Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
setzen unsere Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 2 - fort:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2010
({0})
- Drucksache 17/200 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Für die heutigen Beratungen haben wir gestern eine
Redezeit von achteinhalb Stunden beschlossen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04.
Ich darf als erstem Redner dem Kollegen Anton
Schaaf für die SPD das Wort erteilen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gut 100 Tage ist die Bundestagswahl her, knapp 100 Tage, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition, sind Sie im Amt. Für dieses Land, um das ganz vorneweg zu sagen, sind die
100 Tage, die Sie im Amt agieren bzw. nicht agieren,
100 verlorene Tage.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, Sie hätten Koalitionsverhandlungen geführt. Na ja, am Ende
von Koalitionsverhandlungen steht ja ein Ergebnis, wird
eine Perspektive aufgezeigt, die den Menschen Hoffnung und Zuversicht gibt. Ich sage Ihnen etwas: Sie haben nur einen Fahrplan für Koalitionsverhandlungen
vereinbart. Sie sind immer noch dabei, Koalitionsverhandlungen zu führen. Ich befürchte, bei der Zerstrittenheit dieser Koalition wird es noch 100, 200 oder
300 Tage dauern, bis Sie endlich einen Koalitionsvertrag
unterschrieben haben.
({1})
Was sind die strittigen Punkte? Das Einzige, was im
Moment wirklich absehbar ist, ist, dass Sie an Steuersenkungen festhalten wollen. Da wäre es ja nun wenigstens redlich oder ehrlich, den Menschen zu sagen, wie
Sie diese Steuersenkungen finanzieren wollen. Das, was
Sie jetzt an Geschenken an die Reichen verteilt haben,
haben Sie durch Schulden finanziert, in der falschen Annahme, sie würden sich refinanzieren. Jeder Ökonom
sagt Ihnen, dass das nicht funktioniert. Aber Sie wollen
diese verfehlte Politik der Entlastung der Reichen zulasten der Armen weitermachen, weil Sie sich davon Wirtschaftsimpulse erwarten. Sie haben jedoch überhaupt
keine Ahnung davon, wie Sie das Ganze gegenfinanzieren wollen. Das lässt der Haushalt auch nicht zu, weder
jetzt noch in den nächsten Jahren. Sie halten aber trotzdem daran fest.
Wir sind in der schwersten Krise unseres Landes in
der Nachkriegszeit. Eigentlich erwartet man, dass da Impulse für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft gesetzt
werden. Der Wirtschaftsminister aber setzt keine Impulse, sondern kann nur noch zwei Worte. Auf jede
Frage, die man ihm stellt, lautet die immer gleiche Antwort: Steuern senken! Arbeitslosigkeit? - Steuern senken! Wirtschaftswachstum? - Steuern senken! Ich befürchte, dass er auch, wenn man ihn nach Afghanistan
fragt, sagt: Steuern senken. Er kann nichts anderes, als
sich selbst auf Steuersenkungen zu begrenzen.
({2})
Das ist keine Wirtschaftspolitik; vielmehr macht es deutlich, dass in dieser Regierungskoalition gnadenlose Perspektivlosigkeit herrscht.
Redetext
Der Wahlkampf der Union war völlig inhaltsleer. Er
beschränkte sich auf eine Person: auf die Bundeskanzlerin. Sie haben keine Idee entwickelt, kein Thema besetzt.
So gingen Sie in vermeintliche Koalitionsverhandlungen
und wurden von der FDP marktliberal über den Tisch
gezogen. Genau das ist passiert, meine Damen und Herren. In Ihrem sogenannten Koalitionsvertrag stehen nur
Forderungen der FDP, sonst steht dort nichts.
({3})
- In der Tat, so ist es.
Frau Bundeskanzlerin, an Ihrer Stelle würde ich noch
einmal sehr gründlich darüber nachdenken, was das zu
bedeuten hat. Sie haben die Kraft verloren, selber Impulse zu setzen. Sie schaffen keine Perspektive für die
Menschen in diesem Land, aber das sehr konsequent.
Diese Konsequenz sieht so aus: Sie sagen den Menschen
in diesem Lande vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl
nicht, wie Sie Ihre Steuerpolitik, Ihre Steuersenkungspolitik, finanzieren wollen. Erst danach werden die sozialen Ungerechtigkeiten, die sozialen Grausamkeiten
von Ihnen formuliert. Sie wollen Rüttgers über den
Wahltermin im Mai retten. Das ist die Perspektive der
Koalition. Das sind weitere 100 verlorene Tage in diesem Land, in denen wir eigentlich Antworten und Perspektiven brauchten. Aber diese Regierung liefert sie
nicht, weil sie Rüttgers vor einer Wahlniederlage schützen will. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen!
({4})
Ich komme ja aus Nordrhein-Westfalen, und ich habe
bereits die Blaupause dafür, was Schwarz-Gelb bedeutet:
Da wird links geblinkt; da wird der gnadenlose Sozialpolitiker gegeben, allerdings ohne jede Initiative im
Bundesrat, ohne jede selbstgestaltete Initiative. Ganz im
Gegenteil: Wenn es beispielsweise um Arbeitnehmerrechte geht, ist Rüttgers ein Paradebeispiel. Mit der
Amtsübernahme von Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen wurden erst einmal das Landespersonalvertretungsgesetz und die Mitbestimmung geschleift. Das ist
die Realität von Rüttgers und übrigens auch Ihre Realität. Sie werden im Mai dieses Jahres an die Sozialetats
herangehen, weil Sie überhaupt keine andere Wahl haben, wenn Sie Ihre Versprechen tatsächlich umsetzen
wollen. Das ist die Realität dieser Regierung.
Herr Westerwelle, Sie haben sich ja gestern bei dem
Thema Spenden sehr echauffiert. Es gab die eine oder
andere Forderung aus unseren Reihen, dass Sie die
Spende zurückgeben. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass Sie sich diese Spende aufgrund dessen,
was Sie an Steuersenkungen für Reiche vereinbart haben, redlich verdient haben, meine Damen und Herren
von der FDP.
({5})
Sie sind auch ziemlich skrupellos, was die entsprechende Benennung angeht.
Herr Koppelin, Sie waren jahrelang dafür zuständig,
hier Sparbücher vorzulegen. Dieses Sparbuch der FDP
habe ich in diesem Jahr vermisst. Das ist ja auch kein
Wunder. Sie hätten es nur dann vorlegen können, wenn
Sie zumindest die Seiten herausgerissen hätten, auf denen es um das Entwicklungshilfeministerium und die
Einsparung von Parlamentarischen Staatssekretären und
Staatssekretären geht. Aber Sie wollten nicht mehr einsparen, weil Sie jetzt selbst an der Macht partizipieren
können. Es ist auch kein Wunder, dass das ThomasDehler-Haus, die FDP-Zentrale, kaum noch besetzt ist;
denn alle sind in der Regierung. Darum kommt der Generalsekretär, den Sie gesucht haben, jetzt aus NRW,
nämlich der Kollege Lindner.
Durch Herrn Lindner wird noch einmal sehr deutlich
und offenbar, welches Staatsverständnis Sie haben.
Wenn Herr Lindner vom Staat als einem „teuren
Schwächling“ spricht - ausgerechnet Herr Lindner, der
jetzt 31 Jahre alt ist und schon mit 21 Jahren im Parlament war, also bereits seit zehn Jahren von den Steuerzahlern bezahlt wird, stellt den Staat infrage! -, dann ist
das schon bezeichnend für das, was dahintersteckt.
({6})
Wir haben ein grundsätzlich anderes Staatsverständnis, und das ist begründet. Ihre Klientel ist mitverantwortlich für die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir
jetzt zu bewältigen haben. Wir Sozialdemokraten sind
froh, dass wir in den letzten Jahren einen starken, handlungsfähigen Staat hatten, der das Schlimmste verhindert
hat. Ohne einen starken Staat wäre dies nicht möglich
gewesen.
Übrigens gilt - das ist bei Ihnen noch nicht angekommen; mit dieser Feststellung werde ich schließen -:
({7})
Nur die Reichen, also Ihre Klientel, können sich einen
schwachen Staat leisten. Die allermeisten Menschen in
diesem Lande brauchen einen handlungsfähigen Staat.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
alte Jahrzehnt endete mit einer internationalen Finanzund Wirtschaftskrise und in der Bundesrepublik
Deutschland mit einem Einbruch der Wirtschaft von
5 Prozent - ein einmaliger Vorgang in der Geschichte
unseres Landes. Das neue Jahrzehnt beginnt hier im Parlament in der Tat mit der Debatte über einen Bundeshaushalt mit der höchsten Neuverschuldung mit über
85 Milliarden Euro - auch das natürlich ein Vorgang von
großer Bedeutung. Ich sage Ihnen: Wer nicht sieht, dass
das eine mit dem anderen direkt verknüpft ist, wer nicht
sieht, dass eine Antwort auf minus 5 Prozent Wachstum,
die eine geringere Neuverschuldung mit sich bringen
würde, eine falsche Antwort im Geiste der 30er-Jahre
wäre und dass wir aus der Geschichte gelernt haben, der
braucht an dieser Debatte gar nicht weiter teilzunehmen.
({0})
- Ich rede hier zu allen, Frau Künast, natürlich auch zu
Ihnen.
({1})
Ich sage Ihnen: Sosehr wir uns alle eine andere Situation wünschen würden, so sehr sind wir dazu verpflichtet, der Realität ins Auge zu sehen.
({2})
Die Welt hat 2008/2009 am Abgrund gestanden. Wir haben es geschafft - wenn ich „wir“ sage, dann meine ich
auch die, die damals in der Großen Koalition Mitverantwortung getragen haben, und dann meine ich auch die
FDP als damalige Opposition -, international und national in diesem Hause die richtigen Lehren daraus zu ziehen, das Richtige zu tun und den Absturz in den Abgrund zu verhindern. Das war richtig, das war wichtig,
und das war ein Beitrag zur internationalen Stabilität.
({3})
Aber mit dem, was wir getan haben, ist die Krise noch
nicht vorbei. So wie wir klug den Abschwung gedämpft
haben, so geht es jetzt darum, klug aus dem Tal wieder
herauszukommen. Ich sage Ihnen: Das wird sicherlich
kontroverse Debatten hervorrufen. Aber es wird vor allen Dingen neues Denken erfordern.
({4})
Das ist nicht etwas - auch das will ich gleich ankündigen -,
worüber wir nur im Januar des Jahres 2010 debattieren,
sondern dieser Wirtschaftseinbruch wird uns über weite
Teile dieser Legislaturperiode beschäftigen. Wenn wir
es geschafft haben - so besagen es jedenfalls die Prognosen -, im Jahr 2013 wieder das Vorkrisenniveau zu
erreichen, dann haben wir nach heutigem Stand gute Arbeit gemacht. Das ist die Dimension der Aufgabe, vor
der wir stehen.
({5})
Wir haben uns vorgenommen, diese Krise nicht nur
irgendwie durchzustehen, sondern wir wollen, dass
Deutschland stärker aus dieser Krise herauskommt, als
es in sie hineingegangen ist. Das ist der Anspruch der
christlich-liberalen Koalition.
({6})
Dazu müssen wir uns anschauen, von welchen Entwicklungen weltweit die Dinge bestimmt sind. Ich
möchte drei Entwicklungen nennen: Es gibt einen weltweiten Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, weit
über unseren Kontinent hinaus. Es gibt die Sehnsucht
von immer mehr Menschen auf der ganzen Welt - ich
sage, das ist eine berechtigte Sehnsucht -, eigene Wege
zu gehen, Teilhabe zu erreichen, Wohlstand zu erwerben.
Wir befinden uns gleichzeitig in einem Informationszeitalter und haben völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten, durch die Wettbewerb, Arbeitsteilung und Ideenaustausch massiv vorangetrieben werden.
Es gibt eine zweite Entwicklung: Wir machen die Erfahrung von Abhängigkeiten und Knappheiten von Ressourcen, von denen wir früher dachten, dass sie uns
unendlich zur Verfügung stehen. Da geht es um Energieträger, um Rohstoffe, um stabile Klimaverhältnisse.
({7})
Wir sehen, dass andere Ressourcen, die wir in früheren
Zeiten für uns für reserviert hielten, zum Beispiel Information und Wissen, heute mit allen geteilt werden müssen. Das bedeutet, dass kein Land mehr alleine seinen
Wohlstand erhalten kann, dass kein Land mehr alleine
Sicherheit gewährleisten kann und dass wir in eine immer stärkere Abhängigkeit voneinander geraten.
Die dritte Entwicklung ist eine Suche nach Zusammenhalt und Schutz. Es gibt die Hoffnung der Menschen, dass der eigene Lebensentwurf im schnellen Wandel nicht umgeworfen wird,
({8})
dass Gemeinschaften zusammenbleiben, die Sehnsucht
nach Heimat, Vertrautheit und Sicherheit.
Wenn wir die richtigen Antworten auf diese Krise finden wollen, wenn wir wirklich stärker aus dieser Krise
herauskommen wollen, dann müssen wir diese Entwicklungen nicht nur verstehen, sondern sie auch als Chance
für unser Land begreifen. Auf diesem Fundament machen wir unsere Politik.
({9})
Dabei setzt die christlich-liberale Koalition auf Freiheit in Verantwortung. Unser Land ist durch Offenheit
und Freiheit in seiner 60-jährigen Geschichte erfolgreich
geworden. Unser Land ist immer dann erfolgreich gewesen, wenn es Vertrauen in den Einzelnen gesetzt hat, in
seine Fähigkeiten, seine Fertigkeiten und seinen Willen,
etwas zur Gemeinschaft beizutragen. Unser Land wurde
erfolgreich, weil es die Ordnung von Freiheit in Verantwortung in das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft umgesetzt hat.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
({0})
Das ist das Fundament des solidarischen Miteinanders in
unserer Gesellschaft.
Unsere Vorstellung von Freiheit und Verantwortung
hat uns in Bündnisse mit gemeinsamen Wertefundamenten geführt, wie die Europäische Union und die NATO.
Sie machen unser Land in einer vernetzten Welt auch in
Zukunft erfolgreich.
Heute stehen wir vor der Aufgabe, in schwierigen
Zeiten und in neuen Zusammenhängen genau diese Stärken weiterzuentwickeln und dabei das zu bewahren, was
uns stark gemacht hat, aber da zu erneuern, wo Erneuerung notwendig ist. Das ist die Aufgabe.
({1})
Ich möchte die Arbeit der christlich-liberalen Koalition an Beispielen deutlich machen, da, wo wir erneuern
werden.
({2})
Die christlich-liberale Koalition wird die Wirtschaftskraft unseres Landes
({3})
erneuern
({4})
durch nachhaltiges Wachstum; genau darüber können
wir streiten. Aber wir werden das tun, und ich glaube,
wir werden es gut machen.
({5})
Meine Damen und Herren, das beginnt mit den Sofortmaßnahmen in der Krise. Viele von ihnen haben wir
gemeinsam beschlossen. Aber wir haben in den ersten
Tagen unserer gemeinsamen neuen Regierung etwas dazugesetzt:
({6})
Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Ich sage Ihnen: Das ist eine wichtige Ergänzung dessen, was wir an konjunkturpolitischen Maßnahmen im vergangenen Jahr gemacht haben.
({7})
Wir haben erstens wichtige Korrekturen an der Unternehmensteuerreform vorgenommen, die nach der
Meinung jedes Fachmanns oder jeder Fachfrau - das
weiß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ganz
genau - prozyklische Effekte, also verstärkende krisenhafte Effekte, hatte. Diese wurden jetzt durch unsere
Maßnahme beseitigt. Deshalb muss man den Kommunen, wenn man ein wenig Redlichkeit hat,
({8})
sagen, dass durch diese Maßnahme keine Einnahmeausfälle stattfinden, sondern dass dadurch überhaupt die
Grundlage dafür gelegt wird, dass in den Kommunen
wieder Gewerbesteuereinnahmen fließen können. Das
ist die Wahrheit.
({9})
Wir haben zweitens Korrekturen bei der Erbschaftsteuerreform vorgenommen. Wir sind uns, glaube ich,
einig, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen,
die Familienunternehmen, in unserem Lande als das
Rückgrat unserer Wirtschaft bezeichnen können.
({10})
Wenn wir die gemeinsame Auffassung haben, dass der
Übergang von einer Generation auf die andere bezüglich
der Erbschaftsteuer so gestaltet werden sollte, dass man
Betrieben nicht mit Misstrauen, dass sie bestimmt nur
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen wollen,
sondern mit ein bisschen Vertrauen - das ist das Erfolgsrezept der sozialen Marktwirtschaft - begegnet, dann
musste man die Änderungen in der Erbschaftsteuer so
gestalten, wie wir es gemacht haben. Das haben wir getan.
({11})
Als dritten Punkt will ich die Entlastung von Familien
nennen. Dass man im Steuerrecht aus steuersystematischen Gründen Kinder wie Erwachsene behandeln
könnte, ich glaube, darüber sollte es keinen Streit geben.
Dass jetzt aber die Maßnahmen zur Verbesserung der
Kaufkraft, die wir gemeinsam eingeleitet haben,
({12})
die Erhöhung des Kindergeldes für Familien,
({13})
bei der Sozialdemokratie plötzlich mit dem Wechsel von
der Regierungsverantwortung in die Opposition sozusagen zu einer nicht vernünftigen Sache mutiert, damit
müssen Sie fertig werden und nicht wir. Wir haben etwas
für Familien getan, und das war notwendig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Sigmar Gabriel [SPD]: Das Betreuungsgeld wollten wir nie! - Jürgen Trittin [BÜND
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen, dass die ärmsten Kinder leer ausgehen!)
Was ist passiert? Wir hatten die Steuerschätzung im
Mai 2009, und wir hatten die Steuerschätzung im November 2009. Es ist dieser Bundesregierung gelungen,
einen Haushaltsentwurf vorzulegen, durch den das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet werden
konnte, ohne dass die Neuverschuldung höher ist als das,
was wir in der Großen Koalition im Sommer miteinander verabredet haben.
({0})
Warum ist das möglich gewesen? Das ist möglich gewesen, weil genau das eingetreten ist, was wir wollten.
Wir haben gehandelt. Wir haben Konjunkturpakete
und Maßnahmen zum Kurzarbeitergeld verabschiedet
und Steuerveränderungen im Mittelstandsbereich veranlasst. Wir haben weitere Kaufkraftstimulierungen angeregt. Genau daraus ist eine bessere Wirtschaftsentwicklung bis November entstanden, so wie wir das wollten.
({1})
Die hat uns Spielräume eröffnet, den nächsten Impuls zu
setzen, um für die Steuerschätzung im Mai wieder eine
bessere Entwicklung zu haben. Das ist unsere Philosophie. Wer diese Art, zu denken, nicht aufbringt, der muss
wirklich in sich gehen.
({2})
Es ist notwendig, dass wir diesen Kurs fortsetzen, dass
wir weiter auf Wachstum setzen und uns gleichzeitig mit
der Haushaltskonsolidierung befassen.
Meine Damen und Herren, natürlich spiegelt dieser
Haushalt - ich habe es am Anfang gesagt - die Sondersituation wider. Wenn Sie sich einmal redlich die europäischen Daten anschauen, dann merken Sie, dass für
Frankreich 2010 ein Defizit von minus 8,2 Prozent voraussagt wird - so tut es jedenfalls die EU -, Großbritannien 12,9 Prozent, Japan 8,9 Prozent und die USA
13 Prozent. Das, was wir hier zu bewältigen haben, ist
mit minus 5 Prozent nicht einfach, aber es zeigt auch,
dass wir gar nicht so schwach, sondern stark in diese
Krise hineingegangen sind und damit dieser Krise besser
trotzen können, wenn wir das Richtige tun.
({3})
Wenn es um die Frage geht, wer wie mit Geld umgehen kann, möchte ich daran erinnern, dass wir, bevor wir
2005 als Union in die Regierungsverantwortung kamen,
drei Jahre hintereinander, also 2003, 2004 und 2005, die
Situation hatten, dass die rot-grüne Bundesregierung die
Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages nicht eingehalten hat. Bei minus 0,2 Prozent hatten Sie ein Defizit
von über 4 Prozent. Das war die Wahrheit von Rot-Grün,
und nur durch den Regierungswechsel ist das wieder in
solide Bahnen gekommen.
({4})
Wir sichern mit unseren Maßnahmen die Grundlagen des Aufschwungs. Wir haben die Regelung für die
Kurzarbeit verlängert. Wir lassen die automatischen Stabilisatoren weiter wirken - im Übrigen einer der wichtigsten Posten in diesem Haushalt. Wir sind von einem
Darlehen für die Bundesagentur zu einem Zuschuss für
die Bundesagentur übergegangen, was nichts anderes
heißt - damit das für die Bürgerinnen und Bürger klar
ist -, als dass wir die Beitragszahler nicht mit den Folgen der Krise alleine lassen, sondern die Gesamtheit der
Steuerzahler die Folgen dieser Krise trägt. Das ist richtig, das ist solidarisch, und deshalb haben wir das gemacht.
({5})
Ein Zuschuss von 16 Milliarden Euro für die Bundesagentur für Arbeit und knapp 4 Milliarden Euro für den
Gesundheitsbereich, das sind 20 Milliarden Euro zur
Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und eine
solidarische Maßnahme aller Steuerzahler zur Bekämpfung der Krise.
({6})
Wir führen die Kredit- und Bürgschaftsprogramme
weiter, die Investitionen ermöglichen. Wir wissen, dass
die Versorgung der Wirtschaft, vor allem der kleinen und
mittleren Unternehmen, mit Krediten ein wichtiger, vielleicht der existenzielle Punkt dieses Jahres sein wird, um
den Aufschwung auch wirklich in die richtigen Bahnen
zu lenken. Wir haben dazu die staatlichen Warenkreditversicherungen aufgestockt, das KfW-Sonderprogramm
flexibilisiert und einen Kreditmediator eingesetzt.
({7})
Wir werden auch mit den Banken beständig im Gespräch
sein, um die Entwicklung weiterzuverfolgen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen durchzusetzen.
Mit unserem Haushaltsentwurf und unserer Koalitionsvereinbarung haben wir vor allen Dingen deutlich
gemacht, dass es notwendig ist, in die Zukunft zu investieren, weil wir stärker aus der Krise hervorgehen wollen. Deshalb gehen wir wichtige Schritte hin zu einer
Bildungsrepublik.
({8})
Bei aller Notwendigkeit, Ausgaben zu begrenzen, werden wir in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro
zusätzlich in Bildung und Forschung investieren.
({9})
Wir sind davon überzeugt, dass das Ziel, 10 Prozent
des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Bildung
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
auszugeben - 3 Prozent für Forschung und 7 Prozent für
Bildung -, richtig ist und über die Zukunft unseres Landes entscheidet.
({0})
Deshalb ist der Bund bereit - so haben wir es im Übrigen mit allen Ministerpräsidenten verabredet -, einen
größeren Anteil als den normalen Anteil zu zahlen, um
die Lücke zwischen den heutigen Bildungsausgaben und
den 7 Prozent zu füllen. Normalerweise beträgt der Anteil des Bundes an den Bildungsausgaben 10 Prozent.
Wir haben gesagt: Wir sind bereit, bis zu 40 Prozent zu
geben, um die Lücke zu füllen. Wir werden bis zum
Sommer mit den Ländern darüber verhandeln, wie wir
das sinnvoll und vernünftig tun können.
({1})
- Im Gegensatz zu Ihnen waren die Ministerpräsidenten
aller Bundesländer mit diesem Weg einverstanden.
({2})
Ich habe von neuem Denken gesprochen. Das heißt
auch: Die Art unseres Wachstums wird sich ändern. Es
geht um nachhaltiges Wachstum.
({3})
Dabei sage ich ausdrücklich: Deutschland muss an seine
Stärken anknüpfen. Das heißt, Deutschland wird seinen
Wohlstand nur sichern können, wenn es weiter eine
starke Exportnation bleibt. Alle Aussagen, wir brauchten
jetzt nicht mehr so viel zu exportieren, halte ich für
falsch. Vielmehr muss das, was unsere Stärken ausgemacht hat - Chemie, Automobilindustrie, Medizintechnik, Verkehrstechnik -, weiterentwickelt und nachhaltiger gemacht werden, aber darf niemals aufgegeben
werden. Das ist unsere Philosophie.
({4})
Deshalb setzen wir vor allen Dingen in den Bereichen
Forschung und Innovation in Kombination mit unseren
klassischen Stärken auf die Informationsgesellschaft.
Wir werden die Breitbandstrategie zielstrebig umsetzen.
Dazu wird es noch vieler Anstrengungen bedürfen. Wir
werden den Bereich E-Government deutlich stärken. Wir
werden insbesondere darauf achten, dass die Freiheit
durch die neuen Möglichkeiten des Internets nicht eingeschränkt wird. Arbeitnehmerdatenschutz, Stiftung Datenschutz und Datenschutz-Audit, all das sind Stichpunkte dazu.
Ein großer Schwerpunkt unserer Politik wird das
Thema Energie sein. Das ist ein Thema, bei dem es
ohne Kontroversen sicher nicht geht. Diese Frage muss
in einem Industriestandort aber notwendigerweise gelöst
werden. Wir brauchen ein in sich schlüssiges berechenbares Energiekonzept für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte. Anders wird der Industriestandort Deutschland
nicht erhalten werden können.
({5})
Die christlich-liberale Koalition setzt darauf, dass wir
möglichst schnell das Zeitalter der regenerativen Energien erreichen.
({6})
Dazu ist es dann aber auch notwendig, dass die dazu benötigte Infrastruktur erzeugt wird. Dazu ist es notwendig, dass wir die benötigten Brücken bauen, weil wir
nicht von heute auf morgen unmittelbar zu einer ausschließlichen Versorgung durch regenerative Energien
kommen können, ohne dass sich die Preise so entwickeln, dass die Industrie aus Deutschland verschwindet.
({7})
Das ist unsere Überzeugung. Genau das werden wir tun.
Für diese Brücken brauchen wir auch moderne Kohlekraftwerke. Jeder, der behauptet, dass das nicht sein
muss, der sorgt dafür, dass die alten Kohlekraftwerke
weiterbetrieben werden, dass unsere EVUs Kohlekraftwerke in Polen kaufen werden und dafür aus Deutschland verschwinden.
({8})
Das kann nicht die Antwort sein. Wir setzen auf neue
Kohlekraftwerke, und wir setzen darauf, dass das dann
auch ein Exportschlager in andere Teile der Welt werden
kann.
({9})
Wir werden im Sinne dieses in sich geschlossenen
Energiekonzepts darüber sprechen, ob wir verlängerte
Laufzeiten - ich sage: ja, wir brauchen das - für Kernkraftwerke brauchen,
({10})
natürlich unter Berücksichtigung aller Sicherheitsstandards. Aber es hat keinen Sinn, dass wir hier nicht der
Wahrheit ins Auge sehen.
({11})
Wir werden ein neues Forschungsprogramm für erneuerbare Energien entwickeln: Speichertechnologien,
intelligente Netztechnik und Biokraftstoffe der zweiten
Generation.
({12})
Wir wollen, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromobilität wird. Die Bundesregierung wird dazu am 3. Mai
dieses Jahres einen Gipfel durchführen
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einen Gipfel! Das ist ja der Gipfel!
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel Sigmar Gabriel [SPD]: Über allen Gipfeln ist Ruh!)
mit Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und der
Wissenschaft. Ich glaube, das ist richtig. Sie sollten mit
uns gemeinsam ein Interesse daran haben, dass wir hier
wieder führend sind, dass auch das Auto des 21. Jahrhunderts ein Auto ist, das in Deutschland gebaut wird, so
wie es mit den Autos des 20. Jahrhunderts war.
({0})
Nachhaltiges Wachstum heißt natürlich auch Fortschritte im internationalen Klimaschutz. Ich glaube, wir
sind uns einig, dass die Ergebnisse, die wir in Kopenhagen erreicht haben, enttäuschend waren. Deshalb sage
ich: Europa wird seine Vorreiterrolle weiterführen. Ich
sage auch: Deutschland hat sich bereits - das zeigt auch
die Koalitionsvereinbarung - entschlossen,
({1})
dass wir bis 2020 unsere CO2-Emissionen um 40 Prozent reduzieren werden. Aber ich sage auch: Ich bin sehr
dafür, dass die Europäische Union auf 30 Prozent geht.
Das kann nur passieren, wenn andere europäische Mitgliedstaaten das 30-Prozent-Ziel genauso unterstützen,
wie die Bundesrepublik Deutschland das tut. Was ich
nicht zulassen werde - ich glaube, darüber sollten wir
uns einig sein -, ist, dass wir von 30 auf 40 Prozent gehen, andere ihre Position nicht verändern und wir anschließend etwas versprechen sollen, was wir zum
Schluss realistischerweise nicht halten können. Deshalb
arbeiten wir daran, dass Europa sein Reduktionsangebot
von 30 Prozent gegebenenfalls, wenn die Mitgliedstaaten mitmachen, dann auch ohne dass andere folgen, unterfüttern kann. Solange wir das nicht können, sage ich:
30 Prozent Reduktion für Europa ja, aber nur wenn andere Teile der Welt genauso ambitionierte Verpflichtungen eingehen. Alles andere hilft dem Klima auf der Welt
nicht weiter.
({2})
Kopenhagen hat ein viel schwierigeres Thema aufgeworfen. Das werden Sie durch die Beschimpfung von
Regierungen allein nicht lösen. Dieses Thema heißt: Ist
es auf der Welt möglich, gibt es die Bereitschaft, dass
andere Länder bindende Vereinbarungen eingehen, so
wie wir das im Kioto-Protokoll getan haben? Wir, die
Europäische Union und auch andere entwickelte Industrieländer - die Vereinigten Staaten haben es nicht gemacht -, sind bindende internationale Verpflichtungen
im Rahmen der Klimarahmenkonvention eingegangen.
Die eigentliche Enttäuschung in Kopenhagen war, dass
die Schwellenländer gesagt haben, dass sie sich zum ersten Mal mit Verpflichtungen im Sinne der Verbesserung
der Energieeffizienz beschäftigen, aber unter keinen Bedingungen zustimmen, dass die Verpflichtungen bindend
im internationalen Sinne sind. Das hat das indische Parlament beschlossen. Das ist die starke Meinung von
China. Man ist nicht einmal bereit, eine internationale
Überwachung der nationalen Maßnahmen zuzulassen,
die Vergleichbarkeit bedeuten würde, weil diese Länder
sagen: Das ist ein Eingriff in unsere Souveränität. - Das
wischt man nicht einfach weg, indem man sich gegenseitig bezichtigt, schuld zu sein, sondern darüber muss generell gesprochen werden. Das ist ein dickes Brett, das
wir bohren müssen. Es weist uns auf den Kern globaler
Zusammenarbeit hin. Ich bin überzeugt, wir sind überzeugt: Es geht nur mit international verbindlichen Verpflichtungen, aber dann für alle. Daran müssen wir arbeiten.
({3})
Das ist die Aufgabe dieses Jahres, bis hin zur nächsten
Konferenz in Bonn und zur Konferenz in Mexiko am
Ende des Jahres. Wir können und werden also unsere
Wirtschaftskraft erneuern.
Wir wollen ein Zweites tun. Die christlich-liberale
Koalition will das Verhältnis von Bürger und Staat erneuern:
({4})
durch Stärkung der Eigenverantwortung, damit Sicherung der Handlungsfähigkeit des Staates und dadurch
Erhaltung der Solidarität in der Gesellschaft. Das ist der
Zusammenhang. Wer nicht auf die Eigenverantwortung
setzt, wird nur noch Mangel verwalten. Ohne Eigenverantwortung werden wirkliche Solidarität und ein handlungsfähiger Staat nicht möglich sein.
({5})
Deshalb setzen wir in allen Lebensbereichen darauf,
dass, wo immer das möglich ist, Entscheidungsfreiheit
besteht. Das beginnt bei der Familienpolitik. Wahlfreiheit ist das Credo. Wir schreiben den Menschen nicht
vor, wie sie leben sollen.
({6})
Deshalb wird der Bund weiter seiner Aufgabe nachkommen, den Ausbau der Betreuung von Kindern unter
drei Jahren fortzusetzen.
({7})
Ich sage, an die Kommunen gerichtet, allerdings
auch: Es ist nicht nachvollziehbar, wenn geäußert wird,
dass das vereinbarte Geld nicht ausreicht. Die Kommunen rechnen jetzt so, als würden sie den Rechtsanspruch
ab dem ersten Lebensjahr für das erste und zweite Lebensjahr so auslegen, als wenn jedes Kind ganztägig in
einer Betreuungseinrichtung untergebracht wäre. Das erscheint uns nicht realistisch.
({8})
Aber wir werden darüber im Gespräch bleiben. Wir wollen das.
Jetzt ein Wort zum Betreuungsgeld. Ich sehe die Probleme, die damit verbunden sind.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
({0})
Wir haben dieses Thema noch nicht abschließend behandelt. Wir wollen das Betreuungsgeld im Übrigen erst
2013 einführen.
({1})
Aber dass aus der Bezuschussung der Betreuung von
Kleinkindern, die nicht zu Hause betreut werden, im
Sinne der Wahlfreiheit vielleicht auch der Gedanke erwächst, Familien zu unterstützen, die sich ganz selbstbewusst für die Betreuung zu Hause entscheiden,
({2})
kann im Sinne der Wahlfreiheit nicht grundsätzlich
falsch sein.
({3})
Deshalb werden wir einen Weg finden, der auf der einen
Seite falsche Effekte vermeidet
({4})
und auf der anderen Seite die Wahlfreiheit stärkt.
({5})
Im Verhältnis von Bürger und Staat spielt das Thema
Bürokratie eine zentrale Rolle.
({6})
Viele Menschen fühlen sich entmutigt. Deshalb werden
wir die Arbeit des Normenkontrollrates nicht nur fortsetzen und nicht nur die Berichts- und Statistikpflichten um
25 Prozent reduzieren,
({7})
sondern wir werden auch in umfassenden Pilotprojekten
mit den Ländern bei Elterngeld und Wohngeld Erfahrungen sammeln: Wie kann man Bürokratie, auch für die
Bürger fassbar, reduzieren? Dadurch werden wir auch
die Arbeit des Normenkontrollrates stärken.
Das Thema „Bürger und Staat“ wird natürlich ganz
wesentlich auch durch die Steuerpolitik bestimmt.
({8})
Ich finde, es ist eine sehr merkwürdige Entwicklung der
letzten drei Monate, dass der Steuerzahler - ({9})
- Nein. Dazu muss ich wirklich sagen: Die Wahlprogramme waren transparent.
({10})
Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, die das schon
seit zehn Jahren nicht mehr gemacht haben, halten wir
uns an unsere Wahlprogramme.
({11})
Jeder wahlberechtigte Bürger in Deutschland konnte lesen, was die Union vorhatte.
({12})
- Ich glaube, der Vorsitzende der SPD kommt sonst
nicht oft zu Wort.
({13})
Irgendwie hat man den Eindruck, er hat in der SPD nicht
genug Möglichkeiten, zu reden.
Zu Ihrer großen Freude konnten Sie im Wahlkampf
sogar verfolgen, dass es leichte Differenzen zwischen
CDU und CSU gab. Sie haben auch gesehen, dass sich
das FDP-Programm von den Programmen der Unionsparteien unterschieden hat. Aber in allen Programmen
war Steuersenkung ein Thema, und zwar nicht irgendeine Steuersenkung, sondern vor allen Dingen eine
Steuerstrukturreform, verbunden mit einer einfacheren
Gestaltung unseres Steuersystems
({14})
- nach 60 Jahren erkennbar kein so einfaches Unterfangen - und mit dem Willen, gerade die Ungerechtigkeiten
bei kleinen und mittleren Einkommen abzubauen.
({15})
Ich kann, ehrlich gesagt, nur schwer verstehen,
({16})
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
dass Parteien, die sich allen Bereichen der Bevölkerung
verpflichtet fühlen, überhaupt nicht mehr darüber sprechen.
({0})
Alles, was wir hier vereinbaren - ob wir die erneuerbaren Energien fördern, ob wir das Rentensystem unterstützen, das Gesundheitssystem oder sonst etwas -, beruht auf Steuereinnahmen des Staates. Deshalb brauchen
wir motivierte Bürgerinnen und Bürger, die wissen, warum sie Steuern zahlen, und die finden, dass es dabei gerecht zugeht. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
({1})
Es liegt in der Natur der Sache, dass man darüber
streitet. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, dass es im
Einkommensteuersystem Ungerechtigkeiten gibt, die
beseitigt werden müssen, und dass Entlastungen möglich
sind, notwendig sind und sogar Wachstum schaffen. Das
ist unsere Überzeugung.
({2})
Wir werden zwischen November und Mai tun, was
wir zwischen dem letzten Mai und dem November getan
haben: Wir werden auf die Steuerschätzung warten.
Jetzt sagen manche: Wir wissen doch, was herauskommt, wenn wir wissen, wie das Wachstum ist. - Das
ist, wenn man nur auf das Wachstum schaut, im Prinzip
richtig. Die Überraschung, die wir zwischen Mai und
November erlebt haben, kam gerade daher, dass keiner
in der Lage ist, bei einem Wachstum von minus
5 Prozent die Entwicklung des Arbeitsmarktes zu prognostizieren. 100 000 Arbeitslose mehr oder weniger bedeuten für den Haushalt eine Differenz von 2 Milliarden
Euro. So können sich erhebliche Verschiebungen ergeben, die Veränderungen im Haushalt nach sich ziehen.
Die Wachstumsprognosen sind völlig klar, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Wirkung der automatischen Stabilisatoren und vieles andere aber nicht. Deshalb warten wir die Steuerschätzung ab - sie findet
bekanntermaßen noch vor der NRW-Wahl statt -, und
dann werden wir den Gesetzentwurf für den Haushalt
2011 vorbereiten. Die Steuerstrukturreform bleibt weiter
auf der Tagesordnung.
Von der Entlastung im Umfang von 24 Milliarden
Euro, die wir vereinbart haben, haben wir mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz bereits einen Teil umgesetzt. Warten wir die Steuerschätzung ab; dann wissen
wir, was für Aufgaben noch vor uns liegen.
Ein weiterer Punkt - das müssen wir zusammenbringen; das ist das Schwierige an unserer Arbeit - ist, dass
das Verhältnis der Bürger zum Staat geprägt wird von
der Frage, ob wir nachhaltige, solide Finanzen haben.
Bei der Schuldenbremse war die Sozialdemokratie nun
wirklich nicht der Treiber - ich würde mal sagen, die
Treiber der Schuldenbremse sitzen eher hier bei uns -;
auch wenn man sagen muss: Sie haben dankenswerterweise mitgemacht, meine Damen und Herren.
({3})
- Der Schuldenbremse.
Wir haben - parteiübergreifend; sonst kann man in
Deutschland die Verfassung nicht ändern - eine Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen. Jeder, der
in diesem Hause sitzt, weiß, dass man nicht sehenden
Auges gegen ganz spezifische Festlegungen des Grundgesetzes verstoßen kann. Das wissen wir alle; da brauchen Sie uns nicht zu verklagen. Die Schuldenbremse ist
so etwas wie eine Leitplanke unserer gesamten Arbeit.
Die Schuldenbremse beginnt 2011 zu wirken.
({4})
Die politische Kunst - zu dieser Art von Politik sind
wahrscheinlich nur wir fähig, so wie wir jetzt regieren ({5})
besteht darin, Wachstum und solide Finanzen miteinander zu vereinbaren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Aufgabe ist nicht einfach; aber wir werden sie lösen.
Die internationale Krise hat gezeigt, dass der Staat
Verpflichtungen hat. Wenn Freiheit und Verantwortung
für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar sein sollen,
dann bedarf es Regeln. Regeln haben auf den internationalen Finanzmärkten gefehlt; da herrschte Freiheit
ohne Verantwortung, das waren Exzesse. Deshalb geht
es jetzt darum, die Regeln, soweit sie im G-20-Prozess
vereinbart sind, in diesem Jahr umzusetzen. Einiges ist
in Gang gekommen; Wolfgang Schäuble hat gestern darüber gesprochen. Es geht - das gilt insbesondere für die
G-20-Treffen, die in Kanada und in Südkorea stattfinden
werden - darum, Wege zu finden, zu verhindern, dass
Banken so groß sind oder so verflochten sind, dass sie
uns immer wieder sozusagen erpressen können. Es gibt
verschiedene Modelle. Auch Deutschland wird mit einem Modell in die Debatte gehen. Wir müssen darauf
achten - das ist die größte Herausforderung bei der Bewältigung der Krise -, dass wir eine international abgestimmte Exit-Strategie finden. Es nützt nichts, wenn
Deutschland die Schuldenbremse hat, und es nützt immer noch nichts, wenn sich ganz Europa an den Stabilitäts- und Wachstumspakt hält, wenn zugleich in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Japan oder anderswo
eine völlig andere Politik betrieben wird. Was hat uns
die Krise denn gezeigt? Sie ist nicht vorrangig von
Europa ausgegangen. Sie hat uns gezeigt: Wenn sich ein
großer Spieler in dem globalen Wettbewerb nicht an Regeln hält, dann müssen alle für die Folgen aufkommen.
Deshalb wird es eine der herausragenden Aufgaben sein,
nicht nur mit der Europäischen Zentralbank und der
Europäischen Kommission eine Exit-Strategie zu verein
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
baren und nicht nur das zu tun, was Deutschland einzigartig in seinem Grundgesetz verankert hat, sondern auch
dafür zu sorgen und alles daranzusetzen, so schwierig es
auch ist, dass andere dem folgen.
Ich nenne einen dritten Punkt, dem sich die christlichliberale Koalition verpflichtet fühlt.
({0})
Wir müssen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft erneuern: zwischen Jung und Alt, zwischen Kranken und Gesunden,
({1})
zwischen Ärmeren und Wohlhabenderen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen Ost und
West. Auch geht es um den internationalen Zusammenhalt in unseren Bündnissen.
({2})
Nur durch diesen Zusammenhalt ist Solidarität in unserer Gesellschaft möglich.
Dazu gehört natürlich die Frage, wer Hilfe leistet und
wer der Hilfe bedarf.
({3})
Da ist die Diskussion über die Frage natürlich essenziell,
wie wir das Arbeitslosengeld II, bekannter unter
Hartz IV, gestalten. Ich sage ganz deutlich: Ich glaube,
dass die rechtlichen Rahmenbedingungen, was den
Zwang, die Aufgabe oder die Notwendigkeit der Arbeitsaufnahme anbelangt, eindeutig ausreichend sind.
({4})
Wer eine zumutbare Arbeit nicht annimmt, hat heute
Sanktionen zu befürchten.
({5})
- Heute rede ich hier, Herr Gabriel.
Die Frage, ob die Umsetzung unserer rechtlichen Regelungen überall ausreichend erfolgt, muss man sich immer wieder anschauen. Da gibt es zwei Aufgaben:
Die eine ist, möglichst viele Arbeitsangebote zur
Verfügung zu stellen. Da wird immer wieder über Optionen diskutiert, zum Beispiel in vielen neuen Bundesländern über sogenannte Bürgerarbeit oder anderes. Diese
Diskussion werden wir fortsetzen. Aber es gelingt uns
heute noch nicht - das muss man ganz einfach sagen -,
jedem, der Arbeit sucht, wirklich eine Arbeit anzubieten.
Wir müssen dabei aber auch aufpassen, dass wir nicht in
eine Situation geraten, in der wir den mittelständischen
Unternehmen Arbeit wegnehmen, weil wir zu viel staatlich geförderte Arbeit anbieten. Auch diese Diskussion
muss geführt werden; wir führen sie ja auch schon seit
vielen Jahren.
Die andere Aufgabe ist folgende: Die Anreize, Arbeit
aufzunehmen, sind mit Sicherheit noch nicht optimal geregelt. Sie alle kennen die Meinung, dass man 100 Euro
dazuverdienen könne. Viele, die Arbeitslosengeld II bekommen, sagen, mehr dürften sie ja nicht. Diese Frage
der Hinzuverdienstmöglichkeiten muss so neu geregelt
werden - dies werden wir in der ersten Hälfte dieses Jahres tun -, dass Anreize gesetzt werden, ohne Vollbeschäftigung zu schwächen, was wir auch nicht wollen.
Das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe.
({6})
Wir haben das Schonvermögen vergrößert; dies wird
jetzt im Parlament debattiert werden. Ich glaube, das war
eine richtige Entscheidung, zu der viele sehr lange nicht
bereit waren. Wir müssen gerade auch für Alleinerziehende durch Kinderbetreuung - ({7})
- Okay, dann muss ich vier Jahre nicht richtig hingehört
haben, wenn mich der tägliche Ruf aus der SPD nach der
Erhöhung des Schonvermögens nicht erreicht hat. Dies
halte ich allerdings für relativ unwahrscheinlich.
Wir müssen darüber diskutieren, wenn es um Armut
in unserem Lande geht, ob die Frage von gleichen Chancen immer eine Frage nur von Geld ist oder ob sie nicht
auch eine viel kompliziertere Frage ist. Ich sage Ihnen
ganz eindeutig: Wir werden uns nicht damit abfinden - ({8})
- Es geht nicht ohne Geld; Geld ist sogar sehr wichtig.
Aber wer glaubt, er könne das Problem nur mit Geld lösen und es gebe sonst kein anderes Problem zu lösen, der
arbeitet an der Aufgabe vorbei. So einfach ist das. Darüber brauchen wir uns auch gar nicht aufzuregen.
({9})
Ich sage ganz eindeutig: Wir finden uns mit Arbeitslosigkeit nicht ab. Wir wollen und glauben auch, dass es
möglich ist, im nächsten Jahrzehnt Vollbeschäftigung zu
erreichen.
({10})
Wir wollen jedem eine Chance geben, weil sich die freiheitliche Entfaltung des Menschen durch selbstverdientes Geld viel besser vollziehen kann. Das wollen wir erreichen.
Wir wollen Solidarität in unserer Gesellschaft: im
Rentensystem, im Gesundheitssystem und in der Pflege.
Aber wer an dem demografischen Wandel, an den Veränderungen des Altersaufbaus unserer Gesellschaft einfach
vorbeisieht, wer so tut, als müsse und könne man die
Rente mit 67 Jahren rückgängig machen, wer so tut, als
könne man die Lohnzusatzkosten einfach an die Arbeits
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
kosten gekoppelt lassen, wer so tut, als brauche man
keine Kapitaldeckung in der Pflege, der lebt nicht im
Sinne eines nachhaltigen Lebens, sondern der lügt sich
in die Tasche. Das ist die Wahrheit.
({0})
Deshalb werden wir sowohl das Thema der Kapitaldeckung in der Pflege angehen als auch uns die Frage
stellen, wie wir langfristig unser Gesundheitssystem
weiterentwickeln.
({1})
Ich sage ganz deutlich: Diese christlich-liberale Koalition steht dafür, dass es keine Zweiklassenmedizin gibt,
({2})
dass jeder, der medizinische Leistungen braucht, sie
auch bekommt, aber in einer Art und Weise, die die Beschäftigungsmöglichkeiten in unserem Lande nicht unterminiert. Dieser Aufgabe stellen wir uns.
({3})
Wir werden sie lösen, so wie wir als Koalition aus Union
und FDP die großen Sozialsysteme dieses Landes auf
den Weg gebracht haben.
({4})
Auch das ist die Wahrheit. In dieser Tradition bewegen
wir uns.
({5})
Wir werden der Integration von Zugewanderten in unserem Lande weiter eine große Bedeutung zumessen.
Wir haben als eine der ersten Maßnahmen dafür gesorgt,
dass die Anerkennung von Berufsabschlüssen ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger verbessert
wird, ein Thema, das schnell angegangen werden muss.
Wir werden im 20. Jahr der deutschen Einheit die Solidarität zwischen Ost und West weiterentwickeln.
({6})
Der Solidarpakt gilt - ich sage das ausdrücklich -, weil
die strukturellen Probleme der neuen Bundesländer nach
wie vor andere sind als in den alten Bundesländern.
Wir werden natürlich auch den Zusammenhalt nicht
nur in unserer Gesellschaft, sondern insgesamt auch in
unserer Außen- und Sicherheitspolitik deutlich machen.
Ich werde nächste Woche in einer Regierungserklärung
zu Afghanistan darlegen, wie wir uns die nächste Etappe
des Afghanistan-Einsatzes vorstellen. Wir werden
schwierige Verhandlungen mit dem Iran führen, bei denen es um Sanktionen gehen wird. Wir werden eine neue
Strategie der NATO auszuarbeiten haben. Aber wir werden unseren Bündnisverpflichtungen gerecht werden.
Die christlich-liberale Koalition will ein starkes
Deutschland, ein lebenswertes Deutschland und bei der
menschlichen Gestaltung der Globalisierung an vorderster Stelle mitarbeiten. Deshalb erneuern wir unsere Wirtschaftskraft, das Verhältnis von Bürger und Staat und
den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Vor zwei Jahrzehnten waren wir alle hier Zeugen
eines unglaublichen Vorgangs, nämlich des Endes des
Kalten Krieges, des Falls der Mauer und des Sieges der
Freiheit auf unserem Kontinent. Aus Gegnern wurden
Partner. Am 3. Oktober dieses Jahres werden wir
20 Jahre deutsche Einheit feiern. Man darf sagen:
Deutschland und Europa haben ihre Chance in der damaligen historischen Situation genutzt.
Vor zehn Jahren, im ersten Jahrzehnt unseres
21. Jahrhunderts, haben wir festgestellt, obwohl manche
in den 90er-Jahren schon vom Ende der Geschichte gesprochen haben, dass neue Bedrohungen, neue Herausforderungen auf uns zukommen. Der 11. September
2001 war sicherlich das markanteste Beispiel für asymmetrische Bedrohung, Terrorismus und religiösen Extremismus.
Jetzt stehen wir an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts. In diesem neuen Jahrzehnt, im zweiten Jahrzehnt
des 21. Jahrhunderts, wird sich entscheiden, wie unsere
Gesellschaft mit diesen Bedrohungen und mit diesen Gefahren umgeht. Ich finde, die Art und Weise, wie wir bisher durch die schwerste Wirtschaftskrise seit 60 Jahren
gekommen sind, macht uns Mut, dass wir das schaffen
können:
({7})
durch neues Denken, durch interessante Vorschläge
und durch harte Debatten. Das befruchtet unsere Diskussionskultur, aber es müssen ehrliche und vernünftige
Debatten sein.
Wenn wir das in Angriff nehmen, dann darf ich Ihnen
jedenfalls heute Morgen mitteilen: Die christlich-liberale
Koalition stellt sich diesen Aufgaben mit Mut und Zuversicht,
({8})
und wir glauben, wir können das schaffen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
festgestellt, dass Sie sich nach dem völligen Fehlstart der
Bundesregierung wirklich lange Beifall klatschen mussten, um sich aufzumuntern. Aber das ändert nichts daran.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Fangen wir doch mit Ihrer Militäraußenpolitik an,
also mit Afghanistan. Was mich in den letzten Wochen
entsetzt hat, ist der Umgang mit der Vorsitzenden der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Frau Käßmann.
({0})
Ich sage Ihnen auch, warum. Herr Klose hat gesagt,
wenn man die Truppen der NATO aus Afghanistan abzöge, dann hätten neun Wochen später die Taliban wieder die Macht. Wenn das stimmt, lieber Herr Gabriel,
dann frage ich Sie, was Sie eigentlich neun Jahre lang
gemacht haben, wenn sich nichts geändert hat und nach
neun Wochen wieder die alten Kräfte die Macht hätten.
Wozu wurde dann neun Jahre dieser Krieg geführt? Das
ist doch skandalös.
({1})
Ein weiterer Punkt ist, dass Ralf Fücks von den Grünen, Herr Robbe von der SPD und auch Unionsabgeordnete auf eine Art und Weise über Frau Käßmann hergefallen sind, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte,
und zwar aus einem Grunde: Wenn sich nicht einmal
mehr eine führende Kraft einer christlichen Kirche für
den Frieden engagieren darf und Sie ihr vorwerfen, dass
sie nicht für Krieg ist, dann ist das ein einzigartiger
Skandal.
({2})
Ich verlange von einem christlichen Menschen, dass er
sich besonders für Frieden engagiert.
Im Übrigen kennen wir inzwischen den NATOBericht vollständig. Herr zu Guttenberg, wenn Sie ihn
gelesen haben - den wollen Sie ja gelesen haben -, dann
ist mir völlig schleierhaft, wie Sie den Kunduz-Einsatz
jemals als angemessen bezeichnen konnten. Aus dem
Bericht geht ganz klar hervor, dass er völlig unangemessen war, und zwar sowohl moralisch als auch völkerrechtlich.
({3})
Der Präsident von Afghanistan, Karzai, will eine politische Versöhnung selbst mit bestimmten Taliban. Er
will einen politischen Prozess. Ohne einen politischen
Prozess werden die Probleme in Afghanistan auch nicht
zu lösen sein. Ihre ewige Debatte darüber, die Zahl der
Soldaten aufzustocken, hilft Afghanistan nicht. Wir
brauchen endlich zivile Hilfe, und deshalb muss die Armee - das gilt für unsere wie auch für die anderen Armeen - aus Afghanistan abziehen.
({4})
Eines hat die Linke erreicht, nämlich dass jetzt alle
über den Abzug debattieren. Das war noch in der letzten
Legislaturperiode anders. Wenn Sie alle über einen Abzug debattieren, dann muss man allerdings genau hinhören. Herr Bundesaußenminister Westerwelle, ich höre
Ihnen, wie Sie wissen, genau zu. Sie haben gesagt, dass
in dieser Legislaturperiode „eine Abzugsperspektive in
Sicht kommen“ müsse. Darf ich das für die Bevölkerung
übersetzen? Das heißt, Sie wollen bis 2013 wissen, ob
und wann der Abzug beginnt, also sagen wir mal 2020
oder 2025. Das ist dann eine Perspektive.
Nein, Herr Westerwelle, so kommen wir nicht weiter.
Ziehen Sie die Bundeswehr ab, und zwar noch in diesem
Jahr 2010! Das wäre ein konkreter Schritt.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in einer der schwersten Krisen seit
1931/32 leben. Die Exporte sind eingebrochen. Der
Rückgang der Wirtschaftsleistung in Höhe von 5 Prozent
ist gigantisch. Das hatten wir noch nie in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland.
Nun analysieren wir einmal, was mit der Beschäftigung in den Jahren zuvor und jetzt passiert ist. Es handelt sich leider um ein Gemeinschaftswerk von SPD,
Grünen und Union sowie nun langsam auch von der
FDP. Warum? Was ist passiert? Es wird immer über Arbeitslose gesprochen und nicht über die Realitäten. Die
Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat von 1999 bis 2008
um 1,4 Millionen abgenommen. Es sind also nicht etwa
mehr geworden, sondern es sind 1,4 Millionen weniger
geworden. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat in der
gleichen Zeit um 1,3 Millionen zugenommen. Sie liegt
nun bei 5 Millionen. Die Zahl der Minijobs hat in der
gleichen Zeit um 2,5 Millionen zugenommen. Sie liegt
jetzt bei 7,1 Millionen. Die Zahl der Mehrfachbeschäftigungen hat sich verdoppelt. Die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse ist um 50 Prozent gestiegen.
Ein Viertel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland
arbeitet im Niedriglohnsektor. Das ist prozentual der
größte Anteil im Vergleich zu allen anderen Industrieländern. Wir haben selbst die USA diesbezüglich überholt.
Ich sage Ihnen: Das Ganze ist ein Skandal. Es löst nicht
die Probleme, sondern verschärft sie.
({6})
Die OECD, keine linke Organisation, hat jetzt festgestellt, dass die Spaltung zwischen Vollbeschäftigten und
prekär Beschäftigten nirgendwo so tief ist wie hier in
Deutschland. Was wir dringend brauchen - das verweigert Ihre Koalition -, ist ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn.
({7})
Denn die EU-Richtlinien hören auf zu wirken. Angesichts der vorhandenen Strukturen benötigen wir Mindestgarantien im sozialen Bereich. Ich verstehe die FDP
nicht. Sie können doch selbst den Hoteliers mal erklären,
dass wir Mindestlöhne in Deutschland brauchen. Warum
geben Sie sich nicht einen Ruck und machen das, was
21 andere EU-Länder längst beschlossen haben? Nur in
Deutschland gibt es keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das ist ein Skandal.
({8})
Nun komme ich zur Leiharbeit, eingeführt von SPD
und Grünen und nun von Ihnen ausgebaut. Sie wollen sie
nicht abschaffen; das haben Sie gesagt, Frau Bundeskanzlerin Merkel. Darf ich Sie daran erinnern, was eigentlich bei Schlecker passiert ist? - Schlecker hat seine
Leute entlassen und in eine Zeitarbeitsfirma gesteckt.
Dort verdienen die Menschen viel weniger, obwohl sie
die gleiche Arbeit leisten. Soll das die Entwicklung in
der Bundesrepublik Deutschland werden, oder ist das ein
Skandal? Wenn das ein Skandal ist: Warum stellen Sie
sich dann nicht hierhin und sagen Schlecker, dass es ein
Skandal ist und dass wir das nicht dulden können?
({9})
Der SPD-Abgeordnete Brandner hat damals gesagt, man
wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausführen. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Steinmeier: Die
Leiharbeit ist voll in der Schmuddelecke drin. Dafür haben Sie mit gesorgt.
({10})
Jetzt gibt es aber eine Lösung. Frau Bundeskanzlerin,
wenn Sie die Leiharbeit nicht abschaffen wollen, können
wir uns durchaus verständigen. Machen wir es wie in
Frankreich. Das ist kein sozialistisches Beispiel. Das
müsste doch erträglich sein. Was macht man in Frankreich? In Frankreich sagt man einer kleinen Firma, deren
Elektromeister erkrankt ist: Gut, ihr könnt euch einen
Elektromeister ausleihen; aber dem müsst ihr dasselbe
plus 10 Prozent zahlen. Es ist für euch teurer. - Weil es
teurer ist, bekommt es den Charakter einer absoluten
Ausnahme. Nur bei uns sparen die Unternehmen, wenn
sie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter beschäftigen. Dadurch kommt Missbrauch zustande und werden die Belegschaften so lange unter Druck gesetzt, bis sie einverstanden sind, die Löhne zu reduzieren. Genau das geht
nicht. Dagegen werden wir strikt kämpfen, und zwar
überall, auch im Landtagswahlkampf von NordrheinWestfalen, um das hier klar und deutlich zu sagen.
({11})
Rot-Rot in Berlin hat übrigens etwas sehr Positives
erreicht; darüber wird nicht gesprochen. Rot-Rot hat die
sogenannten Christlichen Gewerkschaften verklagt, die
sittenwidrige Tarifverträge gerade mit Zeitarbeitsfirmen
abgeschlossen haben. Nun hat man erreicht, dass die Gerichte gesagt haben: Das geht nicht; das ist unzulässig. Es steht allerdings noch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus. Wenn das Bundesarbeitsgericht das
aber bestätigt - das hoffe ich sehr -, dann stehen Sie,
Frau Bundeskanzlerin Merkel, in der Verantwortung, das
bundesweit zu überprüfen. Wenn man das Ganze bundesweit überprüfte und alle sittenwidrigen Verträge abschaffte, dann hätten nicht nur die Belegschaften etwas
davon, weil sie mehr verdienten, sondern dann nähmen
unsere Sozialkassen 500 Millionen Euro mehr ein, die
ihnen zuvor durch die völlig sittenwidrigen Verträge, die
dort abgeschlossen wurden, entzogen worden sind.
({12})
In meiner Bürgerinnen- und Bürgersprechstunde war
ein Mann - es ist für Sie vielleicht interessant, sich das
anzuhören, Frau Merkel und Herr Westerwelle -, der
Hartz-IV-Empfänger ist. Bei ihm hat man jetzt eine Individualmaßnahme beschlossen, die noch für 200 andere
Menschen gilt. Zu dieser Individualmaßnahme gehört,
dass er fünf Monate unentgeltliche Praktikumsarbeit
leisten muss; da ist nichts mit Zuverdienst. Wissen Sie,
was Sie da organisieren? - Sie organisieren damit, dass
die Unternehmer Arbeitskräfte kostenlos bekommen.
Das baut die Vollzeitbeschäftigung ab. Sie schaffen mit
solchen Maßnahmen keine neuen Arbeitsplätze, sondern
schaffen sie geradezu ab. Hören wir doch endlich damit
auf!
({13})
Die FDP schimpft immer gegen zu viel Staat und zu
viele Subventionen. Ich wundere mich, wieso Sie bei der
Aufstockung nie schimpfen. Das ist doch die höchste
Form fehlgeleiteter Subventionen. Aufstockung bedeutet
nichts anderes, als dass Sie dem Unternehmer sagen:
Zahl so wenig Lohn, wie du willst, die Differenz übernimmt der Staat. - Auch das finden Sie gut, Frau Bundeskanzlerin Merkel. Ich finde, das ist ein Skandal.
Wenn jemand Vollzeitarbeit leistet, dann hat er Anspruch
auf einen Lohn, mit dem er in Würde leben kann, nicht
einen Anspruch darauf, zum Sozialamt geschickt zu
werden.
({14})
Frau von der Leyen ist jetzt verpflichtet, die Rente ab 67
zu überprüfen. Sie hat schon gesagt, sie wird sie zwar
überprüfen, aber es wird dabei bleiben. Frau von der
Leyen, wenn Sie schon mit dem Ziel überprüfen, dass alles dabei bleibt, dann können Sie es auch gleich bleiben
lassen.
({15})
Es wird immer gesagt, die Älteren müssten länger arbeiten. Wissen Sie aber, wie viele der 63- bis 64-Jährigen heute beschäftigt sind? - 7,4 Prozent! Über 90 Prozent sind ohne Beschäftigung. Und Sie sagen diesen
über 90 Prozent, sie sollten gefälligst zwei Jahre länger
arbeiten. Das ist in einer leicht altersrassistischen Gesellschaft geradezu ein Hohn!
({16})
Wir haben gerade eine Kindergelderhöhung erlebt.
Herr Schäuble hat sich sehr aufgeregt, als ich gesagt
habe, dass die Hartz-IV-empfangenden Eltern für ihre
Kinder nicht einen Cent mehr bekommen. Er hat gesagt,
sie bekämen einen anderen Kinderzuschlag. Man darf
aber nicht vergessen, dass dieser gar nicht erhöht worden
ist. Wenn Sie das Kindergeld für alle erhöhen, warum erhöhen Sie dann nicht wenigstens auch den Kinderzuschlag für Hartz-IV-Empfänger? Dazu habe ich keine
Erklärung gehört. Das Ganze liegt jetzt beim Bundesverfassungsgericht. Ich hoffe und glaube, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen bescheinigen wird, dass die
Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern zu
niedrig und daher verfassungswidrig sind. Sie sprechen
von Chancengleichheit für Kinder, sorgen aber dafür,
dass so viele Kinder in Armut aufwachsen, dass von
Chancengleichheit nicht einmal im Ansatz die Rede sein
kann.
({17})
Im Übrigen brauchen wir endlich die Rentenangleichung zwischen Ost und West; dazu werde ich ein anderes Mal etwas sagen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erklärt, dass Sie
keine Zweiklassenmedizin wollen. Ich habe aber den
Eindruck, Sie wollen eine Dreiklassenmedizin. Was organisieren Sie eigentlich? - Sie wollen eine Kopfpauschale. Ich bitte Sie! Sie wollen, dass die Lidl-Verkäuferinnen und Herr Ackermann den gleichen Betrag in die
Versicherung einzahlen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen,
dass eine Lidl-Verkäuferin etwas weniger verdient als
Herr Ackermann und dass man das deshalb anders organisieren muss?
({18})
Außerdem haben Sie über Bildung gesprochen. Sie
haben Recht, bei Bildung geht es nicht nur um Geld.
Aber uns fehlen jährlich 40 Milliarden Euro. Ihr Hinweis, die Kommunen sollten darauf hoffen, dass Sie ihnen jetzt das Geld wegnehmen, damit später etwas zurückkommt, nutzt den Schülerinnen und Schülern
absolut gar nichts.
Wenn Sie es mit der Chancengleichheit, von der Sie
geredet haben, ernst meinen, muss endlich die soziale
Ausgrenzung bei der Bildung aufhören. Wer die Kinder,
wie zum Beispiel in Bayern, nach der vierten Klasse
trennt, der betreibt nicht anderes als soziale Ausgrenzung. Wir kämpfen für Gemeinschaftsschulen, damit
alle Kinder in Deutschland eine Chance auf eine gute
Bildung haben.
({19})
- Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Sie wollen immer
die Eliteförderung. Das Professorenkind soll ganz
schnell von dem Hartz-IV-Empfänger-Kind getrennt
werden. Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass auch das
Hartz-IV-Empfänger-Kind eine Chance bekommt.
({20})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, dass Sie alles Notwendige gegen die Krise getan haben. Aber auch
Selbstüberschätzung muss doch Grenzen haben.
({21})
Nicht eine einzige Regulierungsmaßnahme für die Finanzmärkte ist eingeführt worden. Der größte Skandal
in Ihrer Rede war, dass Sie gesagt haben, die Kosten der
Krise müssten von allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern bezahlt werden, und dass Sie das gerecht finden.
Die Krise wurde aber von den Managern der Banken und
den verantwortlichen Politikern angerichtet. Und jetzt
sagen Sie der Lidl-Verkäuferin, sie solle dafür mit ihren
Steuern bezahlen. Das finde ich grob ungerecht, und daher schlagen wir andere Lösungen vor.
({22})
Aber zurück zum Spendenthema von gestern. Herr
Westerwelle, 1,1 Millionen Euro von Baron von Finck
von Mövenpick im Zusammenhang mit dem ermäßigten
Mehrwertsteuersatz bei Hotels - das werden Sie nicht
los. Zudem gab es 820 000 Euro für die CSU.
({23})
Nun sagen Sie zu Recht: Auch andere Parteien kriegen
Spenden. - Die Allianz ist ein tolles Beispiel. Die
Riester-Rente wurde eingeführt. Seitdem bekommen
CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne jährlich je 60 000 Euro
von der Allianz. Ich habe mich sehr über das geärgert,
was Herr Schäuble gestern gesagt hat. Das will ich begründen. Er hat hier am Pult gesagt, dass er es als einen
Skandal empfindet, dass wir das öffentlich machen, weil
wir damit die parlamentarische Demokratie gefährden.
Das war seine Aussage. Ich sage Ihnen: Das ist eine Unverschämtheit. Die Spenden und die Annahme der Spenden gefährden die parlamentarische Demokratie, nicht
die Tatsache, dass man etwas dagegen tut.
({24})
Die Politik gerät doch immer stärker in den Ruf, korrupt zu sein, käuflich zu sein. Wenn wir das nicht wollen, dann lassen Sie uns doch gemeinsam eine Verständigung darüber herbeiführen, dass Spenden von größeren
Unternehmen, von Versicherungen, von Banken und von
Wirtschaftsverbänden an die Parteien verboten sind. Lieber würde ich die staatlichen Mittel erhöhen,
({25})
als von Spenden abhängig zu werden, wie Sie es inzwischen sind, und dann die Politik derjenigen zu betreiben,
die spenden.
({26})
- Herr van Essen, wie soll das denn enden? Wollen wir
Verträge schließen? Dann schließen wir Verträge mit bestimmten Unternehmen und bringen anschließend entsprechende Anträge ein, und Sie machen dasselbe mit
anderen Unternehmen. Wo leben wir denn hier? Wir sind
die Repräsentanten des Volkes und nicht die irgendwelcher Lobbyisten. Das muss deutlich werden.
({27})
Herr Bundesminister Rösler, auch Sie pflegen dies,
indem Sie einen Lobbyisten der privaten Krankenversicherungen einstellen, der Ihnen die Gesetze entwerfen
soll. Auch das kennen wir schon seit längerer Zeit. Was
soll denn eigentlich dabei herauskommen? Ich kenne
Gesetzentwürfe, die britische Anwaltskanzleien geschrieben haben. Sie wissen noch, das war in der letzten
Legislaturperiode. Wo soll denn das Ganze enden? Wozu
bezahlen wir eigentlich die Beamtinnen und Beamten,
wenn sie nicht einmal mehr einen Gesetzentwurf schreiben dürfen? Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wenn wir
die Demokratie diesbezüglich stärken wollen, müssen
wir hier andere Regelungen treffen. Es geht nicht darum,
dass der Einzelne annimmt oder nicht annimmt. Wir
müssen das unterbinden. Anders werden wir nicht glaubwürdig.
({28})
Nun haben Sie gesagt, die Steuersenkungen seien so
wichtig und würden so viel bringen. Sie treiben die
Kommunen in die Pleite, das stimmt. Sie schaden insgesamt der Binnenwirtschaft, weil Ihre Vorstellungen, bestimmte Steuern zu senken, dazu führen, dass Sie genau
diejenigen schwächen, auf die wir dringend angewiesen
sind, wenn wir zum Beispiel mehr Vollbeschäftigung organisieren wollen.
Lassen Sie mich zu einem Beispiel kommen, dem
Stufentarif. Das ist eine Lieblingsidee der FDP. 10 Prozent, 25 Prozent und 35 Prozent Steuern je nach Höhe
des Einkommens, das ist Ihre Vorstellung. Ich stelle fest:
Für die unteren Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bedeutete das eine Einsparung von 1 Prozent, für die Topverdiener von 16,8 Prozent. Finden Sie das nicht ein bisschen ungerecht? Darf ich mal daran erinnern, dass der
Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer unter dem
Christdemokraten Kohl bei 53 Prozent lag, dass er vom
Sozialdemokraten Schröder auf 42 Prozent gesenkt und
von der Großen Koalition für die Spitzeneinkommen
wieder auf 45 Prozent erhöht wurde? Und jetzt wollen
Sie auf 35 Prozent runter? Sie können den Besserverdienenden gleich sagen, sie sollten überhaupt keine Steuern
bezahlen. Wie wollen Sie denn auf dieser Basis jemals
Steuergerechtigkeit herstellen? Das ist doch überhaupt
nicht mehr nachzuempfinden.
({29})
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben von dem größten
Defizit in Höhe von 86 Milliarden Euro gesprochen. Das
verstößt natürlich gegen die Maastricht-Kriterien. Auch
mit der künftigen Schuldenbremse, die Sie fälschlicherweise beschlossen haben, hat das nichts zu tun.
Nun kommt eine Sache, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen können. Sie sagen, was Sie vorhaben, könnten Sie leider erst nach der Steuerschätzung im Mai
2010 erklären. Für wie doof halten Sie denn die Leute?
Die merken doch alle, dass Sie ihnen erst nach der
NRW-Wahl sagen werden, was auf sie zukommt. Das ist
ein Wahlbetrug mit Ansage. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar.
({30})
Alle Kernzahlen sind Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, doch
bekannt. Sie müssen doch keine Steuerschätzung abwarten, die im Übrigen sowieso noch nie gestimmt hat. Sie
können sich darauf gar nicht verlassen. Sie haben doch
jetzt alle Kernzahlen, um sagen zu können, was Sie eigentlich vorhaben. Immerhin, Herr Schäuble hat es angedeutet. Er sprach davon, dass kein Politikbereich ausgenommen sei, dass es keine Besitzstandswahrung gebe,
dass Einschnitte in Leistungsgesetze zu erwarten seien.
Welche denn? Warum sagen Sie das den Leuten nicht?
Ich empfinde das als höchst unehrlich. Seien Sie so offen
und sagen Sie jetzt, was Sie vorhaben, damit wir uns im
Rahmen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen damit auseinandersetzen können. Kommen Sie nicht mit
dem Trick, zu sagen: Das erklären wir eine Woche nach
der Wahl. - Das ist nicht hinnehmbar. Das ist indiskutabel.
Ich möchte wissen: Was haben Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, was haben Hartz-IV-Empfängerinnen
und Hartz-IV-Empfänger, was haben Rentnerinnen und
Rentner zu erwarten von den Plänen, die Sie schmieden,
um die Neuverschuldung, die Sie mit Ihrem sogenannten
Wachstumsbeschleunigungsgesetz gerade vergrößert haben, abzubauen? Die anderen werden es bezahlen müssen.
({31})
Stichwort „Steuergerechtigkeit“: Wir können gerne
mal über Steuergerechtigkeit diskutieren. Wir sind zum
Beispiel dafür, dass diejenigen, die bis zu 6 000 Euro im
Monat verdienen, in Zukunft weniger Steuern zahlen als
heute. Diejenigen, die mehr verdienen, sollen aber endlich mehr zahlen. Auch das gehört nämlich zur Steuergerechtigkeit.
({32})
Wir haben Ihnen gesagt: Wir wollen eine Börsenumsatzsteuer, auch zur Eindämmung der Spekulationen. Wir
haben Ihnen gesagt: Wir wollen endlich eine Vermögensteuer als Millionärsabgabe. Was ist denn daran so
schlimm, dass jemand, der mehr als1 Million Euro Vermögen hat, darauf eine Steuer zahlt? Warum verweigern
Sie sich denn? Mein Gott, es gibt sogar eine Gruppe von
Millionären, die fordern, endlich mal Steuern bezahlen
zu können. Richten Sie sich nach denen und nicht nach
den anderen!
({33})
Wir haben gesagt: Wir wollen eine höhere Erbschaftsteuer bei großen Erbschaften und natürlich auch eine
gerechte Körperschaftsteuer. Wie ich schon gesagt
habe, ist trotz der Finanzkrise so gut wie nichts passiert.
Der amerikanische Präsident hat eine Idee, die ich Ihnen,
Frau Bundeskanzlerin, einmal erläutern muss. Ich weiß
nicht, wann Sie das letzte Mal mit ihm telefoniert haben.
Ich habe von seiner Idee gelesen. Sie scheinen sich damit zu wenig zu beschäftigen.
({34})
Was hat Obama gemacht? Obama hat gesagt, er wolle
von den Banken etwa 120 Milliarden Dollar kassieren.
Er wolle jeden Cent zurück, den die Banken dem amerikanischen Volk direkt oder indirekt schuldeten. „Direkt
oder indirekt“, das ist sehr spannend. Eine solche Abgabe, nämlich die „Finanzkrisenverantwortungsgebühr“,
fordern wir, und zwar deshalb, weil die Banken inzwischen wieder riesige Bonuszahlungen leisten; dagegen
haben Sie nichts unternommen. Die Deutsche Bank etwa
hat darüber hinaus einen Gewinn von 10 Milliarden
Euro angekündigt. Das ist doch der Gipfel! Wir zahlen
hier täglich riesige Summen, die Banken erwirtschaften
riesige Gewinne, leisten Bonuszahlungen, und Sie zie1264
hen die Banken mit keiner einzigen Steuer zur Bezahlung des Ganzen heran.
({35})
Um es klar zu sagen: Bei den direkten und indirekten
Zahlungen geht es, lieber Herr Kauder, um die Aufwendungen der Steuerzahler zur Bankenrettung. Es geht um
den Ausgleich für Steuermindereinnahmen; durch Abschreibungen ihrer Verluste haben die Banken nämlich
deutlich weniger Steuern gezahlt. Es geht darum, dass
wir für die Rettung der HRE 12,8 Milliarden Euro an
Forderungen gesichert haben. Wenn wir diese Forderungen nicht mit staatlichen Mitteln gesichert hätten,
dann wären sie abgeschrieben worden. Damit wären
wieder Steuerverluste verbunden gewesen. Es geht also
auch - ich muss das ganz deutlich sagen - um indirekte
Verluste. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten
von Amerika den Mumm hat, seine Banken zur Kasse zu
bitten, dann erklären Sie mir, warum Ihnen hier in
Deutschland dieser Mumm fehlt.
({36})
Wir fordern doch nur genau das, was dort geschieht.
Im Übrigen planen auch Frankreich und Großbritannien die Einführung einer solchen Abgabe; Sie nicht,
Frau Merkel. Ich bitte, dass Sie den Bürgerinnen und
Bürgern erklären, warum Sie immer nur die Banken
schonen, immer nur die Hoteliers schonen, immer nur
bestimmte Lobbygruppen schonen, während die anderen
- bis hin zu den Verkäuferinnen und Verkäufern, den
Rentnerinnen und Rentnern - das alles bezahlen müssen.
Ich finde das unerträglich.
Eines werden Sie verstehen, Frau Bundeskanzlerin - wir
haben hin und her diskutiert; es bleibt dabei -: Wir können Ihrem Etat leider nicht zustimmen.
({37})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen den Wohlstand erhalten, Perspektiven eröffnen
und Zukunftsfähigkeit schaffen. Dabei setzen wir nicht
zuerst auf den Staat, sondern vor allen Dingen auf die
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Deshalb wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen, durch die es
ermöglicht wird, dass die Potenziale ausgeschöpft werden, die in dieser Gesellschaft stecken. Wir wollen den
Ideenreichtum und die Kreativität der Menschen anregen. Wir wollen die Leistungsbereitschaft fördern. Jeder
in diesem Land soll im Rahmen seiner Möglichkeiten
Verantwortung übernehmen dürfen und übernehmen
können.
({0})
Dafür haben wir auch einen klaren Wählerauftrag erhalten. Die Menschen wollen, dass sich etwas ändert. Sie
wollen vor allen Dingen ein neues Verhältnis des Staates
zu seinen Bürgern.
({1})
Dabei muss man insbesondere eines zur Kenntnis nehmen, Herr Trittin: Die Bürgerinnen und Bürger wissen
sehr genau: Nicht der Staat finanziert seine Bürger,
({2})
sondern die Bürgerinnen und Bürger finanzieren mit den
Erträgen aus ihrer harten Arbeit den Staat. So verhält es
sich. Deshalb wollen wir, dass in diesem Land endlich
wieder fair mit den Bürgern umgegangen wird.
({3})
Aus genau diesem Grunde haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht. Wir haben damit
einen Impuls für Wachstum und Beschäftigung gesetzt,
und wir haben eine Entlastung vorgesehen, und zwar
eine Entlastung vor allen Dingen für die unteren Einkommensgruppen, insbesondere für die Familien mit
niedrigem Einkommen. Das zeigt sich allein daran, dass
wir für die Erhöhung des Kinderfreibetrages 400 Millionen Euro aufwenden, für das Kindergeld jedoch 4,2 Milliarden Euro.
({4})
Das sind die Realitäten. Das zeigt schon, dass diejenigen
profitieren, die wenig Geld haben, nämlich Familien mit
Kindern in unteren Einkommensschichten.
({5})
Nun, Herr Gysi, unterhalten wir uns einmal über die
Wirklichkeit.
({6})
Es interessiert Sie wahrscheinlich nicht, aber ich werde
es Ihnen trotzdem vortragen. Schauen wir uns einmal
beispielhaft an, meine Damen und Herren, was das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz für eine alleinstehende Krankenpflegerin mit einem Gehalt von ungefähr
2 300 Euro brutto im Monat bedeutet.
({7})
Sie hat 2010 deutlich weniger Steuern zu zahlen und dadurch 360 Euro mehr. Oder nehmen Sie den Elektrogesellen,
({8})
mehrere Berufsjahre, verheiratet, zwei Kinder, ungefähr
25 000 Euro Einkommen im Jahr - das sind realistische
Zahlen -: Dieser musste bisher Steuern bezahlen, er
zahlt jetzt keine Steuern mehr.
({9})
Er hat 536 Euro im Jahr mehr, das heißt ungefähr
45 Euro mehr im Monat.
({10})
- Jetzt schreien Sie nicht dazwischen! Das mag für Sie
wenig sein, weil Sie nur die Realität hier im Bundestag
kennen. Aber für diese Familien ist das viel Geld. Diese
Realität müssen Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen.
({11})
- Herr Kelber, es nützt Ihnen nichts, wenn Sie nur
schreien; damit haben Sie noch kein Konzept.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: All das, was diese
christlich-liberale Koalition jetzt macht, stand in unseren
Wahlprogrammen.
({12})
All das war lange vor dem 27. September 2009 klar. Wir
haben dann einen klaren Wählerauftrag erhalten, nicht
trotz, sondern wegen unseres klaren politischen Kurses.
Genau den werden wir jetzt auch gemeinsam umsetzen.
({13})
Dann lesen wir allenthalben, dass Herr Gabriel, der
sich da hinten freundlich unterhält,
({14})
vor Wählerbetrug warnt. Herr Gabriel, mich wundert das
nicht. Schauen wir uns einmal an, was die SPD gemacht
hat: Vor der Wahl 2002 haben Sie gesagt, Sie wollten die
Steuern nicht erhöhen. Nach der Wahl haben Sie sie natürlich erhöht. Vor der Wahl 2005 haben Sie ganz klar
gesagt, niemals würden Sie einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Selbstverständlich wurde 2005 die
Mehrwertsteuer erhöht, und es folgten weitere 19 Steuererhöhungen. Das ist die Realität. Wenn also jemand in
diesem Land Erfahrung mit Wählerbetrug hat, dann sind
es Sie, Herr Gabriel, und die SPD.
({15})
Ich sage Ihnen: Es ticken nicht alle so wie Sie. Wir werden weiter Wort halten.
Schauen wir uns einmal die Einnahmesituation an:
Die staatlichen Einnahmen sind in den letzten Jahren gestiegen, die Verschuldung ebenso. In den elf Jahren Regierungszeit der SPD haben Sie es geschafft, 300 Milliarden Euro zusätzliche neue Schulden zu machen,
({16})
und Ihre Planung sah vor, weitere 350 Milliarden Euro
Schulden zu machen - und das, obwohl die Staatseinnahmen weiter steigen.
({17})
Das zeigt dreierlei: Erstens. In konjunkturell guten Zeiten wurde nicht ausreichend gespart. Das lag in Ihrer
Verantwortung, meine Damen und Herren.
({18})
Zweitens. Der Staat hat kein Einnahmeproblem, er hat
ein Ausgabenproblem.
({19})
Drittens. Der Glaube, man müsse nur mehr Einnahmen haben, um den Haushalt in Ordnung bringen zu
können, hat sich nicht bewahrheitet. Deswegen werden
wir einen anderen Weg gehen, nämlich den eines fairen
Umgangs mit den Bürgern. Wir werden Steuerentlastungen vornehmen und damit auch die Wirtschaft wieder
ankurbeln.
({20})
- Auch das haben wir gerade klargestellt.
Entsprechend dem Koalitionsvertrag halten wir an der
großen Steuerstrukturreform fest. Wir wollen auch
eine weitere Entlastungswirkung erreichen, und zwar
durch eine Verbesserung der Leistungsgerechtigkeit und
durch die Vereinfachung des Steuerrechts.
({21})
Wir wollen, dass ein Arbeitnehmer endlich wieder versteht, was der Staat von ihm will, und dass er beurteilen
kann, ob das auch fair ist. Ich sage Ihnen: Wenn ein Arbeitnehmer mit 30 000 Euro brutto im Jahr von jedem
zusätzlich verdienten Euro 52 Cent abgeben muss, dann
hat das nichts mehr mit Fairness im Umgang mit den
Bürgern zu tun, sondern dann ist das Abzocke. Das demotiviert die Leistungsbereiten, und deshalb werden wir
das im Sinne der Mitte dieser Gesellschaft beenden.
({22})
Wir wollen damit Impulse geben, um die Krise zu
überwinden, und Rahmenbedingungen so setzen, dass
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze erhalten und
neue geschaffen werden können. Wir wollen einen Aufbruch für Deutschland.
({23})
Dazu ist es auch nötig, dass Einsparungen vorgenommen
werden.
({24})
Das haben wir immer gesagt. Haushaltskonsolidierung
und Steuerentlastung gehen bei uns Hand in Hand.
({25})
Fangen wir beim Haushalt 2010 an. Vielleicht hätten
Sie sich den einmal anschauen sollen, bevor Sie an dieser Debatte teilnehmen, meine Damen und Herren. Im
Haushalt 2010 ist es nämlich gelungen, mit einer geringeren Neuverschuldung,
({26})
als noch mit einem SPD-Finanzminister unter der alten
Regierung beschlossen, auszukommen, obwohl wir die
Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen zum
1. Januar dieses Jahres entlastet haben. Das zeigt: Es
geht, wenn man will.
({27})
Nun zum Haushalt 2011. Natürlich werden wir die
Schuldengrenze einhalten.
({28})
Das ist eine pure Selbstverständlichkeit. Wir werden
trotzdem alles daransetzen, im Haushalt weitere Entlastungsspielräume für die Bürgerinnen und Bürger zu erarbeiten.
({29})
Dass das harte Arbeit ist, wissen wir. Deshalb werden
wir alle Subventionen auf den Prüfstand stellen.
({30})
Deshalb werden wir dafür sorgen, dass der Staat endlich
effizienter arbeitet. Wenn ich mir die strukturellen Defizite in diesem Haushalt anschaue, stelle ich fest, dass wir
hier erhebliche Einsparpotenziale haben.
({31})
Diese Einsparpotenziale werden wir heben und dem
Haushalt nachhaltig zur Verfügung stellen.
({32})
Außerdem werden wir den Bürokratieabbau vorantreiben; denn das ist ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Auch das wird helfen. Wir werden dafür ein Gesamtkonzept vorlegen, und zwar dann, wenn es
vorgelegt werden muss, nämlich zusammen mit dem
Haushalt 2011,
({33})
und der wird wie immer planmäßig im September dieses
Jahres in diesem Hohen Hause debattiert werden.
({34})
- Es ist schon bemerkenswert, dass vonseiten der Opposition die ganze Zeit hineingebrüllt wird. Ich habe von
Ihnen noch kein einziges Konzept gesehen.
({35})
- Das geht an die Adresse der SPD, Herr Trittin. Ich
glaube nicht, dass Sie die gerade verteidigen wollten.
({36})
- Das wird sich noch zeigen, Herr Steinmeier. - Es geht
an die Adresse der SPD, weil ich es bemerkenswert
finde, wie Sie sich neu aufstellen. Von Ihrer Klausurtagung wurde berichtet, dass Ihr Parteivorsitzender erklärt
habe, der Satz „Erst das Land, dann die Partei“ habe in
dieser Form für die SPD an Gültigkeit verloren.
({37})
Das ist Ihre Antwort auf die Krise in diesem Land. Das
ist ein Offenbarungseid für eine einst so stolze sozialdemokratische Partei. Sie sind von den Wählern zu
Recht in die Opposition geschickt worden.
({38})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden auch die
Vereinfachung des Steuersystems vorantreiben.
({39})
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag bereits
19 konkrete Maßnahmen aufgeschrieben. Das kann man
nachlesen; das brauche ich jetzt nicht vorzulesen. Wir
sind ja nicht hier, um Ihnen eine Vorlesung zu geben.
Wir gehen davon aus, dass Sie lesen können. Wir können
Ihnen gerne ein Exemplar des Koalitionsvertrages
schenken, wenn Sie noch keines haben.
({40})
Ich sage Ihnen sehr deutlich - auch das steht im Koalitionsvertrag -: Wir werden das komplizierte Mehrwertsteuersystem, das undurchschaubar ist,
({41})
insgesamt überarbeiten.
({42})
Dazu wird eine Kommission eingesetzt; denn das Mehrwertsteuersystem muss vernünftig vom Kopf auf die
Füße gestellt werden, und zwar in der kompletten Breite.
({43})
Dafür braucht man Zeit und eine vernünftige Vorbereitung. Sie haben das in Ihrer Regierungszeit nicht getan.
Wir werden uns dieser Aufgabe jetzt annehmen.
({44})
In der Gesundheitspolitik hat uns Ulla Schmidt nicht
nur ihren wiedergefundenen Dienstwagen hinterlassen,
sondern auch einen völlig maroden Gesundheitsfonds.
({45})
Der von der SPD durchgesetzte Gesundheitsfonds hat
keine Stabilität geliefert.
({46})
Für 2010, also bereits nach einem Jahr, haben wir einen
Fehlbetrag von 8 Milliarden Euro.
({47})
Die Hälfte muss jetzt durch Steuerzuschüsse ausgeglichen werden.
Wir wollen ein solidarisches Finanzierungssystem,
das nicht an der Beitragsbemessungsgrenze endet. Wir
wollen den Einstieg in einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge und einen Sozialausgleich durch das
Steuersystem, weil wir davon überzeugt sind, dass es gerechter ist, dass es die Arbeit nicht immer teurer macht
und dass es vor allen Dingen zukunftsfest ist. Das werden wir im Gesundheitswesen umsetzen.
({48})
Ich möchte nun auf das zurückkommen, was Herr
Gysi hier über Hartz IV gesagt hat, und halte zunächst
einmal fest, dass das Sozialste, was man einem Menschen geben kann, ein Arbeitsplatz ist.
({49})
Genau das wollen wir erreichen. Wir wollen, dass wieder mehr Menschen Chancen auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland haben. Einigen,
die sich in den letzten Tagen an Diskussionen über
Hartz IV beteiligt haben, muss man sagen, dass man mit
Pauschalierungen der Situation der Menschen nicht gerecht wird. Aus unserer Sicht gibt es - das ist die Haltung der kompletten Koalition - keinen Bedarf an gesetzlichen Änderungen bei den Zumutbarkeitskriterien.
Da ist allenfalls bei der Umsetzung an der einen oder anderen Stelle etwas zu optimieren.
Wenn ich mir die Reaktion der SPD anschaue, dann
muss ich feststellen, dass es völlig überzogene Verbalattacken gab. Es gab den Versuch, von Ihrer Konzeptionslosigkeit und von Ihrer desaströsen Situation abzulenken. Wir wollen, dass zukünftig das Steuersystem mit
dem Sozialsystem besser verknüpft wird. Deswegen
werden wir Änderungen bei Hartz IV vornehmen; es
gibt sehr wohl Änderungsbedarf. Ein Punkt ist, dass wir
die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern werden,
weil wir der Meinung sind, dass derjenige, der arbeitet,
mehr haben soll als derjenige, der nicht arbeitet.
({50})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen,
Herr Präsident.
Wir werden auch beim Schonvermögen etwas ändern. Wir werden das Schonvermögen von 250 auf
750 Euro pro Lebensjahr erhöhen, weil wir der Meinung
sind, dass jemand, der das getan hat, was wir ihm die
ganze Zeit gepredigt haben, nämlich ein Leben lang vorzusorgen, und der dann unverschuldet in Hartz IV gerät,
besser gestellt sein muss als derjenige, der in seinem Leben nicht vorgesorgt hat.
({0})
Dazu fällt der SPD jetzt nach elf Jahren auf der Regierungsbank ein, dass sie das eigentlich auch gern gemacht
hätte. Sie sind herzlich eingeladen, uns bei diesen Änderungen zu unterstützen.
({1})
Die christlich-liberale Koalition wird die Fehler Ihrer
Hartz-IV-Reformen zum Wohle der Menschen in diesem
Land endlich beseitigen.
({2})
Frau Kollegin Homburger, darf der Kollege Beck Ihnen nun eine Zwischenfrage stellen?
Bitte.
Frau Kollegin, Sie haben gerade die Solidarität im
Krankenversicherungssystem angesprochen. Ich habe
dazu eine Frage an Sie: Trifft es eigentlich zu, dass die
Volker Beck ({0})
Mitglieder der FDP-Fraktion Sonderkonditionen bei der
DKV angeboten bekommen?
Sehr verehrter Herr Beck, ich weiß nicht, wo es Sonderkonditionen gibt. Fakt ist, dass jeder das Recht hat,
sich selbst zu versichern, und dass wir wollen, dass alle
in diesem Lande das Recht bekommen, ihre Krankenkasse frei zu wählen. Das haben Sie in der Vergangenheit verhindert. Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land, die mehr entscheiden können, als Sie ihnen
zutrauen,
({0})
endlich die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden,
wo sie sich versichern, in welchem Umfang sie sich versichern und welche Zusatzversicherungen sie abschließen. Dazu sind die Menschen selbst in der Lage, und genau das werden wir auch auf den Weg bringen, Herr
Beck.
({1})
Wir werden dieses Land zukunftsfest machen. Deshalb werden wir 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung investieren. Es ist uns ein ganz
zentrales Anliegen, dass zu Beginn von Bildungskarrieren von Kindern investiert wird. Wir wollen Chancengleichheit beim Start und nicht Ergebnisgleichheit am
Schluss. Wir wollen die Potenziale erschließen, die es
unabhängig von Herkunft, Schicht oder Geschlecht eines
Kindes gibt. Kein Kind darf in diesem Bildungssystem
verloren gehen. Das ist das Ziel. Deshalb werden wir uns
von Bundesseite engagieren. Wir werden ein Stipendienwesen aufbauen.
({2})
Wir werden genauso Impulse setzen und bei den Ländern anregen, dass mehr in frühkindliche Bildung investiert wird,
({3})
weil das der Schlüssel für soziale Gerechtigkeit ist.
({4})
Wir wollen Aufstiegschancen durch Bildung. Das
ist das Ziel. Deswegen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Familien gibt, die ihrer Verantwortung gerecht werden, und dass es andere gibt, die das offensichtlich nicht tun und deren Kinder, wenn sie in die Schule
kommen, nicht in der Lage sind, lesen und schreiben zu
lernen. Diese Defizite müssen beseitigt werden, beispielsweise dadurch, dass im vierten Lebensjahr eine
Sprachstandsdiagnose erhoben wird; in Baden-Württemberg ist das bereits flächendeckend der Fall. Wenn dann
Förderbedarf erkennbar ist, folgt zwingend eine Fördermaßnahme. Denn wir wollen, dass die Menschen, die Jugendlichen und die Kinder in diesem Lande tatsächlich
Chancen haben. Dies könnten wir vonseiten der Bundesebene für das ganze Bundesgebiet anstoßen.
({5})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden im Rahmen
des Prinzips „Fordern und Fördern“ nicht nur die Kinder
fördern, sondern müssen auch die Eltern in dieser Gesellschaft fordern. Auch die Eltern müssen in diesem Zusammenhang ihre Verantwortung wahrnehmen. Anders
wird das nicht machbar sein.
({6})
Frau Kollegin Homburger, der Kollege Heil würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Frau Kollegin Homburger, können Sie uns in dem Zusammenhang, dass Sie Kinder früher und individueller
fördern wollen, einmal erklären, warum es eine gute Idee
sein soll, eine Prämie an die Eltern eines, sagen wir mal,
schlecht integrierten Kindes in Berlin-Neukölln zu zahlen, damit das Kind bewusst nicht in die Kinderbetreuung geht, wo es möglicherweise die Chance hätte, vor
der Schule die deutsche Sprache zu lernen? Warum wollen Sie als Liberale dieses Betreuungsgeld mit einführen, das alle Experten ablehnen, wenn Sie das wollen,
was Sie gerade gesagt haben, nämlich Aufstieg durch
Bildung?
({0})
Zum Ersten. Es gilt auch hier, was ich vorhin zum
Thema Hartz IV gesagt habe: Mit Pauschalierungen
werden Sie den Menschen in diesem Lande nicht gerecht. Diejenigen, die sich verantwortungsvoll verhalten,
haben es nicht verdient, von Ihnen so behandelt zu werden.
({0})
Zum Zweiten. Wir werden - das habe ich gerade erläutert - 12 Milliarden Euro zusätzlich in dieser Legislaturperiode in Bildung und Forschung investieren. Das
bedeutet, dass wir für die Bildungschancen der jungen
Generation deutlich mehr tun, als Sie es in Ihrer Regierungszeit getan haben.
({1})
- Stellen wir doch einmal fest: Sie stellen die Fragen, ich
gebe die Antwort.
({2})
Zum Thema Betreuungsgeld, lieber Kollege, hat die
Frau Bundeskanzlerin gerade das Nötige gesagt.
({3})
Man wird ein Konzept erarbeiten. Im Koalitionsvertrag
steht im Übrigen auch, dass das gegebenenfalls ein Gutscheinmodell werden kann.
({4})
So wird das Problem, das Sie beschrieben haben, gar
nicht erst entstehen. Deswegen können Sie ganz gelassen und sicher sein: Wir werden auch an diesem Punkt in
dieser Koalition eine gute Lösung finden, damit es für
mehr Menschen in diesem Land mehr Chancen gibt.
({5})
Ich war gerade beim Thema Innovation und Forschung. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, dass
das Energiekonzept für uns von besonderer Bedeutung
ist, dass wir das Zeitalter erneuerbarer Energien erreichen wollen und deshalb im Bereich Technologiepolitik
etwas tun und in Technologien investieren werden, beispielsweise im Bereich der Speichertechnologie, was Sie
in der Forschungspolitik über lange Zeit verhindert haben, insbesondere unter Rot-Grün.
({6})
Wir werden auch darauf setzen, dass es eine größere
Energieeffizienz, dezentrale Energieerzeugung und virtuelle Kraftwerke gibt. Wir brauchen einen vernünftigen
Energiemix, einen tragfähigen Energiemix mit einem
höheren Anteil erneuerbarer Energien; erstens aus Klimagründen und zweitens, weil das großartige Exportchancen für die deutsche Wirtschaft eröffnet.
({7})
Diese Koalition will Deutschland erneuern. Deswegen werden wir auch Änderungen auf dem Finanzmarkt
herbeiführen.
({8})
Wir haben eine Finanzmarktkrise erlebt, die mehrere
Aspekte deutlich gemacht hat. Es gab bisher schon Regeln, aber wir haben feststellen müssen, dass diese Regeln an vielen Stellen leider nicht eingehalten wurden.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass diese Regeln nicht
richtig überwacht werden.
Nun komme ich zu der Frage, die Sie vorhin aufgeworfen haben: Brauchen wir einen starken Staat, oder
brauchen wir einen schwachen Staat? Natürlich brauchen wir einen starken Staat.
({9})
Unsere Definition eines starken Staates ist, dass er nur
die Gesetze macht, die er wirklich braucht, und dann dafür sorgt, dass die existierenden Gesetze durchgesetzt
werden. Das ist ein starker Staat.
({10})
Genau das werden wir tun. Wir werden die Aufsicht,
die bisher zersplittert war, bei der unabhängigen Deutschen Bundesbank zusammenführen. Das ist ein Fortschritt, weil wir dann endlich eine Instanz haben, die dafür zuständig ist, den Banken auf die Finger zu schauen.
({11})
Es ist wichtig, dass der Finanzmarkt sauber kontrolliert
wird.
Wir brauchen auch neue Regeln. Ich sage in aller
Deutlichkeit: Dass es im Bereich Finanzmarkt Probleme
gab, lag auch daran, dass diejenigen, die Verantwortung
hatten, nicht das Risiko getragen haben. Wir haben uns
als FDP immer dafür eingesetzt - ich weiß, dass CDU/
CSU das genauso sehen -, dass es einen unmittelbaren
Zusammenhang zwischen Risiko und Verantwortung
gibt. Den Fall haben wir beispielsweise bei Familienunternehmen, wo ein Unternehmer jeden Tag mit seiner
Existenz und der Existenz seiner ganzen Familie dafür
steht, dass etwas funktioniert. Genau das müssen wir
auch im Finanzmarktbereich schaffen, nämlich dass wir
Risiko und Verantwortung wieder zusammenbringen,
dass die Verantwortung von denjenigen übernommen
werden muss, die die Entscheidungsmöglichkeiten haben. Das ist das Ziel. Wir brauchen ein verantwortliches
Handeln in diesem Bereich. Das wird man nur dadurch
schaffen, dass wir wieder die Übernahme von Risiken
einfordern.
({12})
Ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang. Ich bin
der Auffassung, dass bei den Banken, die damals zu
Recht mit einem Bankenrettungsschirm versehen worden sind, richtig gehandelt wurde. Das war zum damaligen Zeitpunkt notwendig. Wir waren damals in der Opposition und haben trotzdem erkannt, dass die Situation
schwierig war und es notwendig war, dass gehandelt
wurde. Wenn ich die getroffenen Entscheidungen betrachte und die Tatsache berücksichtige, dass wir im
Rückblick wissen, was alles passiert ist und was offensichtlich an Fehlern gemacht worden ist, dann bin ich
der Meinung, dass auch die Frage einer zivilrechtlichen
Haftung der Verantwortlichen geprüft werden muss.
({13})
Das sind wir den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in
diesem Land schuldig. Genau das werden die Verantwortlichen an den Stellen, an denen wir Einfluss haben,
auch tun.
({14})
Alle Gesetzesänderungen, die zur Stärkung der Verantwortung nötig sind, alle Gesetze, die in elf Jahren sozialdemokratischer Finanzminister nicht auf den Weg gebracht worden sind, werden dank der neuen christlichliberalen Koalition jetzt kommen.
({15})
Diese Koalition hat ein anderes Staatsverständnis.
({16})
Wir setzen zuerst auf den Bürger und dann auf den Staat.
({17})
Wir setzen auf die Schaffenskraft und den Ideenreichtum
der Bürgerinnen und Bürger. Diesem Ideenreichtum,
dieser Kreativität wollen wir wieder mehr Raum geben,
mehr Freiheit lassen.
({18})
Diese Seite des Hauses, die christlich-liberale Koalition, denkt den Staat vom Bürger her.
({19})
Diese Seite des Hauses, die Opposition, setzt viel zu viel
auf den Staat und bremst die Bürger aus.
({20})
Das ist der zentrale Unterschied. Das macht den Zusammenhalt dieser Koalition aus. In genau diesem Sinne
werden wir Deutschland erneuern und mehr Chancen für
mehr Menschen in diesem Land schaffen.
Vielen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Merkel, Sie haben uns viel von neuem Denken erzählt,
gesagt, jetzt müsse neu gedacht werden. Ich hätte mir gewünscht, man hätte bei Ihrer Rede den Eindruck gehabt,
dass Sie tatsächlich gedacht haben, und zwar an alle
Menschen in diesem Land, an 1,8 Millionen arme Kinder in diesem Land, an die Frage, wo eigentlich morgen
die Arbeitsplätze für Junge und Alte in diesem Land entstehen bzw. wie sie erhalten werden können. Aber dazu
haben Sie faktisch gar nichts gesagt.
({0})
Ich hatte angesichts der Art Ihrer Rede das Gefühl, dass
man das Redepult für Sie demnächst in die Kuppel oder
gar in die Wolken hängen könnte. So ungefähr war Ihr
Redebeitrag, Frau Merkel.
({1})
Das Ganze wurde gekrönt von dem üblichen Klamauk eines Guido Westerwelle, der erst einmal der
Habsburger k. u. k. Schule entsprechend den Arm um
die Kanzlerin legen muss, damit ihn auch jeder fotografiert. Herr Merkel - ({2})
- Na ja, Frau Merkel, Herr Westerwelle. - Sie brauchen
gar nicht zu gehen, Herr Westerwelle. Ich weiß, eine
„18“ unter den Füßen ist nicht immer nur lustig. Dieses
Land hat ernsthafte Probleme. Was wir brauchen, ist ein
neues Programm, ein Programm für den Aufbau dieses
Landes, für eine Neuentwicklung. Dieses Programm
muss auch in dem Haushaltsentwurf, der vorgelegt wird,
seinen Niederschlag finden. Ich stelle fest: Frau Merkel,
Sie hatten schon einmal vier Jahre Regierungszeit. Sie
haben elf Jahre lang behauptet, wenn Sie nach dieser
Verlobungszeit endlich mit Herrn Westerwelle regieren
könnten, würde alles gut. Aber Sie haben weder in den
vergangenen vier Jahren den Mumm gehabt, noch haben Sie heute den Mut - das zeigt der Haushaltsentwurf
2010 -, eine Strukturreform für dieses Land anzufassen. Dabei hätten wir das eigentlich nötig.
({3})
Ich muss einmal sagen: Wir haben in den ersten
100 Tagen, in der Schonfrist, in der man normalerweise
ein bisschen zurückhaltend sein soll und Zeit geben soll,
ein Programm umzusetzen, gedacht, Sie würden diese
100 Tage nutzen, etwas vorzulegen. Stattdessen haben
wir in den ersten 90 Tagen erlebt, wie sich kleine Möchtegernhäuptlinge, Seehofer und Westerwelle, in den Vordergrund stellen und streiten. Herr Westerwelle hat hier
einmal in seiner unnachahmlichen Art gesagt: Auf jedem
Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der das
Ganze regelt.
({4})
Das würde ich an dieser Stelle gerne einmal sehen.
Stattdessen sehen wir drei Leute, die Häuptlinge sein
wollen, drei Parteivorsitzende, die sich, weil schon in
den ersten 100 Tagen nichts geht, bei Steak Tatar treffen.
Ich habe mir die Augen gerieben, als ich das gesehen
habe. Ich muss wirklich sagen: So tief ist diese Wunschkoalition, Ihre Traumkoalition in den ersten 90 Tagen
schon gesunken, dass Sie auf archaische Sitten von
Stammesfürsten zurückgreifen müssen, nämlich den gemeinsamen rituellen Verzehr von rohem Fleisch. Aber
für dieses Land ist dabei schon wieder nichts herausgekommen.
({5})
Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.
Frau Merkel, Sie haben hier gerade einen Versuch der
Betrachtung der Wirklichkeit unternommen: die Rohstoffpreise, die Energieknappheit, der wachsende Energiehunger, der demografische Wandel, stärker belastete
Familien, Kinder ohne Bildungschancen, fehlendes
Fachpersonal in diesem Land und die große Enttäuschung nach Kopenhagen. Aber es reicht nicht, die
Wirklichkeit nur zu betrachten, Frau Merkel, man muss
dann auch anfangen, etwas zu tun. Die Wirklichkeit verträgt jetzt keine Reaktion von mittelmäßigen, von sich
selbst begeisterten und kurzfristigen Lobbyinteressen
verpflichteten schwarz-gelben Regierungsmitgliedern.
({6})
Auch Ihre Autosuggestion hat uns nicht weitergebracht. Das Betrachten der Realität heißt auch, auf die
Wirklichkeit zu reagieren. Das würde heißen: Schaffung
neuer Strukturen, zum Beispiel im Energiebereich,
Schaffung neuer Strukturen und Investitionen im Bereich Bildung, Schaffung einer neuen Verkehrsinfrastruktur und ein Neuaufbruch bei der Wissenschaft. Aber
Sie sind diesen Herausforderungen faktisch mit Hasenfüßigkeit, mit Klüngelpolitik und mit einer durchschaubaren Notlüge begegnet. Diese durchschaubare Notlüge
heißt bei Ihnen, Frau Merkel, schweigen. Moderieren sei
eine ganz besondere perfide oder auch kreative politische Strategie. Davon haben wir nichts gemerkt. Ich
empfinde diese Bundesregierung nach 90 Tagen wie
folgt: Es ist eine Regierung ohne Werte, ohne Ziele,
ohne Plan und auch ohne Mut, auf die Herausforderungen zu reagieren.
({7})
Schauen wir uns Ihren Haushaltsentwurf einmal an.
Er wird nicht als Haushaltsentwurf 2010, sondern als
Haushaltsentwurf Rüttgers in die Geschichte der Republik eingehen. Das ist der Beweis: Sie können es nicht.
Sie haben angesichts der nun anstehenden Landtagswahl keinen Mut, jetzt endlich einmal das Zeitfenster
nach einem Jahr voller Wahlen - die Wahl in Hessen, die
Europa- und die Bundestagswahl - wieder zu schließen
und etwas anzupacken. Sie sagen, dass Sie auf die Steuerschätzung warten. Da kann ich nur Hermann Otto
Solms, sozusagen den Finanzfachmann dieser Regierung, zitieren, der gestern gesagt hat:
Ich erwarte von der Steuerschätzung keine besonderen neuen Erkenntnisse.
Der Mann weiß Bescheid.
({8})
Sie müssen sich entscheiden, wie Sie Ihre 130 Milliarden Euro neue Schulden gegenfinanzieren wollen.
Wahr ist: Es sind nicht 85, sondern 130 Milliarden Euro
Schulden, wenn man all die Tricksereien dieser Koalition einbezieht. Sie sagen bei Ihren Steuersenkungsversprechen, zum Beispiel Mehrwertsteuer für die Hotellerie: Wort gehalten. Die FDP hat dies sogar plakatiert. Ich
sage Ihnen: Dieser Haushalt drückt eines aus, nicht Wort
gehalten, sondern Hand aufgehalten.
({9})
Dieser Haushalt drückt aus, dass bei der Mehrwertsteuer, bei der Erbschaftsteuer mittlerweile Zahltag ist.
Das Wort Gemeinwohl kommt in diesem Haushalt gar
nicht vor. Wo sind die Sätze zur Gegenfinanzierung?
Ich sage Ihnen: Ich kann nicht akzeptieren, dass Herr
Schäuble hier wie gestern immer in so einer netten Form
des Unbestimmten und umgeben von einer Nebelmaschine warme Worte spricht und uns erzählt, dass wir
demnächst den Gürtel enger schnallen müssen.
Jetzt müssen Sie sagen, wie Sie Ihre Steuersenkungen
und Ihre Neuverschuldung gegenfinanzieren wollen. Wo
wollen Sie den Leuten Geld streichen, welchen Unternehmern, bei der Ökosteuer oder bei denen, die ökologisch wirtschaften? Wollen Sie den Kindern Geld wegnehmen? Wollen Sie die Infrastruktur abbauen oder
was? Wen von denen, die Verursacher der Krise waren
und daran noch verdienen, wollen Sie zur Kasse bitten?
Sind Sie bereit, eine Vermögensabgabe einzuführen, um
damit anzufangen, die Schulden abzuzahlen? Das sind
die Fragen und die Herausforderungen. Aber diese Regierung hat keine Werte, keine Ziele, keinen Plan und
auch keinen Mumm. Sie können es nicht.
({10})
Was wir jetzt bräuchten, wäre ein grüner Zukunftshaushalt, der in Zeiten, in denen alle von Green Economy reden, tatsächlich eine Green Economy, Jobs und
Einnahmen generiert. Ein Haushalt, der verlässlich,
transparent, wirklich nachhaltig und generationengerecht ist und die Schulden nicht einfach verschiebt. Ein
Haushalt, der den Klimaschutz verankert und für sozialen Zusammenhalt, Daseinsvorsorge und Teilhabegerechtigkeit Sorge trägt.
Meine Damen und Herren, Ihr Haushalt leistet nichts
davon. Sie predigen uns stattdessen Hoffnung nach dem
Motto: Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Aber so geht
es nicht. Sie können nicht einfach einen undefinierten
Wachstumsbegriff in die Welt setzen und behaupten,
man könne so viel Wachstum generieren, dass man
Schulden abzahlen oder Projekte der Zukunft finanzieren kann. So wird es nicht sein. Sie werden mit Staatsmitteln kein Wachstum forcieren. Außerdem sagen Sie
nicht, welches Wachstum Sie eigentlich wollen. Jeder
Fachmann bestätigt, dass Staatsverschuldung nachweislich wachstumsmindernd und nicht wachstumsfördernd
ist. Sie sollten einmal deutlich machen, wie es Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen soll.
Frau Merkel sagt immer so schön: Wenn wir wieder
da sind, wo wir vor der Krise waren. - Das löst bei mir
meistens Unruhe aus. Wo waren wir denn vor der Krise?
Vor der Krise hatte unsere Wirtschaft strukturelle Defizite. Wir waren umgeben von einem Wachstumsbegriff, der uns in genau diese Krise geführt hat. Sie schaffen es nicht, den Wachstumsbegriff neu auszurichten,
sondern verbreiten weiter den Irrglauben, Wachstum
könne ein Allheilmittel sein. Das ist es aber nicht, im
Gegenteil.
({11})
Ich glaube, wir müssen den Mut haben, auszusprechen, was in Zukunft geschehen muss: Es gibt Wirtschaftsbereiche, die massiv schrumpfen müssen, weil sie
nicht mehr zu begründen sind. Andere Wirtschaftsbereiche brauchen eine Vielzahl von Maßnahmen, Kreativität
und einen Innovationsdruck, den auch der Staat unterstützen könnte, auch mit einer guten Haushaltspolitik.
Andere Wirtschaftsbereiche brauchen einen radikalen
Innovationsdruck, damit sie massiv wachsen.
Wahr ist: Wir müssen unsere Wirtschaftsweise verändern. Wir dürfen nicht mehr auf Kosten anderer, nicht
mehr auf Kosten der Umwelt, nicht mehr auf Kosten von
Boden, Wasser und Artenvielfalt leben. Dafür muss man
allerdings die entsprechenden Stellschrauben im Haushalt verankern und darf nicht nur UN-Reden halten, Frau
Merkel.
({12})
Frau Merkel wurde in der letzten Legislaturperiode
zeitweise „Klimakanzlerin“ genannt. Schauen wir uns
einmal an, ob Sie die Themen Klima, Umgang mit Rohstoffen und mit Energie in diesem Haushalt berücksichtigt haben. Beginnen wir mit dem 40-Prozent-Ziel. Frau
Merkel, ich höre immer, wir - das ist ein diffuses „wir“ hätten bereits vereinbart, die CO2-Emissionen bis 2020
um 40 Prozent zu reduzieren. Meine Damen und Herren,
ich würde gern bei einer Abstimmung im Deutschen
Bundestag sehen, wie Sie dazu stehen. Sie können - wir
geben Ihnen mit einem Antrag die Gelegenheit dazu hier die Hand heben, wenn Sie zu dem Allgemeinplatz
stehen, dass Deutschland innerhalb von zehn Jahren
mindestens diese Minus-40-Prozent-Marge erreichen
wird. Das wäre die internationale Botschaft, dass wir
wirklich bereit dazu sind und alle politischen Maßnahmen, auch jeden Bundeshaushalt, danach ausrichten.
Die Wahrheit ist: Da draußen erzählen Sie immer Nettes;
({13})
aber gerade eben haben Sie das Gegenteil gesagt, nämlich: Minus 30 Prozent in der EU, minus 40 Prozent in
Deutschland
({14})
nur, wenn alle anderen das auch tun. - Das gerade eben
war der Zusammenbruch der Klimakanzlerin.
({15})
Hier wurden Chancen für unsere wirtschaftliche Entwicklung vertan. Ich bin davon überzeugt, dass das unserer wirtschaftlichen Entwicklung massiv schadet. Andere Länder - China, Indien, Japan, Südkorea investieren horrende Summen in die technologische Entwicklung. Wenn China 40 Prozent seiner Konjunkturmittel investiert, ist das ein Vielfaches mehr als das, was
wir investieren. Selbst wenn die Chinesen noch Dreckschleudern von Kohlekraftwerken neu bauen, haben sie
den Vorteil der technologischen Entwicklung.
Ich sage Ihnen, Frau Merkel: Hasenfüßigkeit, keinen
Plan haben, keinen Mut haben, das schadet der Wirtschaft in Deutschland und in Europa und verhindert,
dass wir diese Arbeitsplätze haben; die Arbeitsplätze
entstehen dann woanders.
({16})
Sie hätten in Kopenhagen guten Willen zeigen können. Sie reden ständig darüber, wer wann wie wo vorwärts geht oder nicht und wer Bedingungen stellt. Sie
tun so, als seien Sie selber bereit, die anderen aber nicht.
Sie haben Ihr eigenes perfides System: Als es um
400 Millionen Euro für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern ging, haben Sie nicht sofort gerufen:
Ja, wir sind bereit, weil wir unsere und eure Lebensgrundlagen schützen wollen. - Den Hotels durch die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes 1 Milliarde Euro
hinterherzuwerfen, ging dagegen über Nacht. Für den
Agrardiesel 500 Millionen Euro lockerzumachen, ging
ebenso über Nacht. Nie haben Sie Bedingungen gestellt,
zum Beispiel dass bei den Milchbauern etwas ankommt
oder dass bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, zum
Beispiel dass die Hotels Mindestlöhne zahlen, oder dass
in Umbauten, in Modernisierung, in neue Arbeitsplätze
investiert wird. Frau Merkel, wir haben Ihr System verstanden: Sie reden schön; aber am Ende ist es immer die
alte Klientelpolitik der CDU/CSU.
({17})
Die Antwort auf die Frage, wie es in der Energiepolitik weitergehen soll, haben Sie auf den Herbst verschoben. Das heißt, Sie lassen die Industrie und den Mittelstand bei Investitionen im wahrsten Sinne des Wortes
allein, auch insofern, als morgen Abend die Trickserei
mit den Atomkraftwerksbetreibern losgeht. Das muss
man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Gesetz, das der Deutsche Bundestag in einem offenen und
transparenten Verfahren beschlossen hat, wird jetzt vom
Kanzleramtschef unter der Ägide der Bundeskanzlerin
vermauschelt. Sie können täuschen, tarnen, tricksen wir wissen, um was es geht, wenn Bezugsrechte hin und
her geschoben werden: Es geht Ihnen darum, einen trickreichen Weg zu finden, damit Sie den Deutschen Bundestag nicht mit einer Änderung dieses Gesetzes befassen müssen.
Ich sage Ihnen, gerade angesichts der Asse: Die Bevölkerung dieses Landes hat ein Anrecht darauf, dass es
in die Zukunft geht, in Richtung 100 Prozent erneuerbare Energien, und nicht in Richtung einer Absicherung
der Oligopole. Die Bevölkerung dieses Landes hat ein
Anrecht darauf, dass sich die Bundesregierung um die
körperliche Unversehrtheit und die Sicherheit der Bürger
kümmert. Dazu haben Sie bisher kein Wort gesagt, weder im Zusammenhang mit der Lagerung noch im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung.
({18})
Die Nutznießer Ihrer Politik sind die Atomwirtschaft
und die Aktieninhaber, sind die Konkurrenten unserer
Solarwirtschaft, die die Arbeitsplätze schaffen, die wir
hätten haben können. Das, meine Damen und Herren, ist
nicht Marktwirtschaft, die Sie ja immer beschwören; das
ist auch kein Wettbewerb, der ja der Kern der Marktwirtschaft ist; das ist eher Staatssozialismus alter Prägung:
Einige bestimmen das Geschäft.
Ich will Ihnen an dieser Stelle auch sagen, dass die
Laufzeitverlängerung, wenn sie käme, Ihrer Umweltpolitik und Ihrem Bundesumweltminister wie ein Klotz
am Bein hängen würde. Sie können sich noch so anstrengen und schöne Reden halten, Herr Röttgen: Wenn Sie
diese Pläne nicht verhindern, können Sie es auch gleich
sein lassen.
({19})
Eines geht nicht: immer schöne Reden halten und danach das Gegenteil tun. Das können Sie ja weitermachen: Herr Röttgen redet so, Frau Merkel wirft auch hin
und wieder Klimaschutzblasen, dann kommt Frau
Aigner und sagt: Wie viel Chemie auch immer die
Landwirtschaft in die Böden einträgt, wie viel fossile
Energie sie auch immer braucht, wir werden nichts ändern. - Herr Schäuble, Sie hätten doch sagen können:
Subventionen werden reduziert, wenn nicht ökologisch
gewirtschaftet wird. - Oder nehmen wir den Bundesverkehrsminister: Herr Röttgen oder Frau Merkel, Sie können noch so viel erzählen, dieser Bundesverkehrsminister redet sich über Schienenverkehr besoffen, am Ende
geht aber das ganze Geld wieder in die Straße. So nicht!
Ich muss Ihnen sagen: Dieser Haushalt ist ein Armutszeugnis. Er ist auf dem Rücken der Familien und
der Kinder sowie auf dem Rücken der Kommunen gemacht, wo sich bestimmt, wie der Alltag der Menschen
aussieht. Schauen wir auf Nordrhein-Westfalen: Essen,
Kulturhauptstadt 2010, muss Grundschulen schließen,
Städte denken über die Reduzierung der Zahl der Kinderspielplätze nach, Wuppertal schließt das Theater.
In Magdeburg, in einem anderen Bundesland, werden
die monatlichen Kitagebühren um 30 Euro erhöht. Das
ist erst der Anfang. Meine Damen und Herren, Sie haben
nicht die Familien gestärkt. Vielmehr muss derjenige,
der bei Ihnen 20 Euro mehr Kindergeld bekommt,
danach 30 Euro Gebührenerhöhung bei den Kindergärten zahlen. Die Familie hat 10 Euro weniger und die
Hartz-IV-Kinder haben gar nichts.
({20})
Fazit: Unter Schwarz-Gelb geht es einigen wenigen
besser, aber vielen schlechter. Die wahren Leistungsträger
dieser Gesellschaft, beispielsweise die unterbezahlten Erzieherinnen und unterbezahlten Pflegekräfte, brauchen
funktionierende Kommunen, einen funktionierenden Sozialstaat. Aber diese Regierung hat keine Werte, keine
Ziele, keinen Plan.
({21})
In diesem Haushaltsplan gibt es keine Erhöhung der Regelsätze, keine Einstellung von Mitteln für eine Neuberechnung der Kinderregelsätze, keine Maßnahmen zur
Integration auf dem Arbeitsmarkt - sie werden eingedampft -, und die Mittel zur Integration von Migranten
werden nicht erhöht.
Frau Kollegin.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Meine Damen
und Herren, dieser Haushalt weist uns nicht in die Zukunft, sondern rückwärts. An dieser Stelle können Sie
sich noch so viel beweihräuchern, dass Sie Geld in Bildung investieren: Dieser Bildungshaushalt steigt weniger als der Gesamthaushalt. Dies ist bezeichnend.
Sie haben keine Antworten auf die Probleme, denken
nur an diejenigen, die die dicken Ellenbogen haben, an
die Menschen, die Baron von Finck heißen, aber nicht an
die Menschen, die Otto Normalverbraucher heißen. Am
9. Mai haben die Bürgerinnen und Bürger in NordrheinWestfalen die Chance, Ihnen die rote Karte zu zeigen.
Das haben Sie bitter nötig.
({0})
Das Wort hat der Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Haushalt 2010 legen wir einen Haushalt
vor, der Wachstum bringt und die Konsolidierung ernst
nimmt, einen Haushalt, der das beinhaltet, was uns in
den nächsten Jahren immer wieder täglich ins Haus
steht: die richtige Balance zwischen dem Antreiben von
Wachstumskräften und der gleichzeitigen Zurückführung der Verschuldung, des Staatsdefizits. Das ist eine
ambitionierte Aufgabe.
({0})
Ich habe gestern und heute sehr genau zugehört, was
vonseiten der Opposition kam. Ich muss sagen: Zur
Frage, wie Perspektive, Zuversicht, Chancen und die Reduzierung des Staatsdefizits verbunden werden können,
habe ich von Ihnen nichts, aber auch gar nichts gehört,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Es verwundert ja auch nicht: Wir haben in der vergangenen Wahlperiode in der schärfsten Finanz- und Wirtschaftskrise miteinander in der Regierung und mit der
FDP in der Opposition Maßnahmen getroffen, für die
wir in ganz Europa und darüber hinaus bewundert werden.
({2})
Das Ziel war vor allem, zu verhindern, dass die Wirtschaft zusammenbricht, dass Spareinlagen der Menschen gefährdet werden und dass aus der Finanz- und
Wirtschaftskrise eine gigantische Arbeitslosigkeit entsteht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, dass Sie 2005 die Union brauchten, zeigt doch: Sie
haben eine gigantische Staatsverschuldung produziert.
Sie haben die größte Arbeitslosigkeit in Zeiten ohne Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht.
({3})
2005 waren wir in einer Situation, in der wir heute trotz
Finanz- und Wirtschaftskrise nicht sind.
({4})
Deswegen finde ich, dass weder Sie von der SPD noch
Sie von den Grünen ein Recht darauf haben, jetzt zu sagen, wie es gehen soll.
({5})
Sie konnten es in normalen Zeiten nicht, in Krisenzeiten
können Sie es erst recht nicht.
({6})
Es kommt also darauf an, Wirtschaft und Wachstum
voranzubringen und neue Chancen zu schaffen.
({7})
Dieser Haushalt zeigt sehr genau, dass es gelingen kann,
das Staatsdefizit zurückzuführen. Der Haushalt 2005
hatte ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro.
Wir hätten die Nettoneuverschuldung auf 6 Milliarden
Euro zurückgeführt, wenn nicht die Kosten der Krise dazugekommen wären.
({8})
- Wissen Sie, was mich bei der SPD wundert? Ich habe
den Eindruck, Sie haben wirklich den Verstand verloren.
({9})
Anstatt ein bisschen stolz auf das zu sein, was wir in der
Wirtschaftskrise miteinander erreicht haben,
({10})
tun Sie so, als ob all das, was wir heute vorlegen, damit
nichts zu tun hätte. Der Haushalt ist der Beweis für die
erfolgreiche Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise.
({11})
- Es hat überhaupt keinen Sinn. Es ist ein Teil Ihres Problems, dass Sie nie gewusst haben, was Sie sein wollen:
Regierung oder Opposition. Ich sage Ihnen: Sie sind
jetzt Opposition, damit Sie das genau wissen.
({12})
Früher haben Sie sich nie entscheiden können, was Sie
eigentlich wollten.
({13})
Es geht jetzt darum, diesem neuen Jahrzehnt eine
neue Perspektive zu geben. Dies tun wir.
({14})
Es geht darum, den Menschen zu sagen: Es gibt eine
Reihe von Möglichkeiten, euer Leben erfolgreich zu gestalten. Wir wollen die Freiheit des Einzelnen
({15})
in die Solidarität der Gemeinschaft einbinden. Wir wollen, dass der Einzelne frei entscheiden kann, wie er sein
Leben gestaltet.
({16})
Aber es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Deshalb
gilt für diese christlich-liberale Koalition der Grundsatz:
die Freiheit des Einzelnen eingebettet in die Solidarität
der Gemeinschaft.
({17})
Das heißt zunächst einmal, dass wir allen eine Chance
geben wollen und müssen, ihr Leben aus eigener Kraft
zu gestalten. Es ist für niemanden eine tolle Sache - ich
weiß aus Erfahrung, aus meinem früheren Beruf, wovon
ich rede -, wenn er jeden Tag zum Sozialamt oder zur
Hartz-IV-Behörde gehen muss, um sich dort sein Geld
zu holen.
({18})
Der Grundsatz „Die Freiheit des Einzelnen, eingebettet in die Solidarität der Gemeinschaft“ heißt: Wir helfen
denen, die in Schwierigkeiten sind. Deswegen ist es richtig, dass es solche Sozialsysteme gibt. Aber ich kann eines nicht akzeptieren, und das werden wir in der Koalition auch nicht akzeptieren: Es geht nicht darum, mit
immer mehr Geld einen sozialen Status abzusichern. Es
geht vielmehr darum, Aufstiegschancen zu schaffen und
die Menschen aus der Abhängigkeit des Sozialstaates
herauszuholen, statt sie darin zu halten.
({19})
Von Ihnen war nichts zu der Frage zu hören, wie wir
nach dem Grundsatz der Freiheit und Eingebundenheit
in die Gemeinschaft die Veränderungen gestalten, die bei
den Hartz-IV-Regelungen notwendig sind.
({20})
Ich sage Ihnen dazu: Erstens ist der Grundsatz des Forderns und Förderns richtig. Zweitens ist es richtig, dass
wir Maßnahmen getroffen haben, damit niemand wie
früher einfach in der Sozialhilfe bleibt. Stattdessen wird
den Menschen mit einem enormen Aufwand und auch
persönlicher Zuwendung in den kommunalen Beratungsstellen geholfen.
Jetzt kommt es vor allem darauf an, dass wir für Kinder Chancen schaffen.
({21})
- Dazu komme ich jetzt. Ich denke dabei an dieses Gerede: Wenn wir mehr Geld in die Hand von Familien gäben - Herr Heil, es ist eine Unverschämtheit, welche
Fragen Sie hier stellen -, dann würden wir nur dafür sorgen, dass die Kinder nicht in die Schule oder in irgendwelche Betreuungseinrichtungen kämen. - Ich will Ihnen sagen, was wir als Herausforderung sehen müssten:
Hier in Berlin, wo es noch kein Betreuungsgeld gibt,
lässt der rot-rote Senat zu, dass Hunderte von Kindern
nicht in die Schule kommen. Es wird nichts unternommen. Was in Neukölln passiert, ist ein Skandal. Dagegen
muss etwas gemacht werden.
({22})
Ich habe mich informiert, und mir ist gesagt worden,
dass Familien ihre Kinder nicht in die Schule schicken.
Das ist doch keine Frage des Betreuungsgeldes; vielmehr muss man über geeignete Maßnahmen nachdenken, um dem entgegenzuwirken.
({23})
Wer duldet, dass Kinder nicht in die Schule gehen, und
tatenlos zuschaut, der versündigt sich an den Zukunftschancen dieser Kinder.
({24})
Chancen müssen durch Bildung geschaffen werden.
Diese Bildungsangebote müssen auch angenommen
werden. Dafür werden wir sorgen.
Der Haushalt beinhaltet diese Chance, Frau Künast.
Wir werden in dieser Koalition 12 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, um Verbesserungen in der
Bildungspolitik voranzubringen.
({25})
Selbstverständlich werden wir mit den Ländern darüber
sprechen, wie das umgesetzt werden soll. Aber eines
kann ich Ihnen sagen: Die 12 Milliarden Euro werden so
eingesetzt, dass sie den Kindern nutzen.
Wenn wir vorankommen und erreichen wollen, dass
dieses neue Jahrzehnt ein Jahrzehnt neuer Chancen wird,
dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Wachstum
möglich ist. Wir sind uns darüber einig - so habe ich Sie
in der letzten Debatte verstanden -, dass wir das Niveau
der Wirtschaft nach der Schrumpfung um 5 Prozent
nicht beibehalten, sondern wieder zu dem früheren Niveau zurückkehren wollen.
Deswegen kann ich nicht verstehen, Frau Künast
- wahrscheinlich haben Sie es nicht richtig kapiert -,
warum Sie die Bundeskanzlerin kritisieren, wenn sie
sagt, dass wir 2013 wieder da sein wollen, wo wir 2008
gewesen sind. Das ist eine Perspektive, nicht das, was
Sie gesagt haben.
({0})
Wir wollen, dass dieses Land nicht auf dem Niveau
der Finanz- und Wirtschaftskrise stehen bleibt, sondern
dass es wieder nach vorne und nach oben kommt.
({1})
Herr Kauder, der Herr Kollege Liebich würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dazu gehört auch, dass man die nötigen Voraussetzungen schafft. Ein Thema, das dafür von Bedeutung ist,
ist die Energiepolitik, Frau Künast. Wir haben entschieden, dass wir noch in dieser Legislaturperiode ein Energiegesamtkonzept vorlegen. Dieses Konzept wird der
Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien sein.
({0})
Aber das unterscheidet eine christlich-liberale Koalition von Rot-Grün: Wir machen Politik unter realen Gesichtspunkten. Wir betrachten die Wirklichkeit, schauen
uns an, was ist, und bringen dann die richtigen Lösungen
und betreiben keine Umsetzung nackter Ideologie, mit
der Sie im Grundsatz gescheitert sind.
({1})
Wir werden unser Konzept der erneuerbaren Energien
umsetzen. Bis wir das erreicht haben, muss es auch noch
Kernkraftwerke als Brückentechnologie geben. Wir
brauchen ebenfalls noch Kohlekraftwerke. Wenn es aber
technisch möglich ist - ich bin sehr dafür -, bessere
Kohlekraftwerke als die alten zu betreiben, dann müssen
und werden wir das machen; denn das ist richtige Umweltpolitik.
({2})
Wir betrachten die Wirklichkeit. In diesen Tagen ist
allenthalben gesagt worden: Wir brauchen noch Zeit, um
das Stromleitungssystem an die neue Zeit heranzuführen. Dafür werden gigantische Investitionen in Höhe von
20 Milliarden Euro notwendig sein. Dieses Geld werden
die Stromkonzerne aufwenden müssen. Das wird für
weiteres Wachstum sorgen. Aber eines werden wir nicht
machen, nämlich um der Ideologie willen Kraftwerke,
die günstig und sicher Strom erzeugen, abschalten und
so die Preise nach oben treiben. Was ist das denn für eine
heuchlerische Politik, hier zu jammern, dass die Menschen belastet werden, und sie dann mit einer aus purer
Ideologie betriebenen Energiepolitik zu belasten? Nicht
mit uns, Frau Künast!
({3})
Wir werden aus diesem neuen Jahrzehnt ein Jahrzehnt
der Chancen machen. Das heißt, der Zusammenhalt in
der Gesellschaft muss gefördert werden; das hat die
Bundeskanzlerin klar und deutlich gesagt. Deswegen ist
ein Schwerpunkt die Integration. Wir wollen, dass die
Menschen in diesem Land zusammenleben und gemeinsam einen Beitrag für sich und dafür leisten, dass dieses
Land vorankommt. Integration stellt Anforderungen; darüber haben wir mehrfach gesprochen. Das Beherrschen
der deutschen Sprache, der Besuch einer Schule und eine
Ausbildung sind wichtig, um voranzukommen. Man
muss auch akzeptieren, dass es hier in diesem Land tradierte kulturelle Werte gibt, die weitergelebt werden sollen. Es gibt unsererseits auch Angebote. Selbstverständlich soll jeder in diesem Land seine Religion leben
können. Wir von der Union setzen uns dafür ein, dass
Muslime in ihren Moscheen beten können. Aber ich erwarte dann, dass die Muslime, die das Glück der Glaubenstoleranz in diesem Land erfahren, mutig sagen: Wir
wollen, dass Glaubenstoleranz auch in unseren Heimatländern gelebt wird.
({4})
Wir von der Union wollen, dass die Menschen mit Migrationshintergrund die Erfahrungen, die sie in unserem
Land machen, an ihre Heimat weitergeben.
Wir wollen - das werden wir auch tun - neue Produkte fördern. Auch in Zukunft müssen die modernsten
und besten Autos der Welt hier in Deutschland gebaut
werden. Deswegen steigen wir in die Elektromobilität
ein.
({5})
Die Elektromobilität hat aber noch eine ganz andere
Bedeutung. Je besser es uns gelingt, Speichertechnologien zu entwickeln, desto leichter ist es, regional erneuerbare Energien an die Haushalte weiterzugeben. Sie
haben bisher keinen Beitrag dazu geleistet, eine solche
Speichertechnologie zu entwickeln.
({6})
Es weht ein anderer Geist in dieser Koalition; das
habe ich klar und deutlich gesagt.
({7})
Uns ist die Freiheit des Einzelnen, eingebunden in die
Solidarität der Gemeinschaft, wichtig. Wir nehmen auch
unsere Verantwortung in der Welt wahr. Die Kanzlerin
hat eine Regierungserklärung zu Afghanistan mit anschließender Debatte für die nächste Woche angekündigt. Dann wird sich zeigen, ob wir alle bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.
Es gibt den schönen Satz: Wer sich jemanden mit
Hilfe zu eigen gemacht hat, der ist ihm auch verantwortlich. Wir können nicht einfach ohne Perspektive und
ohne eine Konzeption von dort weggehen, wo wir einmal angefangen haben, Verantwortung zu übernehmen.
Darüber sprechen wir nächste Woche.
Wir tragen mit unserer Entwicklungszusammenarbeit
auch Verantwortung dafür, dass Staaten in die Lage versetzt werden, Aufgaben zu erfüllen. Ich bin dankbar für
die große Spendenbereitschaft für Haiti. Das zeigt wieder einmal, zu welcher Solidarität die Menschen in diesem Land fähig sind.
({8})
Das ist großartig. Herzlichen Dank dafür!
Aber wir müssen uns schon jetzt Gedanken darüber
machen, wie es weitergeht, nachdem die ärgsten Probleme behoben sind. Die Menschen in Haiti dürfen nicht
wieder in die Situation geraten, in der sie vor dieser
schrecklichen Katastrophe waren. Wir tragen Verantwortung dafür, dass auch sie ein menschenwürdigeres Leben
führen können als bisher. Dazu müssen wir einen Beitrag
leisten.
Es erfüllt uns mit Sorge, wie viele Menschen auf dieser Welt bedrängt, eingesperrt und verurteilt werden für
ihre demokratischen und ihre Glaubensüberzeugungen.
Das darf uns nicht ruhen lassen. Es gibt Dinge, die den
ganzen Menschen und nicht nur Kompromisse fordern.
Die Menschenrechte sind unteilbar.
({9})
Die bedrohteste Glaubensgruppe auf der ganzen Welt
sind die Christen, zum Beispiel im Irak, aber auch in
anderen Ländern. Gerade eine christlich-liberale Koalition darf angesichts dessen nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen mit denjenigen solidarisch sein, die
nichts anderes wollen, als sich als Christen zu ihrem
Glauben zu bekennen. Da erwarte ich einen starken Beitrag der Bundesregierung sowie von denjenigen, die in
unserem Land die Erfahrung von Glaubenstoleranz machen können. Auch das wird ein Anspruch an diese Regierungskoalition sein müssen.
({10})
Ich freue mich, dass wir in dieser Koalition zusammengefunden und uns vorgenommen haben, diesem
Jahrzehnt den Stempel von mehr Chancen und mehr Perspektiven aufzudrücken.
({11})
Wir wollen den Menschen die Gelegenheit geben, für ihr
Leben zu sorgen. Die Freiheit des Einzelnen, eingebunden in die Solidarität der Gemeinschaft - das zeichnet
diese Koalition aus.
({12})
Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Liebich.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kauder, da Sie auf meine Frage
nicht antworten wollten, muss ich mich auf diesem Wege
noch einmal melden. Sie haben Bezug genommen auf
die Bildungspolitik hier in der Hauptstadt, die bekanntlich von der SPD und unserer Partei Die Linke regiert
wird. Ich bin es zunehmend leid, die Propaganda, die
hier immer wieder geäußert wird, einfach so im Raum
stehen zu lassen.
({0})
Die rot-rote Landesregierung hat trotz der Plünderung
der Haushaltskassen - auch durch die Politik, die mit
diesem Haushalt verfolgt wird ({1})
kostenfreie Kitaplätze für die Kinder von drei bis sechs
Jahren beschlossen.
({2})
Anders als in vielen anderen Bundesländern ist das
Studieren im Land Berlin gebührenfrei.
({3})
Wir haben die Hauptschule und damit das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft.
({4})
Wir würden gern - ich weiß, das finden Sie falsch, aber
ich will es hier einmal angemerkt haben - in Berlin noch
viel mehr für die Bildungspolitik tun, wenn Sie mit Ihrer
Politik nicht die Hoteliers anstatt die Länder und Kommunen entlasten würden.
Vielen Dank.
({5})
Ihre Antwort, Herr Kauder.
Herr Kollege, Sie haben zunächst einmal gar keine
Frage stellen können, weil ich schon geahnt habe, in
welche Richtung Sie wollen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Sie haben mein Anliegen überhaupt nicht verstanden.
Zunächst einmal ging es mir gar nicht um die Qualität
des Bildungswesens in Berlin, wenngleich ich zur Qualität eines Bildungswesens, das die Frechheit besitzt,
Menschen den Zugang zu einer bestimmten Schule zu
verweigern und Gymnasialplätze auszulosen, etwas sagen könnte. Das ist schon ein Superhammer im Umgang
mit Bildungschancen.
({0})
Aber darauf wollte ich gar nicht eingehen.
Ich wollte nur sagen: Das hat überhaupt nichts, null
und nichts mit Geld zu tun, sondern mit der Frage, wie
ich konkret Politik umsetze. Dass Menschen ihre Kinder
nicht in die Schule schicken und dieser Tatsache einfach
zugeschaut wird, ist ein Thema, das nichts mit Geld zu
tun hat, sondern mit dem Willen, die richtige Politik zu
machen.
({1})
Ich sage Ihnen: Das darf nicht zugelassen werden. Kinder, die nicht in die Schule gehen, haben keine Lebensperspektive. Wenn Sie dafür keine Verantwortung tragen
wollen, dann frage ich mich, warum Sie überhaupt in
Berlin regieren.
({2})
Jetzt hat der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den zweiten Tag hören wir sehr intensiv den
Reden aus der Koalition zu. Ich werde einen Eindruck
nicht los: Ein bisschen klingen Ihre Reden wie eine Bitte
um Vergebung. Wer genau hinschaut, der sieht doch bei
den Rednern der Koalitionsfraktionen die roten Ohren.
({0})
Sie wollen so tun, als seien die ersten 100 Tage dieser
Regierung so etwas wie Anfängerpech, alles nur ein
Ausrutscher. Das ist das durchgehende Motto dieser Regierung. Aber seien Sie sicher: Niemand wird Ihnen das
glauben. Sie werden sich das Jahr über vor dem Zorn der
Bürger, den Sie hervorrufen, nicht verstecken können.
({1})
Millionen von Menschen sind in der Tat schon jetzt
enttäuscht, auch viele Anhänger der Union und der FDP.
Was diese schwarz-gelbe Regierung abliefert, ist nicht
nur ein Fehlstart, wie ich in den ersten Tagen dieser Regierung gesagt habe, sondern - ich kann es nicht anders
nennen - politisches Totalversagen.
({2})
Sie reden die Lage schön, statt den Menschen zu sagen,
was ist. Wir stecken nach wie vor im tiefsten Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit. Wir könnten wissen, dass uns diese Krise nach wie vor fest im Griff hat.
Doch Sie machen denselben Fehler wie zu anderen Zeiten. Sie vertrauen auf die Nachrichten von den Aktienmärkten, und Sie wollen nicht wissen, dass Aktienkurse
heute über die tatsächliche Lage in der Wirtschaft nichts
aussagen. Das ist und bleibt trügerischer Schein. Sie
klammern sich an den Schein, und Sie wollen nicht
wahrhaben, dass die wahre Krise, die Krise auf dem Arbeitsmarkt, erst jetzt auf uns zukommt.
Millionen von Menschen machen sich Sorgen um die
Zukunft. Sie fragen, ob der Wohlstand, den wir haben
und hatten, auch noch für ihre Kinder gesichert ist. Das
alles sind große Fragen an eine Regierung; aber diese
Regierung schwebt in den Wolken, faselt von bürgerlicher Mehrheit wie von einer messianischen Erlösung,
von einer geistig-politischen Wende, als ob bis jetzt der
Antichrist dieses Land im Würgegriff gehalten hätte. So
kann man inszenieren, sich präsentieren, aber regieren
kann man so nicht.
({3})
Mit Verlaub, was ich sehe, ist eine Regierung, die
nicht regiert, die mit sich selbst beschäftigt ist, die sich
ineinander verbeißt, statt sich um die wirklichen Probleme dieses Landes zu kümmern, die nichts geregelt
kriegt, die sich allenfalls am Sonntagabend in der
Kneipe gut versteht. Deshalb kann ich verstehen, dass einer der Kommentatoren zu Ihren Treffen sagte: Prost
Mahlzeit!
({4})
Union und FDP haben bislang keinen einzigen Ansatz
für ein schlüssiges Zukunftskonzept vorgelegt. Deshalb
gibt es in diesem Land - mich wundert das nicht - weit
und breit keine Spur von Aufbruchstimmung. Was uns
Union und FDP tagtäglich bieten, das ist die ständige
Wiederholung eines kleinkarierten Gezänks. Ich kann
Ihnen versichern - auch wir kommen herum -: Die Menschen sind das leid. Sie haben diese Regierung nicht gewählt, um schlecht unterhalten zu werden, sondern um
ordentlich regiert zu werden. Sie alle auf der Regierungsbank haben den Auftrag, zu regieren. Aber dann
tun Sie das auch! Fangen Sie endlich damit an!
({5})
- Was heißt „zur Sache“? Nicht wir, sondern Sie selbst
reden doch von Neustart und Krisengipfel, wie ich gelesen habe. Allerdings weiß ich eines: Einen Neustart
braucht man erst, wenn man weiß, dass das, was man begonnen hat, in Trümmern liegt.
Es stimmt: Das schwarz-gelbe Phantasialand, das Sie
sich gebaut haben - auf der einen Seite sollen die Menschen kaum noch Steuern zahlen, und auf der anderen
Seite sollen sie besser leben -, hat sich doch in Wahrheit
in kurzer Zeit in Luft aufgelöst; die Leute spüren das.
Wer Deutschland, das größte Land in Europa, ernsthaft
regieren will, der muss mehr bieten als solche Luftschlösser. Das sage ich insbesondere der FDP. Frau Bundeskanzlerin, da haben Sie recht: Niemand kann auf
Dauer gegen die Realität regieren. Sie haben heute Morgen gesagt: Macht die Augen auf vor dieser Realität! Das ist aber nichts, was an dieses Parlament oder gar an
die Oppositionsfraktionen adressiert werden sollte. Um
das zu sagen, brauchen Sie nicht den Deutschen Bundestag, Kameras und Mikrofone. Das müssen Sie der FDP
sagen, und dafür haben Sie das Kabinett. Nutzen Sie
diese Möglichkeit!
({6})
Herr Vizekanzler, was die Realität angeht, nützen am
Ende keine markigen Sprüche. Wir bitten herzlich darum, Herr Westerwelle: Verschonen Sie uns mit all diesen Ankündigungen von der geistig-politischen Wende!
({7})
Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?
Wir wären ja schon froh über die Anwendung der
Grundrechenarten; aber noch nicht einmal das funktioniert.
({8})
Sie wollen Steuersenkungen auf Pump, mal 15, mal 20,
mal 24 Milliarden Euro; genau wissen wir es noch nicht.
Sie wollen das, obwohl Sie wissen, dass kein Geld in der
Kasse ist - mehr als 300 Milliarden Euro werden bis
zum Jahr 2012 fehlen -, und obwohl Sie wissen, dass
nach den Umfragen die meisten Menschen in Deutschland das nicht für vernünftig halten und sagen: Guido,
lass das sein! - Sogar die Mehrheit der FDP-Wähler ist
dieser Meinung.
Bisher, Herr Westerwelle, Frau Merkel, haben Sie mit
der falschen Vorstellung mancher in diesem Land ganz
gut gelebt, Schwarz-Gelb verstehe mehr von Finanzen
und Wirtschaft als andere. Das glaubt Ihnen nach den
ersten 100 Tagen im Amt in Deutschland niemand mehr,
und das zu Recht.
({9})
Sie haben in den ersten 100 Tagen gezeigt: Sie verschleudern das Geld, sodass es hinterher an allen Ecken
und Enden fehlt. Schon jetzt ist absehbar, dass die Länder arm gemacht werden. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin - sie gehört bekanntlich nicht der SPD an - hat
gesagt: Die Gemeinden werden in den Ruin geführt. Nie hat eine Regierung den finanz- und wirtschaftspolitischen Vertrauensvorschuss, mit dem Sie vor 100 Tagen
gestartet sind, so schnell verspielt wie diese.
({10})
Die Opposition könnte sich darüber freuen; aber das ist
ein Drama für unser Land. Deshalb freut uns das nicht.
Aber wir werden Sie mit diesem Thema treiben, das
ganze Jahr hindurch. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen.
({11})
Dieses Jahr machen Bund, Länder und Gemeinden
- Sie wissen das, Herr Schäuble, auch wenn Sie es gestern nicht berichtet haben ({12})
alles in allem 145 Milliarden Euro neue Schulden. Herr
Schäuble, mit jedem Euro in Ihrem Haushalt machen Sie
30 Cent Schulden, die obendrauf kommen. 30 Prozent
Ihres Haushaltes sind schuldenfinanziert. Das ist die
Lage. Schlimm genug, könnte man sagen. Zum Teil,
aber eben nur zum Teil, ist das Folge der Krise. Schlimm
ist jedoch: Sie machen das Problem nicht kleiner, sondern Sie machen es größer, indem Sie weitere Steuersenkungen auf Pump machen und damit weitere Schulden
obendrauf packen, indem Sie eine Kopfpauschale einführen wollen - das ist ja der Vorschlag von Herrn
Rösler -, die anschließend notwendigerweise einen Sozialausgleich nach sich zieht, der 35 Milliarden Euro zusätzlich kostet. Sie, Herr Kauder, haben gesagt, die SPD
sei nicht bei Verstand. Ich sage Ihnen: Wenn Sie den
Leuten erzählen, dass das alles möglich ist, sind Sie
nicht ganz bei Trost.
({13})
Das Stück, das jetzt gespielt wird - ich wage vorauszusagen: genau bis zur Landtagswahl in NRW -, hat den
Titel: Im Himmel ist Jahrmarkt. Danach aber wird die
Bühne umdekoriert. Dann kommt ein anderes Stück. Das
Stück hat den Titel: Die Kassen sind leer.
Herr Schäuble, wir haben in der Regierung zusammengearbeitet. Ich schätze Sie und Ihre Arbeit. Sie haben über 40 Jahre in der deutschen Politik zugebracht.
Sie haben sich einen Ruf erarbeitet. Deshalb frage ich
Sie: Warum machen Sie dieses Theater mit?
({14})
Sagen doch wenigstens Sie die Wahrheit, nämlich dass
es so nicht geht, und sagen Sie das jetzt und nicht erst im
Juni dieses Jahres. Darauf kommt es an.
Frau Merkel und Herr Westerwelle, Sie versprechen
jetzt einen Neustart. Ich frage mich: Wie soll das eigentlich gehen? Einen Neustart kann es doch nur geben,
wenn man erkannt hat, warum man gegen die Wand gefahren ist. Einen Neustart kann es nur geben, wenn man
erkannt hat, dass die Richtung, die man eingeschlagen hat,
grundfalsch war. Ein Neustart kann doch nur funktionieren, wenn man auch die richtigen Leute dazu hat. Genau
das unterscheidet aber diese Koalition von der vorherigen. Vor gut einem Jahr hatten Sie, Frau Merkel, einen
Peer Steinbrück, der Ihnen ein Konzept für die Bankensanierung auf den Tisch gelegt hat.
({15})
- Dazu komme ich noch, Herr Trittin. Geduld, Geduld! Vor einem Jahr hatten Sie noch einen Arbeitsminister
Olaf Scholz, der Ihnen Konzepte für wirksame arbeitsmarktpolitische Instrumente auf den Tisch gelegt hat,
({16})
die dafür gesorgt haben, dass die Krise bei uns keine so
tiefen Spuren hinterlassen hat wie in den europäischen
Nachbarländern.
({17})
Ihnen fehlen nun solche Leistungsträger im Kabinett,
Frau Merkel, die Vorschläge entwickeln, wie Konjunktur
und Wachstum durch Innovation - genau das ist notwendig - gestärkt werden können.
Ich sage Ihnen: Die Gefahren der Krise sind nicht gebannt, aber diesmal sitzt Frau Merkel hier im Bundestag
mit leeren Händen,
({18})
mit Achselzucken, ohne Idee, ohne Plan. Das ist der Unterschied zu damals, den die Leute sehr wohl wahrnehmen. Sie merken auch, dass diese Regierung nichts zu
bieten hat.
({19})
Aber dass das so ist, ist aus meiner Sicht kein Zufall;
dahinter steckt ein bisschen mehr.
({20})
Das hat Gründe, die in der Architektur und in dem Wesen der jetzigen Koalition liegen. Beides lässt sich - da
bin ich ganz sicher - nicht ohne weiteres durch bloße
Ankündigungen verändern. All das kann man auch nicht
- darauf haben andere schon hingewiesen - mit Prosecco
und Tatar zukleistern.
({21})
Hier wird mit einer FDP regiert, die immer noch unter
Realitätsschock steht, die die Wirklichkeit nicht wahrhaben will, die trotz der tiefsten Krise seit 60 Jahren, seit
Beginn der Nachkriegszeit, immer noch daran glaubt,
dass die Politik gegen die Krise bereits in ihrem Parteiprogramm aufgeschrieben sei. Ich habe mir das Parteiprogramm der FDP angesehen. Dort steht nichts dazu.
Man vertraut ein bisschen auf Angebot und Nachfrage.
Hier ein Bonbon für die Hotelbesitzer, da ein Zuckerstück für die Unternehmenserben. Dann kommen die
Apotheker dran und schließlich noch ein paar andere
Freunde. - So funktioniert Regieren nicht. Wer gut regieren will, der muss das ganze Volk im Blick haben und
darf nicht nur einzelne Klientelgruppen bedienen.
({22})
Noch nie in der Nachkriegsgeschichte, nach meiner
Erinnerung jedenfalls, hat eine Bundesregierung sich so
offensichtlich in den Dienst von Lobbyinteressen gestellt, wie das jetzt der Fall ist.
({23})
- Nein. Wir haben von Ihnen etwas übernommen, was
damals zu Recht Bimbes-Politik und Bimbes-Republik
genannt wurde. Schützen Sie sich selbst davor, eine solche Situation erneut herbeizuführen! Das hat Ihnen geschadet, und es hat dem Land geschadet.
({24})
- Zur CSU komme ich noch.
({25})
Wir haben gestern über die Spende aus der Familie
von Finck, die Mövenpick-Spende, gestritten, und viele
haben sich verteidigt und gesagt, das sei doch alles in
Ordnung gewesen. Die FDP hat gesagt, das sei keine
Dankeschön-Spende; denn sie sei schon vorher bezahlt
worden.
({26})
Aber das macht doch die Sache nicht besser. Was wollen
Sie damit eigentlich sagen? War das sozusagen Vorkasse?
({27})
Wenn Sie so Politik machen, dann wird - das kann ich
Ihnen garantieren - die Frage gestellt werden: Sind wir
nach 100 Tagen dieser Regierung schon wieder in der
Bimbes-Republik?
Mein dringender Rat und meine Empfehlung, damit
nicht wir alle durch diese Spendenpraxis mit geschädigt
werden, ist: Vermeiden Sie auf jeden Fall den Eindruck,
dass Sie dahin zurückkehren wollen! Vermeiden Sie den
Eindruck, dass durch Spendeneinkommen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen wird! Am besten wäre
es, Sie würden dieses Geld schnellstmöglich auf eines
der vielen Konten von Herrn von Finck zurücküberweisen. Aber das Mindeste ist, dass das Hotelkettenbegünstigungsgesetz schnellstmöglich wieder aufgehoben wird.
Sie werden Gelegenheit bekommen, darüber abzustimmen. Das ist der einzige Ausweg. Nutzen Sie ihn!
({28})
- Ja, die habe ich gefragt. Da können Sie sicher sein.
Deshalb trete ich hier so selbstbewusst auf.
({29})
Ich will dazu gar nicht mehr sagen, weil die Spende
bereits im Mittelpunkt vieler Reden gestern und heute
gestanden hat. Ich habe mir aber folgende Frage gestellt:
Ist das eigentlich das einzige Vorkommnis, das den Vorwurf von Klientelpolitik in Ihre Richtung rechtfertigt?
Aus meiner Sicht jedenfalls ist genauso schlimm, dass in
kurzer Zeit, innerhalb von wenigen Tagen, an vielen
Stellen Cheflobbyisten aus deutschen Verbänden und
deutschen Unternehmen in Spitzenpositionen der Ministerien gerückt sind.
({30})
Ich weiß nicht, ob Herr Röttgen da ist; ich sehe ihn im
Augenblick nicht. Aber aufgrund meiner Beschäftigung
mit Energiepolitik in der Vergangenheit weiß ich, dass es
in Deutschland eine ganze Reihe von unabhängigen Energieexperten gibt. Keinen von diesen hat Herr Röttgen in
sein Ministerium geholt.
Stattdessen hat er jemanden geholt, der seit Jahrzehnten aufseiten der Industrie für die Atomkraft gestritten
hat. Herr Hennenhöfer soll jetzt als Spitzenbeamter im
Bundesumweltministerium die Grundzüge der deutschen
Energiepolitik bestimmen. Herr Röttgen, was haben Sie
sich eigentlich dabei gedacht? Wenn es noch eines Beispiels bedurft hätte: Das ist ein Musterbeispiel erfolgreichen Lobbyismus in dieser Bundesregierung. Deshalb sage ich: Herr Röttgen, Sie werden sich am Ende
Ihr Energiekonzept von der deutschen Atomlobby diktieren lassen.
Was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt - ich habe
es ja nicht fassen können -, ist die Tatsache, dass dieser
Spitzenbeamte, den Sie sich eingekauft haben, in den
zentralen Genehmigungsentscheidungen, die demnächst
in Ihrem Hause anfallen werden, aus Rechtsgründen wegen Befangenheit nicht einmal mitwirken darf. Das ist
ein Skandal. Herr Röttgen muss der deutschen Öffentlichkeit erklären, welchen Sinn diese Personalentscheidung macht.
({31})
Herr Rösler, was die grundsätzliche Aufgabe des Gesundheitsministers angeht, nämlich dafür zu sorgen, dass
jeder in diesem Lande einen Anspruch auf bestmögliche
Versorgung hat, sind wir nicht im Streit. Es gibt da aber
ein paar Unterschiede, die auch mit dem unterschiedlichen Einkommen zusammenhängen. Diese drücken sich
in der Struktur der Versicherten aus. Wenn Sie wirklich
den Anspruch haben, bestmögliche Versorgung für jeden
zu garantieren, dann geht das nur, wenn Sie die gesetzlich Krankenversicherten gegen die Interessen von Lobbyisten verteidigen. Dass das nicht einfach ist, können
Sie von Ulla Schmidt erfahren.
({32})
- Sie werden sich noch an meine Worte erinnern. Man
braucht ein breites Kreuz, um den täglichen Druck von
den Akteuren im Gesundheitswesen auszuhalten.
({33})
Sie probieren noch nicht einmal, wie viel Druck Sie
aushalten, sondern holen sich gleich den Cheflobbyisten
der privaten Krankenversicherungen in die Grundsatzabteilung des Gesundheitsministeriums. Das ist nicht verboten, werden Sie sagen. Aber in diesem Lande gibt es
70 Millionen gesetzlich Versicherte. Sie verstehen nicht,
dass die Mehrheit der Menschen in diesem Lande Angst
haben, weil sie befürchten, dass ihre Interessen durch
Ihre Personalentscheidung untergebuttert werden.
({34})
Herr Rösler, Sie nähren mit jeder öffentlichen Äußerung
diese Befürchtung der breiten Masse der Bevölkerung.
Deshalb sage ich Ihnen: Mit Ihrer Gesundheitspolitik
werden Sie in der eigenen Koalition noch viel Spaß bekommen. Den wünsche ich Ihnen. Ich wünsche aber den
Versicherten in diesem Lande, dass sie die Gesundheitsversorgung behalten, die sie unter guter sozialdemokratischer Führung der letzten Jahre gewohnt sind.
({35})
Ob die CSU Herrn Baron von Finck auch zu Dank
verpflichtet ist, wissen wir noch nicht ganz genau.
({36})
Wahr ist jedenfalls, dass Herr Seehofer, wie wir gehört
haben, ebenfalls schon über Jahre für die Interessen der
Hotelbesitzer stramm gefochten hat. Seehofer ist derjenige, der bis vor kurzem noch gesagt hat, er sei Chef der
letzten wirklichen Volkspartei in Deutschland.
({37})
- Herr Schröder hat sich da nie beworben, wenn ich das
richtig weiß.
({38})
Aber dann verstehe ich das Gezappel nicht, das ich im
Augenblick in der CSU sehe. Als wir noch in der Großen
Koalition waren, habe ich immer gedacht, das habe etwas mit den Sozis in der Koalition zu tun, weil die CSU
mit denen besondere Schwierigkeiten habe. Aber das
Gezappel geht ja weiter. Heute hü, morgen hott und
übermorgen eine ganz andere Meinung, so die tägliche
CSU-Taktik ohne irgendein erkennbares politisches Ziel.
Wenn Sie mich fragen, dann ist die CSU auf der Suche
nach sich selbst statt auf der Suche nach Lösungen für
dieses Land. Wenn mich nicht alles täuscht, dann könnte,
wenn ich nach Bayern schaue, Herr Seehofer der Abwickler der ehemals stolzen bayerischen Staatspartei
werden. Herr Seehofer: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, würde Gorbatschow sagen.
({39})
Ich sage das nicht ohne Not. Ich gebe Ihnen jetzt eine
Begründung dafür. Was die CSU-Politik in den letzten
Jahren in Bayern mit Blick auf das große Börsenkasino
der Bayerischen Landesbank, bei dem 14 Milliarden
Euro verzockt worden sind, angeht: Die CSU hat in Bayern - das nehmen Sie hoffentlich ernst - ihre finanz- und
wirtschaftspolitische Kompetenz auf Dauer verspielt.
({40})
Ich war am Dreikönigstag im Berchtesgadener Land.
Herr Ramsauer, das ist ganz sicher ein wunderschöner
Wahlkreis; das will ich nicht bestreiten.
({41})
- Ja, auch das. - Ich habe nach der Veranstaltung mit
vielen Leuten, auch mit CSU-Leuten, gesprochen. Sie
sagen: Früher waren wir wirklich stolz auf unsere CSU
in Bayern. Wir waren stolz, weil wir es besser konnten,
sagen sie.
({42})
Dieser Stolz ist weg, sagen einige. Und: Ich schäme
mich dafür, was die bei der Landesbank mit unserem
Geld gemacht haben. Sie haben es einfach verzockt; weg
ist es.
Das Geld, das die kleinen Leute in Bayern erarbeitet
haben, ist bei der Bayerischen Landesbank verbrannt.
({43})
Ich sage Ihnen voraus: Diese Erbsünde in Bayern werden Sie so schnell nicht wieder los. Das ist bitter für die
CSU in Bayern. Aufgrund der Reden hier sage ich an die
CSU gerichtet: Seien Sie zwischendurch einfach mal etwas weniger von oben herab, und zeigen Sie etwas mehr
Demut! Auch Sie, meine Damen und Herren von der
CSU, sind in der Realität Deutschlands angekommen.
({44})
Nun tut die Bundeskanzlerin Frau Merkel so, als hätte
sie mit dem ganzen Gezeter der Männer links und rechts
um sich herum nichts zu tun.
({45})
Einige sagen sogar: Das ist geschickt.
({46})
Nur, wahr ist es nicht.
({47})
Frau Merkel, Sie haben Ihren aktiven Anteil an dem aktuellen Desaster in der Koalition. Sie schauen nämlich
dem Treiben zwischen FDP auf der einen Seite und CSU
auf der anderen Seite einfach teilnahmslos zu. Sie halten
sich einerseits heraus und erklären das andererseits noch
zur Methode. Sie spielen Leute von der FDP und der
CSU ganz geschickt gegeneinander aus, schlagen sich
aber selbst in die Büsche. Beispiele dafür haben wir in
den letzten Tagen erlebt.
({48})
Die Steuersenkung ist ein Beispiel. Zur Steuersenkung haben Sie lange nicht das Geringste gesagt. Vor
der Wahl in Nordrhein-Westfalen wollen Sie nicht zugeben, dass das alles leere Versprechungen sind. Darum
musste erst einmal Herr Schäuble ins Rennen.
({49})
Er musste erst einmal sagen: Das geht so nicht; es ist
kein Geld dafür da. - Als er dann einmal öffentlich gesagt hatte, was notwendig zu sagen war, sind Sie ihm in
den Rücken gefallen
({50})
und haben in einem Interview im Handelsblatt öffentlich erklärt - das haben dann einige zu einem Machtwort hochstilisiert -: Nein, Herr Schäuble, die FDP hat
recht. - Es soll also doch Steuersenkungen in breitem
Umfang geben, obwohl kein Geld da ist. Es soll möglicherweise doch eine Reduzierung des Spitzensteuersatzes um 10 Prozent geben, und das alles trotz leerer Kassen. Anschließend haben Sie veranlasst, dass der
Finanzminister diese Pirouette wieder mitdreht. Meine
Damen und Herren, das ist keine seriöse Politik. Ich bin
mir sicher: Das wird nicht belohnt werden, auch nicht
bei der wichtigen Wahl, die in diesem Jahr stattfindet.
({51})
Für das Heraushalten und Ausspielen von Teilen der
Koalition gegeneinander gibt es noch ein paar andere
Beispiele, unter anderem die Causa Steinbach. Es geht
um die Frage, ob Frau Steinbach dem Stiftungsrat der
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehören darf und soll. Ich vermute, Sie haben da eine Meinung. Ich vermute, Sie wissen, dass Frau Steinbach diesem Stiftungsrat nicht angehören wird. Aber statt das zu
sagen, lassen Sie die FDP das Geschäft erledigen, so wie
es früher in der Großen Koalition durch die SPD erledigt
worden ist. Sie fürchten sich davor, den Vertriebenenverbänden klipp und klar die Wahrheit zu sagen. Würde
Frau Steinbach dem Stiftungsrat angehören, wäre das
eine Katastrophe für das deutsch-polnische Verhältnis.
Aber statt das selbst klar zu sagen, müssen das bei Ihnen
immer die jeweiligen Koalitionspartner tun. Das ist nicht
fair. Das ist nicht offen. Das ist keine Leitentscheidung
der Kanzlerin.
({52})
Ich nenne als weiteres Beispiel Europa und die Türkei. Im Koalitionsvertrag steht dazu auch nichts Genaues, es wiederholen sich allenfalls die Formulierungen
aus früheren Koalitionsverträgen. Herr Westerwelle sagt
bei seinem Türkeibesuch das eine, die CSU täglich das
andere. Von der Kanzlerin hören wir kein klares Wort
dazu, wie die Regierung mit dieser Frage umgehen will.
Frau Merkel, in Ihrem Kabinett darf nicht nur jeder
machen, was er will. Sie wollen sogar, dass jeder macht,
was er will. Das mag für Sie persönlich, vielleicht sogar
im Augenblick für die Umfragewerte das Richtige sein
- es ist jedenfalls nicht negativ -, es ist aber schlecht für
unser Land. Das ist Ihr Anteil am Schlamassel dieser
Koalition und an dem Drama, das sich in Deutschland
abspielt.
({53})
In einem haben Sie recht: In diesem Land ist Erneuerung notwendig. Neues Denken ist gefragt, und zwar
dringend. Ja, Frau Merkel, aber was tun Sie? Sie tun genau das Gegenteil. Sie reichen altem Denken, ich sage
sogar uraltem Denken die Hand. Sie reichen die Hand einer Politik, die schon bei Frau Thatcher und Herrn
Reagan vor Jahrzehnten gescheitert ist. Müssen wir in
Deutschland denn auch noch die Erfahrung machen,
dass die Verarmung des Staates keine Garantie für
Wachstum ist? Wenn Sie so weitermachen, dann befürchte ich, dass das der Fall sein wird.
({54})
Dabei liegen die Themen für die Erneuerung dieses
Landes auf der Hand: grüne Revolution, die älter werdende Gesellschaft, bessere Bildung, bessere Integration. Aber was hören wir heute Morgen in Ihrer Rede?
Wir hören wieder nur Ankündigungen, wieder nur Überschriften. Wo ist das Konzept dieser Regierung für eine
Modernisierung der Wirtschaft? Wo ist das Konzept dieser Regierung für die Arbeit von morgen? Gar nichts
höre ich dazu! Wo ist die Weichenstellung für Bildung,
Betreuung und Integration? Stattdessen - Sie haben eben
zugehört - gibt es wieder die Ankündigung von neuen
Gipfeln: wieder die Ankündigung eines Bildungsgipfels,
wieder die Ankündigung eines Integrationsgipfels. Ich
frage Sie: Was sollen all diese neuen Gipfel, wenn Länder und Gemeinden keine Kohle mehr in ihrer Kasse haben, um daraus Politik zu finanzieren? Wir wollen Taten
sehen. Wir wollen Ergebnisse sehen. Die haben Sie
nicht. Deshalb ist Ihre Politik folgenlos und schädlich
für unser Land.
({55})
Wer Erneuerung will, der braucht Geld. Deshalb sage
ich: Stecken Sie das Geld, das noch zur Verfügung steht
- es ist wenig genug -, in Innovation, Forschung und
Bildung. Dort wird es dringend gebraucht. Stattdessen
verplempern Sie mal eben knapp 10 Milliarden Euro mit
dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Sie
hätten damit die Bildungshaushalte des Bundes verdoppeln können. Wenn jetzt noch 20 Milliarden Euro Steuersenkung draufkommen,
({56})
dann könnten Sie mit dem Geld, das Sie mit der Gießkanne übers Land verstreuen, Ganztagsschulen bauen,
Studienplätze schaffen, Forscher einstellen, Labors ausstatten und die Zahl der Patente nach oben treiben.
({57})
All das wäre möglich, wenn Sie nicht an dieser blödsinnigen, an dieser falschen Politik festhielten.
({58})
Mit dem, was Sie gegenwärtig auf den Weg bringen,
plündern Sie nicht nur die öffentlichen Kassen des Bundes, der Länder und der Gemeinden, sondern Sie schwächen auch das, was gerade in der gegenwärtigen Situation in unserem Land so wichtig ist: die soziale
Sicherheit. Wir ahnen und wissen im Grunde genau
- einige aus der Koalition sagen es in Interviews ja auch
schon öffentlich -: Nach der NRW-Wahl wird der Rotstift angesetzt, natürlich bei den Schwachen und bei den
Normalverdienern. Wir hören schon die zynischen Begleitkommentare von Roland Koch und anderen: Treibt
die faulen Säcke endlich einmal zur Arbeit! Der FDPGeneralsekretär bezeichnet den Staat als schwächlichen
Nichtsnutz. Das sagt jemand, der seinen Lebensunterhalt
jahrelang aus öffentlichen Kassen bestritten hat. Ich sage
Ihnen: Wer so borniert, wer so verächtlich über Arbeitslose und den notwendigen Schutz der Menschen daherredet, wer nicht lernt, dass wir nicht einfach zu den vermeintlich sonnigen Zeiten vor der Krise zurückkehren
können, der kann dieses Land nicht erneuern. Deshalb
werden Sie scheitern, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung.
({59})
Diese Bundesregierung ist zu der Erneuerung, die sie
sich selbst vorgenommen hat, nicht in der Lage.
Schwarz-Gelb kann das nicht. Schauen Sie auf Frau
Merkel. Sie sitzt mit leeren Händen auf dem Kanzlerstuhl.
({60})
- Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie zu den „leeren Händen“ klatschen.
({61})
So kann man vielleicht eine Zeit überstehen, aber Politik
für die Menschen in unserem Land kann man so nicht
machen.
Die Quittung dafür wird in diesem Jahr kommen. Das
wird für Sie eine bittere Erfahrung sein. Wenn die Menschen erkennen, dass sie von dieser Regierung getäuscht
worden sind, wenn sie erkennen, dass es nicht mehr
Netto vom Brutto, sondern weniger Netto vom Brutto
geben wird, wenn sie erkennen, dass in den Städten und
Gemeinden überall gestrichen wird, dass die Gebühren
für Kindergärten, Wasser und Abfall erhöht werden,
dass, was in einigen Städten Nordrhein-Westfalens
schon jetzt erkennbar ist, Stadtteilbüchereien, Theater
und Schwimmbäder geschlossen werden, wenn die Menschen erkennen - das hat Frau Künast eben richtig gesagt -, dass sie trotz einer Kindergelderhöhung nicht
mehr, sondern weniger Geld im Portemonnaie haben,
dann wird das Vertrauen in diese Regierung wegbrechen.
Ich sage Ihnen: Das, was Sie mit den Menschen treiben,
insbesondere vor den Wahlen, ist ein falsches Spiel. Das
beschädigt das Vertrauen in diese Regierung; da bin ich
mir sicher. Schlimmer aber ist, dass das auch das Vertrauen in die politischen Institutionen beschädigt.
({62})
Darum ist das, was Sie in den ersten 100 Tagen Ihrer Regierungszeit aufgeführt haben, kein schlechtes Lustspiel,
sondern bitterer Ernst.
Herr Schäuble, ich habe Ihnen gestern gut zugehört.
Meine herzliche Bitte ist, dass Sie über einen Satz, den
Sie gestern gesagt haben, noch einmal ganz ernsthaft
nachdenken. Dieser Satz ist in Ihrer Rede im Zusam1284
menhang mit der Diskussion über die Parteispenden
von Finck gefallen. Sie haben in der Debatte gestern versucht, Kritik an Ihrer Klientelpolitik unter Verweis auf
Weimar verstummen zu lassen. Wer sie kritisiert - ich
darf Sie einmal zitieren -, der stehe in den Traditionen
der „Radikalen von rechts und links“. So haben Sie das
gestern genannt. Herr Schäuble, überlegen Sie noch einmal, ob das wirklich ein Satz ist, den Sie an die Adresse
der Sozialdemokraten richten wollen. Mit Blick auf die
Geschichte dieser Partei kann das kein ernstgemeinter
Satz sein.
({63})
Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bin sofort fertig. - Ich halte dem entgegen: Demokratie gefährdet nicht der, der Falsches falsch nennt. Die
wirkliche Gefahr für die Demokratie ist eine Politik, die
sich richtiger Einsicht verweigert,
({0})
die das tut, was nur Einzelnen nützt, die das Gemeinwohl aber vernachlässigt und die Kritik daran Majestätsbeleidigung nennt. Das darf nicht sein.
({1})
Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende.
Die Gefahr für unser Land sind nicht die Kritiker, das
sind Sie selbst. Machen Sie Schluss mit der Klientelpolitik! Machen Sie Schluss mit der Politik sozialer Spaltung! Kehren Sie auf den Weg der Verantwortung zurück!
Herzlichen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Hans-Peter Friedrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man konnte nach dieser Rede wirklich nicht davon ausgehen, dass so lange geklatscht wird.
({0})
Diese Rede, Herr Steinmeier, war lang, laut und enttäuschend.
({1})
Diese Rhetorik, mit der man versucht, ein blutleeres
Sammelsurium und Peinlichkeiten zu überspielen, liegt
Ihnen einfach nicht.
({2})
Wissen Sie, letztes Jahr waren Sie eigentlich noch
ganz vernünftig.
({3})
Mit „geistiger Wende“ haben wir nicht gemeint, dass Sie
sich jetzt in geistiges Unterholz begeben sollen.
({4})
Nein, mit „geistiger Wende“ haben wir gemeint, dass wir
mehr Freiheit in diesem Land brauchen. Lieber Herr
Steinmeier, Ihre Angriffe auf die Bundesregierung waren
ungerechtfertigt
({5})
und sie waren billig.
({6})
Sie sollten sich nicht auf dieses Niveau begeben. Vielleicht hätten Sie, wenn es um die Verquickung von Politik und wirtschaftlichen Interessen geht, auch über Ihren
Freund Gerhard Schröder und Gazprom reden können.
({7})
Aber auf dieses Niveau möchte auch ich mich nicht begeben.
Ich beglückwünsche Sie, dass Sie bei Ihrem Urlaub in
Bayern offensichtlich noch einige Sozis getroffen haben.
({8})
Es gibt nicht mehr viele davon. Bei den Umfragen liegt
Ihre Partei, wenn ich das sagen darf, bei 17 Prozent. In
der letzten Woche haben auf die Frage nach der Wirtschaftskompetenz der CSU 64 Prozent der bayerischen
Bevölkerung gesagt: Die CSU hat die Wirtschaftskompetenz. Das liegt nach allen Untersuchungen daran, dass
Bayern die Region mit der größten wirtschaftlichen Freiheit in Europa ist.
({9})
Deswegen gibt es auch die meisten Investitionen in diesem Land. Darauf sind wir stolz.
({10})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({11})
Das ist die Kompetenz, auf die die CSU stolz sein kann.
({12})
Die christlich-liberale Koalition legt ihren ersten
Haushalt vor; aber es ist nicht der erste Haushalt in einer
Krise, sondern bereits der zweite. Den letzten, lieber
Herr Steinmeier, haben wir zusammen mit Ihnen verabschiedet. Wir haben festgestellt, dass die Wirtschaftskrise kein Land in der Welt verschont, sondern überall
zuschlägt. Es gibt viele Länder, die am Rand des Erträglichen, am Rand des Staatsbankrotts angelangt sind, einige mit Massenarbeitslosigkeit. Unser Land ist bisher
relativ verschont geblieben. Das liegt daran, dass
Deutschland, dass die deutsche Volkswirtschaft eine hervorragende Substanz hat.
({13})
Es liegt auch daran, dass vonseiten der deutschen Politik, auch hier im Hohen Hause, rechtzeitig, schnell und
richtig reagiert wurde. Wir haben in der Großen Koalition zusammen - vielleicht wollen Sie sich nicht mehr
daran erinnern; aber ich erinnere Sie daran - öffentliche
und private Investitionen angestoßen. Ich denke nur an
die Wärmesanierung von Gebäuden. Wir haben mit der
Kurzarbeit eine Brücke von der Krise hinüber in die
Normalzeiten gebaut. Hoffen wir, dass diese Brücke lang
genug sein wird. Wir haben gemeinsam, Sie von der
SPD und wir, im letzten Jahr Steuerentlastungen in Höhe
von 14, 15 Milliarden Euro beschlossen, die zum
1. Januar dieses Jahres in Kraft treten. Ich verstehe nicht,
wieso Sie sich jetzt von diesen Beschlüssen, die Sie
selbst mitgetragen bzw. vorangetrieben haben, verabschieden wollen.
Weil sich diese Krise im Haushalt widerspiegelt, hat
der ehemalige SPD-Bundesfinanzminister im Mai letzten Jahres einen Haushaltsentwurf für 2010 vorgelegt, in
dem eine Erhöhung der Neuverschuldung um 86 Milliarden Euro vorgesehen war;
({14})
das ist die Wahrheit. Das ist das Spiegelbild der Krise.
Seit drei Monaten regiert eine christlich-liberale Koalition,
({15})
die die Politik der Krisenbewältigung des letzten Jahres weiterentwickelt hat, konsequent und logisch.
({16})
Erstens stocken wir den Umfang der Steuerentlastungen,
die wir schon im letzten Jahr beschlossen haben, um
weitere 8,5 Milliarden Euro auf,
({17})
und zwar in allererster Linie - das ist der größte Brocken - für Familien. Dazu stehen wir, weil es richtig ist.
({18})
- Herr Poß, der größte Teil der im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vorgesehenen Steuersenkungen geht zugunsten der Familien,
({19})
der kleinere Teil dient der Entlastung der Unternehmen.
Haben Sie von der SPD etwa vergessen, dass die Unternehmen die Grundlage für Arbeitsplätze in diesem
Land sind
({20})
und dass jede Erleichterung für die Unternehmen auch
eine Verbesserung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze ist?
({21})
Insofern ist auch diese zweite Komponente, wie ich
glaube, von großer Bedeutung.
Trotz dieser neuen Impulse - wir stellen übrigens
750 Millionen Euro zusätzlich für Forschung und Bildung bereit - sieht unser Haushaltsentwurf eine geringere Neuverschuldung als der damalige Entwurf des
SPD-Bundesfinanzministers vor.
({22})
Das zeigt, dass wir die Dinge solide angegangen sind.
Das Zweite ist - auch darauf möchte ich hinweisen -:
Es gibt in diesem Lande nicht nur einen Schutzschirm
für Banken, sondern auch einen Schutzschirm für die
Arbeitnehmer. Auch dies haben wir zusammen auf den
Weg gebracht. In der jetzigen Krise ist es nämlich richtig, dafür zu sorgen, dass die Lohnnebenkosten nicht
steigen, weil dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden
könnten,
({23})
was vielleicht zur Folge hätte, dass Kurzarbeit in Arbeitslosigkeit umschlägt. Wir haben bei den Mitteln für
die Bundesanstalt für Arbeit 16 Milliarden Euro draufgelegt, die Mittel für die gesetzliche Krankenversicherung
um 4 Milliarden Euro erhöht und das Darlehen - ein Darlehen führt irgendwann zwangläufig dazu, dass die Beitragszahler dafür aufkommen müssen - in einen verlore1286
Dr. Hans-Peter Friedrich ({24})
nen Bundeszuschuss umgewandelt. Auch das ist, wie ich
glaube, ein wichtiger Gesichtspunkt.
Der Verlauf dieses Jahres und der weitere Verlauf der
Wirtschaftskrise sind unsicher; darauf wurde zu Recht
hingewiesen.
Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin
hat heute gesagt: Der Wirtschaftseinbruch in Deutschland betrug 5 Prozent. - Die Produktion in Deutschland
ist also um 5 Prozent eingebrochen. Ich möchte zu Vergleichszwecken daran erinnern, dass wir beim sogenannten Ölpreisschock in den 70er-Jahren einen Produktionsrückgang um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. Der
damalige Rückgang hat zu einer enorm hohen Arbeitslosigkeit geführt. Insofern kann man im Vergleich zu damals ermessen, was ein Rückgang um 5 Prozent bedeutet und wie gut es uns gelungen ist, die Arbeitslosigkeit
im Zaum zu halten und sie nicht ausufern zu lassen.
Herr Kollege Friedrich, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zulassen?
Keine Zwischenfragen, danke.
({0})
Gefahren lauern allerdings auch in manchen unserer
Partnerländer, die finanziell und wirtschaftlich zum Teil
schwach auf der Brust sind; auch hier müssen wir uns
auf vieles einstellen. Wir wissen nicht, was dieses Jahr
bringt. Aber die christlich-liberale Koalition ist auf alle
Eventualitäten vorbereitet. Unsere Antwort auf die Krise
und auf die Herausforderungen ist die soziale Marktwirtschaft. Das unterscheidet uns von der rot-rot-grünen
Opposition.
({1})
Wir setzen auf die Freiheit der Marktwirtschaft.
Das wichtigste Kapital unseres Landes sind das
Selbstvertrauen der Menschen, ihr Optimismus, ihre
Leistungsbereitschaft und ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. All dies sind Voraussetzungen dafür, dass der Sozialstaat, den wir alle bewahren und verbessern wollen, erhalten bleibt.
Die Generalsekretärin der SPD wurde dieser Tage in
einem Interview mit der Berliner Zeitung gefragt: Wo
würde die SPD denn sparen? Sie hat gesagt: Sparen
braucht man nicht, man muss nur die Steuern erhöhen.
Sie hat die Einführung eines neuen Soli und die Erhöhung von Steuersätzen vorgeschlagen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, wie erfinderisch die Linken sind, wenn es um die Einführung neuer
Steuern geht. Ich erinnere an die rot-grüne Ökosteuer,
die mit dem Wohlfühlwort „Öko“ versehen wurde, aber
nichts weiter war als das Abkassieren von Menschen.
({2})
Welches Etikett auch immer Sie auf eine Steuer kleben:
Am Ende müssen die Menschen zahlen. Lassen Sie also
das mit den Etiketten! Außerdem wissen Sie genau, dass
es wahnsinnig schwer ist, Steuern, die einmal eingeführt
sind, wieder abzuschaffen.
({3})
Deswegen sind wir bei solchen Vorschlägen - die von allen Seiten gemacht werden - sehr zurückhaltend.
({4})
Wir wollen, dass die Menschen fair behandelt werden, die ihr Leben lang gearbeitet haben und zu einem
späten Zeitpunkt ihres Arbeitslebens unverschuldet arbeitslos geworden sind. Es muss ein Unterschied gemacht werden zwischen denen, die jahrzehntelang gearbeitet haben und dann unverschuldet in Hartz IV
geraten, und denen, die noch nie gearbeitet haben. Deswegen, aber auch, um den Leistungsgedanken zu betonen, war es uns wichtig, dass das Schonvermögen erhöht
wird. Die christlich-liberale Koalition hat diesen Schritt
getan. Ich glaube, dass diese Entscheidung richtig ist.
({5})
Wir werden bei unseren Überlegungen weiter darauf
achten, dass die Kommunen - das ist ein Anliegen, das
ich als Vertreter der CSU besonders hervorheben will;
denn wir sind tief verwurzelt in den Kommunen - auch
in der Zukunft ihre Aufgaben erfüllen können. Wir werden auch vonseiten der Bundespolitik darauf achten,
dass die Kommunen in ihrer Wirtschaftsdynamik, in ihrer Investitionskraft weiterhin gefestigt und gestärkt
werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte, die wir uns
auf die Fahne geschrieben haben. Im Übrigen möchte
ich darauf hinweisen, dass die Wachstumsdynamik, die
wir gemeinsam durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz erhöht haben, auch den Kommunen zugutekommt.
({6})
Die Steuereinnahmen, die durch zusätzliches Wachstum
entstehen, kommen nämlich auch bei den Kommunen
an.
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zur Schuldenbremse sagen. Wir - FDP, SPD, CDU/CSU - haben die
Schuldenbremse im vergangenen Jahr in Verantwortung
gegenüber den nächsten Generationen gemeinsam verabredet. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Ich kann
nur immer wieder sagen: Weisen wir gemeinsam alle
Angriffe der Linken - sowohl derer, die sich die Linken
nennen, als auch der Linken in den Reihen anderer Parteien - auf die Schuldenbremse zurück! Freibier für alle
Dr. Hans-Peter Friedrich ({7})
und Schulden machen auf Teufel komm raus ist keine
verantwortliche Politik. Deswegen ist die Schuldenbremse richtig.
({8})
Diese christlich-liberale Regierung hat einen klaren
Auftrag: Wir werden Deutschland aus der Krise führen.
Wir werden das Land fitmachen für das neue Jahrzehnt,
und wir werden dafür sorgen, dass Deutschland in der
Welt an der Spitze steht.
Danke schön.
({9})
Der Kollege Heil zu einer Kurzintervention, bitte.
Herr Kollege Friedrich, da Sie nicht den Mut gezeigt
haben, eine Zwischenfrage zuzulassen, möchte ich Ihnen
eine ganz einfache Frage stellen.
Aus der Koalition waren unterschiedliche Äußerungen zu vernehmen, als es um die Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages ging. Ich will Ihnen hier
und jetzt, in der Reaktion auf meine Kurzintervention,
die Gelegenheit geben, zu Protokoll zu geben, wie sich
das verhält.
Können Sie - auch für die Zeit nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen - definitiv ausschließen,
dass der Arbeitslosenversicherungsbeitrag in dieser Legislaturperiode über das hinaus erhöht wird, was an Erhöhung - auf 3 Prozent - zum nächsten Jahr ansteht?
Ich frage danach, weil das für die Planbarkeit im Hinblick auf Personal, für wirtschaftliche Investitionen, für
den Faktor Arbeit sehr wichtig ist. Meine Frage ist ganz
einfach - Sie müssen nicht lang antworten -: Ja oder
Nein? Wird diese Koalition, um ihre Steuergeschenke zu
finanzieren, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag erhöhen und damit dafür sorgen, dass den Arbeitnehmern
weniger Netto vom Brutto bleibt?
Diese Frage ist offen, weil in der Koalition schon über
eine Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages
auf 4,5 Prozent diskutiert wird. Herr Friedrich, Ja oder
Nein: Werden Sie den Beitrag auf mehr als 3 Prozent erhöhen? Sagen Sie: Read my lips!
({0})
Herr Kollege Friedrich.
Lieber Herr Heil, allein die Tatsache, dass Sie solche
Fragen stellen, zeigt, welche Verwirrung bei Ihnen
herrscht.
({0})
Wir wollen wirtschaftliche Dynamik in dieses Land
bringen. Wir wollen, dass die Menschen arbeiten und
Lust an der Arbeit haben. Dazu gehört, dass wir ihnen
Entfaltungsmöglichkeiten dadurch bieten, dass wir ihnen
nicht das ganze Geld wegnehmen, das sie verdienen,
sondern ihnen mehr Netto vom Brutto lassen. Das ist unser Credo. Dass dazu natürlich auch gehört, dass wir ihnen nicht auf der einen Seite steuerliche Entlastungen
geben und auf der anderen Seite die Lohnnebenkosten
erhöhen, ist doch selbstverständlich.
({1})
Allein die Frage ist schon Unfug.
({2})
Natürlich ist dies eines der wichtigsten Ziele unserer
Wirtschaftspolitik überhaupt. Wir verstehen Wirtschaftspolitik nicht wie andere, die Genossen der Bosse, als
Klientelpolitik für die Großkonzerne. Unser Ansatz ist
Wirtschaftspolitik für die mittelständischen Unternehmen, für das Handwerk, für die landwirtschaftlichen Betriebe.
({3})
Dort sind die Erhöhungen von Lohnnebenkosten schädlich, und deswegen werden wir uns einer solchen Politik
der Erhöhung von Lohnnebenkosten entgegenstellen.
({4})
Nun hat Brigitte Zypries für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Der
Haushalt des Beauftragten für Kultur und Medien sieht
auf den ersten Blick gut aus: Es gibt keine Kürzungen in
der Kultur- und Medienpolitik des Bundes. Ja, es gibt
sogar eine moderate Steigerung, die aber hoffentlich
nicht nur an der tarifvertraglich bedingten Erhöhung der
Personalkosten liegt.
Die schlechte Nachricht allerdings ist: In Wahrheit
findet natürlich doch eine Kürzung bei den wichtigsten
Akteuren der Kultur in unserem Lande statt, nämlich bei
den Kommunen. Dies liegt nun nicht am Haushalt des
BKM, sondern an den sonstigen Entscheidungen, die
diese Regierungskoalition in den ersten hundert Tagen
bereits umgesetzt hat. Durch das sogenannte Wachs1288
tumsbeschleunigungsgesetz werden den Kommunen
mindestens 1,6 Milliarden Euro pro Jahr in den Kassen
fehlen, und zwar zusätzlich zu den ohnehin schon vorhandenen Mindereinnahmen aufgrund der Wirtschaftsund Finanzkrise.
Deshalb können viele Kommunen heute schon nicht
mehr freiwillige Leistungen in dem Umfang anbieten,
wie sie es gern täten. Gerade die freiwilligen Ausgaben
prägen das Leben in der Kommune. Bibliotheken,
Schwimmbäder, Theater, freie Kulturszenen, all das ist
ein Stück Lebensqualität und ein Kernstück kommunaler
Selbstverwaltung.
Wenn Sie heute in die Feuilletons der Zeitungen sehen, finden Sie an jedem Tag Auflistungen zu den Überlegungen der Kommunen, was künftig noch bei ihnen
eingespart werden kann. Diese Liste reicht von Theaterschließungen - das markanteste Beispiel ist Wuppertal über zahlreiche Einschränkungen bei den kulturellen
Förderungen verschiedenster Art bis hin zur Schließung
von Musikschulen.
({0})
Dazu hat Otto Schily bei seiner Amtsübernahme 1998
gesagt:
Wer Musikschulen schließt, gefährdet die Innere Sicherheit.
({1})
Damit hat er exemplarisch deutlich gemacht, welche Bedeutung die Kultur für unsere Gesellschaft hat. Es geht
eben nicht nur um das sogenannte Bildungsbürgertum,
das sich bei den Theaterpremieren der Stadt trifft. Nein,
es geht vor allen Dingen auch darum, dass man kleine,
alternative Kulturangebote in der Kommune machen
kann, die den Jugendlichen Alternativen zum Internet
und zum Fernsehen am Nachmittag aufzeigen.
({2})
Es geht auch um Angebote, die ihnen deutlich machen, welche Bedeutung das Spielen eines Instruments
haben kann. Ich denke etwa an die wunderbare Initiative
„Ein Musikinstrument für jedes Kind“. Es geht auch um
die freien Theaterprojekte wie das Projekt der „Atriden“
in meinem Wahlkreis, bei dem 90 Menschen aus 14 verschiedenen Nationen ein antikes Stück aufgeführt und
dabei gemeinsam gelernt haben, dass dieses Zusammenspielen viel mehr als „nur“ Theaterspielen ist. All diese
wichtigen Aufgaben von Kulturarbeit gehen verloren,
wenn wir die Kommunen finanziell ausbluten. Es wird
schwer sein, diese kulturelle Substanz wieder aufzubauen. Auch deshalb ist das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz in seinen Auswirkungen so verheerend.
({3})
Diese Überlegungen zur Kultur sind ein Grund für die
SPD, sich für die Einführung eines Staatsziels Kultur
in die Verfassung einzusetzen. Dazu lesen wir leider im
Koalitionsvertrag nichts.
({4})
Es zeigt sich: Nicht nur in der Steuerpolitik gibt es für
die Koalition nach knapp 100 Tagen im Amt ein verheerendes Zeugnis. Auch in der Kultur- und Medienpolitik
ist der Start missraten.
({5})
Ich erinnere an den Fall Brender, Chefredakteur im ZDF.
Herr Staatsminister, hier hätten Sie die Unabhängigkeit
des Rundfunks achten und verteidigen müssen.
({6})
Ein anderes Beispiel ist das wirklich unwürdige Geschachere um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Das Verhalten des BdV und seiner Präsidentin
belastet das deutsch-polnische Verhältnis erheblich. Es
hat inzwischen auch die Stiftung nachhaltig geschädigt.
({7})
Wir als Sozialdemokraten sehen in diesem Haushalt
einzelne Kritikpunkte in den einzelnen Titeln, die wir in
den Ausschussberatungen diskutieren werden. So sind
zum Beispiel im Haushalt keine Mittel für die geplante
Digitalisierung der Kinos vorgesehen. Wir wollen aber,
dass die kleinen Kinos unterstützt werden.
Wir alle wissen: Kunst ohne Künstler geht gar nicht.
Deshalb ist die Förderung von Projekten und Programmen durch die Kulturstiftung des Bundes sehr wichtig.
Wir meinen, die Mittel dieser Stiftung sollten aufgestockt werden. Wir möchten gerne von Ihnen die Erklärung, dass Sie bei der Künstlersozialversicherung nicht
den Weg der schwarz-gelben Landesregierung BadenWürttembergs einschlagen und diese Künstlersozialversicherung einstampfen wollen. Hier möchten wir gerne
Klarheit.
Ich komme zum Thema Internet. Der Vorschlag für
die Einsetzung einer Enquete-Kommission ist zwar
grundsätzlich gut. Wir meinen aber, dass da noch wesentliche Aspekte fehlen. Bei dieser Enquete-Kommission fehlt bisher zum Beispiel völlig die derzeitige
gesellschaftliche Debatte um das Internet: Welche politischen und welche soziologischen Auswirkungen hat
denn das Internet auf unsere Gesellschaft? Was hat sich
im Denken geändert, seit wir das Internet benutzen?
Diese Fragen, die jetzt auch in Amerika breit diskutiert
werden, müssen wir hier unbedingt erörtern.
In diesen Zusammenhang gehören die Stärkung der
Medienkompetenz und der informationellen und kommunikativen Selbstbestimmung in den neuen sozialen
Netzwerken ebenso wie die Frage der Sammlung und
Verwertung von Daten durch Unternehmen wie Google.
Dazu gehört für uns auch die Debatte, ob es Sinn macht,
extra eine Suchmaschine für Kinder zu finanzieren, oder
ob nicht Kinder im Rahmen der Stärkung von Medienkompetenz lernen sollten, mit den Angeboten des Internets umzugehen, statt dass man sie auf extra für sie entworfene Suchmaschinen verweist.
Frau Zypries, bitte kommen Sie zum Schluss.
Das, Frau Präsidentin, waren meine Überlegungen.
Die SPD wird im Ausschuss konstruktiv mitdiskutieren
und zusehen, dass in unserem Sinne noch Veränderungen stattfinden.
({0})
Jetzt spricht für die Bundesregierung der Kollege
Bernd Neumann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Zypries, an sich ist es schade, dass Sie sich in Ihrer
Jungfernrede im Bereich der Kultur eigentlich gar nicht
dem Kulturhaushalt, den wir heute zu diskutieren haben,
zugewendet haben. Sie haben ihn kurz angesprochen,
damit meine ich: gelobt. Insofern gehe ich erst einmal
davon aus, dass die SPD-Opposition mit dem, was wir
hier vorgelegt haben, völlig einverstanden ist.
({0})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode die Ausgaben des Bundes für die Kultur Jahr für Jahr kontinuierlich erhöht.
({1})
Auch im vorliegenden Haushalt - Kollegin Zypries hat
darauf hingewiesen - hat die Bundesregierung eine moderate Steigerung vorgesehen. Hinzu kommen die
Schritt für Schritt vorgenommene Realisierung des Sonderinvestitionsprogramms zum Erhalt des kulturellen Erbes - in 2010 mehr als 50 Millionen Euro - sowie die
Mittel aus dem Konjunkturpaket II, wodurch wir bis
2011 die Chance haben, für die Verbesserung der Infrastruktur in der Kultur bis zu 100 Millionen Euro auszugeben. Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise gilt:
Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft.
({2})
Damit aus der wirtschaftlichen Krise nicht auch noch
eine geistige wird, bedarf unsere Gesellschaft eines tragfähigen geistigen Fundaments. Dieses Fundament ist die
Kultur. Deshalb ist es aus gesellschaftspolitischer Sicht
kontraproduktiv, mit Streichungen im Bereich der Kultur
die Haushalte sanieren zu wollen.
({3})
Denn Kultur ist leider keine gesetzlich verankerte
Pflichtaufgabe. Dennoch sollte es unsere Pflicht sein, sie
zu schützen und ihre Rahmenbedingungen zu verbessern.
({4})
Gerade im Bereich der kulturellen Bildung dürfen
wir nicht sparen. Im Gegenteil: Wir wollen mehr als bisher unsere Verantwortung für dieses Schlüsselthema der
Zukunft wahrnehmen und mit gutem Beispiel vorangehen.
({5})
Durch die Einrichtung eines neuen Fördertitels für kulturelle Vermittlung und weitere Schwerpunktsetzungen der
Kulturstiftung des Bundes planen wir in diesem Jahr
Mittel in Höhe von über 12,5 Millionen Euro für die kulturelle Bildung ein. Außerdem wird eine Fülle von Maßnahmen über die von uns ohnehin geförderten Einrichtungen und Fonds initiiert und finanziert.
Für uns gilt: Der Zugang zur Kultur muss jedermann
möglich sein. Dort, wo es Barrieren gibt, sind sie abzubauen. Kulturelles Miteinander ist die beste Methode
zur Integration.
({6})
Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, das kulturelle Erbe zu bewahren, wie dies in vielen vom Bund geförderten Einrichtungen geschieht. Stellvertretend sei die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt. Mit der
Eröffnung des Neuen Museums im Oktober 2009 sind
zum ersten Mal seit 1939 alle Häuser auf der Museumsinsel wieder für das Publikum geöffnet. Die hohen Besucherzahlen bestätigen das große Interesse an diesem Ensemble.
Für das Jahr 2010 ist von der Bundesregierung im
Haushaltsentwurf vorgesehen, die Betriebsmittel für die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam mit Berlin
um 5 Millionen Euro auf 138 Millionen Euro zu erhöhen. Daneben stellen wir, der Bund, als alleiniger Finanzier bei Investitionen 92 Millionen Euro allein in 2010
zur Verfügung. Das heißt, wir tun etwas für den Erhalt
des kulturellen Erbes trotz finanziell schwerer Zeiten.
({7})
Die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses mit
dem Humboldt-Forum ist eine einmalige Chance für
die Kulturnation Deutschland. Wir errichten im Herzen
der Hauptstadt ein Schaufenster der Weltkulturen und
schließen eine schmerzliche Lücke im Stadtbild. Zusammen mit der Museumsinsel entsteht ein Ensemble von
Ausstellungshäusern, das weltweit seinesgleichen suchen wird.
({8})
Die vom Deutschen Bundestag beschlossene Realisierung des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin
wollen wir in dieser Legislaturperiode zügig fortsetzen.
Ein neuer internationaler Einladungswettbewerb mit einem vorgeschalteten offenen Bewerberverfahren soll im
Februar starten. Ich bin zuversichtlich, dass im
20. Jubiläumsjahr der deutschen Einheit die Jury einen
angemessenen und eindrucksvollen Entwurf nominiert,
der dann zügig realisiert wird.
Mir ist bewusst, dass wir uns auch haushaltsmäßig in
schwierigen Zeiten bewegen. Ich hoffe gleichwohl, dass
wie in der Vergangenheit auch zukünftig parteiübergreifend der für die Kultur notwendige Konsens bestehen
bleibt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen spricht jetzt für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Es ist
nicht ausgemacht, ob das für die Kultur gut oder schlecht
ist.
({0})
Einerseits wird dadurch auf die nationale Verantwortung
für die Kultur in unserem föderalen Staat hingewiesen.
Andererseits wird die Kultur dadurch zum kleinen
Anhängsel in der großen Haushaltsdebatte. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung, wie wichtig Kultur für
dieses Land ist und wie bedroht sie gerade jetzt ist, lässt
sich in einer Anhängseldebatte zur Haushaltsdebatte leider nicht führen.
({1})
Hätten wir doch jetzt den Satz in unserer Verfassung:
Der Staat schützt und fördert die Kultur. Wenn wir die
Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert hätten,
könnten wir gerade in dieser Zeit Signale setzen.
Staatsminister Neumann hat neulich im Ausschuss für
Kultur und Medien gesagt, man müsse sich der Verantwortung bewusst sein, die man auf nationaler Ebene
trage; der Bund habe Vorbildfunktion. Großartig gesprochen! Aber was heißt das konkret? Konkret heißt das,
dass diese Regierung ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschließt, das die Kommunen finanziell zunehmend in den Ruin treibt, wohl wissend, dass es die Kommunen zusammen mit den Ländern sind, die die
Hauptkosten für die Kultureinrichtungen tragen. Deshalb braucht die Kultur in unserem Land gerade in dieser
Krisenzeit nationalen Schutz.
({2})
Wenn Sie schon nicht auf uns hören, verehrter Staatsminister, dann hören Sie doch auf die Hilferufe der
Städte, des Städtetages und der Organisationen der Kulturschaffenden. Vom Kulturrat über den Bundesverband
Bildender Künstlerinnen und Künstler bis zum Deutschen Bühnenverein, alle fordern jetzt einen Notfonds
des Bundes. Genau das fordert auch die Linke in dieser
Haushaltsdebatte.
({3})
Ja, wir fordern ein Hilfsprogramm zur Erhaltung der kulturellen Infrastruktur in unserem Land, einen Schutzschirm für die Kultur, 1 Milliarde Euro. Diesen Vorschlag bringen wir ein.
({4})
Wir wollen uns nicht damit begnügen, dass hier und da
ein paar Symptome behandelt werden.
Der Staatsminister hat neulich folgenden interessanten Satz gesagt: Bei Katastrophen sei es folgerichtig,
wenn Bund, Land und Kommunen gemeinsam Hilfsfonds für die Kultur einrichteten. Ich frage: Ist diese
Krise keine Katastrophe, und ist die Krise plus Wachstumsbeschleunigungsgesetz dieser Regierung nicht geradezu eine doppelte Katastrophe für die Kultur?
({5})
Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Also
muss die Kanzlerin - sie ist leider nicht anwesend - auch
handeln. Sie wird dadurch Wachstum schaffen; denn
Kultur- und Kreativwirtschaft sind eine Wachstumsbranche. Wenn man dieser Branche aber das Fundament
nimmt - die Orchester, die Theater, die Museen, die Bibliotheken und vor allem die kulturelle Bildung der Kinder -, dann wird diese Zukunftswirtschaft verkümmern
und nicht wachsen. Schaffen Sie also einen Schutzschirm für die Kultur! Das ist nicht nur unsere Forderung. Das ist die Forderung der Stunde.
({6})
Nun noch ein paar Fragen zu den nationalen Prestigeprojekten der Bundeskultur in Berlin. Das Stadtschloss
sowie das Freiheits- und Einheitsdenkmal sind sehr umstritten, von Pannen begleitet und sehr teuer. Der Staatsminister hat leider kein Wort zum Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
gefunden. Dürfen wir einmal erfahren, lieber Staatsminister, wie es weitergeht? Wird das Institut aus dem
Historischen Museum ausgegliedert? Wird der Bundestag mit einem neuen Stiftungsgesetz befasst? Verzichtet
die Regierung auf das Berufungsrecht? Gibt es noch
mehr Stiftungsratsmitglieder des Bundes der Vertriebenen, wie es von Frau Steinbach gefordert wurde? Im Dezember letzten Jahres ist der einzige polnische Vertreter
im wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung zurückgetreten. Danach habe ich die Bundesregierung gefragt,
wie denn nun die polnische Sichtweise bezüglich der
Staatsminister Bernd Neumann: Staatsminister Bernd Neumann
Nachkriegsaussiedlung der Deutschen in Polen in der
Stiftung gewährleistet werden soll. Die Antwort lautete:
Die Bundesregierung legt weiterhin großen Wert auf
eine polnische Beteiligung. - Sehr schön! Aber wie?
Gibt es einen Nachfolger für Professor Szarota? Sucht
man überhaupt einen? Sieht man denn nicht, dass die
Aufgabe der Versöhnung bei diesem Projekt zunehmend
in den Hintergrund tritt?
Kanzlerin, übernehmen Sie!
({7})
Machen Sie Schluss mit dieser Art von Erinnerungskultur in der Verantwortung der Bundesregierung! Das täte
der politischen Kultur in unserem Land gut. Geld ließe
sich dabei übrigens auch sparen.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zu Recht schauen wir mit Stolz auf
die vielfältige Kulturlandschaft in Deutschland. Sie
weist eine hohe Dichte auf, ist durch öffentliches und
privates Engagement geprägt, und sie findet in den unterschiedlichsten Bereichen statt. Allein unsere Museen
werden jährlich von über 105 Millionen Menschen besucht. Kultur hat in Deutschland zu Recht einen besonderen Stellenwert. Ich bin froh, dass auch wir vonseiten
des Bundes einen kleinen Teil dazu beitragen können
und dürfen, dass die Kulturlandschaft Deutschland
weiter blüht.
Zurzeit präsentiert sich Deutschland mit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in besonderer Weise als Kulturnation. Diese Kulturhauptstadt steht für Kultur im Zeichen des Strukturwandels. Industriebrachen werden für
die Kultur neu entdeckt und für die Menschen erschlossen. Dies zeigt, welche Kraft und Kreativität im Kultursektor stecken. Dabei steht Kultur nicht nur für ideelle
Werte. Kulturförderung ist auch eine Investition in die
Zukunft. Viele Gutachten zeigen, dass jeder so investierte Euro als Kulturrendite im Wirtschaftskreislauf
bereits jetzt verdoppelt wird. Nicht umsonst spielt inzwischen die Kultur- und Kreativwirtschaft in einer Liga mit
der Chemie- und Automobilindustrie.
({0})
Ich glaube, dass wir darin übereinstimmen, dass die
Bedeutung der Kultur nicht stark genug betont werden
kann. Attraktive Kultureinrichtungen und Kulturangebote prägen entscheidend die Lebensqualität in unseren
Städten und Gemeinden. Sie sind damit identitätsstiftend. Das gilt sowohl für die Hoch- und Breitenkultur als
auch für die Pflege kultureller Traditionen oder die Entwicklung alternativer Kunstprojekte.
Besonders hohe Bedeutung kommt aber der kulturellen Bildung zu. Darum haben wir im Koalitionsvertrag
festgeschrieben - ich zitiere -:
Wir wollen gemeinsam mit den Ländern den Zugang zu kulturellen Angeboten unabhängig von finanzieller Lage und sozialer Herkunft erleichtern
und die Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bildung verstärken; kulturelle Bildung ist auch ein
Mittel der Integration.
Durch entsprechende tägliche Nachrichten kann man
den Eindruck gewinnen, dass unsere Gesellschaft zunehmend verroht und gerade junge Menschen Identitätsprobleme haben. Die Gewalt im Alltag nimmt ein immer
größeres Ausmaß an. Wir Liberale meinen, dass gerade
die kulturelle Bildung helfen kann, solche Tendenzen in
der gesellschaftlichen Entwicklung zu stoppen. Kulturelle Bildung ist für uns eine gemeinsame Zukunftsaufgabe von höchster Priorität.
({1})
Dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien,
Staatsminister Bernd Neumann, ist es in den letzten Jahren, auch mit Unterstützung unserer Fraktion, gelungen,
den Stellenwert der Kulturförderung des Bundes in den
Haushaltsberatungen deutlich herauszustellen und sogar
für einen Aufwuchs des Kulturetats zu sorgen. Dafür
möchte ich dem Kulturstaatsminister ausdrücklich danken.
({2})
Nun befinden wir uns in der größten Finanz- und
Wirtschaftskrise, die dieses Land seit dem Ende des
Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Geld muss gespart werden. Erfahrungsgemäß wird der Rotstift in solchen Zeiten gern bei den verhältnismäßig kleinen Kulturetats angesetzt. Gerade in den Ländern und Kommunen
geschieht dies, weil die Kultur nur als freiwillige Aufgabe eingestuft ist. Pflichtaufgaben haben dann Vorrang.
Dass es anders geht, zeigt zum Teil Sachsen. Dort ist
Kulturförderung Pflichtaufgabe und im Kulturraumgesetz geregelt. Darüber hinaus hat die Kultur durch
Art. 11 der Landesverfassung Verfassungsrang.
({3})
Der mit dem Kulturraumgesetz verbundene Solidareffekt schafft Planbarkeit und Sicherheit nicht nur für Kulturdezernenten, sondern durchaus auch für Vereine und
andere Körperschaften. Allerdings muss die soziale
Lage vieler Künstlerinnen und Künstler noch viel stärker
thematisiert werden.
Ich will die Kultur nicht per se aus den Sparbemühungen ausschließen. Aber nach 18 Jahren als Beigeordneter
in der kommunalen Kulturpolitik weiß ich, dass noch
kein Haushalt durch Einsparungen im Kulturetat saniert
worden ist.
({4})
Aber schon so manches abgerissene Haus hat dauerhaft
eine hässliche Baulücke hinterlassen. Das darf uns im
Kulturbereich nicht passieren.
({5})
- Dann sollen sie lieber das halbe Ordnungsamt schließen, als bei der Kultur zu sparen. - Trotz der klar verteilten Kompetenzen möchte ich den Ländern und Kommunen von massiven Einschnitten abraten. Gerade in
Krisenzeiten sind Streichungen im Kulturbereich kontraproduktiv.
({6})
Wie gesagt, die Kompetenzen sind in Deutschland
klar verteilt. Kultur ist Ländersache. Die Bundesländer
sind gefordert, ihre jeweiligen Landesgesetze so zu gestalten, dass die Kulturförderung auch in der Krise finanziell abgesichert bleibt. Ich hoffe, dass die Kultur bald in
allen Bundesländern ganz selbstverständlich zu den
Pflichtaufgaben gehört.
Dabei wäre die Verankerung der Kultur als Staatsziel sehr hilfreich. Es wäre ein Zeichen dafür, was die
Kultur unserer Nation wirklich wert ist. Ich will aber Engagement nicht nur von den Ländern fordern, sondern
auch vom Bundestag. Ich stehe dazu, dass wir weiterhin
den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien unterstützen, wenn es um die Kulturförderung vonseiten des
Bundes geht.
Danke schön.
({7})
Jetzt hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Streben nach Leistung, Wachstum und
Wohlstand beherrscht unsere Gesellschaft. Ein Bild malen, Theater spielen oder Musizieren ist bei uns keine
Leistung, sondern im besten Fall Talent, das in der Freizeit gepflegt werden darf. Auch für die Kommunen ist
Kultur keine Pflicht, sondern Kür, eine freiwillige Leistung. Es ist eine Tatsache, dass die sogenannten freiwilligen Aufgaben den Kürzungen als Erstes zum Opfer fallen, wenn den Kommunen das Geld ausgeht. Die stehen
vor dem finanziellen Kollaps. Ihre verfehlte Steuerpolitik mit großzügigen Geschenken an eine großzügige Klientel wird die Situation noch verschlimmern.
({0})
Der Flächenbrand im Kulturbetrieb hat gerade erst begonnen. Ein solcher Verlust kultureller Infrastruktur
kann nicht wieder rückgängig gemacht werden.
({1})
Allen voran die kleineren Kultureinrichtungen, die freie
Szene, die Soziokultur und die Kinder- und Jugendkultur
erwartet eine düstere Zukunft. Ziehen wir die Konsequenzen: Besser früher als zu spät brauchen wir einen
Nothilfefonds Kultur des Bundes. Darüber entscheidet
einzig und allein der politische Wille.
({2})
Der politische Wille konnte Banken retten. Für den Erhalt kleiner kultureller Institutionen wäre nur ein Bruchteil dieser Mittel notwendig. Die Rettung der Hypo Real
Estate hat so viel Geld verschlungen, wie der vierfache
Betrag aller öffentlichen Kulturausgaben pro Jahr in
Deutschland ausmacht. Im Haushaltsplan der Regierung
geht es in erster Linie um die Sicherung etablierter Aushängeschilder. Aber, Herr Neumann, solange der Bund
nicht gleichermaßen Verantwortung für die Förderung
kleiner Projekte und Institutionen übernimmt, riskiert er
trotzdem eine Verödung unserer Kulturlandschaft;
({3})
denn Generationengerechtigkeit bedeutet nicht nur, den
Schuldenberg zu reduzieren und unser kulturelles Erbe
für nachfolgende Generationen zu bewahren, es ist genauso wichtig, Kreativität zu fördern, die Entstehung
von Neuem zu fördern und die Fantasie zu fördern. Das
bedeutet vor allem, die Rahmenbedingungen für kulturelle Bildung zu verbessern.
Doch was macht die Bundesregierung? Sie kürzt die
Zuwendungen für die Kulturstiftung des Bundes. Wir
alle kennen die Bedeutung der Kulturstiftung im Bereich
der kulturellen Bildung. Neuerdings ist im Haushaltsplan 1 Million Euro für „kulturelle Vermittlung“ vorgesehen. Mir kommt es sehr fragwürdig vor, Gelder für die
Kulturstiftung zu kürzen und gleichzeitig in ein Phantom
mit dem Namen „kulturelle Vermittlung“ zu investieren,
von dessen Existenz die Opposition zum ersten Mal
durch den Haushaltsplan erfahren hat.
({4})
Wir sind gespannt, welche inhaltlichen Konzepte sich
dahinter verbergen und helfen auch gerne mit Ideen.
Wir helfen auch gerne bei der Medienpolitik. Die
Koalition hat groß angekündigt, die digitale Spaltung der
Gesellschaft verhindern zu wollen, aber es genügt nicht,
in jedem Haushalt einen Breitbandzugang zu legen. Notwendig sind mehr Projekte zur Förderung von Medienkompetenz. Entscheidend ist auch hier die Förderung der
kleinen Initiativen, in denen Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen die digitale Welt mit all ihren Chancen kritisch nähergebracht wird. Ich glaube, wir brauchen einen
Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Einem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz möchte ich die Forderung nach Entschleunigung entgegensetzen.
({5})
Alle, gerade Kinder und Jugendliche, sind auf Zeit zum
Wachsen und zum Spielen angewiesen. Geistige Entwicklung braucht Zeit. Da lässt sich nichts beschleunigen.
Wir müssen Abschied nehmen vom Leistungswahn
und in die Bildung investieren, Räume und Freiräume
schaffen für kreative Inhalte. Das Wohlergehen der Menschen in unserem Land hängt nicht ab von materiellem
Wachstum zugunsten einer privilegierten Schicht, sondern von lebensfreundlichen Bedingungen. Ein besseres
Leben für viele ist für uns Grüne wichtiger als mehr
Geld für wenige.
({6})
Das heißt, es darf Ihnen als Regierung nicht in erster
Linie darum gehen, die schillernde Oberfläche unserer
Kulturnation zu polieren, Stichwort „Berliner Stadtschloss“. Wenn die Kommunen vor dem Aus stehen,
kann der Bund nicht tatenlos zusehen.
({7})
Wir dürfen unsere kommunalen Kultureinrichtungen
nicht dem Beschleunigungswahnsinn opfern.
Es ist unsere Pflicht, zukünftigen Generationen keine
geistige Verarmung zu hinterlassen. Der Weg zu einem
neuen Denken - wir meinen damit etwas anderes als
Frau Merkel -, zu einem besseren Leben ist ohne ein
neues Bewusstsein für kulturelle Werte nicht möglich.
Vielen Dank.
({8})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes, Einzelplan 05.
Als erster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Guido
Westerwelle für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Diese Kontinuität zu
wahren, das gehört nach Auffassung der christlich-liberalen Bundesregierung zum Wertvollsten, was wir Deutsche an politischem Inventar zu bieten haben. Weil deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist, setzen wir auf
Abrüstung.
Ich möchte auf eine Begegnung aufmerksam machen,
die in der Öffentlichkeit bisher vielleicht noch nicht die
nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. In zwei Wochen
kommen hier in Berlin acht Persönlichkeiten zusammen:
Henry Kissinger, Richard von Weizsäcker, Sam Nunn,
Helmut Schmidt, William Perry, Egon Bahr, George
Shultz und Hans-Dietrich Genscher. Diese acht Männer
haben jahrzehntelang für den Frieden gearbeitet. Sie haben Vertrauen gestiftet. Sie haben Konflikte überwunden, und sie sind ganz gewiss keine naiven Persönlichkeiten. Heute eint diese acht erfahrenen Persönlichkeiten
die gemeinsame Überzeugung, dass eine nuklearwaffenfreie Welt nötig und möglich ist. Auf diesem Wege
wollen auch wir als christlich-liberale Bundesregierung
gehen. Wir sind der Überzeugung: Nach dem Jahrzehnt
der Aufrüstung brauchen wir jetzt ein Jahrzehnt der Abrüstung; Abrüstung ist das Gebot der Menschheit in diesen Jahren.
({0})
Wer die Chancen der Globalisierung sieht, erkennt
natürlich auch die Gefahren. Ich will nicht, so wie ich
das früher in Generaldebatten vormittags oft getan habe,
über die innenpolitischen, wirtschaftspolitischen und bildungspolitischen Fragen der Globalisierung sprechen,
sondern über die außenpolitischen. Die Globalisierung
ist chancenreich; aber sie hat auch Schattenseiten, zum
Beispiel die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Der internationale Terrorismus, auch der
Sumpf von radikalen Ideologien in der Welt und nicht
mehr nur in Regionen, das Vernetzen von Fundamentalismus, Radikalismus, Menschenverachtung und Unmenschlichkeit, all das ist natürlich eine Geißel unserer
Zeit, ein Ergebnis des technologischen Fortschritts und
der Globalisierung. Wer die Globalisierung mit realistischem Optimismus begrüßt, der muss zugleich auf Abrüstung setzen, um die globalisierte Welt sicherer zu machen.
({1})
Der amerikanische Präsident Barack Obama hat insofern ein Fenster der Gelegenheit, wie man es nennt, aufgestoßen. Ich meine damit nicht in erster Linie seine
Rede in Kairo - die auch -,
({2})
sondern vor allen Dingen, Frau Kollegin Roth, seine
Rede in Prag, eine Rede, die meiner Meinung nach viel
zu wenig beachtet worden ist. Hier sehen wir, dass ehrgeizige, visionäre Ziele formuliert werden können. Es ist
richtig, dass wir den amerikanischen Präsidenten beim
Wort nehmen. Damit wir uns auch hier nicht missverstehen: Wir wollen nukleare Abrüstung nicht, um leichter
konventionelle Kriege führen zu können, sondern für
uns als christlich-liberale Bundesregierung und, wie ich
hoffe, auch für das ganze Haus gehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüstung Hand in Hand. Das
müssen wir allen waffenreichen Regionen in der Welt
immer wieder ins Stammbuch schreiben.
({3})
Wir sprechen mit unseren Partnern und Verbündeten
über Abrüstung. Das stand vielleicht bei den Berichten
über eine Reihe von Antrittsbesuchen auf meinen ersten
Auslandsreisen, die ich machen durfte, zum Teil ja auch
in Begleitung von Kolleginnen und Kollegen, nicht sofort ganz vorne auf den Titelseiten, aber es ist gleichwohl ein Kernanliegen unserer Politik. Wir wollen nämlich, dass auslaufende oder auch nie ratifizierte Verträge
über Rüstungskontrolle wirksam bleiben bzw. wirksam
werden. Wir sprechen also mit unseren Partnern und
Verbündeten über Abrüstung; das habe ich gerade erst
auch in Japan getan, wohin mich verschiedene Kollegen
nahezu aller Fraktionen dieses Hauses begleitet haben.
Wir wollen mit unseren Verbündeten auch darüber
sprechen, dass die letzten in Deutschland stationierten
Nuklearwaffen abgezogen werden.
({4})
Wir setzen auf die Friedensdividende. 20 Jahre nach unserer Wiedervereinigung - dieses wunderbare Jubiläum
feiern wir ja dieses Jahr - ist es an der Zeit, dass wir uns
alle gemeinsam diese Friedensdividende politisch erarbeiten. Die Welt friedlicher zu machen, das ist auch eine
Antwort auf die Globalisierung unserer Zeit.
({5})
Aber wir sind nicht naiv. Deswegen vergessen und
ignorieren wir nicht die Gefahren, die es gibt. Ich muss
den kundigen und interessierten Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses, die jetzt bei dieser Debatte dabei sind, nicht viel über die großen Herausforderungen
und Gefahren sagen. Wir hatten schon gestern Gelegenheit, darüber zu sprechen. Es gibt viele Sorgen. Denken
wir an den Jemen oder an Afghanistan. Darüber wurde
hier schon oft diskutiert. Wir alle wissen, was eine atomare Bewaffnung des Iran an Destabilisierung insbesondere für die Region, aber auch für die Welt bedeutet.
Natürlich wissen wir auch, dass wir beim Nahostkonflikt
neue Impulse brauchen, um Gesprächsfähigkeit wiederherzustellen. Deswegen drängen wir alle da, wo wir es
können, darauf, dass die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden.
Ich will hier aber genauso klar sagen, meine Damen
und Herren, weil das aus Sicht der Bundesregierung Teil
der Staatsräson ist: Zur Sicherung des Friedens gehört
ausdrücklich auch die Anerkennung des Existenzrechts
Israels als jüdischer Staat in sicheren Grenzen. Ich sage
das vor dem Hintergrund der gerade eben stattgefundenen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen, die
angesichts unserer eigenen Geschichte ein bemerkenswertes Ereignis waren. Man sollte bedenken, dass dieses
dunkelste und grausame Kapitel unserer Geschichte weniger als ein Menschenleben her ist. Es ist deswegen für
die Bundesregierung völlig klar - das möchte ich hier auch
ohne Wenn und Aber noch einmal festhalten -: Israel hat
das Recht auf eine sichere Existenz, auf Sicherheit der
eigenen Bürgerinnen und Bürger in sicheren Grenzen.
Wer das mit antisemitischen Reden bestreitet, wie es
zum Beispiel die iranische Regierung tut, der muss wissen, dass wir alle, also alle Deutschen, dem stets entschiedenen Widerstand entgegensetzen werden.
({6})
Dass wir für die Zweistaatenlösung werben, das muss
ich, weil es auch Teil der Staatsräson ist und Politik der
letzten Regierungen war, eigentlich gar nicht erwähnen.
Es versteht sich von selbst. Natürlich gehört zur Zweistaatenlösung zugleich das Recht der Palästinenser auf
einen eigenen lebensfähigen Staat.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen all das deswegen in großer Klarheit gesagt, weil ich nach meinen
vielen Gesprächen in den letzten Wochen und Monaten
befürchte, dass die Zeit der Entscheidung kommen wird,
und zwar in den nächsten Wochen. Wir müssen uns entscheiden, wie wir als Teil der Völkergemeinschaft auf
die Gesprächsverweigerung des Iran reagieren.
Deswegen sage ich hier für die deutsche Bundesregierung in großer Klarheit: Für uns ist eine atomare Bewaffnung des Iran in keiner Weise akzeptabel. Wenn der Iran
nicht zu Gesprächsfähigkeit zurückfindet, wenn er nicht
endlich wieder verhandelt, wenn er nicht seinen selbst
übernommenen internationalen Verpflichtungen wieder
entspricht, dann werden wir notfalls auch bereit sein, in
der internationalen Gemeinschaft eine Ausweitung der
Sanktionen zu beschließen. Wir werden jedenfalls einer
atomaren Bewaffnung des Iran mit Sicherheit nicht zuschauen, ohne irgendetwas dagegenzusetzen. Niemand
in diesem Hause könnte das verantworten.
({7})
Wir werden in der nächsten Woche eine große Debatte über Afghanistan führen. Erlauben Sie mir, weil
wir alle in Vorbereitung auf die Afghanistan-Konferenz
auch in den jeweiligen Fraktionen beraten und diskutieren, was zu tun ist, einige Worte dazu zu sagen. Wir werden nächste Woche eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin hören. Das ist das selbstverständliche
Recht des Parlaments. Zugleich ist es aber auch ausdrücklich die Absicht und der Wunsch der Regierung;
denn wir haben ein Interesse an einer möglichst breiten
Mehrheit in diesem Hause bezüglich der AfghanistanPolitik. Ich rechne nicht mit jedem, aber ich setze auf
alle und ihre Vernunft.
Meine Damen und Herren, wir dürfen dem Terror in
Afghanistan keinen neuen Rückzugsraum geben. Wir
wollen bitte nicht vergessen: Millionen Frauen und Männer in Afghanistan setzen auf uns. Sie haben etwas Freiheit erringen können, zum Beispiel für Mädchen und
Frauen. Das ist der wahre Grund, warum wir in Afghanistan sind: um unsere eigene Gesellschaft vor Terrorismus zu schützen, aber zugleich auch, um unserer mitmenschlichen Verpflichtung nachzukommen, damit
Frauen nicht ermordet werden, nur weil sie so leben
möchten, wie wir es bei uns als selbstverständlich ansehen, damit Brunnen gebohrt werden können, damit es
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
eine Perspektive für dieses Land gibt. Die Völkergemeinschaft kann es sich nicht leisten, dass dieser Staat
strauchelt oder sogar fällt. Das ist eine Herausforderung
für die ganze Wertegemeinschaft und hat mit einer Militarisierung von Außenpolitik nichts, aber auch gar nichts
zu tun. Wer jetzt kopflos aus Afghanistan abziehen
würde, ließe Millionen Menschen im Stich und schickte
viele von ihnen in den sicheren Tod durch Taliban-Henker. Das muss einmal ausgesprochen werden.
({8})
Ich habe Anfang dieses Jahres dazu fünf Punkte vorgeschlagen, die die breite politische Agenda in London
prägen sollen. Ich brauche das an dieser Stelle nicht
noch einmal vorzutragen. Nur so viel: Für uns ist völlig
klar - ich hoffe, dass wir im Deutschen Bundestag derselben Überzeugung sind -, dass wir zunächst einmal
über unsere Ziele in Afghanistan reden müssen, darüber,
was wir an Aufbau und Stabilisierung der guten Regierungsführung schaffen wollen, darüber, wie wir wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die Menschen
dort schaffen können und was wir tun können, um dem
Terrorismus den Boden zu entziehen. All das gilt es zunächst einmal zu besprechen und zu diskutieren. Erst
dann kann es um Weiteres gehen.
Ich habe entgegen manchem Zeitungsbericht nie gesagt, dass eine Aufstockung zum Beispiel unserer Ausbildungskapazitäten bei der Bundeswehr auf keinen Fall
infrage komme. Ich habe auch nie gesagt, dass wir das in
jedem Fall machen. Ich habe nur auf die Reihenfolge Wert
gelegt - dabei bleibe ich auch für die Bundesregierung; in
genau dieser Reihenfolge wollen wir das beraten -: Zunächst einmal geht es um die Ziele, um die Perspektive
für Afghanistan; dann kommt lange nichts, und dann
geht es um den militärischen Schutz. So ist die Reihenfolge: Strategie, dann Instrumente, und erst dann geht es
um die Frage der Truppen und des militärischen Schutzes. Das ist die richtige Reihenfolge. Deswegen bleiben
wir dabei. London muss einen breiten politischen Ansatz
haben und darf keine Truppenstellerkonferenz sein. Das
ist die Haltung der gesamten Bundesregierung.
({9})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir setzen dabei natürlich auch auf die Stärkung der zivilen Institutionen. Wir haben - das ist gar
keine Frage - natürlich auch einen Dank auszusprechen;
das möchte ich an dieser Stelle tun. Ich möchte mich
- ich vermute, das gilt für das gesamte Hohe Haus - für
die Arbeit der zivilen Helfer überall auf der Welt, aber
auch ausdrücklich für die Arbeit der Frauen und Männer
der Bundeswehr herzlich bedanken. Wenn wir hier über
auswärtige Politik reden, dann ist dieser Dank des Hohen Hauses angebracht. Wir sind stolz auf die Arbeit, die
geleistet wird, und wir sind dankbar dafür, dass Männer
und Frauen international tätig sind - sei es in Afghanistan, auf dem Balkan oder an anderer Stelle. Herzlichen
Dank dafür!
({10})
Meine Damen und Herren, natürlich ist das erfolgreichste Friedensprojekt die Europäische Union. Wir
setzen deswegen darauf, dass das Kooperationsmodell
fortentwickelt wird. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte: nicht Konfrontation auf einem Kontinent der
Kriege - das ist die europäische Geschichte -, sondern
Kooperation als Friedensantwort auf wirklich furchtbare
Jahre.
Ich möchte all denen, die nach der Ratifizierung des
Lissabon-Vertrages fragen, wie es weitergeht - er ist ja
eine wirkliche Verbesserung -, und auch denen, die wie
wir alle bei Europa vieles kritisch sehen, sagen: Am
Schluss sollte man sich immer wieder daran erinnern,
warum wir das alles gemacht haben. Es ist nicht nur
gemacht worden für Wohlstand - auch -, nicht nur für
Reisefreiheit - auch -, zuallererst ist das alles gemacht
worden für Frieden und Ausgleich. Wenn uns die Europäische Union nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen Frieden auf unserem Kontinent, schon das hätte
sich für jeden Deutschen und auch für jeden anderen
europäischen Bürger gelohnt.
({11})
Deutsche Außenpolitik ist interessengeleitet und
werteorientiert. Deswegen sehen wir keinen Gegensatz
darin, dass wir uns einerseits Märkte eröffnen wollen
und andererseits auf die Einhaltung von Menschenrechten drängen. Für uns ist das kein Widerspruch, sondern
für uns gehört dies zusammen. Interessengeleitet und
werteorientiert: Ich habe bei meinen Reisen nach China
und in die arabische Region gesehen, dass das sehr wohl
miteinander vereinbar ist. Wir wollen unsere Wirtschaftsinteressen auch in anderen Ländern der Welt
wahrnehmen. Wie können wir sonst Exportweltmeister
sein und Wohlstand in unserem eigenen Lande schaffen?
Aber wir werden deswegen zu keiner Zeit auf Werte, auf
Menschenrechte, auf Bildung, auf Religionsfreiheit, auf
Pluralität und auf Minderheitenschutz verzichten. Wir
machen in der Sache der Menschenrechte keine Kompromisse. Denn wir wissen: Werteorientierung und Interessenleitung gehören beide zum Kompass einer guten
deutschen Außenpolitik.
({12})
Meine Damen und Herren, für diese Politik ist es natürlich auch wichtig, dass wir die auswärtige Kulturund Bildungspolitik ausbauen. Darüber wird zwar
kaum gesprochen. Aber etwa ein Viertel des Etats, den
wir heute beraten, geht in die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik. Das ist übrigens etwas, das ich fortsetzen möchte. Denn da hat die Politik meines Amtsvorgängers aus unserer Sicht die Weichen richtig gestellt.
Wir werden diese Politik fortführen. Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wird also ein wichtiger Bestandteil unserer Außenpolitik sein.
Wir wollen einen engen Dialog mit allen Ländern in
der Welt, insbesondere mit unseren unmittelbaren Nachbarn sowie mit Russland und mit China. Aber wir vergessen nicht die Balance, von der ich eben gesprochen
habe.
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
Wir kennen unsere fundamentalen eigenen Interessen.
Auch das darf nicht verschwiegen werden. Unsere Außenpolitik ist vor allen Dingen durch Werte geprägt, die
in unserer Verfassung stehen. Die Würde des Menschen
ist unantastbar: Das ist natürlich auch der Maßstab für
unsere Außenpolitik. Wir Deutsche sind verlässliche
Partner in der Welt. Ich sage dies nachdrücklich. Wir
halten Wort. Ich habe das gerade erst in der Türkei wieder deutlich gemacht.
Zur deutschen Außenpolitik zählt auch die transatlantische Freundschaft. Die Vereinigten Staaten von Amerika und uns verbindet eine enge Freundschaft und nicht
nur eine transatlantische Partnerschaft. Das hindert uns
aber nicht daran, auch andere Regionen stärker in den
außenpolitischen Fokus zu nehmen, als dies vielleicht
bisher der Fall gewesen ist. Wir werden in diesem Jahr
beginnen, ein besonderes Augenmerk auf Lateinamerika zu legen. Wir glauben, da liegt ein in den außenpolitischen und innenpolitischen Debatten enorm unterschätztes Potenzial. Natürlich gilt unsere Hilfe und
unsere Solidarität Afrika, nicht nur weil es unser Nachbarkontinent ist, sondern auch, weil es natürlich unsere
mitmenschliche Verpflichtung ist.
Meine Damen und Herren, wir haben eine große Erfolgsgeschichte in der deutschen Außenpolitik seit
Gründung der Republik, und zwar unabhängig davon,
wer regiert hat. Kontinuität ist in Wahrheit keine Einfallslosigkeit, sondern ist etwas sehr Wertvolles, auch in
der Außenpolitik. Dazu zählt, dass wir natürlich auch in
Europa kooperativ handeln und arbeiten wollen. Dazu
zählen auch gute nachbarschaftliche Verhältnisse. Ich
sage das hier als jemand, der sich noch an Willy Brandt
und Walter Scheel erinnert. Ich sage das als jemand, der
vom Deutsch-Französischen Jugendwerk in Bad Honnef
geprägt ist. Ich bin im Rheinland groß geworden. Ich
sage das als jemand, der den Jugendaustausch als Schüler noch als Mittel der Völkerfreundschaften begriffen
hat. So wie es uns gelungen ist, unsere tiefe Freundschaft
zu unseren westlichen Nachbarländern zu verankern, so
ist es die Aufgabe unserer Zeit, diese tiefe Freundschaft
zu unseren östlichen Nachbarländern zu schaffen. Wir
wollen daran arbeiten und das vollenden, was andere vor
uns begonnen haben.
({13})
Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem
Dank - denn ich habe von Werteorientierung gesprochen - an die Mitmenschlichkeit unserer Bürgerinnen
und Bürger. Wir haben eine furchtbare Katastrophe verfolgen können. Wir haben sie gesehen; aber wir sehen
zugleich die enorme Solidarität unserer Bürgerinnen und
Bürger, nicht nur gestern Abend bei einer herausragend
erfolgreichen Spendengala im Zweiten Deutschen Fernsehen. Wir sehen sie auch bei vielen anderen Initiativen.
Dafür wollen wir uns bedanken.
Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen - denn ich habe
auch in Ihrem Namen sofort nach dem Erdbeben mit unseren deutschen Botschaftsangehörigen und unserem
deutschen Botschafter in Haiti telefoniert -, was diese
Menschen leisten. Sie sind mit dem Leben davongekommen und sind nicht abgereist, sondern sie bleiben dort
und helfen jetzt. Das ist in meinen Augen so vorbildlich,
dass man es auch einmal in diesem Hohen Hause sagen
darf. Danke schön darf dieses Hohe Haus im Namen
Deutschlands denjenigen sagen, die das jetzt alles innerhalb und außerhalb der Botschaft leisten.
({14})
Ein Dankeschön geht natürlich auch an unsere Bürgerinnen und Bürger für ihre Mitmenschlichkeit. Es ist
großartig, was hier an Solidarität gezeigt wird.
Das Elend ist furchtbar; wir wissen das alle. Ich habe
soeben die Nachricht bekommen, dass es durch ein weiteres Nachbeben möglicherweise weitere Schwierigkeiten gibt. Mehr kann ich noch nicht sagen, weil ich noch
nichts Genaueres weiß. Es ist natürlich eine unglaubliche Herausforderung, vor der wir stehen. Unsere Lehre
aus der Geschichte ist, dass wir uns als Deutsche in der
Völkergemeinschaft eingebettet fühlen, auch in schweren Stunden, wenn Länder so etwas ertragen müssen.
Deshalb zeigt Deutschland in diesen Tagen, dass es ein
Land der Nächstenliebe ist, ein Land, das hilft, das Solidarität kennt und auch durch jeden Einzelnen zu Hause
praktiziert.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, ich möchte für die SPD-Fraktion
das aufgreifen, was Sie zum Schluss gesagt haben. Anlässlich einer Diskussion über außenpolitische Herausforderungen muss man sich immer vergegenwärtigen,
was Haiti zum jetzigen Zeitpunkt durchmacht - ein
Land, das ohnehin größte Probleme hat. Ich glaube, dass
angesichts dieser Katastrophe im Erdbebengebiet manches, was wir hier in Überschriften über innere und äußere Katastrophen beschreiben, etwas kleiner wird. Ich
glaube, gerade anlässlich einer außenpolitischen Debatte
ist das angemessen.
Ich bedanke mich ebenfalls für die große Spendenbereitschaft der Bundesbürger, aber ich danke auch denjenigen Deutschen, die dorthin gereist sind und die noch
reisen werden, die manchmal unbezahlten Urlaub nehmen und dort helfen, Verschüttete zu finden und auch bei
der Aufbauhilfe tätig zu sein. Dies sind Dinge, für die
wir auch vonseiten des Deutschen Bundestages Dank sagen müssen an die einzelnen Helfer und insbesondere an
die Organisationen, die diese Hilfe bündeln.
({0})
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
Ich glaube, es ist manchmal leicht, von hier aus gegenüber dem einen oder anderen Ressort Kritik an einer
schleppenden internationalen Aufbauhilfe zu äußern.
Dennoch glaube ich, dass man auch daran erinnern
muss, dass die Vereinten Nationen schreckliche Verluste
an Menschenleben, an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - es sind mindestens 50, wahrscheinlich sogar bis zu
300 - erlitten haben. Die Vereinten Nationen sind jene
Organisation, die nach meinem Dafürhalten wieder die
internationale Aufbauarbeit wird leisten müssen. Natürlich können die USA das zum jetzigen Zeitpunkt schaffen, aber es wäre gut, wenn wir uns auch vonseiten Europas darauf konzentrierten, dass insbesondere die
Vereinten Nationen als internationale Hilfsorganisation
daran mitwirken müssen, den notwendigen Aufbau
Haitis zu unterstützen. Deswegen noch einmal: Herr Außenminister, auch wir haben großen Respekt vor den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Botschaft, vor ihrem unermüdlichen Einsatz vor Ort, gerade angesichts
der schrecklichen Bilder, die sie unmittelbar erlebt haben.
Umso mehr ist - wenn wir uns den außenpolitischen
Problemen stellen - ein Unterschied zu Haiti zu benennen. Wir haben viele internationale Probleme zu lösen.
Aber wir können diese internationalen Probleme mit kluger Politik und Vernunft regeln. Naturkatastrophen, wie
Haiti sie erlebt hat, sind nicht beherrschbar. Aber wir
können die internationalen Probleme mit einer klugen
Politik lösen. Wir vonseiten der sozialdemokratischen
Bundestagsfraktion, vonseiten der Opposition, wollen
daran mitwirken. Dies ist gar keine Frage.
Wo Kritik notwendig ist, wollen wir sie üben. Deswegen würde ich gerne an dieser Stelle ein paar Punkte ansprechen. Herr Außenminister, Sie haben es erwähnt: In
der nächsten Woche werden wir im Deutschen Bundestag noch einmal eine wichtige Afghanistan-Debatte führen. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin für die
Bundesregierung etwas zur Afghanistan-Politik und zur
Konferenz in London sagen will. Es hat nach meinem
Dafürhalten lange gedauert, bis sie sich dazu bereit erklärt hat. Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun,
dass das gesamte Haus an die Bundesregierung appelliert hat, vor der Konferenz in London sehr deutlich zu
machen, in welche Richtung die Bundesregierung gehen
will. Vielleicht hat sie etwas zu lange gezögert, aber immerhin macht sie es.
Dennoch will ich zwei Punkte ansprechen, die aus
meiner Sicht notwendig sind. Wir vonseiten der SPD haben sehr frühzeitig über die Afghanistan-Politik gesprochen, nicht nur in der Regierung, sondern auch während
des Wahlkampfes. Frank-Walter Steinmeier hat als Kandidat für den 27. September ein sehr umfassendes Programm vorgestellt. Wir werden am Freitag in einer hochrangigen Afghanistan-Konferenz noch einmal darüber
beraten, wie notwendig dieser Weg ist.
Dennoch stellen sich aus meiner Sicht, wenn wir
nächste Woche darüber beraten, bereits heute zwei Fragen. Der Verteidigungsminister hat uns in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder über Veröffentlichungen in Medien mitgeteilt, dass aus seiner Sicht die
internationale Rechtssicherheit für das AfghanistanMandat nicht hergestellt ist. Er hat ausgeführt, dass wir
darüber befinden müssen, dass es dort einen nichtinternationalen bewaffneten Konflikt gibt. Angeblich hat er
zweimal versucht, das im Kabinett unterzubringen. Es ist
ihm offensichtlich nicht gelungen. Deswegen meine Fragen - ich bitte Sie, das in die Debatte über den
Einzelplan 14 aufzunehmen -: Haben wir in diesem Zusammenhang Rechtssicherheit? Hat die Bundesregierung im Dezember einen Antrag vorgelegt, der rechtssicher ist, damit der Bundestag möglicherweise zustimmt?
Oder ist das nicht der Fall?
Ich glaube, diese Diskussion trägt eher zur Verunsicherung bei, insbesondere das, was in den letzten Wochen immer wieder von Sprechern der einzelnen Ressorts gesagt worden ist. Frank-Walter Steinmeier hat für
unsere Seite erklärt, dass auch wir als Opposition die
Verantwortung für Afghanistan übernehmen, zwar nicht
bedingungslos, aber wir haben Kriterien formuliert, die
wir in der nächsten Woche zur Diskussion stellen.
Umso mehr war es gut, dass Frau Käßmann vonseiten der Evangelischen Kirche diese Debatte unterstützt
hat. Ich habe manche Kritik vonseiten des Deutschen
Bundestages überhaupt nicht verstanden und auch bestimmte Vergleiche nicht; das muss ich sagen.
({1})
Wer, wenn nicht die Kirche, muss über die Frage von
Krieg und Frieden diskutieren? Das steht ihr gut zu Gesicht, aber dann muss sie es auch aushalten, wenn Fragen
gestellt werden. Wenn Frau Käßmann zum Beispiel sagt:
„Nichts ist gut in Afghanistan“, dann dürfen wir auch
fragen: Was ist der Maßstab für diese Aussage?
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die ARD bzw. die BBC vor etwa 14 Tagen die
Ergebnisse einer interessanten Umfrage veröffentlicht
hat, die ein sehr differenziertes Bild zutage brachte: Die
Afghanen selbst haben gesagt, dass sie auf der einen
Seite große Probleme haben, dass sie auf der anderen
Seite aber einen besseren Zugang zu Strom, Wasser und
vielen anderen Dingen haben als vor einem Jahr. Das ist
keine Bestätigung für die Afghanistan-Politik, sondern
eher eine Ermunterung, auf diesen Ansatz zu bauen.
Dennoch müssen wir die Frage stellen: Welchen Maßstab legen wir an Afghanistan an? Deswegen noch einmal: Es ist gut, dass sich die Kirchen an dieser Debatte
beteiligen. Sie tun das sehr differenziert. Wir vom Deutschen Bundestag sollten uns darüber nicht beklagen,
sondern diese kritische Diskussion mit führen.
Wenn wir heute über den Einzelplan des Auswärtigen
Amtes sprechen, lohnt es, dass wir uns zehn Jahre nach
der Jahrtausendwende vergewissern, in welche Richtung
diese Welt geht, nach welchen Rahmenbedingungen wir
die internationale Politik werden aufbauen müssen. Ich
will schlagwortartig auf ein paar Aspekte aufmerksam
machen, auf die sich die deutsche Außenpolitik, wie ich
glaube, wird einstellen müssen:
Erstens. Die Weltfinanzkrise, über die wir hier aus innenpolitischen Gründen zu Recht immer wieder disku1298
tieren - auch heute Morgen -, hat natürlich insbesondere
internationale Auswirkungen. Ich glaube, dass die Weltfinanzkrise den Unterschied zwischen armen und reichen Ländern, zwischen entwickelten, sich entwickelnden und den Ländern, in denen die Menschen in Armut
leben, noch verschärfen wird. Das wird eine große Herausforderung für die deutsche und die europäische Außenpolitik, aber auch für die einzelnen Ressorts der Bundesregierung sein.
Zweitens. Die Bedeutung der Schwellenländer wird
zunehmen. Die G 7 und die G 8 werden in Zukunft
wahrscheinlich nicht mehr der Rahmen für die Lösung
internationaler Probleme sein, sondern die G 20 oder andere internationale Organisationen. Nach meinem Dafürhalten muss aber auch die Bundesregierung auf diese
Frage Antworten finden. Insbesondere, wenn wir eine
vertrags-, normen- und regelgeleitete Politik machen
wollen, werden wir überlegen müssen, ob diese internationalen Organisationen legitimiert sind, ob wir ihnen
eine Legitimation verschaffen können und in welcher
Konkurrenz sie stehen.
Drittens. Der Klimawandel wird auch die Sicherheitsfragen in der internationalen Politik verschärfen. Es ist
bitter, dass es in Kopenhagen nicht zu einer besseren Lösung gekommen ist. Umso mehr große Herausforderungen wird der Klimawandel, so glaube ich, für die internationale Gemeinschaft im Hinblick auf die Sicherung
der Lebensbedingungen in den vom Klimawandel besonders betroffenen Ländern liefern.
Der vierte Punkt ist die Frage der Aufrüstung, den Sie
eben angesprochen haben, Herr Bundesaußenminister.
Ich nenne an dieser Stelle auch die Frage von Religion
und Politik. Ich glaube, das ist keine Leitidee der internationalen Politik. Wir dürfen diese Idee auch nicht immer bedienen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht
immer wieder verleiten lassen, die Religion als Ursache
für internationale Konflikte anzusehen, da sie doch eher
als Instrument von dem einen oder anderen genutzt wird.
Ich glaube, gerade heute sollte man sagen: Kein Land
der Welt wird diese internationalen Herausforderungen
alleine bewältigen können, aber wir werden die USA zur
Regelung dieser Probleme brauchen. Dass Präsident
Obama mit seiner Demokratischen Partei eine entscheidende Niederlage erlitten hat, ist gar keine Frage. Ich
warne aber davor, auf
„Er löst das alles nicht“, auch wenn das in
der veröffentlichten Meinung zurzeit schick zu sein
scheint. Von dieser Stelle aus sage ich: Wir werden keinen besseren amerikanischen Präsidenten bekommen. Er
geht die internationalen Probleme an, zum Beispiel
durch seine Reden in Kairo und Prag - Sie haben das gesagt -, und versucht, die innenpolitischen Verhältnisse
zu verändern. Deswegen haben Deutschland und Europa
ein großes Interesse daran, die Politik dieses amerikanischen Präsidenten zu unterstützen. Ich glaube, die Bundesregierung ist dazu aufgerufen, dies nicht nur in den
Partnerschaften, die wir mit den USA entwickelt haben,
sondern auch im ganz konkreten Miteinander zu tun.
Nach meinem Dafürhalten ist aus Sicht der USA das
Verhältnis zu Russland das Thema, bei dem wir in
Europa helfen können. Wir können helfen, dieses Verhältnis zu verbessern und - so sage ich es einmal - zu
entkrampfen. So können wir auf diese Krise reagieren.
Deswegen lautet meine Bitte an die Bundesregierung,
gerade mit Russland über die Herausforderungen zu
sprechen. Das hat auch die Vorgängerregierung getan.
Ich will auf eine Frage aufmerksam machen, die von
der russischen Regierung vielleicht anders beantwortet
wird: die Frage der Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Wer genau zugehört hat, als der russische Ministerpräsident gesagt hat: „Weil es die amerikanische Raketenabwehr gibt, brauchen wir neue offensive Waffen“, der
weiß, was die Stunde geschlagen hat für Abrüstung und
Rüstungskontrolle. Das heißt, die Frage der Raketenabwehr muss in der Abrüstung und Rüstungskontrolle in
den nächsten Jahren einen Stellenwert bekommen. Es ist
mein Appell an Sie, dies auf die internationale Agenda
mitzunehmen.
({0})
Wir vonseiten der SPD haben Ihnen bezüglich der
konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle
schon früh angeboten, dass der Deutsche Bundestag,
wenn Sie es wollen und für richtig halten, den sogenannten angepassten KSE-Vertrag ratifiziert. Ich glaube, das
ist notwendig und angemessen. Wir unterstützen das.
Herr Bundesaußenminister, wir nehmen Sie beim Wort.
Genauso wie wir den amerikanischen Präsidenten bei
der Lösung internationaler Probleme beim Wort nehmen,
nehmen wir Sie beim Wort, die Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzubringen. Sie haben unsere Unterstützung, wenn die letzten verbliebenen amerikanischen
Atomwaffen auf dem Verhandlungswege aus Deutschland entfernt werden sollen. Das ist ein richtiger Punkt.
Wir vonseiten der SPD folgen Ihnen auf diesem Weg.
({1})
Weil es nach meinem Dafürhalten gerade an dieser
Stelle der Debatte darum geht, andere Verantwortliche in
der internationalen Politik zu benennen, möchte ich noch
einmal auf China zu sprechen kommen. Die Volksrepublik China wird das Land sein, das wir mehr und mehr
zur Regelung internationaler Konflikte brauchen. Deswegen fanden wir es sehr angemessen und zeitgerecht,
dass Sie nach China und Japan gereist sind und dort auch
die Frage der Menschenrechte angesprochen haben. Es
ist immer richtig, Kritik zu üben; aber ich glaube, es ist
umso notwendiger, auch zu sagen, dass China Lehren
aus der internationalen Politik zieht. Die Volksrepublik
China wird mehr und mehr ein verlässlicher Akteur in
der internationalen Politik, insbesondere im asiatischen
Raum. Deswegen ist es gut, wenn wir sagen: Ja, die
Volksrepublik China muss Verantwortung übernehmen
und nach Regeln und Normen der internationalen Politik
umsetzen.
Zum Schluss. Wir sollten uns über die Rolle Europas
klar werden. Sie haben Europa eben als Friedensgemeinschaft beschrieben, wo im Grunde genommen Krieg fern
jeden Gedankens ist. Das ist vollkommen richtig. Aber
wir sollten uns hier in Deutschland klarmachen, dass
sich Gemeinschaftsbildung, wie sie in Europa geschieht,
mittlerweile in der ganzen Welt entwickelt. Dort ist Gemeinschaftsbildung auf der regionalen Agenda. Ich habe
eben über Asien gesprochen; das betrifft auch viele andere Regionen.
Umso wichtiger ist, dass wir Perspektiven für andere
Länder in Europa benennen, wenn es zur Stabilität
Europas beiträgt. Deswegen unterstützen wir Ihre Türkeipolitik. Wir fanden es gut, dass dieses Thema im
Koalitionsvertrag so aufgenommen worden ist wie damals zu Zeiten der Großen Koalition. Ich sage gleichzeitig: Insbesondere dabei, dass Sie für Minderheitenrechte
in der Türkei plädieren, haben Sie unsere volle Unterstützung. Auch wir glauben, dass ohne die Türkei wichtige Herausforderungen in dieser Region nicht bewältigt
werden können.
Sie haben schließlich den Iran angesprochen. Wir
vonseiten der Opposition, vonseiten der SPD unterstützen Sie auch in der Iranpolitik. Ich glaube, ein solches
Land muss sich darüber klar werden, dass sich die Weltgemeinschaft, wenn es gegen internationale Normen
verstößt, auf friedliche internationale Sanktionen verständigt. Bitte sorgen Sie mit dafür, dass die internationale Gemeinschaft zusammenbleibt. Denn das ist,
glaube ich, die einzige Antwort, die der Iran versteht.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Andreas Schockenhoff,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einer ungewöhnlichen und deswegen aufrüttelnden Anklage beginnen: „Die EU schadet
der Europa-Idee“. Das sagt kein Gegner der EU, sondern
kein Geringerer als der frühere Bundespräsident Roman
Herzog, ein Freund und Förderer eines Europas der Bürger.
({0})
Die EU, so mahnt er, verliere an Akzeptanz, weil sie
über die Köpfe der Bürger hinweg immer mehr zentrale
Vorschriften für Dinge erlasse, die mindestens ebenso
gut lokal oder regional geregelt werden könnten. Er
nennt dafür zahlreiche Beispiele. Roman Herzog hat
recht. Gerade wir als Europafreunde müssen gegen eine
Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips Widerstand leisten. Auch weil wir uns als Bundestag wichtige Gestaltungsmöglichkeiten erhalten müssen, haben wir eine besondere Wächteraufgabe. Mit dem Begleitgesetz zum
Lissaboner Vertrag haben wir die dafür notwendigen Instrumente geschaffen.
Eine entscheidende Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeit ist das Recht zu einer Stellungnahme, ehe der
Außenminister im Kreis seiner EU-Kollegen über die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheidet.
Auch mit Blick auf die verfrühten Beitritte Bulgariens
und Rumäniens müssen wir erreichen, am Ende der Verhandlungen über den Beitritt eines Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt noch nicht“ sagen zu können. Wir
wollen nicht noch einmal in die Situation kommen, am
Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu
können. Dies erfordert, dass wir uns schon vor Verhandlungsbeginn selbst ein genaues Bild über den Stand der
Vorbereitungen des Kandidaten machen.
Vor allem - das ist die entscheidende Aufgabe - müssen wir unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess
formulieren, insbesondere bei Problemthemen wie
Rechtsstaatlichkeit oder Kriminalitäts- und Korruptionsbekämpfung, aber auch, wie im Falle Islands, mit Blick
auf die Integrationsbereitschaft des Landes. Wenn wir
derartige Benchmarks formulieren, dann haben wir eine
Grundlage, um hinterher begründet „Ja“ oder „Jetzt noch
nicht“ sagen und unsere Entscheidung auch unserer Bevölkerung erklären zu können.
Das gilt selbstverständlich auch für die Frage eines
Beitritts der Türkei. Um es in aller Klarheit zu sagen:
Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem Ziel
des Beitritts aufgenommen worden, und sie sind ein ergebnisoffener Prozess. Sollte die EU nicht in der Lage
sein, die Türkei aufzunehmen, oder sollte die Türkei
nicht in der Lage sein, alle mit dem Beitritt verbundenen
Verpflichtungen voll und ganz zu erfüllen, muss eine
möglichst enge Anbindung erreicht werden.
Wir müssen aber auch sehen, dass die Türkei seit
mehr als drei Jahren die Anwendung des Ankara-Protokolls verweigert. Die Beitrittsverhandlungen kommen
nicht voran. Das wirft die Frage auf, was die Türkei mit
der EU will. Deshalb müssen wir uns schon jetzt unter
strategischen Gesichtspunkten Gedanken machen, was
wir dann tun wollen, wenn die Verhandlungen an einen
toten Punkt kommen.
({1})
Sie einfach im Sande verlaufen zu lassen, wäre unwürdig und entspräche nicht unserem besonderen Interesse
an einer Vertiefung der Beziehungen zur Türkei. Da die
Modernisierung der Türkei in unserem Interesse liegt,
stellt sich für uns die Frage, ob dieser innere Modernisierungsprozess bereits unumkehrbar ist und was wir gegebenenfalls für seine Fortsetzung tun müssen.
Die Türkei spielt im Nahen und Mittleren Osten eine
immer wichtigere und immer konstruktivere Rolle - das
liegt in unserem Sicherheitsinteresse -, doch in strategischer Hinsicht ist diese Region für uns zu wichtig. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir am ehesten ein eng mit
der EU abgestimmtes Handeln der Türkei in dieser Region erreichen. Dazu gehört auch die uneingeschränkte
Zusammenarbeit mit der Türkei in Energiefragen; ich
nenne nur das Stichwort Nabucco.
Nicht zuletzt: Wenn in der Türkei jetzt gelegentlich
über die sogenannte Norwegen-Lösung gesprochen
wird, dann muss man das richtig verstehen. Gemeint ist
nicht nur eine enge Anbindung an die EU durch den europäischen Wirtschaftsraum. Gemeint ist auch, dass es
Norwegen war, das Nein zur EU-Mitgliedschaft gesagt
hat, nicht die EU. All dies sind strategische Fragen des
weiteren Vorgehens, die wir nicht mit einfachen Formeln
beantworten können.
Lieber Herr Außenminister, ein wichtiger Schwerpunkt Ihrer Rede war, den Abrüstungsbemühungen neue
Dynamik zu verleihen. Das gilt - Sie haben es gesagt insbesondere für die schwierige Frage, wie der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wirksam
Einhalt geboten werden kann. Ich sage, auch für die
Union: Ein nuklear bewaffneter Iran würde unsere Sicherheit bedrohen und im Nahen und Mittleren Osten einen neuen atomaren Rüstungswettlauf mit katastrophalen Folgen auslösen. Das muss verhindert werden.
Deswegen sind auch wir, wenn es notwendig ist, zu härteren gemeinsamen Sanktionsmaßnahmen bereit.
({2})
Um eine neue Dynamik der Rüstungskontroll- und
Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen, unterstützen
wir Sie, Herr Außenminister, nachdrücklich in Ihren Bemühungen, eine internationale Abrüstungsinitiative auf
den Weg zu bringen. In diesem Zusammenhang werden
auch die in Deutschland stationierten amerikanischen
Nuklearwaffen eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen
nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte drängen, sondern einen konkreten Beitrag leisten - so wie wir es gemeinsam in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten
haben.
Konkret heißt das: Wir setzen uns für den Abzug dieser
Waffen ein. Dieser soll aber nicht einseitig geschehen,
sondern im Zusammenhang mit Abrüstungsvereinbarungen; denn auch anderswo in Europa, beispielsweise in Kaliningrad, sollten taktische Atomwaffen abgerüstet werden. Zudem soll dies im Zuge der Ausarbeitung des
neuen strategischen Konzepts der NATO geschehen;
denn auch in diesem Zusammenhang muss die künftige
Rolle der Nuklearwaffen geklärt werden. Nicht zuletzt
muss der Abzug dieser Waffen im Bündnis abgestimmt
werden. Mit anderen Worten: nicht einseitig, sondern im
Zusammenhang mit Abrüstung, im strategischen Konzept der NATO und im Bündnis abgestimmt. Das ist der
Weg, um einen weiteren Schritt in Richtung einer nuklearwaffenfreien Welt zu gehen und gleichzeitig Vertrauen
im Bündnis zu wahren.
({3})
Wir werden uns - das ist bereits gesagt worden - am
nächsten Mittwoch ausführlich mit der Londoner Afghanistan-Konferenz befassen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen muss man jedoch ein Wort zu Afghanistan
sagen; denn Afghanistan ist nicht nur eine der größten
außenpolitischen Herausforderungen, der AfghanistanEinsatz ist auch einer der kostenintensivsten Posten in
dem Etat, über den wir diskutieren.
Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass im Laufe der nächsten
zwei bis drei Jahre mit der Übergabe der Verantwortung
an die afghanischen Sicherheitskräfte und mit dem Abzug der ersten Bundeswehrsoldaten begonnen werden
kann. Je früher wir unser militärisches Engagement reduzieren und schließlich beenden können, desto besser.
Aber, um das ebenso deutlich zu sagen: Eine Übergabe
der Verantwortung ist nur verantwortbar, wenn Afghanistan nach dem Abzug nicht erneut zur Basis von Terrornetzwerken wird oder in einen Bürgerkrieg zurückzufallen droht. Das ist die Herausforderung, vor der wir
stehen: Afghanistan darf nicht wieder zu einem gescheiterten Staat werden, von dem aus Terroristen gegen uns
agieren.
({4})
Was ist zu tun? Erstens. Neben der Aufgabe, weiter zu
stabilisieren, muss es darum gehen, die Ausbildung afghanischer Soldaten und Polizisten zu beschleunigen. Je
mehr Ausbilder wir nach Afghanistan schicken, desto
schneller ist die erforderliche Anzahl Soldaten und Polizisten ausgebildet und desto früher werden wir mit dem
Abzug unserer Soldaten beginnen können. Der Leitgedanke muss also lauten: Wer früher raus will, muss jetzt
mehr Ausbilder für Militär und Polizei entsenden. Wer
dazu nicht bereit ist, trägt die Verantwortung dafür, wenn
wir länger bleiben müssen.
({5})
Wir wollen das nicht.
Zweitens muss es darum gehen, eine effektive Regierungsführung zu erreichen. Dafür brauchen wir in London klare Zusagen der afghanischen Regierung. Das
werden wir dem afghanischen Präsidenten Karzai
nächste Woche bei seinem Besuch in Berlin auch sagen.
Dies gilt insbesondere für die Bekämpfung der Korruption; wir brauchen aber auch eine bessere Balance zwischen der Zentralmacht und den Regionen und eine breitere politische Partizipation in den Regionen.
Drittens muss es darum gehen, in unserem Verantwortungsbereich, im Norden, mehr für den Wiederaufbau
zu tun: Grundversorgung mit Energie und Trinkwasser,
mehr Infrastruktur im Transportbereich, mehr Schulen
und Lehrer, mehr Arbeitsplätze.
Im Hinblick auf die Äußerungen von Herrn Gysi
heute Morgen - ich bin Ihnen dankbar, Herr Mützenich,
dass Sie darauf eingegangen sind - will ich zu den Äußerungen von Frau Käßmann sagen: Es geht auch darum, das viele Gute, das die Aufbauhelfer und Soldaten
bereits erreicht haben, auszubauen und zu vertiefen. Natürlich haben die Kirchen das Recht, sich an dieser Diskussion zu beteiligen,
({6})
sie müssen es sogar.
Ist aber wirklich nichts gut in Afghanistan? Nach einer aktuellen BBC-Umfrage sehen 70 Prozent der
Afghanen ihr Land auf einem guten Weg. 2001 gab es
fast keine Schulen mehr. Heute gehen in Afghanistan
Millionen Kinder in die Schule. 3 500 neue Schulgebäude wurden gebaut. 2001 gab es praktisch keine weiterführende Bildung mehr. Heute studieren 50 000 junge
Afghanen an Universitäten, weitere 10 000 besuchen
Berufsschulen. 2001 galten Frauen und Mädchen als
Menschen zweiter Klasse. Heute ist die Gleichberechtigung in der afghanischen Verfassung festgeschrieben,
können Mädchen wieder zur Schule gehen.
2001 gab es keine Gesundheitsversorgung mehr.
Heute hat der größte Teil der Bevölkerung Zugang zu
medizinischer Basisversorgung. 2001 gab es keine Infrastruktur mehr. Heute sind in Afghanistan 14 000 Kilometer Straße neu gebaut oder repariert worden.
Ist das alles wirklich nicht gut? Ist es nicht so, wie es
der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner kürzlich gesagt hat, dass der Einsatz der Bundeswehr einen Schutzschild bietet, um zivile Strukturen aufzubauen? Ist es
wirklich nicht gut, dass in Afghanistan aufgrund unserer
Stabilisierungsbemühungen das PRT Faizabad im Laufe
des zweiten Halbjahres 2010 an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden kann und sich die deutschen Sicherheitskräfte von dort zurückziehen können?
Ja, es ist richtig: Das alles reicht bei Weitem noch
nicht aus. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen
verstärken. Aber wer wie die EKD-Vorsitzende, und sei
es nur als Predigtkunstgriff, mit Überzeugung behauptet,
nichts sei gut in Afghanistan, der erweckt doch den Eindruck, als seien die bisherigen Aufbau- und Friedensanstrengungen nicht der Rede wert. Dies ist falsch, und es
eröffnet dem Land keine Perspektiven.
({7})
Die Mahnung, mehr für den Aufbau zu tun und die
Art unseres Einsatzes zu überdenken, ist voll berechtigt,
und das müssen wir auch annehmen. Aber dabei darf
nicht ignoriert werden, was unsere Entwicklungshelfer,
die Soldaten der Bundeswehr, Polizisten und Diplomaten bereits erreicht haben. Sonst lässt man die Menschen
in Afghanistan allein, statt ihnen - gerade auch im seelsorgerischen Sinne - Mut zu machen. Daher will ich neben dem großen Dank, den der Außenminister zu Recht
denjenigen ausgesprochen hat, die sich jetzt unter so
schwierigen Umständen in Haiti einsetzen, erneut, wie
es in diesem Hause schon wiederholt geschehen ist, denen danken, die dafür Sorge getragen haben und weiterhin dafür Sorge tragen, dass in Afghanistan vieles schon
besser geworden ist und Weiteres besser werden wird.
Sie haben unsere Unterstützung bei ihren Bemühungen,
dass Afghanistan so weit zur Stabilität kommt, dass es
dort auch ohne die ständige Präsenz von Militärs eine
selbsttragende Sicherheit gibt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Michael Leutert für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, in den letzten Tagen wurde viel
über eine ganz gewisse Spende diskutiert. Seit gestern
Abend - Sie haben es selbst angesprochen - gibt es eine
Spende, über die wir uns alle freuen können:
18 Millionen Euro für die Opfer in Haiti sind innerhalb
weniger Stunden bei der ZDF-Spendengala zustande gekommen. Allerdings halte ich es für etwas peinlich, dass
die Bundesregierung innerhalb einer Woche lediglich in
der Lage war, 10 Millionen Euro zusammenzubringen.
Meines Erachtens kommt dies davon, dass man die entsprechenden Mittel gekürzt hat.
Damit sind wir auch schon beim Haushalt. Ihnen steht
nicht wirklich viel Geld für die Außenpolitik zur Verfügung. Aber das wenige Geld, das Ihnen zur Verfügung
steht, verteilen Sie auch noch falsch. Sie geben Ihr Geld
mitnichten nur für zivile Projekte aus, sondern folgen
mehr und mehr der militärischen Logik derzeitiger Außenpolitik.
Die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist aber - so
dachte ich zumindest immer - das Vertreten der Angelegenheiten Deutschlands im Ausland und die Pflege unserer Beziehungen zu anderen Staaten und internationalen
Organisationen. Dies sind Aufgaben rein zivilen Charakters. Dafür stehen Ihnen 3 Milliarden Euro zur Verfügung; das ist ungefähr 1 Prozent des Gesamthaushalts,
von dem der Verteidigungsminister auch in diesem Jahr
10 Prozent abgreift. Wir hatten da schon einmal eine
bessere Situation. Von diesen 3 Milliarden Euro sind
50 Prozent von vornherein komplett gebunden, also eigentlich nicht verhandelbar. Das sind Beiträge an internationale Organisationen und die Personalkosten.
An vier Beispielen zeige ich nun, wie das wenige restliche Geld nach unserer Auffassung auch noch falsch,
nämlich im Sinne der militärischen Komponente deutscher Außenpolitik, verteilt wird:
Erstes Beispiel ist der Titel „Stabilitätspakt Afghanistan“, der der Öffentlichkeit neben dem Militäreinsatz
immer als zivile Hilfe verkauft wird. Aber allein von den
90 Millionen Euro, die dafür zur Verfügung gestellt werden, gehen wieder 50 Millionen Euro in den Aufbau der
afghanischen Sicherheitskräfte.
Das zweite Beispiel ist der Titel: „Demokratisierungsund Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur Förderung der
Menschenrechte“. Dafür stehen insgesamt 19 Millionen
Euro zur Verfügung. Aber allein davon gehen 11 Millionen Euro in die sogenannte Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte. Letztendlich bleiben somit für die
Förderung der Menschenrechte nur 3 Millionen Euro übrig.
Das dritte Beispiel ist - Sie haben es hier ebenfalls
angesprochen - die sogenannte Afrika-Initiative, die mit
31 Millionen Euro im Haushalt steht. Auch hier fließen
wiederum 10 Millionen Euro direkt in den Aufbau der
Polizei. Nun ist klar: Als Europäer denkt man bei Polizei
nicht unbedingt sofort an etwas Schlechtes. Aber man
muss sich einmal die Länder anschauen, in die diese
Mittel fließen. Das sind Kongo, Liberia, Elfenbeinküste,
Sierra Leone und Burundi.
({0})
- Das kann okay sein, aber ich möchte gerne wissen,
über welche Polizeikräfte wir sprechen. Wir alle wissen,
dass in diesen Ländern Polizeikräfte zum Teil paramilitärischen Charakter haben. Ich gehe davon aus, dass wir
hier nicht bloß über Verkehrspolizisten sprechen.
({1})
Noch deutlicher wird es beim vierten Beispiel - das
hat es im Etat des Auswärtigen Amtes so noch nicht gegeben, nämlich einen Titel mit direktem militärischem
Bezug, der ganz ungeschminkt so benannt wird -: „Unterstützung des Aufbaus afghanischer Sicherheitskräfte
durch die NATO“. Mit diesen Sicherheitskräften - das
kann man in der Erklärung nachlesen - ist ausschließlich
die afghanische Armee gemeint. Das hat in dem Haushalt des Auswärtigen Amtes überhaupt nichts zu suchen.
Ich kann schon jetzt ankündigen, dass wir die Streichung
dieses Titels fordern.
({2})
Es ist völlig klar: Der Etat des Auswärtigen Amtes ist
eigentlich nicht der klassische Punkt, an dem man die
Kritik an der immer stärker werdenden Militarisierung
der Außenpolitik vorbringt.
({3})
Ich weiß im Übrigen auch aus vielen Gesprächen mit
vielen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, dass sie
sich selber als Teil der zivilen Komponente der deutschen Außenpolitik verstehen. Aber die von mir hier
vorgetragenen Beispiele machen deutlich, dass sich der
Etat des Auswärtigen Amtes in dem Spannungsfeld von
ziviler und militärischer Komponente in der Außenpolitik mehr und mehr in Richtung militärische Komponente
bewegt.
Im zivilen Bereich - ich kann dafür zwei Beispiele
nennen - sieht es nicht besser, sondern schlechter aus.
Dort werden nämlich die Mittel gestrichen. Die Mittel
für Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabilität zum Beispiel werden um 14 Millionen Euro gekürzt.
Der sehr wichtige Titel „Für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland“ - wir hatten eben das Thema Haiti wird um 7,5 Millionen Euro gestrichen.
Letztendlich bleibt nur Folgendes festzustellen: Die
schwarz-gelbe Bundesregierung ist de facto in der Logik
militärischer Außenpolitik. In Afghanistan, in der eigenen Logik des Krieges, ist sie gefangen. Es ist Fakt, dass
zivile Projekte, untersetzt durch den Haushalt, zu einem
Teil dieser militärischen Logik werden und immer mehr
an den Rand gedrängt werden. Das kann man in dem
vorgelegten Haushalt nachlesen. Das widerspricht allen
Erklärungen und Ankündigungen, dass man zum Beispiel in Afghanistan mehr für den zivilen Wiederaufbau
tun möchte. Schon aus diesem Grund wird die Linke diesen Haushalt ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, im November haben wir hier den
Koalitionsvertrag diskutiert. Damals habe ich unserem
Land gewünscht, dass das Handeln von Schwarz-Gelb
besser wird, als das der Text des Vertrages befürchten
lässt. Diese Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt.
In den letzten Wochen standen große Zukunftsfragen
der Vereinten Nationen auf der Tagesordnung. Es ging
und geht um einen Durchbruch beim Klimaschutz und
um die Bekämpfung von Hunger und Armut trotz Wirtschaftskrise. Es ging um Deutschlands Rolle bei der Lösung der großen Menschheitsfragen. Es ging darum, voranzugehen. Aber diese Regierung hat durch den Mangel
an politischen Initiativen viel Ansehen unseres Landes
bereits verspielt.
({0})
Die Konferenz von Kopenhagen ist ein Beispiel für
das Scheitern Ihrer Diplomatie.
({1})
Nach dem Klimagipfel reicht es eben nicht, auf China
und die USA zu zeigen. Sie tragen selbst Mitverantwortung für eine falsche Verhandlungsstrategie der Europäischen Union. Sie haben konkrete Finanzzusagen an die
Entwicklungsländer im Vorfeld der Konferenz genauso
mitverhindert wie eine Erhöhung der europäischen Minderungsziele auf 30 Prozent.
({2})
Sie haben an entscheidender Stelle vorher blockiert
statt voranzugehen. Das ist - auch wenn Sie das nicht
gerne hören - ein Versagen deutscher Außenpolitik, und
dann helfen danach auch alle schönen Worte des Umweltministers nichts.
Auch bei der internationalen Bekämpfung von Hunger und Armut wird diese Regierung zur Bremserin,
statt eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ban Ki-moon hat
gerade wieder verstärkte Anstrengungen zur Erreichung
der Millenniumsziele eingefordert. Was ist die außenpolitische Antwort Deutschlands? Sie kündigen mit diesem Haushalt einseitig den Ausstieg Deutschlands aus
dem europäischen Stufenplan zur Entwicklungsfinanzierung an. Das ist keine nachgeordnete Frage der Entwicklungspolitik; es ist ein Affront gegen zentrale Vereinbarungen der UNO und der Europäischen Union.
({3})
Sie haben sich mit diesem Haushalt von den bisherigen
internationalen Zusagen Deutschlands verabschiedet, obwohl 2 Milliarden Menschen von weniger als 2 Dollar am
Tag leben und über 1 Milliarde Menschen weltweit hungern. Diese Regierung hat zwar 1 Milliarde Euro jährlich
für Hotelbesitzer, findet aber nur 44 Millionen Euro
mehr, um die deutschen Versprechungen zur Bekämpfung von Hunger, Armut und Krankheit zu erfüllen. Das
ist eine Schande für unser Land.
({4})
Ich fordere Sie auf: Halten Sie die deutschen Verpflichtungen international ein! Stehlen Sie sich nicht so
schäbig davon!
Der Mangel an politischen Initiativen zeigt sich auch
am Beispiel Afghanistan. Eine klare Strategie für Afghanistan haben Sie uns wenige Tage vor der Afghanistan-Konferenz immer noch nicht vorgelegt.
Wir fordern von Ihnen ein klares Konzept für einen
massiven Polizeiaufbau mit mindestens 500 deutschen
Polizisten, eine Aufbaustrategie, die endlich die wachsende Schere zwischen dem Hilfsbedarf einerseits und
den Umsetzungs- und Abflussproblemen bei der Mittelverwendung andererseits schließt, und ein konkretes
Konzept, um die Spirale der Gewalt im Norden Afghanistans zu durchbrechen. Außerdem fordere ich Sie auf,
dem Bundestag einen verbindlichen Abzugsplan vorzulegen, der gemeinsam mit unseren Verbündeten abgestimmt und umgesetzt wird.
Bisher haben Sie auf diese zentralen Punkte keine
klaren Antworten, weil Sie in der Koalition keine Einigkeit haben. Das ist der Grund, weshalb Sie uns heute
wieder nichts dazu gesagt haben.
({5})
Stattdessen versucht diese Regierung mit Haushaltstricks, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu
streuen. Es wird angekündigt, die Zahl der deutschen
Polizisten in Afghanistan solle verdoppelt werden. Die
Wahrheit ist aber: Damit lösen Sie nur das alte Planziel
der Großen Koalition ein. Das war schon viel zu wenig,
und es ist auch heute noch viel zu wenig.
({6})
Die Entwicklungsfinanzierung soll angeblich verdoppelt werden. Ein Blick auf die Fakten zeigt aber, dass
Sie auch hier nur weitgehend die Versprechen von
Schwarz-Rot erfüllen. Auch das ist keine neue Leistung
Ihrer Regierung und Ihres Haushalts. Hören Sie auf zu
tricksen! Hören Sie auf mit der Verneblungstaktik, und
schaffen Sie Klarheit über den weiteren Kurs in Afghanistan!
Wirklich beunruhigt haben mich in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Herrn Niebel, der eine
enge Kooperation mit der Bundeswehr zur Bedingung
für die Mittelvergabe an Entwicklungsorganisationen
machen will.
({7})
Hier geht es um eine zentrale außenpolitische Frage der
Gesamtstrategie in Afghanistan.
Alle Experten sagen uns, dass es von zentraler Bedeutung ist, eine komplementäre Wirkung von militärischem Stabilisierungseinsatz und Entwicklungshilfe
nicht mit Vermischung zu verwechseln. Genau das
macht Herr Niebel falsch. Sie, Herr Westerwelle, haben
die Federführung und lassen ihn gewähren. Das bedeutet
sehr konkret, die zivilen Helfer in der Wahrnehmung vor
Ort zu militärischen Handlangern zu machen. Das würde
die Entwicklungshelfer vor Ort noch größeren Gefahren
aussetzen, als es ohnehin schon der Fall ist.
({8})
Diese Äußerungen aus dem Kabinett zeigen generell
ein hochproblematisches Verständnis deutscher Außenund Entwicklungspolitik. Wir brauchen keine einseitige
Verengung auf das Militär. Auslandseinsätze dürfen
eben auch nicht, wie das Herr zu Guttenberg Ende letzten Jahres gefordert hat, zur Selbstverständlichkeit werden, ganz im Gegenteil. Nach mehr als zehn Jahren
Erfahrung mit Auslandseinsätzen brauchen wir eine öffentliche Debatte über deren Wirkungsmächtigkeit. Wir
müssen Fehler ehrlich analysieren, politische und zivile
Alternativen ins Zentrum stellen und militärische Gewalt
als Ultima Ratio und nicht als Selbstverständlichkeit verstehen. Ich bin der Ratsvorsitzenden der Evangelischen
Kirche in Deutschland, Frau Käßmann, sehr dankbar,
dass sie diese Debatte mit einem Impuls deutlich in
Gang gesetzt hat.
({9})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre
Bundesregierung hat mit ihrer Diplomatie beim Klimagipfel Schiffbruch erlitten. Sie ist bei der Bekämpfung
von Armut und Hunger wortbrüchig geworden, und sie
findet keine klare Antwort auf die Situation in Afghanistan. Das ist die Bilanz von zwölf Wochen Schwarz-Gelb
in der internationalen Politik. Bei einem solchen Start
mag man sich die nächsten Monate gar nicht ausmalen.
Danke.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zu Beginn etwas machen, was wir
sonst bei anderen Debatten gerne tun, nämlich in diesem
Fall nicht den Soldaten, sondern den Diplomaten danken. Das ist auch der Situation in Haiti geschuldet; der
Minister hat darauf hingewiesen. Wir können mit Stolz
sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland einen sehr
professionellen und sehr motivierten diplomatischen
Dienst hat. Zum Teil verrichten unsere Diplomaten ihren
Dienst im Ausland unter sehr schwierigen Bedingungen.
Es gibt nicht nur die Glamourbotschaften in Genf, Paris
und New York. In den meisten Hauptstädten dieser Welt
arbeiten unsere Diplomaten unter - auch persönlich sehr eingeschränkten Lebensbedingungen. Auch angesichts der Situation in Haiti sind wir unseren Diplomaten
sehr zu Dank und Anerkennung verpflichtet.
Außenminister Westerwelle hat in seinen Reden seit
der Amtsübernahme zwei Dinge in den Vordergrund gestellt. Erstens. Er sieht sich in der Kontinuität deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik. Zweitens. Er wird eigene
Akzente setzen. Beides hat er in den letzten fast drei Monaten sehr deutlich bewiesen.
({0})
Wir als FDP-Fraktion stehen nicht an, zu sagen: Jawohl, wir stehen in der guten Tradition deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind stolz auf unsere eigenen liberalen Außenminister. Gleichwohl sehen wir,
dass auch die nichtliberalen Außenminister - solche gab
es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ({1})
die Kontinuität in der deutschen Außenpolitik gewährleistet haben; darauf möchten wir rekurrieren. Das werden wir weiterhin so sehen.
Der Herr Außenminister hat deutlich gemacht - das
ist auch die Meinung meiner Fraktion -, dass uns sehr
daran gelegen ist, den Konsens der deutschen Außenund Sicherheitspolitik auch in Zukunft weitestgehend zu
erhalten.
({2})
Wir halten das für ein hohes Gut, sowohl innenpolitisch
als auch außenpolitisch. Wir kennen die Konfliktsituationen - auch inhaltlicher Art - und die parteipolitischen
Profilierungsnotwendigkeiten sehr genau. Aber es ist
wichtig, dass wir in Deutschland auf einer gemeinsamen
Werte- und Interessenbasis Außen- und Sicherheitspolitik betreiben. Das wollen wir sehr gerne weiterhin tun.
Deshalb stehe ich nicht an, lieber Kollege Mützenich,
Ihnen für Ihre heutige Rede ganz herzlich zu danken. Ich
hoffe, es schadet Ihnen bei Ihren Parteigenossen nicht,
wenn ich als Liberaler so etwas sage. Aber das ist die
Art, wie wir gerne zusammenarbeiten würden. Sie akzentuieren die Unterschiede völlig zu Recht. In manchen
Dingen geben Sie Ansatzpunkte zum Nachdenken. Aber
wir können erkennen, dass wir hier eine gemeinsame
Basis haben, auf der wir weiterhin zusammenarbeiten
wollen.
Ich sage im Namen meiner Fraktion ausdrücklich: Es
ist unser Ziel, in den nächsten Wochen diesen Konsens
bei dem uns allen wichtigen Thema Afghanistan so weit
wie möglich zu erhalten. Wir reichen die Hand auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
um gemeinsam Verantwortung für Deutschland wahrzunehmen. Wir kennen Ihre Diskussionen und die Zerrissenheit Ihrer Fraktion. Wir wollen weiterhin versuchen,
im Interesse Deutschlands und Afghanistans gemeinsam
zu arbeiten.
({3})
Nun versucht man in den ersten Wochen der neuen
Regierung krampfhaft, sich an Außenminister
Westerwelle abzuarbeiten. Dieses Bemühen eint einige
Publikationen sowie einige Stimmen hier im Deutschen
Bundestag. Manche der innerhalb und außerhalb dieses
Hohen Hauses geäußerten Kritikpunkte kann ich nur als
rührende Bemühungen bezeichnen; denn sie treffen einfach nicht. Der Außenminister hat sehr klar gesagt, dass
er eigene Akzente setzen wird, und das hat er in den bisherigen knapp drei Monaten auch getan.
Schon in seinem Reiseplan hat er deutliche Akzente
gesetzt: Warschau, Brüssel, dann Paris - und zwar ohne
jede Verstimmung, ja sogar mit Zustimmung Frankreichs -, die Türkei, Tokio und China. Außerdem setzt er
deutliche Akzente bei seiner Art der parlamentarischen
Zusammenarbeit. Wir hatten gestern Abend im Rahmen der Obleuterunde zum zweiten Mal das Vergnügen
eines gemeinsamen Essens mit dem Außenminister.
({4})
Sie können Ihre Kollegen, die dabei waren, fragen, und
sie werden Ihnen bestätigen, dass nicht nur das Essen,
sondern auch die Diskussion sehr gut war.
Außenminister Westerwelle gelingt es sehr gut, auf
der einen Seite die deutschen Interessen zu vertreten, auf
der anderen Seite aber nicht die deutliche, im Ton durchaus moderate Benennung der Wertebasis, die wir mit der
deutschen Außenpolitik erhalten wollen, zu vernachlässigen. Das sind wichtige Akzente, die er in den ersten
Monaten gesetzt hat. Daran ist auch beim schlechtesten
Willen der Opposition nichts auszusetzen. Daher sollten
Sie dem beschriebenen Verfahren zustimmen.
({5})
Es gibt einige Themen, die die außenpolitische
Agenda in den nächsten Wochen und Monaten dominieren werden. Ich kann sie jetzt nicht alle abarbeiten; zu einigen Punkten ist auch schon viel gesagt worden. Herr
Kollege Schmidt, Ihre Kritik im Hinblick auf Afghanistan gleitet an uns ab, denn wir haben sehr für einen intellektuell integren Prozess geworben. Wir haben gesagt,
dass die Konferenz in London wichtig ist und die deutsche Bundesregierung mit eigenen Ideen in diese Konferenz gehen muss. Diese werden nächste Woche von der
Bundeskanzlerin hier vorgetragen werden. Wir warten
die Konferenz in London ab und gehen dann in der folgenden Reihenfolge vor: erst die Ziele festlegen, dann
die Strategien und schließlich Maßnahmen und Ressourcen zuordnen. In dieser Reihenfolge wird die BundesreDr. Rainer Stinner
gierung vorgehen, und dabei werden wir sie als FDPFraktion kritisch, aber positiv begleiten.
({6})
Lassen Sie mich ganz kurz auf den Nahostkonflikt,
der uns alle beschäftigt, eingehen. Ich möchte für meine
Fraktion noch einmal betonen, welch unglaubliche historische Dimension die israelisch-deutschen Regierungskonsultationen haben. Sie haben eine symbolische Bedeutung, die wir uns vor einigen Jahren nicht vorstellen
konnten. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir als
Deutsche sagen, dass es uns auf der Basis der gefestigten
deutsch-israelischen Beziehungen als Freunden Israels
möglich ist, kritische Positionen offen anzusprechen,
zum Beispiel die Siedlungspolitik, die wohl alle im
Deutschen Bundestag mit einer gewissen Skepsis betrachten.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion erwarten, dass die
Bundesregierung bei allen inhaltlichen Punkten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik deutsche Positionen
sehr deutlich definiert und international vorträgt.
Lassen Sie mich in der mir verbleibenden Minute
noch etwas zum Haushalt ausführen. Lieber Herr
Leutert, zu Ihnen kann ich nur sagen: Für jemanden, der
nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus.
({7})
Ihrer Kritik, es würde krampfhaft eine Militarisierung
hervorgerufen werden, kann ich nur mit einer gewissen
Belustigung begegnen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis,
dass sich ein Akzent des Außenministers, nämlich die
Abrüstung, in diesem Haushalt unmittelbar niederschlägt. Die Mittel für die Abrüstung sind um 21 Prozent
gesteigert worden. Das entspricht der Akzentsetzung
dieses Außenministers.
({8})
Wir müssen uns aber fragen - das ist mein abschließender Gedanke, Herr Präsident -, ob die Mittelzuweisungen an die Außenpolitik auf Dauer genügen. Ich
weise darauf hin, dass die auswärtigen Dienste vergleichbar großer Länder wie Frankreich oder Großbritannien wesentlich größer sind als unserer. Masse ist
nicht alles, aber es ist ein Indiz.
Ich sage Ihnen: Wir müssen uns auch Gedanken über
die Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Diplomaten und Diplomatinnen machen.
({9})
Eines interessiert uns dabei besonders, nämlich wie wir
den diplomatischen Dienst auch für Familien attraktiver
machen können. Wir haben hier ein Problem. Das ist
nicht Sozialpolitik im Interesse der Diplomaten, sondern
das ist Interessenpolitik; denn die Wirksamkeit und die
Schlagkraft des diplomatischen Dienstes hängen davon
ab, dass wir genügend fähige Leute finden, die auch ins
Ausland gehen können.
({10})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Die
Grundlagen deutscher und liberaler Außenpolitik bleiben konstant. Wir wollen Frieden schaffen für unser
Land im Bündnis mit Europa und der Welt. Wir wollen
internationale Verantwortung übernehmen, in Haiti und
auch woanders.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir wollen helfen, wo wir helfen können. Dafür stehen wir als FDP-Fraktion, und wir unterstützen dabei die
Bundesregierung mit ganzer Kraft.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Angelica Schwall-Düren,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister! Der
Lissabonner Vertrag ist nun zum Glück in Kraft, und
die institutionellen Debatten können ein Ende finden.
Der Weg ist jetzt frei, wieder intensiver über die Gestaltung der Europäischen Union nachzudenken. Lieber
Kollege Schockenhoff, Sie haben im Zusammenhang
mit der Subsidiaritätskontrolle des Deutschen Bundestages insbesondere das Thema der EU-Erweiterung um
die Türkei angesprochen. Mich treibt die Sorge um, dass
manchmal eher der Versuch unternommen wird, hier
eine Verhinderungspolitik zu betreiben.
Heute wollen wir nicht über die zum Glück gestärkten
Rechte des Deutschen Bundestages sprechen, sondern
über die Europapolitik der Bundesregierung; denn
Deutschland hat eine ganz wichtige Rolle und vor allen
Dingen eine große Verantwortung in Europa. Da frage
ich doch, Herr Stinner, ob neben der Kontinuität, die ich
wahrnehme und sehr begrüße, die eigenen Akzente tatsächlich schon Wirklichkeit geworden sind. Ich habe
heute von Frau Bundeskanzlerin Merkel so gut wie
nichts zur Europapolitik gehört und leider auch von Ihnen, Herr Westerwelle, wenig. Ich sehe ein, Ihre Redezeit war begrenzt;
({0})
aber wir müssen schon erwarten, dass zu Beginn der
Amtszeit einer Regierung diese Dinge deutlich werden.
Da muss ich Ihnen sagen: Reisen allein genügt nicht. Es
geht, wenn es stimmt, dass wir eine Wertegemeinschaft
sind, um die Erarbeitung gemeinsamer Positionen; es
geht um die praktische Umsetzung dieser Werte; es geht
um konkrete Politik.
Was passiert gerade mit unseren Nachbarn? Ich
möchte als Erstes sagen, dass auch ich Ihnen, Herr
Westerwelle, sehr dankbar bin, dass Sie zunächst in
Polen waren und dass Sie Frankreich besucht haben.
Auch Frau Staatsministerin Pieper ist schon in Polen gewesen. Dieses und auch die Äußerungen, die Sie dort getan haben, kann ich nur begrüßen. Ich freue mich sehr,
dass Premierminister Tusk der Karlspreis verliehen wird,
weil er in der Tat auf der polnischen Seite die Persönlichkeit ist, die sehr viel dazu beigetragen hat, dass die
deutsch-polnischen Beziehungen wieder verbessert werden.
An dieser Stelle muss ich in Richtung der Frau Bundeskanzlerin sagen, vor allen Dingen weil ich ihre Verantwortung sehe: Sie muss in diesem Feld einen Streit
aus der Welt schaffen.
({1})
Es geht nicht, dass die Frage Steinbach dieses Verhältnis
weiter belastet. Ich will mit aller Deutlichkeit sagen: Ich
habe keinerlei Verständnis dafür, dass man in der Koalition meint, darüber Verhandlungen beginnen zu können.
Wir haben ein gültiges Gesetz, und es gibt niemanden,
der Bedingungen zu stellen hat, wie dieses Gesetz umgesetzt werden soll. Das muss ich ganz klar und eindeutig
zurückweisen.
({2})
Hier ist der Außenminister gefragt, damit wir in der beschworenen Kontinuität, Herr Westerwelle, fortsetzen
können, was für Willy Brandt ganz wichtig war: dass wir
ein Volk von guten Nachbarn sind.
({3})
Wir haben gemeinsam mit Polen wichtige Fragen anzupacken. Ich verweise auf die östliche Partnerschaft; da
warte ich auf Initiativen.
Wir haben im Übrigen zusammen mit Frankreich
wichtige Initiativen zu ergreifen; ich denke etwa an die
Mittelmeerunion. Palästina, Israel, der Nahe Osten sind
angesprochen worden. Wenn wir hier nicht vorankommen, dann wird diese Union für das Mittelmeer nicht
von Erfolgen gekrönt sein, und dann werden auch die
positiven praktischen Initiativen ins Leere laufen. Vielleicht ist der Deutsch-Französische Tag, den wir in zwei
Tagen feiern, für Sie ein Anlass, die eine oder andere Initiative bekannt zu geben, Herr Außenminister.
Ich frage mich aber auch: Wo ist das stimmige Konzept der Regierung in Bezug auf die Erweiterungspolitik? Zu Kroatiens Beitritt sagt man Ja. Bezüglich der
westlichen Balkanstaaten wissen wir schon nicht, wie
die Position der Regierung ist. Man hört immer wieder,
dass es dort Vorbehalte gibt. Wenn wir das ernst nehmen,
was Sie, Herr Westerwelle, gesagt haben - dass die Europäische Union vor allen Dingen ein friedensstabilisierender Faktor ist -, dann können wir diese Länder nicht
auf Dauer als Insel innerhalb der Union mit Instabilität
und großen Problemen zurücklassen. Es geht eben auch
darum, wie die Frage des Beitritts der Türkei entschieden wird. Auch hier, Herr Westerwelle, haben Sie unsere
Unterstützung, dass wir diesen wichtigen Partner auf
dem Weg in Richtung Europäische Union begleiten. Die
klaren Verhandlungsbedingungen muss man nicht wiederholen. Wir wollen, dass wir zu einem positiven Ergebnis kommen.
({4})
Wo sind die Ideen, die Konzepte für die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik, für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Wo stehen wir in
der Frage der Partnerschaft mit Russland? Auch hier
müssen wir im Zusammenhang mit wichtigen Zukunftsfragen vorankommen. Ich fordere Sie auf, schnell nachzuliefern.
Wo steht diese Regierungskoalition, wenn es darum
geht, die Politiken der EU, sowohl die Inhalte als auch
die Instrumente und Methoden, an die Herausforderungen der Zeit anzupassen? Beispielsweise wird uns bald
die „Finanzielle Vorausschau“ vorgelegt. Wir hören von
der Bundesregierung, man wolle keinen Cent zusätzlich
geben. Man wolle auf der anderen Seite die Gemeinsame
Agrarpolitik nicht verändern. Man wolle in der Strukturpolitik natürlich dafür sorgen, dass der nötige Rückfluss
wieder erfolgt. Aber gleichzeitig sollten neue Aufgaben
erfüllt werden; ich erinnere hier an den Europäischen
Auswärtigen Dienst, ich erinnere an FRONTEX und
andere Aufgaben. So kann es also nicht weitergehen; daher frage ich Sie, ob Sie nicht auch einmal etwas konzeptionell denken können wie beispielsweise der Luxemburger Finanzminister, der neue Ideen in Bezug auf
eine europäische Steuer, durch die die EU finanziert
wird, auf die Tagesordnung gesetzt hat.
Wo bleibt die konzeptionelle Kraft dieser „Traumregierung“ für wichtige europapolitische Felder? Der
Misserfolg in Kopenhagen in Fragen des Klimaschutzes ist schon angesprochen worden. Auch ich bin der
Meinung, dass ein wesentlicher Punkt die mangelnde
europäische Einigkeit gewesen ist. Wenn wir es nicht
schaffen, die EU-Mitgliedstaaten, unsere Partner und
Partnerinnen, davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam
für dieses 30-Prozent-Ziel verbindlich stehen, dann werden wir hier auf Dauer nicht vorankommen.
({5})
Das hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, an der einen
oder anderen Stelle, Streitfragen aus der Welt zu schaffen, ob es uns beispielsweise gelingt, unsere östlichen
Partner zu bewegen, ein Stück nach vorne zu gehen.
Auch die Frage der Energieversorgungssicherheit
ist nur gemeinsam, nicht bilateral zu beantworten. Ich
weiß, dass das schwierig ist. Umso wichtiger ist es deshalb, dass wir innereuropäisch etwas für die Umsetzung
des Energiebinnenmarktes tun, indem wir die Initiativen
zur Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur - Stromnetze, Gasnetze, Interkonnektoren - voranbringen und
regenerative Energien und Energieeffizienz befördern,
statt uns auf den Standpunkt zu stellen, mit der Atomenergie könnten wir heute noch punkten, und damit
eine Strategie nach dem Motto: „Rückwärts in die Steinzeit“ zu fahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch noch
auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zu sprechen
kommen. Sie ist nicht vorbei; das hat ja auch Frau
Merkel gesagt. Von dem Richtigen, was wir in der Großen Koalition gemeinsam durchgesetzt haben, haben wir
uns keineswegs, wie Herr Kauder, der leider nicht mehr
hier ist, sagte, verabschiedet. Die Erfolge werden sich
noch zeigen. Allerdings sind die Auswirkungen der
Krise immer noch zu spüren; es besteht nach wie vor
eine Rückfallgefahr; und erst recht ist es noch nicht gelungen, ihre Ursachen zu beseitigen.
Auch hier müssen wir fragen: Was regelt die Regierung in der EU, damit in Zukunft keine Finanzblasen
mehr entstehen, die beim Platzen zu einer verheerenden
Explosion führen, welche mit einem Absturz von Sparern, Kleinanlegern und Beschäftigten verbunden ist?
Herr Schäuble hat gestern gesagt, es seien Lehren aus
der Krise gezogen worden. Wo bleibt aber eine konkrete
Finanzmarktregulierung? Helmut Schmidt wird nicht
müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die EU
hier große Spielräume und auch großen Einfluss auf die
Weltmärkte für Geld und Kapital hat.
({6})
Deshalb muss es darum gehen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass mehr in Bezug auf Transparenz, Finanzaufsicht, Bonusregelungen und Besteuerung getan wird.
Man kann sich dabei nicht damit herausreden, dass international noch nichts erreicht worden ist. Wenn man
national nichts tut und auch nicht versucht, etwas europäisch voranzubringen, dann besitzt man in dieser Frage
keine Glaubwürdigkeit auf der internationalen Ebene.
({7})
Das ist insbesondere in Bezug auf ein wichtiges
Thema in diesem Zusammenhang zu sagen, nämlich die
Finanzmarkttransaktionsteuer. Die USA und China wird
man nur ins Boot bekommen, wenn man Druck aufbaut
und einheitlich agiert. Erlauben Sie mir, zu zitieren, was
Helmut Schmidt hierzu gesagt hat:
Die Regierung Merkel/Westerwelle ist erstaunlich
vorsichtig und zurückhaltend auf dem Feld der Finanzaufsicht, die eigentlich im deutschen Interesse
gestrafft werden müsste. Und nicht nur da: Es kommen keine Vorschläge an die Adresse der Amerikaner, es gibt kaum Vorschläge zu Afghanistan, keine
zu Iran, keine zu Israel versus Palästinenser.
In all diesen Feldern sollte Deutschland im Rahmen der
EU stärker und selbstbewusster auftreten.
({8})
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Europäische
Union in internationalen Gremien gemeinsam auftritt.
Auch hier möchte ich an eine neue Initiative des wiedergewählten Vorsitzenden der Euro-Gruppe bei der G 20,
Jean-Claude Juncker, eines Christdemokraten und damit
eines Parteifreundes von Ihnen, erinnern. Er fordert, dass
die Euro-Gruppe bei der G 20 einen gemeinsamen Sitz
einnimmt. Es ist völlig klar, dass Italien, Frankreich und
Deutschland dann auf dieser Ebene zurückstecken müssten, nach dem Motto: Geteilte Souveränität ist gesteigerte Souveränität. Das heißt ja nicht, dass man nicht im
Vorfeld entsprechend Einfluss ausüben kann und ausüben muss. Aber man muss darauf hinweisen, dass der
Erfolg eher gegeben ist, wenn man gemeinsam auftritt.
({9})
Auch hierzu möchte ich ein Zitat bringen, diesmal aus
der Financial Times Deutschland:
Allerdings sprechen Erfahrungen der jüngsten Zeit
für den Euro-Vorstoß. Bei den Kopenhagener Klimaverhandlungen führte der zersplitterte Auftritt
der Europäer dazu, dass die USA das Endergebnis
mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien
und Südafrika aushandelten und die EU ignorierten.
… Selbst in großen EU-Ländern reift die Einsicht,
dass Europa Einfluss nur bewahren kann, wenn es
geeint auftritt.
Ich frage: Sollte Deutschland da eine Ausnahme sein?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wären noch viele
Felder anzusprechen, auf denen mehr Initiative erforderlich wäre. Ich erinnere an die Lissabon-Plus-Strategie.
Wir wollen gerne mit Ihnen über diese Dinge diskutieren
und sind gespannt auf Ihre Konzepte, Herr Westerwelle.
Eines ist klar: Diese Koalition braucht Mut statt Kleinmut. Sie braucht Kooperation statt Streit. Sie braucht
Gemeinwohlorientierung statt Klientelpolitik und Eigeninteresse.
({10})
Wenn Sie dieser Linie in Ihrer Europapolitik folgen,
dann werden die Sozialdemokraten an Ihrer Seite sein.
Denn - um mit Willy Brandt zu sprechen - wir wollen
mehr Europa und nicht weniger.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und
vor dem Beginn der Amtszeit einer neuen Kommission
an einem Punkt, an dem wir eine europapolitische Be1308
standsaufnahme machen sollten. Zwei Beobachtungen
geben aus meiner Sicht Anlass zu Schlussfolgerungen:
Einerseits sehen wir uns im Zuge der weltweiten Vernetzung, der Globalisierung, einem verschärften internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Trotz ihrer Wirtschaftskraft findet die Europäische Union bei den
großen, grenzüberschreitenden Fragen - von der Klimapolitik über die Finanzmarktregulierung bis zur Welthandelsrunde - kein ausreichendes Gehör, wenn es ihr
nicht gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. Hier sind
wir noch nicht am Ende unserer Möglichkeiten angelangt.
Andererseits müssen wir feststellen, dass die Bürger
der Europäischen Union, die eine Wertegemeinschaft ist,
sich zunehmend auf ihre lokale, regionale oder nationale
Verwurzelung konzentrieren. Das ist offenbar ein gegenläufiger Prozess zur Globalisierung.
Damit steht die Europäische Union in den nächsten
Jahren vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum einen muss das Gewicht Europas nach außen gestärkt werden. Zum anderen brauchen wir innerhalb der Europäischen Union den Mut zu mehr Vielfalt und weniger
Gleichmacherei. Vieles ist in dieser Beziehung aus dem
Gleichgewicht geraten. Das ist wohl auch der Grund,
weshalb die europäische Integration für viele Bürger
ihren Reiz eingebüßt hat.
Bundespräsident Horst Köhler hat das vor gut vier
Wochen, am 20. Dezember 2009, anlässlich des 60. Jahrestages des Karlspreises deutlich umschrieben, indem
er gesagt hat - ich zitiere -:
Die Bürger sollen schlicht die Erfahrung machen,
dass Europa ihnen dient. Zu oft erleben sie heute
das institutionelle Europa vor allem als Ärgernis.
Das ist ein Grund für das vielfach zu geringe Vertrauen, das der Europäischen Union und ihren Institutionen entgegengebracht wird.
Was sind die Lehren für die aktuelle Politik? Was den
Klimaschutz angeht, hat die Europäische Union in Kopenhagen bei weitem nicht die Erwartungen unserer
Bürger und der internationalen Öffentlichkeit erfüllen
können. Stattdessen beschäftigt sich die Europäische
Kommission mit der Mobilität in Innenstädten, mit einer Frage also, für die bei uns die Kommunen zuständig
sind. Es ist ein eklatantes Missverhältnis, wenn sich die
Europäische Union mit Kleinigkeiten, mit Nebensächlichkeiten befasst und einen erklecklichen Eifer in der
Bevormundung und Drangsalierung der Bürger entwickelt, aber dort, wo wir ein starkes Europa und die Vorreiterrolle der Europäischen Union in der internationalen
Klimaschutzpolitik bräuchten, nicht das erreicht, was sie
will.
({0})
Meine Damen und Herren, hier müssen wir die Dinge
wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Die Vorschläge
der Kommission zur Mobilität in den Innenstädten haben
überhaupt nichts mit grenzüberschreitenden Fragen zu
tun. Sie sind ein klarer Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. Die Kommission sollte davon schlicht Abstand
nehmen und sich um die Fragen kümmern, für die sie
prioritär zuständig ist. Die Verhandlungen in Kopenhagen sind von der Kommission geführt worden. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, dass wir bei den Folgekonferenzen in diesem Jahr in Bonn und in Mexiko zu
einer gemeinsamen Position der Europäischen Union in
der Klimaschutzpolitik kommen.
Ähnliches gilt in der Wirtschaftspolitik. Wir brauchen nach dieser etwas verkorksten Lissabon-Strategie
einen Ansatz, wie wir in der Europäischen Union zu
mehr Wettbewerbsfähigkeit kommen. Ich sehe mit einer
gewissen Skepsis die Vorschläge, die von Spanien zu
Beginn der neuen Ratspräsidentschaft gemacht worden
sind. Ich bin dafür zu gewinnen, dass wir uns Zielmarken setzen. Aber diese müssen wir, bitte schön, im Wettbewerb miteinander erreichen und nicht durch eine wirtschaftspolitische Globalsteuerung aus Brüssel. Auch da
gilt also: Wir müssen die großen Dinge gemeinsam und
mit den richtigen Instrumenten regeln, aber nicht mit
Gleichmacherei und Harmonisierungsdruck aus Brüssel.
Ähnliches gilt in der Finanzpolitik. Natürlich brauchen wir ein größeres Gewicht der Europäischen Union
in der internationalen Finanzpolitik. Wir müssen die
Vorgaben mit setzen für die Regulierung und auch für
die Aufsicht der Finanzmärkte. Aber das darf nicht so
weit gehen, dass auf europäischer Ebene auf ein Weisungsrecht gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden zurückgegriffen wird. Aufsicht funktioniert immer dann,
wenn möglichst viele Augen hinschauen. Deswegen ist
es richtig, die Koordinierung, die wir in Europa brauchen, zu verbessern. Aber wir brauchen kein Weisungsrecht gegenüber nationalen Behörden.
Lassen Sie mich diesen Punkt zusammenfassen. Wir
brauchen nach meiner festen Überzeugung ein starkes
Europa, wenn es um die großen Fragen, um die Zukunftsfragen für unseren Kontinent und für den ganzen
Globus geht. Aber wir brauchen zugleich ein schlankes
Europa, wenn es um die Alltagsfragen für unsere Bürger
und für die Unternehmen geht. Das ist die Balance, die
wir finden müssen.
({1})
Es gibt jährlich einen Subsidiaritätsbericht der
Kommission. Ich denke, der bevorstehende Amtsantritt
der neuen Kommission wäre eine geeignete Gelegenheit,
alle laufenden Vorhaben neu zu bewerten und, bitte
schön, die Vorhaben zurückzuziehen, die bisher keine
Mehrheit in Europa gefunden haben. Es wäre ein Beitrag
zu mehr Demokratie und Bürgernähe, dass nicht alles in
den Schubladen verbleibt, bis irgendwann das Rad ein
Stück weiter gedreht werden kann. Vorschläge, die keine
Mehrheit finden, sollten auch einmal vom Tisch genommen werden.
Wir müssen unsere Rolle als Deutscher Bundestag in
diesen Fragen deutlich stärken. Wir haben während der
letzten Legislaturperiode alle Voraussetzungen dafür geschaffen. Jetzt müssen wir dazu übergehen, europäische
Vorhaben in unseren Ausschüssen nicht einfach nur zur
Kenntnis zu nehmen, sondern uns zu positionieren und
Stellung zu beziehen. Wir müssen uns auch auf europäischer Ebene stärker mit den Kolleginnen und Kollegen
in den anderen nationalen Parlamenten vernetzen. Wir
werden früher oder später wohl auch die Gelegenheit bekommen, die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes
durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen. Nach den Vorschlägen und Beschlüssen, die man
aus Brüssel bekommt, zu urteilen, wird das nicht lange
auf sich warten lassen. Ich freue mich darauf, dass der
Europäische Gerichtshof die Gelegenheit erhält, seine
neue Rolle als Wächter der Subsidiarität auszuüben.
Lassen Sie mich zum Thema der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einige Sätze sagen. Wir haben hier Spielraum für eine stärkere Rolle der Europäischen Union. Wir haben deshalb ganz bewusst im
Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eigene Planungsund Führungsfähigkeiten der Europäischen Union in diesem Bereich haben wollen.
Wenn wir die Tragödie in Haiti betrachten, dann wird
augenfällig, dass wir in der Tat auch auf europäischer
Ebene besser zusammenarbeiten müssen. Es sind zwar
bereits beträchtliche Hilfen angelaufen. Aber es darf
nicht sein, dass bei einem Erdbeben dieses gewaltigen
Ausmaßes die Europäer zu einem guten Teil sozusagen
nebeneinander laufen. Hier sind Verbesserungen nötig.
Um in einer solchen Krise schnell helfen zu können, ist
die Koordinierung das Wichtigste. Die Bewältigung solcher Krisen ist eine gigantische Koordinierungsaufgabe.
Wir sollten daher einen Teil der Koordinierung in der
Europäischen Union bewerkstelligen. Deswegen halte
ich den Vorschlag, den der neue ständige EU-Ratspräsident Van Rompuy gemacht hat, nämlich eine humanitäre
Eingreiftruppe der Europäischen Union zu schaffen, für
sehr überlegenswert. Ich denke, dass wir genau in dieser
Richtung weiterarbeiten müssen.
Meine Damen und Herren, im Rahmen der Außenund Sicherheitspolitik wird der Europäische Auswärtige Dienst in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt zu weiten
Teilen eine Domäne der Mitgliedstaaten. Deswegen ist
es richtig, wenn die auswärtigen Dienste der Mitgliedstaaten in diesem Europäischen Auswärtigen Dienst
stark vertreten sind. Aber ich denke, dass dieser Europäische Auswärtige Dienst nur dann Sinn macht, wenn die
Synergieeffekte, die in einer gemeinsamen Arbeit auf
europäischer Ebene liegen, auch tatsächlich zum Tragen
kommen.
({2})
Es kann doch nicht sein, dass der Europäische Auswärtige Dienst auf die bestehenden nationalen Dienste einfach obendraufgesattelt werden soll. Im Gegenteil: Da
besteht Potenzial für Personaleinsparungen auf europäischer Ebene genauso wie auf nationaler Ebene. Ich rate
uns sehr, dieses Potenzial zu nutzen; denn sonst schaffen
wir Doppelstrukturen, die uns im Ergebnis nicht helfen,
sondern die Dinge eher komplizieren.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich, dass viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur die
Kontinuität in der Außenpolitik betont haben, sondern
auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Diese besteht
auch auf unserer Seite.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Alexander Ulrich für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, Sie haben heute sehr viel über eine
werteorientierte Außenpolitik geredet. Letzte Woche
konnte ich Sie nach Japan und China begleiten; es war
eine sehr interessante Reise. Aber angesichts dessen,
dass wir in dieser Woche auch über Werte in der deutschen Politik reden, sollten Sie sich natürlich ein bisschen daraufhin überprüfen lassen, dass Politik in
Deutschland nicht käuflich wird.
({0})
Denn dann könnte man auch im Ausland noch stärker für
eine Werteorientierung werben. Ganz nebenbei, die FDP
könnte einen guten Zug machen - dann wäre die Werteorientierung wieder vorhanden -: Um von diesem
schlechten Beigeschmack wegzukommen, sollte sie die
Spende in Höhe von 1,1 Millionen Euro an die FDP
nach Haiti weiterleiten.
({1})
Bei den Haushaltsberatungen im letzten Jahr befanden wir uns noch mitten in der Krise. Milliarden von
Steuergeldern wurden zur Rettung von Banken ausgegeben. Heute, ein Jahr später, ist die Krise noch lange nicht
vorbei. Aber die Banken zocken schon wieder, als wäre
nichts passiert.
Was tun die Bundesregierung und die EU-Kommission, um diese hochriskanten und teilweise kriminellen
Finanzgeschäfte zu unterbinden? Eigentlich nichts. Ein
Verbot von Hedgefonds wie vor 2005 - Fehlanzeige.
Sanktionen gegen Steueroasen - Fehlanzeige. Ein
Zwang zur stärkeren Unterlegung von riskanten Investments mit Eigenkapital - Fehlanzeige. Eine Rückkehr
zur gesetzlichen Rente - Fehlanzeige. Auch bei der Finanztransaktionsteuer versteckt sich die Regierung hinter dem Abwarten auf den IWF-Bericht, anstatt sich klar
für eine europaweite Einführung dieser Steuer auszusprechen.
({2})
Warum tut die Regierung angesichts der schwersten
Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er-Jahren nichts
gegen kriminelle Finanzgeschäfte?
({3})
Nun, dafür gibt es zwei Erklärungen: Die Regierung
glaubt, die Finanzmärkte funktionieren; man müsse sie
nur besser beaufsichtigen. Stellen Sie sich vor: Eine
Bank öffnete nachts die Türen und den Tresor, aber installierte mehr Kameras in der Hoffnung, so Bankräuber
abzuhalten. So viel Naivität möchte selbst ich der Regierung nicht unterstellen.
Oder die Regierung dient nicht der Bevölkerungsmehrheit, sondern Herrn Ackermann und seinen Freunden.
({4})
Entscheiden Sie selbst!
({5})
Die neue europäische Aufsicht wird kleinteilig und
damit machtlos. Es gibt eine für Wertpapiere und eine
für Versicherungen. Die EZB hat im Rat für Systemrisiken den Hut auf. Dies alles findet natürlich hinter verschlossenen Türen statt. Kein Parlamentarier, kein Bürger wird erfahren, welche Risiken in der Wirtschaft
existieren und warum. Dabei geht es doch angeblich um
mehr Transparenz und das Wohl der Allgemeinheit.
Wann immer es an der Börse kracht, wird die EZB nicht
die Spekulanten an die Leine nehmen, sondern die Zinsen hochsetzen. Damit beendet man aber keine Spekulation auf einzelnen Märkten, sondern würgt die komplette
Wirtschaft ab.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch die regierungsnahe Aufsicht etwa der BaFin hat nicht funktioniert;
denn es fehlte erstens an Regeln, zweitens an Mitteln
und drittens am Willen. Finanzaufseher waren in
Deutschland so etwas wie Bankangestellte, sie waren
schlecht informiert und hatten nichts zu melden. Diese
Probleme werden nun aber nicht gelöst, sondern verschleppt.
Das Gleiche gilt für die allgemeine Koordinierung
der Wirtschaftspolitik in der EU. Die bisherige Koordination ging schief und die Antwort ist: mehr von den
alten falschen Rezepten. Mit der Lissabon-Strategie
sollte die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden, mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt.
Diese Strategie ist grandios gescheitert. Wir befinden
uns im Jahr 2010, Herr Westerwelle, aber wir sind nicht
der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt, und
wir haben auch nicht mehr Arbeitsplätze, sondern weniger, bessere schon gar nicht. Wir haben im Jahr 2010
keinen größeren sozialen Zusammenhalt, sondern mehr
Armut und mehr soziale Ausgrenzung.
({6})
Dazu hat in Deutschland ganz wesentlich die Umsetzung
der Agenda 2010 beigetragen. Hartz IV, der Kern dieser
Agenda, hat die Umverteilung von unten nach oben massiv verstärkt, eine Politik, die die jetzige Bundesregierung nahtlos fortsetzt.
({7})
- Scheinbar kapieren Sie nicht, dass Europapolitik immer auch Innenpolitik ist. Das müssen wir auch der FDP
endlich beibringen.
({8})
Die Lissabon-Strategie ist grandios gescheitert. Was
passiert? Denkt man darüber nach, was an der alten Strategie falsch war? Denkt man darüber nach, ob Wettbewerbsfähigkeit alleine wirklich ein sinnvolles Ziel ist?
Denkt man darüber nach, ob die Instrumente vielleicht
einfach nicht geeignet waren? Die Antwort ist Nein. Die
öffentliche Konsultation der Kommission dauerte nicht
einmal acht Wochen, und auch die bisherigen Entwürfe
der neuen Agenda 2020 lassen nichts Gutes erwarten.
Es muss endlich Schluss sein mit der Politik der Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung. In der EU
muss endlich wieder der Mensch in den Mittelpunkt gestellt werden und nicht die Rendite.
({9})
Es reicht nicht, wenn man dieses Jahr zum „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ausruft. Herr Westerwelle, Sie haben sehr wenig zum
Thema Europa gesagt. Sie haben auch wenig über dieses
„Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gesagt. Das passt auch; denn Armut und der
Kampf gegen Armut ist kein Thema für die FDP.
({10})
Wir brauchen keine Sonntagsreden, wir brauchen Taten. Das heißt: Wir brauchen dringend die soziale Fortschrittsklausel. Binnenmarktfreiheiten dürfen die erkämpften sozialen Grund- und Arbeitnehmerrechte in
den Mitgliedstaaten nicht aushebeln. Gewerkschaften zu
Schadenersatz zu verklagen, wenn sie gegen Lohndumping kämpfen - wie bisher fast unbemerkt infolge des
Laval-Urteils geschehen -, ist absolut inakzeptabel.
({11})
Wir, Die Linke, werden weiterhin für eine solidarische, friedliche und nachhaltige EU kämpfen. Dies ist
übrigens nicht antieuropäisch, sondern zutiefst europäisch; denn wenn die Interessen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, der Bürgerinnen und Bürger nicht
endlich ernst genommen werden, dann wird die europäische Idee scheitern.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Gunther Krichbaum, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ulrich, ich bin Ihren Ausführungen gefolgt.
({0})
Es stellt sich die Frage, ob Sie im richtigen Film sind.
({1})
Wenn es eine Errungenschaft in Europa gibt, dann ist
es die des Friedens, aber auch der Freiheit. Erst in diesem Rahmen hat sich der wirtschaftliche und damit auch
der soziale Wohlstand entwickelt. Ohne den wirtschaftlichen Erfolg wären soziale Wohltaten gar nicht möglich.
Wie sehr sich dieses Europa zu einem sozialen Europa
wandelt, erkennen Sie, wenn Sie das Programm der spanischen Präsidentschaft durchlesen.
Herr Außenminister Westerwelle, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen darauf hingewiesen, dass
Europa mit dem Vertrag von Lissabon seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt. Nach den Turbulenzen der
letzten Tage kann man festhalten, dass auch die Kommission handlungsfähig wird. Die Anhörungen neigen
sich dem Ende zu. Nebenbei ist zu bemerken, dass vor
allem der designierte deutsche Kommissar, Ministerpräsident Günther Oettinger, diese Anhörung mit Bravour
gemeistert hat.
({2})
Das gibt auch zu erkennen, dass er die Aufgabe als deutscher Kommissar hervorragend ausfüllen und damit
auch ein Schwergewicht in der Kommission darstellen
wird, woran wir ein Interesse haben dürften. Lassen Sie
mich das an dieser Stelle erwähnen.
Ich erwähne es auch deswegen, weil Frau Kollegin
Schwall-Düren in ihrer Rede auf die Idee zu sprechen
kam, eigene Einnahmequellen für die EU zu schaffen.
Der designierte Haushaltskommissar, Herr Janusz
Lewandowski, wurde genau danach gefragt und hat die
EU-Steuer ins Spiel gebracht. Dieses Thema wird an Bedeutung gewinnen, weil die neue Kommission die
Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen wird. Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen:
Die Union und die FDP werden sich strikt dagegen wenden, dass die EU eine eigene Steuer einführt, weil das
nicht dazu geeignet ist, die Steuerlast der Bürger zu senken. Ganz im Gegenteil: Wer die Büchse der Pandora
aufmacht, der wird den Geist nicht zurückdrängen können. Deswegen sage ich: Nein, das ist mit Deutschland
nicht zu machen.
({3})
Ich darf noch einige Ausführungen zu den bevorstehenden bzw. gerade stattfindenden Beitrittsverhandlungen machen, weil sie Auswirkungen auf unseren
Haushalt und den der Europäischen Union haben werden
und weil sie in anderen Reden angesprochen worden
sind:
Stichwort Kroatien: Ich glaube, dass Kroatien mittlerweile auf einem guten Weg ist. Ob wir allerdings das
avisierte Beitrittsjahr 2011 halten können, das muss eher
bezweifelt werden; denn das eigentlich schwierige Kapitel „Justiz und Grundrechte“ steht noch zur Eröffnung
an. Wir wissen, dass sich gegenwärtig andere Mitgliedstaaten dagegen wenden, dieses Kapitel schon jetzt aufzumachen. Wir sind auf einem guten Weg, was die
Richterausbildung angeht, und es gibt erfreuliche Fortschritte im Bereich Korruptionsbekämpfung. Aber man
muss diesen Dingen mit Realismus begegnen. Deswegen
wird ein Beitritt vor 2012 kaum machbar sein.
Thema Island: Vielleicht sollte man auch gegenüber
unseren isländischen Freunden bei allem Wohlwollen
deutlich sagen - immerhin sind 75 Prozent des Gemeinschaftsrechts übernommen und gehört Island bereits zum
EWR und zum Schengen-Raum -, dass wir nach den
wahren Motiven für einen Beitritt fragen müssen. Allein
ein Blick auf den Kontoauszug ist als Grund zu wenig.
Wir müssen nach den wahren Motiven fragen. Es wäre
wenig gewonnen, wenn Island eines Tages der Europäischen Union beitritt, sich aber dann herauskristallisiert,
dass die Liebe der Bürger zu Europa sehr schnell abkühlt. Ich glaube, damit wäre wenig geholfen. Es ist
auch eine Integrationswilligkeit des Staates vonnöten.
Ein Wort zum Thema Türkei: Wir haben eine glasklare Regelung im Koalitionsvertrag, nämlich dass die
Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Ich habe
wie viele andere natürlich auch die Zeitung gelesen. An
der einen oder anderen Stelle war auch ich verwundert;
denn Außenminister Westerwelle hat in der Türkei gar
nichts anderes gesagt, als dass dieser Prozess ergebnisoffen ist; und das ist gut so. Wir sollten nicht so tun, als
stünde das Ergebnis schon fest.
({4})
Nein, das ist ein Prozess, und es ist gut, dass das ein
Prozess ist. Wenn das Ende schon feststünde, wo bestünde denn dann noch die Möglichkeit, durch Reformen
auf das Land einzuwirken? Deswegen macht es wenig
Sinn, das ständig infrage zu stellen.
Ich glaube, es ist gut - das kann man festhalten -,
dass sich die Türkei in vielen Bereichen auf die Europäische Union zubewegt hat. Es gibt Bewegungen in der
Kurden-Frage, auch in der Armenien-Frage. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass im Fall Türkei noch vieles zu tun bleibt. Das betrifft zum einen natürlich die Frage der religiösen Minderheiten. Wir
erwarten eine Toleranz gegenüber den christlichen Kirchen. Zudem sind die Einschränkungen bei der Pressefreiheit nicht tolerabel, nicht hinnehmbar.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Ich gestatte die Zwischenfrage.
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Krichbaum. Sie waren
in Ihrer Rede schon ein wenig weiter, aber ich konnte
mich nicht rechtzeitig beim Präsidium bemerkbar machen.
Ich will Sie etwas zu Ihren Ausführungen zur Türkei
fragen. Sie betonen, wie glasklar die Koalitionsvereinbarung sei, und dass darin stehe, dass die Verhandlungen
mit der Türkei ergebnisoffen geführt werden. Das ist
eine schiere Selbstverständlichkeit für alle Beitrittsverhandlungen.
({0})
Es ist doch völlig klar, dass Verhandlungen begonnen
werden, egal wer den Beitritt wünscht, dass zum
Schluss, wenn sie beendet werden, das Ergebnis bewertet und danach entschieden wird, ob die Kriterien erfüllt
sind oder nicht.
Verstehen Sie, dass viele Menschen sich fragen, warum das bei der Türkei immer so betont wird? Der Subtext ist doch das Problem. Verstehen Sie, dass sich viele
denken, dass etwas dahinterstecken muss? Mich würde
interessieren, was dahintersteckt, dass Sie das bei der
Türkei immer wieder so betonen.
Herr Kollege Montag, es geht weniger um den Subtext als um den Kontext.
({0})
Aufgrund der Erfahrungen aus den bisherigen Beitrittsverhandlungen mit anderen Staaten muss man der Ehrlichkeit halber sagen, dass am Schluss der Verhandlungen der politische Discount eine maßgebliche Rolle
gespielt hat. Wir wissen und freuen uns darüber, dass
heute auch Länder wie Bulgarien und Rumänien Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind.
({1})
Es trägt auch in erheblichem Maß zur Stabilisierung einer ganzen Region bei. Deswegen sei, weil es in Zweifel
gezogen wurde, hier an dieser Stelle erwähnt, dass natürlich auch die Länder des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union haben, allen
voran Serbien, und wir das unterstützen. Denn es geht
um die Stabilität.
Aber dieser politische Discount ist in Zukunft so nicht
mehr möglich. Wir haben es im Falle der Türkei immerhin mit einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen
zu tun. Die Demografie ist anders als bei uns; die Bevölkerungszahl ist eher im Steigen begriffen. Deswegen ist
es, um hier keine Illusionen aufkommen zu lassen, besonders wichtig, dass man sich ehrlich in die Augen
sieht und seitens der Europäischen Union glasklare Erwartungen formuliert. Die Türkei sollte aber auch wissen, worauf sie sich einlässt, zum Beispiel auf die Verpflichtung, das Ankara-Protokoll zu implementieren.
Gleichzeitig sollte man aber auch unseren zypriotischen
Freunden sagen, dass sie sich nicht mit aller Gelassenheit im Stuhl zurücklehnen können. Denn beide müssen
aufeinander zugehen. Sonst wird sich in dieser Frage
nichts bewegen.
({2})
- Entschuldigung, ich habe das akustisch nicht verstanden.
({3})
- Gut.
Eine weitere Verpflichtung der Türkei ist, die Pressefreiheit zu respektieren. Ohne Pressefreiheit gibt es
keine Demokratie.
({4})
Die jüngsten Verschärfungen des Steuerstrafverfahrens
gegen die Dogan-Gruppe lassen ernste Besorgnis aufkommen. Die Kommission hat dies im jüngsten Fortschrittsbericht thematisiert. Wir müssen ohne Schaum
vor dem Mund darauf hinweisen, welche Erwartungen
wir an die Türkei haben. Die Respektierung der Pressefreiheit gehört dazu. Es wäre ein verheerendes Signal für
potenzielle Investoren, die davon abgeschreckt werden,
in der Türkei Investitionen vorzunehmen, wenn derart
willkürlich mit Steuerstrafverfahren agiert wird, um ein
Medienunternehmen mit regierungskritischen Presseorganen letztlich mundtot zu machen. Das kann so nicht
im Raum stehen bleiben und muss auch hier im Deutschen Bundestag für Widerstand sorgen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu unserem südlichen
Mitgliedstaat, zu Griechenland sagen. In der Tat - Kollege Montag, ich gebe Ihnen an der Stelle recht - konzentrieren wir unsere Betrachtungen sehr häufig auf die
Thematik der Türkei, ohne Griechenland in den Fokus
zu nehmen. Das ist inakzeptabel, gerade wenn man auf
die Stabilitätskriterien achtet.
({5})
Gegenwärtig gibt es dort eine Staatsverschuldung, die
bei 125 Prozent liegt, und ein Defizit von 13 Prozent der
Wirtschaftleistung. Der Umstand, dass immer wieder gefälschte Zahlen an Brüssel weitergegeben werden, ist besorgniserregend. Das ist nicht akzeptabel.
({6})
Ich nähre nicht die Diskussion über den Ausschluss
von Mitgliedern aus der Euro-Gruppe, weil dies auch
rechtlich zumindest fragwürdig, wenn nicht vielleicht
sogar unmöglich wäre. Diese Diskussion sollte schnell
beendet werden. Gleichsam muss man aber darauf hinweisen: Wer Zahlen fälscht, begeht Betrug an den Bürgern der Europäischen Union. Wir haben nur diesen einen Euro, und dieser Euro hat gerade jetzt, in der Finanzund Wirtschaftskrise, eine sehr stabilisierende Wirkung.
Es ist wichtig, dass an dieser Stabilität nicht gerüttelt
wird. Griechenland muss interne Reformen durchführen,
die sicherlich schmerzlich sein werden.
Wenn ich manche Meldungen vom heutigen Tage,
beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,
lese, muss ich sagen: Das kann so nicht weitergehen. Es
kann keine Lösung sein, bei der Statistikführungspflicht
einseitig Kompetenzen an Brüssel abzugeben; dagegen
wehren sich auch andere Mitgliedstaaten zu Recht. Darüber müssen wir mit unseren griechischen Freunden
noch ein ernstes Wort reden.
Zum westlichen Balkan habe ich bereits Ausführungen gemacht. Ich glaube, dass gerade wir, der Deutsche
Bundestag, in Anbetracht des Vertrages von Lissabon
und der Begleitgesetzgebung eine besondere Verantwortung haben, diese Prozesse in der Zukunft aktiver zu begleiten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für das Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte den Ball, den die Kollegen Schockenhoff und
Silberhorn von der CDU/CSU in ihren Ausführungen
gespielt haben, aufnehmen.
({0})
Wenn wir die Aussage, dass wir in einer neuen Zeit
leben, wirklich ernst nehmen, dann, so glaube ich, müssen wir auch bereit sein, mit neuen Antworten in diese
Zeit zu gehen, uns neue Antworten zu überlegen. Die
Beiträge, die Roman Herzog zum europäischen Integrationsprozess geleistet hat, sind unbestritten; er ist einer
der Väter der Europäischen Menschenrechtscharta. Aber
die Beiträge, die er zuletzt in der Auseinandersetzung
um die Frage: „Wie sollte das Verhältnis zwischen
EuGH und Bundesverfassungsgericht ausgestaltet sein?“
geleistet hat - Herr Schockenhoff, Sie haben ihn
zitiert -, habe ich nicht als Beiträge empfunden, die uns
weiterbringen, wenn wir über die Zukunft des neuen Europas reden.
({1})
Vielleicht kann man hier ansetzen: Wenn wir sagen,
dass uns der Vertrag von Lissabon und die Begleitgesetzgebung in eine neue Zeit geführt haben, dann sollten wir
von zwei grundlegenden Erkenntnissen unserer Politik
ausgehen.
Erstens. Wir brauchen in der Europapolitik eine neue
Ehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, die sich sowohl auf die
Ziele und Vorhaben der Europäischen Union bezieht
- hierzu hat uns das Bundesverfassungsgericht mit seinen Sätzen zu Art. 146 des Grundgesetzes etwas ins
Stammbuch geschrieben - als auch - das richtet sich an
die Regierungsbank - deutlich machen muss: Wenn etwas hierzulande nicht durchsetzbar ist, ganz egal von
welcher Couleur, gehört es sich nicht, es heimlich und
ohne dass Politik und Bevölkerung es bemerken, über
Brüssel durchzusetzen. Wir müssen eine neue Kultur der
deutschen Europapolitik etablieren, die deutlich macht:
Europapolitik muss in allem, was wir tun, streitbar und
nachvollziehbar sein.
({2})
Zweitens ist aus meiner Sicht wichtig, dass uns der
Vertrag von Lissabon vor neue Herausforderungen
stellt, die bewältigt werden müssen. Ganz bewusst nenne
ich zuallererst die Frage: Wie ist das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger als Staatsbürger der Europäischen
Union zur EU? Ich glaube, wir alle in diesem Haus, die
wir in der Vergangenheit immer gesagt haben, dass der
Vertrag von Lissabon das wichtigste Instrument ist, um
dieses Verhältnis zu verbessern, müssen jetzt die Antwort auf die Frage geben, wie wir mit dem Vertrag von
Lissabon auch die politische Kultur so verändern können, dass die Tendenz der Abneigung gegenüber Europa
und des Desinteresses an Europa umgekehrt wird. Für
die Bundesregierung wird es deswegen wichtig sein,
sich für eine bürgerfreundliche Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative zu engagieren.
Kollege Silberhorn, grundsätzlich stimmen wir beim
Thema Subsidiarität absolut darin überein, dass wir unsere Kritik nicht immer nur an die bösen Bürokraten der
Europäischen Kommission adressieren dürfen, ohne
auch das Handeln unserer eigenen Bundesregierung in
den Blick zu nehmen. So fallen mir beim Thema „Öffentlicher Personennahverkehr und Kommunen“ einige
Beispiele ein, die deutlich machen, dass das eigentliche
Problem Änderungen von Straßenverkehrsvorschriften
durch das Bundesverkehrsministerium sind, dass die
Entstehung dieses Problems am Ende aber häufig der
Europäischen Kommission zugeschrieben wird.
({3})
Der zweite Themenbereich, der aus meiner Sicht von
entscheidender Bedeutung ist, wenn man über die neue
Zeit, die Zeit nach dem Inkrafttreten des Vertrages von
Lissabon, redet, ist das Versprechen, das den Bürgerinnen und Bürgern mit dem Vertrag gemacht wurde: nämlich dass die EU ein sozialeres Gesicht bekommt. Dieses
Versprechen ist in dem Vertrag enthalten. Dieses Versprechen müssen wir einlösen. Wir werden es nicht einlösen können, wenn wir, wie Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag gemacht haben, in eine nationalstaatsbezogene
Sozialstaatsdenke zurückfallen. Wir müssen versuchen,
den Menschen zu zeigen: Ein Europa, das die Grenzen
für die Wirtschaft öffnet, muss auch die Grenzen für
Menschen öffnen, die zum Beispiel Sozialleistungen in
Anspruch nehmen wollen, oder für Menschen, die möch1314
ten, dass ihre Rechte als Arbeitnehmer von der EU geschützt werden.
Genauso darf die Bundesregierung in der Frage der finanziellen Vorausschau nicht zum Neinsager werden.
Die Äußerung, Sie lehnen es grundsätzlich ab, der EU
einen Anteil an nationalen Steuern zuzubilligen, habe
ich mit Interesse zur Kenntnis genommen. Schließlich
bekommt die EU seit über 20 Jahren einen geregelten
Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Ich
weiß nicht, ob Sie die 15 Prozent des Gesamtbudgets der
EU, die durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuer erzielt
werden, mit Ihrer Äußerung infrage stellen wollen oder
ob ich das vielleicht falsch gelesen habe.
Wichtig ist: Sie sind gefordert, mit Ideen für diese
neue Zeit voranzugehen. Wie Frau Schwall-Düren sage
ich: Was Sie in Polen gesagt haben, ist auch meine Meinung. Wir müssen aber auch bei harten Themen wie der
europäischen Innenpolitik mit Ideen vorangehen und unseren Beitrag dazu leisten. Das gilt für den Schutz der
Bürgerrechte - Stockholmer Programm -, das gilt für die
neuen Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon für
die Justiz- und Innenpolitik bietet, das gilt für eine verantwortungsvolle Gestaltung der Erweiterung, das gilt
für die Überlegung, den EAD mit einem europäischen
Korpsgeist stark aufzustellen, das gilt für den Klimaschutz und für die Nachhaltigkeit.
Der langen Rede kurzer Sinn: Wir warten darauf, dass
Sie Parolen wie die von der Bürokratie in Brüssel unterlassen, dass Sie ein soziales Europa nicht länger als Unding hinstellen und dass Sie das Mantra, dass der EUHaushalt bei gut 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Mitgliedstaaten gedeckelt werden muss, ablegen.
Wir erwarten, dass Sie sich auf den Weg machen, uns
mit interessanten, konstruktiven, neuen proeuropäischen
Ideen zum Nachdenken zu bringen, wie wir die neue
Zeit bewältigen können. Wenn diese Ideen interessant,
gut und proeuropäisch sind, haben Sie uns auf Ihrer
Seite. Wenn nicht, dann nicht.
Danke.
({4})
Die nächste Rednerin ist Katrin Werner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die schwarz-gelbe Bundesregierung singt
in ihrem Koalitionsvertrag das Hohelied der Menschenrechte. Ihr Haushaltsentwurf spricht eine andere Sprache: Ausgerechnet bei den Menschenrechten kürzt sie
die ohnehin nicht üppigen Mittel von rund 22 Millionen
Euro auf nur noch 19 Millionen Euro - so viel, wie die
Bundesregierung für gerade einmal zehn Tage Krieg in
Afghanistan ausgibt. Das ist ein Skandal.
({0})
Für ziviles Krisenmanagement der Vereinten Nationen
und die OSZE will sie sogar überhaupt nichts mehr ausgeben. Das spricht Bände.
({1})
Dieser stiefmütterliche Umgang mit den Menschenrechten ist nicht wirklich neu. Er zeigt sich nicht zuletzt
in unserem eigenen Land: Die Bundesregierung lässt
minderjährige Roma-Flüchtlinge in den Kosovo abschieben, trotz der erschreckenden Verhältnisse dort. Sie
sollte sich Art. 1 des Grundgesetzes in Erinnerung rufen,
in dem steht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Flüchtlinge besitzen dieselben Menschenrechte; denn
kein Mensch ist illegal.
({2})
Kaum besser ist es hierzulande um die sozialen Menschenrechte bestellt. Vielen Kindern bleibt seit der Einführung von Hartz IV nichts anderes übrig, als in eine
Suppenküche zu gehen, wenn sie eine warme Mahlzeit
am Tag bekommen wollen. 2 Millionen Kinder leben in
Armut. Halten Sie dies für vereinbar mit Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Recht auf
einen gewissen Lebensstandard oder mit dem Grundgesetz? Meine Damen und Herren, derartige Zustände in
puncto Menschenrechte sind für ein reiches Land wie die
Bundesrepublik Deutschland ein Armutszeugnis.
({3})
Wer den Menschenrechten schon im eigenen Land so
wenig Aufmerksamkeit schenkt, der wird auch im internationalen Maßstab hinterherhinken.
Die Herausforderungen sind riesig: Rund 1 Milliarde
Menschen weltweit hungern. Circa 37 Millionen Menschen waren 2008 weltweit auf der Flucht. Ebenso sterben jährlich Millionen Menschen an eigentlich heilbaren
Krankheiten. Die Pharmakonzerne stellen aus reinem
Profitinteresse lebenswichtige Medikamente nicht zu
günstigeren Preisen zur Verfügung. Die Politik hat dies
toleriert.
Die Linke sagt: Selbstverständlich müssen globale
Herausforderungen auch durch die internationale Staatengemeinschaft gemeistert werden. Fest steht jedoch,
dass die wohlhabenden Industrienationen, darunter auch
die Bundesrepublik, hierzu einen größeren Beitrag leisten können und müssen.
({4})
Dieser Haushaltsentwurf der Bundesregierung wird dem
nicht gerecht. Daher lehnt die Linke ihn ab.
({5})
Frau Werner, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg.
({0})
Zu diesem Geschäftsbereich liegen keine weiteren
Wortmeldungen vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.
Ich gebe das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Bundeswehr wird Tag für Tag mit vielfältigen Erwartungen, aber auch mit einem sehr breiten Einsatzspektrum konfrontiert. Unsere Soldaten sind da,
wenn es bei Schnee und Eis zu größeren Katastrophen
kommt; gottlob sind wir heuer weitestgehend davon verschont geblieben. Wir haben mit Blick auf Haiti unverzüglich ein Angebot zur Unterstützung abgegeben. Unsere Soldaten sind da, wenn etwa, wie in Afghanistan,
nach Ausbildern gerufen wird.
An den Einsatz unserer Streitkräfte sind hohe Erwartungen geknüpft, und der Einsatz ist gefährlich. Er ist risikobeladen, um etwas aufzugreifen, was heute Morgen
diskutiert wurde. Dies hat uns das Jahr 2009 auf
schmerzliche Weise gelehrt. Auch im vergangenen Jahr
hatten wir Gefallene und Verwundete zu beklagen. Das
ist die traurige Wahrheit. Gerade deshalb lasse ich es mir
nicht nehmen, diese Wahrheit offen anzusprechen.
Meine Damen und Herren, wir denken an ihre Familien, und wir ehren zu Recht unsere Soldaten. In diesem
Zusammenhang danke ich Franz Josef Jung von Herzen,
der für diese Ehrung Großes geleistet hat.
({0})
Wir brauchen gerade für die Ereignisse in den Einsatzgebieten, insbesondere für den in Afghanistan, eine
klare Sprache: eine Sprache, die die Menschen verstehen, und eine Sprache, die nicht allein taktisch geprägt
ist. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren
Dienst. Sie erfüllen ihren gefährlichen, ja auch riskanten
Auftrag, und wir können uns auf sie verlassen. Das ist
ein leicht gesagtes Wort, aber trotzdem eines mit einer
tiefen Bedeutung.
Aber unsere Soldaten haben damit ein Anrecht darauf
erworben, dass sie sich auch auf uns verlassen können.
Dies muss miteinander in einem Wechselspiel stehen.
An dieser Stelle danke ich auch im Namen unserer Soldatinnen und Soldaten Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, für Ihre große Unterstützung gerade
bei der Beschaffung des notwendigen Materials, insbesondere geschützter Fahrzeuge, die zunehmend bedeutsamer werden. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes
lebenswichtig, überlebenswichtig. Diesen Dank verbinde ich mit der Bitte, hierbei auch weiter auf Ihre Unterstützung zählen zu dürfen.
Zur Verlässlichkeit gehört eine ausreichende Mittelausstattung. Gerade in der Haushaltsdebatte darf ich diesen Hinweis wagen. In diesem Jahr wollen wir für die
Bundeswehr etwas über 31 Milliarden Euro ausgeben,
ein großer, ein hoher Betrag, aber gleichwohl gut investiertes Geld. Aufgabe politischer Führung ist es, durch
den Einsatz dieser Mittel die Bundeswehr als Instrument
unserer Sicherheitspolitik zu stärken. Auch hierfür erbitte ich die Unterstützung des Deutschen Bundestages.
In den vergangenen Wochen konnte ich ein facettenreiches, ein sehr breites Bild von der Bundeswehr gewinnen, von ihren Stärken, aber auch von Bereichen, in
denen Nachsteuerungsbedarf besteht. Bei meinen
Gesprächen und Besuchen habe ich viel von Herausforderungen und Handlungsfeldern gehört, von Optimierungspotenzial, von Effizienzsteigerung, von Entscheidungsbedarf, aber eben auch von Überbeanspruchung
und von Überforderung.
Im Kern geht es um zwei prioritäre Aufgabenfelder,
die sehr eng miteinander verknüpft sind. Es sind dies
zum einen die Einsätze. Seit 1992 befindet sich die Bundeswehr ununterbrochen im Auslandseinsatz. Zum anderen ist es die konsequente Fortsetzung der Transformation der Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Mit unseren
Entscheidungen sorgen wir dafür, dass Menschenleben
geschützt und gerettet werden. Wir haben dafür zu sorgen, dass unsere Soldaten ihren Dienst wirksam so versehen können, dass ihr Leben im Einsatz möglichst wenig gefährdet wird. Das ist unsere Aufgabe.
({1})
In Afghanistan, wo derzeit rund 4 500 Frauen und
Männer der Bundeswehr für unser Land in einer sehr
schwierigen Mission stehen, sehen wir gerade dies in besonderer Weise. Dort werden die drei zentralen Eigenschaften der Herausforderungen unserer Sicherheit von
heute deutlich: Das Erste ist das, was man mit Asymmetrie umschreibt. Sie wird viel beschrieben, aber selten
korrekt. Das ist zum Zweiten die globale Natur der Herausforderungen, die keinen Halt mehr vor Grenzen
macht, und zum Dritten die zwingende Notwendigkeit
eines umfassenden, ja, vernetzten Ansatzes aller Akteure
und deren Mittel. Wie sehr wurde über Jahre über den
Begriff „vernetzte Sicherheit“ gespottet, und wie wichtig und wie bedeutsam ist gerade dieser Ansatz geworden. Im Verständnis unserer Bündnispartner, aber auch
vieler anderer Partner auf dieser Erde hat er sich niedergeschlagen.
Auf der Afghanistan-Konferenz am Donnerstag der
kommenden Woche wollen wir die Strategie der internationalen Gemeinschaft notwendigerweise gemeinsam
mit unseren afghanischen Freunden anpassen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei die gemeinsamen
Ziele. In diesem Verständnis gilt es, mit der afghanischen
Regierung die Anpassung an unsere gemeinsame Strategie voranzubringen. Es versteht sich von selbst - das gehört sich -, dass wir den Deutschen Bundestag mit den
Wegen und Mitteln des weiteren Engagements befassen.
Ich will noch einmal betonen - das habe ich in den vergangenen Wochen oft gesagt -: Wir dürfen uns nicht in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
einer intellektuell überschaubaren Diskussion, einer reinen Truppenstellerdebatte, verlieren. Das würde den Anforderungen nicht gerecht werden.
Zur Klarheit gehört ohnehin die Erkenntnis, dass
Soldaten allein den Frieden und die Sicherheit in Afghanistan nicht wiederherstellen können. Der Schlüssel, gerade im Bereich Sicherheit, liegt in der Ausbildung der
afghanischen Kräfte, der Armee, aber auch der Polizei,
die in den letzten Jahren stärker, wirksamer geworden
sind. Wir sind aber noch nicht an dem Ziel, das wir uns
vorstellen. Wir können dies nur gemeinsam auf einer
ressortübergreifenden Grundlage erreichen. Wir brauchen dafür klare Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt. Wir brauchen aber auch klare Zeitlinien
und entsprechende Zeitfenster, um den Ausbildungserfolg, aber auch den Aufbauerfolg messen zu können und
um daraus die notwendige Abzugsperspektive zu entwickeln. Wir wollen beim Thema Abzugsperspektive
nicht hinter anderen zurückstehen, die sich dazu bereits
geäußert haben.
Die afghanische Sicherheit braucht - das mag banal
klingen - ein afghanisches Gesicht. Wir würden einer Illusion erliegen, wenn wir glaubten, dass die internationale Gemeinschaft das alleine erreichen kann. Dieses afghanische Gesicht der Sicherheit muss klarer erkennbar
werden. Dem versuchen wir auch konzeptionell nachzukommen. Gerade mit dem Konzept des sogenannten
Partnering wird bereits jetzt in Afghanistan mit unterschiedlicher Intensität dafür Sorge getragen, dass sich
die Voraussetzungen für die Sicherheit des Landes kontinuierlich fortentwickeln.
Kerngedanke ist, dass Ausbildung und Schutz zusammengehören und untrennbar miteinander verbunden
sind. In dem Sinne heißt Partnering richtig verstanden
nicht entweder Sicherheit oder Ausbildung jeweils für
sich allein, sondern es bedeutet, dass beides einander bedingt und Teil eines Konzeptes sein soll und muss. Diese
Neuerung ist allerdings noch nicht überallhin durchgedrungen. Es ist wichtig, dass wir offen darüber diskutieren.
Afghanistan ist nur einer von gegenwärtig zehn Auslandseinsätzen. Auch darauf darf man immer wieder hinweisen. Die Bundeswehr ist heute ganz ohne Zweifel
eine Armee im Einsatz. Wir haben heute schon einmal
an dieser Stelle darüber gestritten, was das heißt. Ist das
etwas, was Routine werden darf? Mit Sicherheit nein.
Das soll und darf es nicht. Ist es aber Realität? Ja, und
dieser Realität haben wir uns zu stellen. Dafür haben wir
unsere Verpflichtungen zu erfüllen.
Wir stehen diesbezüglich auch zu unserer Verantwortung, aber wir wollen keine Weltpolizei sein. Das könnten wir auch nicht, weil es ebenso anmaßend wie utopisch wäre.
Es bleibt sicherlich auch ein grundlegendes Dilemma
- diesen Ansatz sollten wir vielleicht noch etwas stärker
diskutieren -, dass wir, die Maßstäbe unseres Engagements in Afghanistan zugrunde gelegt, uns leider nicht
in allen nahezu vergleichbaren Regionen dieser Erde engagieren können. Das ist manchmal auch eine Gratwanderung hin zum Zynismus. Diese Diskussion gilt es zu
führen.
Wir haben in diesem Hohen Haus oft von der Notwendigkeit einer sehr breiten sicherheitspolitischen Debatte gesprochen und bisweilen beklagt, dass punktuelle
Ereignisse zu überzogenen Reaktionen geführt haben
mögen. Heute und im Zuge dieser Debatte bietet sich die
Chance zu einer vertieften Diskussion.
Unsere Erfahrungen aus den internationalen Einsätzen zeigen: Die Bundeswehr ist grundsätzlich leistungsfähig, jeder einzelne Soldat sicherlich auch. Von unseren
rund 250 000 Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig rund 7 000 in den derzeit laufenden Einsätzen gebunden, darunter auch etwa 500 Reservisten. Hinzu
kommen weitere 1 800 Soldaten, die wir für den kurzfristigen Einsatz im Rahmen der NRF und der EUBattle-Groups bereithalten. Diese Verpflichtungen stehen im Hinblick auf Vorbereitung und Ausbildung einem
Einsatz in nichts nach.
Im internationalen Vergleich fällt dieser Anteil eher
bescheiden aus. Auch daran darf man gelegentlich erinnern. Ihn zu vergrößern, heißt freilich nicht, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee zu machen. Die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr muss aber immer
wieder aufs Neue bekräftigt und sichergestellt werden.
Auch das ist unser Auftrag.
Aus dem, was wir heute „Denken vom Einsatz her“
nennen, gilt es dann auch die richtigen Konsequenzen zu
ziehen: für die Strukturen, die Fähigkeiten und am Ende
auch für die konzeptionellen Grundlagen. Das ist eines
der strategischen Ziele, an denen die Bundeswehr und sicherlich auch die Bundesregierung sich werden messen
lassen müssen.
Mit den bisherigen Strukturen - das ist mein klarer
Befund - werden wir die Leistungsfähigkeit unserer
Bundeswehr auf Dauer schwerlich sicherstellen können.
Die Frauen und Männer unserer Bundeswehr können die
vorhandenen Schwächen zwar kompensieren, aber sie
sollten es nicht müssen. Das erfährt man immer wieder
in besonderer Weise aus den Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten und aus ihren Rückmeldungen.
Deshalb müssen wir uns fragen: Haben wir die richtigen Schlüsse aus diesen Entwicklungen gezogen? Wissen wir, worauf wir uns einstellen müssen? Sind wir auf
die schon genannten Herausforderungen richtig und umfassend vorbereitet?
Wir brauchen Strukturen, Prozesse und Verfahren, die
dem Ja zum Einsatz, dem Kontinuum des Einsatzes
Rechnung tragen: von der Krisenfrüherkennung über die
Planung, Mandatierung und Vorbereitung sowie die Führung und Durchführung bis hin zur - was gelegentlich
unterschätzt wird - Nachbereitung eines Einsatzes. Auch
das wird in Afghanistan sicherlich noch eine gewichtige
Rolle spielen müssen. Wir stehen diesbezüglich vor erheblichen Aufgaben.
Ich habe deshalb mein Haus beauftragt, in einer schonungslosen Analyse auch die bestehenden Defizite zu
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
benennen und Vorschläge zu erarbeiten. Dabei wird es
keine Tabus geben dürfen.
({0})
Ich will in diesem Kontext letztlich nichts Geringeres,
als dass die Bundeswehr für eine stets erneuerte Kultur
der Offenheit und des Vertrauens steht. Wir brauchen
auch unkonventionelle Lösungen. Deshalb wird sich unmittelbar nach Vorliegen der Analyse eine Kommission
mit den Defiziten befassen, eine Kommission, die politische, militärische, administrative, wirtschaftliche und
rechtliche Expertise in sich vereinen wird.
({1})
Ihr Kernauftrag wird darin bestehen, zügig Vorschläge
zu einer effizienten und einsatzorientierten Spitzenstruktur des Bundesministeriums der Verteidigung und
der Bundeswehr zu erarbeiten. Zur Überprüfung der
Strukturen durch die Kommission wird auch gehören,
sich Gedanken über die Rolle, die Funktion und auch
die Kompetenzen herausgehobener Spitzenpositionen zu
machen. Dazu gehört nicht nur der militärische, sondern
gerade auch der zivile Bereich. Der Einsatz ist Richtschnur, wenn wir dann Kompetenzen ressourcensparend
zusammenfassen, überlappende Zuständigkeiten beseitigen und unnötige Redundanzen abbauen wollen.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1955 hat sich die Bundeswehr oft solchen Anpassungsprozessen stellen müssen. Dieser Transformationsprozess, der begonnen hat,
wird uns sehr fordern. Die bestehenden Strukturen sollen
Gegenstand der Betrachtung und nicht Grundlage sein.
Dabei wird auch das ambitionierte Ziel der Verkürzung
des Grundwehrdienstes auf sechs Monate eine gewichtige Rolle spielen. Wir müssen es schaffen, dass ein Gefühl der Gerechtigkeit des Dienens entsteht und herrscht
und dass jeder einzelne Grundwehrdienstleistende das
Gefühl hat, gebraucht zu werden. Das muss weiterhin
der Maßstab sein, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen.
({2})
Ich sehe der Debatte darüber und den Ergebnissen dieser
Debatte mit einer gewissen Spannung entgegen, insbesondere weil ich alle Fraktionen des Bundestages an dieser Debatte beteiligen will. Ich bin sehr gespannt, welche
Vorschläge gemacht werden.
Die Bundeswehr muss ein attraktiver Arbeitsplatz
bleiben. Das hängt auch davon ab, inwieweit wir die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst ermöglichen,
Handlungsfelder identifizieren und entsprechend handeln. Das reicht von Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis
hin zu einem flexibleren Laufbahnrecht. Das sind ehrgeizige und schwierig zu erreichende Ziele. Aber sie
sind richtig und wichtig.
({3})
Ich darf mit Blick auf unseren Haushalt einen anderen
Punkt nennen, der mir wichtig ist. Einsatzfähigkeit heißt
auch, über modernes und leistungsfähiges Gerät zu verfügen. Wir sind hier noch lange nicht am Ziel und haben
einen teilweise harten und steinigen Weg zu gehen. Die
Einführung einiger Systeme wird nur mit einem enormen Kraftakt möglich sein. In vielen Bereichen haben
wir noch Defizite zu verzeichnen. Die Gründe sind vielseitig; das ist bekannt. Ich hoffe und baue hier auf große
Gemeinsamkeit und einen klaren Austausch über die
Dinge. Nicht alles, was man vorfindet, ist erfreulich,
zum Beispiel wenn Vertragsstrukturen offenbar nicht die
Geltungskraft entfalten, die sie sollten. Hier ist das Miteinander von Regierung und Parlament von größter Bedeutung.
Insgesamt geht es um nichts Geringeres als um die
Zukunft der Bundeswehr; das wurde wahrscheinlich
schon oft gesagt. Es geht damit auch um unsere Zukunft
und darum, dass unsere Kinder in Zukunft weiterhin in
Frieden und Freiheit leben können.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit den Korrekturen des Bundesverteidigungsministers beginnen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich will den Minister nicht korrigieren, sondern
möchte darauf hinweisen, dass er sich selbst immer wieder korrigiert, und zwar ein bisschen oft, wie ich finde.
Das ist nicht ehrenrührig, aber gewiss nicht optimal für
die Bundeswehr und unser Land.
({0})
Als Kurt Beck vor zwei Jahren davon sprach, dass
man versuchen müsse, mit moderaten Taliban zu verhandeln, gab es Hohn und Spott, auch vom heutigen Verteidigungsminister.
({1})
Inzwischen fordert er selber das. Willkommen in der
Wirklichkeit! Er sprach von kriegsähnlichen Zuständen
in Afghanistan und hat den Eindruck erweckt - das
wurde öffentlich so kommuniziert -: Da ist Krieg. Diesem Eindruck ist er - zu Recht - sofort wieder entgegengetreten. Natürlich handelt es sich nicht um Krieg. Wir
haben noch nicht die richtige Begrifflichkeit dafür. Die
Initiative, dass das Kabinett klären soll, worum es sich
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
handelt, hat offenbar noch nicht zu einem Ergebnis geführt.
Als es um den Luftschlag bei Kunduz ging, hieß es
vonseiten des neuen Ministers erst, dieser Luftschlag
hätte unter allen Umständen erfolgen müssen. Vier Wochen später hieß es: Das war nicht angemessen. - Herr
Guttenberg, Sie sagten, Sie seien an Aufklärung interessiert. Das sind wir auch. Aber Sie sind es doch, der
auf allen Akten und Informationen sitzt und keinen Bericht darüber abgibt, was tatsächlich geschehen ist. Die
Regierung ist im Vorteil und kann sagen, was in ihrem
Verantwortungsbereich geschehen ist. Sie müssen nicht
auf einen Untersuchungsausschuss verweisen, der in
anderthalb oder zwei Jahren einen Abschlussbericht vorlegt und Ihnen erzählt, was in Ihrem Haus und in der
Bundeswehr, für die Sie Verantwortung tragen, vorgegangen ist.
({2})
Die Bundeskanzlerin hat am 8. September 2009 lückenlose Aufklärung versprochen. Auch das Wort „schonungslos“, das Sie eben verwendet haben, fiel in diesem
Zusammenhang. Geschehen ist aufseiten der Bundesregierung bis heute nichts. Sie schieben das Thema vor
sich her und hoffen, dass es sich durch Zeitablauf erledigt.
({3})
Wenn ich an die nächsten Monate und den Untersuchungsausschuss denke, dann glaube ich, Sie werden
sich noch zwei weitere Male korrigieren müssen. Erstens. Sie sagen, dass Sie den geheimen NATO-Bericht
vor Ihrer Pressekonferenz am 6. November 2009 zu dem
Luftschlag selbst gelesen haben. Dann mussten Sie aber
wissen, dass dieser Bericht zu dem Schluss kommt, die
Bombardierung habe nicht im Einklang mit der Weisungslage und Absicht der NATO in Afghanistan gestanden. Entweder wussten Sie das und haben die Öffentlichkeit falsch unterrichtet, oder Sie haben den Bericht
gar nicht gelesen. Es ist Zeit für Korrekturen.
({4})
Zweitens. Sie haben die Schuld für Ihre Fehleinschätzung und die Falschinformation der Öffentlichkeit dem
Generalinspekteur Schneiderhan und dem Staatssekretär
Wichert gegeben. Das war nicht besonders honorig von
Ihnen. Das war ein Abschieben der Verantwortlichkeit,
und das werden Sie hoffentlich auch bald korrigieren.
Ich weiß nicht, ob es auch aus Ihrer Sicht Korrekturbedarf beim Haushalt gibt. Dass der Verteidigungsetat
real und nominal schrumpft, statt wenigstens die jährlichen Kostensteigerungen auszugleichen, hätte die Bundeswehr von Ihnen nicht erwartet. Da werden Steuergeschenke an Hoteliers und Firmenerben per Eilgesetz
durchgepaukt, und die Neuverschuldung treibt in ungeahnte Höhen, aber die Bundeswehr muss Geld abgeben.
Das ist die Schwerpunktsetzung Ihrer Koalition. Das
halten wir für falsch.
({5})
Es gibt vier Punkte, in denen wir im Interesse unseres
Landes mit der Regierung übereinstimmen.
Wir Sozialdemokraten wollen den Erfolg in Afghanistan. Das heißt: mehr für den zivilen Aufbau und mehr
für die Armee- und Polizeiausbildung tun. Gehen Sie in
diese Richtung, und wir gehen mit! Wir haben Verantwortung übernommen, und wir bleiben dabei: Wir müssen das, was wir mit vielen Nationen gemeinsam begonnen haben, gemeinsam anständig zu Ende bringen.
Wir Sozialdemokraten halten an der Wehrpflicht fest
und freuen uns, dass Sie es auch tun. Aber wir wissen,
dass eine Ausmusterungsquote von beinahe 50 Prozent
absurd ist. Deshalb wollen wir eine Reform, die neue
Chancen der Freiwilligkeit mit den Grundlagen unserer
Wehrpflicht verbindet. Das ist intelligenter als die
schlichte Verkürzung auf sechs Monate. Lassen Sie uns
noch einmal - Sie haben das angeboten - über unser sozialdemokratisches Modell diskutieren.
({6})
Wir wollen, dass der Dienst in unseren Streitkräften
attraktiver wird. Das beginnt bei der Kasernenqualität
sowie bei Besoldung und Zuschlägen, und es endet noch
nicht bei der Familienfreundlichkeit, der Planbarkeit der
Laufbahn und modernerer Ausrüstung. Da gibt es viel zu
tun. Lassen Sie uns die Gemeinsamkeiten suchen.
Wir Sozialdemokraten haben Vorschläge für die Weiterentwicklung der Bundeswehrstruktur gemacht, und
zwar über das Ziel der Transformation 2010 hinaus. Die
Bundeswehr braucht mehr infanteristische Kräfte, mehr
Redundanz und Reserven in der Truppe - nicht nur wegen der Auslandseinsätze - und eine schlankere Führungsstruktur. Verzichten können wir auf die amerikanischen Atombomben in Deutschland und das TornadoGeschwader zur nuklearen Teilhabe.
({7})
Gleichzeitig gehören uralte Standortentscheidungen
vielleicht noch einmal auf den Prüfstand. 1991 wurde
der Umzug des Marinefliegergeschwaders 5 von Kiel
nach Nordholz beschlossen. Jetzt schreiben wir das
Jahr 2010, und das Geschwader ist nach 19 Jahren immer noch in Kiel, aber soll immer noch umziehen. Man
weiß manchmal gar nicht, wem man zurufen soll: Nehmen Sie Vernunft an! - Staatssekretäre dürfen ja nichts
annehmen, und im Moment haben wir ja auch keinen.
Wir Sozialdemokraten werden die anstehenden notwendigen Reformen konstruktiv begleiten. Wenn Sie für
Ihre drei angekündigten Reformkommissionen zur
Wehrpflicht, zur Attraktivität und zur Struktur noch eine
zentrale steuernde Superkommission brauchen, dann
nehmen Sie - Stichwort: Parlamentsarmee - den Verteidigungsausschuss. Da werden wir das diskutieren.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute in erster Lesung den Verteidigungsetat
diskutieren, dann wünsche ich mir eigentlich, dass wir
uns alle mehr um das Herausstellen der Gemeinsamkeiten bemühen.
({0})
Eben - Kollege Bartels, das muss ich leider sagen - war
mir das zu viel Kraut und Rüben. Vielleicht können die
nachfolgenden Redner der Sozialdemokraten das zurechtrücken.
Ich denke, an die erste Stelle gehört bei einer solchen
Debatte, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten im
Ausland genauso wie denen hier in Deutschland unseren
Dank aussprechen. Ich möchte stellvertretend den Soldaten danken, die oben auf der Tribüne sitzen, und sie
herzlich im Deutschen Bundestag willkommen heißen.
({1})
Wenn wir diesen Etat diskutieren, dann geht es doch
um die angemessene Finanzausstattung der Bundeswehr - da kann jeder seine Schwerpunkte setzen; darüber können wir diskutieren -; denn die Bundeswehr ist das sollten wir gerade bei einer solchen Debatte herausstreichen - unsere Armee, sie ist eine Parlamentsarmee.
Wir sollten uns alle zusammen daher in erster Linie, ob
wir im Verteidigungsausschuss oder im Haushaltsausschuss sind, aufgefordert fühlen, uns um den Zustand der
Bundeswehr zu kümmern, welche Aufgaben wir auch
immer sonst in diesem Parlament haben.
Wenn ich mir den Etat ansehe, dann weiß ich genau,
dass sich vieles um die Auslandseinsätze dreht. Der Minister hat es angesprochen; der Haushalt spiegelt das wider. Ich will an dieser Stelle im Rahmen der Haushaltsberatungen gerade für die FDP sagen: Wir werden alles
tun, damit unsere Soldaten, die im Ausland sind, das Gefühl haben, dass der Bundestag zu ihnen steht, nachdem
der Beschluss zum Einsatz mit Mehrheit gefasst wurde,
und sie das beste Material bekommen, das zur Verfügung steht. Dieses Gefühl müssen sie haben; sonst können sie ihren Dienst nicht tun.
({2})
Sie müssen sich auf uns verlassen können.
Herr Minister, Sie haben Gott sei Dank die Einschränkung gemacht, es gebe Nachsteuerungsbedarf. Den gibt
es wirklich in vielen Bereichen. Ich finde, dass manches
- dabei bleibe ich; das habe ich in der Opposition gesagt,
und das sage ich auch jetzt - viel zu schleppend läuft, bis
die Soldaten das beste Material bekommen. Ich bitte das
Ministerium, etwas zügiger zu verfahren und nicht zu
bürokratisch vorzugehen, damit die Soldaten nicht zu
lange auf das warten müssen, was für sie notwendig ist.
Wir sollten vor allem an die Soldaten denken - darauf
sollten wir zukünftig einen noch stärkeren Schwerpunkt
legen -, die zurückkommen und in Afghanistan traumatische Erlebnisse hatten. Wir müssen die Betreuung verstärken. Das sind wir diesen Soldaten schuldig. Dazu
sind wir verpflichtet. Dazu gehört auch - darum werden
wir uns bei den Haushaltsberatungen kümmern -, dass
ihre Familien, wenn sie wollen, in diese Betreuung eingeschlossen werden. Das halte ich für dringend erforderlich. Das geschah in der Vergangenheit zu wenig.
({3})
Wir sollten bei all den Auslandseinsätzen nicht unsere
Soldaten vergessen, die hier im Lande ihren Dienst tun.
Wenn ich den Beruf des Soldaten attraktiv machen will,
dann muss endlich Schluss mit maroder Infrastruktur
und mangelnden Beförderungschancen sein. Es muss
Schluss damit sein, dass alles oft schwerfällig läuft und
dass Dienst und Familie oft genug nicht zusammengeführt werden. Wir müssen viel mehr tun. Wir werden nur
gute Leute für unsere Bundeswehr bekommen können
- das ist meine Auffassung und die Auffassung der
Freien Demokraten -, wenn wir den Dienst in der Bundeswehr attraktiv machen. Das reicht bis hin zur Besoldung. Ich weiß, wie schwer das ist. Auch ich weiß, wie
es in der Haushaltskasse aussieht. Wir werden aber über
alles reden müssen.
Sie haben erfreulicherweise die neuen Organisationsstrukturen angesprochen. Ich füge hinzu: Straffung der
Verwaltungsstruktur. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Viel
Geld kostet leider auch, dass wir bei der Bundeswehr
immer noch die unglaublich große Planwirtschaft haben.
Das kostet uns sehr viel Geld. Hier könnten wir erhebliche Mittel sparen.
({4})
Wir brauchen - davon sind wir überzeugt - eine leistungsfähige nationale Wehrtechnik. Aber bei den geringen Stückzahlen, die wir oft bestellen, ist die internationale Zusammenarbeit mit unseren Partnern, vor allem in
Europa, notwendig. Ich hoffe, dass es, wenn wir Aufträge vergeben, zu einer Zusammenarbeit in Europa
kommt. Bei der Gelegenheit will ich etwas sagen, weil
wir alle manchmal Briefe bekommen, die auf die Bestellung von Flugzeugen und Schiffen Bezug nehmen. Ich
will hier in aller Deutlichkeit zum Verteidigungsetat sagen - auch ich bin ein Freund der Marine, des Schiffbaus
und der Werften -:
({5})
Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für die Lösung von strukturpolitischen Problemen zuständig. Aufträge kann er nur vergeben, weil es für die Bundeswehr
notwendig ist, ein bestimmtes Material zu bekommen.
({6})
Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für Werftenhilfe und auch nicht für Luft- und Raumfahrt zuständig;
das sind andere Häuser.
Wir Freien Demokraten werden das verwirklichen,
was wir in allen früheren Debatten gesagt haben: Wir
werden die großen Projekte auf den Prüfstand stellen.
Ich sage Ihnen: Es ist dringend erforderlich, MEADS zu
überprüfen. Wir Freien Demokraten haben dieses Projekt immer kritisch gesehen. Ich sage Ihnen auch: Das
Projekt „Herkules“, wie es sich im Augenblick darstellt
- inzwischen sind wir da bei fast 7 Milliarden Euro -, ist
so nicht mehr zu akzeptieren. Da muss wirklich mit dem
Besen durchgegangen werden.
({7})
Das ist Geld des Steuerzahlers, Herr Minister, und wir
achten sehr auf dieses Geld; denn die Bundeswehr
braucht es dringend für ihre Einsätze.
Herr Minister, Sie haben angeboten, mit dem Parlament über den Airbus A400M zu sprechen. Ein solches
Gespräch können Sie sehr schnell bekommen. Das Parlament hat die Beschaffung des A400M beschlossen.
Wir als FDP haben, was die Stückzahl angeht, Kritik geübt. Wir wissen, dass wir ein Transportflugzeug brauchen. Wir akzeptieren aber nicht, dass EADS uns in der
Öffentlichkeit droht und sagt, welchen Preis wir zu zahlen hätten. Es ist ein Vertrag geschlossen worden. EADS
ist vertragsbrüchig geworden. Man könnte es auch so
formulieren: Der Vertrag ist ausgelaufen. Wir sind auf
der besseren Seite. Drohungen von EADS beeindrucken
mich überhaupt nicht.
({8})
Wir haben das Geld der Steuerzahler sparsam einzusetzen. Diese Verträge müssen eingehalten werden. Mehr
Geld gibt es nicht. Suchen Sie das Gespräch mit dem
Parlament! Das Parlament hat diese Entscheidung getroffen, und das Parlament wird Änderungen beschließen, sofern es nicht die Entscheidung trifft, dieses Projekt zu beenden.
Meine letzte Bemerkung gilt dem, was in Afghanistan
geschehen ist; dazu hat der Kollege Bartels vorhin viel
gesagt. Ich verweise auf den Rückhalt durch dieses Parlament, den unsere Soldaten brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr einfach, hier in Berlin vor
laufenden Kameras Urteile abzugeben. Lassen Sie uns
diesen Untersuchungsausschuss durchführen, und lassen Sie uns in Ruhe untersuchen. Denken Sie aber immer daran, dass in Afghanistan Soldaten sind, die
manchmal in kürzester Zeit Entscheidungen treffen müssen. Ich weiß nicht, ob mancher von uns unbedingt mit
diesen Soldaten tauschen möchte.
({9})
Herr Koppelin, kommen Sie bitte zum Ende.
Wahren Sie auch das Gesicht unserer Soldaten!
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({0})
Als Nächster hat Paul Schäfer das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat, wer über den Verteidigungshaushalt redet, muss
über die Auslandseinsätze der Bundeswehr reden. Insgesamt haben diese Einsätze von 2002 bis heute circa
10 Milliarden Euro gekostet; das ist kein Pappenstiel.
Außerdem ist der Etat mehr und mehr auf diese Einsätze
zugeschnitten. Durch diese Einsätze zeigen sich am eindringlichsten die Folgen der hier beschlossenen Politik.
Das heißt, natürlich muss über Afghanistan gesprochen
werden.
Die Schlüsselfrage des Jahres 2010 lautet für uns eindeutig: Wird die Bundeswehr in diesem Jahr aus Afghanistan abgezogen, oder werden noch mehr Soldatinnen
und Soldaten an den Hindukusch geschickt?
({0})
Die Bombennacht von Kunduz hat vielen endgültig die
Augen geöffnet. Der Minister hat gesagt, dass wir eine
klare Sprache brauchen: Dort sind über 100 Menschen
gezielt getötet worden. Der verantwortliche Offizier hat
sogar von „vernichten“ gesprochen. Dieses Ereignis hat
gezeigt: Dort wird Krieg geführt, und dort sind wir in einer Gewaltspirale, aus der wir so schnell wie möglich
herausmüssen.
({1})
Bischöfin Käßmann hat gewiss recht, wenn sie sagt,
dass es darum geht, nicht vor der Logik des Krieges zu
kapitulieren, und dass das klare Zeugnis gegen Gewalt
und Krieg nach Mut und Fantasie verlangt, wie Konflikte anders als gewaltförmig gelöst werden können.
Das ist die Aufgabe, die ansteht. Es reicht jetzt nicht, zu
sagen: Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. Was nun wirklich nicht geht, ist, dass jetzt alle über Abzugsperspektiven sprechen, hier aber dann das Gegenteil
beschlossen oder befürwortet wird.
Wir werden nach der Konferenz in London erleben,
dass die Bundeswehr bei der Aufstockung der Truppen
- dieser Prozess läuft woanders schon - nachzieht. Nein,
wir sagen: Abzug heißt Abzug! Und wir fordern: Abzug
noch in diesem Jahr!
({2})
Zugleich muss in diesem Zeitrahmen ein innerafghanischer Aussöhnungsprozess befördert werden, um
schnellstmöglich zu einem Waffenstillstand zu kommen,
Paul Schäfer ({3})
der ja erst die Bedingungen für den zivilen Wiederaufbau schafft.
Meine Damen und Herren, es geht nicht allein um einen Abzug aus Afghanistan. Leider ist der ganze Rüstungsetat von der Idee durchdrungen, die Bundeswehr
für weitere Einsätze dieser Art fit zu machen. Deshalb
muss auch darüber gestritten werden, ob wir Streitkräfte
für globale militärische Interventionen vorhalten wollen oder nicht. Die Haltung der Linken ist eindeutig: Wir
wollen es nicht.
({4})
Wir haben die Umgestaltung der Bundeswehr zu einer
Armee im Einsatz immer abgelehnt und bleiben dabei.
Wenn man dem folgte, ließen sich viele Milliarden Euro
einsparen und für sozial nützlichere Dinge aufwenden.
Wenden wir uns jetzt einmal dem vorliegenden Haushaltsentwurf konkret zu. Es fällt auf, dass der Etat
scheinbar stagniert. Aber mein Mitleid mit dem Herrn
Minister hält sich an der Stelle in engen Grenzen.
({5})
Ich glaube, auch die Sammelbüchse kann im Schrank
bleiben. Erstens hatten wir in den letzten Jahren kräftige
Zuwächse; seit 2006 wurde der Rüstungsetat um mehr
als 3 Milliarden Euro erhöht. Zweitens liegt der Gesamtetat jetzt bei über 31 Milliarden Euro. Man hätte sich zu
Beginn der letzten Legislaturperiode überhaupt nicht
vorstellen können, dass man über die Schallmauer von
30 Milliarden Euro springt. Drittens sei nur am Rande
erwähnt: Selbst am Konjunkturpaket II durfte der Minister der Verteidigung mitnaschen. Einerseits wurden
250 Millionen Euro für die Sanierung von Liegenschaften bereitgestellt - das ist in Ordnung -, andererseits
aber auch 220 Millionen Euro für Beschaffungsprojekte.
Das war zwar eine schöne Finanzspritze für die Rüstungskonzerne, aber volkswirtschaftlich war das eine
Fehlzündung. Rüstung gehört zu den Wirtschaftsbereichen, die nur eine geringe Sogwirkung entfalten.
({6})
Mit anderen Worten: Für dasselbe Geld hätte man produktivere und nachhaltigere Arbeitsplätze schaffen können, und dann hätte man Produkte, die keine Werte zerstören, sondern aufbauen. Deshalb sind wir dagegen.
({7})
Die Ausgaben für die Bundeswehr bleiben mit einem
Gesamtvolumen von über 31 Milliarden Euro - nach
NATO-Kriterien sind es 34 Milliarden Euro - auf beträchtlicher Höhe. Das ist immerhin ein Anteil von circa
10 Prozent des Gesamthaushaltes. Diese Aufblähung des
Wehretats ist die unabweisbare Folge des Umbaus der
Bundeswehr zu einer global einsetzbaren Interventionsarmee. Herr Minister, es tut mir leid, aber das, was dort
stattfindet, kann man als nichts anderes denn als militärische Interventionen bezeichnen.
Die Alternative der Linken an dieser Stelle ist klar:
Wir möchten, dass die Bundesrepublik zu einer zivil geprägten Außen- und Sicherheitspolitik zurückkehrt. Wir
brauchen statt der Fixierung auf althergebrachte Militärallianzen wie die NATO eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, die alle Länder des Kontinents umfasst, die auf Vertrauensbildung, umfassender
Kooperation und Abrüstung beruht. Gerade hier sind
neue Anstrengungen überfällig, und zwar nicht nur in
Russland oder in China. Dass Sie für Abrüstung in diesen Ländern sind, ist klar. Nein, hier spielt die Musik.
Hier müssen wir mit der Abrüstung beginnen.
({8})
Zurück zum Verteidigungshaushalt. Mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit hat das, was uns hier
präsentiert wird, wenig bis gar nichts zu tun. Da gibt es
die globale Minderausgabe von 250 Millionen Euro.
Aber Sie verraten uns natürlich nicht, wo Sie kürzen
wollen. Eine Aussage dazu, wen es treffen wird, wird
tunlichst vermieden.
Dann gibt es die Etatansätze für die Auslandseinsätze. Offiziell veranschlagt sind 640 Millionen Euro.
Herr Koppelin, Sie kennen sich ja aus: Addieren Sie einmal die Beträge, die dieses Haus in seinen Mandaten für
Bundeswehreinsätze verabschiedet hat. Es ist interessant, welche Summe sich ergibt. Da kommt man nämlich
auf 980 Millionen Euro. Das heißt, hier gibt es eine riesige Diskrepanz. Deshalb sage ich: Hier wird vertuscht;
hier wird die Öffentlichkeit bewusst über die wahren
Kosten der militärischen Interventionspolitik getäuscht.
Diese Vertuschung machen wir nicht mit. Wir fordern
Sie daher auf: Legen Sie endlich konkret vor, was die
Auslandseinsätze kosten, und stellen Sie endlich realistische Zahlen in den Haushalt ein, damit die Öffentlichkeit weiß, woran sie ist.
({9})
Bei näherem Hinsehen wird auch schnell klar, dass es
bei den Rüstungsausgaben nicht bei dem derzeitigen
Stillstand bleiben wird. Das Rad der militärischen Beschaffung dreht sich weiter; in der jüngsten Vergangenheit hat es sich schon erheblich gedreht. Wir hatten zu
Beginn der letzten Legislaturperiode 6 Milliarden Euro
an investiven Ausgaben, jetzt sind wir bei 8 Milliarden
Euro. Das ist ein bemerkenswerter Zuwachs, ein sattes
Plus von fast 2 Milliarden Euro. Welcher Titel im Haushalt ist in dieser Weise aufgepeppt worden? Das wüsste
ich gerne.
Wir werden bei einigen Großprojekten von durchaus
zweifelhaftem Rang in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Zuwächse haben. Über diese Belastung haben
Sie überhaupt nicht gesprochen. Ich meine beispielsweise den Schützenpanzer Puma. Ich meine die neue
Generation der Kampfhubschrauber, neue Raketenabwehrsysteme oder die Fregatte 125 - Kostenpunkt:
knapp 3 Milliarden Euro, Verwendungszweck: Unterstützung von Militäreinsätzen rund um den Globus.
Also: Landesverteidigung ade, große Weltpolitik ahoi!
Das ist mit uns nicht zu machen.
({10})
Paul Schäfer ({11})
Dann haben wir noch den A400M. 9,2 Milliarden
Euro soll das Langstrecken-Transportflugzeug kosten,
mit dem die Bundeswehr Kriegsgerät in Einsatzgebiete
bringen will. Inzwischen ist klar, dass die Industrie den
Leistungsvertrag nicht einhalten kann und der Flieger
viel mehr kosten wird. Es ist die immer gleiche Story,
die wir erleben: Das Militär hat bestimmte Wünsche.
Die Rüstungswirtschaft will satte Gewinne machen. Die
Regierung will diese Interessen bedienen und bringt das
Parlament dazu, solche Projekte schnellstmöglich durchzuwinken; wir haben das am Ende der letzten Legislaturperiode erlebt. Dann geht die Sache erst richtig los: Die
Preise steigen und steigen. Die Industrie stellt Nachforderungen. Nachbesserungen sind erforderlich; der Zeitplan verschiebt sich. - Es ist immer dieselbe Story.
Aber selbst Beschaffungsvorhaben, die technisch und
finanziell völlig aus dem Ruder laufen wie im Falle des
A400M, werden von der Industrie dank ihrer Monopolstellung mit aller Macht durchgedrückt.
Mir ist überhaupt rätselhaft, wie man auf die Größenordnung von 60 Maschinen kommt. Das haben mir
selbst Befürworter dieses Projekts, die sich dafür aussprechen, dass die Transall ersetzt wird, noch nicht klarmachen können. Die Zeche, die jetzt bezahlt wird, ist außerordentlich hoch. Es sind bereits Nachforderungen in
Höhe von 5 Milliarden Euro erhoben worden. Ich kann
nur hoffen, dass Sie diesen Erpressungsversuchen der
Rüstungsindustrie widerstehen. Wir fordern Sie auf:
Stoppen Sie diesen Unsinn, und steigen Sie aus diesem
Beschaffungsvorhaben aus!
({12})
Meine Damen und Herren, wir können zusammenfassen: Sie machen mit diesem Haushalt Rekordschulden.
Deshalb wollen Sie ab dem nächsten Jahr kräftig sparen.
Was das für den Etat des Ministers der Verteidigung bedeuten wird, ist zwar keine geheime Verschlusssache,
aber rätselhaft ist es dennoch. Die Erfahrung besagt, dass
die Beschaffungstitel tabu sind. Im Gegenteil, sie werden noch steigen. Auch die Ausgaben für die Auslandseinsätze werden wahrscheinlich eher steigen. Möglicherweise besteht eine Kürzungsoption bei den Personalausgaben. Die Soldatinnen und Soldaten sind das
schwächste Glied in der Kette, ebenso die zivilen Angestellten. Hier ist interessant, dass deren Tarifvertrag
Ende dieses Jahres ausläuft. Es interessiert uns brennend, was daraus wird und ob für die Menschen schlechtere Bedingungen ausgehandelt werden, weil man sparen
muss.
Wir haben da andere Vorstellungen: Wir wollen, dass
nicht bei den Menschen gespart wird, sondern bei den
großen Waffensystemen. Wir wollen, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht ständig ausgeweitet, sondern zurückgenommen werden.
({13})
Damit könnte man zumindest einen Teil der Investitionen in die Zukunft finanzieren, die vordringlich sind: die
Erneuerung des Sozialstaats, den ökologischen Umbau
unserer Wirtschaft, die Bekämpfung von Armut und globaler Unterentwicklung weltweit. Haiti ist doch ein erschütterndes Beispiel dafür, wo etwas getan werden
muss, wo international geholfen werden muss.
Es gibt einige alte Slogans, die gerne verwendet werden. Sie wirken zwar unter Umständen etwas abgegriffen und angestaubt; das gebe ich zu. Manchmal aber sind
solche Slogans, weil die Politik an der Stelle so kontinuierlich und konservativ ist, doch noch brauchbar und
treffen ins Schwarze. Dies gilt auch für einen Slogan,
den ich zum Schluss nennen möchte: Bildung statt Bomben. Bildung statt Bomben, das wäre eine zukunftsorientierte Politik.
Danke.
({14})
Jetzt hat Alexander Bonde das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann es nicht an jedem Redebeitrag erkennen: Wir
diskutieren den Haushaltsplan der Bundesregierung für
das Jahr 2010.
({0})
In Zeiten der Rekordverschuldung gilt es, für jeden Einzelplan eines Ministeriums die Ausgaben genau zu überprüfen und die Frage zu beantworten, ob mit möglichst
geringen Mitteln möglichst viel erreicht wird. Dieser
Aufgabe müssen Sie sich, Herr Minister, der Sie einen
der größten Einzelhaushalte im Bundeshaushalt zu verantworten haben, stellen. Ihr Haushalt macht deutlich,
dass es an vielen Stellen grundsätzliche Strukturfragen
gibt, die wir angehen müssen, um diesen Haushalt wieder verträglich zu gestalten.
Ich verstehe, dass Sie in den ersten Monaten Ihrer
Amtszeit vordringlich mit Selbstverteidigung und Personalfragen beschäftigt waren.
({1})
Ich sage Ihnen ganz offen: Gehen Sie schnell in den Untersuchungsausschuss, und beantworten Sie die Fragen,
die auf dem Tisch liegen! Wenn die Belastung durch den
Untersuchungsausschuss der Grund dafür ist, dass Sie an
die großen Strukturfragen im Moment nur in Form von
Kommissionen heranrobben, dann muss ich Ihnen sagen: Schaffen Sie Klarheit, um sich dieser Fragen annehmen zu können.
({2})
Sie haben heute eine Kommission angekündigt; das
klang gut und sehr tiefgründig. Interessant ist, dass die
Kommission im Ministeriumsspott als Abteilungsleiterkränzchen bezeichnet wird. Ich bin gespannt, was dabei
tatsächlich herauskommt und wie viele Fragen aus dieser
grundsätzlichen Betrachtung ausgeklammert werden.
Ich bin überzeugt, dass es richtig wäre, die Sicherheitspolitik und die Struktur der Bundeswehr endlich grundsätzlich zu diskutieren und angesichts der bestehenden
Einsätze an falsche Strukturen heranzugehen.
Die Realität sieht doch so aus: Die Bundeswehr befindet sich in Stabilisierungseinsätzen unter UN-Mandat.
Aber ein Großteil der Ressourcen an der Heimatfront ist
nach wie vor so ausgelegt, die Rote Armee zurückzuschlagen. Wir leisten uns eine Bundeswehr mit
350 000 Angehörigen, wenn ich die zivilen Mitarbeiter
und die Reservisten zu den 250 000 Militärs hinzurechne, und stoßen bei den Auslands- und Stabilisierungseinsätzen an eine Grenze, wenn wir 6 982 dieser
350 000 Bundeswehrangehörigen einsetzen.
Sie beschaffen auch in diesem Haushalt wieder teure
und schwere Waffensysteme für Konflikte, die wir zum
Glück seit Jahrzehnten nicht mehr erleben. Dies geht natürlich zulasten der Einsatzrealität; denn bei diesen Einsätzen treffen wir nicht auf Gegner, die mit Panzern bewaffnet sind und eine eigene Luftwaffe haben. Es geht
zulasten der Mechanismen der zivilen Konfliktlösung,
von denen wir alle wissen, dass sie nicht ausreichend
entwickelt sind. Es geht zulasten der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler und nicht zuletzt auch zulasten der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, denen mit diesen falschen Strukturen zum Teil unlösbare Aufgaben mit auf
den Weg gegeben werden.
({3})
Ich will mich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich bei all denjenigen bedanken, die trotz dieser falschen Strukturen diese Aufgabe für uns und für unser
Land bewältigen.
({4})
Sie verteidigen diese Strukturen. Ich bin gespannt, ob
Ihre Kommissions-Arie zum Schluss dazu führen wird,
die Bereitschaft zu entwickeln, den Anspruch aufzugeben, die Bundeswehr solle grundsätzlich alles können,
was zu dem Resultat führt, dass sie von allem ein bisschen kann. Das wird immer unter dem schönen Bundeswehrbegriff „Anfangsbefähigung“ versteckt. Was soll
die Bundeswehr können, und welche Aufgaben soll sie
übernehmen? Das ist die zentrale Frage, über die wir
sprechen und diskutieren müssen. Weitere drängende
Fragen sind: Welche real existierenden Konflikte gibt es,
und welche Rolle spielt heute dabei das Militär? Was bedeutet dies für die einzusetzenden Gerätschaften? Wie
kann man sich dabei um die kümmern, die im Rahmen
dieser Einsätze ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren,
seien sie nun Militärs oder wie in vielen Konflikten zivile Mitarbeiter, die wir dringend brauchen? Ich bin
überzeugt, wir wären besser aufgestellt mit einer Bundeswehr mit nur 200 000 Soldatinnen und Soldaten, die
sich aber gut ausgerüstet und ausgebildet auf die von uns
Politikern zu definierenden Aufgaben konzentrieren.
Übrigens machen Sie in der Frage der Wehrpflicht
einen Schritt, der es verhindert, in diese Richtung voranzukommen. Es ist ja eine interessante Situation: Die
FDP hat versprochen, die Wehrpflicht abzuschaffen oder
auszusetzen. Sie sagte, es gebe keine Rechtfertigung, die
Freiheitsrechte junger Menschen, in diesem Fall junger
Männer, zu beschränken. Der Kompromiss dieser Koalition ist: Man verkürzt die Dauer des Wehrdienstes, sodass die Freiheit von noch mehr jungen Männern beschränkt wird. Das ist einer der vielen Widersprüche, die
die FDP nicht auflösen kann.
Ich muss allerdings sagen: Ihr Kompromiss macht
diese Veranstaltung wesentlich teurer. Sie binden noch
mehr Ressourcen für etwas, das für keines der beschriebenen Konfliktszenarien zusätzliches Potenzial birgt.
Die Wehrpflicht bringt nichts bei der Stabilisierung, bei
der Absicherung von humanitären Einsätzen und anderem.
Herr Bonde, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin zulassen?
Aber gerne; ich freue mich. Bei seinem heutigen Beitrag habe ich ihn fast nicht wiedererkannt, verglichen
mit Oppositionszeiten.
Bitte schön.
Dabei helfe ich dir gerne. - Ich möchte eine Frage zur
Wehrpflicht stellen. Es gab hier Kritik an der FDP. Unsere Haltung ist bekannt: Wir sind für die Aussetzung
der Wehrpflicht; der Koalitionspartner wollte das nicht.
Dann hat man diesen Kompromiss gefunden. Ihr von
den Grünen wart auch immer für die Aussetzung der
Wehrpflicht, sogar für die Abschaffung, die Sozialdemokraten aber nicht. Zu welchem Kompromiss seid ihr
denn damals gekommen?
({0})
Herr Kollege Koppelin, ich kenne die Situation,
Kompromisse machen zu müssen. Ich sage Ihnen nur eines: Es macht keinen Sinn, sich hinzustellen und zu sagen, man wolle, dass kein junger Mann einen Eingriff in
seine Freiheit erdulden muss, wenn hierdurch keine sicherheitspolitische Kapazität geschaffen wird. Nachdem
Sie gefordert haben, dass keiner mehr Wehrdienst leisten
muss, kommt nun ein Kompromiss heraus, der dafür
sorgt, dass noch mehr Wehrpflichtige eingezogen werden.
({0})
Sie sind da noch mehr umgefallen als die SPD, die sich
damals bei der Frage, ob die Mehrwertsteuer um 2 oder
0 Prozentpunkte angehoben werden soll, mit der Union
auf einen Aufschlag von 3 Prozentpunkten geeinigt hat.
Herr Koppelin, bei Ihnen ist es jetzt wie damals bei der
Mehrwertsteuer:
({1})
Dieser Kompromiss übertrifft selbst die Forderung des
Koalitionspartners und macht es noch schlechter. Das ist
eine weitere Wahrheit über die Liberalen in der Koalition.
({2})
Es steht eine Grundsatzentscheidung an. Wir sehen
schon heute an Afghanistan, dass die Frage ziviler Fähigkeiten dabei eine Rolle spielen muss. Wir haben
heute wieder viel über Polizisten und Ähnliches gehört.
Am 30. November vergangenen Jahres waren nach Auskunft der Bundesregierung 29 deutsche Polizisten an der
EU-Mission beteiligt; an der nationalen Mission waren
113 Polizisten beteiligt. Spannend wird es, wenn man
nachfragt, wie viele davon wirklich praktische Polizeiausbildung betreiben: Das sind noch 73. Herzlichen
Glückwunsch! Wir sind gespannt, ob Sie in Bezug auf
den deutschen Beitrag mit ähnlich jämmerlichen Zusagen aus London zurückkehren. Sie haben, was die Bedeutung dieser Konferenz angeht, die Hürde hoch gelegt.
Wir werden Sie konkret daran messen, was für den Wiederaufbau, für Mechanismen der zivilen Konfliktbewältigung herauskommt, auch im Hinblick auf die Frage,
wie wir denjenigen, die vor Ort Hilfe leisten, und denjenigen, die vor Ort Unterstützung erhalten, eine konkrete
Perspektive aufzeigen können, die endlich vom militärischen Weiter-so Abstand nimmt.
Ich habe bereits die finanziellen Realitäten und die
Dinosaurierstrukturen dieses Haushalts benannt. Es ist
übrigens spannend, dass der Verteidigungsminister, der
das Amt mit großem ordnungspolitischem Nimbus angetreten hat, zu einer brandaktuellen Frage überhaupt nicht
Stellung bezogen hat. Mich würde schon interessieren,
was der Marktwirtschaftler und Ordnungspolitiker KarlTheodor von und zu Guttenberg eigentlich dazu sagt,
dass die Bundesrepublik einen eindeutigen Vertrag mit
einem Rüstungshersteller geschlossen hat, der seit Wochen massiv erklärt, weshalb Verträge für ihn nicht gelten. Es geht um den A400M. Es ist unbekannt, welche
Zahl, welche Leistung und welcher Preis herauskommen
sollen.
Es ist schon interessant, wie dort agiert wird. Aufgrund der Politik, die seit Jahren im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums, des Einzelplans 14, betrieben wird, ist es aber folgerichtig: Der A400M war
immer umstritten. Es gab Alternativen, die technologisch besser zu beherrschen gewesen wären.
({3})
Diese Alternativen kamen deshalb nicht zum Zug, weil
die EADS dieses Angebot auf den Tisch gelegt hat, weil
sie zugesichert hat, dass es technisch beherrschbar ist,
weil sie zugesagt hat, dass diese Leistungen zum festgelegten Preis erhältlich sind. Wenn das jetzt wieder aufgeschnürt wird, weiß ich nicht, wie die Bundeswehr ein
weiteres Großprojekt steuern können soll, wenn am
Ende immer der den Wettbewerb gewinnt, der am meisten verspricht und zum Schluss die Hand aufhält, um
noch mehr zu kassieren, und dabei weniger liefert.
({4})
Ausdruck der industriepolitischen Ausrichtung dieses
Hauses ist, dass die Themen Arbeitsplätze und Industriepolitik wieder das Faustpfand dafür sind, um das
Geld aus dem Etat des Ministeriums herauszuziehen,
statt es in die Ausrüstung der Bundeswehr zu stecken.
({5})
Ich bin davon überzeugt, dass die Strategie, aus diesem Etat Industrieförderung zu bezahlen und nicht das
zu beschaffen, was die Bundeswehr braucht, nicht nur
den Steuerzahler Geld kostet, dem keine Leistung gegenübersteht, sondern auch Arbeitsplätze und die Innovationsfähigkeit der für uns durchaus wichtigen Luftfahrtindustrie massiv gefährdet. Das ist die Wahrheit
zum Thema Arbeitsplätze, wenn es um die Auseinandersetzung mit EADS geht.
({6})
Ich will Sie darin bestärken, Herr Minister, dass Vertrag Vertrag ist. Ich erwarte, dass die Bundesregierung
eine klare Haltung einnimmt. Es kann nicht darum gehen, mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Beschaffungen für die Bundeswehr fortzusetzen, die
keinem helfen, der für uns in Einsätze geht, die keine Sicherheit schaffen, sondern die dazu dienen, bestimmte
Industriezweige zu subventionieren und künstlich jenseits des Bedarfes zu unterstützen.
Herr Kollege Bonde, achten Sie bitte auf die Zeit.
Das ist eine wichtige Fragestellung, wenn man bedenkt, wie sich die Strukturen Ihres Haushaltes entwickeln. Wir schauen genau hin, ob Sie Ihren ordnungspolitischen und sicherheitspolitischen Ansprüchen gerecht
werden. Auch in dieser Hinsicht hat dieser Einzelplan
noch einen weiten Weg vor sich.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende VerteidigungsErnst-Reinhard Beck ({0})
haushalt ist der erste, den die christlich-liberale Koalition im Deutschen Bundestag vorlegt. Die Botschaft ist
eindeutig: Wir halten Kurs. An der Sicherheit Deutschlands und seiner Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
wird nicht gespart. Die Bundeswehr ist auch nicht der
Finanzsteinbruch des Bundeshaushaltes.
({1})
Mit dem auf dem Vorjahresniveau konsolidierten
Etatansatz können alle wichtigen Zukunftsprojekte bei
Personal, Ausrüstung und Unterbringung realisiert werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise eine Kraftanstrengung, für die ich dem Verteidigungsminister an dieser Stelle ausdrücklich danke.
Als Verteidigungspolitiker kommt es mir ganz besonders darauf an, Leib und Leben unserer Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz optimal zu schützen. Denn
wir Abgeordnete tragen ungeachtet aller Partei- und
Fraktionsgrenzen eine gemeinsame Verantwortung für
die Bundeswehr als Parlamentsarmee. Ich möchte an
dieser Stelle ausdrücklich daran erinnern.
Ich möchte auch daran erinnern, dass hinter all den
nüchternen fiskalischen Daten Menschen stehen, die in
unserem Auftrag und im Namen unseres Landes für Sicherheit und Frieden in der Welt kämpfen. Die Soldatinnen und Soldaten stehen mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit für diesen Auftrag, den wir ihnen erteilt haben,
ein.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen - nicht nur, weil
auf der Tribüne Marinekameraden sitzen -, im Namen
meiner Fraktion unseren Soldatinnen und Soldaten, den
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr ein herzliches Dankeschön zu sagen. Sie erfüllen
ihren Einsatz unter gefährlichen Rahmenbedingungen
und stehen für die Sicherheit Deutschlands ein. Mein besonderer Dank gilt auch den Familienangehörigen, die
den Soldatinnen und Soldaten bei der Aufgabenerfüllung
zur Seite stehen. Es ist sehr wohl klar, welch entscheidenden Anteil diese daran haben. Ich bin auch der Auffassung, dass sie von uns oft nicht in ausreichender
Weise gewürdigt werden.
({2})
Mir ist es unverständlich, dass einige versuchen, diesen Einsatz zu diskreditieren. Natürlich kann Militär allein keinen staatlichen Aufbau gewährleisten - das sagt
eigentlich auch niemand, der seine sieben Sinne beieinander hat -, aber Militär schafft einen notwendigen Sicherheitsschirm, unter dem ziviler Aufbau vorangetrieben werden kann. Im Kosovo - das wird klar, wenn wir
uns die Dinge dort näher anschauen - führte genau dieses Vorgehen zum Erfolg. Darum unterstützen wir die
Bundesregierung und insbesondere den Verteidigungsminister zu Guttenberg in seinen Bemühungen, die afghanische Regierung stärker in die Pflicht zu nehmen
und dem militärischen Mandat eine zeitliche Perspektive
zu geben.
({3})
Ich verstehe diesen Haushaltsansatz im Einzelplan 14
im Sinne der gemeinsamen sicherheitspolitischen Verantwortung. Herr Kollege Bonde, Sie sehen, dass ich
mich an Ihre Vorgabe halte und zum Einzelplan 14 spreche.
({4})
Mit rund 31,4 Milliarden Euro bleibt der Verteidigungsetat gegenüber dem Vorjahr nahezu stabil. Damit ist sichergestellt, dass die wichtigsten Projekte der Transformation und der materiellen Modernisierung fortgeführt
werden können.
Besonders hervorheben möchte ich die Anstrengungen im Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf
oder von Familie und Dienst. Die Bundeswehr steht in
der Mitte der Gesellschaft und darf von familienfördernden Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden.
Dieser Aspekt ist zunehmend wichtig für die Entscheidung junger Menschen bezüglich Familie und Soldatenberuf. Deshalb rege ich an, dass die Verantwortlichen der
Bundeswehr ihre Anstrengungen in diesem Bereich weiter steigern.
Eng mit der Attraktivität von Streitkräften verbunden
ist auch eine gute Sanitätsversorgung. Deshalb muss
die Lage im Einsatz und im klinischen Bereich auf hohem Niveau erhalten werden. Zu diesem Komplex der
Fürsorge gehört auch die Erkennung und Behandlung
von posttraumatischen Belastungsstörungen. Hierbei
geht es nicht nur um die einsatznahe Nachbehandlung,
sondern auch um die Langzeitbehandlung und die Einbeziehung von Angehörigen in die Therapie. Ich bin daher
dankbar, dass CDU/CSU und FDP diese Problematik in
dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig angehen
wollen.
Erfreulich ist, dass die Personalkosten aufgrund des
Abbaus bei zivilen Arbeitnehmern weiter leicht gesunken sind. Umso wichtiger bleibt es, dass die Bundeswehrangehörigen auch aufgabenbezogen bezahlt werden. Die Schere zwischen Dienstposten auf der einen
und Besoldung auf der anderen Seite muss schnellstmöglich geschlossen werden. Ich bin zuversichtlich,
dass der vorliegende Haushaltsentwurf auch in diesem
Bereich die nötigen Spielräume eröffnet.
Ebenso kann die dringend notwendige Renovierung
der Kasernen im Westen unserer Republik fortgesetzt
werden. Als attraktiver Arbeitgeber muss die Bundeswehr über zeitgemäße Infrastruktur verfügen. Das betrifft die Unterbringung ebenso wie den Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln. Bei dieser Gelegenheit
darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass auch die Unterbringung in den Einsatzländern deutlich verbessert werden konnte. Der Standard unserer Feldlager gehört im
internationalen Vergleich, wie ich meine, zur Spitzengruppe.
Die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz und damit die Attraktivität unserer Bundeswehr
hängen entscheidend von der Qualität und der Modernität der Ausrüstung ab. Daher begrüße ich es ausdrücklich, dass trotz der geringen Abstriche im Bereich der in1326
Ernst-Reinhard Beck ({5})
vestiven Ausgaben die Beschaffung der wichtigen
Ausrüstung fortgeführt werden kann.
Das Heer als Hauptträger unserer Einsätze benötigt
weitere geschützte Fahrzeuge. Vertrauen in das eigene
Gerät ist Voraussetzung für die Auftragserfüllung durch
unsere Soldatinnen und Soldaten. Mit dem in diesem
Etat erstmalig veranschlagten Schützenpanzer Puma verfügt das Heer in Zukunft über ein leistungsfähiges und
hochgeschütztes Gefechtsfahrzeug für den Einsatz in allen denkbaren Szenarien.
Eminent wichtig für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ist und bleibt die strategische Lufttransportkapazität. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist
vorhin angesprochen worden: Wir brauchen dringend
das neue Transportflugzeug A400M im Einsatz. Es muss
deshalb im Schulterschluss mit unseren Partnern und der
Industrie ein für alle Seiten gangbarer Weg gefunden
werden, um dieses Projekt weiterzuführen und die entsprechenden Fähigkeiten in absehbarer Zeit zu beschaffen.
Die Marine wird mit der im Zulauf befindlichen
Korvette 130 die maritimen Einsätze zukünftig besser
schultern können. Diese modernen Schiffe werden eine
spürbare Entlastung des Personals im Einsatz zur Folge
haben und damit auch die Attraktivität des Soldatenberufs heben.
Was aber nützen Finanzmittel, wenn die Ausrüstung
nicht zeitgerecht geliefert wird? Hier wurde in der Vergangenheit oft allzu optimistisch kalkuliert. Dies mag
vielleicht in Zeiten des Kalten Krieges noch hinnehmbar
gewesen sein, in Zeiten, in denen wir die Dinge im Einsatz dringend brauchen, ist dies jedoch nicht hinnehmbar. Die Bundeswehr muss sich auf die Beschaffungszusagen der Industrie verlassen können. Die Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz benötigen keine Perspektive auf
optimale, sondern auf einsatzbereite Ausrüstung.
Ein Wermutstropfen im Bereich der verteidigungsinvestiven Ausgaben sind die Abstriche bei Forschung
und Entwicklung. Zwar können die begonnenen Vorhaben fortgeführt werden, aber für neue Vorhaben stehen
nicht genügend Mittel zur Verfügung. Ich meine, dass
wir diesen Umstand schnellstmöglich beenden müssen.
Wir wollen nicht an der Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sparen.
Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf die Ausgaben für internationale Einsätze lenken. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind um 25 Millionen Euro erhöht worden; so weit, so gut. Dennoch sollten Ausgaben,
die aufgrund von sicherheitspolitischen und gesamtpolitischen Vorgaben auf die Bundeswehr zukommen, künftig von dem allgemeinen Haushalt, sprich dem
Einzelplan 60, getragen werden. Die Kosten für die Sicherheitsvorsorge Deutschlands dürfen nicht allein vom
Verteidigungshaushalt getragen werden müssen und damit den finanziellen Spielraum der Bundeswehr massiv
einengen.
({6})
Wenn zum Beispiel die Bundeswehr die Ausbildung der
afghanischen Polizei betreibt - das ist wichtig und richtig -, ist das nicht eine unmittelbar streitkräftespezifische Aufgabe. Ich glaube, darüber sind wir uns im
Klaren. Die zusätzlichen Fahrzeuge für die Ausbildungsteams der Bundeswehr müssen dann durch zusätzliche Anstrengungen im Gesamthaushalt finanziert werden.
Die Bundeswehr steht vor großen Aufgaben. Die
Neuausrichtung und Transformation im laufenden Einsatz sowie eine Neugestaltung der Wehrpflicht sind nur
einige Stichworte. Lassen Sie mich kurz ein paar Worte
zur Wehrpflicht sagen. Herr Kollege Bonde, es geht
nicht darum, noch mehr Leute ungerecht zu behandeln,
sondern es geht in diesem Zusammenhang um Wehrgerechtigkeit.
({7})
Ich sage es ganz offen: Ich bin froh, dass wir hier einen
Kompromiss gefunden haben, der die Wehrpflicht im
Prinzip erhält. Die Ausgestaltung mit den sechs Monaten
ist eine Herausforderung an die Fantasie, den Dienst
sinnvoll und attraktiv zu gestalten.
({8})
Es geht auch darum, bestimmte Spielräume für Flexibilität - W 12, W 15, W 18 - zu eröffnen, auch für den Freiwilligendienst. Das gilt übrigens auch für den Zivildienst. Hier wird von den Hilfsorganisationen eine
größere Flexibilität erwartet. Ich glaube, dass wir hier
von unseren jungen Leuten das entsprechende Engagement erwarten können.
({9})
Einen Mix aus Pflicht- und Freiwilligendienst für diese
Gemeinschaft ist das, was wir brauchen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten
Blick erscheint der Regierungsentwurf des Verteidigungshaushaltes 2010 stabil und solide.
({0})
Die Ausgaben bleiben gegenüber denen in 2009 nominell konstant, allerdings wird uns die mittelfristige Finanzplanung, die im Rahmen der Haushaltsberatungen
nicht neu vorgelegt worden ist, in den Jahren danach, ab
dem Haushaltsjahr 2011, vor gewaltige Herausforderungen stellen.
Bernhard Brinkmann ({1})
Sehr geehrter Herr Minister zu Guttenberg, ich meine,
es gehört auch bei der ersten Lesung eines Bundeshaushaltes dazu, dass Sie hier im Parlament etwas zum Haushalt sagen und nicht nur Allgemeinplätze zum Ausdruck
bringen.
({2})
Denn auch das haben die Soldatinnen und Soldaten und
die zivilen Kräfte der Bundeswehr mehr als verdient.
Auch ich will hier für meine Fraktion allen Soldatinnen
und Soldaten und den zivilen Kräften für ihren Einsatz
im Inland und im Ausland sehr herzlich danken. Auch
ich beziehe die Familienangehörigen ausdrücklich mit
ein.
({3})
Hier wird eine wichtige und wertvolle Arbeit für unser
Land geleistet, für die jede Soldatin, jeder Soldat und jeder Zivilbeschäftigte nicht nur Dank, sondern auch Respekt und Anerkennung verdient.
Wer sich den Umfang der Staatsverschuldung in
Höhe von 1 600 Milliarden Euro bzw. 1,6 Billionen
Euro vor Augen führt - ich sage das ohne Schuldzuweisungen -, der wird in den nächsten Monaten - das gehört
zur Haushaltsklarheit und -wahrheit und zur Ehrlichkeit
dazu, und das wird sich nach der Steuerschätzung im
Mai dieses Jahres immer deutlicher herausstellen - nicht
umhinkommen, einzugestehen, dass sich auch der Einzelplan 14 entsprechenden Sparmaßnahmen und Einsparungen nicht entziehen kann.
Zu den Beschaffungsvorhaben, durch die mehr als
90 Prozent der Mittel gebunden sind, wurden bereits
Ausführungen gemacht. Das, was gesagt wurde, kann
ich im Wesentlichen ausdrücklich bestätigen. Der linken
Seite des Hauses sage ich aber auch: Es macht keinen
Sinn, aus dem Projekt A400M auszusteigen, weil unsere
Probleme dadurch noch viel größer würden.
({4})
Dann würden wir nämlich wieder bei null anfangen. Wer
sich regelmäßig mit Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr beschäftigt, der weiß, dass wir dabei eigentlich
noch nie bzw. nur sehr selten auf der sicheren Seite waren. Letztlich waren die Kosten eines Beschaffungsvorhabens immer höher als zu Beginn ermittelt.
({5})
- Damit muss man sich nicht abfinden. Wenn Sie von
der linken Seite des Hauses aber solche Äußerungen machen, dann muss es erlaubt sein, auch auf die weiteren
Gefahren hinzuweisen. All das, was sich bei dieser Beschaffungsmaßnahme bis Ende des Monats noch klären
muss, ist heute zum Teil schon zum Ausdruck gebracht
worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Haushaltsberatungen der nächsten Wochen, bis zur zweiten und dritten Lesung, werden wir den Haushaltsentwurf auf Herz
und Nieren prüfen. Ich kann Ihnen an dieser Stelle auch
sagen, worauf es uns dabei ankommt. Wir haben immer
gesagt, dass wir alles tun, damit unsere Soldatinnen und
Soldaten bei ihren gefährlichen Auslandseinsätzen,
speziell in Afghanistan, optimal ausgerüstet und geschützt sind; dazu stehen wir auch in der Opposition.
Deshalb müssen wir uns in den laufenden Haushaltsberatungen intensiv mit der Frage beschäftigen, ob und wo
sich aufgrund der verschärften Sicherheitslage eventuell
materielle Engpässe bei der Schutzausrüstung abzeichnen. Sollten solche Engpässe zu erwarten sein, ist ein
schnelles Nachsteuern für uns selbstverständlich.
Auch über die Personalausgaben ist schon gesprochen
worden. Sie sollen um 172 Millionen Euro sinken. Dies
wird im Wesentlichen mit dem Abbau des Zivilpersonals begründet. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich
erklären: Die Axt darf nicht nur bei den zivilen Stellen
der Bundeswehr angelegt werden.
({6})
Wenn der Tarifvertrag im Jahr 2010 ausläuft, sollten wir
uns gemeinsam darum kümmern - Kollege Koppelin hat
ja ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten gefordert -, dass
seine Geltungsdauer verlängert wird und, wenn überhaupt, ein sozialverträglicher Abbau des zivilen Personals stattfindet.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 3. Februar dieses Jahres werden wir das erste Berichterstattergespräch
im Bendlerblock, im Verteidigungsministerium führen.
Heute Morgen habe ich mir in Vorbereitung auf diese
Debatte die Spar- und Streichliste der FDP-Fraktion
angeschaut. Ich meine jetzt nicht das Sparbuch der FDP.
Das ist etwas völlig anderes; denn da ist etwas drauf, und
zwar ein Guthaben.
({8})
Ich sage Ihnen voraus: In den nächsten Wochen, bis zur
zweiten und dritten Lesung des Haushaltsentwurfs, werden wir eine sehr spannende Auseinandersetzung erleben. Die Freien Demokraten haben 59 Einsparvorschläge gemacht.
({9})
Ich bin gespannt, ob die FDP diese Vorschläge in den
Haushaltsberatungen wiederholen wird oder ob sie, wie
sie es in den ersten Tagen ihrer Regierungsbeteiligung
getan hat, alles über Bord wirft, was sie in diesem Haus
elf Jahre lang stets in den Fokus der Debatte und der Öffentlichkeit gestellt hat.
({10})
Bei einem Sparvorschlag, Herr Kollege Koppelin, hat
Minister zu Guttenberg Ihnen schon den Gefallen getan:
Einen Staatssekretär nach Hause zu schicken, das war
ein konkreter Einsparvorschlag. Die Begründung, warum man das tun solle, lautete: die Bürger entlasten. Mal
schauen, ob Sie in den Haushaltsberatungen dazu kom1328
Bernhard Brinkmann ({11})
men, dass die Bürger entlastet werden. Ich glaube, wir
werden uns in den nächsten Monaten vom Gegenteil
überzeugen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir in den Angeboten, die die SPD
macht, Einsparvorschläge unserer Fraktion wiederfinden, werden wir unser Copyright geltend machen.
({0})
Wir werden sehen, wie sich das im Einzelnen darstellt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh,
dass sich die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag auf ein sicherheitspolitisches Arbeitsprogramm
verständigt hat, das die Interessen unseres Landes abbildet und bei konsequenter Umsetzung auch für die Zukunft sicherstellen wird, dass die Bundeswehr ein leistungsfähiges Instrument deutscher Sicherheitspolitik
bleibt - unverzichtbar für den Schutz Deutschlands wie
für Krisenvorsorge und Krisenbewältigung auf internationaler Ebene.
Lieber Paul Schäfer, du hast eben mehr oder weniger
gegeißelt, dass die Bundeswehr in internationalen Einsätzen tätig ist. Die zukünftigen Konflikte sind internationalisiert. Wenn wir uns den Einsatz der Bundeswehr
in maritimen Operationen anschauen, muss ich sagen:
Die Bundeswehr ist ein unverzichtbarer Bestandteil internationaler Kooperation. Ich glaube, dass die Bundeswehr schlecht beraten wäre, sich von solchen gemeinsamen Aktionen fernzuhalten.
({1})
Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass die Soldaten der Bundeswehr, die im Ausland im Einsatz sind, ein
Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Ich habe bei vielen Besuchen feststellen können,
dass die Präsenz unserer Soldatinnen und Soldaten in internationalen Strukturen das Ansehen unseres Landes
mehrt und unterstreicht. Darauf möchte ich ungern verzichten.
({2})
Natürlich - ich denke, das ist überwiegend Konsens
in diesem Hause - benötigen die Soldatinnen und Soldaten für den gefährlichen Einsatz, in den sie gehen, die
bestmögliche Ausrüstung und Ausstattung. Ich bin
froh, dass es uns in den vergangenen Jahren gemeinsam
gelungen ist, Weichen zu stellen. Ich erinnere mich noch
gut an die etwas schwierige Diskussion über die Ausstattung der Bundeswehr mit IED-Schutz, mit Schutzvorrichtungen gegen Sprengsätze. Wir wissen heute, dass
Sprengsätze zu einer wesentlichen Gefährdung der Soldatinnen und Soldaten geworden sind. Ich bin froh, dass
die Bundeswehr den Weg in die richtige Richtung gegangen ist. Wir müssen die Beschaffung in Zukunft nach
den für den Einsatz erforderlichen Fähigkeiten ausrichten.
Der Haushalt ist belastet durch Investitionsentscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden. Wir
können aus diesen Investitionen nicht von heute auf
morgen aussteigen. Zum A400M hat die Koalition aber
eine klare Vereinbarung gefasst: dass die Verträge einzuhalten sind.
({3})
Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung berücksichtigt, was die sie tragenden Fraktionen sinnvollerweise vereinbart haben.
Die Bundeswehr hat die Strukturanpassungen, die
infolge der Machtverschiebungen nach dem Ende des
Kalten Krieges und angesichts der Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus notwendig geworden sind,
leider bis zum heutigen Tage nicht ausreichend vollzogen. Der eingeschlagene Transformationsprozess führte
bisher nicht zu einer erfolgreichen Entwicklung und genießt in der Bundeswehr keinen besonders guten Ruf. In
diesem Bereich ist eine grundlegende Neuausrichtung
notwendig; denn die sicherheitspolitischen Herausforderungen werden in Zukunft nicht enden.
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass eine Kommission eingesetzt wird, die bis Ende 2010 die Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr erarbeiten soll. Das ist nicht Ausdruck einer
Kommissionitis des Verteidigungsministers, Kollege
Bonde, sondern das haben die Fraktionen miteinander
vereinbart. Auch das ist in der Vergangenheit in dieser
Klarheit und Form nicht gelungen. Ich gehe auch davon
aus, Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, dass
diese Expertenrunde in den nächsten Monaten die Weichen für diesen notwendigen Prozess stellen und es eine
Selbstverständlichkeit sein wird, dass dies auch in enger
Kooperation zwischen Ministerium und den Fraktionen
erfolgen wird, da eine breite Rückendeckung bei der
Neuausrichtung der Bundeswehr auch hier im Parlament
vonnöten ist. Unsere Soldaten müssen wissen, dass der
Deutsche Bundestag diese neuen Strukturausrichtungen
in aller Breite mitträgt.
({4})
Wir haben eben zum gefundenen Kompromiss zur
Wehrpflicht einige Einlassungen der Kolleginnen und
Kollegen gehört. Nach unserer Auffassung ist eine Aussetzung der Wehrpflicht die richtige Zukunftsausrichtung; gleichzeitig haben wir aber auch immer betont,
dass es um Wehrgerechtigkeit geht. Insofern kann man
jetzt nicht der FDP den Vorwurf machen, wir würden die
Türe dafür öffnen, dass mehr Grundwehrdienstleistende
eingezogen werden. Vielmehr war dies ein Aspekt unserer Vorstellungen zur Wehrpflicht. Ich glaube, dass der
gefundene Kompromiss einen Anreiz dafür bedeutet, die
bestehenden Einberufungsstrukturen auf den Prüfstand
zu stellen. Dadurch muss die Bundeswehr ihre Anstrengungen verstärken, sich so attraktiv zu machen, dass die
jungen Wehrpflichtigen sagen: Jawohl, hier will ich bleiben, hier habe ich eine berufliche Perspektive.
({5})
Der Bundesverteidigungsminister hat jetzt die Möglichkeit, das Thema Wehrgerechtigkeit anzufassen. Diesen
Vorgang werden wir konstruktiv begleiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Einsätze
der Bundeswehr sind in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden. Heute ist hier von vielen Kollegen
dankenswerterweise das wichtige Thema PTBS, posttraumatische Belastungsstörungen, angesprochen
worden. Deswegen bin ich auch froh, dass es hier gelungen ist, die Umsetzung des damals einstimmig gefassten Beschlusses des Deutschen Bundestages in die
Koalitionsvereinbarung aufzunehmen. Herr Minister,
ich bin sehr zuversichtlich, dass Sie in Ihrem Hause sehr
rasch dafür sorgen werden, dass dieser einstimmig beschlossene Wunsch des Parlamentes für unsere Soldatinnen und Soldaten wirklich umgesetzt wird.
Der wichtigste Einsatz der Bundeswehr wird natürlich in den nächsten Monaten und Jahren absehbar die
ISAF-Mission in Afghanistan sein. Wir werden uns
auch im Deutschen Bundestag mit einer Neuausrichtung
der strategischen Überlegungen und Grundlagen für diesen Einsatz auseinandersetzen müssen.
Herr Minister, Sie haben den Begriff des Partnerings
heute hier im Deutschen Bundestag erwähnt. Ich halte
dies für einen sinnvollen Ansatz. Aber wir müssen auch
gleichzeitig die Frage stellen, ob die Bundeswehr in ihrer jetzigen Grundausrichtung dazu in der Lage ist, die
notwendigen Anforderungen des Partnerings zu erfüllen.
Ich gehe davon aus, dass wir uns, wenn dies zu einer
Grundlage für den zukünftigen Einsatz werden sollte,
sehr rechtzeitig über die notwendigen Strukturen unterhalten. Für mich ist ein Thema - das mag zunächst etwas
banal klingen -, dass die Bundeswehr dann, wenn sie
beim Partnering mitmacht, in der Lage sein muss, mit
genügend Sprachmittlern diese Aufgabe für die Afghan
National Army zu erfüllen. Dies ist ein wichtiger Punkt,
den wir in unserer Verantwortung noch intern klären
müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen in
den nächsten vier Jahren vor großen haushalterischen,
strukturellen und auch außenpolitischen Herausforderungen, was die Ausrichtung der Bundeswehr angeht.
Ich hoffe, dass wir ihnen gemeinsam gerecht werden.
Die Signale, Herr Kollege Arnold, die heute von Ihnen
gekommen sind und die besagen, dass es einen möglichst breiten Konsens über die weitere Entsendung der
Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geben wird,
sind wirklich der Maßstab für alle weiteren Entscheidungen in dieser Frage. Unsere Soldatinnen und Soldaten
haben an dieser Stelle Klarheit und unsere Rückendeckung verdient.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Meßmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein
Haushalt in dieser Größenordnung bewegt eine Menge.
Man kann ja auch viel kritisieren und dies immer unter
das Wort „Rüstung“ fassen. Aber hinter dem Wort „Rüstung“ stehen - zumindest nach meiner Einschätzung und
Erkenntnis - auch viele Menschen, die davon leben, deren Existenz davon abhängt. Auch bei denen, die uns beliefern - ich möchte das Stichwort „A400M“ aufgreifen -,
stehen Menschen dahinter. Wenn ich das Handelsblatt
von heute richtig gelesen habe, Herr Minister, dann ist
wohl klar, dass die Verantwortlichkeit für die fehlenden
Milliarden weder bei der Vertragsgestaltung der Vorgängerregierung noch bei der Abwicklung im Ministerium
zu suchen ist, sondern eindeutig beim Management der
EADS. Deshalb habe ich die herzliche Bitte: Wenn hier
verhandelt wird, dann müssen die Interessen der Steuerzahler gewahrt werden. Es dürfen nachher allerdings
nicht die Arbeitnehmer bei EADS die Leidtragenden
sein. „Hart sein“ darf nicht bedeuten, dass die Menschen, die eine gute Arbeit für unsere Bundeswehr leisten, auch im fliegenden Bereich - davon kann man sich
jeden Tag überzeugen -, nachher die Leidtragenden oder
die Opfer eines solchen Skandals sind. Ich habe die herzliche Bitte, dies dabei zu berücksichtigen.
({0})
Ich möchte ein aktuelles Ereignis ansprechen, weil
mich die Bilder davon bewegen; ich weiß nicht, wie Ihnen das geht. Ich habe im Fernsehen eben noch Bilder
von Haiti jetzt nach dem neuen schweren Erdstoß gesehen. Die Lage dort ist für die Menschen katastrophal: für
die Bevölkerung, für die internationalen Helfer, aber
auch für alle anderen, die helfen wollen. Ich bin mehrfach darauf angesprochen worden, ob es nicht möglicherweise auch seitens der Bundeswehr Unterstützung
und Hilfe geben kann, ähnlich wie sie bei dem Tsunami
damals geleistet worden ist. Hier wäre sicherlich die
Frage etwa an die Marine zu richten, was geht. Ich bin
eigentlich sicher, dass man sich darüber schon Gedanken
macht. Zügiges Handeln ist hierbei erforderlich.
Ich glaube, dass beim Verteidigungshaushalt häufig
nicht gesehen wird, wie viele Menschen davon abhängen. Wir muten den Bediensteten, aber auch den Familien bei der Veränderung der Bundeswehr eine ganze
Menge zu; Frau Hoff, da gebe ich Ihnen durchaus recht.
Wenn die Bundeswehr in Zukunft etwas bedeuten soll,
dann muss sie auch ein attraktiver Arbeitgeber sein;
ich will nicht sagen „werden“; das würde möglicherweise Widerspruch heraufbeschwören. Sie muss daran
arbeiten, dass sie zukünftig ein attraktiver Arbeitgeber
ist und als solcher auch erkennbar ist. Dafür muss noch
eine ganze Menge getan werden. „Attraktivität“ heißt
natürlich, dass Aus- und Weiterbildung ins Zentrum einer beruflichen Entwicklung rücken müssen. Es muss
berufliche Perspektiven geben. Es muss die Möglichkeit geben, wie in der Wirtschaft Karrieren zu gestalten
- das bekomme ich immer mit -, Karrieren aber auch
planbar zu machen. Ich meine, dass sich die Bundeswehr
mehr noch auf die Bedürfnisse junger Menschen und
junger Familien einstellen muss und mehr dafür tun
muss, dass auch junge Familien ein Interesse daran haben, ihre Lebensplanung dort zu verwirklichen.
Ich weiß, dass dies bei den besonderen Aufgaben sehr
schwierig ist; das braucht mir niemand zu sagen. Es
wäre spannend gewesen, in diesem Haushalt ein paar
Antworten darauf zu finden. Ich glaube nämlich schon,
dass dies Auswirkungen auf künftige Investitionen hat,
ob das Wohnungen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten
oder Ähnliches betrifft. Es muss sich im Haushalt widerspiegeln, dass die notwendigen Investitionen getätigt
werden. Es ist viel gedankt worden - dem schließen wir
uns ausdrücklich an; meine Vorredner aus der Fraktion
haben es schon gesagt -, aber Dank allein reicht nicht
aus; es muss auch erkennbar werden, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber ist. Das bedeutet, dass
in den Fragen von Besoldung und Aufstieg eine ganze
Menge getan werden muss. Vor dem Hintergrund der
Diskussionen, die immer wieder geführt werden - ich
habe sie auch im Fernsehen regelmäßig verfolgt -, muss
klar sein: Wer eine Dienst- oder Arbeitsstelle bei der Armee hat, braucht keine Angst vor der Zukunft oder vor
dem Alter zu haben. Hierbei stellen sich sicherlich eine
ganze Menge Fragen, auch was Gerechtigkeit und entsprechende Altersversorgung angeht. In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht so ähnlich, wie es in
der Wirtschaft der Fall ist, darüber nachdenken, ob nicht
auch die Zeitsoldaten in den Genuss einer zusätzlichen
Altersversorgung kommen sollten.
({1})
Ich selber habe erlebt, wie sich in der Wirtschaft Veränderungen ergeben und wie viel bereits heute dafür getan wird, für die Menschen in Zukunft ein attraktiver
Arbeitgeber zu sein. Wenn sich die Bundeswehr in diesem Bereich weiterentwickeln will, dann muss sie heute
für junge Menschen attraktiv werden, damit sie auch in
20 Jahren kompetentes Personal hat, das gut ausgebildet
und in der Lage ist, eigenständig notwendige Entscheidungen im Rahmen des jeweiligen Aufgabengebietes
oder auch Einsatzgebietes zu übernehmen.
Ich lobe ausdrücklich auch das zivile Engagement
der Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeit,
ohne das viele kulturelle, aber auch sportliche Ereignisse
nicht möglich wären.
({2})
Ich erlebe es regelmäßig im Bereich der Behindertenausbildung, aus dem ich selbst komme, dass sich das Heeresmusikkorps engagiert und Maßnahmen für behinderte
Menschen entsprechend unterstützt werden. Das Musikkorps hat sich selbst in Bereichen der Gesellschaft, von
denen man das vielleicht nicht vermutet, ungeheuer hohe
Anerkennung erworben.
Wenn es um die Umsetzung von Maßnahmen geht,
werden wir auf Ihr Angebot zurückkommen. Wir wollen
die Einrichtung eines Unterausschusses vorschlagen, um
die Modernisierungsmaßnahmen zu begleiten und zu unterstützen. Dabei wird sich zeigen, Herr Minister, ob
eine Zusammenarbeit mit den übrigen Fraktionen des
Hauses tatsächlich gewollt ist und ob Anregungen aufgegriffen werden.
Wir sind jenseits der aktuellen aufgeregten Diskussion gerne dazu bereit. Wir werden sehen, wie sich das
Ganze entwickelt. Ich bin sehr gespannt, wie die Anregungen auch meiner Fraktion aufgenommen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Kollege Meßmer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen auch in Ihrer
weiteren Arbeit viel Erfolg.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Klaus-Peter Willsch.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kameraden von der Marine! Wenn wir heute den Verteidigungshaushalt beraten,
dann geht es um einen Bereich, der - schon in vordemokratischer Zeit - einen Kern staatlichen Handelns darstellte. Die Sicherstellung der inneren Sicherheit und
Ordnung und der Schutz der Bevölkerung vor äußerer
Bedrohung oder vor Freiheitsgefährdung von außen gehören zu den klassischen Aufgaben.
Die Diskussionen über die Mandatierung von Einsätzen zeigen, dass wir häufig sozusagen eine mediale
Welt gegen uns haben, mit der wir umgehen müssen.
Wenn wir in den Wahlkreisen nach diesem Thema gefragt werden - speziell denke ich an den Einsatz in Afghanistan -, dann merken wir, dass sich sehr viele dabei
unwohl fühlen. Es ist kein Problem, die Unterstützung
der Öffentlichkeit für die Bundeswehr zu finden, wenn
es um die Vogelgrippe geht, wenn verendete Vögel einzusammeln sind oder im Oderbruch Sandsäcke geschleppt werden müssen.
Auch was die aktuelle Situation in Haiti angeht, ist
meines Wissens bereits eine Übersicht über verfügbare
Kapazitäten ans Auswärtige Amt übermittelt worden,
damit dort zentral gesteuert werden kann, welche Bundeswehrkapazitäten und Teileinheiten zum Einsatz kommen können. Bei solchen Einsätzen ist es immer sehr
einfach, breite Sympathie für die Bundeswehr zu beKlaus-Peter Willsch
kommen. Wenn es aber um Einsätze in ihrem eigentlichen Kernbereich geht, wird es schwierig, weil wir auf
einmal in kriegerischen Situationen sind. Dass das nicht
einfach ist, wissen wir alle.
Deshalb ist es für mich wichtig, dass es in der Frage
der Mandate eine breite Übereinstimmung in diesem
Haus gibt. Wenn in diesem Haus ein Mandat erteilt wird,
gehört es dazu, dass wir als Bundestag einen Beschluss
über die erforderliche Ausstattung und Ausrüstung für
dieses Mandat fassen. Das ist ein Gegenstand der Haushaltsdebatte über den Einzelplan der Verteidigung.
Wir tun gut daran, wenn wir Einsätze wie den in Afghanistan nicht zu sehr überfrachten, zum Beispiel mit
Forderungen nach Frauenbeauftragten in allen Provinzen
sowie dem Errichten einer vorbildlichen rechtsstaatlichen Ordnung. Damit verheben wir uns in einem Land
wie Afghanistan, das vielleicht noch nicht die Voraussetzungen dafür hat. Wir spiegeln dann etwas vor, was eigentlich nicht notwendig ist. Der Sinn des Einsatzes in
Afghanistan ist, der Bedrohung, die aus der Tatsache
herrührt, dass in diesem Land al-Qaida den Westen und
unsere Art, zu leben, frontal angegriffen hat, entgegenzuwirken. Das steht für sich alleine. Das Militär ist dafür
da, die Interessen unseres Landes notfalls auch im Ausland zu vertreten bzw. die Freiheit Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen, wie es ein Amtsvorgänger von
Herrn Guttenberg gesagt hat.
({0})
- Richtig, die Sicherheit. - Ohne Überhöhungen und Illusionen wäre es viel leichter, die in der Außenpolitik
vorhandenen Notwendigkeiten und auch die militärischen Einsätze rational zu begründen.
Das ist wichtig im Blick auf die Soldaten, die wir
dorthin schicken, und ihr Empfinden. Ich erlebe immer
wieder, wie hier in Deutschland am Schneidetisch in
Zeitlupe oder Zeitraffer und mit sieben Monitoren Situationen nachgestellt werden, in denen ein Soldat sofort
handeln muss, wenn er nicht riskieren will, dass die ihm
anvertrauten Soldaten bzw. seine Kameraden zu Schaden kommen oder dass der Auftrag nicht erfüllt wird. Es
ist aber ungeheuer schwierig, am Schreibtisch die Situationen, in denen sich die Soldaten befinden, nachzuvollziehen; denn die Soldaten nehmen die Situationen ganz
anders wahr. Es gab in der Welt am Sonntag einen Bericht eines deutschen Hauptmanns, der seit November
den Alltag in der Region Kunduz erlebt. Er schreibt:
In den Medien sind wir ja oft nur eine Randnotiz.
Wenn’s nicht knallt, interessiert es keinen, was hier
passiert. Als im Sommer die drei deutschen Soldaten gefallen sind, war das drei Tage lang in der
Presse. Und dann ist Michael Jackson gestorben …
Ich glaube, die Medien haben den Auftrag und die Verantwortung, sich um unsere Soldaten in positivem Sinn
zu kümmern und Öffentlichkeit für sie herzustellen.
Auch wir, die wir im Bundestag Debatten darüber führen, müssen das Unsere dazutun, indem wir im richtigen
Ton darüber reden und unsere Verantwortung gegenüber
den Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, wahrnehmen.
Damit komme ich - ich kann das verkürzt darlegen,
weil andere Kollegen die einzelnen Posten schon durchgegangen sind - zu den Haushaltszahlen selbst. Der
Haushalt der Verteidigung ist durch die Einsätze der
Bundeswehr geprägt. Wir erleben auch Neuerungen.
Normalerweise geht die Verlaufskurve der einsatzbedingten Mehrkosten bei Einsätzen nach einer gewissen
Zeit nach unten. Beim Einsatz in Afghanistan ist das
nicht der Fall. Hier geht die Kurve stetig nach oben.
Wenn man mit Leuten spricht, die das Gerät unterhalten,
das aus dem Einsatz zurückkommt, dann hört man folgende Beschreibungen: Das Gerät wirkt, als ob es mit
Sandpapier geschmirgelt worden wäre. - Es muss also
sehr viel mehr für die Materialerhaltung getan werden.
Wir sorgen dafür, dass das möglich ist. Wir werden das
in haushaltspolitisch sehr schwieriger Zeit in den nächsten Jahren zu bewältigen haben. Ein schlichtes Festhalten am Plafond ist relativ wenig vor dem Hintergrund
erstens einsatzbedingter Mehrausgaben und zweitens des
Anwachsens der Versorgungslasten, die wir seit 2004/05
in den Einzelplänen berücksichtigen. Wir müssen uns
nüchtern bewusst machen, dass es notwendig sein wird,
Mittel entweder an anderer Stelle im Haushalt des Verteidigungsministeriums selbst oder in anderen Bereichen
zu mobilisieren. Es kann kein Vertun geben: Wenn wir
Soldaten in Einsätze schicken, dann müssen wir sie so
ausrüsten, dass sie unter größtmöglichem Schutz und mit
höchstmöglicher Wirksamkeit ihren gefährlichen Auftrag erfüllen können. Das ist unsere Verantwortung als
Parlament. Dafür stehen wir ein.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Großprojekten sagen. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass
sie in den Gesprächen, die jetzt geführt werden, auf die
Einhaltung von Verträgen pocht, denn das ist das Selbstverständlichste der Welt. Wir haben dieses Thema im
Haushaltsausschuss intensiv beraten. Auch ich kenne
Menschen, die bei Firmen arbeiten, die betroffen sein
könnten, wenn der angedrohte Ausstieg aus dem Projekt
mehr ist als Theaterdonner und Verhandlungsstrategie.
Es ist jedenfalls nicht klug, solche Verhandlungen in öffentlicher Debatte im Deutschen Bundestag zu führen.
Es ist notwendig, dass die Bundesregierung und die Regierungen der anderen Länder, die den A400M bestellt
haben, die Verhandlungen eingedenk der Tatsache führen, dass geschlossene Verträge einzuhalten sind und
dass die Fähigkeiten, deren Fehlen zum Abschluss dieser
Verträge geführt hat, der Truppe trotzdem zur Verfügung
gestellt werden müssen; das erwartet das Parlament von
der Regierung.
Die Union ist ein treuer Partner der Bundeswehr, und
die christlich-liberale Regierungsmehrheit wird es auch
hier im Parlament sein. Wir laden alle anderen herzlich
ein, den Soldaten gerade bei den zentralen Fragen, bei
denen es um den Einsatz, die Tüchtigkeit des Materials
dafür und die richtigen Einsatzbedingungen geht, zu zeigen, dass sie eine Parlamentsarmee, dass sie eine Armee
des ganzen Parlaments sind. Ich wünsche uns gute Beratungen für den Einzelplan 14.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23. Das Wort hat
der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Dirk Niebel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man den Schmerz und die Verzweiflung
der Menschen in Haiti sieht, fällt es wohl keinem von
uns leicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Irgendjemand hat gesagt, die Zustände seien geradezu
apokalyptisch. Ich glaube, das trifft es sehr gut. Deswegen bin ich mir sicher, dass alle Mitglieder dieses Hauses
der Überzeugung sind, dass schnell, solidarisch und vor
allem wirksam geholfen werden muss.
({0})
Aus diesem Grund bin ich nicht nur für den Applaus
auch der Opposition dankbar, sondern ich bin auch der
Bundesregierung dankbar, dass sie schnell reagiert hat.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat mittlerweile insgesamt
5 Millionen Euro für Nahrungsmittelsoforthilfe zur Verfügung gestellt. Zusammen mit den Mitteln des Auswärtigen Amtes aus Nothilfetiteln sind es insgesamt
10 Millionen Euro für Maßnahmen der humanitären Sofort- und Nothilfe. Wenn man unseren 20-prozentigen
Anteil an der EU-Hilfe hinzurechnet - das sind noch einmal etwa 60 Millionen Euro -, sind wir in einem Bereich
von ungefähr 70 Millionen Euro Soforthilfe, mit denen
wir unsere Solidarität mit den Menschen in Haiti bei der
ersten Runde der Hilfestellung deutlich zum Ausdruck
gebracht haben.
Darüber hinaus werden wir uns auch mit dem Wiederaufbau beschäftigen. Das sollten wir allerdings international abgestimmt im Rahmen einer gemeinsamen Geberkonferenz tun.
Haiti zeigt wieder eines: Entwicklungspolitik muss
schnell sein, aber Entwicklungspolitik muss auch langfristig wirken. Sie darf nicht nur Hilfe, sondern sie muss
auch Hilfe zur Selbsthilfe sein und die Selbsthilfekräfte
in unseren Partnerländern stärken. Unter diesem Gesichtspunkt ist der heutige Entwurf für den Haushalt
2010 ein Entwurf mit einer klaren liberalen Handschrift.
({1})
Wir haben in diesem Haushalt einen Aufwuchs von
67 Millionen Euro im Vergleich zum Jahre 2009 oder
- anders formuliert - einen Aufwuchs von 44 Millionen
Euro gegenüber den Vorgaben des letzten, abgewählten
SPD-Finanzministers.
({2})
Wir haben also eine gute Kombination von Vorsorge
für unsere internationalen Verpflichtungen einerseits und
einem klar erkennbaren Sparwillen vor dem Hintergrund
der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise, in der unser Land je gewesen ist, andererseits. Wir machen deutlich, dass Entwicklungspolitik einen hohen Stellenwert
für diese Bundesregierung hat; deswegen wächst der
Etat trotz aller schwierigen Rahmenbedingungen. Aber
wir machen auch deutlich, dass wir in gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet sind, die wir nicht
zur Seite schieben können.
Was unsere internationalen Verpflichtungen anbetrifft, werden wir im Bereich des Klimaschutzes - unsere Partnerländer sind vom Klimawandel weit überproportional betroffen - einiges an Leistungen zu erbringen
haben, die heute noch nicht vollständig in den Haushaltsentwürfen abgebildet sein können, weil die Kopenhagener Konferenz leider kein Ergebnis gebracht hat.
Wir werden auch vor dem Hintergrund dessen, was uns
die Afghanistan-Konferenz beschert und mit dem Wissen, dass diese Bundesregierung den Schwerpunkt des
zukünftigen Engagements auf die zivile Aufbauarbeit legen möchte, noch einiges mehr tun, als im Moment im
Haushalt widergespiegelt sein kann, weil die Afghanistan-Konferenz noch nicht stattgefunden hat.
Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass wir auch
hier schon einige Erfolge vorweisen können, insbesondere im Norden, wo wir auch Verantwortung für die Sicherheit tragen. 75 Prozent der Menschen im Norden Afghanistans können mittlerweile durch Beschäftigung ein
eigenes Einkommen erzielen. 60 Prozent aller Kinder in
Nordafghanistan haben die Gelegenheit, eine Schule zu
besuchen. Wir werden dafür sorgen, dass mit dem weiteren entwicklungspolitischen Engagement der Bundesrepublik diese Friedensdividende weiter ausgeweitet
wird.
({3})
Unser Haushaltsentwurf ist eindeutig ein Aufbruchssignal, ein Signal, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder
das Schlüsselressort in Deutschland für die ODA werden
muss. Wir stellen uns nicht zuerst die Frage, ob der
Haushalt zu groß oder zu klein ist; zuerst stellen wir uns
die Fragen: Ist unsere Entwicklungspolitik wirksam und
sichtbar? Sind multilaterale Maßnahmen effektiver?
Werden privates Kapital und die private Wirtschaft zum
Wohle unserer Partnerländer ausreichend eingebunden?
Wird vor allem die Zivilgesellschaft gestärkt? Denn wir
wollen, dass wirkliche Veränderungen aus der Mitte der
Gesellschaft, also aus der Zivilgesellschaft heraus, erreicht werden, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch und vor allem in unseren Partnerländern.
Wenn wir das mit der Frage kombinieren, ob wir mit unserer Politik mehr Freiheit und Eigenverantwortung
erreichen, und diese Frage bejahen können, dann können
wir sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Man stellt fest, dass sowohl die mediale als auch die
oppositionelle Aufgeregtheit etwas weniger wird. Die
Zustimmung wird etwas größer. Dass das BMZ Armut
bekämpft, ist nicht falsch - richtig ist, dass private Wirtschaftlichkeit Basis der Armutsbekämpfung ist.
Budgethilfe ist nicht immer falsch, aber es ist richtig, sie
kritisch zu überprüfen. China ist kein Entwicklungsland,
aber es ist richtig, China an den Lösungen globaler Herausforderungen zu beteiligen. Multilaterale Ansätze
sind nicht immer effizienter. Richtig ist es aber, die Effizienz bilateraler Arbeit zu stärken. Wir als Bundesregierung sind für Sie alle sehr leicht durchschaubar. Unsere
Messlatte, an der wir uns messen lassen müssen, ist unser Koalitionsvertrag. Diesen werden wir in dieser Legislaturperiode unserem Handeln zugrunde legen.
({4})
Wir haben schon einiges geschafft, wenn auch noch
lange nicht alles. Wir sind noch nicht einmal 100 Tage
im Amt, aber Schwerpunkte sind klar erkennbar. Wir haben die Wirksamkeit und Sichtbarkeit der deutschen
Entwicklungspolitik gestärkt. Statt mangelnder Abstimmung haben wir eine bessere Kohärenz zwischen Entwicklungs-, Außen- und Außenwirtschaftspolitik schon
heute erreicht, und zwar dadurch, dass wir einfach etwas
tun, was im zwischenmenschlichen Bereich üblich ist,
nämlich indem wir miteinander reden.
({5})
Wir haben die Schlagkraft und die Steuerungsfähigkeit
des BMZ in den Blick genommen, und wir wollen beide
in dieser Legislaturperiode durch eine Reform der
Durchführungsorganisation erhöhen. In weniger als
100 Tagen nach der Amtsübernahme werden wir die ersten Vorschläge miteinander prüfen. In weniger als
200 Tagen nach der Amtsübernahme werden die ersten
Vorschläge für eine Reorganisation im Kabinett beraten
werden.
Wir erhöhen unsere Anstrengungen für ländliche Entwicklung, Gesundheit und vor allem für Bildung, weil
Bildung die Grundlage dafür ist, dass man ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und ohne Armutsrisiko führen kann. Das wird einer unserer Schwerpunkte sein.
Auch die Zivilgesellschaft wird ausdrücklich gestärkt,
was im Haushaltsentwurf sichtbar ist. Wir wollen ausdrücklich auf die Zivilgesellschaft, die Kirchen und insbesondere auf die politischen Stiftungen einen größeren
Schwerpunkt legen, als das früher der Fall war.
({6})
Die Kooperation mit der privaten Wirtschaft wird
überproportional gestärkt. Auch das sehen Sie an einem
zusätzlichen Haushaltsansatz von 10 Millionen Euro.
Der Schwerpunkt auf Eigenfinanzierung unserer Partner
durch Mikrofinanzkredite soll dazu führen, Grundlagen
für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen.
Wir werden das mit einer größeren Werte- und Interessengebundenheit unserer Entwicklungspolitik kombinieren. Um allen Vorurteilen entgegenzuwirken:
Schauen Sie sich an, was der erste Minister in diesem
Amt, Walter Scheel, gemacht hat: Er hat für die Bundesrepublik Deutschland die Grundlagen für eine liberale
internationale Entwicklungspolitik gelegt. Diese Regierung wird genau hier anknüpfen.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann mich in einem einzigen Punkt
den Ausführungen des Ministers anschließen: Es ist
dringend nötig, dass den Menschen in Haiti sehr schnell,
sehr unbürokratisch, sehr unkompliziert und sicher mit
mehr als 10 Millionen Euro Not- und Übergangshilfe geholfen wird.
({0})
Dann hören die Gemeinsamkeiten aber sehr schnell
auf. Ich muss sagen: Seit ich im Bundestag bin, habe ich
selten eine so uninspirierte und für das Thema leidenschaftslose Rede eines Ministers zu seinem eigenen Ressorts gehört.
({1})
In den letzten Jahren habe ich meine Haushaltsrede in
der Regel damit beginnen können, dass ich gesagt habe:
Ich freue mich über den Aufwuchs, den die Ministerin
durch Verhandlungen erreicht hat. Zur Erinnerung - es
lohnt sich, Zahlen in Relation zu setzen -: Im letzten
Jahr, das ebenfalls schwierig war, und in dem es ebenfalls eine Krise zu bewältigen galt, gab es einen Aufwuchs um 12,4 Prozent, also um 600 Millionen Euro.
Dieses Geld stand zur Bekämpfung von Armut, von ökologischem und sozialem Raubbau und zum Aufbau von
Strukturen zur Verfügung. Darum geht es nämlich in der
Entwicklungspolitik: Entwicklungspolitik ist Strukturpolitik.
({2})
Ich wäre sehr dankbar, wenn das vom Ministerium einmal zur Kenntnis genommen würde.
Leider kann ich meine Rede dieses Jahr nicht so beginnen. Wie hoch ist der Aufwuchs nämlich? Sie haben
es selbst erwähnt: 67 Millionen Euro. Man könnte fast
sagen: Es ist ein Nullaufwuchs; es passiert nichts.
({3})
Sie zitieren immer wieder den Haushaltsentwurf von Juli
letzten Jahres. Sie wissen ganz genau: Im Juli ist ein Kabinettsentwurf ohne Ressortabstimmungen, ohne Verhandlungen vorgelegt worden. Eines kann ich Ihnen sagen: So einen mutlosen, so einen fantasielosen Entwurf
mit einem Aufwuchs von 67 Millionen Euro hätte eine
Ministerin Wieczorek-Zeul nie zugelassen. Sie hätte sich
erfolgreich für mehr Mittel für diesen wichtigen Bereich
eingesetzt.
Bundesminister Dirk Niebel: Bundesminister Dirk Niebel
({4})
Sie haben sich nicht nur vom 0,51-Prozent-Ziel in
diesem Jahr, sondern auch von einer grundsätzlichen,
stetigen Aufbauarbeit in diesem Ressort - von der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels bis 2015 - verabschiedet.
Sie tragen immer wie eine Phalanx vor sich her, dass die
Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels im Koalitionsvertrag
steht. Wenn man diesen Vertrag einmal genau nachliest,
stellt man aber fest, dass darin keine Jahreszahl steht.
Für den Einzelplan 23 sehen Sie für das Jahr 2011 ein
Minus von 0,7 Prozent vor; zu den folgenden Jahren äußern Sie sich nicht. Wir haben gestern gelernt, dass es
mit dieser Regierung keine mittelfristige Finanzplanung
geben kann, da im Mai in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen stattfinden. Man wird darauf warten müssen,
bis von Ihrer Seite vernünftige Angaben zu unserem Einzelplan gemacht werden.
Gerade für unser Ressort ist es von großer Bedeutung,
dass man den Aufwuchs verstetigt. Diejenigen, die Sie
eben angesprochen haben - zivile Kräfte, Kirchen, Stiftungen und auch die Wirtschaft; ich habe gar nichts dagegen, dass sie mehr bekommen; im Gegenteil, dort wird
gute Arbeit geleistet -, brauchen nicht nur einen höheren
Barmittelansatz, sondern mehr über Verpflichtungsermächtigungen zugesagtes Geld, damit sie wissen, was
ihnen in den nächsten Jahren zur Verfügung stehen wird,
damit sie ihre gute Arbeit fortführen können und damit
sie gerade für die Zivilgesellschaft - Sie haben sie angesprochen - etwas tun können.
Kollegin Kofler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Herr Fischer, bitte.
Liebe Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die
65 Millionen Euro Aufwuchs in diesem Haushaltsplan
auf Grundlage des Haushalts beschlossen worden sind,
den Herr Steinbrück in der mittelfristigen Finanzplanung
vorgelegt hat?
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, natürlich ist mir
das bekannt. Ich habe ja gerade ausgeführt, vor welchem
Hintergrund hier Verhandlungen über die Zukunft stattgefunden haben. Sie können gern das Gespräch mit der
Ministerin von damals suchen. Selbstverständlich wurde
vor der Wahl keine Abstimmung vorgenommen, was den
zukünftigen Aufwuchs anbelangt.
({0})
Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Im Zusammenhang mit diesem Haushalt hätte man auch einmal ein
paar Ausführungen dazu machen können, dass laut aktueller Steuerschätzung in diesem Jahr 10 Milliarden Euro
mehr zur Verfügung stehen. Vielleicht wird gleich einer
meiner Kollegen noch darauf eingehen. Man hätte also
etwas von diesen 10 Milliarden Euro oder auch von der
1 Milliarde Euro, die nun den Hoteliers zugute kommt,
einige Mittel für den Einzelplan 23 verwenden können.
({1})
- Ich verteile sie aber hier. Sie haben sie nur an die Hoteliers gegeben.
Schauen wir uns das ganze Trauerspiel um diesen
Haushalt weiter an. Sie, Herr Minister, haben von großen
Linien gesprochen. Ich erkenne keine einzige große Linie in diesem Einzelplan. Das Einzige, was Sie getan haben, ist, beim Globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Tuberkulose und Malaria 58 Millionen Euro zu
streichen. Hierzu hätte ich gerne heute von Ihnen ein
klärendes Wort gehört. Es ist richtig, was in den Erläuterungen im Haushaltsentwurf zu diesem Titel steht, nämlich dass dieser Fonds ein bedeutendes „Finanzierungsinstrument in der internationalen Zusammenarbeit zur
Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria“
ist. Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie die zugesagten Mittel in Höhe von 200 Millionen Euro nicht in voller Höhe
abfließen lassen können, da Sie im Koalitionsvertrag
eine Verteilung der bilateralen und multilateralen deutschen Leistungen im Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel vereinbart haben. Jetzt frage ich mich: Wo
ist hier die große Linie?
Hier geht es um die Bekämpfung von Krankheiten
und um Gesundheitsförderung gerade in ländlichen Gebieten bei den Ärmsten der Armen. Man sollte nämlich
einmal zur Kenntnis nehmen, was durch den Globalen
Fonds seit 2002 erreicht wurde: 2,5 Millionen HIV-Erkrankte haben Unterstützung bekommen, 104 Millionen
Menschen haben Moskitonetze bekommen, Hunderttausende Beschäftigte im Gesundheitsbereich wurden ausund weitergebildet. Sie aber entziehen sich den Zusagen,
die die Bundesrepublik Deutschland gemacht hat, und
gefährden damit gleichzeitig diese sinnvolle Politik. Sie
setzen damit auch den Ruf unseres Landes als verlässlicher Partner in diesem Bereich aufs Spiel.
({2})
Auf eine Anfrage der Kollegin Roth vom Beginn dieses Monats schreiben Sie, Frau Kopp - Sie haben es ja
selbst unterschrieben -, auch noch: Diese Kürzung um
58 Millionen Euro ist richtig und gewollt. Als sich dagegen öffentlicher Protest regt, wird zurückgerudert. Im
Haushaltsentwurf steht allerdings immer noch der Ansatz von 142 Millionen Euro. Ich hätte sehr gerne einmal
ein paar Aussagen von Ihnen dazu, was nun passiert.
Setzen Sie den Ansatz wieder auf 200 Millionen Euro,
wie es zugesagt war.
Die politische Halbwertszeit Ihrer Äußerungen ist allerdings bezüglich der Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit - das gilt auch für viele andere Dinge nicht sehr hoch. Im Dezember konnten wir lesen, dass
Sie gegen die Einführung einer Finanztransaktionsteuer
zur Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit
sind. Nach Ihrem Treffen mit Zoellick hört man von Ihnen, dass man dafür vielleicht doch noch Mittel einsetzen könne; man wolle mal sehen, was beim G-20-Treffen herauskomme. Ich höre gerne, dass das bei Ihnen
neuerdings ein Thema sein soll, Herr Niebel; ich bezweifle es nur. Vieles von dem, was Sie sagen, richtet
sich nur nach der politischen Tagesform und dem, was
gerade opportun ist. Wichtig ist, dass Sie einen Vorschlag vorlegen, wie Sie das von Ihnen erklärte Ziel einer ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wollen. Es
gibt keine einzige Aussage zu den Finanzen von Ihnen,
die belastbar ist und belegt, dass Sie etwas tun, um die
ODA-Quote auf 0,7 Prozent zu erhöhen.
Eine Anmerkung zur grundsätzlichen Ausrichtung
von Struktur- und Entwicklungspolitik. Sie reden immer nur davon, dass die Wirtschaft es richten soll. Das
ist Ihr Credo. Es wäre ganz schön, wenn Sie in den Ländern, in denen Sie unterwegs sind, genauer hinhören
würden. Auf der Konferenz in Accra hat, wie ich finde,
der ghanaische Präsident etwas sehr Vernünftiges gesagt.
Er hat gesagt: Entwicklungspolitik muss dazu beitragen,
dass in den Ländern administrative Strukturen aufgebaut
werden; diese sind nämlich Voraussetzung dafür, dass
überhaupt ökonomische Strukturen wachsen können.
Das ist die richtige Ausgangsposition. Hier muss Strukturpolitik ansetzen. Administrative, rechtliche, soziale
Infrastruktur muss aufgebaut werden, damit Investitionen in diesen Ländern überhaupt stattfinden können und
sie sich entwickeln können. Schauen Sie sich einmal einen Großteil der Länder an. Glauben Sie, dass es zur Armutsbekämpfung ausreicht, dort ein deutsches mittelständisches Unternehmen anzusiedeln?
({3})
Das ist doch - ich sage es jetzt einmal höflich - völlig
naiv, was da zum Teil geäußert wird.
({4})
Das hat nichts mit verantwortungsbewusster Entwicklungs- und Stukturpolitik zu tun.
Ich denke, da unterscheidet sich grundsätzlich unser
Staatsverständnis. Das sieht man auch an dem, was die
FDP in diesem Land macht. Wir als Sozialdemokraten
haben ein anderes Staatsverständnis, nämlich dass der
Staat verantwortliche Aufgaben im Sinne des Gemeinwesens und der Bevölkerung übernehmen muss, dass er
sie unterstützen und eine Basis bilden muss. Dazu benötigt er auch finanzielle Mittel, damit die entsprechenden
Steuersysteme in manchen Ländern erst einmal aufgebaut werden können. Sie waren ja gerade in Ruanda.
Dort hätten Sie lernen können, was man mit Budgethilfe
beim Aufbau von Staats- und Steuerstrukturen machen
kann, damit das eintritt, was Sie angesprochen haben,
nämlich dass die Länder sich selbst helfen können.
Zusammengefasst kann man zu diesem Haushalt nur
eines sagen: Er ist mutlos, was die Finanzierung anbelangt, uninspiriert, was die Ideen anbelangt, und fantasielos. Ich würde mir die Leidenschaft und das Engagement Ihrer Amtsvorgängerin für die Ärmsten der Armen
auf dieser Erde wünschen. Tragen Sie zur nachhaltigen
Bekämpfung von Armut wirklich bei! Dann haben Sie
unsere Unterstützung. Angesichts dessen, was Sie bis
jetzt vorgelegt haben, ist jede Kritik noch höflich.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kann
man sogar jemanden wie mich, der schon acht Jahre im
Deutschen Bundestag ist, überraschen. 2005, als das
Ende von Rot-Grün da war und die Große Koalition begann, war ich überrascht, wie schnell die Grünen sich
aus der Regierungsverantwortung zurückgezogen haben.
Damals habe ich gedacht, es gehe nicht noch schneller.
Frau Kofler, Sie haben mir das Gegenteil bewiesen: So
schnell wie die SPD hat sich noch keine Partei aus der
Regierungsverantwortung zurückgezogen.
({0})
Sie haben völlig verkannt, wer eigentlich die Verantwortung für die Politik in den letzten Jahren gehabt hat.
({1})
Ich würde gerne einmal versuchen, Ihre Zahlen ins
richtige Licht zu rücken. Wenn man schon mit Zahlen
hantiert, dann muss man aufpassen, dass man richtig damit hantiert. Ich habe mir einmal einige Zahlen heraussuchen lassen: Von 1998 bis 2005 - wenn ich mich recht
erinnere, gab es damals schon die gleiche Ministerin, allerdings mit einer rot-grünen Mehrheit - ist die reale
Zahl im Haushalt, der Anteil des Einzelplans 23, von etwas über 4 auf etwas unter 4 Milliarden Euro gesunken.
Minus 125 Millionen Euro - das ist Ihre rot-grüne Bilanz gewesen. Dass Sie uns vor diesem Hintergrund hier
einen Aufwuchs vorwerfen, finde ich sehr bemerkenswert.
({2})
- Ich habe Ihnen zugehört; vielleicht hören Sie mir auch
einen Moment lang zu. Schreien ist immer ganz wichtig,
wenn man nicht hören will, was andere sagen. Das ist
aber auch eine Frage von Stil und Höflichkeit.
Erst seitdem die CDU/CSU mitregiert, seit der Großen Koalition, hat es den Aufwuchs von etwas unter
4 Milliarden Euro auf die jetzt vorhandenen circa
5,8 Milliarden Euro gegeben. Auch das würde ich gerne
in diesem Zusammenhang einmal festhalten: Der letzte
Haushalt hatte eine ODA-Quote von 0,36 Prozent. Wenn
alles so kommt, wie wir uns das vorstellen, werden wir
eine ODA-Quote von 0,40 Prozent haben. Das ist eine
gewaltige Steigerung gegenüber dem, was Sie zuletzt
vorgelegt haben.
({3})
Natürlich würden wir uns wünschen, dass wir den
Stufenplan einhalten können. Aber man muss - das hat
der Minister zu Recht gesagt - die Dinge im Fokus dessen sehen, was um uns herum geschieht und in welcher
Welt wir leben. Sie wissen ganz genau: Wenn wir die
Quote von 0,51 Prozent erreichen wollten, dann müssten
wir den Einzelplan 23 auf einen Schlag um 3,5 Milliarden Euro aufwachsen lassen. Sie glauben nicht, dass irgendeine Regierung, egal wie sie politisch bestellt ist,
das zu dieser Zeit leisten könnte. Deswegen hören Sie
doch einfach auf mit diesem Unsinn und bleiben bzw.
werden Sie realistisch!
({4})
Ich glaube, dass der Haushalt, den wir heute diskutieren, eine angemessene Reaktion auf die Herausforderungen, die in den kommenden Jahren vor uns liegen, bietet,
und dass er - das ist schon angeklungen - konsequent
das umsetzt, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben.
Ich will mit einem Punkt beginnen, der in der Debatte
sonst häufig unter den Teppich gekehrt wird. Wir sagen,
dass wir mehr für das Engagement der Kirchen und
mehr für das Engagement der politischen Stiftungen
bereitstellen. Das klingt für uns alle so selbstverständlich, aber ich möchte Sie daran erinnern, dass das System der politischen Stiftungen, so wie wir es hier in
Deutschland kennen - mit Auslandsbüros, mit politischer Förderung von Entwicklungszusammenarbeit, mit
Demokratieförderung, mit Verbreitung der Idee der sozialen Marktwirtschaft -, etwas ganz Einzigartiges ist.
Bei allem Streit, den es gibt, sollten wir uns in dem Ziel
einig sein, dass wir diesen Exportschlager, der ein Alleinstellungsmerkmal darstellt, stärken. Das tut dieser
Haushalt in ganz hervorragender Art und Weise.
({5})
Natürlich kommt heute keine Debatte - schon gar
keine entwicklungspolitische Debatte - ohne ein Wort
über Haiti aus. Was wir dort gesehen haben, ist eine Katastrophe selten gekannten Ausmaßes. Man soll nie
Menschenleben gegeneinander aufrechnen. Trotzdem
will ich sagen: Durch den Tsunami wurde eine Region
getroffen, die wesentlich stärker bevölkert ist, als es bei
Haiti der Fall ist. Wenn man die Zahl der Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl vergleicht - in Haiti werden
es 50 000 oder 200 000 Tote sein; ganz genau wird man
das wahrscheinlich nie feststellen können -, dann sieht
man, welche gewaltige Dimension diese Katastrophe
hat.
Ich habe die Debatte den ganzen Tag über verfolgt.
Wenn billig und platt behauptet wird, wir würden zu wenig Geld zur Verfügung stellen, dann muss ich sagen,
dass das an der Realität vorbeigeht. Geld ist nicht das
Problem. Die Frage ist: Wie schaffen wir die Hilfe zu
den Menschen? Gibt es überhaupt eine vernünftige Infrastruktur? Darum müssen wir uns kümmern. Dann
kann man sich immer noch mit der Frage beschäftigen,
ob genügend Geld für die Hilfe vorhanden ist. Meine
These ist: Geld ist wahrscheinlich genügend vorhanden.
Sorgen wir lieber dafür, eine entsprechende Infrastruktur
zu schaffen, damit wir die Hilfe zu den Menschen bringen können.
({6})
Wir können uns auch über die Frage unterhalten - wir
diskutieren hier den Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung -, was eigentlich unsere Aufgabe ist. Unsere Aufgabe fängt gerade erst an. Was wir
im Moment machen, ist Soforthilfe in Form von Katastrophenhilfe und humanitärer Hilfe. Wenn die
schlimmsten Schäden beseitigt sind und die gröbsten
Schwierigkeiten überwunden sind, werden wir irgendwann vor der Situation stehen, dass wir einen Beitrag
dazu leisten müssen, diesem Land wieder eine Chance
zu geben.
Es wird immer sehr viel von Wiederaufbau gesprochen. Aber eigentlich ist es das nicht. Wenn Sie sich
Haiti vor der Katastrophe anschauen, dann können Sie
sehen: Es war ein Land mit extrem schwachen staatlichen Strukturen, mit einer kaum vorhandenen Verwaltung und mit extremen Schwierigkeiten, was fast alle
grundlegenden Aufgaben des täglichen Lebens angeht.
Insofern geht es am Ende darum, dazu beizutragen, dass
Haiti ein Land wird, in dem zukünftig bessere Chancen
existieren als vor der Katastrophe. Das bedeutet, dass
wir vielfältige Unterstützung leisten müssen. Das hat etwas mit Geld zu tun. Aber wir müssen auch unser
Know-how zur Verfügung stellen, zum Beispiel wenn es
darum geht, einigermaßen erdbebensicher zu bauen und
Bebauungspläne so aufzustellen, dass im Falle solcher
Katastrophen, die nicht zu verhindern sind, nicht noch
mehr Menschen sterben.
Die Regierung hat angemessen auf die Herausforderungen reagiert. Es geht aber um viel weitergehende Fragen. Bevor wir uns über die Frage den Kopf zerbrechen,
ob 10, 11 oder 12 Millionen Euro der angemessene Betrag sind - es wird sicherlich wesentlich mehr werden
müssen -, sollten wir uns eher Gedanken darüber machen, wie man Haiti langfristig eine Chance eröffnen
kann. Das ist unsere eigentliche Aufgabe.
({7})
Natürlich kann man keine Debatte, die sich mit Entwicklungszusammenarbeit beschäftigt, führen, ohne
dass man ein Wort über Afghanistan sagt. Dieses
Thema wird uns in der nächsten Woche noch sehr intensiv beschäftigen. Deswegen will ich dieses Thema nicht
weiter ausbreiten. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, die christlich-liberale Koalition,
müssen ihren Auftrag dort sehr ernst nehmen. Wir haben
dafür gesorgt, dass schon in diesem Haushaltsjahr Mittel
für Afghanistan aufwachsen. Wir wollen uns das auch
für die kommenden Jahre vornehmen. Ich halte das für
goldrichtig.
Geld ist auch an dieser Stelle nur ein Teil. Der andere
Teil umfasst die Frage, wie wir genau helfen und was
wir vor Ort wollen. Es gibt ein paar begrenzende Faktoren. Es gibt heute in fast jedem Land, das Truppen nach
Afghanistan sendet, eine Diskussion über die Frage, an
welchem Punkt eine Übergabe in Verantwortung möglich ist. Das macht auch für uns, die wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben, die Dinge ein gutes Stück
weiter vordringlich. Wir wissen nämlich, dass wir nur
ein begrenztes Maß an Zeit haben. Wir wissen, dass unsere Arbeit, auch nachdem die Soldaten abgezogen sind,
noch lange sehr notwendig sein wird.
Deswegen glaube ich, dass neben der Beantwortung
der Frage, wie viel Geld wir dort investieren, es auch
wichtig ist, die richtigen Instrumente zu finden. Das bedeutet, wir müssen noch mehr hinein in die Provinz, und
wir müssen noch mehr aufs Land. Außerdem müssen wir
schauen, dass wir gerade bei einem Land wie Afghanistan, das in Provinzen aufgeteilt ist, das historisch gesehen keine starke Zentralgewalt, sondern nur starke Regionalkräfte kennt, die richtigen Strukturen schaffen und
unsere finanziellen Möglichkeiten konzentrieren. Das
halte ich für mindestens genauso wichtig wie die Frage:
Wofür geben wir ansonsten Geld aus?
Ich will an dieser Stelle eine Anmerkung machen.
Vorhin, bei der Debatte zum Verteidigungsetat, hat es
eine große Rolle gespielt, dass man sich um traumatisierte Bundeswehrangehörige und deren Familien kümmern muss. Ich will nur sagen, dass das zum Beispiel
auch für Angehörige der Polizeikräfte gelten muss, die
wir nach Afghanistan schicken und die dort auch großen
Gefahren ausgesetzt sind. Hier muss dasselbe gelten:
Eine entsprechende Nachsorge muss gewährleistet sein;
denn auch die Polizisten leisten für uns einen wichtigen
Beitrag. Wir sollten uns bei ihnen - wie bei allen, die unter diesen sehr schwierigen Umständen einen wichtigen
Beitrag leisten - recht herzlich bedanken.
({8})
Ein weiteres ausgesprochen wichtiges Thema, das uns
in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen wird, ist
mit der Frage verbunden: Was passiert nach Kopenhagen? Ich glaube, man kann auf jeden Fall ohne große
Übertreibung festhalten, dass die Konferenz in Kopenhagen kein Erfolg gewesen ist. Die Frage ist nur: Welche
Konsequenz ziehen wir daraus? Die Konsequenz kann
nicht sein, zu sagen: Der internationale Prozess ist dann
gescheitert. Er ist nämlich nicht gescheitert. Es gibt, was
Kopenhagen betrifft, klare Abmachungen, die wir einhalten müssen. Wir werden auch in der Entwicklungszusammenarbeit unseren Beitrag leisten müssen.
In der Debatte, die wir vor Kopenhagen geführt haben, ist deutlich geworden, dass an dieser Stelle viel von
der Entwicklungszusammenarbeit abhängt. Der wesentlich größere Teil der Ausgaben für Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern wird tatsächlich von unserem Etat geleistet, nämlich im Umfang von weit über
1 Milliarde Euro. Damit setzen wir ein richtiges Zeichen: Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, indem
wir diesen Bereich aufwachsen lassen. Ich halte es für
richtig und legitim, dass wir hier besonders diejenigen
Entwicklungsländer in den Fokus nehmen, die in Kopenhagen bereit waren, mit uns zu kooperieren. Wir sollten
uns in besonderem Maße in diesen Ländern engagieren.
Wenn nämlich jemand den Willen hat, uns bei der Überwindung des Klimawandels zu helfen, dann sollten wir
ihn nicht bestrafen, sondern ihn dadurch belohnen, dass
wir besonders intensiv zusammenarbeiten.
({9})
Dieser Haushalt wirft im Zusammenhang mit der
Weiterentwicklung unserer Entwicklungspolitik strukturelle Fragen auf, über die wir zu diskutieren haben.
Da geht es zum einen um die Vorfeldreform. Sie ist nicht
ganz einfach; wir haben hier ehrgeizige Ziele. Ich glaube
aber, dass wir die Ziele so setzen, dass wir sie auch erreichen können. Am Ende des Tages steht also nicht das,
was unter der letzten Ministerin passiert ist: Der Prozess
ist am Ende völlig ins Stocken geraten, weil man nicht
versucht hat, die Beteiligten wirklich mitzunehmen. Ich
glaube, das Ziel, eine kleine Vorfeldreform vernünftig
durchzuführen, ist realistisch und kann am Ende des Tages erreicht werden.
({10})
Wir sollten uns nicht an Dingen verheben, für die wir,
wenn wir sie überhaupt irgendwann in Angriff nehmen
wollen, wesentlich mehr Zeit brauchen.
Gerade ist schon die Frage angeklungen: Gibt es
Frontstellungen zwischen Budgethilfe und Projektfinanzierung auf der einen Seite sowie zwischen bilateraler
und multilateraler EZ auf der anderen Seite? Ich halte
das ehrlich gesagt für einigermaßen konstruiert.
({11})
- Das steht nirgendwo im Koalitionsvertrag:
({12})
Nirgendwo steht, dass wir die Budgethilfe abschaffen
wollen und dass wir gegen multilaterale Zusammenarbeit sind. Wir sind nur der Meinung, dass alle Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden
sollten. Man darf also nicht glauben, dass nur internationale, multilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder
nur Budgethilfe richtig ist. Am Ende des Tages ist der
richtige Einsatz von Mitteln vielleicht wichtiger als der
Mittelabfluss. Ich glaube, wir sollten uns allen den Gefallen tun, an dieser Stelle eine ehrliche und vernünftige
Debatte zu führen. Insofern freue ich mich auf die Haushaltsberatungen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Leid der Menschen in Haiti hat uns
alle geschockt - viele Vorredner sind schon darauf eingegangen -, zumal wir vom Entwicklungsausschuss vor
drei Jahren gemeinsam das Land besucht haben und sehr
herzlich und hoffnungsvoll von den Menschen dort empfangen wurden. Es bedrückt einfach noch mehr, wenn
man das Land konkret kennengelernt hat.
In diesem Zusammenhang halte ich es schon für
wichtig, Herr Kollege Haibach, über Zahlen zu sprechen. Die 10 Millionen Euro Soforthilfe sind in unseren
Augen angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, der
großen Spendenbereitschaft in der Bevölkerung und der
Soforthilfe anderer Länder viel zu gering. Wir sehen,
dass die Bundesregierung viel mehr Geld für Krieg und
Zerstörung ausgibt als für Aufbau und Entwicklung.
({0})
Wir haben uns schon vor Tagen dafür ausgesprochen,
dass die Soforthilfe massiv erhöht werden muss.
Es ist auch wichtig, dass wir langfristig zum Wiederaufbau Haitis beitragen. Deshalb setzen wir uns dafür
ein, dass die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit
Haiti, die leider unter Ministerin Wieczorek-Zeul ausgelaufen ist, wieder aufgenommen wird. Wir sind der Meinung, Haiti braucht sofort und für lange Zeit unsere Solidarität.
({1})
Gleichzeitig teilen wir die Kritik der Vereinten Nationen und der amerikanischen Friedensbewegung, die eindringlich an die US-Politik appelliert, dass das jetzige
Machtvakuum Haitis nicht für eine neue Militärpräsenz
missbraucht werden darf. Die Menschen in Haiti brauchen jetzt keine Soldaten, sie brauchen Ärzte und Aufbauhelfer.
({2})
Wir müssen uns natürlich auch die Frage stellen - das
wird viel zu wenig thematisiert -, warum dieses Land so
bitterarm ist. Vor zwei Jahren haben wir die Hungerrevolten in Haiti miterlebt. Wir haben Berichte gehört,
dass Menschen aus Lehm Brot backen, um den Hunger
zu stillen. Diese Armut kommt natürlich nicht von ungefähr. Sie ist die Folge jahrhundertelanger Kolonialpolitik, die sich bis heute auswirkt, und auch die Folge von
imperialer Politik, die mit Hilfe zahlreicher US-Militärinterventionen und der Unterstützung brutaler Diktaturen betrieben wurde. Auch eine neoliberale Freihandelspolitik wurde in Haiti angewandt.
({3})
Es wurde eine Marktöffnung erzwungen und die Existenz zahlreicher Kleinbauern zerstört, die jetzt von Nahrungsmittelhilfen abhängig sind. Die bittere Armut hat
die Menschen dazu getrieben, fast den gesamten Waldbestand in Haiti abzuholzen, was katastrophale ökologische und klimatische Folgen für die gesamte Karibik hat.
Diese Entwicklung erleben wir in vielen Ländern des
Südens. Armut und Elend wachsen weltweit. Mehr als
1 Milliarde Menschen hungern. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung,
spricht in diesem Zusammenhang von einem „Imperium
der Schande“. Wer ernsthaft Hunger, Armut und Umweltzerstörung bekämpfen will, der braucht nicht, Herr
Niebel, die Stärkung der deutschen Privatwirtschaft.
Vielmehr müssen wir uns für ein anderes Weltwirtschaftssystem einsetzen und uns gegen Militäreinsätze,
die für Wirtschafts- und Rohstoffinteressen geführt werden, wehren.
({4})
Genau dasselbe erleben wir in Afghanistan. Nach
bald neun Jahren sogenannter Aufbauhilfe,
({5})
sprich: Besatzung und Krieg, ist dieses Land das viertärmste Land der Erde. Deshalb muss das Jahr 2010 zum
Jahr des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan gemacht werden.
({6})
Wir wollen die jährlichen Ausgaben des Bundeswehreinsatzes in den zivilen Aufbau umwidmen. Die Bundesregierung gibt nach wie vor viermal mehr für das Militär
als für den zivilen Aufbau aus.
({7})
Herr Niebel, wir teilen auch die Kritik zahlreicher
Entwicklungsorganisationen an Ihrem Vorhaben, die
Vergabe von Entwicklungsgeldern in Afghanistan zukünftig an eine enge Kooperation mit der Bundeswehr
vor Ort zu koppeln. Das lehnen wir ganz klar ab.
({8})
Auch Ihre Äußerung, dass die Bundeswehr in Afghanistan noch eine ganze Zeit lang zivil flankiert werden
muss, zeigt deutlich: Sie sehen die Hilfsorganisationen
als Teil der militärischen Strategie der NATO. Das lehnen wir ab. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen
Zusammenarbeit.
({9})
Während die deutschen Rüstungsausgaben für zukünftige Militärinterventionen weiter steigen - davon
wurde heute auch gesprochen - und Milliardenbeträge
für Banken bereitgestellt werden, schafft es die Bundesregierung in diesem Jahr nicht - und das ist Fakt -, das
Minimalziel, einen Anteil von 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsausgaben bereitzustellen, einzuhalten. Sie schaffen es nicht. Sie zahlen
nicht die zugesagten 200 Millionen Euro in den GlobaHeike Hänsel
len Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten ein. Sie
sparen im Bereich Klimaschutzbekämpfung an dem Anpassungsfonds. Überall gibt es zu wenig Geld, aber bei
Rüstung und militärischen Investitionen haben Sie einen
Aufwuchs. Das lehnen wir ganz klar ab.
({10})
Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer einführen.
Wir wollen sämtliche Rüstungsprojekte streichen. Dann
gäbe es genügend Geld für die Bekämpfung von Krankheiten. Es gäbe genügend Geld für den Klimaschutz, übrigens auch für den Zivilen Friedensdienst, der nach wie
vor ein Nischendasein fristet. Wir wollen ihn zu einem
zentralen Instrument der Außenpolitik ausbauen. Der Zivile Friedensdienst braucht eine Zukunft. Damit wäre
auch er finanzierbar.
({11})
Herr Niebel, abschließend möchte ich Ihnen gerne
noch sagen: Sie wollen nicht, dass das Entwicklungshilfeministerium zum Weltsozialamt wird. Wir hingegen
wollen nicht, dass dieses Ministerium zum Selbstbedienungsladen für Wirtschaftslobbyisten wird.
({12})
In diesem Zusammenhang sage ich - das gilt auch für
die Kollegen von der CSU -: Setzen Sie ein Zeichen.
Spenden Sie die Gelder, die Sie von der Hotellobby bekommen haben, für Haiti. Das wäre ein deutliches Zeichen. Damit könnten Sie zeigen, dass Sie es ernst meinen mit dem Wiederaufbau in Haiti.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom
Bündnis 90/Die Grünen, dem ich zu seinem heutigen
52. Geburtstag gratuliere.
({0})
Herr Präsident, danke schön für die Glückwünsche. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in diesen
Haushaltsdebatten immer gewisse Rituale, die sich ständig wiederholen, allerdings mit wechselnder Rollenverteilung. Ich erlebe dieses Stück jetzt in der dritten Fassung. Mal spielten Rote und Grüne die Regierungsrolle,
dann Rote und Schwarze und jetzt Schwarze und Gelbe.
Die, die zusammen die Regierungsrolle spielen, stellen
sich hier hin und sagen: Seht, wie toll wir sind. Dann
kommen die anderen und sagen: Das stimmt doch gar
nicht, ihr macht viel zu wenig und gebt viel zu wenig
Geld für die Ärmsten der Armen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie
heute einmal ermutigen, dieses alte Rollenspiel zu verlassen und ehrlich miteinander umzugehen. Wer ehrlich
ist, der muss auch zur Selbstkritik bereit sein. Was würde
ein ehrlicher, aufgeklärter Politiker aus Afrika, Bangladesch oder Bolivien sagen, wenn er uns heute zuhören
würde, wenn er unsere Rituale in den Haushaltsdebatten
beobachten würde? Ich glaube, er würde mit dem Kopf
schütteln und sagen: Ihr habt sie nicht mehr alle. Und in
der Tat haben wir sie nicht alle. Wir haben nicht alle
Euros zusammenbekommen. Wir haben nie die Euros
zusammenbekommen, die immer wieder von allen versprochen wurden.
({0})
Unser Gast würde uns daran erinnern, dass im Deutschen Bundestag schon zur Zeit von Willy Brandt vom
0,7-Prozent-Ziel gesprochen wurde. Jeder betont die
Wichtigkeit dieses Versprechens, dieses Ziels, 0,7 Prozent vom Bruttonationaleinkommen für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu
stellen. Regelmäßig kommen dann die Haushaltsberatungen. Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir die
Hosen runterlassen und sagen - das wäre ganz offensichtlich -, dass nichts eingehalten wird und niemals eingehalten wurde von dem, was versprochen wurde. Das
ist zu meinem großen Bedauern auch unter Rot-Grün so
gewesen. Das war unter Schwarz-Rot so, und heute, unter Schwarz-Gelb, erleben wir das Gleiche wieder.
Auch das gehört zu dem Ritual: Man hört die abenteuerlichste Argumentationsakrobatik, mit der das Brechen von Versprechen, das Nichteinhalten von Zusagen
schöngeredet werden soll. Das haben wir auch heute
wieder erlebt. Da wird mit ernster Miene auf die schwierige Haushaltslage und auf die Wirtschaftskrise verwiesen. Da wird sogar eine klitzekleine Steigerung - weit
weniger als das, was eigentlich hätte sein müssen - als
Erfolg verkauft. Der Verweis auf die Kasse, auf die Wirtschaftslage ist aber eine faule Ausrede; denn es geht
nicht um einen Fixbetrag, sondern um einen Anteil von
0,51 Prozent, der jetzt hätte eingestellt werden müssen,
der zugesagt war. 0,7 Prozent sollen das 2015 sein. Ein
Anteil ist ein Anteil ist ein Anteil. Er wird größer oder
kleiner, je nachdem wie stark die Wirtschaftskraft ist.
Wir hätten erwartet, dass es eine Lücke von 3 Milliarden
Euro wird. Aufgrund der gesunkenen Wirtschaftszahlen
beträgt die Lücke jetzt 2,2 Milliarden Euro. Also machen Sie bitte keinen Hinweis auf die Wirtschaftskraft;
denn es ist ein flexibler Anteil.
Dann gibt es immer folgendes Argument - auch heute
war es wieder bei einigen Rednern zu hören -: Meine
Herren, lassen Sie uns doch realistisch bleiben - dann
kommt also Realismus ins Spiel -, 0,51 Prozent, da
fehlten einfach noch 2,2 Milliarden Euro. Das sei einfach nicht zu schaffen. Das sei doch unrealistisch. Welch
ein Blödsinn. Erinnern wir uns doch daran, welche Summen im letzten und vorletzten Jahr plötzlich realistisch
wurden. Ich meine jetzt nicht Bürgschaften in dreistelliger Milliardenhöhe. Ich greife ein Beispiel von vielen
heraus. Hopplahopp, praktisch über Nacht wurden
5 Milliarden Euro für ein zweifelhaftes Projekt, eine Prämie für das vorzeitige Wegwerfen von Autos, bereitgestellt. Das alles ist plötzlich realistisch.
({1})
Aber in der Entwicklungsdebatte fordern Sie: Lassen Sie
uns doch bitte realistisch bleiben.
In Ihrer Rede hat die Kanzlerin viel von Moral gesprochen und das 0,7-Prozent-Ziel erneut bekräftigt.
Aber wenn ich die Kanzlerin jetzt wörtlich nehme, was
ich gerne tun will, und mir dann diesen Haushaltsentwurf ansehe - Sie haben gehört, dass ich genauso Kritik
an den Haushaltsentwürfen von Rot-Grün und der Großen Koalition geübt habe -, dann muss ich diesen Haushaltsentwurf als unmoralisch bezeichnen.
({2})
Ich weiß, dass die Ministerin und viele engagierte
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
in jeder Haushaltsrunde aufrecht und ernsthaft für mehr
Geld für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre
Hilfe gekämpft haben. Aber zur nüchternen Betrachtung
gehört auch, dass die anderen, der Finanzminister und
die Haushälter, in ihrer Mehrheit jedes Mal stärker waren und die Debatte dominiert haben. Daher ist die Verpflichtung nie erfüllt worden. Ich glaube, wir sollten so
ehrlich sein, uns gegenseitig zuzugestehen, dass das so
ist. Was soll die Erbsenzählerei, die wir heute wieder erlebt haben, welche Koalition etwas mehr oder weniger
doll die Versprechen gebrochen hat? Insgesamt können
auch Mathematiker und gute Rhetoriker nicht darüber
hinwegtäuschen: Nie ist das Ziel eingehalten worden.
Jetzt kann man nicht mehr sagen, dass man Hoffnung
habe, diesmal konnte man es noch nicht schaffen, aber
man werde irgendwann den großen Endspurt beginnen
und dann ganz viel nachliefern. Das ist jetzt wirklich
vorbei. Jetzt ist Schluss mit lustig. Wir haben das Jahr
2010. Im Rahmen der Europäischen Union ist versprochen worden, in diesem Jahr 0,51 Prozent in den Haushalt einzustellen; 2,2 Milliarden Euro fehlen einfach.
Darüber kann man nicht hinwegtäuschen.
Wir haben uns die Mühe gemacht - mit ganz vielen
Telefonaten, mit ganz viel Fleißarbeit -, in Absprache
mit den Haushältern einen Haushaltsentwurf vorzulegen, der genau diese 2,2 Milliarden Euro, die fehlen, enthält. Jetzt gibt es natürlich die große Debatte über Quantität und Qualität. Wir wollen keine Luftbuchungen, wie
sie manche hier machen, keine rein ideologischen Zahlen, die man gar nicht umsetzen kann. Wir haben vielmehr bei der GTZ, bei der KfW, im bilateralen und multilateralen Bereich nachgefragt. Daher können wir jetzt
Titel für Titel einen Haushalt präsentieren, der sehr realistisch ist, wo wir Geld in die Hand nehmen, das wirklich absorbiert und umgesetzt werden kann, und den
Ärmsten der Armen helfen können.
Aber - das will ich auch sagen - ein solcher Haushalt
lässt sich bei Festhalten an der anachronistischen, veralteten Zweidrittel/Eindrittel-Regel nicht realistisch darstellen.
({3})
Diese Regel, die in den 90er-Jahren von den Haushältern
vereinbart wurde - es ist ja kein Gesetz -, sieht vor, dass
die bilateralen, also unsere deutschen Institutionen, immer doppelt so viel Geld bekommen sollen wie alle internationalen Organisationen zusammen. Wir werden in den
Einzelberatungen einen Entwurf vorlegen, der beides
macht, der sowohl die Gelder für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit steigert, GTZ, KfW, Kirchen, Stiftungen und NGOs, als auch kräftige Erhöhungen der Mittel für die internationalen Organisationen vorsieht.
Die Schwerpunkte sind: Klima - natürlich, das haben
viele Vorredner schon gesagt -, ländliche Entwicklung
und Hungerbekämpfung. Die Zahl der Hungernden - ich
habe das oft genug gesagt - steigt und hat eine historische Rekordmarke erreicht. Außerdem fließt mehr Geld
in Bildung und Gesundheit. Zwei Länderschwerpunkte
sind Afghanistan und aufgrund der traurigen aktuellen
Nachrichten natürlich auch Haiti; für Haiti sollte es, ähnlich wie nach der Tsunamikatastrophe, einen Sondertitel
geben.
({4})
Natürlich wird immer auch die große Frage nach dem
Realismus gestellt: Können Sie das gegenfinanzieren? Wir
haben sehr detaillierte Gegenfinanzierungsvorschläge gemacht. Dazu gehören die Flugticketabgabe - sie macht
allerdings nur einen kleinen Betrag aus -, die Finanztransaktionsteuer und die Streichung klimaschädlicher
Subventionen. Es ist auch eine Summe genannt worden:
Wenn man die Steuergeschenke für Hoteliers rückgängig
macht, dann hätte man schon die Hälfte der fehlenden
2,2 Milliarden Euro beisammen.
({5})
Um die ODA-Quote zu erreichen, soll es nicht nur im
Einzelplan 23, also beim Entwicklungsministerium, Steigerungen geben, sondern auch in vielen anderen Ressorts.
Ich greife ein Ressort heraus: das Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Hier
sollen die Kooperation mit der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, der FAO, und insbesondere
die Reform des Komitees zur Ernährungssicherung ausgebaut werden. Auch in diesem Bereich soll es kräftige
Aufwüchse geben.
Ich freue mich, dass auch die SPD einen Plan vorlegen will, der das 0,51-Prozent-Versprechen ernst nimmt.
({6})
Ich bitte Sie allerdings, Selbstkritik zu üben, wie auch
wir es tun. Auch der Haushaltsentwurf, der noch von
Peer Steinbrück vorlegt wurde, hätte die 0,51-Prozent-Messlatte ganz klar gerissen.
({7})
Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, jetzt nicht einfach ganz
schnell die Rollen zu tauschen. Wir haben unsere Hausaufgaben bisher allesamt nicht erledigt. Jetzt stehen wir
vor der großen Aufgabe, endlich ehrlich zu sein und
diese Aufgaben gemeinsam anzupacken.
Den geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der
jetzigen Koalition sage ich: Viele von Ihnen habe ich als
ehrliche Streiter für die Entwicklungspolitik erlebt. Angesichts des vorliegenden Haushaltsentwurfs fordere ich
Sie auf, jetzt ehrlich zu sein. Ich glaube, dass viele von
Ihnen es lieber gehabt hätten, wenn ein Haushaltsentwurf vorgelegt worden wäre, der das 0,51-Prozent-Ziel
erreicht. Wir zeigen Ihnen, dass das geht.
Ich fordere Sie auch auf, jetzt nicht den vorgegebenen
Argumentationsmustern zu folgen, sondern Rückgrat zu
beweisen und mit uns gemeinsam parteiübergreifend
kräftige Nachbesserungen zu fordern, sodass wir gemeinsam einen Haushalt erarbeiten können, den wir einem aufgeklärten Entwicklungspolitiker oder einem
Politiker aus Afrika, Bangladesch oder Bolivien vorlegen könnten, ohne rot werden zu müssen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Hoppe, ich bin mit Ihnen nicht in allen
Punkten einer Meinung. Trotzdem fand ich Ihre Rede
bemerkenswert. Wenn man will, dass die Fraktionen in
Sachen Entwicklungshilfe zusammenarbeiten, war das,
was Sie sagten, ein guter Ansatz, um zumindest miteinander ins Gespräch zu kommen. Unsere Einladung
richtet sich auf jeden Fall auch an Ihre Fraktion. Natürlich wissen wir, dass es auch genügend Sozialdemokraten gibt, die ein Interesse an diesem Thema haben und
nicht mit Schaum vor dem Mund hier stehen, wie wir es
heute erlebt haben,
({0})
sondern sachlich argumentieren wollen.
Sie haben natürlich recht: Wir sind in der Vergangenheit bei jeder Haushaltsberatung unzufrieden gewesen;
das ist ganz klar.
({1})
- Liebe Kollegin, versuchen Sie einmal, zwei Minuten
keine Zwischenrufe zu machen, damit ich ein paar Ideen
vortragen kann, mit denen Sie sich dann auseinandersetzen können. Schließlich will ich auch auf Ihre Rede eingehen. Ich habe nämlich zumindest versucht, Ihnen zuzuhören. - Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört
die Feststellung - hier hat der Kollege Hoppe recht -,
dass die ODA-Quote im Jahre 2009 bei 0,36 lag.
({2})
Das werfe ich niemandem vor.
({3})
- Ich wiederhole: Das ist kein Vorwurf.
({4})
- Zu Ihnen komme ich gleich noch, Herr Kollege.
({5})
Ich will Ihnen ganz klar sagen - da drücken wir uns
nicht -: Wir mussten uns in den Koalitionsverhandlungen entscheiden: Soll dieses Ministerium erhalten bleiben oder muss es aufgelöst werden? Darüber hat es eine
Diskussion gegeben, auch in meiner Fraktion.
({6})
- Frau Kollegin, geben Sie mir doch die Chance, meine
Ausführungen zu machen. Normalerweise wird hier eine
Rede gehalten, und Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Es ging darum - ich sage das in aller Deutlichkeit -, dass dieses Ministerium zum Schluss
ein Marionettenministerium war, das innerhalb der Regierung kaum noch Einfluss hatte. In diesem Ministerium wurde viel Geld hin und her geschoben. Ein Teil
davon versickerte in bürokratischen Strukturen.
({7})
- Dazu sagt die SPD natürlich nichts.
Das ist übrigens nicht nur die Meinung eines Freien
Demokraten, es war die taz, die im September letzten
Jahres unter der Überschrift „Das Marionetten-Ministerium“ schrieb, dass die Sozialdemokraten mit der
Reform der Entwicklungshilfe gescheitert seien. Ich
schließe mich dieser Meinung an. Ich stelle Ihnen gerne
den gesamten Artikel zur Verfügung; er ist sehr interessant zu lesen. Was musste man erfahren? In diesem Ministerium kontrollierte zum Schluss jeder jeden, und
manche spielten sich zu Kleinministern auf. Am Ende
einigte man sich in diesem Ministerium: Wir kontrollieren auf jeden Fall mit aller Macht und mit viel Geld die
GTZ. Überhaupt keine Zusammenarbeit gab es mit dem
Auswärtigen Amt.
Endlich gibt es wieder eine vernünftige Zusammenarbeit mit dem Außenministerium. Das hat teilweise die
Kritik der Sozialdemokraten bewirkt. Ich fand es übrigens unfair: Minister Niebel war noch nicht im Amt,
hatte noch nicht auf seinem Stuhl Platz genommen, da
haben Sie ihn schon kritisiert.
({8})
- Ich verstehe die Aufregung nicht. Ich kann nur sagen:
Sie haben es geschafft. Dieses Ministerium - das ist
auch unser Ziel gewesen - ist kräftig aufgewertet worden, und es gibt eine gute Zusammenarbeit mit dem
Auswärtigen Amt.
({9})
Auf einen Aspekt lege ich Wert: In der Bezeichnung
des Ministeriums heißt es nicht nur „Entwicklungshilfe“,
sondern auch „wirtschaftliche Zusammenarbeit“. Ich
lege auch auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit Wert;
das ist richtig so, und dabei bleibt es auch.
({10})
- Haben Sie einen zu hohen Blutdruck? Ich weiß nicht,
warum Sie die ganze Zeit dazwischenrufen.
({11})
Ich will mit einem Lob beginnen. Ich will die ehemalige Ministerin Wieczorek-Zeul in einem Punkt ausdrücklich loben, und zwar für ihr Engagement im
Kongo. Ich weiß aus vielen persönlichen Gesprächen,
dass sie sich dort persönlich engagiert hat. Ich finde es
gut, dass der neue Minister, Dirk Niebel, das fortsetzt
und in den Kongo gefahren ist. Das ist - bei allem, was
uns unterscheidet - Kontinuität, wie ich sie mir wünsche.
Erlauben Sie mir einige Bemerkungen als Haushälter.
Wir haben in der letzten Legislatur erlebt, dass sehr viel
Länderbudgethilfe gewährt wurde. Länderbudgethilfe
taucht auch jetzt wieder als Forderung auf. Als Haushälter habe ich allerdings zu berücksichtigen, dass der Bundesrechnungshof die Budgethilfe heftig kritisiert hat.
Das kann das Parlament nicht einfach abtun. Lesen Sie
den Bericht! Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen;
sonst würden Sie nicht den Kopf schütteln. Ich bin ganz
klar für Projektförderung - das machen wir, niemandem
wird etwas weggenommen -; Budgethilfe, die nicht kontrollierbar ist, müssen wir aber einstellen, weil der Bundesrechnungshof das von uns fordert.
({12})
Man sollte nicht immer sagen: Wir müssen draufsatteln, hier fehlt dieses, und da fehlt jenes. Ich wünsche
mir manchmal, dass wir als Haushälter, aber auch Sie als
Fachpolitiker mehr darauf achten, ob die Mittel effektiv
eingesetzt werden.
({13})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nehmen Sie - das Haus
weiß, dass ich da persönlich engagiert bin, dass das ein
Steckenpferd von mir ist - die Asiatische Entwicklungsbank. Ich kann nicht einsehen, dass wir viel Geld für
diese Bank bereitstellen, wenn von denen fast das ganze
Budget von Kambodscha bezahlt wird, wo die Opposition, wo die Demokratie unterdrückt wird. Ich bin nicht
mehr bereit, aus deutschen Steuergeldern Mittel zur Verfügung zu stellen. Man muss mit den Leuten reden und
ihnen sagen: Schluss, aus, Geld gibt es erst wieder, wenn
bei euch ein bisschen mehr Demokratie herrscht, wenn
die Opposition auch zu Wort kommt.
({14})
Ein anderer Punkt, den wir uns genau anschauen werden, ist der Freiwilligendienst „weltwärts“. „weltwärts“ - das habe ich immer kritisiert - ist der einzige
Freiwilligendienst, bei dem man weder sozial- noch rentenversichert ist.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Sascha Raabe?
Ich nehme die Zwischenfrage gerne an, weil sie
meine Redezeit verlängert, die sonst zu Ende geht.
Bitte schön, Herr Raabe.
Sehr geehrter Herr Kollege Koppelin, die Unruhe, die
Sie bemängeln, kommt daher, dass Sie in Ihrer Rede so
viele Unwahrheiten gesagt haben, dass ich sie in dieser
Zwischenfrage gar nicht alle aufzählen kann. Ich will
nur drei nennen:
Erstens. Sie haben behauptet, Deutschlands ODAQuote für 2009 liege bei 0,36. Sie müssten wissen, dass
die ODA-Quote im Nachhinein errechnet wird: Der entsprechende Ausschuss der OECD, der DAC, muss erst
feststellen, was 2009 tatsächlich ausgegeben worden ist.
Vorher kann die ODA-Quote nicht ermittelt werden. Sie
können also noch gar nicht wissen, wie hoch die ODAQuote für 2009 ist.
Zweitens ist es so, dass wir erwarten, dass die ODAQuote für 2009 bei 0,41 liegt. Bevor Helmut Kohl regiert
hat, lag die ODA-Quote bei 0,47. Das ist heruntergewirtschaftet worden auf 0,26 im Jahr 1998. Unter Heidi
Wieczorek-Zeul haben wir die ODA-Quote von
0,26 wieder auf fast 0,41 gesteigert. Wir hätten es gern
weitergemacht; aber nun haben Sie uns mit Ihrem Haushaltsentwurf etwas vorgelegt, mit dem Sie das Versprechen brechen.
Zweiter Punkt: Sie sagten, das Bundesministerium
habe bei uns nicht Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geheißen, sondern nur Bundesministerium für Entwicklung. Sie können nicht so tun,
als heiße es jetzt durch die FDP auf einmal Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dies
war auch bei uns schon so.
Dritter Punkt: Wir sind natürlich verwundert, wenn
Sie sagen, sie wollen die Budgethilfe einstellen, weil der
Bundesrechnungshof fordere, dass sie eingestellt werden
müsse. Das ist schlicht gelogen. Der Bundesrechnungshof sagt nicht, dass überall, wo sich Deutschland an
Budgethilfe beteiligt - multilateral, auf EU-Ebene, auf
UN-Ebene -, die Budgethilfe eingestellt werden müsse.
Sie können hier doch nicht eine Rede halten, in der Sie
dem Bundesrechnungshof etwas unterstellen, was er
nicht gesagt hat.
Ich muss übrigens keine Frage stellen. Sie sollten sich
einmal die Geschäftsordnung anschauen. Dann werden
Sie sehen, dass ich hier auch Lügen richtigstellen darf.
Wenn Sie hier einen solchen Unsinn erzählen, dann kann
es einen nicht mehr auf dem Platz halten.
({0})
Dann sollten Sie sich auch nicht darüber wundern, wenn
man sich darüber aufregt. Wenn Sie an einer sachlichen
Diskussion interessiert sind, dann bleiben Sie bitte sachlich und bei der Wahrheit, Herr Koppelin.
({1})
Herr Kollege, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar
für Ihre Fragen. - Habe ich Ihre Aufmerksamkeit? Ich
wollte Ihnen gern antworten. Aber es ist schon genau das
Problem, wie Sie sich heute geben: Sie können nicht einmal zuhören. Sie stellen Fragen, können vielleicht aber
nicht die Antwort ertragen.
Herr Kollege, ich bin ausgesprochen dankbar für
diese Fragen, weil es erstens mein Urteil über Sie und
Ihre bisherige Politik voll bestätigt hat, was Sie in Ihren
Fragen zum Ausdruck gebracht haben. Ich fange mit der
Budgethilfe an.
({0})
- Hören Sie doch einfach zu!
Ich habe mich als Berichterstatter für den Einzelplan 23 im Haushaltsausschuss wirklich oft - nicht nur
einmal und auch in Sondersitzungen - mit den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen zusammensetzen
müssen, weil das Thema Budgethilfe eine große Rolle
gespielt hat. Zum Schluss gab es sogar das Problem,
dass die Union die Budgethilfe für Vietnam nicht wollte,
während Sie sie wollten. Ich habe so viele Sitzungen
dazu gehabt, dass ich diesen Bericht fast auswendig
kenne. Werfen Sie mir also bitte nicht vor, ich behauptete hier Falsches. Sie haben anscheinend den Bericht
nie gelesen. Ich stelle ihn Ihnen aber gerne zur Verfügung.
({1})
Was die ODA-Abschlussquote angeht, habe ich Ihnen hier meine Meinung gesagt; Sie vertreten eine andere. Ich mache den Vorschlag, dass ich mich mit Ihnen
darüber nicht streite. Wenn die endgültigen Zahlen da
sein werden, werden wir sehen, wer in der Sache recht
hatte.
Die dritte Frage habe ich vergessen. Sie dürfen sie
gern wiederholen. Aber sicherlich war sie auch nicht so
bedeutend.
({2})
Budgethilfe ist klar. Wir wollen sie effektiv einsetzen.
Nun nenne ich aus Zeitgründen nur noch einen Punkt,
Herr Minister, der mir persönlich ebenfalls wichtig ist.
Ich bitte Sie, dies sehr intensiv zu verfolgen. Die aktuelle
Finanz- und Konjunkturkrise hat dazu geführt, dass es
auch in den Entwicklungsländern erhebliche Probleme
gibt. Nicht die Entwicklungsländer haben die Probleme
verursacht, sondern sie sind woanders entstanden, auch
bei uns. Diese Länder dürfen nicht darunter leiden. Die
Folgen müssen mit unserer Hilfe gelindert werden.
Zu Afghanistan ist in der außenpolitischen Debatte
schon etwas gesagt worden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Dieses
Ministerium hat in den letzten Tagen wirklich viel Öffentlichkeit erlebt, nicht zuletzt durch die massive Kritik
der Sozialdemokraten. Dies hat uns geholfen. Also kritisieren Sie in dieser Form weiter! Wir werden unseren
Kurs weiter verfolgen. Ich bin Minister Niebel und der
Staatssekretärin, der Kollegin Kopp, ausgesprochen
dankbar, dass sie dieses Ministerium aufgewertet haben,
sodass es in der Öffentlichkeit endlich wieder eine Rolle
spielt.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Zunächst
mache ich eine Bemerkung zu der Debatte, die eben
Herr Koppelin und zuvor schon Dirk Niebel angestoßen
haben. Ich glaube, dass nur sehr schwache Amtsinhaber
dadurch stärker erscheinen wollen, dass sie ihre Vorgänger persönlich schlechtmachen. Das ist kein guter Stil,
und dies trägt auch ein bisschen zu dem Aggressionspotenzial bei, das man eben spüren konnte.
({0})
Ich nehme ein Stichwort auf, das Thilo Hoppe benutzt
hat und das auch ich gern benutze: das Ritual, das eigentlich niemand versteht, und das Maß der Selbstkritik.
Ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Aber es geht
noch um einen anderen Begriff: das Maß der Anstrengung, mit der man seine Ziele erreicht. Das Maß der An1344
Lothar Binding ({1})
strengung ist, wie man zeigen kann, in Bezug auf unser
ganz konkretes Ziel einer ODA-Quote von 0,7 Prozent
in Deutschland sehr unterschiedlich. Auf dieses Maß der
Anstrengung werde ich nachher zurückkommen.
Ich war gestern bei Amnesty International. Da gab es
eine Ausstellung von Bildern, die in Slums, in Favelas
gemacht wurden. Sie wurden dreidimensional aufgebaut.
Es ging dabei weniger um Armut an sich, weniger um
Lebens- und Wohnverhältnisse, als vielmehr darum, wie
es eigentlich Menschen gelingen kann, ihre Würde zu
wahren, obwohl sie so arm sind. Das gelingt sehr vielen
sehr gut.
Der Würdebegriff spielt in diesem Einzelplan eine
ganz besondere Rolle. Dabei geht es, wie ich meine,
auch sehr stark um Symbole, um Verhalten. Jetzt will ich
eine kleine paradoxe Intervention vorführen. Dass unser
Entwicklungsminister mit einem solchen Käppi, wie ich
es mir jetzt aufsetze, die Armen besucht - - Ich halte es
nicht lange aus; es ist auch nicht eingetragen.
({2})
- Sie kennen sich da gut aus. Ich bin Zivildienstleistender im Krankenhaus gewesen. Ich musste es extra neu
beschaffen. - Was ich sagen wollte, ist einfach Folgendes: Wer diesen Würdebegriff ernst nimmt, muss sich so
etwas überlegen. Ich habe es dem Minister übel genommen, dass er in dieser Form in anderen Ländern aufgetaucht ist und uns dort so repräsentiert hat. Darüber war
ich sehr enttäuscht.
({3})
Das führt uns zu einem bestimmten Selbstverständnis. In der Rhein-Neckar-Zeitung - das ist die Zeitung,
die in dem Wahlkreis wichtig ist, in dem Herr Dirk
Niebel früher zu Hause war - habe ich am 19. Januar
Folgendes gelesen -:
Wenn es jemand hinkriegt, dieses Amt so neu aufzustellen, dass es seinem Namen gerecht wird, dann
ich.
({4})
- Das habe ich mir gedacht. Ich glaube, dass es genau
dieses Verständnis ist, das uns irritiert.
Nehmen wir einfach einmal ein Beispiel: Im November hat Kollege Niebel forsch 300 Millionen Euro für
das Ministerium gefordert. Es wurden dann schließlich
44 oder 67 Millionen Euro; wie viel genau, ist egal, jedenfalls sehr wenig.
({5})
Das heißt, die Forderung war schon fast um den Faktor
zehn zu niedrig. Das Ergebnis war fast um den Faktor 40
zu niedrig. Aber wen wundert’s? Wer etwas Falsches
fordert, kann keine richtigen Ergebnisse zeitigen.
({6})
Von dem Auf und Ab für den GFATM haben wir
schon gehört. 200 Millionen Euro sollten es sein. Im
Entwurf stehen viel weniger Mittel. Dann gab es in der
Öffentlichkeit ein Hin und Her. Vom Ministerium wurde
erklärt, warum die 142 Millionen Euro doch korrekt
seien. Anschließend haben wir in der Presse gehört, dass
es doch 200 Millionen Euro hätten sein sollen und auch
sein werden. Daran sieht man schon, dass auch mit dem
Parlament bestimmte Dinge über die Öffentlichkeit ausgetragen werden. Ich glaube, dass man Empfängern von
Leistungen solche Wechselbäder nicht über die Presse
zumuten kann.
({7})
Schauen wir einmal genauer darauf, was dieser Begriff „liberaler Haushalt“ eigentlich bedeutet! Sie von
der FDP haben immer eine Geheimwaffe gehabt, mit der
sie uns jährlich gequält haben - dicker als diese paar
Blätter hier. Das war das „Sparbuch“ der FDP. Es war
4 Zentimeter dick, hatte 1 000 Seiten. Es war meist keine
geheime Verschlusssache, wurde hier aber nie vorgetragen.
({8})
- Ich habe es immer gelesen.
Die Einsparungen, die dort vorgeschlagen wurden,
suchen wir in diesem Haushalt allerdings vergeblich.
Jetzt vergleiche ich nicht die neue Regierung mit der alten, sondern ich vergleiche die FDP-Vorstellungen von
gestern mit den FDP-Handlungen von heute, und das ist
erlaubt. Das haben Sie bei uns auch gemacht. Das halte
ich für legitim.
({9})
Minus 125 000 Euro bei den Bezügen für Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre.
({10})
Fehlanzeige! Davon kann man nicht viel finden, genau
genommen gar nichts.
({11})
Minus 500 000 Euro bei der Öffentlichkeitsarbeit. Diese Streichung hätten wir uns gewünscht. Das war
eine super Idee, gegen die ich immer war. Aber diesmal
ist davon nichts zu finden.
Minus 675 000 Euro bei Information und Kommunikation. - Da wird ein bisschen gekürzt, aber bei weitem
keine 675 000 Euro.
Herr Kollege Binding, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Im Moment möchte ich noch vortragen, weil das so
eine schöne Liste ist. Ich glaube, dass es geschickter ist,
wenn ich die erst einmal zu Ende führe.
Minus 105 Millionen Euro für das Integrierte Klimaund Energieprogramm: Fehlanzeige. Das habe ich im
Haushalt nicht gefunden. Sie klären mich sicherlich
nachher auf.
Minus 600 000 Euro für die Überprüfung der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Auch
dazu habe ich nichts gefunden.
Minus 1,5 Millionen Euro für die Forschung. Im
Haushalt finde ich nichts.
Minus 4 Millionen Euro für die entwicklungspolitische Bildung. Darüber haben wir uns immer sehr aufgeregt. Im Haushalt finde ich nichts - was ich heute gut
finde. Aber gemessen an dem, was sich die FDP vorgenommen hat, ist das nichts.
Jetzt komme ich zu zwei interessanten Punkten: Minus 2 Millionen Euro für die Förderung entwicklungswichtiger Vorhaben privater deutscher Träger. Was aber
finden wir im jetzigen Haushalt? Plus 10 Millionen
Euro. Das ist interessant. Was hat diesen Wandel induziert?
Minus 30 Millionen Euro für den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst. Als Begründung hieß es, dass
das nicht Sache des Bundes sei. Gott sei Dank hat es sich
inzwischen bis zum Minister herumgesprochen, dass
man diese Kürzung nicht vornehmen sollte.
Ich komme zur ODA-Quote und zu einem Stichwort,
das vorhin genannt wurde.
Wir machen es am Ende meiner Rede. Das ist besser
für meinen Redefluss.
Nein, das gehört in die Rede hinein. Er hat sich in der
Rede gemeldet.
Okay, Sie dürfen Ihre Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege, vielen Dank. Sie nehmen wahrscheinlich zum ersten Mal an Haushaltsberatungen, auch an
Beratungen zu diesem Etat teil. Deswegen können Sie
nicht wissen, dass in den Beratungen die Möglichkeit
besteht, Anträge einzubringen. Diese Gelegenheit haben
Sie auch.
Ich habe vorhin versucht, den Grund für unsere Anträge darzulegen. Das ist anscheinend nicht richtig rübergekommen. Ich verweise noch einmal auf den Artikel
in der taz vom 21. September 2009 mit der Überschrift
„Das Marionetten-Ministerium“ - ich stelle Ihnen den
Artikel auch gerne zur Verfügung - mit heftigster Kritik
daran, dass dieses Ministerium null Einfluss hatte. Das
haben wir genauso gesehen, und das war über Jahre hinweg einer der Gründe dafür, dass wir entsprechende Anträge gestellt haben.
({0})
Wenn Sie jetzt stolz darauf sind, dass Sie den ach so
miesen Haushaltsansatz von 5,8 Milliarden Euro dieses
einflusslosen Ministeriums, den unsere Ministerin seinerzeit im Parlament erreichen konnte, um 67 Millionen
Euro überschreiten, dann gebührt dieser Stolz, glaube
ich, doch zum überwiegenden Teil den Vorarbeiten Ihrer
Vorgängerin. Ich denke, das kann man lobend erwähnen.
({0})
Das ist eine sehr gelungene Basis, auf der Sie im Wesentlichen weiterarbeiten. Viele Ansätze sind völlig
gleich geblieben.
Die Struktur ist minimal verändert worden, allerdings
an einer gefährlichen Stelle. Darauf will ich näher eingehen. Lassen Sie mich ein paar nüchterne Zahlen nennen.
1981 - Sie wissen sicherlich noch ungefähr, was damals
war; es gab einen Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb betrug die ODA-Quote 0,47 Prozent. Nicht schlecht.
Wie hoch war die ODA-Quote 1998 - nach einer gewissen Zeit der schwarz-gelben Regierung? Kann das jemand raten? Sie hätte eigentlich steigen müssen. Davon
war schließlich immer die Rede. Das meine ich mit Anstrengung. Sie war auf 0,26 Prozent gesunken.
({1})
Das war das Minimum auf der gesamten Zeitachse, auf
die wir zurückblicken.
Inzwischen beträgt die ODA-Quote ungefähr 0,40 Prozent. Damit können wir nicht zufrieden sein. Deshalb
wollen wir mehr. Wir wollen die ODA-Quote erfüllen.
Aber dafür ist gute Politik gefordert. Das wird unsere
Messlatte für Sie sein.
Ich nenne einige Beispiele, was wir erwarten. Eines
können Sie sich schon denken. Selbstverständlich werden wir bei unseren Deckungsvorschlägen von dem Betrag ausgehen, den die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Hotels ausmacht. Das sind 1 Milliarde Euro nach
vorsichtiger Schätzung. Sie können aber auch die Rücknahme der Sonderregelungen für internationale Konzerne in den Blick nehmen. Sie nennen das Krisenbewältigung. Das muss offen gestanden falsch sein; denn die
Krise wollen wir überwinden, sodass eine dauerhafte
Rücknahme bestimmter Elemente der Unternehmensteuerreform 2008 keinen logischen Sinn ergibt.
Lothar Binding ({2})
Warum hat Minister Schäuble den Erlass zu den Steueroasen ausgesetzt, als ob es keine Abwanderung in
Steueroasen mehr gäbe? Auch dazu haben wir einen Deckungsvorschlag.
({3})
Hinzu kommen selbstverständlich der Erlös aus der
Versteigerung der Emissionszertifikate und Rückflüsse
aus der finanziellen Zusammenarbeit. Zu erwägen ist
auch, ob die Zahlungen an multilaterale Fonds nicht als
Zuschuss, sondern als zinssubventioniertes Darlehen gewährt werden können. Damit hätte man eine Hebelwirkung. Außerdem sind sie anrechnungsfähig.
Man könnte die ODA-Quote anheben und stabilisieren. Ich glaube, das wäre mit der Weltbank zu verhandeln. Eventuell geht das sogar ohne Militärkäppi.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es ist interessant, Herr Binding, dass Sie uns mit Zahlen
konfrontieren, aber einen gewissen Zeitraum auslassen,
nämlich die Jahre 1998 bis 2005. Denn in dieser Zeit ist
das Volumen des Haushalts gesunken,
({0})
und zwar um fast 130 Millionen Euro. Das lag nicht an
Ihrer Ministerin - denn wie wir alle wissen, hat sie wirklich darum gekämpft -, sondern es lag am Kanzler.
({1})
Wir müssen auch sehen, zu welcher Zeit es zu einem
stetigen, 50-prozentigen Aufwuchs gekommen ist. Das
war unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, weil es
für sie eine Herzensangelegenheit ist.
({2})
Die aktuelle Finanzmarktkrise wurde schon angesprochen.
Frau Kollegin Wöhrl, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?
Bitte, Frau Hendricks.
Frau Kollegin Wöhrl, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass die Daten, die Herr Binding gerade genannt hat, die ODA-Quote betreffen? Ich wiederhole:
Im Jahr 1991 lag die ODA-Quote bei 0,47 Prozent.
Nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung war sie auf
0,26 Prozent gesunken. In der Tat ist es richtig, dass das
Volumen des Haushalts des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bis 2005 nicht
zugenommen hat, sondern etwas gesunken ist. Allerdings ist die ODA-Quote weiter gestiegen, weil aufgrund unserer Initiative die Entschuldung der ärmsten
Länder der Welt - ich nenne als Beispiele die HIPC-Initiative, den Weltwirtschaftsgipfel in Köln im Jahr 1999
und die Initiative der Bundesrepublik Deutschland unter
Gerhard Schröder - begonnen hat. Dies wurde auf die
ODA-Quote zu Recht angerechnet. Sie dürfen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und die ODA-Quote mit dem
Haushalt verwechseln.
({0})
Frau Hendricks, ich gebe Ihnen folgende Antwort:
Das ist mir bekannt. Das ist aber nicht das Thema. Ich
wollte darauf hinweisen, dass Herr Binding die Zahlen
für den Zeitraum von 1998 bis 2005 explizit nicht erwähnt hat.
({0})
Sie haben durchaus recht: Er hat von der ODA-Quote
gesprochen.
({1})
Aber er hat einen falschen Eindruck erweckt. Deshalb
habe ich darauf hingewiesen, dass das Volumen des hier
zur Diskussion stehenden Haushalts unter Rot-Grün gesunken ist und dass das - ich glaube, dafür dürfen Sie
dankbar sein - nicht an Ihrer Ministerin gelegen hat. Das
hat man später gemerkt; denn unter Frau WieczorekZeul kam es dann zu einem großen Aufwuchs. Aber alles in allem haben wir das primär unserer Kanzlerin zu
verdanken. Das zeigen auch die Zahlen. Das war der
Grund, warum ich das erwähnt habe.
({2})
Die Finanzmarktkrise wurde vorhin kurz angesprochen. Sie führt uns dramatisch vor Augen, wie sehr wir
global vernetzt sind und dass wir uns nicht abschotten
können. Ich erinnere daran, dass viele Experten gesagt
haben, die Entwicklungsländer würden von der Finanzmarktkrise nicht so sehr betroffen sein, weil diese Länder nicht solche Bankensysteme und eine solche Infrastruktur wie die Industrieländer hätten. Aber es ist ganz
anders gekommen. Die Finanzmarktkrise hat immens
große Spuren hinterlassen und auch vor den Entwicklungsländern nicht haltgemacht. Das sieht man auch daran, dass mit 20 Millionen Armen mehr gerechnet wird,
wenn das globale Wachstum um 1 Prozent abnimmt. Der
Weltbankpräsident hat veröffentlicht, dass die Zahl der
ärmsten Menschen aufgrund der Finanzmarktkrise um
64 Millionen gestiegen ist. Daran kann man die Auswirkungen dieser Krise erkennen. Die Herausforderungen,
die auf Deutschland und die anderen Geberländer zukommen werden, werden nicht geringer, sondern größer
werden. Das müssen wir uns vor Augen führen. Unsere
Solidarität muss zunehmen. Wir müssen mehr globale
Verantwortung übernehmen.
Nun geht es darum, wie wir die größere Verantwortung, die zukünftig auf uns zukommt, ausgestalten wollen. Als Erstes heißt es immer, dass wir mehr Geld brauchen. Ich glaube nicht, dass man alle Probleme lösen
kann, indem man mehr Geld in die Hand nimmt. Quantität ist nicht gleich Qualität. Es ist ein falscher Ansatz,
den Problemen Geld hinterherzuwerfen. Dadurch verschwinden die Probleme nicht. Wir müssen zukünftig
viel mehr darauf schauen, wofür und wie wir Geld ausgeben. Wir müssen damit viel bewusster umgehen, auch
- schließlich sind wir in den Etatberatungen - mit Blick
auf unseren Haushalt. Es wird nicht mehr werden. Wir
müssen konsolidieren und die Vorgaben der Schuldenbremse im Grundgesetz einhalten. Vor diesem Hintergrund wird es zukünftig eine wichtige Aufgabe sein, die
Gelder noch effizienter einzusetzen.
Nun zum Thema „50 Jahre Entwicklungspolitik in
Afrika“. Viele von Ihnen, die schon sehr lange - auch im
zuständigen Fachausschuss - aktiv sind, haben in den
letzten Jahren mit viel Herzblut und großer Intensität
beim Aufbau in Afrika mitgewirkt. Wenn wir aber ehrlich sind, können wir mit dem, was wir geschafft haben,
nicht zufrieden sein.
({3})
Deswegen müssen wir auch in Zukunft kritisch bilanzieren und hinterfragen.
Eine quantitative Erhöhung des Etats kann es nur geben, wenn sie mit einer Reform der entwicklungspolitischen Instrumentarien einhergeht.
({4})
Der Minister hat bereits angesprochen, dass wir eine Reform der Durchführungsorganisationen brauchen. Das
wird nicht einfach werden. Am Anfang wirkt immer alles schön und gut, und man spricht von Synergieeffekten
und vielem mehr. Wenn es dann aber an die Umsetzung
geht, sieht das ganz anders aus; Frau Ministerin a. D.,
Sie wissen noch, wie das gewesen ist. Herr Minister, ich
wünsche Ihnen viel Erfolg. Unsere Unterstützung haben
Sie.
Die Gründe, weswegen man Entwicklungspolitik betreibt, sind sehr vielfältig. Natürlich gibt es humanitäre
Gründe. Wir sind uns alle einig, dass wir die Not und das
Elend der Menschen lindern wollen. Dann gibt es sicherheitspolitische Gründe. Wir wissen, dass die globalen
Risiken zunehmen. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir
diese Risiken ganz schnell bei uns im Land. Deswegen
betreiben wir Krisenprävention.
Außerdem gibt es wirtschaftspolitische Gründe. Viele
von Ihnen, die viel gereist und vor Ort gewesen sind,
wissen, dass die Entwicklungsländer sich selbst nicht
gerne als Armutsländer sehen. Sie wollen nicht ewig
Empfängerländer bleiben, sondern haben ihren Stolz und
wollen unabhängig werden und in der Zukunft eigenverantwortlich handeln. Sie wissen, dass das nicht von
heute auf morgen geht; das dauert eine gewisse Zeit. Sie
wollen partnerschaftliche Zusammenarbeit, was natürlich auch für die Wirtschaft, zum Beispiel den Energie-,
Kommunikations- oder Dienstleistungsbereich, gilt.
Bei Afrika denkt man natürlich auch an die Energieversorgung, die vor allem im ländlichen Bereich ein
Riesenproblem ist. Man denkt an den Klimaschutz, die
Abholzung der Tropenwälder und die Energiegewinnung
durch Holzkohle. Allerdings sollte man auch an unsere
Umwelttechnologien denken. Hier sind wir mit einem
Anteil von 30 Prozent Weltmarktführer. Warum kann
man nicht zu einer Win-win-Situation kommen, indem
man mit unseren Technologien hilft? Sie können in diesen Ländern Entwicklungstreiber sein und sind es zum
großen Teil schon. Es gibt keinen besseren Weg, um die
Armut zu lindern, den Klimawandel aufzuhalten und
auch in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir brauchen auch Akzeptanz in der Öffentlichkeit
dafür, wie wir die Gelder einsetzen. Manchmal habe
ich das Gefühl, dass dafür noch ein bisschen zu wenig
getan wird. Damit die Akzeptanz in unserer Bevölkerung - auch bei den Menschen, die keinen Arbeitsplatz
haben - noch größer wird, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Wirtschaft vor Ort ist und dies auch
Arbeitsplätze bei uns sichert. Es ist wichtig und richtig,
die Eigenverantwortung und die Selbsthilfekräfte zu
stärken. Das kann durch Handel und durch die Stärkung
des privaten Sektors geschehen.
Mikrofinanzkredite sind für mich ein unwahrscheinlich wichtiges Instrument. In vielen Entwicklungsländern gibt es keinen Mittelstand, keine vielen kleinen Betriebe wie in Deutschland, die uns stark gemacht haben.
({5})
Für mich ist es hochinteressant, dass 50 Prozent dieser
Mikrofinanzkredite von Frauen in Anspruch genommen
werden und es einen immens hohen Rückfluss von
95 Prozent gibt; das sind hervorragende Zahlen. Auf dieses Instrument müssen wir in Zukunft noch viel mehr
setzen.
Wir dürfen die Entwicklungspolitik nicht nur als Armutsbekämpfung sehen, sondern es gehören auch nachhaltige Wachstumsperspektiven dazu. In Zukunft müssen wir uns noch viel mehr auf gezielte Investitionen in
die Bildung und das Wissen der Menschen konzentrieren. Herr Minister, ich bin froh, dass es im Haushaltsplan
zu einem Aufwuchs bei den Mitteln für die Bildung gekommen ist. Es gibt eine immense Bildungsarmut.
140 Millionen Kinder und Jugendliche besuchen keine
Schule. Sie werden nie die Chance haben, aus der Armut
herauszukommen, auch wenn wir noch so viel Geld hinschicken. Das werden die verlorenen Generationen sein,
die man irgendwann nicht mehr zurückholen und integrieren kann. Weil die Bildungschancen, ähnlich wie
Nahrung, ungleich in der Welt verteilt sind, ist es wichtig, dass wir Hilfe leisten, und zwar auch in der beruflichen Bildung und im Tertiärbereich.
({6})
Der Einzelplan 23 ist der zweitgrößte Investitionshaushalt. Das heißt für uns natürlich auch, dass wir eine
große Verantwortung tragen; denn es handelt sich um
Steuergelder. Ich sage immer - ich bin jetzt seit 15 Jahren im Deutschen Bundestag -, dass wir nur der Treuhänder sind. Das ist nicht unser Geld. Deswegen muss es
verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Wir müssen
die Verwendung überprüfen, und es muss legitim sein,
dass die Gelder in deutschem Interesse verwendet werden.
Wir dürfen auch keine Blankoschecks verteilen. Die
Budgethilfe ist angesprochen worden. Es ist in diesem
Saal viel über das Thema Budgethilfe diskutiert worden.
Es ist wichtig, Kontrolle auszuüben; aber es ist auch
wichtig, dass die Kriterien für die Budgethilfe, die aufgestellt worden sind, eingehalten werden. Ob es um
Rechtsetzung oder um Menschenrechte geht, ist egal.
Wir müssen einem Land auch einmal sagen: „Wir haben
die Hilfe überprüft, und wir haben angemahnt, dass Kriterien nicht eingehalten wurden“, und dann den Mut haben, darüber nachzudenken, ob wir einem solchen Entwicklungsland weiter Budgethilfe geben. Dieses Recht
muss uns vorbehalten bleiben.
({7})
Wenn wir unsere Entwicklungshilfe nicht als großzügige Armutshilfe, sondern als zeitlich begrenzte Hilfe
zur Selbsthilfe verstehen - das gilt auch für unsere Partner -, dann werden wir Erfolg haben. Es gibt das schöne
Beispiel - Sie alle kennen es - vom Offizier Martin, der
seinen Mantel mit einem Obdachlosen am Straßenrand
teilt. Er gibt dem Obdachlosen die Hälfte des Mantels,
was eine noble Geste ist. Was ist das Ergebnis dieser Geschichte? Wir haben einen Heiligen mehr, aber wir haben keinen Armen weniger. Deshalb müssen wir die
Ethik des Teilens mit der Ethik des Mehrens verbinden.
Vielleicht habe ich es etwas überspitzt dargestellt. Aber
wenn wir es schaffen, dass einer eine kleine Firma aufmacht, in der er Mäntel herstellt und vielleicht noch einen Obdachlosen einstellt, damit sich dieser in Zukunft
selber einen Mantel von seinem Geld kaufen kann, dann
haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen. Wenn
wir unseren Haushalt nicht unter dem Aspekt der Ethik
des Teilens, sondern der Ethik des Mehrens sehen, dann
sind wir auf dem richtigen Weg.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Das faktische Nullwachstum des Entwicklungshaushalts ist enttäuschend und bricht das Versprechen an die Ärmsten der Welt.
So die Deutsche Welthungerhilfe heute morgen.
Deutschland hat sich international dazu verpflichtet,
bis 2015 bescheidene 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Als Zwischenziel hatte die alte Bundesregierung,
die auch in der neuen vertreten ist, angekündigt, den Anteil bis 2010 auf 0,51 Prozent anzuheben. Schwarz-Gelb
hat sich heute davon verabschiedet. Der jetzige Haushalt
ist ein klarer Wortbruch.
({0})
Beim genauen Hinsehen wird es noch schlimmer:
Herr Niebel rechnet jetzt auch Gelder für Klimaschutzmaßnahmen in die Entwicklungszusammenarbeit ein.
Das ist nicht hinnehmbar. Die Industrieländer tragen die
Hauptverantwortung für den Klimawandel. Die afrikanischen Staaten haben mit 3,5 Prozent des globalen Schadstoffausstoßes kaum zum Klimawandel beigetragen, leiden aber am meisten unter den Folgen. Die Gelder sind
eine Wiedergutmachung und keine Entwicklungshilfe.
Wer das heute nicht begreift, dessen Politik ist schlicht
nicht zukunftsfähig.
({1})
Zudem werden derzeit sogar die Kosten für die Abschiebung von Asylbewerbern in die Entwicklungshilfe eingerechnet, ebenso die Baukosten für die Unterkünfte der
Bundeswehr in Afghanistan. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen. Es grenzt schon fast an
Bilanzfälschung, was im BMZ praktiziert wird.
({2})
Herr Niebel hat bereits in seiner kurzen Amtszeit die
Weichen für die Entwicklungspolitik falsch gestellt. Die
erste falsche Weichenstellung war die Ablehnung der Finanztransaktionsteuer.
({3})
Wo sollen denn, bitte schön, die zusätzlichen Mittel herkommen, die Sie, Herr Niebel, richtigerweise für Ihr
Ressort fordern? Eine Börsenumsatzsteuer, wie sie von
der Linksfraktion gefordert wird, würde 70 Milliarden
Euro Mehreinnahmen für den Bundeshaushalt schaffen
({4})
und damit auch der Entwicklungszusammenarbeit zugutekommen.
({5})
Wir brauchen internationale Besteuerungsformen, mit
denen wir die großen transnationalen Konzerne stärker
zur Verantwortung ziehen; denn sie profitieren von niedrigen Arbeitslöhnen, den fehlenden Sozialleistungen und
den niedrigen Umweltstandards in den Ländern des Südens.
({6})
Damit komme ich zum nächsten Herzthema von
Herrn Niebel: dem Wirken der deutschen Wirtschaft
in Entwicklungsländern. Für den Entwicklungsminister lässt sich gute Entwicklungszusammenarbeit an der
Höhe der deutschen Investitionen im Ausland messen.
Die Stichworte „Hungerbekämpfung“ und „Armutsminderung“ sind den Begriffen „deutsche Interessen“ und
„privatwirtschaftliche Initiativen“ gewichen. Wenn die
Entwicklungspolitik, wie von der Bundesregierung angekündigt, stärker an Menschenrechten ausgerichtet
werden soll, dann muss das insbesondere für die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft im Ausland gelten.
({7})
Ein Negativbeispiel bietet ThyssenKrupp. Dieser
Konzern baut gerade ein Stahlwerk in einem geschützten
Mangrovengebiet an der Küste Brasiliens. Dadurch wird
40 000 Menschen der Weg zu Fischgründen abgeschnitten, und dadurch werden die Mangrovenwälder von
Trassen verwüstet. Kritiker des Stahlwerkes werden von
Milizen mit dem Tode bedroht, sodass sogar der Schutz
des brasilianischen Menschenrechtsschutzprogramms
nötig ist. Das ist hoffentlich nicht die Art von Auslandsinvestitionen, die Sie sich wünschen, Herr Niebel. Ich
hoffe, dass Sie dazu klar Position beziehen.
({8})
Abschließend zu nennen ist die Frage der ländlichen
Entwicklung - für den Entwicklungsminister nach eigener Aussage ein Kernthema. 80 Prozent der Hungernden
weltweit leben auf dem Land. Dennoch wurde der Anteil
der Landwirtschaftsförderung an der Entwicklungshilfe
der Industrieländer in den letzten Jahrzehnten von circa
17 Prozent auf 3,7 Prozent zurückgefahren. Dabei kann
nur die Unterstützung einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft die weltweite Hungerkrise eindämmen, unter der
mittlerweile 1 Milliarde Menschen leiden. Zu diesem Ergebnis kam auch der Weltagrarbericht.
Notwendig ist es auch, sich offensiv gegen illegale
Landnahmen einzusetzen, durch die der Bevölkerung
skrupellos die Ernährungsgrundlage entzogen wird. Herr
Niebel, Sie haben recht, wenn Sie die unfairen Handelsbeziehungen und die westliche Subventionspolitik für
das Scheitern der bisherigen Entwicklungspolitik mitverantwortlich machen. Aber dann muss sich die Bundesregierung für die sofortige Abschaffung der Agrarexportsubventionen einsetzen;
({9})
sonst ist Ihre Kritik unglaubwürdig. Hierbei geht es
schließlich auch um Menschenleben.
Entwicklungszusammenarbeit muss sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich zur Verminderung der Armut und zur Friedenssicherung beiträgt und sich dabei
auf die unbedingte Achtung von Völkerrecht und Menschenrechten stützt. Sie kann nur dann wirksam sein,
wenn ihre Bemühungen nicht von der Handelspolitik
ständig null und nichtig gemacht werden. Strukturelle
Veränderungen im Sinne der Menschen des Südens benötigen vor allem politischen Willen. Ob Sie den haben
werden, wird sich zeigen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Volkmar Klein von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als neugewählter Abgeordneter dachte ich, dass es
auch innerhalb der Oppositionsfraktionen so etwas wie
Kommunikation, vielleicht sogar innerfraktionelle Abstimmungen gebe; aber offenbar habe ich mich da getäuscht.
({0})
In den letzten beiden Tagen habe ich häufig die massive
Kritik gehört, dass die Neuverschuldung viel zu hoch
sei. Gleichzeitig habe ich mittlerweile mehrfach die Kritik gehört, dass die Ausgaben an vielen Stellen und gerade beim Einzelplan 23 viel zu gering seien. Beides
passt aber nicht zusammen. Vielleicht ist es die Strategie
der Opposition, einfach erst einmal dagegen zu sein.
Überlegen Sie bitte einmal, ob Sie gegen zu geringe
Ausgaben oder gegen zu hohe Schulden sind. Wenn Sie
gleichzeitig gegen beides sind, dann werden Sie in der
Öffentlichkeit unglaubwürdig.
({1})
Das ist einfach durchsichtig, und das werden wir Ihnen
nicht durchgehen lassen.
({2})
- Da ist das Geschrei von Herrn Binding eher als Bestätigung zu werten.
Tatsächlich ist Lob für den Haushalt des Ministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
angesagt. Dieser Einzelplan hat ein Volumen von
5,88 Milliarden Euro; das entspricht 1,8 Prozent unseres
Haushaltes. Es sind 67 Millionen Euro mehr als im Vorjahr veranschlagt. Das ist ein ordentlicher Aufwuchs gegenüber dem Jahr 2009.
({3})
- All Ihr Geschrei mag seine Berechtigung haben. Noch
mehr zu fordern und noch mehr ausgeben zu wollen,
klingt zunächst einmal sehr sympathisch. Aber wenn ich
mich einmal so in deutschen Landen umschaue, dann
stelle ich fest: In vielen Teilen Deutschlands nennt man
Leute, die ständig lautstark etwas fordern, aber die Verantwortung dafür weder tragen müssen noch wollen,
Maulhelden. Denen glaubt man nicht.
({4})
Wenn jemand obendrein selber in der Vergangenheit entsprechende Verantwortung getragen und sie nicht genutzt hat, dann ist das noch viel schlimmer.
Wir haben jetzt schon ein paar Mal die Zahlen gehört.
Während der gesamten Zeit der rot-grünen Regierung ist
der Ansatz für den Einzelplan 23 um 125 Millionen Euro
auf 3,9 Milliarden gesunken. Das ist doch eindeutig.
Nun hat Frau Hendricks eben in einem, wie sie
meinte, genialen Schachzug versucht, das zu entschuldigen.
({5})
Sie hat nämlich darauf hingewiesen, dass aufgrund von
Maßnahmen zum Schuldenerlass, zum Beispiel der
HIPC-Initiative, die ODA-Quote viel höher gewesen sei.
({6})
- Liebe Frau Hendricks, ich bedanke mich dafür, dass
Sie das jetzt noch einmal bestätigen. Das macht Ihre desaströse Bilanz noch viel schlimmer. Sie haben nämlich
über die entsprechenden Initiativen Schulden für Darlehen, die zuvor von der Regierung Kohl gewährt wurden,
erlassen. Das heißt, Sie haben Zuwächse bei der ODAQuote geerntet, deren Grundlage zuvor von der Regierung Kohl gelegt worden ist.
({7})
Ganz abgesehen davon will ich in Erinnerung rufen,
dass der jetzt vorliegende Regierungsentwurf einen um
44 Millionen Euro höheren Ansatz aufweist als der von
der alten Regierung ursprünglich vorgesehene Entwurf.
Deswegen sollten sich all diejenigen, die den niedrigeren
Ansatz bereits befürwortet hatten, mit ihrem Geschrei
nicht so weit hervorwagen.
Ich möchte noch auf die Ausführungen des Kollegen
Hoppe eingehen, der das auf die ganz große moralische
Ebene gehoben hat.
({8})
Wir stehen zu unserer Verpflichtung, auch jenseits unserer Grenzen Verantwortung zu übernehmen. Ich
möchte einmal eine Anleihe bei Albert Schweitzer machen, der Wort und Tat in großartiger Art und Weise miteinander verbunden hat. Er hat Moral bzw. Ethik - je
nachdem, ob man auf den lateinischen oder griechischen
Begriff zurückgreift - definiert, indem er gesagt hat:
Nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das Wohl der
anderen soll uns interessieren. - Unsere Verantwortung
endet also nicht an den Grenzen unseres Landes. Deshalb gibt es auch eine Steigerung des Haushaltsansatzes.
Unsere Verantwortung endet aber auch nicht an den
Grenzen unserer Generation. Auch das muss berücksichtigt werden. Auch die Frage der Staatsverschuldung ist
eine ethische Frage. Ich würde sogar sagen, hierbei handelt es sich um eine der zentralen ethischen Fragen unserer Zeit. Es kann doch nicht richtig sein, dass wir auf
Kosten der ganz schwachen anderen leben und die Zukunft derjenigen, die heute noch nicht einmal geboren
sind, verfrühstücken. Das ist unethisch, das ist unmoralisch.
({9})
Wenn man heute so tut, als ob nur der moralisch handelt,
der mehr Ausgaben fordert, und nicht auch der, der an
die Zukunft unseres Landes und unserer Kinder denkt
- dieser handelt doch eigentlich noch viel moralischer -,
ist das einfach nur grotesk.
({10})
Wir geben aber nicht nur mehr Geld aus, sondern
wollen dieses Geld auch effizienter ausgeben. Wir wollen eine Straffung und Neuorganisation der Durchführungsorganisationen in Angriff nehmen; das wurde
schon gesagt. Wir wollen aber auch noch mehr auf nachhaltige Wirtschaftsentwicklung setzen und diese in
den Mittelpunkt rücken. Wirtschaftlich erfolgreiche
Partnerländer sind auch gut für uns in Deutschland.
Drei Punkte möchte ich herausgreifen, die für mich
wichtige Schwerpunkte darstellen:
Erster Punkt ist der Bereich Klimaschutz. Allein in
diesem Einzelplan werden wir 170 Millionen Euro zusätzlich für Klimaschutz ausgeben. Man kann formal sagen, das ist die Antwort auf eine internationale Zusage.
Ich würde aber sagen, dass uns dies auch inhaltlich
wichtig ist, weil es uns um den Schutz der Schöpfung
geht.
Zweiter Punkt, Afrika. Wir vergessen Afrika und die
am wenigsten entwickelten Länder nicht. Auf diese Partnerländer entfallen 57 Prozent der Haushaltsmittel. Aber
wir wollen keine bloße Alimentierung der Armen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Wir sind eben kein Weltsozialamt. Man sollte es noch einmal unterstreichen:
Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, worauf wir setzen.
({11})
Deshalb ist es so wichtig, Mikrokreditinitiativen in
den Mittelpunkt zu stellen. Der Friedensnobelpreisträger
von 2006, Muhammad Yunus, hat einmal gesagt: In jedem Menschen steckt ein Unternehmer. - Ich bin nicht
ganz so optimistisch; vielleicht stimmt das nicht ganz,
aber sicher doch weitgehend. Wenn es uns gelingt, in
vielen Menschen den Unternehmer zu wecken, dann
können wir auch in vielen Menschen den Arbeitgeber
wecken. Genau das brauchen wir in Afrika. Bisher ist
das an vielen Stellen leider nicht ausreichend gelungen.
({12})
Dritter Punkt. Wir sollten weniger nur in staatlichen
Strukturen denken. Zu Hause, in unserer sozialen Marktwirtschaft, lassen wir den Staat doch auch nicht alles
machen. Aber sobald wir in Afrika helfen wollen, vergessen wir oft unsere guten Erfahrungen und setzen viel
zu viel auf Staat und Plan.
({13})
Deshalb war es uns wichtig, in diesem Haushalt die Mittel für die Förderung der entwicklungswichtigen Vorhaben der Kirchen, Stiftungen und anderer Nichtregierungsorganisationen zu erhöhen.
({14})
Meine Damen und Herren, mit dem Haushalt werden
wir unserer Verantwortung gerecht. Aber angesichts dessen, wie wenig bisher in Afrika trotz horrender Summen
erreicht wurde, sind Fragen bezüglich der Effizienz der
bisherigen Hilfe und Instrumente sicherlich sehr berechtigt.
({15})
Deshalb ist es wichtig, mehr als bisher zu evaluieren,
wie erfolgreich wir eigentlich sind.
Ich denke, dass wir gemeinsam mit unseren Partnerländern in Zukunft erfolgreicher im Kampf gegen Armut
sein müssen, dass wir da wirklich engagiert sein müssen.
Ich finde es etwas schofel, wenn hier der heutigen Regierung weniger Engagement für die Armen in Afrika
und in aller Welt unterstellt wurde. Das sollten Sie in
Ihre Mottenkiste zurückpacken. Wir wollen mit großem
Engagement unserer Verantwortung gerade für die Menschen in Afrika gerecht werden. Das verbindet uns nicht
nur mit dem Banker Muhammad Yunus in Bangladesch,
sondern ebenso mit dem Minister, und dem wird auch
unser Etat gerecht. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam erfolgreich arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Herr Kollege Klein, ich gratuliere Ihnen im Namen
des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe von der SPDFraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Klein, da das Ihre erste Rede war,
werde ich jetzt nicht weiter auf diese Rede eingehen, insbesondere nicht darauf, wie Sie die Entschuldungsinitiative von Gerhard Schröder und Heidemarie WieczorekZeul irgendwie dem Vorgänger Kohl zugeordnet haben.
Das war schon ziemlich kabarettreif. Wir wollen es aber
aufgrund Ihrer ersten Rede dabei belassen - Schwamm
drüber.
({0})
Ich habe heute Vormittag einen Berliner Radiosender
gehört, der zu Spenden für die Erdbebenopfer in Haiti
aufgerufen hat. Da hat ein junger Mann angerufen und
gesagt, er habe selbst genug Probleme und auch
Deutschland habe genug Probleme; er halte es für einen
Skandal, dass so viel Geld für Haiti gespendet werde und
so viele Steuergelder dorthin fließen würden. Ich habe
mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass
Dirk Niebel wenige Monate zuvor ganz ähnlich argumentiert hat, als wir den ärmsten Ländern zur Milderung
der Folgen der Krise 100 Millionen Euro im Rahmen der
Konjunkturpakete in Höhe von insgesamt 80 Milliarden
Euro zur Verfügung stellen wollten. Damals hat Dirk
Niebel gesagt, wir sollten mit dem Geld lieber
2 000 Lehrer in Deutschland einstellen, als es in Afrika
zu verpulvern.
Ich bin stolz auf die Bürgerinnen und Bürger, die sich
durch solche Stammtischparolen nicht davon abhalten
lassen, zu spenden. Das ist eine hervorragende Haltung.
({1})
Herr Niebel, ich habe mich damals als Kollege für Sie
geschämt. Es wird Sie vielleicht wundern, wenn ich
sage, dass ich über den Haushaltsentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, nicht enttäuscht bin; denn ich habe
nichts anderes von Ihnen erwartet.
Enttäuscht bin ich aber von der Bundeskanzlerin, von
Frau Merkel, die die Gesamtverantwortung für diesen
Haushalt trägt; denn sie hat in den letzten Jahren immer
wieder versprochen, dass sie die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit gemäß dem im Jahr 2005 in der
Europäischen Union vereinbarten ODA-Stufenplan
steigern wird, sodass im Jahr 2010 0,51 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stehen. Frau Merkel hat sich
dafür auf Kirchentagen und bei Zusammentreffen mit
Künstlern wie Bono feiern lassen. Auch gestern auf der
ZDF-Spendengala hat sie ein entsprechendes Bild abgegeben. Sie hat gönnerhaft 2,5 Millionen Euro für Haiti
zugesagt. Aber an der Stelle, auf die es ankommt, nämlich für die ärmsten Menschen der Welt - das sind 3 Milliarden Menschen, die in Armut leben, und 1 Milliarde
Menschen, die hungern - im Haushalt eine Hilfe vorzusehen, hat sie ihr Versprechen eiskalt gebrochen.
({2})
Das dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen.
Herr Kollege Raabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hendricks?
Ja, gerne.
Bitte schön, Frau Hendricks.
Herr Kollege Raabe, Sie haben gerade en passant mitgeteilt, dass die Bundeskanzlerin die Erhöhung der Mittel aus dem Bundeshaushalt zugunsten der Opfer in Haiti
von 7,5 Millionen Euro um 2,5 Millionen Euro auf nunmehr 10 Millionen Euro im Rahmen einer Spendengala
mitgeteilt hat. Wir haben vorhin schon einmal über
Würde gesprochen. Halten Sie es der Würde des Amtes
der Bundeskanzlerin für angemessen, dass sie dies bei
einer solchen Gelegenheit tat, bei der es doch eigentlich
darum ging,
({0})
Spenden von Privaten und Unternehmen zu generieren?
Wäre es nicht angemessener gewesen, wenn dies im
deutschen Parlament geschehen wäre?
Frau Kollegin, ich würde mir wünschen, dass man im
Rahmen einer solchen Gala die privaten Spenden hervorhebt und nicht die Zusage von staatlichen Mitteln bekannt gibt. Sie haben vor allem dahin gehend recht, dass
es sich bei dieser ZDF-Gala um einen sehr späten Zeitpunkt gehandelt hat, sich zu dieser Katastrophe zu
äußern. Als es die Tsunamikatastrophe gab, ist Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit der Entwicklungsministerin vorangeschritten und hat in vorbildlicher
Weise große Summen zur Verfügung gestellt. Er hat in
der Europäischen Union bei der Hilfe eine Führungsrolle
übernommen.
Ich muss schon sagen, dass das Krisenmanagement
der Bundesregierung einschließlich des Entwicklungsministers, was das Erdbeben auf Haiti angeht, sehr
zurückhaltend gewesen ist. Ich hätte mir das Engagement gewünscht, das damals Gerhard Schröder und
Heidemarie Wieczorek-Zeul bei der Tsunamikatastrophe
an den Tag gelegt haben. Ich gebe Ihnen da vollkommen
recht.
Ich möchte auf das Versprechen der Bundeskanzlerin,
das sie immer wieder gegeben hat, zurückkommen. Da
sie heute in ihrer Rede nichts zur internationalen
Armutsbekämpfung gesagt hat, zitiere ich aus ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005:
Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis
2010 mindestens 0,51 Prozent … des Bruttoinlandsproduktes für die öffentliche Entwicklungsarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sage.
Frau Merkel sagte am 30. Januar 2009 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos:
Wir dürfen die weltweite Armutsbekämpfung nicht
aus dem Blick verlieren. Deutschland hat auch für
das Haushaltsjahr 2009 - und das wird auch im
Haushaltsjahr 2010 so sein - Steigerungsraten
beträchtlicher Art bei den Ausgaben für Entwicklungshilfe. Entwicklungszusammenarbeit jetzt einzuschränken, würde nicht nur politische Instabilitäten bedeuten, sondern vor allen Dingen auch ein
weiteres Auseinanderklaffen der Entwicklung in
der Welt; gar nicht zu sprechen
- jetzt hören Sie gut zu von den Enttäuschungen in den Ländern, denen wir
mit unseren Millenniumszielen viele Versprechungen und Zusagen gemacht haben.
Auf den letzten Punkt möchte ich eingehen. Frau
Merkel hat in ihrer Rede heute in Bezug auf die Entwicklungsländer nur eine negative Bemerkung gemacht.
Sie hat nämlich gesagt, dass der Klimagipfel in Kopenhagen an Indien und anderen Entwicklungsländern gescheitert sei, weil diese Länder sich weigerten, ambitionierten Klimazielen zuzustimmen und die Ergebnisse
überprüfen zu lassen. Aber es ist doch kein Wunder, dass
die Entwicklungsländer misstrauisch sind angesichts der
Tatsache, dass unsere Bundeskanzlerin wenige Tage vor
dem Weltklimagipfel ein Versprechen gebrochen hat, das
die Europäische Union und Deutschland verbindlich gegeben haben. Dann darf man sich nicht wundern, wenn
die Entwicklungsländer bei den Konferenzen der Welthandelsorganisation sagen: Wir glauben es euch schlichtweg nicht mehr. Man darf sich auch nicht wundern, wenn
die Entwicklungsländer bei der Klimakonferenz sagen:
Wir lassen uns doch nicht wieder über den Tisch ziehen.
Frau Merkel hat also eine Mitschuld am Scheitern von
Kopenhagen, weil sie das Versprechen gebrochen hat.
({0})
Wir brauchen den ODA-Stufenplan, weil jeden Tag
25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut
sterben. Das entspricht, auf zehn Tage gerechnet, einem
stillen Tsunami oder einem stillen Erdbeben in der Dimension der Katastrophe von Haiti. Insofern ist es unglaubwürdig, wenn man sich jetzt herausredet und behauptet, dass man schon irgendwie bis zum Jahr 2015
eine ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wird.
Es ist in der Tat peinlich, wenn sich ausgerechnet der
Entwicklungsminister gegen eine Finanztransaktionsteuer
wehrt. Eigentlich müsste er mit der Fahne voranschreiten und dafür werben, dass nicht die Entwicklungsländer
die Misere ausbaden müssen, die ihnen Börsenzocker
eingebrockt haben. Die Entwicklungsländer könnten mit
dem Geld ihre Not lindern. Herr Niebel schont aber Börsenzocker und lässt dafür die Ärmsten in der Welt im
Stich. Das ist eine Schande. Das spiegelt auch der Haushaltsentwurf wider.
({1})
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 21. Januar 2010,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.