschussberatungen von einer entsprechenden Änderung des Umsetzungsgesetzes absehen.
Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetz
werden nunmehr die innerstaatlichen Voraussetzungen
für die Ratifikation des deutsch-französischen Staatsvertrages geschaffen. Gleichzeitig regelt das Gesetz die innerstaatliche Umsetzung des Abkommens. Der Staatsvertrag soll zunächst nur zwischen Deutschland und
Frankreich gelten. Die Bundesregierung verbindet mit
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Staatsvertrag zudem die ausdrückliche Hoffnung,
dass sich auch andere EU-Staaten dem Vertrag anschließen.
Allerdings will ich an dieser Stelle für die Union ausdrücklich betonen, dass wir eine Harmonisierung des
materiellen Familienrechts in der Europäischen Union
entschieden ablehnen. Dieser Punkt ist für uns von zentraler Bedeutung. Gerade das Familienrecht weist in
den Mitgliedstaaten zum Teil erhebliche, auch kulturell
bedingte und über Jahrhunderte gewachsene Unterschiede auf. Der Versuch einer Beseitigung oder Nivellierung dieser Unterschiede wäre völlig falsch und kontraproduktiv und stünde im krassen Widerspruch zum
geltenden EU-Recht. Abgesehen davon hätte ich erhebliche Zweifel, dass es dafür überhaupt einen praktischen
Bedarf gäbe. Deshalb darf die europäische Harmonisierung im Familienrecht keineswegs zum Selbstzweck
werden. Alle künftigen Initiativen - ob sie nun Fragen
der Zuständigkeit und Anerkennung ausländischer Gerichtsentscheidungen oder das Kollisionsrecht betreffen - werden wir in diesem Sinne streng nach dem Maßstab des Subsidiaritätsprinzips bewerten.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass wir mit der Ratifizierung des Staatsvertrages und der Umsetzung des
deutsch-französischen Wahlgüterstandes in deutsches
Recht gerade für viele binationale Ehen nicht unerhebliche praktische Erleichterungen schaffen. Aus diesem
Grund bitte ich auch um Ihre Zustimmung.
Deutschland und Frankreich werden ja immer wieder
als Motor der Europäischen Union bezeichnet. Nachdem Versuche, das materielle Familienrecht zu vereinheitlichen, bisher auf europäischer Ebene gescheitert
sind, übernehmen Deutschland und Frankreich nun
auch in diesem Bereich eine Vorreiterrolle: Am 4. Februar 2010 wurde in Paris das deutsch-französische Abkommen über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft unterzeichnet.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir dieses Abkommen in nationales Recht um und schaffen die
Ratifizierungsvoraussetzungen. Der Rechtsausschuss
des Deutschen Bundestags empfiehlt einstimmig die Annahme dieses Gesetzentwurfs.
Hintergrund hierfür ist, dass mit dem Voranschreiten
der Europäischen Integration auch die Zahl der binationalen Paare zunimmt. Im Jahr 2010 war jede achte Eheschließung in Deutschland eine binationale. Und hierzu
zählen nur Paare, bei denen mindestens ein Ehegatte
eine ausländische Staatsbürgerschaft hat. Ehen von eingebürgerten Personen werden nicht mitgezählt.
Zwischen den gesetzlichen Güterständen der einzelnen Europäischen Mitgliedstaaten bestehen teilweise
große Unterschiede. Dies führt vor allem im Fall der
Auflösung einer Ehe zu Problemen bei der Frage, welches Recht anzuwenden und wie der Güterstand aufzulösen ist. Aber auch bei bestehenden Ehen kann es zu
Schwierigkeiten kommen, beispielsweise bei der Finanzierung von Immobilienkrediten.
Diese Problematik soll mit der Einführung eines in
Deutschland und Frankreich identischen Wahlgüterstandes behoben werden. Bei dem neuen Wahlgüterstand
handelt es sich um eine modifizierte Form des in
Deutschland bereits geltenden gesetzlichen Güterstandes der Zugewinngemeinschaft. Die Vermögen der Ehegatten bleiben während der Ehezeit getrennt und erst bei
Beendigung des Güterstandes wird der in der Ehe erwirtschaftete Zugewinn ausgeglichen. Die Wahl-Zugewinngemeinschaft enthält jedoch einige französische
Besonderheiten, zum Beispiel zur Berücksichtigung von
Vermögenspositionen wie Immobilien und Schmerzensgeld.
Diese Wahl-Zugewinngemeinschaft kann von den
Ehegatten in beiden Ländern statt des jeweiligen gesetzlichen Güterstandes und neben den jeweiligen anderen
nationalen Wahlgüterständen gewählt werden. Wählen
können diesen Güterstand nicht nur binationale Paare,
sonder auch Ehegatten mit derselben Staatsangehörigkeit.
Im Bereich des Familienrechts wird damit erstmals
auf ein einheitliches Recht in zwei europäischen Staaten
gesetzt. Die deutsch-französische Vorreiterrolle wird dadurch unterstrichen, dass Art. 21 des Abkommens jedem
anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die
Möglichkeit gibt, dem Abkommen beizutreten und eine
europäische Harmonisierung der güterrechtlichen Bestimmungen voranzutreiben.
In den letzten Wochen haben wir sehr viel über die
enge Zusammenarbeit von Bundeskanzlerin Angela
Merkel und Präsident Nicolas Sarkozy gehört. Dass sich
beide das Ja-Wort geben wollen, ist mir zwar noch nicht
zu Ohren gekommen. Wenn Frau Merkel und Herr
Sarkozy aber beschließen würden, einander zu heiraten,
könnten sie sich künftig für den Güterstand der WahlZugewinngemeinschaft entscheiden.
Der Deutsche Bundestag wird heute das erforderliche
nationale Gesetz verabschieden. Damit wird der Deutsche Bundestag dem am 4. Februar 2010 unterzeichneten Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zustimmen und die
erforderlichen Änderungen im deutschen Recht beschließen.
Danach können Paare, von denen mindestens ein Teil
die deutsche oder französische Staatsbürgerschaft inne
hat, sich für den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft entscheiden. Der Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft entspricht im Wesentlichen dem deutschen
Zugewinnausgleich. Das Vermögen der Ehegatten bleibt
dabei grundsätzlich getrennt. Als Zugewinn wird der Betrag bezeichnet, um den das Endvermögen eines Ehegatten sein Vermögen, das er zu Beginn des Güterstandes
hatte, übersteigt.
Bei Beendigung des Güterstandes werden die Zugewinne beider Ehegatten verglichen. Der Ehegatte, dessen Zugewinn geringer ausfällt, kann vom anderen Ehegatten einen Ausgleich fordern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft
kann von den Ehegatten durch einen Ehevertrag vereinbart werden. Dieser Vertrag kann vor der Ehe oder während des Bestandes der Ehe geschlossen werden. Der
Güterstand kann auf drei Arten enden: erstens wenn das
Ehepaar den Güterstand wechselt, zweitens wenn die
Ehe rechtskräftig geschieden wird oder mit jeder anderen gerichtlichen Entscheidung, die den Güterstand beendet, oder drittens wenn einer der Ehegatten verstirbt.
Das Abkommen vom 4. Februar 2010 sieht vor, dass
der Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft optional neben den jeweiligen nationalen Bestimmungen bestehen soll. Dadurch ist gewährleistet, dass nationale
Eigenheiten und gewachsene Rechtstraditionen nicht
beeinträchtigt werden.
Der deutsch-französische Wahlgüterstand ist so ausgestaltet, dass er zunächst nur zwischen Deutschland
und Frankreich Gültigkeit erlangt. Das Abkommen steht
aber auch den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zum Beitritt offen.
Dies ist vor dem Hintergrund eines immer enger zusammenwachsenden Europas ein Schritt in die richtige
Richtung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass im
Jahr 2009 bei circa 13 Prozent der Ehen in Deutschland
mindestens ein Ehegatte eine ausländische Staatsangehörigkeit besaß. Darunter waren rund 34 000 deutschfranzösische Ehepaare.
Durch das Abkommen vertiefen wir das Zusammenwachsen, indem wir mögliche Ansatzpunkte für Rechtsstreitigkeiten bei grenzüberschreitenden Ehen abbauen.
Somit schaffen wir für die Menschen in Deutschland und
Frankreich mehr Rechtssicherheit und mehr Rechtsklarheit. Wir sollten uns auf dem Erreichten jetzt nicht ausruhen, sondern daran arbeiten, dass sich auch andere
Mitgliedstaaten dem Abkommen anschließen.
Im Jahre 2003, immerhin vor mehr als acht Jahren,
gab es anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrages die gemeinsame deutsch-französische Erklärung, in
der unter der Überschrift „Harmonisierung von Recht
und Gesetz“ auch dem Wunsch Ausdruck verliehen
wurde, das deutsche und französische Recht, insbesondere das Familienrecht anzugleichen. Mit dem vorliegenden Gesetz zum Abkommen vom 4. Februar 2010 wird
diesem Wunsch weiter Rechnung getragen. In diesem Abkommen haben die beiden Regierungen die Möglichkeit
eines gemeinsamen Wahlgüterstandes für binationale
Ehen geschlossen, also erstmals einheitliches materielles
({0})Recht für Frankreich und Deutschland.
Angesichts des Umstandes, dass im Jahre 2009 in
Deutschland bei 13 Prozent der Ehen mindestens ein
Ehepartner eine ausländische Staatsangehörigkeit
besaß, kommt diesem Abkommen auch die entsprechende praktische Bedeutung zu. Probleme traten nicht
nur bei Scheidungen auf, sondern auch während der
bestehenden Ehe. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur die
Finanzierung von Immobilienkrediten genannt, da es für
deutsche Kreditinstitute fraglich war, wie sich Verbindlichkeiten eines Ehepartners auf das in der - französischen - Errungenschaftsgemeinschaft gebundene Vermögen auswirken.
Mit der neuen Wahl-Zugewinngemeinschaft, die in
ihrer Grundstruktur dem deutschen Zugewinnausgleich
entspricht, sind diese Schwierigkeiten beseitigt. Dieser
Wahlgüterstand kann nun von jedem Ehepartner in den
beiden Ländern anstelle des jeweiligen gesetzlichen
Güterstandes gewählt werden.
Nun gibt es in Deutschland und Frankreich nicht nur
deutsch-französische Ehen. Die Nationalitäten sind vielfach. Auf diesem Gebiet jedoch europaübergreifend ein
einheitliches Recht zu normieren, hätte zu lange gedauert, weil eine inhaltliche Angleichung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgrund von unterschiedlichen zum Teil in Jahrhunderten gewachsenen
Rechtstraditionen nur sehr viel langsamer vonstatten
gegangen wäre. So ist zunächst eine unkomplizierte
Lösung für deutsch-französische Ehen vorhanden, und
die anderen Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, dem
Abkommen beizutreten oder gegebenenfalls eigene
Abkommen in dieser Richtung abzuschließen. Alles in
allem führt dieses Gesetz mit der Umsetzung des Abkommens in nationales Recht zu mehr Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit. Von daher wird meine Fraktion diesem
Gesetz zustimmen.
Unser Bürgerliches Gesetzbuch, BGB, stammt aus
dem Jahre 1900. Seither befindet sich das Zivilrecht in
einem stetigen Fortentwicklungsprozess. Und auch das
Familienrecht hat sich erheblich weiterentwickelt. Die
zahlreichen Änderungen und Ergänzungen im 4. Buch
des BGB spiegeln die gesellschaftlichen Veränderungen
auf dem Gebiet des Familienrechts wider. Die besonderen rechtlichen Bedürfnisse binationaler Ehepaare allerdings sind ein Problemkreis, der bei der bisherigen
Weiterentwicklung des Familienrechts wenig Beachtung
fand, und dies zu Unrecht. Denn binationale Ehen sind
keine Seltenheit mehr. Fast jeder von uns hat Paare in
seinem Bekanntenkreis, bei denen die Ehepartner eine
unterschiedliche Staatsangehörigkeit haben.
Aus rechtlicher Perspektive bringen binationale Eheschließungen eine Reihe von rechtlichen Folgeproblemen mit sich. Diese zeigen sich schon während der Ehe,
vor allem aber bei Beendigung der Ehe. Da stellen sich
Fragen wie: Welches Recht findet auf die Eheschließung
Anwendung? Wie sind Unterhaltsansprüche ausgestaltet? Nach welchem Recht wird die Ehescheidung durchgeführt? Wem gehört das Vermögen? Wie wird im Falle
von Trennung und Scheidung das Vermögen der Eheleute aufgeteilt?
Derzeit kennen sowohl das deutsche als auch das
französische Recht drei Arten von Güterständen: Im
deutschen Recht gibt es die Gütertrennung, die Gütergemeinschaft und den gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Das französische Recht kennt die
Gütertrennung, die Zugewinngemeinschaft und, als gesetzlichen Güterstand, die Errungenschaftsgemeinschaft. Die Unterschiede zwischen den beiden jeweiliZu Protokoll gegebene Reden
gen gesetzlichen Güterständen sind erheblich. Dass sich
Frankreich und Deutschland nun mit dem Abkommen
über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft
dazu entschlossen haben, eine Lösung für einen Großteil
dieser Probleme zu finden, ist sehr zu begrüßen.
Das Abkommen und der dazu gehörende Gesetzentwurf sehen vor, einen gemeinsamen, in beiden Staaten
identischen Wahlgüterstand zu schaffen, der in modifizierter Form dem deutschen Zugewinnausgleich entspricht, aber französische Besonderheiten berücksichtigt. Dass dieser Impuls von Deutschland und
Frankreich ausgeht, ist wenig verwunderlich und nur
konsequent. Die guten Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg haben für die europäische Integration eine entscheidende
Rolle gespielt. Initiativen zur europäischen Einigung
nahmen ihren Anfang auch in der Vergangenheit oft auf
bilateraler deutsch-französischer Ebene. Nicht umsonst
werden Deutschland und Frankreich häufig als Motor
der europäischen Integration bezeichnet.
Der Austausch zwischen Frankreich und Deutschland
ist äußerst lebendig. Ich denke hier zum Beispiel an die
Partnerschaften von Städten, Gemeinden und Regionen,
die vielen deutsch-französischen Begegnungen auf sehr
lebendige Weise einen Rahmen verleihen. Regelmäßig
finden deutsch-französische Jugendbegegnungen statt.
Es gibt eine Vielzahl von deutsch-französischen Institutionen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk, das
Deutsch-Französische Institut, das seinen Sitz in meinem Wahlkreis Ludwigsburg hat, und auch den Fernsehsender arte. Deutsche und französische Bürgerinnen
und Bürger lernen sich kennen, schließen Freundschaften und häufig auch Ehen.
Auf europäischer Ebene gibt es derzeit keine konkreten Pläne für eine Angleichung des Eherechts. Mit dem
vorliegenden Abkommen und dessen Umsetzung kommt
Deutschland und Frankreich eine Vorreiterrolle zu.
Andere Mitgliedstaaten können folgen, denn das Abkommen eröffnet auch anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Möglichkeit, dem Abkommen beizutreten.
Damit kommen wir einer weiteren Vereinfachung und
Harmonisierung auf dem Gebiet des europäischen Familienrechts einen Schritt näher. Das ist begrüßenswert,
denn es steht zu erwarten, dass die Zahl binationaler
Eheschließungen in Zukunft nicht abnehmen, sondern
ansteigen wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8059, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5126 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch
nicht. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Mitglieder von allen Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Sönke Rix, Bernhard Brinkmann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Freiwilligendienste aller Generationen verstetigen - Engagement ohne Altersgrenzen stärken
- Drucksache 17/7980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden.
Somit komme ich zur ersten Rednerin dieser Debatte:
für die Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Petra
Crone. Bitte schön, Frau Kollegin Petra Crone.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir begehen in
diesem Jahr das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit. Freiwilligkeit ist, um einmal den Bogen zu spannen, neben Printen und Klößen sicherlich auch ein Stück
Brauchtum. Freiwilliges Engagement stand in den letzten Monaten aber nicht nur deshalb häufig im Mittelpunkt unserer Diskussionen. Vielmehr hat die Aussetzung der Wehrpflicht und die damit verbundene
Aussetzung des Zivildienstes dazu geführt, dass wir uns
mit der Einführung eines neuen Dienstes beschäftigt
haben: mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst.
Ich möchte an dieser Stelle nicht unsere grundlegende
Kritik an dem Gesetz und dem Dienst wiederholen. Lassen Sie mich nur eines deutlich machen: Wir als SPDBundestagsfraktion stehen der Altersöffnung dieses
Dienstes äußerst skeptisch gegenüber.
Es geht nicht nur um die Arbeitsmarktneutralität, die
bei der Öffnung der neuen Dienste für ältere Zielgruppen
unbedingt auf den Prüfstand muss. Es geht auch um die
pädagogische Begleitung der Älteren, die vielerorts noch
unklar ist. Gemeinsame Seminare mit der jüngeren Zielgruppe stellen das pädagogische Personal vor ganz neue
Herausforderungen.
({0})
Dabei sind die Anforderungen an sie - ebenso wie an die
Träger von Freiwilligendiensten - zurzeit bereits hoch
genug, Herr Kollege. Eine Überforderung geht dann aber
zulasten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Neben dem Bundesfreiwilligendienst gibt es die Freiwilligendienste aller Generationen. Viele Freiwillige
engagieren sich unter diesem Dach - viel zu viele, um
eine Struktur jetzt, nach nur drei Jahren Programmlaufzeit, wieder zu zerschlagen.
({1})
Wir brauchen junge wie ältere Menschen, die motiviert
sind, sich je nach persönlichem Zeitbudget zu engagieren. Diese Möglichkeit haben die Freiwilligendienste
aller Generationen eröffnet, und damit bieten sie eine
entscheidende Voraussetzung für ehrenamtliches Engagement.
({2})
Der Bundesfreiwilligendienst leistet das nicht. Er verlangt mindestens 20 Stunden in der Woche für eine
ehrenamtliche Tätigkeit, und zwar verpflichtend.
({3})
Alle Erfahrungen vor Ort zeigen: Das ist nicht realistisch, das ist eine deutlich zu hohe Stundenzahl. Das ist
gegenüber der Mindestdauer von 7 Stunden bei den Freiwilligendiensten aller Generationen deutlich zu hoch
gegriffen.
({4})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, 64 Prozent aller
Teilnehmer bei den Freiwilligendiensten aller Generationen sind über 50 Jahre alt.
({5})
Das erklärte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zuletzt in einer Pressemitteilung
über den Erfolg dieses Projekts. Das zeigt das enorme
Potenzial, das insbesondere Ältere mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen einbringen. Sie wollen dies
berechtigterweise in verlässlichen Strukturen tun. Menschen jenseits der 65 Jahre stehen heute noch lange nicht
am Ende ihres aktiven Lebens. Alt sein ist nicht gleichbedeutend mit Gebrechen und Hilfsbedürftigkeit. Ältere
Menschen wollen sich auf vielfältige Weise engagieren
und an der Gesellschaft teilhaben.
Ein Modell zu stoppen, das genau diese Potenziale
nutzt und für die Gesellschaft erreichbar macht, ist mir
- ganz besonders im Hinblick auf den demografischen
Wandel - völlig unverständlich.
({6})
Im Gegenteil: Wir müssen mehr Geld in die Hand nehmen und gezielt Menschen im Übergang zwischen
Berufsleben und Ruhestand ansprechen.
Der Bundesfreiwilligendienst tut dies nicht. Es ist
unrealistisch, anzunehmen, dass Menschen, die aus dem
Erwerbsleben ausscheiden, sich für eine halbe Stelle
quasi freiwillig verpflichten werden.
({7})
Erfolgreiche und sinnvolle Projekte müssen auch verstetigt werden können. Deshalb testen wir sie ja aus. Die
Bundesregierung hat bereits bei den Mehrgenerationenhäusern bewiesen, dass sie diesem Gedanken nicht folgt,
und hat nur unter großem Druck ein Anschlussprogramm aufgelegt.
Es wäre richtig schade, wenn die guten Erfahrungen
der Freiwilligendienste aller Generationen nun nicht
weiter aufgegriffen würden.
({8})
Eine zentrale Anlaufstelle ist hierbei meines Erachtens
unerlässlich. Dort würden auch weiterhin gute Projekte
zusammenfinden, würde sich über Schwierigkeiten ausgetauscht und würden formale Dinge geregelt.
All dies fällt nun ohne Not weg. Die Freiwilligen sollen sich künftig an die Mehrgenerationenhäuser halten.
Prinzipiell halte ich das für eine gute Idee. Doch erstens
sind die Mehrgenerationenhäuser mit den vielen Aufgaben, die ihnen jetzt in der neuen Modellphase abverlangt
werden, eh schon überfordert, und zweitens trifft viele
Mehrgenerationenhäuser das gleiche Schicksal wie die
Freiwilligendienste aller Generationen: Die Förderung
bricht spätestens nach drei Jahren weg. Stellen werden
gestrichen und Häuser werden komplett geschlossen. In
Zukunft werden sowieso nur noch 450 Häuser in der
gesamten Bundesrepublik gefördert. Insbesondere in
finanzschwachen Kommunen und Kreisen werden die
passgenauen Angebote zur Beratung, Qualifizierung,
Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr
aufrechterhalten werden können. Schlimmstenfalls ist
dann, liebe Kollegen und Kolleginnen, eine ganze
Region ohne Ansprechpartner. Dabei ist besonders die
lokale Komponente ein entscheidendes Kriterium für die
Ansprache potenzieller Freiwilliger und für das Gelingen von passgenauem Ehrenamt.
Wir erwarten, Herr Staatssekretär - Sie sind ja auch
noch da, wie schön -, von der Bundesregierung ein
schlüssiges Konzept für die Weiterführung von geregeltem und niederschwelligem Freiwilligendienst für Menschen aller Altersgruppen.
({9})
Wir erwarten einen Freiwilligendienst, der - das ist ganz
wichtig - arbeitsmarktneutral ist sowie die Freiwilligen
pädagogisch betreut und fachlich anleitet. Das ist für
eine in die Zukunft gerichtete Politik unerlässlich.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes
Weihnachtsfest.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Crone. - Der
nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Kollege
Markus Grübel. Bitte schön, Kollege Grübel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 2011 war, wie gesagt, das Europäische Jahr
der Freiwilligentätigkeit. Das Thema Freiwilligendienste
wurde nicht nur vom Bund, von den Ländern und den
Kommunen, sondern vor allem auch von der Zivilgesellschaft aufgegriffen. Die Diakonie hat das Thema freiwilliges Engagement zum Jahresschwerpunkt gemacht. Das
Jahr 2011 war ein sehr gutes Jahr für die Freiwilligentätigkeit. Daran kann auch die Aussage der SPD zum Auslaufen der Projektförderung bei den Freiwilligendiensten
aller Generationen nichts ändern.
({0})
Wir haben im Jahr 2011, wie gesagt, den Bundesfreiwilligendienst neu eingeführt, und er ist ein großer
Erfolg geworden.
({1})
Knapp 30 000 Menschen allen Alters engagieren sich in
diesem neuen Dienst. 20 Prozent davon sind über
27 Jahre alt. Es handelt sich also um einen Freiwilligendienst aller Generationen. Die 20-Stunden-Regelung ist
bewusst eingeführt worden. Wir kennen aus dem Freiwilligen-Survey die Zahlen, mit wie vielen Stunden sich
Menschen ehrenamtlich engagieren. Bei über 15 Stunden in der Woche gibt es fast niemanden mehr, der sich
ehrenamtlich engagiert. Wir wollten das Ehrenamt nicht
verstaatlichen, indem wir es auch in den Bundesfreiwilligendienst eingliedern.
Die Kindergeldfrage, die am Anfang offen war, ist
jetzt auch geklärt. Herr Kollege Koch, Sie haben gewettet und sogar eine Flasche Wein eingesetzt, dass wir das
nicht hinkriegen. Ich werde - das ist noch besser - drei
Flaschen Wein dagegensetzen. Vielleicht werden wir sie
gemeinsam trinken und uns gemeinsam über diesen
Erfolg freuen. Die Regelung der Kindergeldfrage ist im
Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Die Kindergeldstellen zahlen nun aus.
Neben den knapp 30 000 Menschen, die sich im Bundesfreiwilligendienst engagieren, engagieren sich 42 000
junge Menschen in den klassischen Jugendfreiwilligendiensten: im Freiwilligen Sozialen Jahr, dem Freiwilligen Ökologischen Jahr oder in internationalen Freiwilligendiensten. Insgesamt gibt es also 72 000 Menschen in
Deutschland, die dieses Jahr einen Freiwilligendienst
leisten. Das ist ein sehr erfreuliches Ergebnis,
({2})
und es ist ein gutes Zeugnis für die positive Einstellung
in unserem Land sowie für den Geist, der in unserem
Land weht. Zusammen mit dem breiten Ehrenamt ist
Deutschland hier gut aufgestellt. Herzlichen Dank an
alle, die sich engagieren!
({3})
Lassen Sie mich aber, Frau Crone, kurz auf Ihre Kritik zu sprechen kommen. Ebenso möchte ich vorauseilend auf die von Frau Dittrich von den Linken kommende Kritik eingehen. Sie, Frau Dittrich, üben häufig
Kritik an Freiwilligendienst und Ehrenamt. Sie behaupten, das alles sei unprofessionell und nehme Arbeitsplätze weg. Frau Crone, Sie haben die Arbeitsplatzneutralität kritisch hinterfragt. Ich glaube, Sie beide sind
hier völlig im Irrtum. Die Freiwilligen und Ehrenamtlichen tun das, was sie können. Bei den Jüngeren ist der
Dienst in erster Linie ein Lerndienst. Oft ist der Freiwilligendienst der Grund, sich für einen sozialen Beruf zu
entscheiden: Man macht einen Freiwilligendienst, zum
Beispiel in der Altenpflege, und möchte anschließend
den Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers erlernen. So fördert der Freiwilligendienst die Hauptamtlichen in dem Berufsfeld, in den sozialen Berufen, und
schadet ihnen nicht. Angesichts des Bedarfs zum Beispiel in der Altenpflege denke ich, dass der Freiwilligendienst gut und wichtig ist.
({4})
Freiwilligendienste fördern die soziale Kompetenz.
55 Prozent der Bundesfreiwilligendienstleistenden sind
Männer; das ist ein sehr gutes Zeichen. Ich denke, die
soziale Kompetenz, die dort vermittelt wird, tut in jedem
Beruf gut; ein gutes Herz wird in jedem Beruf gebraucht.
Gerade von den älteren Freiwilligen werden die Lebenserfahrung und die Berufserfahrung in den Dienst eingebracht, zum Segen unserer Gesellschaft.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Leitspruch des
neuen Bundesfreiwilligendienstes lautet: „Nichts erfüllt
mehr, als gebraucht zu werden.“ Das Angebot hat die
Menschen in Deutschland erreicht, die jüngeren und die
älteren, auch über die Mehrgenerationenhäuser, in denen
der Freiwilligendienst ein zentrales Thema ist.
Die politischen Rahmenbedingungen waren noch nie
so gut wie heute: Rund 300 Millionen Euro, so viel wie
noch nie zuvor, stehen zur Verfügung. Herzlichen Dank
an Herrn Toncar und Herrn Mattfeldt, unsere Haushälter
im Familienbereich. Ich weiß, wie schwer es einem
Haushälter fällt, große Geldbeträge nicht für die Schuldentilgung oder die Haushaltskonsolidierung einzusetzen, sondern für andere Zwecke, in diesem Fall für die
Freiwilligendienste. Herzlichen Dank!
({5})
Ich fasse zusammen: Die Entwicklung bei den Freiwilligendiensten aller Generationen ist sehr gut. Die
christlich-liberale Koalition kann stolz auf das Erreichte
sein. Wir können vor allem auf das großartige freiwillige
Engagement der Menschen in Deutschland stolz sein.
Jetzt höre ich auf. Mit meiner restlichen Redezeit verlängere ich die Nachtruhe von uns allen. Kollege
Bernschneider, Kollege Geis und Kollegin Haßelmann
haben Ihre Reden zu Protokoll gegeben und tun so etwas
für unseren Schlaf oder eventuell für die Möglichkeit,
nachher noch zusammenzusitzen.
Vielen Dank.
({6})
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Es sind 48 Sekunden, auf die Sie verzichtet haben.
({0})
Nächste Rednerin ist unsere Kollegin Heidrun Dittrich
für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute steht der Antrag der SPD mit dem Titel „Freiwilligendienste aller Generationen verstetigen Engagement ohne Altersgrenzen stärken“ zur Debatte.
Mein Vorredner, Herr Grübel, hat es schon richtig geahnt, als er gesagt hat, dass ich daran etwas zu kritisieren
habe. Ich möchte auch sagen, an welchen Punkten.
Die Linke sieht, wie von Ihnen angesprochen, die Arbeitsmarktneutralität gefährdet. Sie sieht auch die Gefahr, dass sich durch den Bundesfreiwilligendienst und
den Freiwilligendienst aller Generationen ein neuer Niedriglohnsektor verstetigen könnte; das wünscht sich jede
Fraktion hier im Bundestag, bis auf die Linke.
Die Linke sieht zudem eine große Gefahr in der Überschreitung der Regelaltersgrenze: Das Engagement soll
bis zum 70. Lebensjahr möglich sein. Ich will das begründen, erst einmal mit einem Beispiel dafür, wie man
überhaupt im hohen Alter zu solch einer Stelle im Freiwilligendienst kommt: Nehmen wir an, Sie sind 67 Jahre
alt. Da kommt es öfter vor, dass Sie zum Arzt gehen. Der
Arzt schlägt Ihnen vor: Wenn Sie schon drei Kinder erzogen haben, könnten Sie doch zum Vorlesen in den
Kindergarten gehen. - Beim Freiwilligendienst aller Generationen gibt es eine Aufwandsentschädigung von 50
bis 150 Euro.
Beim Freiwilligendienst der Bundeswehr gibt es mehr
Geld: Wenn Sie nach Afghanistan gehen, dann kommen
Sie aus Hartz IV heraus, aber möglicherweise nicht mehr
zurück.
({0})
Deshalb rate ich davon ab. Dort gibt es 1 200 Euro. Beim
BFD gibt es 500 Euro, beim Freiwilligen Sozialen Jahr
330 Euro, mit den Zuschüssen für die Unterkunft 400 Euro.
Wenn Sie, wie im geschilderten Fall, als Rentnerin in
der Grundsicherung sind, weil Sie selber zu wenig Rente
haben - gut 450 Euro -, dann können Sie mit den
150 Euro Aufwandsentschädigung nicht über die Grundsicherung hinauskommen. Frau H. aus meinem Wahlkreis hat diese Tätigkeit abgelehnt. Sie möchte lieber
selbstbestimmt über ihre Zeit verfügen.
Wer legt denn eigentlich fest, dass Vorlesen in einem
Kindergarten eine zusätzliche Tätigkeit ist und keine
qualifizierte Hilfstätigkeit? Was passiert denn beim Vorlesen? Die Kinder sitzen vertrauensvoll um die Erzieherin und kuscheln sich aneinander. Die Erzieherin merkt,
welches Kind einen Satz nicht versteht. Sie kann auf das
Kind eingehen, sie kann die Szene im Rollenspiel nachspielen lassen, sie kann die Bilder nachmalen lassen,
oder sie kann die Szenen gemeinsam mit den Kindern
beim Kneten nachspielen. Wenn sie dann möglicherweise in der Diskussion über die Geschichte des Buches
etwas von den Sorgen und Nöten des Kindes erfährt,
dann hat sie die Möglichkeit, ein Elterngespräch zu führen. All das soll keine qualifizierte Arbeit, sondern nur
zusätzliche Arbeit sein? Als Linke bin ich dagegen, soziale Arbeit so abzuqualifizieren.
({1})
Jede fachliche Tätigkeit kann, wenn sie erst einmal
wegrationalisiert ist, in Einzelteile zerlegt und als unqualifizierte, als zusätzliche Tätigkeit definiert werden. Das
heißt, offensichtlich bestimmt die Haushaltslage der
Bundesregierung, wann eine gesellschaftliche Arbeit
notwendig ist und bezahlt werden soll. Von 1991 bis
2006 wurden 2 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen
Dienst weggespart; das geht aus der Veröffentlichung
„Genug gespart!“ von Verdi aus dem Jahr 2008 hervor.
Wer außer der Bundesregierung hat früher die Arbeitsmarktneutralität begründet? Die Bundesagentur für
Arbeit. Früher hieß es gemäß dem Bundessozialhilfegesetz, eine Tätigkeit könne nur ausgeführt werden, wenn
sie sonst nicht in diesem Umfang ausgeübt werden
könne und wenn sie gemeinnützig ist; denn erst dann
könne sie als „zusätzlich“ anerkannt werden. Genau an
diesem Punkt wird es nun gefährlich, weshalb ich gesagt
habe, dass wir einen neuen Niedriglohnsektor befürchten. Die Bundesagentur für Arbeit hat laut Süddeutscher
Zeitung vom 2. Dezember erklärt, dass sie auf die Merkmale der Zusätzlichkeit und der Gemeinnützigkeit verzichten möchte. Das bedeutet doch, dass wir jederzeit,
staatlich subventioniert, einen Arbeitsplatz fördern können, dessen Bezahlung unter dem Hartz-IV-Satz liegt.
Das darf nicht sein. Besteuern Sie die Reichen! Sorgen
Sie für mehr Staatseinnahmen! Einen anderen Weg gibt
es nicht.
({2})
Ein Freiwilligendienst aller Generationen, in dem sich
noch 70-Jährige engagieren können, sieht doch schon
vor, dass die Regelaltersgrenze von 67 Jahren überschritten werden kann. Die Bundesregierung könnte doch auf
die Idee kommen, zu sagen: Wenn die Menschen bis
70 Jahre freiwillig tätig sein können, dann können sie
auch bis 70 Jahre arbeiten. Damit untergraben Sie sozusagen die feste Regelaltersgrenze.
Frau Kollegin, Sie wissen, was die Lichter vor Ihnen
bedeuten?
Ich bin gleich fertig. - Sie führen Lohndumping ein,
verschieben die Regelaltersgrenze und machen genau
das, was zur Weltwirtschaftskrise geführt hat.
Wir als Linke unterstützen die Jugendfreiwilligendienste als individuelle Lerndienste; aber den Bundesfreiwilligendienst und den Freiwilligendienst aller Generationen würden wir gerne abschaffen.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Die übrigen Redner geben ihre Reden zu Protokoll,
unter anderem der Kollege Florian Bernschneider, der
anwesend ist. Er hat heute Geburtstag. Herzlichen
Glückwunsch, Kollege Florian Bernschneider.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7980 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Herbert Behrens, Thomas
Nord, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8129 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1)
1) Anlage 10
Ich nehme den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zunächst gerne zum Anlass, um hervorzuheben, dass die christlich-liberale Koalition ihrer Verantwortung im Bereich des Luftverkehrs überaus
erfolgreich nachkommt. Der Entwurf eines Vierzehnten
Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes bringt
dies besonders anschaulich zur Geltung, weil er verdeutlicht, dass alle Akteure auf dem Feld der Luftfahrt
- seien es Passagiere, Beschäftigte, die Unternehmen
der Luftverkehrswirtschaft oder auch Privatpersonen,
die in der Sportluftfahrt engagiert sind - mit einer nachhaltigen und verantwortungsbewussten Luftverkehrspolitik begleitet und unterstützt werden.
Lassen Sie mich zu Beginn des parlamentarischen
Verfahrens zunächst auf den Hintergrund des uns vorliegenden Entwurfes eingehen. Die im März 2009 durch
das Europäische Parlament und den Rat verabschiedete
Richtlinie 2009/2012/EG verlangt von den Mitgliedstaaten das Festlegen gemeinsamer Standards bei den Flughafenentgelten. Hierbei handelt es sich um Entgelte, die
Flughafenbetreiber für das Starten und Landen, das Abstellen von Luftfahrzeugen sowie für die Abfertigung von
Fluggästen und die Benutzung von Fluggasteinrichtungen erheben. Die bisher auch in der Bundesrepublik angewendete nationale Regelung bezüglich der Flughafenentgelte und deren Festsetzung muss nun aufgrund der
Vorgabe der EU-Richtlinie angepasst und erweitert werden. Der vorliegende Gesetzentwurf dient - hauptsächlich - dieser Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches
Recht.
Was zunächst nach einem gängigen Gesetzgebungsverfahren klingt, stellt in diesem Fall allerdings eine
überaus herausfordernde Aufgabe dar. Mit den Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen als
Flughafennutzer stehen sich bezüglich der Berechnung
der Flughafenentgelte zwei starke unabhängige Parteien gegenüber, die beide ihre jeweils eigenen wirtschaftlichen Interessen vertreten und doch gleichzeitig
unabdingbar aufeinander angewiesen sind. Mit dem Gesetzentwurf ist es der Bundesregierung gelungen, die Interessen beider Partner sorgfältig und ausbalanciert zu
berücksichtigen. Luftverkehr kann nur dann effizient
funktionieren, wenn beide Akteure in einer Systempartnerschaft die optimal gestalteten Abläufe und einen
wirtschaftlich sinnvollen Betrieb aufeinander abstimmen.
Bei einem detaillierteren Blick in die Ausgestaltung
von § 19 des Gesetzentwurfes, in welchem die Flughafenentgelte und deren Festsetzung formuliert sind, wird
zudem deutlich, dass sich die Bundesregierung bei der
Umsetzung der Richtlinie weitestgehend an den Vorgaben aus Brüssel orientiert hat und nicht über die Anforderungen der EU-Richtlinie hinausgeht. Dass der Meinungsbildungsprozess der christlich-liberalen Koalition
im Lauf der komplexen Beratungen letztendlich zu diesem Ergebnis geführt hat, ist überaus erfreulich und
sinnvoll. So ist gewährleistet, dass kein unnötiger bürokratischer Aufwand etabliert wird. Ursprüngliche Überlegungen wie die Einführung einer zentralen Regulierungsbehörde, der Verzicht auf die Wahlfreiheit des
Geschäftsmodells oder die Ausdehnung des Anwendungsbereichs auch auf kleinere Flughäfen und Flugplätze mit weniger als 5 Millionen Fluggastbewegungen
jährlich wären deutlich über die eigentlichen Anforderungen der EU-Richtlinie hinausgegangen.
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet dagegen
eine angemessene und nachvollziehbare Regelung bezüglich der Entgelte und deren Festsetzung. Er verankert die allgemeinen Grundsätze der Entgelterhebung
wie Transparenz und Diskriminierungsfreiheit und gewährt Flughäfen mit mehr als 5 Millionen jährlichen
Fluggastbewegungen einige Sonderbestimmungen. So
wird die Durchführung eines obligatorischen Konsultationsverfahrens zwischen Flughafenunternehmern und
-nutzern eingeführt. Zudem werden die für die bezüglich
der Genehmigung der Entgeltordnung zuständigen Landesbehörden verpflichtet, zu prüfen, ob eine Orientierung an einer effizienten Leistungserstellung erkennbar
ist. Bei einvernehmlicher Regelung der Entgelte zwischen Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen kann die Genehmigungsbehörde jedoch von der
Prüfung der Effizienzorientierung absehen.
Auch über die Thematik der Flughafenentgelte hinaus beinhaltet der vorliegende Entwurf überaus wertvolle Änderungen des Luftverkehrsgesetzes. So werden
erstmalig Regelungen bezüglich ziviler unbemannter
Luftfahrtsysteme, sogenannter Drohnen, festgeschrieben. Die Geräte, die mittlerweile auch in der zivilen Nutzung, beispielsweise zur Umwelt- oder Verkehrsüberwachung oder zum Schutz von Pipelines, immer größere
Bedeutung erlangt haben, werden als neue Kategorien
von Luftfahrzeugen eingeführt.
Des Weiteren wird auch die Verbraucherschutzbestimmung aus der Verordnung ({0}) Nr. 1008/2008 des
Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die
Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft mit der vorliegenden Änderung des Luftverkehrsgesetzes umgesetzt. Ziel ist es, allen Flugpassagieren
transparente Preise und einen diskriminierungsfreien
Zugang zu den Flugpreisen zu gewähren.
Zuletzt wird mit der Änderung von § 20 LuftVG klargestellt, dass Flüge zum Absetzen von Fallschirmspringern - wie Luftsportgeräte auch - generell von der Betriebsgenehmigung nach § 20 Abs. 1 befreit sind,
unabhängig davon, ob es sich um Flüge gewerblicher
Art oder im Rahmen einer Vereinstätigkeit handelt.
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass
die Bundesregierung einen angemessenen und ausbalancierten Gesetzentwurf vorgelegt hat, der eine wirksame Umsetzung der EU-Flughafenentgelt-Richtlinie in
deutsches Recht darstellt. Die CDU/CSU-Fraktion im
Deutschen Bundestag wird sich in den nun angestoßenen parlamentarischen Beratungen verantwortungsbewusst und ergebnisoffen mit der Vorlage auseinandersetzen und, sollte ein entsprechender Bedarf bestehen,
notwendige Korrekturen anregen. Dennoch betone ich
an dieser Stelle gerne, dass die Bundesregierung die
Zielsetzung der notwendigen Ausgestaltung des bisherigen Genehmigungsverfahrens für Flughafenentgelte erfüllt hat und der Entwurf des Vierzehnten Gesetzes zur
Änderung des Luftverkehrsgesetzes unsere Unterstützung findet.
Mit der Verabschiedung der 14. Änderung des Luftverkehrsgesetzes wird bald ein wichtiger Meilenstein in
der nationalen Umsetzung der EU-Entgeltrichtlinie genommen. Genauer gesagt werden wir damit die Richtlinie 2009/2012/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 11. März 2009 über Flughafenentgelte
umsetzen.
So wie auch viele beteiligte Verbände und Adressaten
sehe ich in dem vorliegenden Entwurf zunächst einen
guten Ansatz, der die verschiedenen Interessen der Akteure des Luftverkehrs in sich vereint, und kann damit
das Bundesverkehrsministerium nur loben; denn bei der
Entwurfserarbeitung hat man sich offensichtlich darum
bemüht, eine gute Lösung für alle zu finden. Es hat lange
gedauert, aber aufgrund der Komplexität des Gesetzestextes mussten viele Hürden genommen werden.
Da die Entscheidungen in und aus Brüssel immer
größere Bedeutung und Einflussnahme in Bezug auf die
Entscheidungen in den EU-Mitgliedstaaten haben, wird
der vor Jahren begonnene Dialog zwischen den Beteiligten im Luftverkehr über die angemessene Ausgestaltung
nun auch in Deutschland zu einem Ende gebracht. Auch
die deutsche Luftverkehrsindustrie findet, so ihre gemeinsame Stellungnahme, ihre Interessen ausreichend
berücksichtigt und sieht dem Gesetz zuversichtlich entgegen.
Heute wollen wir den Regierungsentwurf in das parlamentarische Verfahren einbringen und in die Ausschüsse überweisen. Wir alle wissen, dass dies bedeutet,
dass an der einen oder anderen Stelle oder vielleicht
auch an einigen Stellen Veränderungen im Gesetzentwurf vorgenommen werden. Daher freue ich mich auf
eine anregende Diskussion, die sicherlich zu einem guten Ergebnis führt.
In unserer Verantwortung liegt es nun, zu prüfen, inwieweit der Gesetzentwurf der Bundesregierung unter
anderem die gemeinsamen Regeln zur Festlegung von
Flughafenentgelten für Flughäfen mit jährlich mehr als
5 Millionen Fluggastbewegungen ausgestaltet und formuliert hat. Denn ebendiese Flughafenentgelte sind seit
Jahren Inhalt von zahlreichen Diskussionen. Zum einen
sind sie wichtig für die Flughäfen; sie sind aber auch
wichtig für diejenigen, die die Flughäfen nutzen. Sie
werden erhoben für die Nutzung der Einrichtungen und
Dienstleistungen, die ausschließlich von Flughafenbetreibern bereitgestellt werden und mit Landung, Start,
Beleuchtung und Abstellen von Flugzeugen sowie mit
der Abfertigung von Fluggästen und Fracht in Zusammenhang stehen.
Die EU hat dazu eine Richtlinie erlassen, die sicherstellen soll, dass diese Flughafenentgelte einheitlich in
transparenter und nichtdiskriminierender Weise erhoben werden. Dies gilt es in deutsches Recht einzupassen.
Deshalb sollen unter anderem regelmäßige Gespräche
Zu Protokoll gegebene Reden
zwischen Flughafenunternehmen und Flughafennutzern
stattfinden, in denen über mögliche Probleme gesprochen und diese gelöst werden sollen. Außerdem soll in
der Entgeltordnung von Verkehrsflughäfen eine Differenzierung nach Lärmschutzgesichtspunkten und nach
Schadstoffemissionen erfolgen.
Mit dem Gesetzentwurf werden zugleich die Verbraucherschutzbestimmungen aus der Verordnung ({0})
Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten
in der Gemeinschaft umgesetzt.
Wir wissen doch alle, wenn nicht aus eigener Erfahrung, so doch aus Presse, Funk und Fernsehen, wie
kompliziert das Buchen von Flügen oftmals sein kann.
Oftmals ist ein Preis, der am Anfang der Buchung steht,
nur ein Bruchteil dessen, was der Kunde bei Beendigung
des Vorgangs tatsächlich zu zahlen hat. Das soll ein
Ende haben.
Für mich bedeutet das, dass für alle Kunden die
Preise transparent und in gleicher Weise auch für alle
zugänglich sein müssen. Diejenigen, die online buchen,
müssen also genauso informiert sein wie diejenigen, die
im Reisebüro buchen. Dadurch soll die Vergleichbarkeit
von Flugpreisen erleichtert werden.
Zudem sollen durch den Gesetzentwurf unbemannte
zivile Luftfahrzeugsysteme als eine neue Kategorie von
Luftfahrzeugen eingeführt werden. Die Technik schreitet
voran, und man muss sich den Entwicklungen auch gesetzgeberisch stellen. Wenn also zum Beispiel Landvermesser diese nutzen, Biologen ganze Landstriche beobachten, so muss das gesetzlich geregelt sein, damit
kein Missbrauch geschieht. Außerdem steckt dahinter
ein nicht zu unterschätzender Markt, der in Deutschland, dem Erfinderland, auch Unterstützung von politischer Seite erwarten kann.
Ein weiterer Punkt, den dieses Gesetz regeln wird, ist
die Klarstellung, dass Flüge zum Absetzen von Fallschirmspringern genauso wie Flugsportgeräte generell
von der Betriebsgenehmigung nach § 20 Abs. 1 befreit
sind. Dies soll auch dann gelten, wenn Flüge dieser Art
gewerblich oder im Rahmen einer Vereinstätigkeit
durchgeführt werden.
Doch nun steht uns nach der genauen Lektüre des Regierungsentwurfs die Diskussion in den Ausschüssen bevor, und erst dann werden wir sehen, inwieweit noch
Änderungen vorgenommen werden, bevor es zur zweiten
und dritten Lesung kommt. Gehen wir es an!
Wir debattieren heute in erster Lesung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Fraktion Die
Linke zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes. Deutschland hat 23 internationale Verkehrsflughäfen. Insgesamt
bieten sie rund 850 000 Menschen direkt oder indirekt
einen Arbeitsplatz. Eine Umfrage ergab, dass 86 Prozent der Unternehmen in Deutschland eine Luftverkehrsanbindung als Standortfaktor wichtig finden.
Damit ist die Anbindung an die internationalen Luftverkehrsströme der drittwichtigste Standortfaktor überhaupt. Deutschland braucht ein leistungsfähiges und
nachhaltiges Luftverkehrssystem. Nur so können die Bedingungen für Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und
Wohlstand gestärkt werden. Die deutsche Luftverkehrswirtschaft braucht verlässliche Rahmenbedingungen,
damit - auch vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzmarktkrise - die bisher insgesamt positive Entwicklung
der Branche auch in Zukunft fortgeschrieben werden
kann.
Am 15. März 2009 ist die Richtlinie 2009/12/EG zur
Regulierung von Flughafenentgelten in Kraft getreten.
Mit dieser Richtlinie verpflichtet Europa die Mitgliedstaaten auf gemeinsame Regeln zur Festlegung von
Flughafenentgelten: Nach dem Willen der Europäischen
Union legt die Richtlinie gemeinsame Standards zum
zeitlichen Ablauf, Inhalt und Umfang der Konsultationen zwischen Flughäfen und Fluggesellschaften sowie
Regelungen für den Fall, dass es in den Konsultationen
zu keiner Einigung über die Höhe der Entgelte kommt,
fest. Flughafenentgelte sollen hinsichtlich Kostennachweis und Kostenverteilung transparent werden. Was auf
den ersten Blick als eine leichte Aufgabe scheint, ist
beim genauen Hinsehen eine aufwendige und schwierige
Angelegenheit. Wer soll welchen Anteil für Infrastrukturkosten wie zum Beispiel den Weg, der nicht nur zum
Gate, sondern auch zu den Geschäften führt, bezahlen?
Die EU-Regelungen gelten für Flughäfen mit jährlich
mehr als 5 Millionen Fluggastbewegungen. Damit fallen
in den Anwendungsbereich der Richtlinie neun deutsche
Flughäfen: Berlin-Tegel, Berlin-Schönefeld, Düsseldorf,
Frankfurt, Hamburg, Hannover, München, Köln-Bonn,
und Stuttgart. Alle kleineren Flughäfen werden ausgenommen. Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung soll diese Richtlinie nun endlich in nationales Recht umgesetzt werden.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Verhandlungen im Rahmen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung schwierig waren. Der Flughafenmarkt ist hart umkämpft. Die mittelständischen Flughafenunternehmen
auf der Angebotsseite sehen sich maßgeblich zwei großen Fluggesellschaften in Deutschland auf der Nachfrageseite gegenüber. Auf Lufthansa und Air Berlin entfallen im deutschen Markt mehr als 70 Prozent. Der
Flughafenverband ADV betont, dass das Ziel der deutschen Flughäfen sein muss, sich selbst zu finanzieren,
anstatt als Subventionsempfänger der Bundes- und Landeshaushalte geführt zu werden. Daher müssen die
Flughäfen in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Mittel für Betrieb und möglichst auch für Investitionen aus eigener Kraft zu erwirtschaften. Die Flughafenbetreiber arbeiten kundenorientiert. Ihnen ist es
wichtig, dass die Gäste mit dem Service auf ihrem Flughafen zufrieden sind. Voraussetzung dafür wiederum
sind kostendeckende Entgelte. Auch die dringend notwendigen Investitionen der deutschen Verkehrsflughäfen
in einer Gesamthöhe von rund 20 Milliarden Euro lassen sich nur mit einem Eigenanteil aus angemessenen
Flughafenentgelten realisieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Fluggesellschaften wiederum stehen ebenfalls
unter enormen Druck. Das nachlassende Wirtschaftswachstum macht ihnen zu schaffen. Außerdem beklagen
sie sich zu Recht über die unsinnige Luftverkehrsabgabe
in Deutschland. Hier ist ein fairer Ausgleich zu schaffen.
Wir begrüßen es daher, dass der vom Bundeskabinett beschlossene Gesetzentwurf grundsätzlich der EU-Richtlinie über Flughafenentgelte folgt und somit klare Standards im Sinne einer Fortentwicklung des deutschen
Luftverkehrs setzt.
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes setzt die Bundesregierung
vorrangig eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates um, die bei den Flughafenentgelten für
mehr Effizienz und Kostenwahrheit sorgen soll. Ein Vorhaben, das wir als FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich unterstützen.
Bekanntlich ist die wesentliche Aufgabe eines Flughafens die Abfertigung von Luftfahrzeugen, angefangen
von der Landung bis hin zum erneuten Start. Hierfür stehen den Flughäfen allerdings nur begrenzte Kapazitäten
zur Verfügung, die wiederum nicht beliebig und teilweise nur gegen massive Widerstände erweitert werden
können, wie wir derzeit in Frankfurt am Main oder auch
in Berlin beobachten können. Bei Großflughäfen, die darüber hinaus häufig über eine enorme Marktmacht verfügen und somit als ein natürliches Monopol bezeichnet
werden können, bedarf es besonderer Anforderungen an
die Regulierung.
Dieses greift sowohl die Richtlinie als auch der uns
vorliegende Gesetzentwurf auf. Besonderer Wert wird
dabei auf die Informationspflicht und die transparente
und diskriminierungsfreie Berechnung der Gebühren
gelegt. Hierzu sollen zwischen dem Betreiber und den
Nutzern des Flughafens regelmäßige Konsultationen
stattfinden. Das ist aus meiner Sicht ein unverzichtbares
Element für einen fairen und freien Wettbewerb. Schließlich kann Mobilität in einer Systempartnerschaft wie
dem Luftverkehr nur dann effizient stattfinden, wenn
beide Partner ein gemeinsames Interesse an einem möglichst reibungslosen und konfliktfreien Betriebsablauf
haben. Die im Gesetzestext verankerte Differenzierung
der Entgelte nach Lärmschutzaspekten und Schadstoffemissionen rückt darüber hinaus auch Umwelt- und Anwohnerinteressen vermehrt in den Fokus.
Ein weiterer Aspekt, der maßgeblich zur Effizienzsteigerung und damit auch günstigeren Entgelten führen
soll, sind Leistungsvereinbarungen über die Qualität der
Dienstleistungen. Sie berücksichtigen in einem hohem
Maße die besondere Beziehung zwischen den Flughafenunternehmen und ihren Nutzern. Gemeinsam können
und sollen alle Beteiligten maßgeschneiderte Lösungen
für ihre Bedürfnisse entwickeln. Ein Ansatz, von dem am
Ende alle profitieren werden.
Ein zweiter wichtiger Punkt, der mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf umgesetzt werden soll, sind neue
Verbraucherschutzbestimmungen. Dabei geht es im Wesentlichen darum, den Kunden kostenpflichtige Zusatzleistungen während des Buchungsvorgangs auch als solche kenntlich zu machen, etwas, das in der Vergangenheit
sicherlich nicht immer gewährleistet war, wie der eine
oder andere von uns vielleicht bereits selbst erfahren hat
oder - besser gesagt - erfahren musste.
Alles in allem begrüßen wir als FDP-Bundestagsfraktion die angestrebten Änderungen ausdrücklich. Sie
stellen einen sorgfältig abgewogenen Interessenausgleich aller Beteiligten dar, sowohl im Bereich der Regulierung als auch im Bereich des Verbraucherschutzes.
Es ist gerade vier Wochen her, dass 10 000 Bürgerinnen und Bürger in Berlin auf die Straße gingen. Sie protestierten gemeinsam mit dem Aktionsbündnis BerlinBrandenburg gegen die Flugroutenplanung. Sie forderten: Gesundheit geht vor Wirtschaftlichkeit!
Wir haben es in der Hand, die Interessen der Betroffenen aufzunehmen und zum Durchbruch zu verhelfen.
Dazu haben wir heute die Gelegenheit bei der Änderung
des Luftverkehrsgesetzes. Wir haben es in der Hand,
Bürgerinnen und Bürger an Flughäfen davor zu schützen, dass sie unter einem Lärmteppich schlafen müssen.
Die Regierungsfraktionen legen einen Gesetzentwurf
vor, mit dem eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates umgesetzt wird. Die Linke geht mit
ihrem Gesetzentwurf an einem entscheidenden Punkt
weiter. Wir wollen erreichen, dass Menschen unter den
Flugrouten und an den Flughäfen künftig besser
geschützt werden. Wir verlangen, dass bei der Abwicklung des Luftverkehrs der nächtliche Lärmschutz Vorrang hat vor wirtschaftlichen Belangen.
Unser Vorschlag für die Gesetzesänderung greift die
Bundesratsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz vom
April dieses Jahres auf. Mit dieser Initiative sollte eine
große Schwachstelle im geltenden Luftverkehrsgesetz
ausgebessert werden. Im Gesetz heißt es: „Die Luftfahrtbehörden und die für die Flugsicherung zuständige
Stelle haben auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbaren Fluglärm hinzuwirken.“
Hinwirken! Die Anwohnerinnen und Anwohner an
den Flughäfen in Frankfurt, München und Berlin wissen
nur zu gut, was das heißt. Die wirtschaftlichen Interessen der Flughafenbetreiber werden regelmäßig höher
bewertet, höher als die Gesundheit der Bürgerinnen und
Bürger.
Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen verlangt eine Freigabe der Nacht für den Flugbetrieb. Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und
FDP nimmt das willfährig auf: „Neben einer Kapazitätsentwicklung der Flughäfen werden wir insbesondere
internationale wettbewerbsfähige Betriebszeiten sicherstellen.“ - Eine Horrorvorstellung für alle, die in der
Nähe von Flughäfen leben.
Mit unserem Gesetzentwurf machen wir uns auf den
Weg hin zu einem umfassenderen Schutz der Interessen
der Menschen vor dem gnadenlosen Diktat ökonomiZu Protokoll gegebene Reden
scher Interessen. Gesundheit geht vor Profit, das ist
unsere Maxime.
Grundsätzlich halten wir es für geboten, über das
Luftverkehrsgesetz eine Regelung für ein konsequentes
Nachtflugverbot in dicht besiedelten Gebieten zu erwirken. Damit wäre ein für alle Mal klar, dass ein Großflughafen - wie in Schönefeld - in dicht besiedelten Gebieten nicht oder nur mit einem Flugverbot zwischen 22 bis
6 Uhr gebaut werden darf. Für alle würden die gleichen
Bedingungen gelten.
Mit einer solchen Klarstellung wären teure Gerichtsverfahren für die Bürgerinnen und Bürger überflüssig,
und auch die Flughafenbetreiber hätten Rechtssicherheit. Ein Streit wie jetzt der um das Nachtflugverbot auf
dem Frankfurter Flughafen wäre unnötig.
Wir begrüßen es, wenn in den Entgeltordnungen von
Verkehrsflughäfen unterschiedliche Gebühren für leisere und lautere Flugzeuge gelten können und - das ist
ein ganz wesentlicher Punkt - die Gebühren je nach
Schadstoffemissionen gestaffelt werden sollen. Damit
geht die Bundesregierung ein Stück über die Richtlinie
hinaus. Das unterstützen wir ausdrücklich.
Lassen Sie uns die weiteren Beratungen zum Luftverkehrsgesetz dafür nutzen, die notwendigen Schritte zum
Schutz von Betroffenen zu machen. Ein neues Gesetz
sollte aber nicht nur den Anforderungen europäischer
Richtlinien entsprechen, sondern in erster Linie dem
Schutz der Menschen dienen.
Die Koalition legt einen Gesetzentwurf zur 14. Änderung des Luftverkehrsgesetzes vor.
Mit der Umsetzung der EU-Entgeltrichtlinie von
2009 werden in Deutschland die seit langem angestrebten gemeinsamen Grundsätze der Gemeinschaft für die
Erhebung von Flughafenentgelten geschaffen.
Ziel ist es, dass auf Flughäfen mit jährlich mehr als
5 Millionen Flugbewegungen die sogenannten Entgelte,
die von den Fluggesellschaften für Dienstleistungen wie
zum Beispiel für das Starten und Landen der Flugzeuge
oder die Abfertigung der Passagiere und des Gepäcks
erhoben werden, nach klaren gemeinsamen Kriterien erfolgen und kein Anbieter diskriminiert werden kann. Bei
den Gebühren für das Starten und Landen sieht der Gesetzentwurf beispielsweise zwingend vor, dass diese
nach Lärmschutzgesichtspunkten und nach dem Ausstoß
von Schadstoffemissionen differenziert erhoben werden
sollen.
Wir begrüßen ausdrücklich den Einsatz lärm- und
emissionsabhängiger Start- und Landegebühren als ökonomischen Anreiz, um die Nutzung besonders lauter, klimaschädlicher Flugzeuge gegenüber den leisen, emissionsarmen deutlich teurer zu gestalten bzw. diese vom
Verkehr auszuschließen.
Hinsichtlich des Lärmschutzes stellt sich allerdings
die Frage, wie die Bundesregierung dies mit dem vorgelegten Gesetzentwurf realisieren will, da sie wieder
keine Regelung schafft, die bundeseinheitliche Kriterien
für die Einführung lärmabhängiger Start- und Landegebühren festlegt.
Grundlage einer lärmbezogenen Differenzierung
bleibt also weiterhin die sogenannte Bonusliste für leisere Flugzeuge, die einheitliche Kriterien für die lärmbezogene Differenzierung der Entgelte vorgeben soll,
aber rechtlich nicht verbindlich ist. Das ist doppelt fatal.
Zum einen, weil die Bonusliste bereits jetzt dringend
überarbeitungsbedürftig ist, da sie noch zu viele Flugzeuge als leise klassifiziert, die es nach dem Stand der
Technik schon längst nicht mehr sind. Dies dürfte sich
noch verschärfen, wenn die im aktuellen Luftverkehrspaket geplanten strengeren Lärmgrenzwerte der EUKommission greifen. Zum anderen, weil der Bund damit
weiterhin zulässt, das die jeweiligen Genehmigungsbehörden der Bundesländer völlig unterschiedliche Lärmklassen für die Entgelte festlegen können oder diese die
Bonusliste überhaupt nicht berücksichtigen, wie beispielsweise der Flughafen Leipzig.
Und das ist symptomatisch für den fehlenden Willen
der Bundesregierung bei der Bekämpfung des Verkehrslärms. Es bleibt bei der Ankündigung im Verkehrslärmschutzpaket II, dass die Belastungen durch
Fluglärm bis 2020 um 20 Prozent reduziert werden sollen. Eine praktische Umsetzung ist jedoch nicht erkennbar.
Die Bundesregierung versäumt die Chance, mit der
Luftverkehrsnovelle endlich klarere gesetzliche Regelungen zum besseren Schutz für die vom Fluglärm Betroffenen zu schaffen. Wieder wird der rechtliche Anspruch auf aktiven Schallschutz im Luftverkehrsgesetz
nicht geregelt, und erneut wird die Deutsche Flugsicherung nicht verpflichtet, bei der Erarbeitung von An- und
Abflugverfahren dem Lärmschutz der Bevölkerung Vorrang vor den betriebswirtschaftlichen Interessen der
Luftfahrtbranche zu geben. Und wieder werden keine
verbindlichen Lärmgrenzwerte festgelegt.
Selbst bei den lärmbezogenen Start- und Landegebühren soll es bei der Willkür der standortbezogenen
Entscheidungen bleiben. Dabei bräuchte man nur die
Empfehlungen des Umweltbundesamtes umzusetzen, um
den aktiven Lärmschutz durch den Einsatz lärmarmer
Luftfahrzeuge in einem dreistufigen Verfahren voranzutreiben. In der ersten Stufe würden die Start- und Landegebühren nach dem Vorbild des Flughafens Frankfurt
am Main national angeglichen. In der zweiten Stufe
könnten dann die Entgelte in Annäherung an den aktuellen Ansatz für externe Kosten erhöht werden und die
Ausgaben des Flughafens für effektiveren passiven
Lärmschutz und Ausgleichszahlungen ebenso. Und im
dritten und vorerst letzten Schritt würden die Start- und
Landegebühren dann durch eine nationale bzw. eine europäische Luftverkehrssteuer mit fortschrittlicher Lärmkomponente ersetzt. Doch davon sind wir weit entfernt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/8098 und 17/8129 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge17922
Vizepräsident Eduard Oswald
schlagen. - Andere Vorschläge liegen nicht vor. Infolgedessen ist die Überweisung dann so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Johannes Pflug, Michael Groß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Duisburger Hafen muss in öffentlicher Hand
bleiben
- Drucksache 17/8140 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.
Wie in dem vorliegenden Antrag der SPD-Bundestagsfraktion bereits richtig erkannt, handelt es sich bei
dem Duisburger Hafen um den weltweit größten Binnenhafen, welcher auf eine äußerst positive wirtschaftliche
Entwicklung blicken kann. Neben der Stadt Duisburg
und dem Land Nordrhein-Westfalen ist auch die Bundesrepublik Deutschland zu einem Drittel Teilhaber an der
Duisburger Hafen AG. Der Standort zählt heute zu den
bedeutendsten Arbeitgebern innerhalb der Ruhrregion
und umfasst, gemeinsam mit den benachbarten Binnenhäfen, einen zentralen Kern des Nationalen Hafenkonzeptes der Bundesregierung.
Während des Entwicklungsprozesses hin zu einem international signifikanten Logistikstandort flossen zahlreiche öffentliche Mittel in das Unternehmen. Vor dem
Hintergrund der bisher getätigten Investitionen kann es
also nur logische Konsequenz der Bundesregierung
sein, alle Aspekte einer fortlaufenden Teilhabe gründlich zu überprüfen. Dies geschah bereits vor längerer
Zeit, wie man auch der Antwort auf die Kleine Anfrage
der Bundestagsfraktion Die Linke vom Februar 2011
entnehmen kann. Im Zuge dieser Revision kam die Bundesregierung schon damals zu dem Ergebnis, dass ein
Verkauf der eigenen Anteile dem Unternehmen zukünftig
keinen Nachteil verschaffen würde.
Vielmehr ist die Bundesregierung gemäß § 65 Abs. 1
Nr. 1 der Bundeshaushaltsordnung stets dazu verpflichtet, zu prüfen, ob ein wichtiges Bundesinteresse im Zuge
einer derartigen Beteiligung weiterhin gegeben ist oder
ob das vom Bund angestrebte Ziel sich gegebenenfalls
auch anderweitig erfüllen ließe. Ein vordringliches Bundesinteresse besteht bereits seit geraumer Zeit nicht
mehr, siehe Antwort der Bundesregierung, Drucksache
17/4831. Weder die Erfüllung staatlicher Aufgaben
durch die Bundesrepublik Deutschland als Akteur ist
hier vonnöten, noch kann der Bund das zukünftig benötigte Kapital für die Hafen AG bereitstellen. Darüber
hinaus hat auch der Bundesrechnungshof die Bundesregierung in der Vergangenheit mehrfach dazu aufgefordert, die eigene Beteiligung zu veräußern. Vor diesem
Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass der Bund
das Verfahren zum Verkauf seiner Anteile aufgenommen
hat.
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion widerspricht dem bisherigen Anspruch der Partei, ein Teil der
politischen Mitte zu sein. Abgesehen von den jüngsten
Ergebnissen des Parteitages der Genossen, wird auch
hier der Abschied der SPD von der politischen Mitte untermauert. Mit diesem Antrag ist die SPD nach den
lange zuvor erfolgten Anfragen der Fraktion Die Linke
sowie der von Bündnis 90/Die Grünen auf eine Thematik
aufgesprungen, die das Rangeln um den linken Rand
einmal mehr verdeutlicht. Aber lassen Sie mich hierzu
gern auf einzelne Punkte des Antrages eingehen. Die
erste Forderung des Papieres, die Bedeutung des Hafens
anzuerkennen, ist reine Makulatur der Sozialdemokraten. Die Bundesregierung hat bereits mehrmals in der
Vergangenheit - auch in ihren Antworten auf die parlamentarischen Anfragen - auf die wirtschaftliche Bedeutung des Duisburger Hafens verwiesen.
Punkt zwei der Forderung macht vor dem Hintergrund der bereits erläuterten haushaltspolitischen Aspekte ebenso keinen Sinn und hebt den eigentlichen
durch die SPD offensichtlich neu hervorgeholten Gedanken des Staatskapitalismus hervor - der neue Linkskurs lässt grüßen. Die Vergangenheit hat uns bereits
mehrmals gelehrt, wohin Verstaatlichungen bzw. Monopolisierungen vieler Lebensbereiche durch den Staat
führen. Im Regelfall handelt es sich um kein ökonomisches Erfolgsrezept, wie es hier von Ihnen angepriesen
wird.
Von ökonomischer Vernunft reden Sie ja bereits. Leider kann man Ihrem Antrag davon nur wenig entnehmen. Scheinbar haben Sie dieses Konzept noch nicht
ganz verstanden oder zumindest nicht verinnerlicht.
Denn sonst wäre Ihnen mittlerweile wohlwollend aufgefallen, dass ein privater Investor keinem Unternehmen
zwingend schadet. Das Interesse der Region an der
Duisburger Hafen AG ist verständlicherweise sehr hoch.
Im Zuge dessen können Land und Stadt die Ausweitung
ihrer Teilhabe nur vergrößern wollen. Aber auch andere
Investoren seien von der geschaffenen Attraktivität des
Hafens dazu aufgefordert, sich zu beteiligen. Aus
Bundessicht lassen sich die struktur- und verkehrspolitischen Ziele für die Region Duisburg und das Land Nordrhein-Westfalen auch ohne Beteiligung an der Duisburger Hafen AG erreichen.
Eine Notwendigkeit, die Beteiligung des Bundes aufrechtzuerhalten, ist nicht gegeben. Daher bitte ich Sie
ausdrücklich um die Ablehnung dieses Antrages.
Heute sprechen wir über einen ausgesprochen bemerkenswerten Antrag unserer sozialdemokratischen Mitbewerber. Es ist nämlich in der Tat bemerkenswert, mit wie
wenig Substanz man den Deutschen Bundestag und
seine Mitglieder, die eigentlich wesentlich Besseres zu
tun hätten, beschäftigen kann. Anders gesagt: Die
Inhaltslosigkeit dieses Antrages toppt sogar noch diejenige intellektuelle Leere, die sozialdemokratische
Anträge sonst auszeichnet.
Das fängt schon beim Titel an. Er ist wörtlich von der
Drucksache 15/1912 des Landtages von NordrheinWestfalen übernommen worden. Bezeichnenderweise
war dies kein Antrag der Sozialdemokraten, sondern
einer der Fraktion Die Linke. Die Sozialdemokraten
haben aber noch nicht einmal die Gelegenheit genutzt,
dem Ganzen das fehlende „der“ zu spendieren und so
das fehlende Sprachgefühl der extremen Linken auszugleichen. Dazu waren sie zu fantasielos. Sie haben
schlicht und einfach abgekupfert, was die Staatskapitalisten vorgegeben haben.
Das war auch nötig, denn die Sozialdemokraten
haben dieses Thema erst dann aufgegriffen, als die Sozialisten es mit verschiedenen Anfragen und Anträgen
auf Bundes- und Landesebene schon zu Tode geritten
hatten. Alles, was zu diesem Thema wichtig ist, wurde
daher schon gesagt, und zwar von uns.
Wegen der schon oben angeführten Inhaltslosigkeit
des Antragstextes kann ich mich mit diesem nicht auseinandersetzen. Kein ernsthafter Mensch würde bezweifeln, dass der Duisburger Hafen der weltweit größte
Binnenhafen ist. Das ist so, darüber kann man nicht diskutieren; und mit Sozialdemokraten erst recht nicht.
Nicht viel anders verhält es sich mit den Forderungen
an die Bundesregierung. Sie sind entweder absurd oder
enthalten nur Gemeinplätze. Die Verfasser dieses Antrages hätten nicht nur die Überschrift des Antrages der
Linken aus Düsseldorf übernehmen sollen, sondern
auch deren Forderungen. Da wird mit revolutionärem
Elan die Veränderung der Hafenwelt gefordert. Da wird
mit Liebe ein Engagement zugunsten der Gemeinschaft
geheuchelt. Da schauert es dem Leser wohlig bei guten
alten Kampfbegriffen wie „neoliberalem Dogma“ und
„Gewinnmaximierung“. Doch selbst daran fehlt es hier.
Im Gegensatz zu den Linken mangelt es den Sozialdemokraten völlig an der Fähigkeit zur Selbstkarikatur.
Sie sind spaßfrei und langweilig. Ihre Forderungen
schläfern ob ihrer Langweiligkeit sogar die empörtesten
Klassenkämpfer ein. Dennoch sind sie nach Meinung
der meisten Juristen kein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Doch der Reihe nach:
Unzweifelhaft hat der Binnenhafen Duisburg eine
außerordentliche Bedeutung für Nordrhein-Westfalen,
Deutschland und Europa. Das haben wir schon vor einiger Zeit gemerkt. Deshalb findet er auch in unserer Verkehrspolitik gebührende Beachtung. Wir sollen die Bundesregierung dazu auffordern, das Verfahren zur
Veräußerung der Anteile des Bundes an der Duisburger
Hafen AG sofort zu stoppen. Aber warum? Argumente
nennen die Antragsteller nicht. Das ist auch kein Wunder. Die gibt es nämlich nicht. Gerade der Standort
Duisburg hat bei einem Einstieg privater Investoren
sehr gute Entwicklungschancen. Viele Unternehmen
rund um den Hafen prägen schon jetzt den Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen nachhaltig. Warum soll
dies für den Hafen nicht gelten? Warum soll das erfolgreiche Engagement privater Investoren den Hafen nicht
noch fitter für die Zukunft machen? Was spricht gegen
noch mehr Arbeitsplätze im Duisburger Hafen?
Unsere soziale Marktwirtschaft basiert auf dem
Grundgedanken, dass sich der Staat an Erwerbsunternehmen nur ausnahmsweise beteiligen soll. Wirtschaftliche Betätigung obliegt in erster Linie privaten Unternehmen und - vor allen Dingen - Unternehmen! Das ist
auch gut so. Normalerweise führt man als guter Christdemokrat als besonders abschreckendes Beispiel für
eine solche Geisteshaltung den Staatskapitalismus in
der ehemaligen DDR an. Doch in Nordrhein-Westfalen
müssen wir gar nicht so weit blicken. Ich erinnere nur an
die LEW und das Trickfilmfiasko - das waren von den
örtlichen Sozialdemokraten hausgemachte Pleiten!
Man darf aber nicht pauschal verurteilen. Dem einen
oder anderen Sozialdemokraten muss aufgefallen sein,
dass staatliche Regie Unternehmen nicht grundsätzlich
guttut. Deshalb hat eine rot-grüne Landesregierung
ihren Anteil am Flughafen Düsseldorf verkauft. Deshalb
hatte die rot-grüne Landesregierung bereits 2004 ein
Interesse daran, die Landesanteile am Duisburger
Hafen zu verkaufen. Und das soll alles nicht mehr wahr
sein? Niemand wird etwas dagegen haben, wenn - wie
bei unserer gegenwärtigen Bundesregierung - ökonomische Vernunft Grundlage jeglichen Regierungshandelns
ist. Gefährlich wird es aber dann, wenn der Staat - wie
hier von den Sozialdemokraten gefordert - mit rentablen
Beteiligungen Gewinne erzielen soll. Soll der Bundesfinanzminister in den von Ihnen sonst so kritisierten Kasinos des entfesselten Kapitalismus zocken, um Staatseinnahmen zu erzielen?
Die Verlagerung eines möglichst großen Anteils des
Güterverkehrs auf Schiene und Bahn ist und bleibt eines
der wichtigsten verkehrspolitischen Ziele dieser Bundesregierung. Ob nun aber die Entwicklung des Duisburger Hafens allein dorthin führt, sei bezweifelt.
Genauso bezweifle ich, dass eine private Eigentümerstruktur die Erreichung dieses Zieles per se ausschließt.
Warum sollte dies der Fall sein? Warum sollte ein privater Investor seinen Hafen für den Güterverkehr unattraktiv machen? Warum sollte ein privater Investor darauf verzichten, mit seinen Investitionen auch Gewinne
zu machen? Warum sollte ein expandierender Hafen in
privater Regie weniger Arbeitsplätze bieten als ein
staatlich kontrollierter Hafen?
Es ist evident, dass Privatisierung um der Privatisierung willen fatale Auswirkungen haben kann. Deshalb
sollte jede Privatisierung auch gründlich und undogmatisch betrachtet werden - und zwar vorher! Wenn dies
geschieht - und ich habe keinen Zweifel daran, dass
unser Bundesverkehrsminister und unser Bundesfinanzminister dies immer mit der ihnen eigenen Präzision tun -, kann man auch sehr schnell unterscheiden
zwischen echten und vermeintlichen Vorteilen. Eine vorherige Überlegung ist aber auch hier unabdingbar. Dies
gilt für jede wirtschaftliche Aktivität. Das Fiasko am
Nürburgring zeigt dies nur überdeutlich. Ein Bekenntnis
der Bundesregierung zu einer nachhaltigen, langfristigen und weitsichtigen Verkehrs- und Wirtschaftspolitik
Zu Protokoll gegebene Reden
ist so überflüssig wie der gesamte Antrag. Das praktizieren wir doch schon seit Jahren täglich! Dieser Antrag
zeigt jedem, der es wissen will, dass die SPD sich nicht
nach rechts oder links bewegt, sondern mit voller Kraft
die Vergangenheit ansteuert. Diese Menschen dürfen
unser Land nicht regieren.
Eigentlich denkt man ja eher an Hamburg, Rotterdam, Boston oder Schanghai, wenn das Stichwort Hafen
fällt - und weniger an Chicago, Lüttich oder Duisburg.
Und doch ist es so, dass es Zeiten gab - etwa Mitte der
70er-Jahre - in denen der Duisburger Hafen einen größeren Umschlag als der Hamburger Hafen hatte. Noch
heute ist der Duisburger Hafen der weltweit größte Binnenhafen, der sich selbst in der Wirtschaftskrise positiv
weiterentwickelt hat. Rund 350 Unternehmen sind im
Hafen ansässig, insgesamt sind 40 600 Arbeitsplätze
von ihm abhängig. Die Logistikdrehscheibe Duisburg ist
heute ein wesentlicher Motor für Wohlstand und Arbeitsplätze in Duisburg, Nordrhein-Westfalen und auch für
Deutschland.
Der Grundstein für die moderne Entwicklung des Hafens wurde mit der Gründung der Duisburg-Ruhrorter
Hafen Aktiengesellschaft bereits 1926 gelegt, als die
Stadt Duisburg ein Drittel des Stammkapitals und der
damalige Staat Preußen zwei Drittel des Stammkapitals
übernahmen. Noch heute ist der Bund mit einem Drittel
an der Duisburger Hafen AG beteiligt, dies sind circa
15,4 Millionen Euro - der Wert dieses sogenannten Bundes-Drittel wird jedoch auf rund 50 Millionen Euro geschätzt. Es ist ein Unding, dass nun die schwarz-gelbe
Bundesregierung ihre Anteile als Tafelsilber verschleudern möchte! Die Folgen eines Verkaufs auf die Beschäftigten und die Entwicklung des Hafens sind nicht
abzuschätzen - außerdem verzichtet der Bund völlig
ohne Not auf die wachsenden Gewinne des Hafens. Dies
soll mir mal einer erklären.
Als 1993 das Krupp-Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen geschlossen wurde und über 6 000 Arbeitsplätze
auf dem Spiel standen, war es der Duisburger Hafen, der
den Duisburger Bürgerinnen und Bürgern neue Hoffnung bot: Auf dem Gelände des ehemaligen KruppStahlwerkes entstand mit 2 300 Arbeitsplätzen ein Zentrum für Logistikunternehmen unter dem Namen Logport. Die Stadt Duisburg hatte bereits in den 70er- und
80er-Jahren durch Modernisierungen in der Stahlindustrie und im Bergbau Zigtausende von Arbeitsplätzen verloren - geprägt von der Monostruktur aus Kohle-, Stahlund Bergbauindustrie stand der Stadt ein schwerer
Strukturwandel bevor. Im Hafen sahen die Duisburger
nun einen Lichtblick für eine hoffnungsvolle Entwicklung der Stadt, der das Geld für dringend notwendige
Umstrukturierungsmaßnahmen fehlte.
Auf der Ruhrgebietskonferenz im Februar 1988
wurde die Kapitalerhöhung der Duisburger Hafen AG
von 30 auf 90 Millionen D-Mark durch die Anteilseigner
Stadt Duisburg, das Land Nordrhein-Westfalen und den
Bund beschlossen. Mit der Kapitalaufstockung war die
Hafengesellschaft nun in der Lage, die notwendigen
weiteren Entwicklungsmaßnahmen für den Hafen vorzunehmen: Dazu gehörten insbesondere die Neuerschließung des ehemaligen Krupp-Hüttengeländes zum heutigen Logport sowie der Ausbau der Hafeninfrastruktur,
wie beispielsweise die Erweiterung von notwendigen Eisenbahnanschlussstrecken oder die Verfüllung von ehemaligen Hafenarmen zwecks Landgewinnung für moderne Roll-on-roll-off-Anlagen.
Damals war es eine bedeutende Zäsur, sich von dem
alten Montandenken, bei dem sich alles nur um Kohle
und Stahl drehte, zu verabschieden. Ganz wesentlich
war dabei der unternehmerische Ansatz, sich auf die
Logistik und Verkehrswirtschaft zu konzentrieren. So
konnte man ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb
schaffen. Durch die Kapitalerhöhung 1988 half der
Bund der Stadt Duisburg und der ganzen Region RheinRuhr und erfüllte so das Prinzip der Mitgestaltung durch
die öffentliche Hand - und zwar in sehr erfolgreicher
Art und Weise! Hiervon ist die jetzige Regierung meilenweit entfernt.
Die zahlreichen notwendigen Erweiterungen sowie
die Modernisierungsmaßnahmen, die der Hafen seit seiner Inbetriebnahme erfuhr, waren nur möglich, weil der
Hafen im Besitz der öffentlichen Hand war. Private Anleger hätten sich damals niemals gefunden, um Geld in
den Hafen und seine Anlagen zu investieren. Die Parole
„Privat vor Staat“ ist zu diesen Zeiten als maßlose Provokation oder hanebüchener Unsinn verstanden worden: Niemand - weder Stadt, Land noch Bund - hätte
auch nur im Traum daran gedacht, seine Anteile zu verkaufen.
Die Geschichte des Duisburger Hafens und die der
duisport-Gruppe ist eine einmalige Erfolgsgeschichte.
Der Hafen boomt und ist - trotz Wirtschafts- und Finanzkrise - in den schwarzen Zahlen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Bundesanteile zu verkaufen. 6 Milliarden Euro sinnlose Steuersenkungen kann man nicht
durch Kleckerbeträge wie den Verkaufserlös von 15 Millionen Euro finanzieren! Hinzu kommt, dass der Verkauf
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Hafens
und für die Stadt Duisburg fatale - nicht absehbare - Folgen haben kann.
Ich fordere die Bundesregierung dringend auf, von
dem Verkaufsgedanken Abstand zu nehmen und eine verlässliche Entwicklung des Hafens sicherzustellen.
Der Hafen Duisburg ist der größte Binnenhafen Europas und dadurch auch unbestritten der bedeutendste
Binnenhafen Deutschlands. Mit einem Güterumschlag
von 114 Millionen Tonnen werden hier mehr als ein
Drittel aller in deutschen Binnenhäfen anfallenden Güter umgeschlagen.
Ich kenne niemanden, der diese Tatsache infrage
stellt. Deshalb muss die Bundesregierung auch nicht gesondert aufgefordert werden, dieses anzuerkennen. Sie
tut dieses bereits.
Aber der Kern des Antrags geht ja in eine andere
Richtung. Sie fordern, dass der Bund für immer und
Zu Protokoll gegebene Reden
ewig Anteilseigner am Hafen bleiben soll, aber nicht nur
das. Darüber hinaus fordern Sie auch noch einen deutlich stärkeren staatlichen Eingriff ins operative Geschäft des Duisburger Hafens. Bemerkenswert finde ich
Ihre Begründung mit der ökonomischen Vernunft. Das
ist ein Widerspruch. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer, genauso wenig, wie er der bessere Bänker
ist, was wir bei den Landesbanken in der Finanzmarktkrise sehen konnten. Ihnen ist hoffentlich auch klar, dass
der Staat damit voll im Haftungsrisiko stehen würde und
in schlechten Zeiten auch die dann anfallenden Verluste
tragen müsste. In der öffentlichen Debatte sprechen Sie
immer nur von den angeblichen Vorteilen staatlicher
Unternehmen. Sie betonen die Einnahmemöglichkeiten,
blenden aber voll das unternehmerische Risiko aus.
Wie naiv sind Sie eigentlich, dass Sie an stetig wachsende Gewinne bei Unternehmen glauben, wie es in Ihrem Antrag steht? Denken Sie wirklich, dass der wirtschaftliche Aufschwung ewig andauert, dass es nie
schlechte Zeiten gibt? Oder kommen all die Risiken bei
der weit ins Sozialistische rückenden SPD nicht vor?
Oft genug hat sich gezeigt, dass private Investoren einer Firma guttun. Sie sorgen für frischen Wind und brechen verkrustete Strukturen auf. Wettbewerb tut Unternehmen gut, staatliche Protektion führt auf Dauer zu
nichts! Tun Sie doch nicht so, als ob staatliche Lenkung
gut für die Wirtschaft ist. Welchem Unternehmen hat öffentlicher Einfluss je gutgetan? Ihre Allmachtsfantasien
und Vorstellungen von vollständiger Kontrolle sind von
der Wirklichkeit widerlegt worden!
Daher ist es richtig, dass die Bundesregierung regelmäßig überprüft, ob sich der Bund nicht von einzelnen
Staatsbeteiligungen trennen kann oder muss. Das gilt für
den Bereich Infrastruktur ebenso wie für die Telekommunikationsbranche oder einzelne Verkehrsträger. Allerdings muss im Rahmen einer solchen Veräußerung
immer darauf geachtet werden, dass ein entsprechender
Investor keine Einzelinteressen verfolgt und einen diskriminierungsfreien Zugang der Infrastrukturanlagen
gewährleistet. Wichtig ist auch, dass es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen für andere Binnen- und Seehäfen
kommt. Den weiteren Prozess werden wir daher als
Deutscher Bundestag aufmerksam begleiten. Dem Antrag der SPD stehe ich kritisch gegenüber und bin gespannt auf die kommenden Beratungen.
Wirtschaftlich arbeitet die Duisburger Hafen AG als
öffentliches Unternehmen im gemeinsamen Eigentum
des Bundes, des Landes NRW und der Stadt Duisburg
erfolgreich. So hat sie neue Beschäftigungsperspektiven
in der vom Strukturwandel hart betroffenen Region
eröffnet und mit den Projekten Logport Rheinhausen
und Logport II eine sinnvolle Umnutzung von brachliegenden Industrieflächen ermöglicht. Als zentrale Drehscheibe der Rhein-Ruhr-Region generiert der Duisburger Hafen fast die Hälfte der gesamten Umschlagmenge
Nordrhein-Westfalens im Wasser- und Bahnumschlag;
durch die Kooperation mit den Häfen Amsterdam und
Rotterdam ist er unverzichtbar als Zugang zu internationalen Logistikrouten.
Schon dieser kurze Überblick zeigt: Die geplante Privatisierung der Bundesanteile an der Duisburger Hafen
AG ist wirtschaftlich unsinnig, struktur- und beschäftigungspolitisch schädlich und verkehrspolitisch verantwortungslos.
Sie ist verkehrspolitisch verantwortungslos, weil sie
der öffentlichen Hand Steuerungsmöglichkeiten nimmt,
die Verlagerung von Güterverkehren vom Lkw auf Bahn
und Schiff zu gestalten und zu fördern. Deshalb ist sie
auch Gift für die Umwelt- und Klimapolitik; sie wird die
Staus auf den Autobahnen in NRW durch immer mehr
Lkw verlängern.
Sie ist beschäftigungs- und strukturpolitisch schädlich, weil private Gewinninteressen bestimmenden Einfluss auf das Unternehmen bekommen. Ein Finanzinvestor wird seine Renditeerwartungen auch durch den
Abbau von Arbeitsplätzen durchsetzen wollen. Für ein
Logistikunternehmen als Erwerber hätte die Stärkung
seiner Wettbewerbsposition gegenüber Mitbewerbern
Vorrang vor der regionalen Entwicklung. Deshalb lehnen die Gewerkschaften in NRW die Privatisierung
ebenso eindeutig ab wie auch Dachverbände der Logistikwirtschaft.
Die geplante Privatisierung ist schließlich wirtschaftlich sinnlos. Das hat die Bundesregierung selbst in den
Antworten auf kleine Anfragen der Linken bestätigt.
Demnach arbeitet die Duisburger Hafen AG wirtschaftlich erfolgreich, sie ist in ihrer wirtschaftlichen Betätigung durch das öffentliche Eigentum nicht eingeschränkt. Und die Bundesregierung musste sogar
einräumen, dass ihre Aussage, das Unternehmensziel sei
privatwirtschaftlich besser zu erreichen, nichts als ein
ohne jede Sachkenntnis dahingesagter Allgemeinplatz
neoliberaler Privatisierungsideologie ist; denn, so wörtlich‚ „Vergleiche der Duisburger Hafen AG mit anderen
Unternehmen waren für die Entscheidung nicht ausschlaggebend.“
So offenkundig sachfremd wie die Entscheidungsgrundlage der Bundesregierung, so unverschämt ist ihr
Auftreten gegenüber der Stadt Duisburg und dem Land
NRW als Mitgesellschafter. In den Medien wird angedeutet, die längst überfällige Entscheidung zur Freigabe
der Investitionsmittel für den Ausbau des Eisernen
Rheins sei intern an die Bedingung einer Zustimmung
des Landes zu ihrem Vorhaben verbunden worden. Und
gegenüber der hochverschuldeten Stadt Duisburg, die
jeden Cent dringend braucht, hat der Bund die Zustimmung zur Ausschüttung von Gewinnanteilen gleichfalls
damit verkoppelt, was sogar in einer Beschlussvorlage
des Duisburger Rates nachzulesen ist.
Die Linke sagt Nein zur Privatisierung der Bundesanteile am Duisburger Hafen. Die Bundesregierung muss
sich auch nach der für CDU und FDP verlorenen Landtagswahl ihrer Verantwortung für die Verkehrsinfrastruktur im bevölkerungsreichsten Bundesland stellen,
sie muss ihre skandalöse Erpressungspolitik gegenüber
dem Land NRW und der Stadt Duisburg beenden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
wir werden Ihrem Antrag zustimmen. Wenn Ihr Antrag
hier mehr ist als eine Pflichtübung parteipolitischer
Profilierung, dann sollten ihm auch Taten in NRW folgen. Im Januar werden auf Initiative der Linken im
NRW-Landtag die Ergebnisse einer Anhörung zum Duisburger Hafen ausgewertet. In Duisburg und auch in
Düsseldorf können die Mehrheiten der Oppositionsparteien in diesem Hause die vernunftwidrigen Privatisierungspläne von Schwarz-Gelb durchkreuzen. Sie können
kluge Entscheidungen treffen, die das öffentliche Eigentum am Duisburger Hafen sichern und eine Kooperation
von Land und Kommunen an Rhein und Ruhr fördern.
Die grüne Bundestagsfraktion sieht den geplanten
Verkauf der Anteile des Bundes an der Betriebsgesellschaft des Duisburger Hafens durchaus kritisch. Der
Hafen, der zu jeweils einem Drittel im Eigentum von
Bund, Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Duisburg ist, stellt einen diskriminierungsfreien Zugang zur
Hafeninfrastruktur und die gebotene Wettbewerbsneutralität sicher. Bundesstraßen, Autobahnen und Schifffahrtskanäle werden ja auch nicht privatisiert.
Wie so oft ist auch hier, bei der geplanten Veräußerung der Bundesanteile an der Duisburger Hafen AG,
die Position der Bundesregierung unklar: Herr
Ramsauer steht dem Verkauf des Duisburger Hafens mit
„allergrößter Skepsis“ gegenüber und hält diesen sogar
für eine „Verschleuderung von Bundesvermögen“.
Gleichzeitig hat sein Kabinettskollege, Finanzminister
Schäuble, den Verkauf der Bundesanteile bereits fest im
Bundeshaushalt 2012 eingeplant.
Eine klare Linie sieht anders aus. Am 22. Juli dieses
Jahres antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der grünen Bundestagsfraktion, dass ein „Bundesinteresse an der Beteiligung schon seit langem nicht
mehr gegeben ist“.
Tatsächlich könnte das Interesse des Bundes an einer
leistungsfähigen Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen
Amsterdam und Rotterdam nicht größer sein. Denn alleine der Wirtschaftsstandort NRW erwirtschaftet mehr
als ein Fünftel des deutschen Bruttoinlandsproduktes.
Die Bundesregierung gibt mit dem Verkauf die Möglichkeit aus der Hand, die Zukunft des weltweit größten Binnenhafens am wichtigsten Wirtschaftsstandort Deutschlands weiterhin erfolgreich mitzugestalten, und das nur,
weil sie ihre Sichtweise unnötig auf die deutschen Nordseehäfen verengt. Diese sind jedoch für das Einzugsgebiet des Duisburger Hafens eher uninteressant. Zum
Vergleich: Der Straßentransport eines Frachtcontainers
200 Kilometer ins Hafenhinterland weist dieselbe Energiebilanz auf wie der weltweite Transport desselben
Containers per Frachtschiff von Schanghai bis nach
Rotterdam.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei der Finanzierung der dringend nötigen Schienengüterverkehrsanbindung zum Duisburger Hafen ab. Obwohl die Bundesregierung per schriftlicher Vereinbarung bereits 2002
die Finanzierung des deutschen Anschlusses an die Betuwe-Linie zugesagt hat, zeichnet sich aktuell ein vollständig anderes Bild ab. Die niederländischen Partner
haben ihren Teil der Betuwe-Linie bis zur Grenze bei
Emmerich bereits letztes Jahr fertigstellt. Auf deutscher
Seite ist bis heute nicht einmal die Bundesfinanzierung
des vereinbarten dreigleisigen Ausbaus inklusive des
dringend nötigen Lärmschutzes sichergestellt. 9 der
11 Milliarden Euro, die in den nächsten Jahren in die
Schieneninfrastruktur investiert werden, fließen in den
Norden, Süden und Osten, aber kaum etwas nach Nordrhein-Westfalen.
Zusammenfassend fordern wir die Bundesregierung
auf, ihre internen Kommunikationsprobleme im Bezug
auf den Verkauf der Hafenanteile zu klären und dabei
nicht die Zukunft des Wirtschaftstandortes NRW aus den
Augen zu verlieren. Die Bundesregierung kann eigentlich kein Interesse daran haben, dass die Anteile in private Hand kommen. Wir wollen auch nicht, dass es zu
einem europaweiten Bieterwettstreit kommt. Auf keinen
Fall wollen wir, dass die Anteile an einen Hedgefonds
oder andere veräußert werden. Angesichts der bisher
sehr erfolgreichen und zuverlässigen öffentlichen Partnerschaft sehen wir im Prinzip keine Notwendigkeit, die
Bundesanteile am Duisburger Hafen zum jetzigen Zeitpunkt zu veräußern.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8140 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald,
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlängern
- Drucksachen 17/7486, 17/8045 Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen wurden beim Präsidium angegeben.
Wann immer wir über die Rente sprechen, reden wir
nicht zuerst über Geld, sondern vor allem über individuelle Lebensleistungen. Menschen haben in ihrem Leben
etwas aufgebaut, sie haben gewirkt und gearbeitet. Menschen haben mit ihren Beiträgen die Renten der vorhergehenden Generationen gesichert. Gerade die Menschen in DDR-Betrieben haben unter ungünstigen
politischen und ökonomischen Verhältnissen einen großartigen Beitrag für die Gesellschaft geleistet.
Daher ist es eine Frage der Rentengerechtigkeit, ja
der Anerkennung der Lebensleistung, dass Konten von
Rentnerinnen und Rentnern sauber und korrekt geklärt
werden können. Menschen verdienen Gerechtigkeit.
Um hier Ungerechtigkeiten zu vermeiden und jedem
Versicherten Gelegenheit zu geben, seine Konten zu klären sowie alle seine rentenanwartschaftsbegründenden
Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte vollständig zu
erfassen, beschloss der Bundestag im Oktober 2006, die
zum Jahresende 2006 auslaufende Aufbewahrungspflicht um fünf Jahre zu verlängern. Die CDU/CSU hat
diesen Beschluss unterstützt und mehrheitlich mit beschlossen.
Diese verlängerte Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In
ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, diese Aufbewahrungsfrist erneut um fünf Jahre zu verlängern,
und zwar über den 31. Dezember 2011 hinaus bis zum
31. Dezember 2016.
Dieser Antrag entspricht scheinbar dem Anliegen der
Rentengerechtigkeit. Leider ist dies nur vordergründig
der Fall. Denn eine beliebig und wiederholt verlängerte
Frist löst kein Problem, sondern verschiebt es willkürlich nach hinten hinaus. Wir müssen konstatieren: Trotz
einer Verlängerung im Jahr 2006 haben viele Bürgerinnen und Bürger keine Kontenklärung beantragt. Eine
weitere Verlängerung wird dieses Problem nicht lösen.
Auch wird die Verantwortung für die Kontenklärung
hier unverhältnismäßig stark von den Versicherten auf
die Betriebe abgeschoben. Es sind die Arbeitgeber, auf
die die zusätzlichen Lagerkosten und der zusätzliche
Verwaltungsaufwand zukommt. Die Betriebe haben rund
20 Jahre lang im Interesse der Versicherten und der
Deutschen Rentenversicherung die Lohnunterlagen aufbewahrt, und das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu
speichernden Daten.
Es ist auch zu bemerken, dass viele dieser DDR-Betriebe mittlerweile nicht mehr existieren. Das bedeutet,
dass ihre Rechtsnachfolger oder auch private Firmen
sich um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen
kümmern. Diese werden durch eine Verlängerung der
Fristen unverhältnismäßig stark belastet.
Leider müssen wir auch feststellen, dass die Versäumnisse bei der Kontoklärung hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mitwirken
der Versicherten selbst ist die Beschaffung von fehlenden Unterlagen durch den Rentenversicherungsträger
kaum möglich. Es geht hier also um eigene Verantwortung und Selbstständigkeit der Versicherten.
Damit sind wir inhaltlich nicht nur bei der Frage
nach Rente und Rentenklärung. Wir sind bei der Frage
nach dem Menschenbild und dem Staatsverständnis.
Hier unterscheiden sich die Ansätze der Linken und der
CDU/CSU grundsätzlich. Für uns steht das mündige
Subjekt im Mittelpunkt der Politik. Dieses kann in Freiheit und Verantwortung handeln. Der Staat setzt die
Rahmenbedingungen und unterstützt denjenigen, der
seine Freiheit nicht ausführen kann. Anders als die
Linke, die jede Verantwortung an den Staat delegiert,
mahnt uns unser Menschenbild, den Menschen auch die
schmerzhaften Folgen ihrer Verantwortung zuzumuten.
Eine Verschiebung von Stichtagen und Fristen auf den
Sanktnimmerleinstag zeigt, dass die Linke dem einzelnen Menschen diese Mündigkeit nicht zutraut.
Wir kennen das doch im Kleinen, sei es in der Familie, an der Uni oder auch in Betrieben: Fristen sorgen
für Klarheit, Verschiebungen produzieren neue Unklarheiten. Und ist nicht das das Ziel unserer Rentenpolitik:
Klärungen für Menschen möglich zu machen, und damit
einen Beitrag zur Gerechtigkeit zu leisten, und zwar einer Gesamtgerechtigkeit: der Versicherten, der Betriebe
und der Gemeinschaft der Versicherten sowie der Rentenversicherungsträger und der Haushaltsverantwortlichen in Bund und Ländern, die auch zu einem festen
Punkt wissen müssen, mit welchen finanziellen Belastungen sie zu rechnen haben?
So lässt sich zusammenfassend festhalten: Menschen
brauchen eine gerechte Anerkennung ihrer Lebensleistung. Sie sollen eine richtig berechnete Rente erhalten,
auch und gerade die Menschen aus der ehemaligen
DDR. Darum haben wir die Frist im Jahr 2006 verlängert. Diese Zeit war genügend lang bemessen. Eine weitere Verlängerung der Frist hingegen schafft unverhältnismäßige Kosten und Aufwand und ist daher nicht
sachgemäß.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner
Sitzung am 30. November 2011 mit den Stimmen der
Fraktionen CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen dem Deutschen Bundestag die
Ablehnung des vorliegenden Antrags empfohlen. Der
Antrag fordert eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist um weitere fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember
2016.
Generell müssen Lohnunterlagen vom Arbeitgeber
für eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden.
Hiervon abweichend sind nach geltendem Recht gemäß
§ 28 f Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991
im Beitrittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindestens bis zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzubewahren. Damit sollte für alle Betroffenen die Möglichkeit geschaffen werden, ihre Versichertenkonten zu
klären.
Sowohl die CDU/CSU-Fraktion als auch die Fraktion
der FDP sind der Meinung, dass die Aufbewahrungszeit
zur Klärung der Rentenkonten bisher ausreiche. Alles
Weitere liege in der Eigenverantwortung der Betroffenen; mehr könne der Gesetzgeber nicht tun. Schließlich
könne man die Arbeitgeber nicht weiterhin unverhältnismäßig belasten.
Dass noch immer etwa 286 000 allein bei der Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versicherungskonten nicht vollständig geklärt sind, stört die ReZu Protokoll gegebene Reden
gierungsfraktionen nicht. Das entspricht einem Anteil
von rund 12 Prozent der Versicherungskonten mit Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR und ist aus
Sicht der SPD-Fraktion nicht zu vernachlässigen. Die
Betroffenen verlören auf diese Weise nicht unerhebliche
Teile ihrer Rentenanwartschaften. Versicherungsrechtlich relevante und rentenrelevante Daten drohen somit
verlorenzugehen. Es ist zutiefst beschämend, wie die
CDU/CSU mit ehemaligen DDR-Bürgern umgeht. Das
tut sie nicht nur in diesem Fall, sondern das gilt auch für
den rentenpolitischen Umgang mit ehemaligen DDRFlüchtlingen. Die „FDP in Liquidation“ verhält sich da
nicht anders und folgt stillschweigend dem größeren
Partner.
Im Rahmen der Beratungen zum Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz hat meine Fraktion einen Änderungsantrag eingebracht, der unter anderem eben diese Verlängerung der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen
in DDR-Betrieben zum Gegenstand hatte. Wir waren im
Gegensatz zur Linksfraktion der Meinung, dass dies mit
dem Vierten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze hätte erreicht
werden können, weil die Aufbewahrungsfrist Regelungsbestandteil des SGB IV ist.
Die Koalitionsparteien haben unseren diesbezüglichen Antrag in der Ausschusssitzung am 30. November
2011 und am darauf folgenden Tag im Plenum des Deutschen Bundestages abgelehnt. Auch die Bundesregierung hat sich in dieser Sache trotz entsprechender
Stellungnahmen von Sachverständigen, die für eine Verlängerung plädierten, als beratungsresistent erwiesen.
In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird
die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den
31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016
verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache richtig und
wird daher von meiner Fraktion unterstützt.
Nach der Beratung im Ausschuss sind wir als FDPFraktion weiterhin überzeugt, dass es keinen nachvollziehbaren Grund gibt, die im Zuge der deutschen Einheit
beschlossene Sonderregelung für die Aufbewahrung von
Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der DDR
erneut zu verlängern.
Es muss den Rentenversicherungsträgern möglich
sein, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu überprüfen - insbesondere um die Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen.
Grundsätzlich ist dafür ein Zeitraum von fünf Jahren
vorgesehen. Um den besonderen Umständen Rechnung
zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben
haben, wurde dieser Zeitraum für Beschäftigte in der
DDR zunächst um zweimal fünf Jahre verlängert, dann
erneut um fünf Jahre - also auf insgesamt 20 ({0})
Jahre. Eine erneute Verlängerung um fünf Jahre auf
dann insgesamt 25 Jahre ist völlig unangemessen und
vor dem Hintergrund der damit verbundenen Erwartungshaltungen nicht zu rechtfertigen.
Für abhängig Beschäftigte in der DDR dienen diese
Lohnunterlagen zur Klärung ihres Rentenversicherungskontos. Es wurden alle nötigen, notwendigen und
darüber hinausgehenden Maßnahmen ergriffen, um den
Personenkreis der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
zu informieren:
Die Betroffenen wurden in den vergangenen 20 Jahren mehrfach persönlich angeschrieben. Sämtliche
Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten im Beitrittsgebiet
sind in den Jahren 2005 bis 2007 aufgerufen worden, einen Antrag auf Kontenklärung zu stellen. Im Jahr 2006
wurden alle Betroffenen auf die Notwendigkeit einer
Kontenklärung früherer DDR-Zeiten hingewiesen.
Sie wurden darüber hinaus über Pressemitteilungen
in den gängigen Medien von den Rentenversicherungsträgern für die Problematik sensibilisiert, die nötigen
Anträge vor Fristablauf einzureichen.
Im Zuge der jährlichen automatischen Versendung
der Renteninformationen erfolgte ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf die Notwendigkeit einer vollständigen
Kontenklärung.
Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch
nachgekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem
Jahr die Deutsche Rentenversicherung Bund noch einmal auf den Fristablauf öffentlich hingewiesen.
Falls es dennoch einzelne Betroffene gibt - zum Beispiel „beruflich Verfolgte“, die den Nachweis verfolgungsbedingter Mindereinnahmen nicht durch Rückgriff
auf ihr geklärtes Rentenversicherungskonto führen können -, so gibt es bewährte Verfahren, um diesen Menschen zu helfen. So sieht zum Beispiel § 25 BerRehaG
für Fälle, in denen Unterlagen nicht vorhanden oder
nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers verlorengegangen sind, Beweiserleichterungen
ausdrücklich vor. In solchen Fällen ist es ausreichend,
wenn der Betroffene seine Angaben zur Verfolgteneigenschaft und zur Verfolgungszeit glaubhaft machen kann.
Insofern sehen wir als FDP-Fraktion keinen Grund
für eine erneute Fristverlängerung. Schon die Verlängerung der Frist im Jahre 2006 war für uns nur schwerlich
nachzuvollziehen - vor allem vor dem Hintergrund, dass
die Arbeitgeber bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der
abgewickelten DDR-Staatsunternehmen die Lohnunterlagen mit erheblichen Kosten aufbewahren müssen.
Wir bleiben somit bei unserem ablehnenden Votum.
Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage - sei es im Kreis
Ihrer Familie oder im Freundeskreis - und ein frohes
und gesundes neues Jahr 2012.
Eingangs möchte ich auf unsere Debatte vom 10. November zurückkommen. Die Rednerinnen und Redner
ausnahmslos aller Fraktionen betonten, wie wichtig die
Lohnunterlagen für eine exakte Rentenberechnung sind.
Doch da hörten die Gemeinsamkeiten schon auf. Meine
Zu Protokoll gegebene Reden
Fraktion, die Linke, sowie die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen wollen die Aufbewahrungsfrist
von Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten verlängern. Die
Fraktionen von Union und FDP wollen das gerade
nicht. Selbst die über 645 000 ungeklärten Rentenkonten
in Ostdeutschland scheinen Sie nicht zu beeindrucken.
Für uns hingegen hat dies eine Dimension, auf die
wir als Gesetzgeber reagieren müssen. Sie hingegen reden das Problem klein und sprechen von lediglich
286 000 ungeklärten Rentenkonten in Ostdeutschland.
Diese Zahl stammt - im Ergebnis meiner diesbezüglichen Frage an die Bundesregierung - von der Deutschen Rentenversicherung Bund und erfasst deshalb
auch nur Versicherte, die dort geführt sind. Die von mir
bei den Regionalstellen der DRV im Sommer erfragten
Zahlen, die in Summe in unserem Antrag enthalten sind,
haben Sie ignoriert.
Ich darf die Zahlen der ungeklärten Rentenkonten
hier anführen: Deutsche Rentenversicherung BerlinBrandenburg: Brandenburg - 78 956, Ostberlin 137 896, Deutsche Rentenversicherung Nord: 57 900,
Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland: 110 000,
alle mit Lücken bis 31. Dezember 1991; 23 000 Versicherte davon sind inzwischen in den alten Bundesländern.
Auch mir ist klar, dass nicht alle Lücken in den ungeklärten Rentenkonten mit Beschäftigungszeiten in der
DDR zu tun haben. Aber nach Schätzung der Deutschen
Rentenversicherung Nord sind es in Mecklenburg-Vorpommern gut zwei Drittel, nämlich 45 000 von 57 000.
Kaum Erkenntnisse gibt es über die Rentenkonten
derjenigen, die seit 1990 innerhalb des Landes von Ost
nach West gingen oder sich auch außer Landes befinden.
Klar ist auch, dass die Dinge im Fluss sind und sich
mittlerweile viele Betroffene um ihre Lohnunterlagen
gekümmert haben. Monatlich sollen aber immerhin noch
rund 2 600 Anfragen bei den Behörden eingehen. Eine
Größenordnung, die wir meines Erachtens als Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht ignorieren
sollten.
Doch unabhängig davon gibt es einen weiteren stichhaltigen Grund, die Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen zu verlängern, nämlich die vielen Klageverfahren,
die häufig die Beibringung weiterer Papiere erforderlich machen. Diesen Aspekt schlagen Sie einfach in den
Wind.
Und Ihnen ist auch bekannt, dass es - glücklicherweise für die Betroffenen - immer wieder auch Urteile
zum Rentenrecht gibt, die nicht nur auf den Kläger angewandt werden, sondern auf analoge Fälle und damit oft
auf größere Gruppen. Für all diese Menschen wird dann
- zumindest potenziell - ein Zugang zu den Lohnunterlagen wichtig.
Aber auch die Änderung des Rentenüberleitungsgesetzes, wie meine Fraktion sie seit Jahren verlangt,
würde einen Zugriff auf die Dokumente nötig machen.
Andere Gesetze können das ebenfalls erfordern. So hat
sich dieser Tage die zuständige Landesbehörde für die
Stasiunterlagen an die Abgeordneten aus meinem Bundesland gewandt und darum gebeten, dass wir uns für
die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der DDRLohnunterlagen einsetzen. Ohne Zugriff auf die Dokumente, so habe ich dem Brief entnommen, würde die gerade per Gesetz bis zum Jahr 2019 verlängerte Möglichkeit, eine berufliche Rehabilitierung zu beantragen,
infrage gestellt. Menschen, die in der DDR in ihrer beruflichen Entwicklung massiv behindert wurden, hätten
dann das Nachsehen. Wollen Sie das, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition?
Auch das Problem dieser Gruppe haben Sie übrigens
in der ersten Lesung kleingeredet.
Ihr Hinweis auf die Glaubhaftmachung bietet ebenfalls keine Lösung. Diese hätte selbst im günstigsten
Fall, wie Sie genau wissen, eine Minderung des Anspruchs um ein Sechstel zur Folge. Im ungünstigsten
Fall, nämlich dann, wenn genaue Beschäftigungszeiten
und Einkommenshöhen nur noch vage bekannt sind,
fiele der Schaden vermutlich noch höher aus.
Ich appelliere hiermit eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen: Stimmen
Sie mit für die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für
die Lohnunterlagen. Folgen Sie der praktischen Lösung,
wie ich sie in der Debatte am 10. November vorgeschlagen habe und wie sie auch in einem Änderungsantrag
der SPD zum SGB IV enthalten ist. Ändern Sie den § 28 f
Abs. 5 des SGB IV. Ersetzen Sie das darin enthaltene
Datum „31. Dezember 2011“ mindestens durch den
„31. Dezember 2016“.
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung
Bund sowie der DRV Berlin-Brandenburg, der DRV Mitteldeutschland und der DRV Nord gibt es rund 648 000
ungeklärte Rentenkonten von Versicherten in den ostdeutschen Bundesländern. Was diese Zahlen jedoch
nicht abbilden, ist die Anzahl derjenigen, die nach Herstellung der Einheit von Ost nach West gingen. Laut Statistischem Bundesamt waren das allein bis 2008 mehr
als 2,7 Millionen Menschen. Es ist leider nicht davon
auszugehen, dass alle ihre Rentenangelegenheiten geklärt haben. Der Deutschen Rentenversicherung Bund
liegen keine Zahlen vor, für wie viele Personen dieses
Versichertenkreises noch keine Kontenklärung beantragt wurde. Natürlich resultieren nicht alle Lücken in
Rentenkonten aus Zeiten der Berufstätigkeit in der DDR.
Aber die Deutsche Rentenversicherung Nord schätzt
zum Beispiel für Mecklenburg-Vorpommern, dass von
den 57 900 offenen Konten etwa 45 000 wegen fehlender
Unterlagen aus DDR-Zeiten noch nicht abschließend
geklärt werden konnten. Das sind mehr als drei Viertel.
All diese Versicherten werden vom 1. Januar an die Verdienstnachweise aus den Jahren vor 1992 nicht mehr beschaffen können, da alle Arbeitgeber und Rechtsnachfolger von DDR-Betrieben, die zuvor gesetzlich verpflichtet waren, die alten Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten aufzuheben, diese nun vernichten können. Was nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
belegt werden kann, wird bei der Rentenberechnung
nicht berücksichtigt.
An dieser Stelle verweisen die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen gerne auf die Glaubhaftmachung nach SGB VI. Konkret ist eine Glaubhaftmachung mit einem Verlust von einem Sechstel des
eigentlichen Anspruchs verbunden. Das wäre eine Belastung vor allem für diejenigen, die längere Zeiten von
Arbeitslosigkeit hinnehmen mussten und ohnehin nur
geringe Rentenansprüche aufgebaut haben. Sie sind
auch ohne diese Lücken von Altersarmut bedroht. Weil
jeder Euro zählt, ist es wichtig, dass wir die Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben über
den 31. Dezember dieses Jahres hinaus um mindestens
fünf weitere Jahre verlängern.
Zudem gibt es Menschen, für die selbst eine Glaubhaftmachung schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, zum
Beispiel Menschen, die aus der ehemaligen DDR geflohen waren - nachvollziehbarerweise ohne alle Unterlagen - und die heute nur noch vage Erinnerung an genaue Beschäftigungszeiten und an das Einkommen
haben.
Die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist hat einen
wesentlich höheren Nutzen als sie Kosten verursacht.
Jede Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld wert,
und zwar für den Einzelnen, der oder die bei der Rente
Einbußen wegen Versicherungslücken hinzunehmen hat.
Aber auch für die Gemeinschaft, der allen Zahlen zufolge auch ohne diese einheitsbedingten Lücken in den
Erwerbsbiografien ein Anstieg an Grundsicherungsbezugsbeziehenden ins Haus steht. Darüber hinaus ist
auch der Aufwand für die Deutsche Rentenversicherung
nicht zu unterschätzen. Denn bei derart vielen ungeklärten Konten würde sich der Aufwand zur Feststellung von
Rentenansprüchen ohne den weiteren Zugang zu den
Lohnunterlagen massiv erhöhen.
Altersarmut droht besonders in Ostdeutschland. Dort
drohen nach Berechnungen des DIW aufgrund der anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und der Absenkung des
Rentenniveaus die Altersbezüge für künftige Rentnerinnen und Rentner massiv zu sinken. Natürlich reicht eine
Verlängerung der Aufbewahrungszeiten für die Lohnunterlagen als Maßnahme gegen Altersarmut nicht aus,
sondern wir brauchen insbesondere für den Osten eine
Garantierente, die über dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. Die Garantierente kann und soll
aber eigene Ansprüche nicht ersetzen. Deswegen gilt es
jetzt sicherzustellen, dass die am 31. Dezember 1991 im
Beitrittsgebiet vorhandenen Entgeltunterlagen mindestens bis zum 31. Dezember 2016 vom Arbeitgeber aufbewahrt werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8045, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7486 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Oppositionsfraktionen. - Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dorothea Steiner, Jerzy Montag, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu
Rechtsbehelfen nach der EG-Richtlinie 2003/
35/EG ({0})
- Drucksache 17/7888 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({1})
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die Klagebefugnisse
der Umweltverbände im deutschen Umweltrecht ausweiten soll. Worum geht es im Kern? Der Europäische Gerichtshof hat am 12. Mai 2011 in einem Grundsatzurteil
festgestellt, dass Umweltverbände grundsätzlich in einem gerichtlichen Verfahren die Verletzung aller für die
Zulassung eines Vorhabens maßgeblichen Umweltvorschriften, die auf europäischem Recht basieren, geltend
machen dürfen. Den Umweltverbänden werden demnach wesentlich mehr Klagerechte eingeräumt, als das
derzeit geltende deutsche Recht ihnen zubilligt. Nach
geltendem deutschen Recht sind Umweltverbände bislang weitestgehend klagebefugten Personen gleichgestellt. Beeinträchtigungen der Umwelt als solche können
sie allerdings nur eingeschränkt gerichtlich prüfen lassen. Der EuGH leitet aus der Umweltverträglichkeitsrichtlinie 85/337/EWG des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten, allerdings umfassendere Möglichkeiten für die Umweltverbände ab. Vor diesem Hintergrund ist das deutsche Recht anzupassen. Ein entsprechender Gesetzentwurf befindet sich bereits in der
Ressortabstimmung. Wir werden uns also in absehbarer
Zeit mit der Thematik nochmals im Parlament befassen.
Das Gericht hat klargestellt, dass die entsprechende
europäische Richtlinie unmittelbare Anwendung findet.
Die anerkannten Umweltverbände können sich also bis
zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung - zur Begründung ihrer Klagerechte - unmittelbar auf das Gemeinschaftsrecht berufen.
Selbstverständlich müssen die europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden. Dies werden wir tun, so auch in diesem konkreten Fall. Hier geht
es darum, den Umweltverbänden hinreichende Klagebefugnisse einzuräumen. Es gilt jedoch bei der konkreten
Ausgestaltung auch zu beachten, dass sich die Rahmenbedingen bei Vorhaben, wie zum Beispiel InfrastrukturDr. Thomas Gebhart
projekte im Energie- oder im Verkehrsbereich, nicht so
verändern, dass diese sich kaum noch durchsetzen lassen. Darauf wird zu achten sein. Ich will noch auf einen
Punkt hinweisen: Es wäre wünschenswert, wenn wir
künftig stärker am Anfang eines Entscheidungsprozesses
hinsichtlich Infrastrukturvorhaben die Bürgerinnen und
Bürger einbinden würden. Ich bin sicher, dass sich dadurch etliche Klagen am Ende eines Prozesses vermeiden ließen. Dort müssen wir ansetzen.
Im November 2006 haben wir in der Großen Koalition das Umwelt-Rechtsbehelfs-, das Öffentlichkeitsbeteiligungs- und das Aarhus-Übereinkommen-Gesetz verabschiedet. Diese Gesetze sollten zu mehr Transparenz
bei Planungs- und Genehmigungsverfahren und zu
einem verbesserten Rechtsschutz für die Umweltverbände führen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat diesen
Gesetzentwürfen seinerzeit zugestimmt, nicht zuletzt
weil bereits ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig
war und die Zeit für die Umsetzung der jeweiligen EURichtlinien und des Aarhus-Übereinkommens drängte.
Allerdings wies die Arbeitsgruppe Umwelt der SPDBundestagsfraktion - und so auch ich - bereits damals
in einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages darauf hin, dass das UmweltRechtsbehelfsgesetz in der vorliegenden Fassung nach
unserer Einschätzung nicht den Vorgaben gerecht wird,
die durch das Aarhus-Übereinkommen und in der EGRichtlinie zu den Rechtsbehelfen gefordert werden. Wir
waren der Auffassung, dass das europarechtliche Ziel,
der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu
den Gerichten zu gewähren, nur durch ein unbeschränktes Verbandsklagerecht umgesetzt werden kann. Genau
dies sah der Gesetzentwurf aber nicht vor - und genau
deswegen ist Deutschland jetzt vom Europäischen
Gerichtshof verklagt worden.
Bitte machen Sie sich Folgendes bewusst: Ursächlich
für das mangelhafte Umsetzen der EU-Vorgaben war die
Angst vor dem Bürger in den Reihen der Union sowie in
Teilen der Ministerien und der Bundesländer. Aber auch
die Wirtschaftsverbände waren gegen den weiten Zugang zu Gerichten, wie es das Aarhus-Übereinkommen
und europäisches Recht vorsahen. Es wurde das
Schreckgespenst der Klageflut heraufbeschworen und
davor gewarnt, dass in Deutschland Bau- und Infrastrukturprojekte überhaupt nicht mehr oder bestenfalls
nach jahrelangem Rechtsstreit und zu gestiegenen Kosten realisiert werden können. Mittlerweile stellt sich
heraus, dass vielmehr das Gegenteil der Fall ist: Nur
mit einer zeitnahen und umfangreichen Beteiligung können kostspielige Auseinandersetzungen erst vermieden
werden.
Leider ging auch der damalige Referentenentwurf des
Innenministeriums zur Vereinheitlichung und Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren in die falsche
Richtung. Der Gedanke hinter diesem Referentenentwurf war es, den Bürger möglichst aus dem Planfeststellungsverfahren herauszuhalten, weil dies angeblich zu
einer Beschleunigung des Verfahrens führen würde. Spätestens nach Stuttgart 21 ist nun völlig klar, dass dieses
Denken nicht mehr in die politische Landschaft passt.
Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen sowie der Deutsche Anwaltsverein
haben daher auch diesen Referentenentwurf in ihren
Stellungnahmen verrissen - abgesehen davon, dass er
im Nachhinein ohnehin EU-rechtswidrig war.
Nach meiner festen Überzeugung sollten wir „mehr
Demokratie wagen“, wie bereits Willy Brandt 1969 in
seiner ersten Regierungserklärung forderte. Dazu
gehört, die Bürgerinnen und Bürger mir ihren Anliegen
ernst zu nehmen und sie in transparenten Planungsverfahren umfassend und fair zu beteiligen. Dies wird
anstatt zu einer Klageflut zu einer Verfahrensverkürzung
führen, weil es weniger Klagen gegen Entscheidungen
im eigentlichen Planungsverfahren geben wird. Auch
die selbstbewussten Forderungen nach Beteiligung von
Bürgerinitiativen und Vereinen sind keine Hindernisse
im Verfahren, sondern eine Bereicherung für eine bürgernahe Planung und bedarfsgerechte Konzeption. Auch
die schwarz-gelbe Bundesregierung sollte mittlerweile
eingesehen haben, dass Investitionen und Infrastruktur
nur mit, aber nie gegen den Bürger wirklich zum Erfolg
führen. Ich hoffe sehr, dass Sie die Blockade einer zeitgemäßen Bürgerbeteiligung endlich aufgeben und eine
EU-rechtskonforme Überarbeitung vorlegen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird demnächst ihr
„Konzept für Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung“ veröffentlichen, in dem die Bürgerinnen und
Bürger von Anfang an und umfassend in die Planungen
einbezogen werden und vor allem, und das halte ich für
absolut entscheidend für eine ehrliche Auseinandersetzung, mit ihren Anliegen und Ängsten wirklich ernst
genommen werden. Wir werden dieses Konzept gerne
breit mit den Regierungsfraktionen diskutieren, und ich
biete Ihnen schon jetzt unsere tatkräftige Hilfe bei der
Umsetzung zukunftsweisender Regelungen an.
Der vorliegende Gesetzentwurf auf Drucksache
17/7888 ist abzulehnen.
Mit Urteil vom 12. Mai 2011 hat der Europäische Gerichtshof ({0}) die Anforderungen an Klagemöglichkeiten anerkannter Umweltverbände aus der
Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985
über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten
öffentlichen und privaten Projekten in der durch die
Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 26. Mai 2003 geänderten Fassung
konkretisiert. Anerkannten Umweltverbänden ist danach
in Umweltangelegenheiten ein weiter Zugang zu den
Gerichten zu gewähren.
Derzeit ist in § 2 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes,
UmwRG, bestimmt, dass den Umweltverbänden nur
dann ein eigenes Klagerecht zusteht, wenn sie Vorschriften rügen, die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die Entscheidung von Bedeutung
sein können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltverbände nach geltendem deutschen Recht auf drittschützende, und auf Europarecht basierende, Normen beschränkt. Dies ist nach dem genannten EuGH-Urteil
europarechtswidrig. Es bedarf somit einer Anpassung
des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben.
Hieraus ergibt sich Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber. Denn die Grundsätze der EuGHEntscheidung gelten bereits jetzt unmittelbar für alle
laufenden und zukünftigen gerichtlichen Verfahren.
Des Weiteren hat sich das EuGH-Urteil nur zur Rügefähigkeit von umweltbezogenen Vorschriften des EURechts geäußert. In Bezug auf rein nationale Umweltvorschriften besteht daher auch nach dem EuGH-Urteil
Rechtsunsicherheit bezüglich des Umfangs der Rügepflicht.
Die Koalitionsfraktionen haben daher bereits gehandelt und einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den
Weg gebracht. Dieser befindet sich derzeit noch in der
Ressortabstimmung und wird voraussichtlich im Frühjahr nächsten Jahres in den Bundestag eingebracht werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen gibt als
Grund für den Änderungsbedarf auch eine solche Anpassungsnotwendigkeit an die europarechtlichen Vorgaben an. In Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung entfällt daher in § 2 Abs. 1 und Abs. 5 die Beschränkung auf
die Schutznormlehre, indem die Worte „Rechte Einzelner begründen“ gestrichen werden.
Im Weiteren und in seinen Forderungen geht der Gesetzentwurf jedoch deutlich über die mit dem EuGH-Urteil vorgegebenen Anpassungsnotwendigkeiten hinaus.
Diese weitergehenden Forderungen halten wir für unbegründet und lehnen den Gesetzentwurf der Fraktion der
Grünen daher ab.
Denn als liberale Partei wollen wir in Deutschland
Vorhaben verwirklichen und nicht ausbremsen. Schon
jetzt dauern Genehmigungsverfahren in Deutschland zu
lange. Durch die in dem Gesetzentwurf der Grünen geforderten Änderungen würden die Klagemöglichkeiten
deutlich ausgeweitet.
Gestrichen wird - über das Urteil des EuGH hinausgehend -, dass die dem Umweltschutz dienenden Vorschriften „für die Entscheidung von Bedeutung sein
können“. Dieser Vorschlag geht deutlich über den Umsetzungsbedarf, der sich aus der EuGH-Entscheidung
ergibt, hinaus.
Ebenso ohne Veranlassung durch das EuGH-Urteil
wird der bisherige § 4 „Fehler bei der Anwendung von
Verfahrensvorschriften“ geändert, indem der Begriff
„wesentliche Verfahrensvorschriften“ in Satz 1 eingefügt wird und in Satz 2 erläutert wird, welches diese
„wesentlichen Verfahrensvorschriften“ sind. Die dort
genannten Ziffern 1 und 2 sind jedoch mit der geltenden
Fassung identisch.
Außerdem fordert der Gesetzentwurf, ebenfalls über
die europarechtlichen Forderungen hinaus, neben den
anerkannten Verbänden auch die Anerkennung von Stiftungen als Klageberechtigte.
Diese Änderungen bzw. Ergänzungen folgen weder
aus dem EuGH-Urteil, noch sind sie sonst europarechtlich vorgegeben. Sie würden dazu führen, dass die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zunimmt und
außerdem die Kosten für diese weiter steigen. Darüber
hinaus helfen sie auch nicht dem Umweltschutz.
Dadurch würde Deutschland ein erheblicher Wettbewerbsnachteil entstehen. Wir als Liberale wollen, dass
Vorhaben auch weiterhin in Deutschland verwirklicht
werden. Wir wollen Arbeitsplätze in Deutschland halten
und auch neue schaffen. Dazu benötigen wir Vorhabenträger, die auch weiterhin in den Standort Deutschland
investieren. Was wir nicht brauchen, sind Gesetzentwürfe wie die der Grünen, die den Wirtschaftsstandort
Deutschland und damit Arbeitsplätze gefährden.
Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die Herausforderungen beispielsweise der Energiewende wollen wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen,
sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemöglichkeiten haben sich als ausreichend und angemessen
erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGH hinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist nicht erforderlich und führte außerdem zu einer Blockade zahlreicher dringend notwendiger Projekte.
Dabei geht es nicht nur um Vorhaben wie Automobilfabriken, Stahlwerke oder Kohlekraftwerke, sondern
auch um den dringend notwendigen Ausbau der Stromnetze und Speicherkraftwerke. Wenn man wie die Grünen mit Nachdruck den Ausstieg aus der Atomkraft und
die Energiewende gefordert hat, dann muss man jetzt
auch ehrlich zu den Bürgern und konsequent im Handeln sein.
Ein Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, das, wie von den
Grünen gefordert, die Klagemöglichkeiten noch weiter
ausdehnt, blockiert den dringend notwendigen Netzausbau und damit die Energiewende und den Wirtschaftsstandort Deutschland. Man kann nicht auf der einen
Seite sagen, wir wollen keine Atomkraftwerke, und auf
der anderen Seite den Ausbau der Trassen, den wir für
den Anschluss und die Leitung des Stroms aus erneuerbaren Energien brauchen, blockieren.
Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demokratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen
Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben
wie den Netzausbau und den Bau von Speicherkraftwerken auf der anderen Seite zu gewährleisten. Das bestehende Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz leistet hierzu einen
wichtigen Beitrag und ist im Folgenden an die europarechtlichen Vorgaben anzupassen. Der Gesetzentwurf
der Grünen wird diesen Anforderungen jedoch nicht gerecht.
Ich weiß nicht, was Ihnen zuerst einfällt, wenn Sie
beispielsweise an Gorleben, an Stuttgart 21 oder an den
Großflughafen Berlin-Schönefeld denken? Die Reihe
Zu Protokoll gegebene Reden
der Beispiele ließe sich fortführen - mir fallen da als
Erstes die Bürgerproteste ein. Oft handelt es sich dabei
um überregionale Großvorhaben, die sehr viel Geld kosten, meistens die volle Unterstützung der jeweiligen
Landesregierung haben und häufig auch von Bundesinteresse sind. In der Bevölkerung sind sie dagegen oft
umstritten; denn trotz langer Planungsverfahren haben
die Menschen vor Ort dabei nicht wirklich viel zu sagen.
Deshalb gehen Bürgerinnen und Bürger immer öfter auf
die Straße, um gegen so riesige Vorhaben, die ihr Umfeld und ihre Umwelt, also ihr Leben, ihren Alltag verändern werden, zu protestieren. Es sind keine Wutbürgerinnen und Wutbürger, wie sie so gerne etwas abfällig
genannt werden. Nein das sind Menschen, die wissen
wollen: Was, warum, wann und auch wie?
In unserem Land wird viel über die Beteiligung der
Öffentlichkeit gesprochen. In Genehmigungsverfahren
für Vorhaben mit Umweltauswirkungen ist sie sogar gesetzlich vorgeschrieben. Aber so, wie das bisher in
Deutschland abläuft, funktioniert das nicht. Der Öffentlichkeit und den Umweltverbänden werden die bereits
fertigen Planungen vorgelegt. Dann bleiben einige Wochen Zeit, um alles zu begutachten und gegebenenfalls
Kritikpunkte einzubringen. Ein Beispiel ist der Ausbau
des Flughafens Berlin-Schönefeld. Hier wurden den
Bürgerinnen, Bürgern und Umweltverbänden 37 prall
gefüllte Aktenordner mit Planungsunterlagen auf den
Tisch gestellt. Eine Begutachtung in den gesetzten Fristen war daher fast aussichtslos. Bei dieser Art öffentlicher Beteiligung ist der Gang vor Gericht praktisch vorprogrammiert. Klagen durfte aber lange Zeit nur, wer
sich direkt in seinen Persönlichkeitsrechten eingeschränkt sah.
Mehr öffentliche Beteiligung zur Teilhabe und Mitgestaltung der Gesellschaft, das stand in der EU schon
2005 auf der Tagesordnung. Nach europäischem Recht
ist seitdem nicht nur eine umfassende und frühzeitige Information der Öffentlichkeit bei Großvorhaben Pflicht,
sondern es kann auch eine umfassende gerichtliche
Kontrolle der Genehmigungen von Umweltverbänden
eingeklagt werden.
Auch wenn die Bundesregierung immer so tut, als
hätte sie die Beteiligung der Zivilgesellschaft erfunden,
hinkt sie dem EU-Recht hinterher. Umweltverbände dürfen in Deutschland zwar gegen die Verletzung von Vorschriften zum Schutz der Bevölkerung klagen, aber immer noch nicht zum Schutz der Natur selber.
Ein armes Land wie Ecuador dagegen hat den Schutz
der Natur in die Verfassung aufgenommen. Dort ist festgelegt, dass die Bevölkerung in einer „gesunden und
ökologisch ausgeglichenen Umwelt“ leben soll; zudem
wird der Schutz und Erhalt der Umwelt als „öffentliches
Interesse“ anerkannt. Und wir in unserem reichen
Deutschland haben es nicht einmal in sechs Jahren geschafft, die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Der Europäische Gerichtshof hat jetzt den Umweltverbänden recht gegeben. Auch Deutschland muss die
gerichtliche Prüfung der Genehmigung von Großvorhaben auf ihre Naturverträglichkeit zulassen.
Genau das will der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen mit dem ach so sperrigen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen nach der EG-Richtlinie
2003/35EG ({0})“ erreichen.
Das unterstützen wir als die Linke aus vollem Herzen.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden die Klagerechte von Umweltverbänden endlich im notwendigen
Maße gestärkt. Zudem wird mit ihm das „Trianel“Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Mai dieses
Jahres umgesetzt.
Dies haben Sie von der Bundesregierung bisher ja
leider versäumt. Trotz mehrfacher Ankündigungen
haben Sie bis heute keinen Gesetzentwurf zur Umsetzung des Urteils vorgelegt. Da müssen wir als Parlament die Initiative ergreifen, damit endlich auch das
deutsche Umweltrecht europarechtskonform ist.
Jahrelang haben wir Grüne in Deutschland für die
Ausweitung der Klagemöglichkeiten von anerkannten
Umweltverbänden gestritten. Jahrelang hat SchwarzGelb alles unternommen, um im Sinne einzelner Interessengruppen aus der Industrie die Klagemöglichkeiten
von Umweltverbänden einzuschränken. Doch Luft, Wasser, Boden und die Tier- und Pflanzenwelt können sich
nicht selbst gegen gefährliche Eingriffe und Verletzungen zu Wehr setzen. Dafür braucht es einen Anwalt. Das
sind die anerkannten Verbände. Und, meine Damen und
Herren von CDU/CSU und FDP, haben Sie doch nicht
immer solche Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern!
Wagen Sie endlich eine umfassende Bürgerbeteiligung!
Entgegen Ihren ständig geäußerten Befürchtungen,
dies würde nur viele Kosten verursachen, zeigen viele
Analysen, dass die Qualität der Projekte sich durch
umfassende Beteiligung erhöht - ganz zu schweigen von
der Akzeptanz. Das Naturschutzrecht, das ein recht
umfassendes Klagerecht enthält, führt nicht etwa zu ständigem Missbrauch und zur reinen Verzögerung von Projekten. Auch wenn manch einer aus den Reihen der Koalitionsfraktionen dies gerne unterstellt, ergeben - leider
für Sie - alle Untersuchungen dazu etwas anderes.
Vielmehr hat sich die Verbandsklage als ein sehr
wirksames Mittel bewährt, Vollzugsdefizite im Naturschutzrecht abzubauen. Für uns wenig überraschend
sind viele Klagen erfolgreich. Warum? Nun, es scheint
einfach zahlreiche Verstöße gegen das Umweltrecht zu
geben. Ein Grund mehr, umfassende Beteiligungs- und
auch Klagerechte zu fordern! Wir wollen eine echte Kultur der Bürgerbeteiligung, wir wollen eine wirksame
Kontrolle des Umweltschutzrechts, und wir wollen ein
deutsches Umweltrecht, das europa- und völkerrechtskonform ist.
Glücklicherweise ist die EU deutlich progressiver bei
der Bürgerbeteiligung im Umweltrecht, als wir es in
Deutschland sind. Die Aarhus-Konvention hat hier
Maßstäbe gesetzt.
Im Jahr 2006 haben CDU/CSU und SPD es leider
versäumt bei der Änderung des Umwelt-RechtsbehelfZu Protokoll gegebene Reden
gesetzes auch im deutschen Umweltrecht hohe Standards zu setzen. Wir Grüne vermissten schon damals,
dass den Verbänden adäquate Beteiligungsrechte eingeräumt werden. Wir Grüne haben auch schon damals das
Gleiche gefordert wie heute; der Europäische Gerichtshof hat uns recht gegeben. Sie hätten sich viel Ärger
ersparen können, wenn Sie auf uns gehört und eine
umfassende Umsetzung des EU-Rechtes im Sinne der
stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit vorangetrieben
hätten.
Sie wollten sich damals nicht von uns überzeugen lassen, was uns nicht überrascht. Aber wären Sie doch der
Empfehlung des Sachverständigenrats für Umweltfragen, des offiziellen Regierungsberatungsgremiums,
gefolgt! Der schrieb damals an den Umweltausschuss:
Der SRU hält den vorliegenden Gesetzentwurf in einem
entscheidenden Punkt für sachlich unbefriedigend und
europarechtlich fragwürdig, nämlich hinsichtlich der
Beschränkung der Verbandsklage darauf, die Verletzung
individueller Rechte geltend machen zu können.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs bestätigte
nun fünf Jahre später diese Einschätzung des Sachverständigenrates für Umweltfragen vollkommen. Das war
mal wieder ein Beweis für die unschätzbare Kompetenz
des SRU. Dass einige Kolleginnen und Kollegen Probleme haben, den guten fachlichen Rat des SRU anzunehmen, haben insbesondere die Koalitionsfraktionen in
den letzten Tagen wieder in peinlichster Art und Weise
bewiesen.
Aber vergessen wir die Fehler der Vergangenheit!
Lassen Sie uns gemeinsam endlich eine europa- und völkerrechtlich konforme Anpassung des deutschen
Umweltrechts vornehmen! Genau dem dient unser
Gesetzentwurf. Wir hoffen, dass Sie sich einen Ruck
geben und diesen Entwurf konstruktiv mit uns in den
Ausschüssen beraten, damit wir möglichst schnell zu
einer Verabschiedung des Gesetzes kommen. Spätestens
im Mai 2012, zum ersten Jahrestag des „Trianel“Urteils, sollte eine entsprechende Gesetzesänderung in
Kraft getreten sein. Das sind wir den Bürgerinnen und
Bürgern, die sich für die Rechte der Umwelt engagiert
einsetzen, schuldig.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7888 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern
- Drucksache 17/7645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der Einsatz für Menschenrechte ist weltweit erforderlich und muss mit konsequenter Beständigkeit betrieben
werden. Die Einhaltung der Menschenrechte ist ethisches Fundament für die demokratische, wirtschaftliche
und kulturelle Entwicklung eines jeden Landes. Das intensive Bemühen für die Anerkennung und Wahrung der
Menschenrechte ist ein Teil der wertegeleiteten Außenpolitik der CDU/CSU. Die drei Staaten des Südkaukasus, denen wir uns in dieser Debatte zuwenden, sind
selbstverständlich in diese grundlegenden Aussagen
einbezogen.
Die Bundesregierung thematisiert die Menschenrechtslage in bilateralen Gesprächen mit allen drei Südkaukasusstaaten regelmäßig und erinnert an internationale Verpflichtungen. Flankiert werden diese Bemühungen durch die Unterstützung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Schwerpunktprogramm „Demokratie, Kommunalentwicklung und Rechtsstaat“
durch die Rechts- und Justizberatung in den drei Südkaukasusstaaten.
Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgenden staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren haben
Armenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungen
durchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und
wirtschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren.
Kriege und Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen
zählten dazu. Im Mai 2009 gründeten die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit sechs Ländern Osteuropas und des Südkaukasus die „Östliche Partnerschaft“ im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Unter ihnen sind Armenien, Aserbaidschan, und
Georgien.
Mit dem Projekt der Östlichen Partnerschaft wird das
Hauptziel verfolgt, die EU und die Partnerländer unter
dem Dach der europäischen Nachbarschaftspolitik politisch und wirtschaftlich einander anzunähern. Beziehungen sollen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur intensiviert werden. Es geht auch
darum, Kontakte zwischen den Menschen in der EU und
den Partnerländern zu fördern. Das ist für die Länder,
denen keine Beitrittsperspektive in die EU eröffnet wird,
ein wichtiges Projekt. Denn hier entsteht durch Austausch eine Annäherung an europäische Werte. Dabei
spielen die Menschenrechte eine wesentliche Rolle. Der
Anstoß politischer Reformen in diesen Ländern, die
dringend notwendig sind, rangiert weit vor wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Beispiel im Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist der wichtigste Handelspartner
für die drei Südkaukasusstaaten. Das steht dem Engagement der EU im Bereich der Menschenrechte in der Region nicht entgegen, sondern befördert es.
Der Aktionsplan, der im Rahmen der Europäischen
Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschan im Jahr 2006
vereinbart wurde, enthält wichtige Reformforderungen
in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürgerrechte
und demokratische Standards. Dringend notwendig sind
Reformen - das ist besonders hervorzuheben; denn trotz
der nunmehr zehnjährigen Mitgliedschaft der drei Südkaukasusstaaten im Europarat und den damit verbundenen menschenrechtlichen Verpflichtungen, bestehen
große Defizite bei der Umsetzung der Menschenrechte.
So ist Angaben von Menschenrechtsgruppen zufolge von
einer Vielzahl politischer Gefangener in Aserbaidschan
auszugehen. Der Sonderberichterstatter des Europarates für politische Gefangene, der Abgeordnete Christoph
Strässer, erhielt bislang kein Einreisevisum, um prüfen
zu können, inwieweit die Standards der Europäischen
Menschenrechtskonvention eingehalten werden. Internationale Organisationen und Oppositionelle werfen
der Regierung Aserbaidschans Einschränkungen bürgerlicher Grundrechte vor. Presse- und Meinungsfreiheit sind ebenso wie Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und
die Freiheit der Medien sind auch in Armenien stark eingeschränkt. Kritische Journalisten werden in ihrer Arbeit behindert. Eine fehlende Unabhängigkeit der Justiz
ist auch für Armenien zu beanstanden.
In Georgien sind die Demokratieversprechen noch
nicht eingelöst. Deutschland stellte in den vergangenen
sieben Jahren Mittel in Höhe von rund 3 Millionen Euro
für den Aufbau einer rechtsstaatlichen und unabhängigen Justiz zur Verfügung. Die Chancen Georgiens, auf
dem Weg der Reformen im Bereich der Menschenrechte
voranzukommen, erhöhen sich wesentlich durch die europäische Politik der „Östlichen Partnerschaft“ und die
im Sommer 2010 aufgenommenen Verhandlungen über
ein Assoziierungsabkommen. Die Menschenrechte und
die Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern
Deutschland und die Europäische Union bereits vielfältig. Den vorliegenden Antrag lehnen wir ab, da er in bekannter Tradition der Verfasser ein unrealistisches Bild
zeichnet und unterstellt, dass dem nicht so sei.
Die Europäische Union bezieht die Länder des Südkaukasus - Armenien, Georgien und Aserbaidschan seit 2004 in ihre Nachbarschaftspolitik ein. Bei allen
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen
Europas gilt es vor allem, die Lage der Menschen in dieser Region in den Fokus zu nehmen. Die Forderung
nach einer Förderung von Menschenrechten und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus ist daher ausdrücklich zu begrüßen.
Alle drei Staaten haben - jeweils spezifisch - nach ihrer Unabhängigkeit eine Reihe innenpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen und Konflikte
durchlaufen, ja sogar Kriege erlebt. Eine vollständige
Stabilität ist noch nicht erreicht, und wir tun gut daran,
diese Länder im Rahmen der Nachbarschaftspolitik weiter auf ihrem Weg zu begleiten, auch weil die Folgen der
Kriege, in erster Linie die Menschenrechtsverletzungen
durch Flucht und Vertreibung, noch aufgearbeitet und
die Verantwortlichen teilweise noch zur Rechenschaft
gezogen werden müssen.
Dabei sind die weitere Entwicklung der Demokratie
in allen drei Ländern sowie die Förderung der Zivilgesellschaft mit ihren spezifischen Institutionen sowie die
Einhaltung der Menschenrechte die Richtschnur unserer
Kooperation.
Ich begrüße, dass Sie sich mit Ihrem Antrag für die inhaftierten kritischen Journalisten, die Kriegsdienstverweigerer und für Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen einsetzen. Und ich stimme Ihnen zu, wenn Sie
mit Ihrem Antrag fordern, dass den WSK-Rechten der
gleiche Stellenwert eingeräumt wird wie den bürgerlichen und den politischen Rechten. Menschenrechte, das
wird immer wieder deutlich, können nur in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden. Sie sind immer unteilbar
und aufeinander bezogen.
Diese Interdependenz hat die SPD in allen ihren Anträgen, sei es zu Wasser- und Sanitärversorgung, sei es
zu den WSK-Rechten, sei es zu den Guiding Principles
oder den OECD-Leitsätzen, immer wieder beschrieben.
Es ist daher selbstverständlich, dass die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Menschenrechte genauso
gefördert werden müssen wie die bürgerlichen und die
politischen.
Konkret auf die Länder des Südkaukasus bezogen bedeutet das, dass Armut und Korruption genauso bekämpft werden müssen, wie Meinungs- und Pressefreiheit garantiert sein muss, dass freier Zugang zu Bildung
und beruflicher Entwicklung Männern wie Frauen gleichermaßen offenstehen muss, ebenso wie gesellschaftliche Partizipation. Und damit eng verbunden: Es muss
ein Diskriminierungsverbot und ein Verbot für Kinderarbeit ohne Einschränkungen gelten. Gesundheitsfürsorge und soziale Absicherung sind auszubauen, damit
die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
gestützt wird.
Aber die Entscheidungshoheit über den Weg dorthin
sollte dem jeweiligen Land obliegen. Marktwirtschaftliche Prinzipien und die Durchsetzung von Menschenrechten müssen dabei kein Widerspruch sein. Soziale
Marktwirtschaft mit funktionierenden Arbeitnehmerrechten und starken Gewerkschaften kann im Gegenteil
sogar helfen, die Durchsetzung von Menschenrechten zu
befördern. Eine funktionierende Wirtschaft wird bei vernünftigen Löhnen und umfassender Beschäftigung ein
Land zu Wohlstand zu führen. Staatseinnahmen - wenn
sie zum Wohle der Bevölkerung eingesetzt werden - steigern in der Regel auch die Lebensqualität. Von guter
Ausbildung und Gesundheitsvorsorge wiederum profitiert erneut auch die Wirtschaft. Hier bedingen sich der
Erfolg der Wirtschaft und erfolgreiche gesellschaftliche
Entwicklung gegenseitig.
Diese Gegenseitigkeit darf nicht zulasten der Arbeitnehmer und der Familien gehen, aber wirtschaftliche
Prosperität widerspricht eben auch nicht per se einer in
menschenrechtlicher und demokratischer Hinsicht guten
Entwicklung. Demokratie und Menschenrechte sind
Zu Protokoll gegebene Reden
eben auch untrennbar mit dem Begriff der Freiheit verbunden.
Wir lehnen es ab, Festlegungen auf eine bestimmte
Form der Gesellschaft oder Wirtschaft zu betreiben. Unser Maßstab ist die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in den Unternehmen und
Staaten.
Lassen Sie uns vielmehr die Länder des Südkaukasus
begleiten und die Gesellschaften der jeweiligen Länder
auf ihrem spezifischen, eigenen Weg zu Demokratie und
Menschenrechten unterstützen. Unser Fokus muss dabei
auf den Menschen und der Zivilgesellschaft liegen; ihre
Interessen und ihre Rechte gilt es im Rahmen der Nachbarschaftsbeziehungen zu befördern - oder falls notwendig: einzufordern.
Am 26. Mai 2012 findet in Baku das Finale des Eurovision Song Contest statt. Das ist ein Anlass, bei dem
sich Besucher, Reporter und die Öffentlichkeit sicher tiefer mit dem Land auseinandersetzen werden. Die parlamentarische Versammlung des Europarates, bei der ich
mit großem Herzblut dabei bin, hat in der Junisitzung einen wichtigen Bericht von meinem sehr geschätzten Kollegen Dick Marty angenommen. Er hat dabei den Bericht, Dok. 12634, vorgestellt mit dem Titel „The
progress of the Assembly’s monitoring procedure“ und
dabei eine Reihe von Staaten untersucht, nämlich zehn
Staaten, die dem Monitoring unterliegen und vier, die
dem sogenannten Postmonitoring unterliegen.
Dabei stellt sein Memorandum unter Punkt 22 fest,
dass bei den Wahlen in Aserbaidschan im November
2010 eine Reihe von Unzulänglichkeiten aufgetreten ist,
nicht nur am Wahltag selbst. Die notwendigen Voraussetzungen für kompetitive Wahlen waren nicht gegeben.
Es gab unter anderem keine ausbalancierte Medienberichterstattung und eine Reihe von Hürden bei der
Registrierung von Parteien oder bei der Ermöglichung
eines freien Wahlkampfs. Überdies führt der Bericht aus,
dass es bei den fundamentalen Menschenrechten, insbesondere bei der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit „outstanding concerns“, also sehr
große Besorgnis, gibt. Dies wird auch von Amnesty
International bestätigt: Journalisten und zivilgesellschaftliche Aktivisten werden Schikanen ausgesetzt.
Nicht nur die Versammlungsfreiheit wird von den aserbaidschanischen Behörden massiv eingeschränkt.
Die konstante Zunahme von Repressionen gegenüber
Andersdenkenden - im Inland wie im Ausland - ist
besonders auffällig. Ausweislich des Berichts von Amnesty International „The Spring That Never Blossomed Freedoms suppressed in Azerbaijan“ wurde die Meinungsfreiheit seit 2009 noch weiter eingeschränkt. Wirtschaftlicher Wohlstand und relative Stabilität täuschen
nicht darüber hinweg, dass die Regierung in Baku die
Zügel weiter anzieht. Zunehmend richtet sich die Verfolgung auch gegen Meinungsäußerungen im Internet, so
der Bericht von Amnesty. Blogger, die zu Protesten aufrufen, werden verhaftet und Internetnutzer insgesamt
gezielt diskreditiert. So hat das staatliche Fernsehen
mehrfach Facebook-Nutzer als geisteskrank dargestellt.
Neben diesen besorgniserregenden Entwicklungen
muss ich hier noch einen mehr als unschönen Sachverhalt ansprechen, der die Parlamentarische Versammlung des Europarates betrifft. Aserbaidschan ist 2001
dem Europarat beigetreten. Mit diesem Schritt ist der
Beitritt zur europäischen Menschenrechtskonvention
verbunden - dazu hat sich Aserbaidschan selbst verpflichtet. Es ist mir daher mehr als unverständlich,
wieso Aserbaidschan den von der Parlamentarischen
Versammlung beauftragten Sonderberichterstatter für
politische Gefangene, Christoph Strässer, der seit März
2009 benannt ist, trotz mehrmaliger Aufforderungen
kein Visum erteilt hat. Die Vorenthaltung eines Visums
für den Berichterstatter Christoph Strässer ist nicht
akzeptabel. Doch damit nicht genug. Aserbaidschan versucht sogar noch, Herrn Strässer persönlich zu diskreditieren. Dieses Vorgehen kann und will ich nicht hinnehmen und akzeptieren. Und das sage ich auch ganz klar:
Egal wer der Berichterstatter für welches Mandat auch
immer wäre oder ist, von welchem Land oder welcher
Fraktion, es gehört zu den elementaren Grundregeln des
Europarates, den benannten Berichterstattern Zugang
zu ermöglichen. Es geht darum, sich vor Ort ein eigenes
Bild für den Europarat und uns alle machen zu können,
inwieweit die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention eingehalten werden. Deswegen war es
richtig, dass der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags am 9. November 2011 eine gemeinsame Erklärung, Ausschussdrucksache 17({0})116, verabschiedet hat. Dies war ein
deutliches und wichtiges Signal an Baku. Aserbaidschan
muss sich vorbehaltlos an seinen Verpflichtungen im Europarat messen lassen. Dass sich die Fraktion Die Linke
hierbei enthalten hat, ist absolut nicht nachvollziehbar.
Wer sich wie die Linke dieser Forderung nicht
anschließt, disqualifiziert sich außen- und menschenrechtspolitisch.
Aber nicht nur die Situation innerhalb Aserbaidschans bereitet mir Sorge. Die Stabilität der gesamten
Region muss verbessert werden. Gerade der Konflikt um
das Gebiet Nagorny-Karabach und das damit verbundene angespannte Verhältnis zu Armenien haben
unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Region im
Südkaukasus. Alle Beteiligten sind unbedingt aufgefordert, an konstruktiven Lösungen zu arbeiten und diese
auch vorbehaltlos anzugehen. Der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen verurteilte 1993 in mehreren Resolutionen die Besetzung der mit Bergkarabach benachbarten Regionen Aserbaidschans und forderte den Rückzug
der Besetzungstruppen. Schon unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe bemühte sich die OSZE in der sogenannten Minsk-Gruppe um Vermittlung. Im Rahmen der
Europäischen Nachbarschaftspolitik, insbesondere der
Östlichen Partnerschaft, werden sich Deutschland wie
seine Partner in der Europäischen Union weiterhin für
eine konstruktive und nachhaltige Lösung des Konflikts
einsetzen. Hierbei müssen sich aber Armenien und Aserbaidschan ihrer übergeordneten Verantwortung für die
gesamte Region bewusst sein.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber auch ein Blick nach Armenien selbst ist notwendig. So kritisierte Amnesty International die Vorgänge
nach der Präsidentschaftswahl 2008. Infolge von Massenprotesten wegen der umstrittenen Präsidentschaftswahl im Februar wurde für 20 Tage der Ausnahmezustand verhängt, woraufhin bürgerliche sowie politische
Rechte für den Rest des Jahres rigoros beschnitten blieben. Die Rechte auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung waren stark eingeschränkt. Nach ihrem
Besuch in Armenien im September 2010 äußerte sich die
UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen
besorgt über Misshandlungen und Prügel gegen Untersuchungsgefangene und Häftlinge. Auch beanstandete
sie, dass Untersuchungsgefangene unter Druck gesetzt
wurden, um ihnen Geständnisse abzupressen. Auch
Armenien gilt also aufgefordert, die Europäische Menschenrechtskonvention voll umzusetzen. Im Bericht von
Dick Marty, den ich zu Beginn erwähnt habe, wird
Armenien zudem aufgefordert, gerade im Hinblick auf
die Wahlen im Mai 2012 eine umfassende Wahlrechtsreform umzusetzen, mit dem Ziel, faire und gleiche
Bedingungen für alle Wahlbewerber herzustellen und
das öffentliche Vertrauen in den Wahlprozess zu erhöhen.
Zum Schluss erlauben Sie mir, dass ich noch kurz auf
Georgien eingehe. Ausführlich werden wir dies im Ausschuss tun. Wir wissen, dass der Aufarbeitung der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die während
des Kriegs zwischen Georgien und Russland im August
2008 und unmittelbar danach begangen wurden, eine
ganz entscheidende Rolle zukommt; denn es gibt eine
Reihe von Nachwirkungen. Die EU hat seit dem georgisch-russischen Krieg eine wichtige Rolle bei der Konfliktlösung, unter anderem durch die EU-Beobachtermission EUMM. Zu den Eckpfeilern der EU-Politik
gehören die territoriale Integrität und Souveränität Georgiens, die Ablehnung des Aufbaus russischer Militärbasen in Abchasien und Südossetien und der Aufruf zur
friedlichen Konfliktlösung unter Nutzung der EU-geführten Genfer Gespräche. Die Probleme des Südkaukasus sind vielfältig. Die bislang ungelösten Regionalkonflikte in der Region bereiten weiterhin Grund zur Sorge.
Sie haben unmittelbaren Einfluss auf die Menschenrechtslage und damit die Lebenssituation der Menschen
vor Ort. Daher ist das abgestimmte Vorgehen der Bundesregierung mit seinen Partnern in EU und OSZE weiterhin fortzusetzen und zu begrüßen.
Die Europäische Union verhandelt gegenwärtig mit
den Staaten des Südkaukasus über den Abschluss von
Assoziierungsabkommen für umfassenden Freihandel.
Die Linke interessiert sich dafür, wie sich die bisherige
Nachbarschaftspolitik der EU auf die Menschenrechtssituation in den Südkaukasusländern ausgewirkt hat. Es
muss geprüft werden, ob die Politik der Bundesregierung und der EU überhaupt der Förderung von Demokratie zugutekommt oder ob damit vor allem eigene Interessen verfolgt werden.
Die EU-Nachbarschaftspolitik im Südkaukasus trägt
in erheblichem Maß dazu bei, dass die Entwicklung von
Menschenrechten und Demokratie stagniert. Im Kern
versucht die EU nichts anderes, als unter dem Deckmantel von „guter Regierungsführung“ ihre neoliberalen
Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Die EU will primär einen ungehinderten Zugang zu den dortigen Märkten, um die Südkaukasusländer mit den eigenen, technologisch höher entwickelten und wettbewerbsfähigeren
Exportprodukten zu überschwemmen. Der Handelsvorteil liegt somit eindeutig aufseiten der EU. Vor allem
Georgien und Armenien bleibt aufgrund fehlender Rohstoffressourcen nichts anderes übrig, als sich auf wenige
preisgünstige Nischenprodukte zu spezialisieren, die sie
exportieren können. In Aserbaidschan liegen die Dinge
anders: Das Land erzielt mit dem Verkauf von Erdöl und
Erdgas hohe Einnahmen und investiert stattdessen in die
Modernisierung seiner Binnenwirtschaft. Da sich die
herrschenden Eliten in Georgien und Armenien den
neoliberalen Marktöffnungsdiktaten bislang nicht widersetzt haben, fällt die Menschenrechtskritik der EU
sehr leise aus. Aserbaidschan wird demgegenüber wegen ständiger Menschenrechtsverletzungen angeprangert, vor allem im Europarat ist dies häufig der Fall.
Wenn die EU von der aserbaidschanischen Regierung
eine verbindliche Zusage für die Nabucco-Pipeline bekäme, würde die Kritik wohl schnell verstummen.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden
Sie ihr doppeltes Spiel in Menschenrechtsfragen! Solange bei uns selbst menschenrechtlich skandalöse Zustände wie Kinder- und Altersarmut, millionenfache prekäre Beschäftigung, Ausgrenzung von Flüchtlingen und
Nazi-Terror gegen Migrantinnen und Migranten herrschen, steht es Deutschland nicht zu, mit erhobenem Zeigefinger andere Länder zurechtzuweisen. Aktuell beabsichtigt die EU mit Unterstützung der Bundesregierung
sogar, mit Armenien und Aserbaidschan Verhandlungen
über Rückübernahmeabkommen aufzunehmen. Das
spricht Bände. Erst wenn die Bundesregierung und die
EU ihre Politik der Doppelstandards aufgeben, sind sie
in Fragen von Menschenrechten und Demokratie gegenüber anderen Ländern überhaupt glaubwürdig. Die
Linke fordert, dass die Bundesregierung in der Menschenrechtspolitik den wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechten die gleiche Bedeutung einräumt wie
den bürgerlichen und politischen Rechten. Menschrechte
sind universale Rechte und unteilbar. Politische und soziale Rechte sind zwei Seiten derselben Menschenrechtsmedaille.
Selbstverständlich ist uns die politische Menschenrechtssituation in den Südkaukasusländern nicht egal.
Es grenzt aber schon an Realitätsverweigerung, dass
nahezu ausschließlich Aserbaidschan mit einer zum Teil
maßlos überzogenen Kritik an den Pranger gestellt
wird. Ich will dies am Bespiel der sogenannten politischen Gefangenen verdeutlichen. Dem Human Rights
Centre in Tbilisi zufolge gibt es in Georgien 50 bis
60 Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert
sind. In Armenien sitzen laut Amnesty International derzeit allein 73 Wehrpflichtige, die den Kriegsdienst aus
Gewissensgründen ablehnen, unter erschwerten Bedingungen in Haft. In Aserbaidschan sind derzeit zwischen
8 und 17 Oppositionelle inhaftiert. Diese GrößenunterZu Protokoll gegebene Reden
schiede sind schon beachtlich. Dennoch sagt die Linke:
Jede und jeder Oppositionelle in Haft ist eine bzw. einer
zu viel. Alle haben ein Recht auf faire Gerichtsverfahren
und müssen gegebenenfalls freigelassen werden.
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist in allen drei
Ländern nicht frei von politischer Bevormundung durch
staatliche Stellen. Armenien hat in diesem Bereich in
den letzten Jahren aber Verbesserungen erzielt. Aus diesem Grund möchte ich mit Nachdruck an die armenische
Regierung appellieren, auch das Einreiseverbot gegen
den bekannten Journalisten André Widmer aufzuheben,
der kritisch über die Situation in den armenisch besetzten Gebieten in Aserbaidschan berichtet hat.
Bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechten nimmt Aserbaidschan den Spitzenplatz ein. Bei
der Religionsfreiheit und den Rechten von Minderheiten
kann das Land auf eine lange historische Tradition der
gesellschaftlichen Toleranz zurückblicken, von der auch
manche EU-Staaten lernen könnten. Zudem hat der
Staat mittels einer aktiven Umverteilungspolitik und
massiver staatlicher Infrastrukturinvestitionen die vormals hohe Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit
nachhaltig abgebaut. Die grundsätzliche Entwicklungsrichtung stimmt, auch wenn noch finanzielle Spielräume
für die Steigerung der Masseneinkommen und für stärkeren sozialen Ausgleich bestehen. Die erzielten Erfolge
sollten allerdings gewürdigt werden, dies gehört aus unserer Sicht zu einer ehrlichen Menschenrechtsbilanz
dazu.
In Georgien und Armenien ist die soziale Situation
dagegen sehr angespannt und von dauerhafter Massenarmut geprägt. Den dahinterliegenden Zusammenhang
kennen wir auch aus dem eigenen Land: Durch ungehemmten Marktradikalismus werden Menschen ihrer sozialen Rechte beraubt und materiellen Existenznöten
ausgesetzt. Wenn der Staat hingegen wirtschaftlich interveniert, können soziale Rechte gesichert oder vielfach
erst durchgesetzt werden.
Die Entwicklung von Menschenrechten und Demokratie erfordert ein stabiles gesellschaftliches Umfeld
und geeignete politische Rahmenbedingungen. Ein
großes Hindernis sind hierbei die territorialen und zwischenstaatlichen Konflikte im Südkaukasus. Insbesondere der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach droht in jüngster Zeit wieder
aufzuflammen. Verletzungen des Waffenstillstands an
der sogenannten Kontaktlinie sind eher die Regel als die
Ausnahme. Im Frühjahr 2011 wurde der erst neunjährige Fariz Badalov von einem mutmaßlichen Scharfschützen getötet, und vor wenigen Tagen verloren erneut
zwei junge Soldaten ihr Leben.
Die Linke fordert einen absoluten Gewaltverzicht und
die friedliche Lösung des Konflikts. Der Konflikt muss
auf Basis des Völkerrechts gemäß den Beschlüssen der
UNO und den Vereinbarungen der Minsker Gruppe der
OSZE gelöst werden. Die Linke hat einseitige Sezessionen stets abgelehnt und verteidigt die Prinzipien der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität. Zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der territorialen
Integrität besteht kein zwangsläufiger Widerspruch. Das
Selbstbestimmungsrecht lässt sich auch im Rahmen einer innerstaatlichen Autonomie verwirklichen. Ebenso
können Gebietsaustausche im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführt werden. Dies bedeutet konkret, dass
Armenien die Besetzung von Staatsgebieten Aserbaidschans beenden muss. Die Flüchtlinge und Binnenvertriebenen auf beiden Seiten haben ein Recht darauf, in
ihre früheren Wohnorte zurückzukehren.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, in der
Minsker Gruppe der OSZE aktiv mitzuarbeiten und sich
stärker für die friedliche Konfliktbeilegung zu engagieren. Dies wäre für die Situation der Menschen und die
Demokratieentwicklung in den Südkaukasusländern
weitaus wichtiger als neue Freihandelsabkommen, von
denen nur europäische Großkonzerne und die politischen Eliten profitieren.
Europa und besonders auch Deutschland widmen der
Region Südkaukasus zu wenig Aufmerksamkeit. Der
Kaukasus wird im Allgemeinen nur als Transitstrecke
für Pipelines wahrgenommen. Oder er gerät in die
Schlagzeilen, wenn es richtig kracht, wie bei der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Georgien und
Russland im August 2008. Deshalb freue ich mich, dass
die Linken einen Antrag zu den Menschenrechten im
Südkaukasus vorgelegt haben. Auch wir Grünen beschäftigen uns intensiv mit den Staaten im Südkaukasus.
Ich selbst bereiste in den letzten beiden Jahren alle drei
Länder und führte ausführliche Gespräche sowohl mit
offiziellen Vertreterinnen und Vertretern als auch mit
Nichtregierungsorganisationen.
Zunächst zur Außenpolitik. Bereits im Mai 2009 haben die Mitgliedstaaten der EU im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, ENP, das an die regionalen Bedingungen angepasste Programm der Östlichen
Partnerschaft, ÖP, aufgelegt. Das übergeordnete Ziel
dieser Partnerschaft lautet, durch die Förderung von
Marktwirtschaft und Demokratie die östlichen Nachbarstaaten der EU nachhaltig zu stabilisieren. Mithilfe der
jetzt aufgelegten Neuausrichtung sollen mittels einer
stärkeren Konditionalisierung von EU-Hilfen demokratische Reformprozesse gestärkt werden. Bei Nichteinhaltung von Menschenrechts- und Demokratiestandards
sollen EU-Finanzhilfen gekürzt werden und möglicherweise auch Sanktionen greifen. Das heißt umgekehrt,
dass die Umsetzung der Reformschritte durch die Partnerländer durch eine zielgerichtete Erhöhung der EUUnterstützung belohnt wird.
„Die Menschen in den Partnerstaaten müssen direkt
vom politischen Wandel in ihrem Land profitieren“, so
antwortete die Bundesregierung in unserer Kleinen Anfrage zur Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Wir fordern daher die Stärkung der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.
Ich beginne mit Georgien. Ich stimme den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion in einem Punkt zu:
Die Menschenrechtslage in Georgien hat sich in den
letzten Jahren leider verschlechtert. Wir bewerten die
Zu Protokoll gegebene Reden
autoritären Tendenzen des Saakaschwili-Regimes sehr
kritisch. Die Bereitschaft des Präsidenten Saakaschwili,
für seinen Machterhalt auf repressive Mittel zurückzugreifen, erregt große Besorgnis. Die Schere zwischen
Arm und Reich ist größer geworden. Die Regierung ignoriert die sozialen Fragen weitgehend. Anzuerkennen
sind die Erfolge, die Saakaschwili in der Korruptionsbekämpfung erzielt hat. So liegt Georgien jetzt auf
Platz 68, nachdem es 2005 noch auf Platz 130 von
178 bewerteten Ländern lag. Aber dieser Erfolg kann
nicht davon ablenken, dass soziale Mindeststandards
und Umverteilungsinstrumente fehlen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 17 Prozent, und etwa 30 Prozent der
Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich gegenüber der georgischen Regierung für mehr Vielfalt in der politischen
Landschaft und vor allem auch für die Freilassung aller
politischen Gefangenen einzusetzen.
Die Lage der Binnenflüchtlinge ist noch immer unbefriedigend. 60 Millionen Euro erhält Georgien im Zeitraum 2011 bis 2013 aus dem Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument der EU. Diese Mittel sollen nach
Auskunft der Bundesregierung unter anderem für die
Verbesserung der Lebensbedingungen der Binnenvertriebenen aufgewendet werden.
Armenien, das kleinste der drei südkaukasischen
Staaten, kämpft nicht erst seit der Wirtschaftskrise 2008
ums wirtschaftliche Überleben. Die Industrie ist unterentwickelt, investiert wurde vor allem im Bausektor, die
Abhängigkeit von Überweisungen aus der Diaspora ist
immens. Ebenso verhindern Nepotismus, Korruption
- Armenien nimmt nach Transparency International im
Jahr 2010 Platz 134 von 178 ein - und ein ineffizientes
Steuersystem eine positive Wirtschaftsentwicklung. Der
Ombudsmann für Menschenrechte beklagt eklatante
Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Misshandlungen auf Polizeiwachen, in Gefängnissen und der Psychiatrie. Seine Berichte führen leider kaum zu Veränderungen.
Aserbaidschan ist das größte und bevölkerungsreichste Land des Südkaukasus. Die aserbaidschanische
Wirtschaft hängt an der Erdöl- und Erdgasindustrie.
Das ist der Grund für eine beeindruckende Wirtschaftsentwicklung und positive Außenwirtschaftsdaten. Die
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion loben
Aserbaidschan, weil die Regierung viel Geld in Sozialprogramme pumpt. Es ist sicher richtig, dass die Armut
in Aserbaidschan aufgrund der Einnahmen aus Öl und
Gas geringer ist als in Georgien oder Armenien, aber
sehr viel Geld fließt in die Aufrüstung, alleine 2010 sind
es knapp 1,5 Millionen US-Dollar. Präsident Ilham
Alijew regiert autokratisch. Die starke Einschränkung
von Medien- und Versammlungsfreiheit in Aserbaidschan beeinträchtigt die demokratische Chancengleichheit. Die seit langem verzögerte Umsetzung von
eigens unterschriebenen Vorgaben des Europarates, insbesondere hinsichtlich der Medienfreiheit, muss scharf
kritisiert werden. Eine ganze Reihe führender Mitglieder
von Oppositionsparteien sowie weitere Aktivisten sitzen
in Untersuchungshaft. Blogger werden bedroht und verfolgt.
Daher schließe ich mich den Forderungen des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe des
Deutschen Bundestages an und setze mich innerhalb der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates dafür
ein, gegenüber Aserbaidschan darauf hinzuwirken, sich
an die selbst auferlegten Standards als Mitglied des
Europarates zu halten und umfassende Maßnahmen zur
Einhaltung der Europäischen Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten einzuleiten.
Ein wichtiger Schritt wäre in diesem Zusammenhang vor
allem, Christoph Strässer, dem Beauftragten für Politische Gefangene im Europarat, endlich - nach über zwei
Jahren Wartezeit - ein Visum für seine Fact-finding-Mission in Aserbaidschan zu erteilen.
„Die Menschen in den Partnerstaaten im Südkaukasus müssen von den Reformen profitieren.“ Lassen Sie
uns gemeinsam daran arbeiten, unter dem Dach einer
neu ausgerichteten Europäischen Nachbarschaftspolitik
den Menschen vor Ort eine Perspektive zu geben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7645 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Josef Philip Winkler, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Qualität der Integrationskurse verbessern
- Drucksachen 17/7639, 17/8179 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({2})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Sprache ist ein Schlüssel zur erfolgreichen Integration. Deshalb wurde mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes ein Mindestrahmen staatlicher Integrationsangebote geschaffen, dessen Kern der
Integrationskurs ist. Inzwischen haben seit dem Jahr
2005 mehr als 700 000 Zuwanderer an den Kursen teilgenommen. Die hohe Nachfrage der vergangenen Jahre
zeigt: Das Modell der Integrationskurse ist eine Erfolgsgeschichte. Das sollten wir uns nicht zerreden lassen,
wie es die Damen und Herren Kollegen von den Grünen
in dem Antrag, der diesem Tagesordnungspunkt
zugrunde liegt, erneut versuchen.
Die Behauptung, die Teilnehmerzahlen seien infolge
von Sparmaßnahmen gesunken, ist falsch. Die Zahl der
Teilnehmer ist zwar in der Tat leicht rückgängig. Das ist
aber auf gesunkene Neuzuwandererzahlen zurückzuführen. Zudem ist die Zahl der bereits länger in Deutschland lebenden Migranten mit eigenem Teilnahmeinteresse gesunken, da die Kurse bereits seit einigen Jahren
laufen. Darüber hinaus wird das Angebot an Kursen
inzwischen bedarfsgerechter ausgebaut, erkennbar zum
Beispiel an den Frauen- und Elternintegrationskursen.
Lassen Sie mich festhalten: Jeder Teilnahmeberechtigte
kann heute damit rechnen, innerhalb von circa vier Wochen nach Antragstellung seinen Kurs zu beginnen.
Lassen Sie mich nun auf die einzelnen vermeintlichen
Missstände, die im Antrag aufgeführt werden, eingehen:
Bei den Integrationskursen der Bundesregierung wird
nicht gespart - und das trotz der angespannten Haushaltslage. Im Gegenteil: Die Mittel für die Kurse werden
im kommenden Jahr sogar noch einmal erhöht, und
zwar um weitere 6 Millionen Euro auf insgesamt
224 Millionen Euro.
Auch die Mindestvergütung der Lehrkräfte wird zu
Unrecht angegriffen. Zwar lässt sich nach Aussage des
BAMF kein Zusammenhang zwischen der Entlohnung
und der Qualität der Kurse feststellen. Ich halte dennoch
eine angemessene Entlohnung der Kursleiter für wichtig
und selbstverständlich. Hier ist aber die Bundesregierung der falsche Ansprechpartner: Für die Bezahlung
der Lehrkräfte sind allein die zugelassenen Kursträger
verantwortlich. Derzeit gibt es über 1 400 Integrationskursträger. Deshalb fällt die Bezahlung der Kursleiter
entsprechend unterschiedlich aus. Der überwiegende
Teil der Kursträger wirtschaftet effizient und verantwortungsvoll mit den Geldern, die zur Durchführung der
Integrationskurse zur Verfügung stehen, und bezahlt
seine Lehrkräfte adäquat. Kursträger, die ihren Lehrkräften Dumpinglöhne von unter 18 Euro pro Unterrichtsstunde bezahlen, erhalten vom BAMF nur noch
Zulassungen für ein Jahr. Dies waren im Jahr 2010 aber
nur 40 Träger.
Ein weiterer Kritikpunkt ist auch, dass die bisherigen
Erhöhungen des Budgets für Integrationskurse innerhalb der Träger verbleiben und nicht weitergegeben
werden. Hier musste das BAMF in der Tat in der Vergangenheit leider wiederholt feststellen, dass Erhöhungen
nicht von allen Kursträgern an ihre Lehrkräfte weitergegeben worden sind.
Unabhängig davon ist das Abhalten von Integrationskursen auch nicht als Hauptberuf bzw. einziger Job der
Lehrkräfte angedacht gewesen. Dies zeigen auch die
Daten zu den Kursleitern: Lediglich circa ein Drittel
sind in diesem Gebiet hauptberuflich tätig. Ein weiteres
Drittel sieht in dieser Tätigkeit einen Nebenverdienst;
für das letzte Drittel stellt diese Tätigkeit lediglich eine
Übergangsbeschäftigung dar. Es erscheint somit nicht
unbillig, die Kursleiter analog zu anderen Volkshochschul-Kursleitern zu betrachten, die ebenfalls nicht einzig und allein von ihren Kurshonoraren leben.
Hier spielt aber noch ein anderer Punkt mit hinein:
Wir müssen zwischen Integrationskursen in Städten und
im ländlichen Raum unterscheiden. Tatsächlich leben
mehr als 50 Prozent der Migranten bei uns im ländlichen Raum. Dort unterliegt die Durchführung von
Integrationskursen besonderen Herausforderungen:
Oftmals sind die Herkunftsländer so divers, dass nur
schwer gemeinsame Gruppen zustande kommen. Auch
ist der Einzugsbereich für die Kursteilnehmer größer,
was zu längeren Anfahrtswegen führt. Oft scheitert das
Zustandekommen eines Integrationskurses aber auch an
mangelnder Kooperation zwischen den Kursträgern,
etwa wenn die Mindestteilnehmerzahl nicht erreicht ist.
Unter diesen Bedingungen müssen die Integrationskurse
aber von den Trägern auch noch wirtschaftlich angeboten werden. Daran zeigt sich erneut, dass sich die Forderung nach einer erheblich steigenden Mindestvergütung der Kursleiter nur mit enormem finanziellem
Aufwand erfüllen ließe.
Allerdings wird auch in Zukunft ein bundesweites,
flächendeckendes Angebot an Integrationskursen aufgrund sinkender Nachfrage oder des demografischen
Wandels nicht im vollen Umfang aufrechtzuerhalten
sein. Hier verspielt der vorliegende Antrag die Chance,
auf andere Lehrmethoden, wie zum Beispiel den Einsatz
von E-Learning und digitale Medien, einzugehen.
Was den Besuch von Teilzeit-Integrationskursen angeht, liegt der Antrag erneut falsch: Teilzeitkurse mit
mindestens 15 Wochenstunden können nämlich ohne
Einschränkungen durchgeführt werden. Lediglich bei
einer Unterschreitung dieser Mindestwochenstundenzahlen ist eine Genehmigung durch das Bundesamt
erforderlich. Im Jahr 2011 wurden dennoch bisher über
150 solcher Kurse genehmigt, bei denen den Teilnehmern aus persönlichen Gründen ({0}) die Teilnahme
an einem Kurs mit höherer Wochenstundenzahl nicht
möglich war.
Lassen Sie mich zuletzt noch auf die Kinderbetreuung
eingehen: Die integrationskursbegleitende Kinderbetreuung ist derzeit zwar nur für Spätaussiedler ausdrücklich geregelt. Da es aber der Regierung wie dem
BAMF ein besonderes wichtiges Anliegen ist, den
Eltern, vor allem den Müttern, bei Bedarf durch eine
Kinderbetreuung die Kursteilnahme zu ermöglichen, hat
das Bundesamt ein entsprechendes Angebot mit Eltern-,
Frauen- und Alphabetisierungskursen eingerichtet. Seit
April 2010 finanziert das Bundesamt Betreuungsmaßnahmen, soweit in einer Maßnahme mindestens drei
berechtigte Kinder, das heißt Kinder von Spätaussiedlern oder von Teilnehmern an Eltern-, Frauen- und
Alphabetisierungskursen vorhanden sind. Es ist vorgesehen, eine entsprechende Regelung in die Neufassung
der Integrationskursverordnung explizit aufzunehmen.
Aber eine über dieses Angebot hinausgehende Kinderbetreuung wird es in näherer Zukunft nicht geben, da
dies dem Beschluss des Haushaltsausschusses widerspräche und auch wegen der generellen Zuständigkeit
der Länder und Kommunen nicht vorgesehen ist.
Ich möchte ausdrücklich feststellen: Es ist falsch, wie
die Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen,
hier von den Grünen allein auf die von der BundesregieZu Protokoll gegebene Reden
rung angebotenen Integrationskurse reduziert werden.
Es dürfte doch auch Ihnen nicht verborgen geblieben
sein, auf welch vielfältigen Wegen Migranten heute die
Sprache ihres Ankunftslands erlernen. Für die einen ist
das Selbststudium, sei es auf der Grundlage gedruckter
Arbeitsmaterialien, sei es durch Nutzung von Onlinekursen oder E-Learning, der beste Weg. Andere lernen
eher „by doing“, durch intensive kontinuierliche Gespräche in der Familie, im engeren Wohnbereich, in Vereinen oder am Arbeitsplatz. Wieder andere gehen in die
heute so zahlreichen Sprachschulen. Wir orientieren
unsere Politik nicht am Stereotyp des Migranten, der
permanenter, allseitiger staatlicher Förderung und Lenkung bedarf. Eine solche Sicht ist beleidigend für die
große Mehrzahl der Migranten, die nach Deutschland
kommen und mitgestalten sowie aus eigener Motivation
und Kraft vorwärtskommen wollen. Diesen ist mit Respekt und Anerkennung zu begegnen, nicht aber mit
einem Gestus der Betreuungsbedürftigkeit.
Unsere Gesellschaft befindet sich im permanenten
Wandel. Die Migration und Integration von Migranten
sind zentrale Teile dieses Wandels; mit der Migration
werden sich auch kontinuierlich die Anforderungen an
unsere Integrationskurse ändern. Wir müssen natürlich
deren Ergebnisse weiterhin kritisch verfolgen, erkennbar gewordene Schwächen beheben, die Leistungsfähigkeit der Kurse verbessern. Das ist unbestritten. Bei diesem Bemühen um weitere Effizienz sollten wir - auch die
Grünen - aber die Balance halten zwischen der Kritik
des Istzustandes und dem Niveau, das wir schon erreicht
haben. Wir fördern den Spracherwerb von Migranten inzwischen Jahr für Jahr mit über 200 Millionen Euro.
Nirgendwo in der Welt wird auf diesem Feld so viel geleistet. Die mit den Sprachkursen erreichten Erfolge
sind schon jetzt unübersehbar.
Aber klar ist auch, dass wir mit diesen Integrationskursen nur einen Teil der Integrationsproblematik lösen
können. Richten wir deshalb, statt die Erfolge auf dem
Gebiet der Sprachkurse kleinzureden, den Fokus lieber
auf das weitaus wichtigere ergänzende Feld der Integrationspolitik, auf das Bildungs- und Ausbildungssystem.
Hier wären uns brauchbare Vorschläge, auch der Grünen, viel eher willkommen als auf dem schon recht gut
beackerten Feld der Integrationskurse.
Vorweg: Die SPD-Bundestagsfraktion teilt und unterstützt die Stoßrichtung und die Ziele Ihres Antrags. Dies
haben wir bereits mit unserem Änderungsantrag in den
Haushaltsberatungen zur Durchführung von Integrationskursen deutlich gemacht. Damit bin ich schon bei
einer wichtigen Detailfrage, die unsere Position von Ihrem Antrag unterscheidet: Bei der Mindestvergütung für
freiberufliche Lehrkräfte in Integrationskursen haben
wir eine Erhöhung des Integrationskurshaushaltes um
52 Millionen gefordert, mit dem Ziel eine Lohnuntergrenze von 26 Euro für Freiberufler zu erreichen. Aus
diesem Grunde müssen wir uns zu Ihrem, ansonsten gelungenen Antrag enthalten. Neben dieser trennenden
Detailfrage teilen wir Ihren Ansatz, über die Vergabepolitik des BAMF die Mindestvergütung zielgerichtet zu
steuern. Im Dialog mit Lehrkräften arbeitet unsere
Fraktion derzeit an einem eigenen Antrag, der sich vor
allem der Frage der Vergütung der Lehrkräfte widmet.
2005 hat die rot-grüne Bundesregierung mit dem
Zuwanderungsgesetz erstmals das Instrument der Integrationskurse eingeführt. Aus gutem Grund: Die Beherrschung der deutschen Sprache ist die Grundlage
schlechthin, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, einen Arbeitsplatz zu finden, die Bildungschancen
der Kinder zu unterstützen usw. Die Integrationskurse
waren bisher eine Erfolgsgeschichte. Sie sind ein wichtiges Instrument, ein Angebot des Staates an seine Einwanderinnen und Einwanderer. Umso wichtiger ist ein
qualitativ hochwertiges und teilnehmerorientiertes
Kursangebot.
Leider nimmt die Bundesregierung dieses wichtige
Instrument nicht ernst. Schwarz-Gelb schafft es nicht
über Lippenbekenntnisse hinaus: Anstatt die Hürden zur
Teilnahme so weit wie möglich abzusenken, um so vielen
Interessierten wie möglich einen Kursplatz anbieten zu
können, hat die Bundesregierung aktiv und kontinuierlich neue Zugangshürden eingeführt. Die finanzielle
Ausstattung der Integrationskurse ist ein Dauerthema.
Die Unterfinanzierung hat Auswirkungen auf die Qualität der Kurse, für die Vergütung der Lehrkräfte und für
den Zugang zu einem Kurs. Das Resultat der Zulassungsauflagen zu Einsparzwecken sind sinkende Teilnehmerzahlen, schlechte Abschlussquoten und vermehrt
selbstständige Integrationskurslehrer un Integrationskurslehrerinnen die um ihre Existenz ringen: Die Teilnehmerzahlen sind alleine in dieser Legislaturperiode alarmierend gesunken. Von 2009 bis 2011 sank die Zahl der
Teilnehmer insgesamt von 113 000, Drucksache 17/6924,
auf 89 000. Die Zahl der Teilnahmeberechtigungen ist
nahezu um die Hälfte seit Einführung des Instruments
gesunken, von 215 000 in 2005 auf 115 000 in 2010. Der
Rückgang um 20 Prozent bei den Alphabetisierungskursen von 2009 bis 2011 belegt den massiven Rückgang
eindringlich.
Dieser massive Rückgang ist ein integrationspolitisches Armutszeugnis der schwarz-gelben Bundesregierung und bedeutet für den Einzelfall eine Verweigerung
von Chancen für eine gute Lebensführung. Besonders
bedauerlich ist der starke Rückgang der freiwillig Interessierten, Menschen, die freiwillig an Kursen teilnehmen, sich also zum Großteil schon lange in Deutschland
aufhalten, ohne ausreichend Deutsch zu können. Was
senden wir denn da für ein Signal an diese Menschen?
Ich finde das einen untragbaren Zustand.
Insbesondere zwei Gruppen möchte ich aber hier exemplarisch herausgreifen: Gute Deutschkenntnisse sind
für bleibeberechtigte Personen und subsidiär geschützte
Personen mit einem Aufenthaltsrecht ebenso notwendig
wie für alle anderen. Wir sollten darüber nachdenken,
ihren nachrangigen Anspruch zu einem regulären Anspruch auf einen Kursplatz hin zu ändern. Zum Zweiten
ist die Wiederholungsverweigerung für Personen, die
das Kursniveau A2 nicht erreichen, für mich absolut
nicht nachvollziehbar. Hier gilt es doch anzusetzen und
ein teilnehmergerechtes Angebot zu machen, damit nieZu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
mand zurückgelassen wird. Diese beiden Beispiele zeigen eindrücklich, dass die Bundesregierung nur halbherzig handelt.
Damit komme ich nun zum letzten Punkt, der Kursqualität und der Vergütung der Kurslehrer. Die Lehrkraft in den Integrationskursen ist so etwas wie die Visitenkarte Deutschlands für die Teilnehmer. Wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, setzen uns dafür ein, dass
Lehrkräfte für diese wichtige Arbeit gute Honorare erhalten, damit sie motiviert qualitativ hochwertigen Unterricht anbieten.
Die Bundesregierung hat 2005 sehr richtig daran getan, die quasi kostenlosen und flächendeckenden Integrationskurse einzuführen. Da die Grünen es in ihrem
Antrag versäumen, die weitreichende Bedeutung und die
enorme finanzielle Ausstattung dieser besonderen Kurse
angemessen zu würdigen, möchte ich das an dieser
Stelle kurz nachholen.
Bis heute haben über 700 000 Migranten einen Kurs
besucht. Ursprünglich waren die Integrationskurse des
Bundes als ein Instrument für Neuzuwanderer gedacht.
Aber es kamen insbesondere diejenigen Menschen in die
Kurse, die oft schon jahrzehntelang in Deutschland leben. Die Integrationskurse wurden somit zu einem wichtigen Angebot und Instrument der nachholenden Integration.
Auch die finanzielle Ausstattung und die Rahmenbedingungen für Teilnehmer sind bemerkenswert. Die Teilnehmer zahlen maximal 1 Euro pro Kursstunde. Die
restliche Summe übernimmt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dass ein Staat jährlich über
200 Millionen Euro in Sprachunterricht für Zuwanderer
investiert, ist weltweit einmalig. Daran sollte sich auch
die Opposition dann und wann mal wieder erinnern.
Und entgegen einiger Meldungen wird die christlich-liberale Koalition die Mittel hier nicht kürzen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir werden die Mittel für die Integrationskurse im kommenden Jahr noch einmal um
6 Millionen Euro auf 224 Millionen Euro erhöhen.
Nichtsdestotrotz: Die erfolgreiche Gestaltung der Integrationskurse ist ein Prozess, ein gesellschaftlicher
und politischer. Die Zielgruppen und Anforderungen ändern sich, etwa durch variierende Zuwanderungszahlen,
durch den demografischen Wandel oder durch eine sich
verändernde Bildungsstruktur unter Migranten. Das ist
ein natürlicher Prozess. Und daher gilt es für uns, die
tatsächlichen Baustellen zu identifizieren, zu beheben
und die Kurse qualitativ weiterzuentwickeln. Dabei lade
ich die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
herzlich ein, an der Weiterentwicklung konstruktiv mitzuwirken. Die teils sehr verzerrte bis falsche Darstellung der aktuellen Lage fällt sicher nicht darunter.
So fordern die Grünen in ihrem Antrag etwa einen
Teilnahmeanspruch für subsidiär geschützte Personen
und Bleibeberechtigte. Diese Forderung geht von einer
falschen Prämisse aus. Denn subsidiär geschützte Personen und Bleibeberechtigte haben glücklicherweise bereits nach § 44 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz Zugang zu den
Integrationskursen. Auch die Forderung nach einer besseren Vergütung für Lehrkräfte geht erneut von falschen
Annahmen aus. Erst einmal gilt festzuhalten: Zum einen
gibt es derzeit über 1 400 Integrationskursträger. Die
Bezahlung der Lehrkräfte ist entsprechend divers,
ebenso die Qualität und Zuverlässigkeit der Kursträger.
Zum anderen hat der Bund sich beim Thema Löhne hier
an gewisse rechtliche Grenzen zu halten. Die Vergütungshöhe und die Stundenzahl der Lehrtätigkeit obliegen der individuellen Vertragsgestaltung zwischen der
Lehrkraft und dem Kursträger. Dieser Umstand wird beständig von der Opposition ignoriert. Aber dennoch: Im
Rahmen seiner Möglichkeiten macht der Bund zugunsten der Lehrkräfte von seiner ihm nach § 20 Abs. 5 Satz 2
Integrationskursverordnung eingeräumten Möglichkeit
Gebrauch, die Zulassung mit Auflagen zur Vergütung der
Lehrkräfte zu erteilen. Und so hat die christlich-liberale
Koalition für alle Neu- und Verlängerungszulassungen
für Integrationskursträger am 1. Dezember 2011 die
maßgebliche Mindestvergütung von 15 auf 18 Euro erhöht. Im Hinblick auf die grundgesetzlich geschützte Berufsausübungsfreiheit der Kursträger wäre eine weitergehende Regelung verfassungsrechtlich bedenklich.
Neben diesen teils falschen Darstellungen der Realitäten stoße ich mich auch an der Forderung nach einem
„Handlungskonzept für Alteinwanderer“. Diese Gruppe
sei stark rückläufig, so propagieren es die Grünen. Es ist
zum einen nicht verwunderlich, dass hierzu in dem Grünenantrag keine Zahlen genannt werden, denn die Zahlen sind mitnichten so rückläufig wie dargestellt. Richtig
ist: Die Zahlen gehen leicht zurück. Aber das ist kein
schlechtes Zeichen. Denn seit 2005 haben bereits Hunderttausende Alteinwanderer einen Kurs besucht. Rund
78 Prozent der Alteinwanderer, die seit 2005 eine Teilnahmeberechtigung erhalten haben, haben bereits einen
Kurs begonnen. Circa 80 Prozent der Teilnahmeberechtigten sind SGB-II-Leistungsempfänger. Die Bundesregierung ist hier tätig geworden. Zur Erhöhung der Teilnahmequote auf der Grundlage von Verpflichtungen hat
die Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitshilfe
„Deutschförderung“ an die Grundsicherungsstellen und
Agenturen für Arbeit herausgegeben, die mit dem BAMF
erstellt worden ist.
Der Grund zurückgehender Teilnehmerzahlen ist
schlichtweg und vornehmlich auf einen geringeren Bedarf zurückzuführen. Das sind gute Nachrichten. Zur
Wahrheit gehört natürlich, dass bis dato längst nicht alle
Alteinwanderer erreicht sind. Das ist keine Frage. Aber
nicht alle Einwanderer haben auch einen Bedarf. Es
sieht den Grünen ähnlich, jeden Migranten gleich als
bedürftig und unselbstständig einzustufen.
Auch wenn es außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegen mag: Viele Migranten erlernen die deutsche Sprache auch auf anderen Wegen, durch ein Selbststudium,
etwa durch die kostenlosen Onlinesprachkurse der
Deutschen Welle. Oder sie lernen die Sprache mithilfe
von Freunden und Familienangehörigen oder nehmen
die Angebote der zahlreichen Sprachschulen in
Deutschland wahr. Als Liberale trauen wir Migranten
etwas zu. Das Bild von „dem Migranten“, der grundZu Protokoll gegebene Reden
sätzlich besonderer Förderung und Hilfestellungen in
jeder Lebenslage bedarf, ist falsch und respektlos gegenüber den vielen Menschen mit Migrationshintergrund, die Ehrgeiz, Motivation und Gestaltungswillen
mitbringen, wenn sie nach Deutschland kommen.
Die stetige Überprüfung, Erfolgskontrolle und Verbesserung der Kurse hat für die christlich-liberale Koalition hohe Priorität. Die Koalition arbeitet derzeit intensiv an der Überarbeitung der Integrationskursverordnung. Mittels eines neu gestalteten Trägerzulassungsverfahrens soll künftig für eine erhöhte Qualität
des Systems gesorgt werden. Es wird verschärfte Regelungen zur Verhinderung von Abrechnungsbetrug geben.
Es darf nicht sein, dass die überwiegend gute und engagierte Arbeit der Lehrkräfte und Teilnehmer von wenigen schwarzen Schafen in Misskredit gebracht wird. Das
gilt im Übrigen auch für die Kursträger, die ihren Lehrkräften Dumpinglöhne zahlen. Die Erhöhung der Mindestvergütung von 15 auf 18 Euro hatte ich eingangs erwähnt. Kursträger, die ihren Lehrkräften Dumpinglöhne
zahlen, sollten keine Zulassung mehr erhalten.
Auch für die Sicherstellung der Kurse im ländlichen
Raum wollen wir mehr tun. Denn tatsächlich leben mehr
als 50 Prozent der Migranten im ländlichen Raum. Dort
unterliegt die Durchführung von Integrationskursen besonderen Herausforderungen. Oft scheitert dort das Zustandekommen eines Integrationskurses an mangelnder
Kooperation zwischen Kursträgern, etwa wenn die Mindestteilnehmerzahl nicht erreicht ist. Künftig sollen Träger im Sinne der Teilnehmer zur Kooperation verpflichtet werden können. Auch bei den Einstufungstests wollen
wir neue Verfahren einführen, um die Kurse künftig noch
passgenauer und somit erfolgreicher für die Teilnehmer
zu gestalten. Wir werden die Erfolgsgeschichte der Integrationskurse fortschreiben. Unser Ziel ist, aus Migranten Bürger dieses Landes zu machen, Bürger, die sich
verantwortlich fühlen, partizipieren und Deutschland
mitgestalten. Und genau das wollen die meisten Migranten auch.
Integration gibt es nicht zum Nulltarif.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP
findet sich die Vereinbarung, dass Integrationskurse
„quantitativ und qualitativ aufgewertet“ werden sollen.
Auch im Nationalen Integrationsplan verpflichtete sich
der Bund dazu, das Angebot an Integrationskursen zeitnah und flächendeckend auszubauen. Tatsächlich ist
dies auch dringend notwendig. Doch statt der vollmundigen Beteuerungen und Ankündigungen gab es infolge
der unzureichenden Finanzausstattung des Integrationskurssystems im Jahr 2010 lange Wartelisten bei der
Zulassung zu einem Integrationskurs und zum Teil auch
einen Aufnahmestopp bei Personen ohne einen Rechtsanspruch auf Teilnahme. Seit Januar 2011 ist der Besuch
eines Integrationskurses zwar wieder weitgehend ohne
Wartezeit möglich, doch sind die durch das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge, BAMF, ergriffenen und
von Sprachkursträgern kritisierten Sparmaßnahmen
immer noch wirksam. Dazu zählen insbesondere Einschränkungen bei der Fahrtkostenerstattung und Kinderbetreuung, bei Wiederholungsmöglichkeiten, Alphabetisierungs- und Teilzeitkursen.
Wie bereits 2010 haben sich auch in diesem Jahr die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen im Rahmen der Haushaltsberatungen geweigert, ausreichende
Mittel für das Integrationskurssystem zur Verfügung zu
stellen. Wenig verwunderlich ist es also, wenn die Zahl
der Interessentinnen und Interessenten und der Teilnehmenden infolge dieser Sparmaßnahmen zurückgeht. Im
Vergleich der Jahre 2009 und 2010 gab es einen Rückgang um 23,6 Prozent: Statt 116 052 begannen nur noch
88 629 Personen einen Integrationskurs. Auch die Zahl
der neu begonnenen Sprachkurse ist im zweiten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um über
20 Prozent gesunken. Obwohl diese Angaben von der
Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage - Bundestagsdrucksache 17/6924 - stammen, behauptet sie tatsachenwidrig, es habe keine Einschränkung beim Integrationskursangebot gegeben. Die Linke
fordert: Es muss Schluss sein mit diesem Tricksen, Tarnen und Täuschen in der Integrationsdebatte!
Die Folgen dieser Sparmaßnahmen kritisieren auch
die Grünen in ihrem Antrag. Sie beklagen neben dem
Rückgang der Teilnehmerzahlen bei Integrationskursen
auch die zu geringen Erfolgsquoten bei den Sprachtests
und eine unzureichende Bezahlung der Honorarlehrkräfte. So weit, so gut. Diese Kritik teilt die Linke. Wenn
nun aber die Grünen in ihrem Antrag die Integrationskurse als rot-grüne Errungenschaft darstellen und dabei
alle von Rot-Grün zu verantwortenden eklatanten
Schwächen des Systems rundherum ignorieren, dann
stinkt das Selbstlob gewaltig! Das rot-grüne Integrationskurssystem führte im Jahr 2005 wegen der unzureichenden Trägerpauschale zu sinkenden Honoraren der
Lehrkräfte. Und bereits vor dem Jahr 2005 wurde fachlich kritisiert, dass die unterschiedslos für alle geltenden
600 Stunden zur Erreichung des Sprachniveaus B1 des
Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens völlig
unzureichend waren. Bei aller Kritik am jetzigen Integrationskurssystem: Was Rot-Grün 2005 zu verantworten hatte, war weitaus schlechter! Immerhin gab es mit
der Änderung der Integrationskursverordnung im Jahr
2007 einige Verbesserungen, etwa in Bezug auf die Differenzierung des Kursangebots, die Stundenzahl und die
Einführung einer Wiederholungsmöglichkeit. Das gehört zur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen.
In der Begründung des Antrags finden sich auch
peinliche Fehler in der Sache: So wird behauptet, dass
das von Rot-Grün anvisierte Sprachniveau B1 nicht erreicht würde, weil die gegenwärtige Regierung sich vom
klaren Bewertungsmaßstab des rot-grünen Gesetzgebers
verabschiedet habe. Um das zu kaschieren, gelte angeblich seit 2009 auch ein Abschluss auf dem Sprachniveau A2 als erfolgreicher Kursabschluss. Das ist ausweislich des § 17 Abs. 2 der Integrationskursverordnung
schlicht falsch! Nur ein Abschluss auf dem Niveau B1
wird als erfolgreicher Abschluss gewertet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass in
dem Antrag auch jegliche Kritik daran fehlt, dass
Sprachanforderungen im Aufenthaltsrecht zunehmend
als Droh- und Sanktionsmittel eingesetzt werden - etwa
durch die seit dem 1. Juli 2011 geltende Neuregelung des
§ 8 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz. Danach darf eine längerfristige Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn
zuvor ausreichende Sprachkenntnisse nachgewiesen
wurden. Die Grünen sind auch nicht grundsätzlich gegen Zwangs- und Sanktionsmittel zur Durchsetzung des
Spracherwerbs. Verpflichtende Sprachkurse wurden
schließlich mit dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz
erst eingeführt, und die Grünen halten seitdem im Bereich der Integration an der populistischen Ideologie
des angeblichen Förderns und Forderns fest. Dabei hat
sich diese nur scheinbar ausgewogene Formel längst als
Rechtfertigung einer vor allem repressiven Politik entpuppt.
Keine Spur von Selbstkritik ist auch bezogen auf die
unzureichenden Finanzmittel in Sicht, die seit der Einführung der Integrationskurse unter anderem von der
Aktion Butterbrot und dem DaZ-Netzwerk kritisiert wurden. Diese wandten sich von Anfang an gemeinsam gegen die prekären Arbeitsbedingungen: Private Sprachkursträger steigern ihren Profit am leichtesten durch
eine Reduzierung der Honorare. Diese reichen dann für
ein menschenwürdiges und existenzsicherndes Einkommen häufig nicht aus. Viele Lehrkräfte im Integrationskursbereich sind auf ergänzende Sozialleistungen
angewiesen. Sie erhalten kein Urlaubs- und kein Krankengeld, fürs Alter müssten sie selbst vorsorgen, wofür
aber das Geld fehlt. Notwendig wäre deshalb nach Auffassung von Betroffenen, Gewerkschaften und Verbänden - aber auch der Linken - ein Mindesthonorar in
Höhe von 30 Euro pro Unterrichtseinheit, statt der derzeit gezahlten etwa 18 Euro.
Das von den Grünen angestrebte Stundenhonorar in
Höhe von 24 Euro ist viel zu gering. Selbst ein Honorar
in Höhe von 30 Euro würde lediglich eine Bezahlung
hochqualifizierter Lehrkräfte mit Zusatzausbildung vergleichbar der Eingangsentlohnung im Schulbereich ermöglichen. Die berechtigten Interessen der Lehrkräfte
an einer existenzsichernden und fairen Entlohnung ihrer
Arbeit dürfen auch nicht gegen das Ziel eines erweiterten Zugangs zu Integrationskursen ausgespielt werden,
wie es die Grünen in der Begründung tun. Es kann nicht
sein, dass unter dem Vorwand eines vermeintlichen
Sparzwanges ein Ausgleich zwischen berechtigten Forderungen der Dozentinnen und Dozenten im Integrationskursbereich und der Erweiterung des berechtigten
Teilnehmendenkreises gesucht wird, der den Lehrkräften
weiterhin Dumpinglöhne und Armut trotz arbeitsaufwändiger Lehrtätigkeit aufzwingt. Dass dies offenkundig
für die Grünen ein geringeres Problem zu sein scheint,
wird an einer anderen Stelle deutlich. Denn sie fordern
nicht etwa ein Mindesthonorar, sondern lediglich, dass
Sprachkursträgern, die weniger als 24 Euro pro Stunde
zahlen, keine langjährige Zulassung erteilt werden soll.
Dies entspricht der derzeit geltenden, völlig unzureichenden Praxis. Dieses - und damit auch das grüne Modell lässt es zu, dass Träger sogar Honorare unter
15 Euro pro Stunde zahlen, solange Mindest-Qualitätsanforderungen an den Unterricht erfüllt werden. In neoliberaler Manier wollen die Grünen - wie auch die Bundesregierung - aus vermeintlich vergaberechtlichen
Gründen keinem privatrechtlichen Kursträger eine konkrete Vergütung vorschreiben. Dabei sind nach § 20
Abs. 5 der Integrationskursverordnung Auflagen zur
Vergütung der Lehrkräfte ausdrücklich vorgesehen. Die
Linke ist gegen diese grüne Dumpinglohnpolitik!
Einig werden wir uns mit den Grünen wohl auch nicht
über die neuen Kontrollen der Anwesenheit, die infolge
eines Beitrages des ARD-Magazins „Report Mainz“
vom 25. Juli 2011 eingeführt wurden. Wir fordern deren
unbedingte Rücknahme. In dem Beitrag hat der Kollege
Joseph Winkler von den Grünen sich für schärfere Kontrollen ausgesprochen. Doch das Problem ist nicht der
irrige Weg einer perfekten Kontrolle, sondern eher ein
neues Abrechnungssystem für die Integrationskurse, wie
15 Integrationskursträger zu Recht in einem offenen
Brief an das BAMF Ende November kritisierten. Nach
ihrer Ansicht droht einer Reihe von Kursträgern der bürokratische Tod, da sie seit August verpflichtet sind, zusätzlich zu den üblichen Anwesenheitslisten neue Listen
zu führen, auf denen die Teilnehmenden mit ihrer Unterschrift bezeugen, dass sie pünktlich zum Unterricht gekommen sind und dass sie bis zum Ende geblieben sind.
Kommen sie mehr als 30 Minuten zu spät, so muss das
vermerkt werden. Dies ist ein weiterer Baustein, Integrationskurse zu einem Teil einer Integration per Zwang
und mit Sanktionsandrohungen zu machen. Das Angebot
sollte dagegen quantitativ und qualitativ so ausgestaltet
werden, dass infolge seiner Attraktivität eine Teilnahme
gesichert ist. Dass es den Grünen nicht um weit mehr als
Kontrolle, Überwachung und Sanktionen geht, ist wirklich traurig.
Die Linke schlägt zur Verbesserung des Angebots und
damit der Steigerung der Attraktivität und der damit verbundenen Teilnahme an den Kursen zumindest folgende
Punkte vor: Die Integrationskurse müssen so ausgestaltet werden, dass sie auf das Tempo und die Fähigkeiten
der Teilnehmenden mehr Rücksicht nehmen. Dazu
bedarf es auch einer besseren Eingangseinstufung und
Setzung eines individuellen Ziels, abhängig von den entsprechenden Eingangsvoraussetzungen. Eine unabdingbare Minimalforderung muss die Rücknahme der Kürzungen von 2010 sein, um wieder mehr Teilzeitangebote
machen zu können. Insbesondere Erziehende und Erwerbstätige, aber auch Lernschwache können diese bekanntermaßen besser wahrnehmen. Auch die Gewährleistung der Kinderbetreuung ist ein Muss. Genau dafür
bedarf es aber einer Aufstockung des Etats für die Integrationskurse um mindestens 75 Millionen Euro. Doch
diese finanzielle Forderung der Linken fand im Bundestag zuletzt leider keine Mehrheit; auch nicht bei den
Grünen. Die Linke macht sich Gedanken über ein
grundlegend anders gestaltetes Integrationskurssystem,
das ohne Zwangsmaßnahmen und Drohungen auskommt
und das natürlich auch den engagierten Lehrkräften sichere, am besten sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse anbieten muss. Denn Integration
gibt es nicht zum Nulltarif. Statt Banken und Konzernen
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
immer mehr milliardenschwere Geschenke in Form von
Euro-Rettungspaketen zu machen, sollten sich Bundesregierung und die Grünen für gute Löhne und gute Integrationskurse einsetzen. Das wäre schon mal ein guter
Anfang.
Die Integrationskurse sind ein maßgeblicher Teil der
Integrationspolitik, werden aber ihrem Anspruch nicht
gerecht. Anstatt die Kurse für interessierte Einwanderinnen und Einwanderer attraktiv zu gestalten, unternimmt die Bundesregierung vieles, um einen erfolgreichen Kursabschluss zu verhindern.
Das ist besonders bedenklich, weil der Aufenthaltsstatus maßgeblich von den Deutschkenntnissen der Einwanderinnen und Einwanderer abhängt. Erst im März
diesen Jahres hat die Bundesregierung den Erhalt einer
mehrjährigen Aufenthaltserlaubnis noch erschwert:
Nach dem neuen § 8 Abs. 3 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis nur für jeweils höchstens ein Jahr verlängert werden, bis die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs nachgewiesen ist. Nur wer also den
abschließenden Test besteht, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer längeren Gültigkeitsdauer. Die Bundesregierung unterstellt damit, dass Eingewanderte kein
Interesse am Erlernen der deutschen Sprache hätten,
und versucht sie so als Integrationsverweigerer zu stigmatisieren. Motivierung sieht wahrlich anders aus.
Bei der Durchführung der Integrationskurse erkennen wir drei Hauptprobleme, denen wir mit den in unserem Antrag enthaltenen Vorschlägen entgegenwirken
wollen.
Erstens ist problematisch, dass die Zahl der Teilnehmer an den Integrationskursen seit Jahren ganz erheblich sinkt. So sank die Zahl der Teilnahmeberechtigten
von 215 000 im Jahr 2005 auf 115 000 im Jahr 2010.
Das entspricht einem Rückgang von 46 Prozent. Besonders bedenklich ist der überproportionale Rückgang der
Zahl von Personen, die freiwillig an einem Integrationskurs teilnehmen. So sank die Zahl der freiwillig teilnehmenden Alteinwanderer allein von 2009 auf 2010 um
41 Prozent. Allerdings geht die Bundesregierung im
Hinblick auf den Kreis sogenannter Alteinwanderer, die
Interesse am Besuch eines Integrationskurses haben, immer noch von einem „hohen Potenzial“ aus. Diese
Menschen seien aber - so die Bundesregierung „schwieriger zu adressieren als in den Anfangsjahren“
({0}). Trotz des angenommenen Interesses an den Integrationskursen unternimmt
die Bundesregierung keine Anstrengungen, um die Alteinwanderer für einen Integrationskursbesuch zu gewinnen.
Der zweite unhaltbare Zustand sind die niedrigen Erfolgsquoten bei den Kursabschlüssen. Nur die Hälfte
aller Teilnehmenden erreicht das für eine Aufenthaltsverfestigung erforderliche Sprachniveau B1. Seit 2008
beendet mehr als ein Drittel der Teilnehmenden ihren Integrationskurs sogar ganz ohne Abschluss. Die 2010
eingeführte Beschränkung, dass Personen, die ihren Integrationskurs auf einem Sprachniveau unter A2 abgeschlossen haben, ihren Kurs nicht wiederholen dürfen,
wird diesen Trend noch verschärfen.
Drittens ist Handlungsbedarf bei der Vergütung der
Lehrkräfte dringend geboten. Im Hinblick auf vergleichbare Berufsgruppen werden die meist freiberuflich tätigen Integrationskurslehrkräfte am schlechtesten vergütet. Von 2009 bis 2011 sind ihre durchschnittlichen
Honorare sogar noch gesunken und liegen im Durchschnitt bei 18 Euro pro Stunde. Die Honorare stehen
nicht im Einklang mit der wichtigen Aufgabe, die die
über 17 000 Dozenten und Dozentinnen wahrnehmen.
Die unangemessene Bezahlung ist nicht nur eine Unzumutbarkeit für die Lehrenden, sondern kann auch Auswirkungen auf die Motivation der Lehrkräfte und damit
auch einen ganz erheblichen Einfluss auf die Qualität
der Kurse haben. Auch um die Qualität der Kurse zu
verbessern, muss die Bundesregierung für eine angemessene Bezahlung der Lehrkräfte sorgen.
Zum 1. Dezember 2011 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, den Erstattungsbeitrag pro
Teilnehmer und Unterrichtseinheit um 19 Cent auf
2,54 Euro angehoben und die für eine mehrjährige
Kurszulassung notwendige Mindestvergütung von 15
auf 18 Euro erhöht. Wenn die Information des Bundesministeriums des Innern vom 18. Oktober 2011 an den
Kollegen Danckert richtig war, müsste mit einer Erhöhung um 19 Cent eine Mindestvergütung von über
20 Euro möglich sein. Es ist nicht verständlich, warum
das BAMF die für eine mehrjährige Zulassung notwendige Mindestvergütung dann nicht zumindest auf
20 Euro heraufgesetzt hat. Eine sinnvollere Hebelung
gibt es zurzeit nicht.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
erstens auf, ein Handlungskonzept vorzulegen und adäquate Finanzmittel bereitzustellen, um Alteinwanderinnen und Alteinwanderer vermehrt für den Besuch eines
Integrationskurses zu motivieren.
Um die Kursqualität und Abschlussquoten zu erhöhen, soll die Bundesregierung zweitens die Kursträger
durch finanzielle und organisatorische Unterstützung
dazu befähigen, an den Vorkenntnissen orientierte lernhomogene Gruppen in den einzelnen Kursen zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Möglichkeiten einer
Kurswiederholung verbessert werden, die 2010 eingeführte Beschränkung für den Besuch von Teilzeitkursen
wieder aufgehoben sowie die qualitative integrationskursbegleitende Kinderbetreuung ausgeweitet werden.
Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, die für
eine mehrjährige Zulassung maßgebliche Mindestvergütung für freiberufliche Lehrkräfte auf 24 Euro anzuheben.
Statt Gesetzesverschärfungen brauchen wir den flächendeckenden Ausbau von Kursangeboten, die sich an
den Bedürfnissen von Einwanderinnen und Einwanderern orientieren. Diesem Ziel wollen wir mit unserem
Antrag einen Schritt näher kommen und bitten um Ihre
Unterstützung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8179, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7639 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhaltungsanbau
- Drucksache 17/7845 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Die von der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7845 unterbreiteten Vorschläge zur Rettung einheimischer Rebsorten sind zwar gut gemeint, aber letztlich
nicht praktikabel. Die CDU/CSU kann diesem Antrag
nicht zustimmen.
Es ist nicht zu bestreiten, dass der Antrag ein wichtiges Thema aufgreift. Im Weinbau wie auch in anderen
Kulturen müssen wir uns um den Erhalt unserer Nutzpflanzen kümmern. In der Landwirtschaft konzentriert
sich der Pflanzenbau häufig auf bestimmte Sorten - beispielsweise auf besonders ertragreiche oder gut vermarktungsfähige Sorten. So kommt es, dass einige Sorten in Vergessenheit geraten und vom Aussterben
bedroht sind. Das Bundesamt für Landwirtschaft und
Ernährung, BLE, führt eine rote Liste, in der über
900 Sorten als gefährdet eingestuft werden. Das JuliusKühn-Institut, JKI, schätzt, dass von den 300 Rebsorten,
die in der Vergangenheit im deutschsprachigen Raum
heimisch waren, heute noch 15 bis 20 klassifiziert sind.
Natürlich ist es wichtig, dass sich die pflanzliche Erzeugung in der Landwirtschaft an den Märkten ausrichtet. Dies bedeutet nicht, dass wir bedrohte Nutzpflanzensorten ihrem Schicksal überlassen sollten. Alle Sorten
sind grundsätzlich schützenwert, weil sie ein Kulturgut
darstellen und gleichzeitig auch Teil der biologischen
Vielfalt sind. Darüber hinaus gilt es, genetische Ressourcen zu bewahren, die für die Züchtung neuer Sorten
unerlässlich sind. Züchtungsfortschritte sind auch in Zukunft notwendig, um die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft zu steigern und die wachsende Anzahl von
Menschen auf der Welt ernähren zu können. Außerdem
bedarf es züchterischer Fortschritte, um Pflanzen an
sich ändernde Umweltbedingungen, insbesondere an
den Klimawandel, anzupassen.
Auch im Weinbau ist der Erhalt von Sorten ein wichtiges Ziel. Auf der roten Liste des BLE sind neun Rebsorten als gefährdet aufgeführt. Beim Schutz gefährdeter
Rebsorten ist zu beachten, dass die Weinproduktion
strengen gesetzlichen Regelungen unterworfen ist. Im
Unterschied zum Obst- und Gemüseanbau dürfen im
Weinbau nur gesondert zugelassene Rebsorten gepflanzt
werden. Im Antrag der Fraktion Die Linke wird von der
Bundesregierung gefordert, Erhaltungssorten zu definieren und für eine bundesweite Anbaufreigabe zu sorgen. Dies ist insofern nicht umsetzbar, weil die Zulassung von Rebsorten - und sei es als Erhaltungssorte - in
die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Länder legen
fest, welche Rebsorten in ihren jeweiligen Anbaugebieten zugelassen werden. Dies ist sinnvoll, weil die Länder
bei der Zulassung am besten die Identität und die spezifischen Gegebenheiten ihrer Anbaugebiete berücksichtigen können. Aus meiner Sicht wäre es wünschenswert,
wenn die Länder Flexibilität schaffen, auch im Erwerbsanbau bedrohte Rebsorten kultivieren zu können. Dies
trägt zum Erhalt der Sorten bei und eröffnet dem einen
oder anderen Winzer die Möglichkeit, eine Marktnische
zu besetzen. Der Erhalt bedrohter Sorten sollte nicht allein Aufgabe von Züchtern und Forschungsinstituten
sein.
Eine weitere Forderung im Antrag der Fraktion Die
Linke ist, die Erhaltungszucht weitgehend von Gebühren
beim Bundessortenamt zu befreien. Dem steht entgegen,
dass das Bundessortenamt gehalten ist, möglichst kostendeckend zu arbeiten - dies hat der Bundesrechnungshof bereits angemahnt.
Auch die Forderung, den Erhaltungsanbau über die
allgemeine Strukturförderung im Weinbau zu fördern, ist
nicht nachvollziehbar. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“, GAK, ist es
schon jetzt möglich, Landwirte zu unterstützen, die
durch den Anbau gefährdeter heimischer Nutzpflanzen
zum Erhalt genetischer Ressourcen beitragen. Grundsätzlich kann auch der Anbau bedrohter Rebsorten gefördert werden. Nach der roten Liste des BLE sind die
meisten als gefährdet angesehenen Rebsorten durch die
GAK förderfähig. Voraussetzung ist allerdings, dass dies
die zuständigen Länderbehörden befürworten.
Die Erhaltung genetischer Ressourcen im Rahmen
der GAK-Förderung ist ein wichtiger Baustein der
Agrobiodiversitätsstrategie der Bundesregierung. Ziel
der Strategie ist, die genetischen Ressourcen unserer
Nutzpflanzen für die Landwirtschaft wirksam zu schützen und nachhaltig nutzbar zu machen. Auch der Weinbau profitiert von der Strategie: Rebengenetische Ressourcen werden systematisch erfasst und in der
Deutschen Genbank „Reben“ veröffentlicht. Diese Datenbank, die beim Institut für Rebenzüchtung des JKI in
Siebeldingen eingerichtet wurde, dokumentiert nicht nur
die Sortenviefalt im Weinbau, sie liefert auch für die
Züchtung neuer Rebsorten wertvolle Informationen.
Aufbauend auf der Agrobiodiversitätsstrategie, wurden vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Fachprogramme entwickelt, mit denen Maßnahmen zum dauerhaften Erhalt
unserer Nutzpflanzen koordiniert und maßgebliche Akteure miteinander vernetzt werden. Die Erhaltung unserer Nutzpflanzen kann die Bundesregierung nicht allein
leisten. Bei der lohnenswerten Aufgabe, unsere vielfältigen genetischen Ressourcen an kommende Generationen weiterzugeben, sind Bund und Länder, Wissenschaft,
Züchter und Landwirtschaft gleichermaßen gefordert.
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke
zur Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhaltungsanbau mit der Drucksache 17/7845. Der Antrag widmet
sich zentral der Erhaltung unserer alten Rebsorten und
damit der Basis unserer Weinbaukultur. Das ist zunächst
einmal eine ganz gute und richtige Sache. Wein wurde
zwar schon von den Kelten angebaut und getrunken,
doch den eigentlichen Durchbruch für unsere ältesten
Anbaugebiete gab wohl der römische Kaiser Probus. Er
hat unter anderem der Region Mosel erlaubt, Reben zu
besitzen und Wein zu erzeugen, worauf ich als Rheinland-Pfälzer besonders gerne hinweise. Das war im
dritten Jahrhundert nach Christus, und seither ist eine
Menge geschehen, worauf unsere heutige Weinbaukultur, unsere Kulturlandschaft und unsere Weine basieren.
Über 100 000 Hektar werden in Deutschland mit fast
140 anerkannten Rebsorten bebaut. Das ist schon ein
reicher Fundus. Doch angesichts der weltweit geschätzten fast 10 000 Sorten und der Tatsache, dass über
80 Prozent der deutschen Anbaufläche mit gerade mal
zehn Sorten angebaut werden, wird schnell klar: Wir
müssen etwas tun, um die Vielfalt unseres Kulturgutes zu
schützen. Wir müssen uns auch um die Sorten kümmern,
die unwirtschaftlich sind und deswegen kaum angebaut
werden.
Die größte Anzahl Rebsorten führt ein Nischendasein
in alten Weingärten, Klosteranlagen oder gar unentdeckt in guten Händen von Weinliebhabern. Für den
kommerziellen Anbau spielen solche Sorten keinerlei
Rolle und daher schwindet ihre Anzahl in zunehmendem
Tempo und mit ihr die Genreserve, die wir brauchen, um
zukünftigen Züchtungsanforderungen möglicherweise
gerecht werden zu können. Alte Sorten müssen wir dauerhaft nutzbar erhalten, und dazu brauchen wir einen
Erhaltungsanbau und eine nationale Genbank. Das ist
zwar eine der Kernforderungen des Antrags und ist auch
richtig. Warum können wir diesen Antrag dennoch nicht
unterstützen? Wir haben seit 2010 eine Deutsche Genbank Rebe, die über 2 000 Einträge unter dem Suchbegriff „Vitis vinifera L.“ auflistet, fast 500 davon aus
Deutschland. Ein Netzwerk aus sieben rebenerhaltenden
Einrichtungen kümmert sich darum, dass Reben und
Sorteneigenschaften nicht verloren gehen.
Unverzichtbar sind aber auch der Erhaltungsanbau
auf den Betrieben, der nicht nur die Genreserve erhält,
sondern auch die Anbaueigenschaften und Anpassungsfähigkeiten an sich ändernde Umweltbedingungen.
Diese Aufgabe ist schwierig und zeitaufwendig, und ihr
steht selten ein wirtschaftlicher Nutzen gegenüber. Daher brauchen wir Instrumente, die Anbauhemmnisse abbauen und Mehraufwand ausgleichen, damit auf den Betrieben auch die alten Sorten erhalten werden. Dies ist
richtig, doch auch sie gibt es schon. Ein Blick in die
Richtlinien der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur
und Küstenschutz“, GAK, verrät, dass die Länder
durchaus die Möglichkeit haben, den Erhaltungsanbau
im Rahmen ihrer Länderprogramme zu fördern und Kofinanzierungsmittel zu beanspruchen. In der Praxis wird
diese Möglichkeit mit Ausnahme von Brandenburg jedoch nicht in Anspruch genommen. Auch wenn ich dem
brandenburgischen Weinbau nicht zu nahetreten
möchte, eine Hauptrolle spielt er nicht in den deutschen
Weinlanden.
Es gibt auch schon eine sogenannte rote Liste für gefährdete Arten, auch dort stehen schon mehrere Rebsorten und es können weitere ergänzt werden. Wir müssen
also keine neuen Instrumente schaffen, sondern uns die
Frage stellen: Warum werden bestehende nicht genutzt,
und wie bauen wir die Hemmnisse ab? Das ist die
Marschrichtung, die wir in den kommenden Ausschussberatungen einhalten sollten, denn ich bin sicher, es ist
allen Fraktionen dieses Hauses daran gelegen, hier in
der Sache weiterzukommen und etwas für die Zukunft
des deutschen Weinbaus zu tun.
Wir haben hier einen Antrag vorliegen, dessen Titel
sicherlich ein ehrenwertes Ziel formuliert. Denn auch
ich sehe es als ein wichtiges Anliegen an, historische
Rebsorten zu erhalten. Die Frage ist nur, was dieser
Antrag denn nun tatsächlich fordert. So sehr ich hinter
diesem Ziel stehe, so sehr muss deutlich gemacht werden, dass dieser Antrag seinem Ziel nicht gerecht wird.
Zum Einen: Es wird eine Liste für einheimische
autochthone Rebsorten des deutschsprachigen Kulturraums gefordert. Wir leben heute im Informationszeitalter, und da ist es richtig, dass wir keine Liste haben,
aber eine offizielle Datenbank haben, die Deutsche Genbank Reben. Diese Datenbank verfolgt das Ziel, genetische Ressourcen von Reben langfristig zu sichern und
sie für verschiedene Zwecke wie Forschung, Züchtung
und weinbauliche Zwecke nutzbar zu machen.
Bereits vor einem Jahr, am 9. Juli 2010, hat die damalige Staatssekretärin Julia Klöckner die Deutsche Genbank Reben freigeschaltet. Das dürfte eigentlich auch
den Kollegen der Fraktion Die Linke nicht verborgen
geblieben sein. Wenn man sich diese Gendatenbank
anschaut, die seitens des Julius-Kühn-Institut, JKI, programmiert worden ist, umfasst diese bereits einen
Bestand von 3 900 Rebsorten und Akzessionen. In einem
vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, BMELV, geförderten Projekt
werden auch die rebengenetischen Ressourcen in alten
Weinbergen erfasst und dokumentiert. Aus diesen Gründen ist die Einführung einer Liste völlig obsolet. Zum
anderen wird mit dem Antrag der Eindruck erweckt,
dass es für Züchter bundesweit große Probleme gäbe,
Zu Protokoll gegebene Reden
einheimische Rebsorten zuzulassen. Hier sprechen Sie
mit Ihren Forderungen leider den falschen Adressaten
an. Denn zuständig für die Zulassung in den Anbaugebieten ist das jeweils zuständige Bundesland, in dem die
Reben angebaut werden.
Viele Bundesländer sehen der Zulassung alter Rebsorten mit großem Interesse entgegen. Hier kann das
Bundesland Hessen vorbildlich genannt werden, wie
man es beispielsweise an der Sorte „Roter Riesling“
jetzt auch erst praktiziert hat. Roter Riesling ist die
Urform des Rieslings und hatte zum Beispiel den Vorteil,
dass Anbautests, die sehr kostenintensiv sind, nicht
durchgeführt werden mussten. Ich bin mir also sicher,
dass die heutige Zulassungspraxis auf Länderebene
auch mit etwas weniger Bürokratie stattfinden konnte.
Wie immer bei einem Antrag der Linken soll alles kostenlos sein. Ich frage mich aber, wie wir einen Wegfall
der Gebühren gegenüber den privaten Züchtern rechtfertigen würden, die bisher für ihre Züchtung eine
Gebühr zu zahlen hatten.
Insbesondere muss aber ein weiterer Punkt in den
Fokus gebracht werden: Sie führen in Ihrem Antrag an,
dass Biodiversität von Reben ein grundsätzlich gutes
Ziel wäre und diese auch nicht nur im Versuch, sondern
auch im Erhaltungsanbau durchgeführt werden müsste.
Hier muss man insbesondere darauf achten, dass wir
uns durch ein Mehr an Biodiversität nicht Probleme und
Krankheiten einhandeln. Die Reblaus bei wurzelechten
Reben sollte uns eine Warnung sein. Aus diesem Grund
ist mir die Sicherheit für die Weinwirtschaft deutlich
wichtiger als eine zu lasche Zulassung von jedweden
Reben.
Wenn es eine Rebe ist, die für den Ertragsanbau kommen soll, dann muss sie sich sowieso rechnen. Denn
Rebsorten sind für den Züchter dann interessant, wenn
auch eine Nachfrage seitens des Konsumenten besteht.
Auch hier kann übrigens auch in Nischen mit autochthonen Rebsorten rentabel gewirtschaftet werden. Das zeigen auch die Erfahrungen der alten Rebsorten im
Ertragsweinbau. Die alten autochthonen Rebsorten
Heunisch und Orleans sind ebenfalls in Hessen klassifiziert und werden von einigen Winzern erfolgreich
angebaut. Hier ist die Klassifizierungsverordnung der
Länder verantwortlich dafür, welche Rebsorten als Qualitätswein angebaut werden dürfen. Aus diesen genannten Gründen können wir dem Antrag der Linken nicht
zustimmen.
Der Wein spielt seit Jahrtausenden eine bedeutende
Rolle für unsere mediterrane und europäische Kultur.
Wein ist seit Jahrtausenden in Europa Lebensmittel, Genussmittel, Kultgegenstand und Rauschmittel. Doch um
alte, europäische Rebsorten ist es oft gar nicht gut bestellt. Was aber für die vielen kommerziell kaum genutzten Obstsorten geht, sollte auch bei alten Rebsorten
funktionieren: Europa - die Europäische Union - kennt
Richtlinien zum Erhalt alter, gefährdeter Obstsorten, die
in unseren Regionen die Vielfalt der Landschaften und
Speisekarten bereichern. Für deren Erhaltungsanbau
sind kostengünstige Lösungen gefunden worden. Für die
Rebe jedoch fehlt eine europäische Erhaltungsrichtlinie.
Auch auf nationaler Ebene ist die Rebenzüchtung bisher
vor allem auf Neuzüchtungen fixiert. Alte, autochthone,
also einheimische, Rebsorten fungieren vor allem als
mögliche Pollenspender. Mit drei bis sechs Stock je
Sorte werden sie in Genbanken erhalten, oft in viruskrankem Zustand. Viruskranke Reben sind nicht praxistauglich.
Kennen Sie Sorten wie Adelfränkisch, Süßschwarz,
Heunisch, Grüner Franke oder Roter Veltliner? Von über
10 000 weltweit bekannten Rebsorten sind nur 1 000 zugelassen und für den Anbau freigegeben. Neben den eben
genannten hätten auch weitere mehrere Hundert alte
einheimische Rebsorten in Deutschland und Europa
eine Freigabe verdient. Der Sortenneueintrag, sprich
das Zulassungsverfahren, kostet zurzeit fast 5 000 Euro.
Der Anbau einheimischer Sorten aber muss hierzulande
ohne Gebühren und ohne Auflagen ermöglicht werden.
Denn nur so wird züchterische Arbeit erst wieder attraktiv gemacht. So erst könnten die alten Kultursorten wieder Populationsgrößen erreichen, die ein Aussterben
unwahrscheinlich machen.
Alle halten gerne Sonntagsreden über Biodiversität.
Wenn es denn aber mal konkret wird, dann gilt es als
wunderlich und verschroben, sich für seltene Fledermausarten, lokale Apfelsorten oder eben alte Rebsorten
starkzumachen. Wir halten den Sortenerhalt für geboten,
um somit vielfältige genetische Ressourcen zu bewahren, die darüber hinaus auch als Frucht der menschlichen Arbeit, als kulturelle Güter, schützenswert sind.
Die Linke schlägt daher die Erstellung einer offiziellen Liste alter Rebsorten vor. Der Begriff „Erhaltungssorte“ muss geschaffen werden, und alte Rebsorten müssen als Erhaltungssorten klassifiziert werden. Deren
Anbau muss freigegeben werden. Für Erhaltungszucht
dürfen allenfalls marginale Kosten anfallen, denn Züchter alter einheimischer Sorten verfolgen zumeist kein
kommerzielles Interesse.
Schlussendlich plädiere ich für die Aufnahme des Anbaus von Erhaltungssorten in die allgemeine Strukturförderung des Weinbaus auf Landes-, Bundes- und EUEbene. Wenn Neuanlagen in Steillagen gefördert werden, dann kann man auch die Bepflanzung der Steillagen
mit Erhaltungssorten bezuschussen.
Alte Weinsorten sind kulturelles Erbe ganz Europas.
Eine europäische Erhaltungsrichtlinie für alte Rebsorten wäre ein wichtiger Schritt im Rahmen der Biodiversitätsstrategie 2020 der Europäischen Union. Das
könnte durch Deutschland angestoßen werden. Dafür
will sich die Linke einsetzten, und wir hoffen auf konstruktive Diskussionen hier im Parlament zu unserem
eingebrachten Antrag.
Der anhaltende Verlust an Biodiversität ist nicht nur
bei entfernten Ökosystemen wie den Regenwäldern zu
beklagen, sondern auch in Landwirtschaft und Weinbau
vor unserer Haustür. Vor 130 Jahren konnten deutsche
Zu Protokoll gegebene Reden
Winzer noch aus einem Reichtum von über 400 Rebsorten wählen. Heute werden gerade noch 25 Sorten in nennenswertem Umfang angebaut; viele andere sind bereits
unwiederbringlich verloren gegangen. Verantwortlich
dafür ist auch eine falsche Politik, welche zur - prinzipiell richtigen - Förderung der Übermengenreduktion
auch die Rodung alter Weingärten finanziell belohnt.
Auch an solchen Details wird deutlich, wie dringend
eine ökologische Reform der Agrarpolitik auf EU-, Bundes- und Länderebene angegangen werden muss. Ähnlich wie bei historischen Obst- und Gemüsesorten müssen wir auch unsere Anstrengungen deutlich verstärken,
noch existierende alte Rebsorten vor dem Verschwinden
zu bewahren.
Es geht bei diesem Thema zum einen um die Erhaltung wertvollen Kulturerbes. Zum Zweiten geht es auch
um aktive Zukunftssicherung durch Bewahrung einer
breiten genetischen Basis für künftige Sortenentwicklungen. Denn eine große Vielfalt an Sorten und Wildarten
ist unverzichtbare Grundlage erfolgreicher Züchtung
und Voraussetzung für die Bewältigung von Herausforderungen wie neuen Schädlingsplagen, Krankheiten und
Auswirkungen des Klimawandels, zum Beispiel stärkere
Trockenheit oder steigende Gefahr von Frostschäden.
Zwei Beispiele belegen diese Bedeutung der Agrobiodiversität auch im Weinbau. Die Reblaus hätte den europäischen Weinbau im 19. Jahrhundert zum Erliegen gebracht, wenn es keine resistenten amerikanischen Sorten
als Rebenunterlage gegeben hätte. Heutzutage werden
mit dem Klimawandel und den damit verbundenen steigenden Temperaturen Sorten aus der Warmphase während des Mittelalters wieder interessant, die spät ausreifen. Dazu zählen zum Beispiel die fränkische Sorte
Bouquetrebe und die Sorte Gelber Orleans.
Fachexperten und Privatpersonen haben in den vergangenen Jahren mit großem Engagement diese und
viele andere alte Sorten aufgespürt, identifiziert und dokumentiert. Ein wesentlicher Beitrag dazu wurde durch
das Projekt „Erfassung rebengenetischer Ressourcen in
Deutschland“ geleistet, in dessen Rahmen 242 historische Sorten wiedergefunden wurden. Es ist sachlich
nicht nachvollziehbar, warum die Veröffentlichung des
bereits im Herbst 2010 fertiggestellten umfangreichen
Abschlussberichts dieses Projektes sowie ein ergänzendes 35-seitiges Strategiepapier zu diesem sehr erfolgreichen Vorhaben bis heute vom Auftraggeber, dem
BMELV, und der ihm unterstellten Bundesanstalt für
Landwirtschaft und Ernährung, verweigert wird. Auch
die Datenbank mit den zugehörigen Analysen, Ergebnissen und Schlussfolgerungen ist der Öffentlichkeit nicht
zugänglich, nur ein sehr knapper Kurzbericht liegt bislang vor. Wir sollten uns unseren Schweizer Nachbarn
als Vorbild nehmen, wo Abschlussberichte im Internet
veröffentlicht werden, wenn das Projekt mit Steuergeldern finanziert wurde.
Der große Erfolg des Projekts mit der Entdeckung
bislang als ausgestorben geglaubter Sorten und sowie
die Richtigstellung von 130 Falschbenennungen in deutschen Rebsortenlisten wirft aber auch die Frage auf, ob
die in diesem Bereich tätigen öffentlichen Institutionen
mit den bisherigen Strukturen wirklich effektiv und
nachhaltig die Rettung alter Sorten betreiben. Der Endbericht des Projektes muss auch deswegen veröffentlicht
werden, um Defizite in diesem Bereich analysieren und
beheben zu können.
Züchter und Winzer, die mit historischen Sorten arbeiten wollen, werden durch Bürokratie und hohe Kosten in ihrer Arbeit behindert und abgeschreckt. Die Rettung der Weinbergschätze vergangener Jahrhunderte
wird dadurch gefährdet oder sogar verunmöglicht. Viele
historische Rebsorten sind nicht in den entsprechenden
Listen für die zum Anbau zugelassenen Sorten aufgeführt oder erfüllen nicht starre Vorgaben wie die Mindestzahl von 300 Stöcken. Für die Neuregistrierung fallen hohe Gebühren an, zum Beispiel 1 500 Euro für die
Sortenkontrolle und 600 Euro für die jährliche Kontrollgebühr. 5 000 Euro werden sogar für die vergleichende
Sortenprüfung und Neuregistrierung im Bundessortenregister verlangt, obwohl die Sorte bereits seit Jahrhunderten angebaut wird und daher auch kein Sortenschutz
als Gegenwert besteht. Diese hohen Kosten stehen also
in keinem angemessenen Verhältnis zum wirtschaftlichen Nutzen durch die Neuvermarktung und den Anbau
alter Sorten, die nur Nischenmärkte besetzen können.
Der Anbau ist und bleibt aber der beste Weg, eine Sorte
langfristig zu erhalten, weil sie nur so dank stetiger Interaktion mit der Umwelt an die regionalen Standortbedingungen angepasst bleibt. Eine Erhaltung in Genbanken mit nur drei Stöcken ist auf Dauer nicht
ausreichend, um die Praxistauglichkeit und Vielfalt der
Klone der Mehrheit der autochthonen, bislang nicht
klassifizierten Rebsorten zu bewahren. Wenn insgesamt
sehr wenige Exemplare an nur einem Standort existieren, besteht zudem immer die Gefahr der Vernichtung
durch Krankheiten, Unwetter oder andere Kalamitäten.
In der Fachwelt ist unumstritten, dass die Rahmenbedingungen für den Erhaltungsanbau den spezifischen
Anforderungen der alten Sorten Rechnung tragen und
daher neu konzipiert werden müssen. Das Konzept der
Sortenreinheit passt nicht zu manchen alten Sorten, die
traditionell in gemischten Rebsätzen und in Klonen mit
Genvariationen angebaut wurden und auf Fremdbestäubung angewiesen sind. In Bezug auf die Problematik,
dass von einigen historischen Sorten nur noch viruskranke Exemplare erhalten sind, muss für solche Fälle
eine praxistaugliche Lösung für eine Sortenprüfung außerhalb des Rebenverkehrsgesetzes gefunden werden.
Es ist zu prüfen, ob eine gesonderte Liste für Erhaltungssorten und autochthone Sorten außerhalb der „Beschreibenden Sortenliste“ des Bundessortenamtes den
alten Sorten besser gerecht wird.
Die Länder sind aufgefordert, ihren Gestaltungsspielraum beim Weinbaugesetz aufgrund einer fehlenden
EU-Regelung für diesen Bereich zugunsten des Sortenerhalts zu nutzen. Alte Sorten müssen aus öffentlichem Interesse an ihrer Erhaltung in die klassifizierten
Anbaulisten unbürokratisch und kostenfrei aufgenommen werden. Der Bund muss ebenfalls seine Hausaufgaben machen und entsprechend das Bundessortenamt
anweisen, Erhaltungssorten von Gebühren für Registrierung und Sortenprüfung zu befreien. Da auch unsere
Nachbarn vom Aussterben alter Rebsorten betroffen
Zu Protokoll gegebene Reden
sind, begrüßen wir die im Antrag enthaltene Aufforderung an die Bundesregierung, bei der EU-Kommission
die Ergänzung der EU-Erhaltungsrichtlinie für alte
Rebsorten einzufordern.
Wir dürfen bei der Rettung alter Sorten keine Zeit
mehr verlieren, sonst werden klingende Namen wie Tauberschwarz, Blaue Seidentraube und Putzscheere bald
nur noch in der historischen Erinnerung existieren. Von
der Hälfte der alten Sorten, die im Rahmen des Erhebungsprojektes gefunden wurde, existieren nur fünf oder
noch weniger Exemplare. Der Antrag „Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhaltungsanbau“ greift dieses wichtige Problem auf und enthält viele wichtige Ansatzpunkte und Forderungen, die meine Fraktion im
Wesentlichen teilt. Wir werden daher zustimmen, obwohl
wir bei einzelnen Punkten Änderungsbedarf sehen. So
ist zum Beispiel die Grenze von fünf Hektar Anbaufläche
für die Klassifizierung als Erhaltungssorte viel zu hoch;
0,1 bis 0,5 Hektar reichen vollkommen aus.
Neben politischem Handeln können wir alle auch als
Privatmenschen direkt etwas für den Erhalt der biologischen Vielfalt beim Wein tun. Es gibt einige Projekte und
Winzer, die sich der Rettung historischer Rebsorten widmen und unsere Unterstützung verdienen. Diese kann
auch darin bestehen, Wein aus alten Rebsorten gezielt
nachzufragen nach dem Motto „Erhalten durch Genießen“.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7845 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vorsorgeprinzip anwenden - Zulassung des
Pestizidwirkstoffs Glyphosat aussetzen und
Neubewertung vornehmen
- Drucksache 17/7982 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen wurden beim Präsidium angegeben.
Pflanzenschutzmittel sind keine gewöhnlichen Gebrauchsgüter: Bei Zulassung und Anwendung ist größte
Sorgfalt geboten, um Menschen und Umwelt vor Risiken
zu schützen. Erst vor kurzem haben wir im Bundestag
die Pflanzenschutz-Novelle beschlossen, um unter anderem zu gewährleisten, dass alles unternommen wird, damit Pflanzenschutzmittel sicher und verantwortungsvoll
eingesetzt werden.
Zuweilen habe ich den Eindruck, dass das Gefahrenpotenzial von Pflanzenschutzmitteln bewusst genutzt
wird, um Ängste zu schüren und um die konventionelle
Landwirtschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Ein
Beispiel hierfür ist die aktuelle Diskussion um den
Pflanzenschutzwirkstoff Glyphosat. Seitens von Earth
Open Source wird behauptet, das Herbizid Glyphosat sei
frucht- und entwicklungsschädigend. Die NGO verweist
auf Studien, nach denen angeblich Fehlbildungen bei
Tierembryonen durch Glyphosat verursacht werden.
Umweltverbände und Bündnis 90/Die Grünen nehmen
die Vorwürfe offensichtlich dankbar auf, um die Zulassung des Wirkstoffs, der in wichtigen Pflanzenschutzmitteln enthalten ist, grundsätzlich infrage zu stellen.
Die CDU/CSU lehnt Schnellschüsse ab. Wir befürworten, dass über die Zulassung und über die Anwendungsbestimmungen von Pflanzenschutzmitteln auf solider wissenschaftlicher Grundlage entschieden wird.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, hat an der
Aussagekraft der von Earth Open Source angeführten
Studien starke Zweifel: Die behaupteten Missbildungen
an Kaninchen hätten sich bei qualitativ besseren Studien
nicht bestätigt, die angeführten Versuche an Frosch- und
Hühnerembryonen ließen keine definitiven Rückschlüsse
auf gesundheitliche Risiken für den Menschen zu. Das
BfR sieht keine überzeugenden Hinweise, dass Glyphosat entwicklungstoxische Wirkungen aufweist.
Auch die Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis,
dass der Wirkstoff Glyphosat keine für den Menschen
entwicklungsschädigenden Eigenschaften besitzt. Unterstützt wird diese Einschätzung von der EU, den zuständigen Behörden in den EU-Mitgliedstaaten und in
den USA sowie der Weltgesundheitsorganisation. In der
Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen führt die
Bundesregierung aus: „Weder aus den zahlreichen Tierversuchen mit dem Wirkstoff ({0}) noch aus
den Erfahrungen am Menschen auf Basis des jahrzehntelangen Einsatzes glyphosathaltiger Herbizide oder
aus epidemiologischen Studien ergeben sich Hinweise
auf genotoxische oder kanzerogene Risiken von Glyphosat beim Menschen.“
Aufgrund der eindeutigen Aussagen von anerkannt
kompetenten Stellen hat die CDU/CSU keine Bedenken,
dass zugelassene Pflanzenschutzmittel mit dem Wirkstoff
Glyphosat weiterhin in der Landwirtschaft im Rahmen
der Anwendungsbestimmungen eingesetzt werden. Die
im Antrag der Grünen erhobene Forderung, die Zulassung von Glyphosat auszusetzen und eine Neubewertung
des Wirkstoffs vorzunehmen, wird nicht unterstützt.
Die EU, die für die Zulassung von Pflanzenschutzwirkstoffen zuständig ist, wird unter Beteiligung
des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit bis 2015 eine Neubewertung von Glyphosat vornehmen. Dabei wird der Wirkstoff einer umAlois Gerig
fassenden Prüfung unterzogen. Derzeit liegen aber keine
gesicherten Erkenntnisse vor, die eine Aussetzung der
Zulassung rechtfertigen würden. Nach dem Stand der
Wissenschaft ist vielmehr davon auszugehen, dass bei
bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung
von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit von Mensch und Tier eintreten.
Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sprechen
auch die Erfahrungen aus der Praxis dafür, Glyphosat
nicht vom Markt zu nehmen. Die Anwendung von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln hat sich zur Unkrautbekämpfung im Pflanzenbau sehr bewährt. Ein
Verzicht auf Glyphosat würde zu einem vermehrten Einsatz anderer Pflanzenschutzmittel sowie zu einer intensiveren Bodenbearbeitung führen. Landwirte in Deutschland sind seit vielen Jahren mit glyphosathaltigen
Pflanzenschutzmitteln vertraut und nutzen diese - wie
andere Mittel im Übrigen auch - in verantwortungsvoller Weise. Mir liegen keine Hinweise vor, dass hierzulande die Anwendung glyphosathaltiger Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft zu unerwünschten
Nebenwirkungen führt. Im Gegenteil: Glyphosat macht
eine ökologisch sinnvolle, nichtwendende Bodenbearbeitung häufig erst möglich!
Mit Blick nach Nord- und Südamerika bestehen Befürchtungen, dass durch den Anbau von herbizidtoleranten Sojapflanzen glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel
in großen Mengen ausgebracht werden und sich dadurch überhöhte Glyphosatrückstände in importierten
Sojafuttermitteln ergeben könnten. Aus meiner Sicht ist
es sinnvoll, Futtermittelimporte verstärkten Kontrollen
zu unterziehen. Ich begrüße es, dass in dem von Bund
und Ländern festgelegten „Kontrollprogramm Futtermittel für die Jahre 2012 bis 2016“ Glyphosat als ein
vorrangig zu kontrollierender Wirkstoff benannt wird
und Importeure von Futtermitteln in Kontrollen einbezogen werden. In der Vergangenheit wurden bei importierten Futtermitteln keine Überschreitungen der Rückstandshöchstgehalte festgestellt.
Ich bin überzeugt, dass bei sachgerechter Anwendung
von Glyphosat kein Anlass zur Sorge besteht. Insbesondere sehe ich keinen Grund, Verbraucher und Landwirte
zu verunsichern. Stattdessen gilt es zu betonen: Über die
Zulassung von Pflanzenschutzwirkstoffen wird weiterhin
auf Grundlage strenger wissenschaftlicher Maßstäbe
entschieden, damit der Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz gewährleistet ist. Gute Wirkstoffe sind unverzichtbar, denn nur so kann der Pflanzenschutz zu hohen
Erträgen und damit zu einer guten Versorgung mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln beitragen.
Die Einhaltung des Vorsorgeprinzips hat für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Priorität. Bei
Glyphosat handelt es sich um das weltweit am häufigsten eingesetzte Unkrautvernichtungsmittel. Es wird dort
eingesetzt, wo keine Pflanze überleben soll, zum Beispiel
zur Vorbereitung von Ackerflächen für die Aussaat von
Kulturpflanzen - der Acker wird damit „geräumt“. Glyphosat wird aber auch noch kurz vor der Ernte genutzt.
Die Abtötung aller Grünpflanzen ermöglicht eine
schnellere Trocknung, erleichtert die Ernte oder beschleunigt die Reife. Auch lassen sich mit Glyphosat
Flächen wie Autobahnrandstreifen und Wege freihalten
oder aber Beete vor dem Anlegen neuer Kulturen abspritzen - daher finden sich zahlreiche Glyphosatprodukte in Baumärkten und Gartencentern. Es wird
zusammen mit gentechnisch veränderten Pflanzen angewendet, die mit einer Resistenz gegen Glyphosat ausgestattet sind - und dies macht den Löwenanteil unter den
angebauten GVO-Pflanzen aus. Durch die wachsenden
Anbauflächen von genveränderter Soja vor allem in den
USA sind die eingesetzten Mengen von Glyphosat stark
gestiegen. Die Produkte werden nach Europa importiert,
um sie hier an Tiere zu verfüttern, die uns wiederum mit
Milch- und Fleischprodukten versorgen. Dabei ist nicht
auszuschließen, dass insbesondere Zusatzstoffe wie
POE-Tallowamine, die als Benetzungsmittel dienen,
auch in tierische Produkte und damit in unsere Nahrungskette übergehen.
Auch in Deutschland wird Roundup immer mehr im
Getreide- und Obstanbau sowie in Hausgärten eingesetzt. Jährlich werden hierzulande 4 000 Tonnen Glyphosat verspritzt. Zudem drohen auch bei uns Zulassungen für Glyphosat-resistente GVO-Pflanzen - und damit
weiter zunehmender Glyphosateinsatz. Vorsorgemaßnahmen für Verbraucherinnen und Verbraucher gibt es
bisher nicht. Umweltschützer fordern inzwischen ein
Screening von Futter- und Lebensmitteln auf Rückstände
von Glyphosat sowie auf das Beimittel Tallowamin und
das Abbauprodukt AMPA.
Zugrunde liegt diesem breiten Einsatz die Einschätzung, dass Glyphosat gesundheitlich und ökologisch unbedenklich sei. An dieser Einschätzung gibt es aber inzwischen Zweifel. Neue Studien geben Hinweise auf
erbgutschädigende Wirkungen von Glyphosat. In Versuchen sind Geburtsfehler, Missbildungen und Krebserkrankungen festgestellt worden. Zudem deutet vieles
auf einen Zusammenhang zwischen Glyphosateinsatz
und erhöhter Krankheitsanfälligkeit von Pflanzen und
verminderter Nährstoffaufnahme und Bodenfruchtbarkeit hin.
Dem Vorsorgeprinzip folgend, halten wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine Neubewertung
von Glyphosat für dringend erforderlich. Die Zulassung
muss überprüft und allen Hinweisen auf Risiken für Gesundheit und Umwelt muss nachgegangen werden. Wir
hoffen auf eine konstruktive Diskussion in den zuständigen Ausschüssen, die der großen Verantwortung entspricht, die der Gesetzgeber hier trägt. Aus unserer
Sicht kann am Ende der ernsthaften Auseinandersetzung
mit diesem Thema nur die gemeinsame Forderung nach
einer Neubewertung stehen.
Dieser Antrag ist ein weiteres Beispiel für grüne
Klientelpolitik, die sich naturwissenschaftlicher Fachlichkeit verweigert und Vorurteile gegenüber moderner
Zu Protokoll gegebene Reden
Landwirtschaft bedient. Die Grünen betreiben keine am
Schutz der Natur, der Sicherheit unserer Lebensmittel
orientierte Politik. Sie betreiben reine Destruktionspolitik, die Ängste schürt, um daraus politischen Nutzen zu
ziehen. Schon im ersten Absatz wird die Hysterie angefacht. Natürlich werden dem Wirkstoff Netzmittel und
andere Zusatzstoffe beigemischt, damit eine verbesserte
und genauere Wirkung erzielt wird. Sie sorgen dafür,
dass das Mittel die Oberfläche der Blätter benetzen und
direkt dort wirken können. Sie verringern damit die für
die gewünschte Wirkung erforderliche Menge an Glyphosat. Insofern kann die Toxizität von Formulierungen
unter Umständen erhöht sein, dies wird aber bereits in
Sicherheitshinweisen für die Anwendung berücksichtigt.
Eine falsche sachliche Analyse einer Situation ist ungeeignet als Vorbereitung für sinnvolle politische
Schlussfolgerungen. Das Strickmuster solcher Anträge
der Grünen ist bekannt: Die Grünen nutzen das Vorsorgeprinzip als Deckmantel für die unterschiedlichsten
Forderungen nach Verboten, Abgaben, mehr Verordnungen, mehr Bürokratie. Sie diskreditieren Behörden und
wissenschaftliche Einrichtungen, wenn deren wissenschaftliche Ergebnisse grüner Ideologie widersprechen.
Die durchaus notwendige politische Diskussion, wie wir
die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft in Deutschland gestalten
sollten, wird durch solche Anträge behindert und nicht
befördert.
Der Wirkstoff Glyphosat wird seit den 1970er-Jahren
in Breitbandherbiziden eingesetzt. Er blockiert ein für
Pflanzen lebenswichtiges Enzym, das nur in Pflanzen
vorkommt. Dies begründet seine hohe Wirksamkeit und
breite Anwendung in der Landwirtschaft und die vergleichsweise geringen Effekte bei tierischen Organismen oder dem Menschen. Die Wirkung von Glyphosat
auf Nichtzielorganismen wurde umfangreich untersucht,
unter anderem durch die EPA, die WHO, die EU und von
vielen anderen Ländern und Wissenschaftlern. Der wissenschaftliche Konsens ist, dass Glyphosat bei ordnungsgemäßer Anwendung keine Gesundheitsrisiken
birgt. Bei sachgerechter Anwendung gilt Glyphosat verglichen mit anderen Herbiziden als wenig umweltbelastend; es ist biologisch abbaubar und für Menschen nicht
toxisch. Es gibt umfangreiche epidemiologische Studien
und Fallkontrollstudien aus Regionen, in denen Glyphosat in großem Umfang und seit vielen Jahren angewendet wird. Dort wurden keine erhöhten Krankheitsraten
gegenüber Kontrollgebieten festgestellt. Demgegenüber
stehen einzelne Studien selbsternannter Experten, deren
Ergebnisse von anerkannten Wissenschaftlern als wenig
brauchbar eingeordnet werden.
Alle Pflanzenschutzmittel werden vor ihrer Zulassung
umfassend geprüft. Die Prüfung berücksichtigt mögliche
Auswirkungen auf die menschliche und tierische Gesundheit wie auch auf die Natur. Nur Pflanzenschutzmittel, die höchsten Kriterien genügen, werden in Deutschland und der EU zugelassen. Dabei ist eine Beteiligung
vonseiten des Umwelt- und Naturschutzes durch das
Umweltbundesamt sichergestellt. Alle Zulassungen für
Wirkstoffe sind zeitlich befristet und müssen unter Vorlage der neuesten wissenschaftlichen Daten erneut bewertet werden. Ebenso sind die Zulassungsbehörden
verpflichtet, Meldungen über Schäden nachzugehen. Bei
bestimmungsgemäßer Anwendung ist Glyphosat, wie bereits das EPA, die WHO und die EU sowie unsere Forschungseinrichtungen festgestellt haben, sicher.
Es passt zum gängigen grünen Weltbild, dass in vielen Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen all
diejenigen Wissenschaftler diffamiert werden, die nicht
Teil der grünen Bewegung sind. Die akademische und
behördliche Sicherheits- und Risikoforschung in
Deutschland ist weltweit spitze. Die Forderungen 8 und
9 des Antrages wirken wie ein Hohn angesichts der Qualität der im Antrag zitierten „Arbeiten“: Der zitierte argentinische Mediziner Professor Dr. Andrés Carrasco
hat in Tierversuchen Mäusen große Dosen des Wirkstoffs Glyphosat gespritzt und negative Wirkungen bei
Mäusen festgestellt. Solche Tierversuche sind jedoch für
die Bewertung der Giftigkeit von Glyphosat ohne Wert,
weil bei keiner Anwendung das Spritzen des Wirkstoffs
in Tiere erfolgt. Es ist nicht mit dem Tierschutzgedanken
vereinbar, wenn Tiere für solche von vornherein als nicht
aussagekräftig erkennbare Versuche verbraucht werden.
Der Wissenschaftler weiß dies offensichtlich, denn er
hat einen mit dem Ausschuss vereinbarten Gesprächstermin, bei dem Behördenvertreter anwesend sein sollten, sehr kurzfristig abgesagt.
Das Problem mit den als Benetzungsmittel in bestimmten Formulierungen der Herbizide verwendeten
sogenannten POE-Tallowaminen ist bekannt. Hier
haben Untersuchungen von Behörden und Wissenschaftlern gezeigt, dass eine besondere Schadwirkung eintreten kann. Das zuständige Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz, BVL, hat die Hersteller
deswegen bereits angewiesen, alternative Formulierungen zu entwickeln. Darüber hinaus wurden die Gewässerabstände vergrößert, um schädliche Auswirkungen
auf die Natur zu minimieren. Das BVL hat zudem Anfang
Dezember einige Mittel verboten, und der ehemalige Patentinhaber Monsanto hat beim BVL POE-Tallowaminfreie Formulierungen zur Zulassung eingereicht. Dies
zeigt, dass die Pflanzenschutzmittelzulassungspraxis
funktioniert, und auch diese Forderung ins Leere läuft.
Die Diskussion um Glyphosat hat ihren Hintergrund
darin, dass über 70 Prozent der weltweit angebauten
Sojapflanzen gentechnisch verändert sind und eine Toleranz für Glyphosat besitzen. Als ideologische Gegner
dieser Züchtungsmethode haben die Grünen deswegen
einen Zulassungsstopp für Glyphosat gefordert, um mittelfristig die gentechnisch veränderte Kulturpflanze mit
der größten Verbreitung für den Anbau unattraktiv zu
machen. Inzwischen wurden durch kriminelle Feldzerstörungen und medienwirksame Proteste einer lautstarken Minderheit der Anbau und die Forschung fast vollständig aus Deutschland vertrieben. Jetzt sollen über
vollkommen überzogene Grenzwerte für Lebens- und
Futtermittel auch die Importe solcher Produkte aus
Drittstaaten unterbunden und die vorteilhafte Nutzung
der Züchtungsmethode Grüne Gentechnik ausgebremst
werden. Die geltenden Grenzwerte beruhen auf anerkannten wissenschaftlichen Fakten, sind weit unterhalb
jeglicher Gefährdungsschwelle und werden von der EUZu Protokoll gegebene Reden
Kommission regelmäßig überprüft. Weitere Verschärfungen bringen keine zusätzliche Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir lehnen die Forderungen des Antrages entschieden ab.
Untersuchungen der Universität Gießen haben gezeigt, dass ein Verbot von Glyphosat einerseits aus Sicht
des Umweltschutzes völlig kontraproduktiv wäre und
andererseits zu Wohlfahrtsverlusten in Milliardenhöhe
führen würde. Resistenzen und andere Folgen des Herbizideinsatzes lassen sich durch gute fachliche Praxis, ein
modernes Wirkstoffmanagement und weitere Vorsorgemaßnahmen problemlos lösen, ohne die immer unterschätzten negativen Folgen eines Verbotes von Pflanzenschutzwirkstoffen in Kauf zu nehmen. Es ist typische
Praxis bei der romantischen Verklärung einer Museumslandwirtschaft, die möglichen Folgen moderner Technik
drastisch zu überhöhen und gleichzeitig die Konsequenzen der Alternative vollkommen auszublenden. Die
grüne Verhinderungspolitik verweigert sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.
„Glyphosat ist das weltweit am häufigsten eingesetzte Herbizid. Der US-Agromulti Monsanto brachte es
1974 unter dem Namen Roundup auf den Markt“,
schreibt das Umweltinstitut München. Bis vor ein paar
Monaten war die breite Anwendung dieses Pflanzenschutzwirkstoffs von Verbraucherinnen und Verbrauchern nahezu unbemerkt. Er wird aber schon drei Jahrzehnte auf Äckern auch in der Bundesrepublik verwendet.
Die engagierte Aufklärungsarbeit von Umweltschutzund Menschenrechtsverbänden hat Glyphosat ins Rampenlicht gerückt. Die breite Anwendung von Glyphosat
steht auch im Zusammenhang mit dem umfangreichen
Anbau glyphosatresistenter Gentech-Soja. Berichtet
wird unterdessen über Missbildungen bei Mensch und
Tier, die ursprünglich gar nicht mit Glyphosat in Zusammenhang gebracht worden waren, oder über Rückstände
des Planzenschutzmittels in Lebensmitteln. Diese Berichte haben klargemacht: Es gibt ein Problem. Von
„Bild“ bis „Zeit“ gab es Artikel. Sucht man „Glyphosat“ bei Google, finden sich über 150 000 Einträge. Was
ist also dran am Glyphosat, dass sich nun auch der
Deutsche Bundestag damit befasst?
Glyphosat greift in den Stoffwechsel wachsender grüner Pflanzen ein und führt zu ihrem Absterben. Daher
muss es also entweder so gespritzt werden, dass die
Blätter gewünschter Pflanzen nicht getroffen werden es sei denn, sie wurden gegen dieses Gift gentechnisch
resistent gemacht.
Es gibt zwei Problembereiche beim Glyphosat: die
Anwendung glyphosathaltiger Pestizide im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Pflanzen - vor allem
in Nord- und Südamerika - und die Anwendung des
Wirkstoffs in Deutschland, zum Beispiel im Obst- oder
Weinbau.
Zum Ersten: Die Agro-Gentechnik wird immer wieder
als Wunderwaffe gegen den Hunger der Welt gepriesen.
In Wirklichkeit ist sie jedoch vor allem eine der effektivsten Möglichkeiten, den Pestizidabsatz der Agrokonzerne
zu sichern. Vier von fünf Gentechpflanzen sind so verändert worden, dass sie gegen das hauseigene Pestizid resistent sind. Dieses wird als sogenanntes Totalherbizid
über die Felder gesprüht - meist mit dem Flugzeug und tötet alle Pflanzen, die nicht über den künstlich eingebauten Schutzmechanismus verfügen. Die Agroindustrie kann somit doppelt Geld verdienen, denn die Bäuerin
oder der Bauer muss sowohl für das patentierte Saatgut,
als auch für das daran gekoppelte Pestizid bezahlen,
beispielsweise die RR-Sojabohne von Monsanto, die gegen den glyphosathaltigen Unkrautkiller Roundup
Ready, RR, resistent ist. Auch RR-Baumwolle oder -Mais
sind unterdessen weltweit verbreitet.
Die Anwendung der Gentechpflanzen und ihres Chemiezubehörs hat wachsende Abhängigkeiten der Bauernhöfe und zunehmende Umweltverschmutzungen zur
Folge. Statt Pestizide einzusparen, steigt das Risiko von
Unkrautresistenzen und damit von sogenannten Superunkräutern. Auf diese Entwicklung wird mit immer komplizierteren und teureren Giftcocktails reagiert. Werden
diese Chemie-duschen auch noch aus der Luft ausgebracht, potenziert sich das Risiko gesundheitlicher Auswirkungen auf Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die
inmitten der grünen Sojawüsten leben. Berichte aus Argentinien oder Paraguay sind lange bekannt und werden
immer wieder mit bedrückenden Bildern belegt. Der Zusammenhang zwischen Glyphosat und Missbildungen,
Atembeschwerden oder Kopfschmerzen wurde lange
übersehen, es verdichten sich aber die Hinweise auf
diese Ursache. Glyphosat steht zudem im Verdacht, das
Erbgut zu schädigen und krebserregend zu sein.
Zweitens: In Deutschland gibt es noch keine Gentechpflanzen, welche gegen ein Unkrautvernichtungsmittel
resistent sind; „noch nicht“, muss man angesichts der
internationalen Entwicklungen sagen. Das kann sich im
Laufe der kommenden Jahre schnell ändern. In der EU
warten über 100 Gentechpflanzen auf eine Zulassung,
teilweise für den Anbau in Europa; viele davon sind herbizidresistent. Von den bereits 38 in der EU zugelassenen Gentechveränderungen, events, besitzen 30 eine
Herbizidresistenz, davon 17 gleichzeitig eine Insektenresistenz. Auch wenn solche Pflanzen bei uns noch nicht
zum Anbau zugelassen sind, bedeutet das nicht, dass
Glyphosat in Deutschland nicht verkauft wird. Im Gegenteil. Glyphosatresistente Gentechpflanzen würden
zwar die Anwendung von Roundup Ready massiv ausweiten, aber schon jetzt geht auch in der Bundesrepublik
Roundup Ready literweise über den Ladentisch. 4 000
bis 8 000 Tonnen des Wirkstoffs Glyphosat sollen es
nach Angaben des NABU im Jahr 2010 gewesen sein.
Eingesetzt werden die glyphosathaltigen Pestizide im
Obstbau, in Weinbergen und Weihnachtsbaumkulturen,
auf Bahnschienen oder auf Bürgersteigen. Erschreckend
ist, dass trotz des gesundheitlichen Risikos der Absatz
von Glyphosat ständig steigt, trotz der negativen Medienberichte. Meiner Meinung nach hat das auch mit
der Zunahme der Anwendungserlaubnisse zu tun. Das
Gift darf in immer mehr Fällen angewandt werden, seit
ein paar Monaten sogar im Kleingarten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Glyphosathaltige Pestizide finden sich in jedem Bauund Gartenmarkt und werden eifrig beworben. Im Kleingarten haben diese Unkrautkiller aber nichts zu suchen,
finde ich. Sie werden gerne benutzt, um im sogenannten
Vorauflauf - also bevor die Nutzpflanze wächst - den
Acker oder das Beet unkrautfrei zu machen. Das ermöglicht eine pfluglose Bodenbearbeitung, die aus betriebswirtschaftlichen Gründen immer beliebter wird. Dann
ist der Acker sauber, und die gewünschte Kultur kann
zunächst konkurrenzlos aufwachsen. Alle Unkräuter
sind weg. Rainald Grebe singt in seinem Lied „Aufs
Land“ „Das sind doch keine Unkräuter, das sind Beikräuter“ und betont damit die Bedeutung der Ackerbegleitflora. Ist sie erst mal vernichtet, wirkt sich das negativ auf die Artenvielfalt des Agrarökosystems aus.
Schmetterlinge und andere Insekten finden weniger
Nahrung. Der Einsatz von Totalherbiziden ist daher
ökologisch sehr fragwürdig. Auch nach Ende der Wuchsphase wird gerne auf Glyphosat zurückgegriffen. Beim
sogenannten Totspritzen wird die fast reife Ackerfrucht
auf der Zielgeraden unterstützt. Das Gift ermöglicht
eine schnellere Trocknung, erleichtert dadurch die Ernte
oder lässt die Pflanze schneller reifen. Mag sein, dass
sich das ökonomisch für den Betrieb rechnet - für die
Volkswirschaft rechnet sich das nicht. Deshalb müssen
wir andere Wege gehen.
Was tun? Die Forderung eines Verbots von Glyphosat
hört sich logisch an, würde aber aktuell das Problem
nicht lösen. Derzeit sind keine unbedenklicheren Alternativen verfügbar und auch nicht in Sicht. Für eine Neubewertung des Wirkstoffes ist es allerdings höchste Zeit.
Bisher wurde Glyphosat als relativ umweltfreundliches
Pestizid angesehen; das hat sich nun durch seine massenweise Anwendung und die neuen wissenschaftlichen
Berichte geändert. Seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten müssen kritisch überprüft werden. Auch die Kombination von Gentechpflanze und dazugehörigem Unkrautkiller muss durch die EU viel stärker unter die
Lupe genommen werden.
Die Gentechnikabteilung der Europäischen Behörde
für Lebensmittelsicherheit, EFSA, fühlt sich für die Untersuchung von Pestizidrückständen, Begleit- und Abbaustoffen, Metaboliten, nicht zuständig, wenn sie einen
Zulassungsantrag für eine herbizidresistente, HR, Gentechpflanze auf dem Tisch hat. Das ist inakzeptabel. Sowohl im Zulassungsverfahren, als auch im späteren Monitoring müssen Herbizid und herbizidresistente Pflanze
gemeinsam betrachtet werden. Übrigens ist das Problem
nicht auf Glyphosat beschränkt, sondern betrifft auch
seinen kleinen Bruder Glufosinat aus dem Hause Bayer.
Im Kleingarten gehört Roundup Ready aus Sicht der
Linken verboten, weil dort eine sachgerechte Anwendung mehr als schwierig und damit riskant ist. Nötig ist
der Unkrautkiller dort sowieso nicht. Auch die Belastung von Lebens- und Futtermitteln durch glyphosathaltige Pestizide ist stärker zu prüfen. Hier gibt es Defizite
in der Prüfhäufigkeit der Länder und in der Untersuchungsdurchführung. Die Linksfraktionen in den Landtagen haben dies durch mehrere Kleine Anfragen herausgefunden. Die Abbauprodukte, AMPA, und die
Netzmittel, POE-Tallowamine, der glyphosathaltigen
Pestizide stellen im Vergleich mit dem Wirkstoff das
noch viel größere Problem dar, sind aber kaum untersucht bzw. greifbar. Die Bundesregierung hat mir auf
eine Anfrage Ende November 2011 geantwortet, dass sie
die Zulassung von POE-Tallowaminen noch nicht widerrufen will; sie erwarte eine Bewertung des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit, BVL, in naher Zukunft. Ich auch - und zwar so schnell wie möglich!
Deutschland muss sich beim Thema Glyphosat seiner
Verantwortung stellen, nicht nur für die Anwendung bei
uns, sondern auch um den Anforderungen in der EU gerecht zu werden. Deutschland ist EU-Berichterstatter
für die Neuzulassung von Glyphosat und muss 2012 seinen Bericht nach Brüssel senden. Dort erwarte ich kritische Worte und einen dem Vorsorgegedanken verpflichteten Vorschlag, wie in der EU zukünftig mit Glyphosat
umgegangen werden soll. Die Linksfraktion wird das
kritisch begleiten.
Der Herbizidwirkstoff Glyphosat hat es in diesem
Jahr zu trauriger Rekordpräsenz in den ({0})Medien
gebracht. Gleichzeitig rücken die Probleme mit diesem
Pestizidwirkstoff auch räumlich immer näher: Zunächst
ging die Diskussion vor allem um den Einsatz von glyphosathaltigen Herbiziden beim Anbau von Gensoja in
Nord- und Südamerika. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Glyphosatanwendung ergab jedoch, dass sich auch in Deutschland der
Absatz von Glyphosat seit 1993 mehr als verfünffacht
hat. Und ganz aktuell sorgen sich viele Bürgerinnen und
Bürger zum Beispiel im Sauerland, welche Glyphosatrisiken sie sich durch den Anbau oder Kauf ihres Weihnachtsbaumes mit in die Wohnzimmer holen.
Die Auseinandersetzung um Glyphosat ist auch im
Kontext der Novelle des Pflanzenschutzgesetzes wichtig.
Hauptziel der Novelle war für die Regierungskoalition
nach eigenem Bekunden die Beschleunigung der Zulassung von Pestiziden. Kritische Stimmen aus Wissenschaft, Umwelt- und Verbraucherschutz wurden und
werden konsequent ignoriert, wie der Streit um die Einbindung des Umweltbundesamtes oder der Ausstieg der
Umwelt- und Wasserwirtschaftsverbände aus dem Nationalen Aktionsplan „Nachhaltiger Pflanzenschutz“,
NAP, belegen. Am Beispiel der glyphosathaltigen Herbizide lassen sich die Folgen einer derart ideologischen
Politik erschreckend deutlich darstellen. Dabei geht es
zunächst noch gar nicht um toxikologische Details.
Schon Paracelsus wusste: Dosis sola facit venenum. Allein die Dosis macht das Gift. Und gerade in dieser Hinsicht müssen wir feststellen, dass die Menge der global
und bei uns in Deutschland ausgebrachten GlyphosatHerbizide wie „Roundup“ in den letzten Jahren massiv
gestiegen ist.
Vor allem in den USA und in Lateinamerika ist die
Glyphosatanwendung durch den Anbau von gentechnisch verändertem Soja, das direkt mit Glyphosat behandelt werden kann, sprunghaft angestiegen, zum Beispiel in Argentinien um 58 Prozent pro Hektar. Von einer
Reduktion der Anwendung von Pestiziden, wie sie uns
Zu Protokoll gegebene Reden
von Gentechnikbefürwortern gerne versprochen wird,
sind wir also weiter entfernt denn je.
Angesichts dieser Mengen sollte selbstverständlich
sein, dass Hinweisen auf mögliche Gesundheits- oder
Umweltgefahren von Glyphosat besonders intensiv
nachgegangen wird. Aber genau das ist leider nicht der
Fall. Stattdessen mehren sich beim Blick auf die Zulassungsverfahren unsere Fragezeichen. Schon in der Erstbewertung von Glyphosat haben Bundesbehörden Hinweise auf Störungen der Embryonalentwicklung durch
Glyphosat ignoriert, obwohl diese Daten nicht etwa von
Umweltverbänden, sondern vom Antragsteller, Monsanto, selbst geliefert wurden. Statt diesen Hinweisen
nachzugehen, wurden Schäden, die in der embryologischen Fachliteratur eindeutig als Fehlbildung definiert
werden, einfach als „Entwicklungsvarianten“ relativiert. Auf die Korrektur dieser offensichtlichen Fehlbeurteilung durch die Bundesregierung warten wir bis
heute.
Es muss leider davon ausgegangen werden, dass die
Gesundheits- und Umweltgefahren von Glyphosat bisher weder von den Herstellern noch den zuständigen Behörden wirklich mit der erforderlichen kritischen Distanz bewertet wurden. Daraus ergibt sich zwangsläufig
unsere Kernforderung, die Zulassung von Glyphosat so
lange auszusetzen, bis das Ergebnis einer neuen und umfassenden Risikobewertung vorliegt, die diesen Namen
auch wirklich verdient.
Eine wichtige Forderung aus unserem Antrag sehen
wir durch unsere kritischen Fragen bereits umgesetzt:
Zwei Tage nach Einbringung des vorliegenden Antrages
hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, sechs Zusatzstoffen von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln die Zulassung entzogen,
in denen POE-Tallowamine enthalten sind. Der Schritt
kommt zwar spät, wird von uns aber ausdrücklich begrüßt. Denn es kann nicht toleriert werden, dass toxikologisch bedenkliche Stoffe in großem Umfang in die
Umwelt ausgebracht werden, obwohl es nirgendwo in
Deutschland ein Labor gibt, das diese Tallowamine
überhaupt nachweisen kann.
Im neuen wie im alten Pflanzenschutzgesetz wird die
Erlaubnis, Gifte - nichts anderes sind Pflanzenschutzmittel - in die Umwelt auszubringen, an den Beleg einer
entsprechenden Sachkunde gebunden. Allerdings gilt
das nur für den landwirtschaftlichen Bereich. In vielen
Garten- und Baumärkten können Verbraucher verschiedenste Pestizide für ihre Haus- und Kleingärten erwerben, darunter zahlreiche Glyphosatprodukte. Ein
Pflanzengift, das alle Arten von Pflanzen abtötet, das
nachgewiesenermaßen problematisch für im Wasser lebende Organismen ist und das jetzt auch noch unter
dringendem Verdacht steht, die Embryonalentwicklung
massiv zu stören, darf nicht von Hobbyanwendern in der
Nähe von spielenden Kindern oder Haustieren eingesetzt werden. Weihnachten ist auch eine Zeit der Wünsche, und ich wünsche uns allen deshalb, dass uns die
Kolleginnen und Kollegen der Koalition im Sinne eines
vorsorgenden Verbraucherschutzes dabei unterstützen,
den Einsatz glyphosathaltiger Mittel in Haus- und
Kleingärten zu untersagen.
Gerade Deutschland muss in seiner Rolle als Berichterstatter in der EU für die Glyphosatzulassung jetzt
seine Verantwortung im Sinne einer Risikovorsorge zum
Schutz der Menschen und der Ökosysteme wahrnehmen
und die tatsächlichen Gefahren der Glyphosatanwendung ernst nehmen. Bis eine wirklich gewissenhafte Risikoprüfung auch im Lichte der neuen Erkenntnisse erfolgt ist, muss die Zulassung des Wirkstoffs umgehend
ausgesetzt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7982 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
für möglich halten, aber wir sind am Schluss unserer
heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Dezember 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
eine gute Nacht.