Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf:
a) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“
Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“
Medienkompetenz
- Drucksache 17/7286 -
b) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“
Zwischenbericht der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/5625 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu stelle
ich Einvernehmen fest. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jens Koeppen für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Während wir hier zur besten Kernzeit im Deutschen
Bundestag über die Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ beraten und die Zwischenberichte
präsentieren, läuft wahrscheinlich zeitgleich auf Twitter
die Auswertung der Debatte; sie wird dort kommentiert
und analysiert. Kaum jemand kann und will heute noch
auf die Abendnachrichten um 20 Uhr warten; denn
wahrscheinlich ist das der kalte abgestandene Kaffee
vom Morgen, bestenfalls eine nette Zusammenfassung
des Tagesgeschehens, aber es hat nicht mehr sehr viel
mit News zu tun.
Das Internet ist viel, viel schneller. Das ist Information und Bildung. Das ist Selbstbestimmung, und das ist
Teilhabe. Das ist aber vor allen Dingen Unterhaltung
und Lebensfreude, und in allererster Linie ist es wirtschaftliche Betätigung. Damit das so ist, so bleibt und
kontinuierlich weiterentwickelt wird, hat der Deutsche
Bundestag die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ ins Leben gerufen.
Ich bedanke mich am Anfang der Debatte ganz ausdrücklich bei all denjenigen, die mitarbeiten und mithelfen, dass diese Enquete zum Erfolg wird. Vor allen
Dingen bedanke ich mich bei den Abgeordneten aller
Fraktionen, die dies neben den ganzen Fachthemen zu
ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben. Ich bedanke
mich bei unseren Mitarbeitern und Referenten. Ich bedanke mich beim Sekretariat und bei der Bundestagsverwaltung. Ganz besonders bedanke ich mich - ich glaube,
im Namen des ganzen Hauses - bei unseren Sachverständigen und Experten, die mit sehr viel Fleißarbeit, mit
einem hohen Sachverstand und mit sehr viel Arbeitsaufwand in vielen Arbeitsstunden neben ihrer eigentlichen
Tätigkeit dafür sorgen, dass die Enquete qualitativ sehr
gut besetzt ist. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Wir arbeiten seit fast zwei Jahren engagiert in dieser
Enquete-Kommission. So manche Ernüchterung hat sich
gezeigt, weil die Mühsal der demokratischen Gremien
für einige neu ist. Ideologische Schützengräben, in denen man sich abducken konnte, wurden von allen aufgetan. Aber das ist nicht entscheidend. Für mich ist entscheidend, dass es diese Enquete gibt. Für mich ist
entscheidend, dass engagierte, leidenschaftliche Debatten geführt wurden, dass sehr viel Herzblut hineingegeben wurde und dass dort ein Wille zum Konsens besteht.
Eines ist, insbesondere in dieser Enquete-Kommission, ganz klar: Die reine Lehre, das vielbeschriebene
weiße Blatt Papier, mit dem man noch einmal neu anfangen könnte, gibt es nicht. Hier benutze ich gern die
Worte unseres Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder:
Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. 18318
Das sollten wir gerade in dieser Enquete-Kommission
beachten.
({1})
Meine Damen und Herren, für mich und für meine
Arbeitsgruppe sind fünf Grundthesen ganz entscheidend.
Diese möchte ich Ihnen in aller Kürze vortragen.
Erstens. Das Internet ist ein Kulturbruch. In diesem
Kulturbruch liegt das große Potenzial. Das Netz erweitert die Anzahl der Orte, an denen sich Menschen begegnen. Raum und Zeit sind nahezu bedeutungslos geworden. Soziale Netzwerke führen Menschen zusammen.
Neue Marktplätze entstehen. Neue Möglichkeiten zur
Entfaltung der Persönlichkeit eröffnen sich. Im Netz findet Information praktisch auf Abruf statt. Es herrscht
eine Kultur der sofortigen Verfügbarkeit mit einer enormen Reichweite. Nur wer diese Netzkultur versteht, der
kann ermessen, was es bedeutet, wenn man Menschen
den Zugang zum Netz verwehrt. Das müssen wir unbedingt verhindern.
Freiheit braucht aber auch Sicherheit. Das Verhältnis
zwischen der Freiheit im Netz und dem Bedürfnis der
Bürgerinnen und Bürger nach Sicherheit muss ausgewogen und besonnen ausgestaltet sein. Natürlich - ich wiederhole mich da -: Jede funktionierende Gesellschaft
braucht ihre Leitplanken. Aber gerade hier müssen diese
besonnen und mit Augenmaß gesetzt werden.
Der zweite Punkt. Der gefühlte Klassenkampf zwischen digitaler Welt und analoger Welt muss aufhören.
Es gibt die virtuelle Welt nicht, auch wenn wir immer
noch das Gefühl haben, dass es ein Leben im Netz und
ein Leben außerhalb des Netzes gibt. Wir müssen die
analoge Welt mitnehmen; das ist eine große Aufgabe.
Das Netz gehört niemandem, weder irgendwelchen
Nerds noch den selbsternannten Angehörigen der Community. Es gehört auch nicht irgendeiner digitalen Elite
und schon gar nicht einer bestimmten Partei oder Organisation. Online zu sein, ist ein ganz selbstverständlicher
Teil unseres Lebens geworden. Wir sollten die Gelegenheitsnutzer lieber aufklären, als sie vielleicht abfällig als
„Internetausdrucker“ zu bezeichnen. Das Netz ist auch
nicht gut oder schlecht. Es ist einfach da. Wir machen
das Netz. Es bestimmt unser Leben heutzutage maßgeblich, selbst wenn wir meinen, wir würden es nicht nutzen. Netzpolitik muss auch nicht neu erfunden werden,
sondern wir müssen die analogen Erfahrungen an den
Erfordernissen der digitalen Welt prüfen und sie anpassen.
Dritter Punkt. Das Internet gibt unserer Gesellschaft
neue Impulse. Nie zuvor konnten sich Bürgerinnen und
Bürger so umfassend über ihr Gemeinwesen informieren. Größere Transparenz im staatlichen Handeln kann
mehr Bürgerbeteiligung, noch mehr Vertrauen und das
Pflichtgefühl befördern; denn das Internet ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Kein anderes Medium bietet zum Beispiel Politikern und Wählern eine vergleichbare Möglichkeit, direkt miteinander zu kommunizieren.
Das sollten wir unbedingt bewahren und natürlich auch
befördern.
Der vierte Punkt. Wir müssen Überregulierung vermeiden. Selbstregulierung sollte Vorrang vor staatlicher
Regulierung haben. Das gilt aus meiner Sicht übrigens
auch für die analoge Welt. Freiheit braucht jedoch Eigenverantwortung und Medienkompetenz, über die wir
nachher noch genauer reden werden. Unser Leitbild des
Onlinenutzers ist der mündige Bürger. Wir setzen ganz
klar auf Wettbewerb, Transparenz und Selbstregulierung, bevor der Gesetzgeber regulierend eingreifen
muss.
Schließen möchte ich mit dem fünften Punkt. Die
Netzpolitik ist für uns ein eigenständiges Politikfeld;
denn heute ist nahezu jeder Aspekt unseres Lebens an
das Internet angeschlossen. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema. Die Netzpolitik muss auch dann, wenn
die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat, an einer hervorgehobenen Stelle im Bundestag und in der
Bundesregierung eine Bedeutung haben.
Ich wünsche mir, dass wir am Ende des Tages mit unserer Arbeit in dieser Kommission dafür sorgen, dass das
Thema Internet und digitale Gesellschaft noch mehr in
den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt wird und die
Politik noch mehr agieren kann. Im Moment reagiert sie
eher. Das ist dieses alte Hase-und-Igel-Spiel. Meistens
ist das Internet natürlich viel schneller, als wir reagieren
können. Zum Schluss wünsche ich mir, dass sich Anbieter und Nutzer medienkompetent innerhalb der von uns
besonnen gesetzten Leitplanken bewegen können. Wenn
wir das erreicht haben, dann haben wir etwas Großes getan. Ich möchte Sie auffordern, daran in der Enquete
weiterhin mitzuwirken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Lars Klingbeil für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Digitalisierung verändert die Welt, in der
wir leben. Sie verändert die Welt, in der wir arbeiten,
und auch die Antwort auf die Frage, wie wir heute wirtschaften. Durch die Digitalisierung erfahren wir eine
grundlegende Veränderung unserer Welt. Das bringt
auch Anforderungen an die Politik mit sich. Arbeit verändert sich. Heute haben viele bzw. immer mehr Menschen die Möglichkeit, von jedem Ort der Welt zu jeder
Zeit zu arbeiten. Der Betriebsbegriff ändert sich. Alles,
was man heute braucht, ist ein Internetzugang. Der Laptop wird zur Werkbank des 21. Jahrhunderts.
Wir sehen, dass diese Veränderung die Chance auf
mehr Freiheit und auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit sich bringt. Wir sehen aber auch,
dass neue Anforderungen an den Sozialstaat entstehen,
dass die Anforderungen wachsen und wir uns mit der
Frage beschäftigen müssen, wie solche Formen der Arbeit abgesichert werden können.
Die Wirtschaft verändert sich. Wir sehen eine digitale
Wirtschaft, die wächst, aber wir sehen auch, dass sich
die klassischen industriepolitischen Branchen verändern.
Egal ob in der Stahlindustrie oder in der Automobilindustrie: Viele Wertschöpfungsketten verlaufen heute entlang digitaler Linien. Wir müssen uns fragen, wie wir
hier Innovationen weiter stärken können.
Auch die Bildung verändert sich. Wir diskutieren hier
heute den Zwischenbericht zur Medienkompetenz.
Junge Menschen sind immer mehr Informationen ausgesetzt. Sie müssen lernen, hiermit umzugehen und sich in
neuen Technologien zurechtzufinden. Eine der größten
Herausforderungen, die wir in der Politik zu bewältigen
haben, ist: junge Menschen fit zu machen, sich in dieser
digitalen Welt zurechtzufinden.
({0})
Auch die politischen Prozesse müssen sich verändern.
Die Menschen können Politik heute in Echtzeit verfolgen. Sie können sie kommentieren, aber es entsteht auch
der Wunsch, in Echtzeit dabei zu sein und Politik zu beeinflussen. Genau diese Möglichkeiten müssen wir eröffnen. Wir müssen Beteiligungsformen anbieten, damit
die Menschen ihre Kommentare und Ideen in Echtzeit in
politische Prozesse einfließen lassen können.
Wir sehen auch, dass uns die Digitalisierung heute
vor neue, ungelöste Herausforderungen stellt, etwa vor
den permanenten Kampf zwischen individuellen Freiheitsrechten und notwendigen Sicherheitsinteressen. Ich
spreche die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung an,
bei der wir nicht vorangekommen sind. Das wird zwischen den Fraktionen, aber auch in den Fraktionen diskutiert. Hier müssen wir neue Antworten finden, und ich
sage auch: Wenn wir eine Balance zwischen Sicherheit
und Freiheit suchen, dann müssen wir aufhören, symbolische Diskussionen wie solche um Netzsperren, die
Sperrung des Internetzugangs oder auch die Zensurinfrastruktur im Internet zu führen.
In der digitalen Zeit stehen wir vor der Herausforderung, das Urheberrecht zu reformieren. Auf der einen
Seite entstehen wunderbare Möglichkeiten für Kreative,
neue Verbreitungswege zu finden. Auf der anderen Seite
sehen wir aber auch, dass wir einen gesellschaftlichen
Konsens für ein neues Urheberrecht in einer digitalen
Zeit noch nicht geschaffen haben.
Die Politik in Gänze tut sich schwer, diese umfassenden gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umbrüche zu gestalten. Es ist deutlich geworden, dass Netzpolitik kein Nischenthema ist, sondern dass es hier um
große gesellschaftliche Veränderungen und eine moderne Gesellschaftspolitik geht. Deswegen müssen der
Deutsche Bundestag und die Politik insgesamt endlich
anfangen, diesen Wandel zu gestalten. Im Ernst: Es ist
unsere Entscheidung, ob wir dabei sind. Dieser Wandel
kommt, und ich hoffe, wir entschließen uns, ihn zu gestalten. Ansonsten findet er ohne uns statt.
In Anbetracht all dieser Herausforderungen und Veränderungen, die ich gerade beschrieben habe, haben wir
im Jahr 2009 gemeinsam die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ eingesetzt, verbunden
mit der Hoffnung, dass hiermit aus der Mitte des Parlaments der digitale Wandel gestaltet werden kann und
dass die Enquete so etwas wie ein netzpolitischer Thinktank, eine Denkfabrik, und auch ein Experimentierfeld
für neue Möglichkeiten der politischen Partizipation ist.
Wenn wir heute, knapp zwei Jahre nach dem Start der
Enquete, eine Zwischenbilanz ziehen, dann müssen wir
feststellen: Diesem hohen Anspruch, den wir an uns
selbst gestellt haben, sind wir bisher nicht gerecht geworden. Wir haben erlebt, dass wir auf viele drängende
Fragen der digitalen Entwicklung hier im Deutschen
Bundestag noch keine Antwort und keine Sprachregelung gefunden haben. Genau deswegen sage ich: Wir
müssen uns gemeinsam anstrengen, wenn es jetzt darum
geht, die Arbeit der Enquete-Kommission weiterzuführen.
Ich will das hier deutlich sagen: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir werden als Parlament als Ganzes gewinnen oder als Ganzes verlieren, wenn es darum geht, Antworten zu formulieren.
({1})
Deswegen ist mein Appell, dass wir mit Taktierereien,
mit parteipolitischen Reflexen und mit stundenlangen
Diskussionen über Verfahrensfragen in der Enquete aufhören und uns darauf konzentrieren, den Streit in der Sache zu führen - das ist notwendig -, und dass wir damit
anfangen, die Vision für eine digitale Gesellschaft noch
stärker zu definieren.
({2})
Dabei will ich ausdrücklich an diejenigen appellieren,
die wir als 18 Sachverständige eingebunden haben. Es
war ein richtiger Schritt, dass wir uns geöffnet und neue
Beteiligungsformen geboten haben. Das war die ausgestreckte Hand an eine Netzcommunity, die zu den erfolgreichsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre gehört.
Ob es die Debatte um die Netzsperren ist, ob es die
Debatte um die Vorratsdatenspeicherung oder den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist: Wir waren immer
erfolgreich darin, Dinge zu verhindern. Bei der Enquete
machen wir jetzt das Angebot, etwas zu gestalten. Das
ist schwieriger, als etwas zu verhindern. Demokratie ist
anstrengend. Dabei geht es darum, Mehrheiten zu gewinnen. Es geht darum, zu überzeugen. Da mag es
manchmal einfacher sein, die Arbeit der Enquete-Kommission auf Twitter hämisch zu begleiten. Aber mein
Wunsch ist, dass diejenigen, die Ideen haben, sich einbringen und dass wir durch die Beteiligung des 18. Sachverständigen die Chance haben, die Arbeit der Enquete
erfolgreich zu Ende zu führen.
Dass die Enquete hier im Parlament wichtig ist, dass
Impulse aus dem Parlament kommen müssen, zeigt die
netzpolitische Bilanz dieser schwarz-gelben Bundesregierung. Dieser Regierung fehlt der Mut, auf einen konsequenten Breitbandausbau zu setzen und endlich das
Grundrecht auf ein schnelles Internet zu verankern, notfalls mit einem Universaldienst.
({3})
Dieser Regierung fehlt der Mut, die gesetzliche Netzneutralität zu verankern und ein innovatives und freies
Internet aufrechtzuerhalten. Initiativen dieser Regierung
zur Modernisierung des Urheberrechts und zum Datenschutz? Fehlanzeige! Initiativen zur Weiterentwicklung
des Informationsfreiheitsgesetzes, zu Open Data? Fehlanzeige! Das Einzige, was von dieser Regierung bleibt,
ist die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes.
Diese Initiative kam fraktionsübergreifend aus der Mitte
des Parlaments.
({4})
Ich bin überzeugt: Dieses Parlament kann Impulse für
die netzpolitische Arbeit in der deutschen Politik geben.
Deswegen meine Hoffnung und das Angebot der SPD,
die Arbeit der Enquete erfolgreich weiterzuführen. Wir
sollten jetzt noch einen draufsetzen und mit parteipolitischen Spielen aufhören. Dann werden wir am Ende erfolgreich sein.
({5})
Der Kollege Blumenthal ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Lars Klingbeil, es entbehrt nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik, wie die Rede intoniert wurde und wie
dann das Ende vollzogen wurde. Das muss an dieser
Stelle einmal erwähnt werden.
({0})
Für die FDP-Fraktion war es im Bereich Medienkompetenz entscheidend, dass wir als Grundlage den aufgeklärten und selbstbestimmten Nutzer in den Vordergrund
stellen. Für uns ist wichtig, dass wir keine staatliche Definition eines Otto Normalnutzers auf die Tagesordnung
setzen, sondern dass wir uns politisch Gedanken darüber
machen: Wie können wir einzelne Menschen befähigen
und bestärken, das Potenzial und die Chancen im Internet zu nutzen, um im Umgang mit digitalen Medien erfolgreich wirken zu können?
Wir betrachten das als eine gesamtgesellschaftliche
Herausforderung. Wir haben zur Kenntnis genommen,
dass gerade im Bereich Medienkompetenz ein Großteil
der Initiativen auf Länder- und Bundesebene immer sehr
stark auf Jugendliche und junge Menschen fokussiert
war. Wir sagen: Das ist eine Chance für die gesamte Gesellschaft. Auch die älteren Generationen müssen mitgenommen werden. Auch dort ist der Ruf nach Teilhabe
lauter geworden.
({1})
Für uns ist wichtig, dass wir dann, wenn wir über die
Auswirkungen der digitalen Medien und die Chancen
des Internets sprechen, eine differenzierte Sichtweise in
den Vordergrund stellen. Wir haben in der öffentlichen
Debatte in den letzten Jahren oft eine Tendenz zur Glorifizierung oder Dämonisierung erlebt. Sie erinnern sich
an die Umbrüche im Rahmen des arabischen Frühlings:
Da sprach man von der „Facebook-Revolution“ und vom
„Twitter-Umsturz“.
Es ist und bleibt menschliches, individuelles Handeln.
Es wird nicht gelingen, nur mit Kommunikationsmedien
ganze Regime und Systeme zu stürzen und einen Wandel
herbeizuführen. Ausgangspunkt und Fixpunkt bleibt das
menschliche Handeln. Das menschliche Handeln bedingt den Mut, zu opponieren, den Mut, sich gegen ein
Regime zu stellen. Facebook und Twitter können hier
hilfreich sein, aber es sind und bleiben Instrumente. Die
Grundlage und der Ausgangspunkt ist das individuelle
Handeln.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die
andere Seite eingehen, die Dämonisierung des Netzes.
Viele sagen: Das Internet ist ein Hort des Verbrechens, in
dem illegale Handlungen möglich sind, etwa illegale
Downloads und Urheberrechtsverletzungen. Auch das
darf und kann man nicht dem Internet anlasten. Auch das
ist und bleibt menschliches Handeln. Das sind Konsequenzen aus menschlichem Handeln. Wenn illegale
Downloads stattfinden, dann geschieht dies, weil sich
einzelne Menschen dazu entscheiden.
Bitte lassen Sie uns mit dieser pauschalen Glorifizierung und Dämonisierung aufhören. Lassen Sie uns lieber
Sorge tragen dafür: Wie können wir den einzelnen Menschen die Möglichkeiten und die Qualifizierung mitgeben, mit diesen neuen Chancen und mit diesen neuen
Freiheiten richtig umzugehen?
({3})
Medienkompetenz ist und bleibt dabei die Grundlage.
Wir haben vonseiten der Enquete-Kommission eine
ganze Reihe von Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass auf
Ebene der Länder eine Vielzahl von lobenswerten KamSebastian Blumenthal
pagnen und Aufklärungsinitiativen gemeinsam mit
Schülern, Eltern, Lehrern und auch schon mit älteren
Menschen stattgefunden hat. Angesichts der knappen
Haushaltslage in den Ländern möchten wir anregen, dass
die Erkenntnisse aus diesen ersten Aufklärungskampagnen zwischen den Ländern und dem Bund besser vernetzt werden. Wir haben entsprechende Vorschläge in
die Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Medienkompetenz eingebracht.
Ein Punkt, der in der Projektgruppe Medienkompetenz sehr stark umstritten war und kontrovers diskutiert
wurde, war der Jugendschutz. Sie haben sicherlich noch
in Erinnerung, dass der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vor knapp zwei Jahren auf Länderebene grandios
gescheitert ist. Es zeigt sich hier, dass der Grundsatz der
Frequenzregulierung, der auf Landesebene immer noch
das Steuerungsinstrument für die Staatsverträge im Medienbereich ist, nicht mehr in das Zeitalter der digitalen
Medien passt. Wir haben in der Projektgruppe Medienkompetenz darauf hingewiesen und gesagt: In der Abwägung zwischen staatlichem Jugendschutz durch Staatsverträge und der Förderung und Stärkung des Einzelnen
muss es eine ausgewogene Balance geben.
Die Projektgruppe Medienkompetenz hat ihre Arbeit
abgeschlossen. Die Diskussionen werden weitergehen,
und auch die Gestaltungsaufgabe für uns im Parlament
wird weiterbestehen. Die FDP-Fraktion war und ist von
Anfang an ein starker Partner in diesem Diskurs. Wir
werden damit weitermachen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal den
Kollegen aus der Projektgruppe, den Mitarbeitern des
Sekretariats, die es nicht immer leicht mit uns hatten,
und natürlich auch unseren Sachverständigen und dem
18. Sachverständigen aus den Reihen der Öffentlichkeit
zu danken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Anfang stand ein großes Versprechen. Wir
wollten die gesellschaftlichen Veränderungen durch das
Internet untersuchen. Wir wollten neue Wege der Bürgerbeteiligung gehen. Wir wollten die Öffentlichkeit in
besonderem Maße einbeziehen, verschiedene Beteiligungsformen entwickeln und Anregungen der Öffentlichkeit in unsere Arbeit einfließen lassen.
({0})
Was für eine Chance, habe ich gedacht. Ich hatte die
Hoffnung, dass wir Netzpolitik jenseits der herkömmlichen parlamentarischen Zwänge diskutieren können,
dass der Fokus der öffentlichen Debatte etwas mehr auf
die klassische Netzpolitik und die gesellschaftlichen
Veränderungen durch das Internet verlagert wird, dass
eine Lust auf Einmischen in die Politik entsteht und dass
Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität so diskutiert werden, dass es alle verstehen und nicht nur ein paar
Experten.
({1})
Ich hatte die Hoffnung, dass wir den Alltag der Menschen aufnehmen und die gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Lebens-, Produktions-, Arbeits- und Kommunikationsweise debattieren. Ich nenne ein paar
Beispiele. Wir buchen unsere Reisen online. Stellenangebote finden wir online. Bankgeschäfte werden online
erledigt. Blogs und soziale Netzwerke sorgen für eine
neue Kommunikation.
Was bedeutet das für die Politik? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Ich habe gedacht, in einer
Enquete-Kommission könnten wir jenseits von Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen arbeiten.
Das ist Parlamentarismus, der Spaß macht, wo das Argument zählt und nicht die Fraktionszugehörigkeit.
({2})
Die Politik ist aber wie das Leben, und Hoffnungen
erweisen sich mitunter als Illusion. Das liegt nicht nur an
den Mühen der Ebene und an vermeintlich unabänderlichen Gegebenheiten, sondern auch an fehlenden Visionen, mangelndem Mut und parteipolitischem Kalkül.
Böse Zungen behaupten, dass die Ergebnisse der
Enquete mager und enttäuschend sind. Ich muss sagen:
An vielen Stellen haben wir eher in Legislaturperioden
gedacht und kurzfristige Handlungsempfehlungen aufgeschrieben, statt nach vorne zu schauen und weiter zu
denken als bis zum Jahr 2013.
Trotzdem gibt es einen sehr großen Erfolg für die
Enquete. Es gibt eine Sensibilisierung der Politik und aller Parteien für Netzpolitik und die gesellschaftlichen
Veränderungen, die das Internet mit sich bringt. Mittlerweile ist allen klar: Eine Gesellschaftspolitik, die der Zukunft zugewandt ist, kommt nicht mehr ohne Netzpolitik
aus.
({3})
Alle Parteien wissen, dass sie ihre Konzepte auf den
anderen sogenannten Politikgebieten nur entwickeln
können, wenn sie die Veränderungen, die das Internet
mit sich bringt, bedenken. Debatten über Urheberrecht,
Datenschutz und Netzneutralität werden mittlerweile in
allen Parteien so geführt, dass nicht nur wenige Experten
darüber diskutieren. Insofern danke ich der Enquete. Sie
hat dazu beigetragen, dass die Linke einen wunderbaren
Abschnitt in ihrem Parteiprogramm zur Netzpolitik formulieren konnte. Allein hätten wir das vielleicht nicht
ganz geschafft. Vielen Dank!
({4})
Ich glaube, wir haben in der Enquete ein wenig die
Chance verpasst, die Unterschiede produktiv zu nutzen.
Manchmal ist zugespitzter Widerspruch besser als ein
Kompromiss um jeden Preis oder der Versuch, die eigene Position durchzudrücken; denn Letzteres führt zu
einer Blockadehaltung und vergibt die Chance, den
Sachverstand der Sachverständigen einzubeziehen. Wir
haben uns zu häufig in Formalien und Klein-Klein verfangen. Ich mache das kurz an drei Beispielen deutlich.
Wir haben uns nicht von Anfang an dazu entscheiden
können, die Projektgruppen öffentlich tagen zu lassen.
Entschuldigung, aber das schließt externen Sachverstand
aus. Wir haben es zunächst nicht geschafft, die Werkzeuge der Beteiligung, zum Beispiel ein Internettool zur
Beteiligung, zu implementieren, weil die Koalitionsmehrheit das verhindert hat, und das, obwohl es ein wunderbares Konzept der Sachverständigen gab. Dass wir
nun das Werkzeug haben, ist einer privaten Initiative zu
verdanken. Wir haben zudem die Abstimmung zu Netzneutralität und Datenschutz immer wieder verschoben,
weil die Gefahr bestand, dass Mehrheiten wanken.
Was mich richtig nervt, ist die Tatsache, dass wir in
der Enquete noch immer dem Verfahren Opposition versus Regierung verhaftet sind. Die Sachverständigen werden immer als Sachverständige der entsprechenden
Fraktion bezeichnet. Nein, es sind Sachverständige der
gesamten Enquete und nicht der einzelnen Fraktionen.
Wir tun immer so, als würden wir in der Enquete Gesetze beschließen. Tatsächlich beschließen wir Handlungsempfehlungen. Der Bundestag ist frei, diese Handlungsempfehlungen aufzunehmen. Da kann man doch
ein bisschen mehr Mut haben.
({5})
Ich will dennoch ein bisschen positiv in die Zukunft
schauen. Wir haben jetzt noch mindestens ein halbes
Jahr. Ich finde, wir sollten dieses halbe Jahr für einen Paradigmenwechsel in wichtigen Punkten nutzen. Befreien
wir uns aus den strengen parlamentarischen Zwängen!
Machen wir entsprechende thematische Vorschläge, und
geben wir Handlungsempfehlungen, die über den Tag hinausgehen! Wir sollten den Mut haben, unterschiedliche
Positionen nebeneinanderstehen zu lassen. Wenn wir die
Chancen der Enquete nutzen wollen, sollten wir uns auf
ein Verfahren verständigen, das Neugier, Interesse und
Lust auf Einmischung weckt, neue Wege der politischen
Teilhabe beschreiten und neue Diskussionskulturen etablieren. Wir als Enquete sollten Vorbild sein für eine moderne, transparente und beteiligungsorientierte Politik.
Die Linke macht das auf jeden Fall mit.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Konstantin von
Notz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegin Wawzyniak, angesichts dessen, was du dir alles von der Enquete versprochen hast, muss ich sagen: Das ist ein bisschen naiv.
({0})
Auch in einer Enquete wird Politik betrieben und gibt es
die Mühen der Ebene. Damit müssen wir uns nun einmal
auseinandersetzen. Ich möchte jetzt nicht nur das Kritische, sondern auch das Positive der Enquete benennen.
({1})
Wir haben uns am Anfang aus gutem Grund darauf
verständigt, dass Bürgernähe und Partizipation für diese
Enquete nicht nur theoretische Themen sein dürfen, die
wir mit Expertinnen und Experten besprechen und zu denen wir am Ende etwas mehr oder weniger Schlaues aufschreiben. Vielmehr haben wir gesagt: Eine neue Form
der Bürgerbeteiligung muss bereits Arbeitsgrundlage der
Enquete selbst sein. Das ist angesichts einer Entwicklung unserer Demokratie, bei der sich immer weniger
Menschen richtig eingebunden und verstanden fühlen,
genau der richtige Schritt.
({2})
Die grundsätzliche Bearbeitung eines so breiten und
dynamischen Politikbereichs wie der Netzpolitik ist eben
ein Prozess. Niemand hat fertige Antworten, weder hier
im Haus noch außerhalb dieses Hauses. Natürlich ist es
nicht so, dass der Deutsche Bundestag eine Enquete einsetzt und dass wir dann nach zwei Jahren mit dem
Thema durch sind. Deswegen sollten wir allzu kleinliche
Aufrechnungen und Vorhaltungen vermeiden und das
Licht dieses Gremiums nicht zu sehr unter den Scheffel
stellen;
({3})
denn es gibt viel Positives zu bilanzieren. Kaum ein anderes Parlament in der Welt beschäftigt sich derzeit so
intensiv und systematisch mit diesen für uns, für die moderne Wissens- und Informationsgesellschaft so grundlegenden Fragen.
({4})
Wir haben mit der Enquete die Einbindung externen
Sachverstands in unsere Arbeit institutionalisiert, und
zwar von der Wissenschaft und den Datenschützern über
den CCC und die Bloggern bis zum BITKOM und der
Verbraucherzentrale. Hinzu kommen viele kluge Menschen, die uns in Anhörungen beraten. Durch diesen Input, aber auch dank unserer sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - das muss man bei der Arbeit,
die da angefallen ist, wirklich einmal sagen - sowie des
Sekretariats der Enquete, aber auch dank des Engagements des Teams von Adhocracy wird der Output, den
diese Enquete erzeugt, für unsere zukünftige Arbeit, so
glaube ich, sehr wertvoll sein.
Die bislang vorliegenden Zwischenberichte samt
Handlungsempfehlungen sind nicht nur eine grundlegende Positionsbestimmung, sondern sie werden als
Kompass die netzpolitische Debatte der nächsten Jahre
in diesem Haus maßgeblich begleiten.
Ich freue mich besonders, dass wir unserem Anspruch, den fundamentalen Umbrüchen mit entsprechend progressiven Ansätzen zu begegnen, ganz überwiegend gerecht werden, sowohl beim Datenschutz als
auch bei der Netzneutralität, bei Fragen der Medienkompetenz und beim Urheberrecht. Wer hätte am Anfang der
Arbeit dieser Enquete-Kommission gedacht, dass sich
der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend einsetzt
gegen Netzsperren, für mehr Open Data, für verbessertes
E-Government, für mehr Open-Source-Lösungen, für
mehr Creative-Commons-Modelle, für die Privatkopierregelung bei Downloads, für die Netzneutralität und für
eine grundlegende Weiterentwicklung des bestehenden
Urheberrechts? Das haben wir alle gemeinsam zu Papier
gebracht. Das alles sind harte Weichenstellungen, und
sie alle gehen in die richtige Richtung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kann man sehr zufrieden sein.
Neben diesen inhaltlichen Einsichten gibt es auch Positives bei der Form, wie gearbeitet wird. Da ist nicht nur
Adhocracy, die wir weiterzuentwickeln versuchen.
Heute werden alle Sitzungen der Enquete und auch die
Sitzungen einer Reihe von Projektgruppen gestreamt.
Zudem finden alle Anhörungen öffentlich und mit Beteiligungsmöglichkeiten statt. Das alles ist nicht perfekt,
aber, ich finde, es ist ein Anfang, und wir sind auf dem
richtigen Weg.
Ich bin unter dem Strich zuversichtlich, dass diese
Enquete trotz der überhöhten Erwartungen und des brutalen Zeitdrucks, der sich entwickelt hat, letztlich ihren
Auftrag erfüllen wird. Ich erwarte aber auch, dass dann
die Bundesregierung beginnt, gemeinsame Handlungsempfehlungen umzusetzen
({5})
- genau, Herr Jarzombek - und in der Tagespolitik nicht,
wie zuletzt beim Telekommunikationsgesetz, genau in
die andere Richtung zu rudern. Das ist ein hoch widersprüchliches Verhalten.
Am Ende reichen die warmen Worte, die Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, und die Einsetzung der Enquete selbst nicht aus. Der Gesetzgeber muss
tätig werden: bei der Netzneutralität, beim Datenschutz
in der digitalen Welt, bei der Reform des Urheberrechts
und in vielen anderen Bereichen. Da können Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, sich nicht hinter
dieser Enquete wegducken.
Ganz herzlichen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Vorsitzende der EnqueteKommission, Axel Fischer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor 13 Jahren die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in
Wirtschaft und Gesellschaft“ dem Deutschen Bundestag
ihren Schlussbericht vorlegte, fand sich dort ein bemerkenswerter Satz. Er lautete: „Kein Stein wird auf dem
anderen bleiben!“
Vor 13 Jahren hatten 6,6 Millionen Menschen in
Deutschland Zugang zum Internet. Heute sind es 52 Millionen, drei Viertel der Bevölkerung. Wenn man sich anschaut, wie Menschen in Deutschland heute Informationen einholen, wie sie in Kontakt mit Freunden bleiben
oder wie sie ihre Arbeit organisieren, dann stellt man
fest: Das hat sich in den letzten 13 Jahren tatsächlich
sehr verändert. Diese Entwicklung ist noch lange nicht
an ihr Ende gekommen.
Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat im Mai 2010 ihre Arbeit aufgenommen.
Bereits bei der ersten Sitzung wurde deutlich, dass die
34 Mitglieder dieser Enquete unser Thema aus vielen unterschiedlichen Perspektiven behandeln werden. Wenn
Unternehmer, Blogger, Journalisten, Künstler, Juristen,
Wissenschaftler, Gewerkschafter, Programmierer, Verwaltungsfachleute und Abgeordnete zusammenarbeiten,
kann es dabei nur kontrovers und spannend zugehen.
Diese Erwartung hat sich erfüllt. Bisher lässt sich
feststellen, dass sich der Satz „Kein Stein wird auf dem
anderen bleiben“ auch heute ohne Mühe für den Bericht
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ verwenden ließe; denn die Entwicklung geht
weiter. Sie nimmt sogar an Dynamik zu.
Was sich in den letzten 13 Jahren nicht sehr verändert
hatte, waren die politische Wahrnehmung des Themas
Internet und die Auswirkungen der Digitalisierung auf
die Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland konnte sich
das Thema Internet mit dem Etikett „klein, aber fein“
schmücken. Mit Ausnahme der USA, wo das Netz seit
dem Wahlkampf von Barack Obama 2008 einen eigenen
politischen Raum erobert hat, fristete das Thema Internet
in der Politik ein Schattendasein. Erst in jüngster Zeit ist
das Thema mehr ins Zentrum der politischen und medialen Öffentlichkeit gerückt. Dabei wird deutlich, dass das
Internet mehr als nur ein weiteres technisches Medium
ist, das einige mehr und andere weniger versiert nutzen
können.
Das Netz ist für viele Menschen ein neuer kultureller,
wirtschaftlicher und sozialer Raum, in dem sie viele Freiräume haben. In diesem neuen sozialen Raum müssen die
Grenzen der Freiheit des Einzelnen neu verhandelt wer18324
Axel E. Fischer ({0})
den. Lange Zeit waren die durchaus vorhandenen politischen Debatten rund um die Digitalisierung von vielen
Politikern nicht wahrgenommen worden. Das ändert sich
nun zusehends. In aller Bescheidenheit glaube ich, dass
dies auch ein wenig mit der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zusammenhängt.
Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die heute ihren Zwischenbericht vorlegt, ist
derzeit das einzige parlamentarische Gremium der Welt,
das sich derart umfassend, tiefgreifend und dabei themenübergreifend mit den Herausforderungen der Digitalisierung für unsere Gesellschaft beschäftigt, und darauf,
denke ich, sollten wir alle stolz sein.
({1})
Wir haben damit begonnen, uns die Fragen zu stellen,
die die Digitalisierung der Gesellschaft mit sich bringt:
Wie wollen wir die neuen digitalen Räume gestalten?
Warum gibt es kein deutsches Silicon Valley? Wie gehen
wir mit dem Problem der digitalen Spaltung um, also mit
der Tatsache, dass längst nicht alle Menschen Zugang
zum Netz haben und es nutzen können? Und nicht zuletzt: Wie und wo setzen wir Grenzen, beispielsweise bei
der Frage nach einem besseren Schutz vor Kriminalität,
aber auch bei den Schutzbedürfnissen von Urhebern und
Verbrauchern?
Ich muss gestehen, zu Beginn unserer Arbeit überrascht darüber gewesen zu sein, wie kontrovers die Diskussionen verliefen und wie weit die Positionen teilweise auseinanderlagen. Das lag sicherlich zum Teil
daran, dass wir uns die großen Themen, die kontrovers
diskutiert wurden, zuerst vorgenommen haben: Netzneutralität, Datenschutz und Urheberrecht. Es lag aber meiner Meinung nach auch daran, dass diese Diskussionen
in dieser Breite so bisher überhaupt nicht geführt worden
waren. Bislang waren die Gruppen und Gleichgesinnten
unter sich geblieben, Gegenrede war kaum zu befürchten. Der politische Mainstream hatte das Thema bisher
nicht oder kaum zur Kenntnis genommen.
Aufgrund der Arbeit der Enquete-Kommission sind
die Positionen jetzt klarer, mit mehr Argumenten unterfüttert und durchdachter. Die Kommission hat sich in einer sehr zeitgemäßen Weise geöffnet und dabei neue
Wege der Bürgerbeteiligung beschritten. Die Kommissionssitzungen sind zumeist live oder zumindest zeitversetzt online zu verfolgen. Eine eigens eingestellte OnlineRedakteurin schreibt Artikel über alle Projektgruppensitzungen. In einem Blog und einem Forum werden Meinungen ausgetauscht, auf Twitter wird berichtet. Seit Februar letzten Jahres ist es zudem möglich, auf einer
Beteiligungsplattform die Arbeitspapiere der Kommission in einem frühen Stadium zu kommentieren und eigene Vorschläge zu machen, und schon heute kann ich
feststellen: Die Beteiligung der Bürger hat unsere Arbeit
sehr bereichert. Die Zahl der Bürger, die das Angebot genutzt haben, blieb zwar unter unseren Erwartungen, die
Qualität der Beiträge übertraf sie jedoch bei weitem.
Wir haben bei diesem bisher einmaligen Experiment
in der Geschichte des Deutschen Bundestages wertvolle
Erfahrungen sammeln können, und darauf können wir
aufbauen.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in dieser
Woche haben die Betreiber der Internetplattform Wikipedia ihr englisches Informationsangebot für einen Tag
aus dem Netz genommen. All diejenigen, die darauf zugreifen wollten, konnten das nicht. Als Grund dafür
wurde angegeben, dass die verantwortlichen Betreiber
zwei Gesetzesinitiativen in den USA missbilligen und
deren Verabschiedung verhindern wollen.
Dieser Vorgang zeigt mir, wie wichtig es ist, in unserer vernetzten Welt zu Spielregeln zu kommen, die verlässlich eingehalten werden. Denn wer sich auf das Netz
verlassen soll, der darf nicht verlassen sein.
({3})
Ist es legitim, wenn vergleichsweise wenige mit ihrem
Einfluss im Netz viele beeinträchtigen können? Wie gehen wir mit neu entstehenden Abhängigkeiten um? Wie
demokratisch soll bzw. kann die digitale Gesellschaft
funktionieren? Es werden viele Fragen der Ethik, der Legitimität, der politischen Beteiligung, des Gesetzesvollzugs und vieles andere mehr aufgeworfen, die verbindlich zu klären sind.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf eine weiterhin intensive Diskussion innerhalb der Enquete-Kommission; denn, meine Damen und Herren, auf diese Fragen müssen wir Antworten geben.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Kollegin Aydan Özoğuz ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Arbeit der Projektgruppe Medienkompetenz, von der ich
berichten darf, hat bisher vielleicht am besten aufgezeigt, für was eine Enquete-Kommission eigentlich gut
ist: für eine konstruktive gemeinsame Arbeit mit großer
Bereitschaft, dazuzulernen und sich auch auf verschiedene Ergebnisse zu verständigen. Das kann man ja leider
nicht für die gesamte Arbeit der Enquete-Kommission
sagen, wie wir schon gehört haben.
Der Zwischenbericht zum Thema Medienkompetenz
kann sich jedenfalls aus meiner Sicht wirklich sehen lassen. Dazu haben vor allem die Sachverständigen beigetragen, von denen ich zwei namentlich erwähnen
möchte, die nachweislich einen sehr großen Anteil an
diesem Bericht haben. Das ist zum einen Professor
Wolfgang Schulz vom Hans-Bredow-Institut, zum anderen ist das Professor Ring, ehemals KJM-Vorsitzender.
Beide verdienen wirklich Dank und Anerkennung. Ich
glaube, Herr Jarzombek, da werden Sie mir auch zustimmen.
({0})
- Sie auch, das ist schön. - Wer glaubt, dass es bei den
Diskussionen keine Bandbreite gab, dem möchte ich nur
mitteilen, dass neben besagtem Professor Ring auch
Alvar Freude Mitglied in dieser Projektgruppe war. Damit ist wohl klar, dass wir durchaus eine ganze Reihe
von unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen
mussten.
Ich vermute einmal, dass jeder hier im Raum schon
einmal die Forderung nach mehr Medienkompetenz erhoben hat oder zumindest davon gehört hat. Der Begriff
löst ja seit einiger Zeit sehr unterschiedliche Reaktionen
aus. Die einen können ihn kaum noch hören, weil sie
sich seit Jahrzehnten damit beschäftigen. Die anderen
wiederum finden, dass es noch viel zu tun gebe, besonders in Bildungseinrichtungen, aber auch in Elternhäusern, und dass wir erst am Anfang des Weges stünden.
Ich finde, dass beide Seiten recht haben und dass es nicht
nur eine Frage der Zeit ist, bis sich hierfür eine Lösung
abzeichnet. Auch neue Generationen wachsen ja nicht
geschlossen mit den gleichen Möglichkeiten, der gleichen Ausstattung oder der gleichen Förderung auf, was
gerade in der digitalen Welt zu großen Nachteilen führen
kann.
Unbestritten ist, dass der Begriff „Medienkompetenz“
in den letzten Jahren sehr inflationär gebraucht wurde.
Medienkompetenz gilt vielen auch als das Allheilmittel
für diverse Probleme und Phänomene im Internet. So
wird ganz verzweifelt nach Medienkompetenz gerufen,
wenn zum Beispiel Seniorinnen oder Senioren in Abofallen tappen, wenn Schülerinnen und Schüler zu Mobbingopfern im Internet werden und ihre Eltern, sofern sie
es überhaupt erfahren, hilflos danebenstehen oder wenn
Eltern für die illegalen Downloads ihrer Sprösslinge zahlen müssen.
Mitunter wundere ich mich auch über die Freizügigkeit, mit der Bilder und private Daten im Netz veröffentlicht werden. Ein Gespräch mit älteren Jugendlichen
zeigt häufig, dass diese den jüngeren Jugendlichen eher
davon abraten, allzu viel Freizügigkeit im Netz walten
zu lassen.
Ich zitiere zur Rolle der Nutzerinnen und Nutzer in einer digitalen Öffentlichkeit aus unserem Bericht:
Als Ziel hat die Enquete-Kommission daher die
aufgeklärten Nutzerinnen und Nutzer im Blick, die
sich beispielsweise durch kreatives Schaffen der
Medien bedienen und dabei verantwortungsvoll mit
eigenen persönlichen Daten und respektvoll mit den
Daten anderer Nutzer in den Medien umgehen. Die
Enquete-Kommission betrachtet die Nutzer interaktiver Medien ausdrücklich mehrdimensional: als
Sender und Empfänger, als Konsumenten und Produzenten, als Wissende und Lernende.
Medienkompetenz ist somit nicht nur der Schlüssel zur
Teilhabe an der digitalen Gesellschaft. Fehlende Medienkompetenz hat vielmehr ganz konkrete Auswirkungen
auf die Offlinewelt. Medienkompetenz hat erhebliche
Auswirkungen auf gesellschaftliche Teilhabe, Bildung
und sozialen Aufstieg. Mittlerweile ist sie unverzichtbar
geworden. Das gilt vor allem für die Bereiche Schule,
Ausbildung und Beruf. In der Enquete-Kommission haben wir hierfür den Begriff „digitale Selbstständigkeit“
geprägt. Damit ist gemeint, dass jede Bürgerin und jeder
Bürger in der Lage sein soll, alle Möglichkeiten der digitalen Gesellschaft selbstständig zu nutzen und sich
gleichzeitig aber auch vor den damit verbundenen Risiken möglichst gut schützen zu können. Das ist unser Ziel.
Wir haben einige Handlungsempfehlungen formuliert. Ich möchte nur ganz wenige herausgreifen. Herr
Blumenthal hatte die erste bereits erwähnt. Es gibt viele
wirklich tolle Initiativen und Projekte. Natürlich ist es
Aufgabe von Bund und Ländern, diese Initiativen und
Projekte zu bündeln, besser aufeinander abzustimmen
und miteinander zu vernetzen. Darin waren wir uns völlig einig. Bund und Länder müssen die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen
und Erziehern, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen
- die möchte ich noch hinzufügen - an die Medienwirklichkeit anpassen. Medienkompetenz muss ein wichtiger
Baustein in der Aus- und Weiterbildung werden. An die
Länder wiederum richtet sich der Appell, medienpädagogische Inhalte stärker und verpflichtend in den Lehrplänen aller Schularten zu verankern. Wir wissen, dass
neue Medien nicht an Staatsgrenzen haltmachen und
schon gar nicht an den Grenzen von Bundesländern.
Spätestens die Schule muss der Ort sein, an dem Kinder mit neuen Medien in Berührung kommen. Deswegen
empfiehlt die Kommission die Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I mit einem
mobilen Endgerät. An dieser Stelle ist es mir besonders
wichtig, hervorzuheben, dass diese Forderung nur im
Gleichklang mit neuen digitalen Bildungskonzepten einhergehen kann. Die SPD-Fraktion hat hierzu ein Sondervotum eingebracht: Wir sagen, der weitere Ausbau der
Hardwareausstattung oder die Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten sind nur
dann sinnvoll, wenn Lehrerinnen und Lehrer damit kompetent und souverän umgehen können und wenn Bildungskonzepte dafür vorliegen, wie Computer sinnvoll
in den Unterricht zu integrieren sind. Eine bloße Ausstattung um der Ausstattung willen halten wir nicht für
zielführend.
Natürlich ist eine solche Ausstattung auch nicht kostenlos zu bekommen. Hier müssen wir alle konstruktiv
zusammenarbeiten und nach Lösungen suchen, damit
jede Schülerin und jeder Schüler unabhängig von der
Herkunft einen gleichwertigen mobilen Computer bekommt.
Ebenso möchte ich die Eltern in den Blick nehmen.
Es bedarf eines Bewusstseins der Eltern für ihre medienpädagogische Verantwortung. Dazu brauchen wir ein
niedrigschwelliges Beratungsangebot für Eltern.
Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz
Zuletzt möchte ich erwähnen, dass die Enquete-Kommission die Forderung erhoben hat, die Forschung im
Bereich Medienkompetenz zielgerichtet voranzutreiben,
da es dort noch große Lücken gibt. Hier möchte ich
meine Verwunderung über die Koalition zum Ausdruck
bringen:
({1})
Die SPD-Fraktion hat bei den Beratungen zum Bundeshaushalt 2012 den Antrag gestellt, ein neues längerfristig angelegtes Programm zur Medienkompetenzforschung zu initiieren. Der Antrag wurde von Ihnen, meine
Damen und Herren von der Koalition, einfach abgelehnt.
Herr Blumenthal sprach eben von einem Gestaltungsauftrag. Im ersten Moment, in dem die Gelegenheit dazu gewesen wäre, haben Sie leider schon gleich wieder Nein
gesagt. Das bedauern wir sehr.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Natürlich begrüße ich auch
die Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen
und Zuhörer auf den Zuschauerrängen und zu Hause
ganz herzlich.
({0})
- Ja, genau.
Der Abschluss der ersten Projektgruppenstaffel ist ein
guter Anlass, auf die Arbeit der Internet-Enquete bis
heute zurückzublicken. Nachdem das Thema Netzpolitik
bislang sträflich vernachlässigt wurde, ist es nun durch
die Enquete ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt worden.
({1})
Wir haben Politik, Wissenschaft, Netzgemeinde und Internetwirtschaft auf Augenhöhe an einen Tisch gebracht nicht nur kurzfristig, sondern über einen mehrjährigen
Zeitraum, der Platz lässt für tiefgreifende Diskussionen.
Die Aufteilung der Arbeit in thematische Projektgruppen hat es uns ermöglicht, unsere Themen von allen
Seiten zu beleuchten. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wir haben intensiv und konstruktiv diskutiert, wie
schon mehrfach hier hervorgehoben wurde. Wir haben
uns sogar gestritten. Aber vor allem haben wir viel voneinander gelernt.
Die Ergebnisse der Projektgruppen für Medienkompetenz, Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität
sind bereits angesprochen worden. Lassen Sie auch mich
einige Worte zur Projektgruppe Netzneutralität sagen.
Ich glaube, dass man mit Fug und Recht behaupten
kann, dass die Projektgruppe Netzneutralität einen großen Anteil daran hatte, mit welchem Enthusiasmus, mit
welchem öffentlichen Widerhall ein vermeintliches Orchideenthema wie Netzneutralität im letzten Jahr diskutiert wurde. Dies geschah nicht nur in den Blogs und in
den IT-Magazinen, also in den üblichen Verdächtigen,
sondern auch in der Mainstream-Presse. Nach ausführlichen und zu großen Teilen konstruktiven Diskussionen,
nach Anhörung der Fachleute und Experten waren wir
uns in der Analyse und sogar im Ziel einig. Der einzige
Unterschied bestand am Ende darin, wie wir dieses Ziel
eines diskriminierungsfreien, neutralen Netzes sichern.
Die Frage war, ob es einer sofortigen gesetzlichen Regelung bedarf oder eben nicht. Gerade diejenigen, die
immer zu Recht vor einer zu großen Einmischung des
Staates warnen, sehen hier auf einmal einen akuten staatlichen Regulierungsbedarf. Das Internetprotokoll wurde
doch einst so entwickelt, dass es selbst einen Atomkrieg
überstehen kann. Es hat in der Vergangenheit auch eine
ganze Reihe von Innenministern überstanden.
({2})
Wir brauchen keine Vorratsgesetzgebung.
({3})
Aber angesichts der breiten Debatte können wir feststellen, dass die Zeit, in der man beklagen musste, dass
Netzthemen in der Politik nicht gehört werden, endgültig
vorbei ist.
Wir dürfen eines nicht vergessen: Aufgabe der Enquete ist es, Leitlinien für die Netzpolitik der Zukunft zu
entwickeln. Allzu oft haben wir uns in den letzten Monaten aber in Diskussionen über Kommata und Fußnoten
verloren. Wir haben uns sehr auf Details bestehender
Gesetze und Regeln konzentriert, sodass wir zu oft den
Blick für das Große und Ganze verloren haben. Das
bringt uns nicht weiter. Wir müssen in den kommenden
Projektgruppen darauf achten, uns nicht in der Tagespolitik zu verlieren, sondern uns den Sinn für Visionen
zu erhalten.
Bei der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger haben wir neue Maßstäbe in der parlamentarischen Arbeit
gesetzt. Die auch unter www.demokratie.de zu erreichende Beteiligungsplattform Adhocracy ermöglicht es
jedem, Vorschläge zu machen, über Ideen zu diskutieren
oder sogar darüber abzustimmen. Natürlich wünsche
auch ich mir eine breitere Beteiligung. Aber die Diskussion ist anregend, und der Anfang ist gemacht für, wie
Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz
ich hoffe, ein neues Miteinander zwischen Politik und
Gesellschaft.
Doch was bleibt am Ende? Was kommt nach der
Enquete? Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das
Thema Internet und Digitalisierung in Zukunft behandeln wollen. Wir müssen einen Weg finden, die Diskussion über das Internet positiv zu besetzen. Die Debatte
wird leider viel zu oft verengt geführt und befasst sich
nur mit dem Bahnhofsviertel des Internets. Ich will die
Chancen, die das Netz uns bietet, beleuchten und zum
Zentrum der Diskussion machen. Wir können vom Internet und von der Digitalisierung so stark profitieren. Es
ist unangebracht, dass wir den Blickwinkel zu sehr auf
die negativen Seiten einschränken.
Die Enquete funktioniert, weil sie unterschiedliche
Fachrichtungen zusammenbringt: Innen- und Rechtspolitik, Wirtschaft, Kultur und Medien, Bildung und
Forschung und sogar Familienpolitik. Digitalisierung
berührt uns alle und in allen Lebensbereichen. Sie muss
deshalb auch politisch fachübergreifend behandelt werden. Ich spreche mich deshalb hier und heute dafür aus,
der Netzpolitik den Raum zu geben, den sie braucht: einen eigenen Ausschuss und damit einen dauerhaften
Platz im deutschen Parlament.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Projektgruppe Medienkompetenz haben wir es, anders als
beispielsweise in der Gruppe Urheberrecht, tatsächlich
über weite Teile geschafft, mit den Sachverständigen
wirklich inhaltsorientiert und konsensual zu arbeiten. So
sehe ich es zum Beispiel als großen Fortschritt an - es
wurde schon erwähnt -, dass wir Jugendmedienschutz
nunmehr von einem neuen Ausgangspunkt denken: weg
vom vormundschaftlichen Verbotsdenken gegenüber Jugendlichen hin zu mehr Vertrauen auf die Fähigkeiten von
Jugendlichen, Medien sinnvoll und selbstbewusst nutzen
zu können.
({0})
Praktisch heißt das dann auch, Altersfreigaben von Filmen oder Spielen für Jugendliche im Netz infrage zu stellen und daraus keine Glaubenskämpfe zu machen. - Herr
Brüderle, wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir nicht
Ihren Rücken zuwenden? - Jetzt geht er sogar. Schade,
gerade bei dieser Debatte.
({1})
Bei altersgerechter und interaktiver Medienbildung
wird zumeist zuerst an Kinder und Jugendliche gedacht.
Nachholbedarf - das haben die Diskussionen in der Mediengruppe gezeigt - haben vor allem ältere Generationen. Gerade Erwachsene müssen sich permanent im
Umgang mit digitalen Medien fortbilden. Wie die CDU,
insbesondere Herr Altmaier, dokumentiert, können dazu
sehr schöne Erlebnisse erzählt werden. Herr Altmaier
hat es wunderbar zelebriert, wie man sich das Netz bei
der politischen Arbeit erobern kann. Ältere können also
durchaus ihre Scheu vor immer neuen Geräten überwinden und sie interaktiv nutzen.
({2})
Allerdings gibt es viel zu wenig Forschung zur Medienbildung Erwachsener. Als Forschungspolitikerin begrüße ich daher ausdrücklich, dass die Internet-Enquete
eine Stärkung der Wissenschaft in diesem Bereich einfordert.
Wir waren uns auch noch relativ einig, dass Medienbildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet
werden muss, sie aber in Deutschland einen noch viel zu
geringen Stellenwert einnimmt. In der sogenannten Bildungsrepublik sind wir meilenweit davon entfernt, Medienbildung strukturiert und dauerhaft in unseren Bildungseinrichtungen anzubieten. Doch wie fast immer, wenn es
um soziale Gerechtigkeit geht, hörte dann die fraktionsübergreifende Einigkeit auf. Was meine ich damit? Umfassende Medienbildung kann nur funktionieren, wenn
auch alle einen Medienzugang haben. Digitale Medien
dürfen kein exklusives Spielzeug gut situierter Schichten
bleiben. Deshalb muss auch für sozial Schlechtergestellte
die Anschaffung und der Besitz von internetfähigen Endgeräten möglich werden.
({3})
Ich sage es noch einmal, auch wenn es die Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, SPD und FDP nicht so
gerne hören und mir nicht zugestimmt haben: Ein paar
Euro mehr beim Hartz-IV-Satz für den Internetanschluss
nutzen nichts, wenn sich die Leute am Ende nicht einmal
einen Computer leisten können.
({4})
Fazit: Internetfähige Hardware muss künftig zum Existenzminimum in unserer Gesellschaft gehören.
({5})
Einig waren wir uns allerdings bei der Frage eines
Notebooks für jede Schülerin und jeden Schüler. Wenn
wir es unabhängig vom Geldbeutel der Eltern schaffen,
diese Notebooks jeweils in den Schulranzen zu bekommen, wäre es eine richtig gute Sache. In vielen Ländern
ist das längst der Fall. Wie visionär ein solches Projekt
ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass die KMK das
letzte Mal vor vier Jahren eine Erhebung zur IT-Ausstattung deutscher Schulen durchgeführt hat. Natürlich dürfen Schülernotebooks nicht auf geschlossene Betriebssysteme oder auf bestimmte Programme eingeschränkt
werden. Natürlich müssen Lerninhalte offen und flexibel
gestaltet werden. Natürlich brauchen wir digitale Schulbücher. Warum sollen Kinder und Jugendliche kiloweise
Papier durch die Gegend schleppen, wenn wir Lernmaterial digital anbieten können,
({6})
Lernmaterial übrigens, das Lehrerinnen und Lehrer in
der Unterrichtsvorbereitung kollaborativ, also gemeinsam erstellen und jederzeit aktualisieren können? Das
wäre natürlich aber auch nur möglich, wenn wir es endlich schaffen, das Urheberrecht an diesem Punkt anzupassen. Wir warten bis heute auf den Dritten Korb der
Urheberrechtsnovelle. Deshalb muss Schluss sein mit
der Verzögerung der Urheberrechtsnovelle. Die Änderungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich müssen
endlich erfolgen. Alles andere würde bedeuten, Wissenspotenziale des Internets fahrlässig auszubremsen.
Die Projektgruppe Medienkompetenz hat für die Onlineoffensive durchaus gute Vorschläge gemacht. Die
Linke hat ihre Reformvorschläge für das Urheberrecht,
wie beispielsweise die Bildungs- und Wissenschaftsschranke oder die Förderung von Open Access, längst in
den Bundestag eingebracht. Hier wie dort darf die Regierung kopieren, kopieren, kopieren - und sie muss deswegen nicht einmal zurücktreten.
({7})
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einiges Kritisches über die Arbeit in der Enquete-Kommission gesagt
worden. Im Gegensatz zu den Projektgruppen Datenschutz, Urheberrecht und Netzneutralität kann man die
Projektgruppe Medienkompetenz geradezu als Hort der
Harmonie bezeichnen.
Wir haben zwar in der Sache hart diskutiert, insgesamt waren die Beteiligten jedoch alle an einem Konsens
interessiert. An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken, nicht
zuletzt denjenigen, die sich über die Beteiligungsplattform Adhocracy eingebracht haben. Wir haben in dieser
Projektgruppe tatsächlich fast alle Vorschläge einarbeiten können.
Ich hoffe, dass die aktuellen und künftigen Projektgruppen sich ein Beispiel an der Projektgruppe Medienkompetenz nehmen; denn im Endeffekt schaden die
Querelen in der Enquete-Kommission dem Ansehen dieses Hauses insgesamt. Die vorangegangenen Reden haben mir gezeigt, dass alle Kolleginnen und Kollegen
eine konstruktive Fortführung und einen erfolgreichen
Abschluss unserer Arbeit wollen. Ich hoffe, das bleiben
keine Lippenbekenntnisse.
Die teils unerfreulichen Begleitumstände der
Enquete-Kommission sollen uns nicht vollends von den
Inhalten ablenken. Stellen Sie sich daher bitte drei Szenarien vor: Ein älterer Herr sucht im Internet nach einem
Kochrezept und tappt dabei in eine Abofalle;
({0})
ein Teenager stellt unbedacht alberne Fotos von sich bei
Facebook ein und wird zum Gespött der Schule; ein
Politiker twittert einen missverständlichen Kommentar,
und eine virtuelle Welle der Empörung bricht über ihn
herein, sein Name wird sogar Trending Topic.
Tja, werden Sie sagen, wären diese drei nur medienkompetenter gewesen. - Alle rufen immer nach Medienkompetenz, wenn es darum geht, Menschen vor Fehlern
im Internet zu bewahren. Selbst beim höchstumstrittenen
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag waren sich alle einig:
Wir brauchen mehr Medienkompetenz. - Wie aber dieses Mehr an Medienkompetenz genau aussehen muss,
daran scheiden sich die Geister.
Medienbildung darf nicht der kleinste gemeinsame
Nenner sein. Wir stehen in Zeiten des digitalen Wandels
vor einer Mammutaufgabe. Deshalb ist es gut, dass wir
es in der Projektgruppe Medienkompetenz geschafft haben, uns weitgehend auf einen Text zu einigen. Dabei
will ich drei wichtige Punkte herausstreichen:
Erstens halte ich es für wichtig, dass die bereits vor
drei Jahren im medienpädagogischen Manifest beklagte
„Projektitis“ endlich eingedämmt wird. Bewährte Ansätze müssen wir ausweiten und verstetigen. Wir wollen
keinen blinden Aktionismus und auch nicht, dass Medienbildung zu Profilierungszwecken instrumentalisiert
wird. Deshalb empfehlen wir im Bericht, dass bei geplanten Maßnahmen zunächst der Bedarf erhoben wird,
Ziele definiert und die Ergebnisse evaluiert werden. Vor
allem aber fordern wir eine stärkere und verpflichtende
Verankerung von medienpädagogischen Inhalten in den
Lehrplänen und in der pädagogischen Ausbildung.
Zweitens ist mir wichtig, dass die Aktivitäten im Bereich Medienpädagogik besser vernetzt werden, denn sie
ziehen sich durch viele Politikfelder. Das wurde von einigen Rednern bereits benannt. Es gibt zahlreiche Initiativen und Projekte. Damit aber nicht überall das Rad neu
erfunden werden muss und sich erfolgreiche Ansätze
verbreiten können, muss es einen regen Austausch geben. Der Bund kann hier eine koordinierende Rolle übernehmen.
({1})
Drittens halte ich es für wichtig, dass wir Medienkompetenz nicht nur als Mittel zur Risikovermeidung sehen, was sie meiner Ansicht nach auch gar nicht leisten
kann. Wir können höchstens Risiken minimieren. Nein,
Medienkompetenz ist viel mehr: Sie befähigt zur gesellschaftlichen Teilhabe im digitalen Raum.
Im Bericht haben wir daher nicht nur die Chancen der
neuen Medien herausgestellt, sondern auch die Risiken
benannt. Ja, man kann viele Fehler machen, wenn man
sich im Internet bewegt; man kann sich aber auch großartige neue Möglichkeiten erschließen. Für beides
braucht man umfassende Medienbildung.
({2})
In den vergangenen Monaten hat uns das Thema
Cybermobbing immer wieder beschäftigt. Hier stoßen
wir an die Grenzen dessen, was Medienkompetenz tatsächlich leisten kann. Mobbing hat es zwar schon immer
gegeben, ob auf dem Pausenhof oder am Arbeitsplatz,
jedoch haben sich die Form und die Massivität durch das
Internet geändert. Wir müssen daher Medienbildung
ganzheitlich betrachten: Es geht nicht allein darum, technische Fertigkeiten zu erwerben oder die Urteilsfähigkeit
bei der Bewertung von Inhalten zu schärfen; es geht vor
allem auch um das Zusammenleben in einem neuen
Raum und das respektvolle Miteinander. Das, meine Damen und Herren, ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag.
({3})
Medienkompetenz lässt sich natürlich nicht lernen
wie Mathe oder Geschichte; Frontalunterricht, graue
Theorie und Abfragewissen sind fehl am Platz, wenn es
darum geht, jemandem beizubringen, wie man sich sicher und vor allen Dingen auch effektiv im Netz bewegt.
Surfen ist selten ein Selbstzweck: Meist ist man auf der
Suche nach Informationen, kommuniziert mit anderen
oder schafft selbst Inhalte. Genauso funktioniert auch
das Medienlernen: durch Ausprobieren, Selbstmachen
und Sammeln von Erfahrungen. Das betrifft nicht nur
Kinder und Jugendliche, sondern eben auch ältere Menschen: Eltern, Berufstätige, auch Soldaten, nicht zuletzt
Politiker. Je nach Alter, Wohnort, Beruf und Interessenlage entscheidet sich, welche Fähigkeiten und Kenntnisse eine Person medienkompetent machen. Da kann
der 16-jährige Berliner Großstadtjunge genauso viel dazulernen wie die 45-jährige Bundestagsabgeordnete aus
Mainz.
({4})
Ich hoffe, dass die Enquete ebenfalls dazulernt und
wir uns für die kommende Arbeit in den Projektgruppen
genügend Zeit nehmen und konstruktiv miteinander arbeiten, damit wir am Ende hier positiv über den Abschlussbericht sprechen können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thomas Jarzombek für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
mein Leben lang in der IT gearbeitet. Als ich in den
Bundestag gewählt wurde, habe ich mich gefragt: Wo
kann ich all das Wissen, das ich gesammelt habe, einbringen? Insofern bin ich dankbar, dass es diese
Enquete-Kommission gibt; denn sie bietet zum ersten
Mal einen sehr prominenten Platz, an dem man über das
Internet und über Netzpolitik reden kann.
Die Enquete-Kommission hat allen, die daran beteiligt sind, nicht nur einen Platz für Netzpolitik mit Strahlkraft eingeräumt, sondern auch uns alle vor Langeweile
geschützt: So viele Rednereinsätze an Abenden in Berlin
wie auch im Wahlkreis hatte ich bei anderen Themen
selten; ich fand es durchaus unterhaltsam.
Allerdings muss man auch sagen - das ist mein persönliches Fazit nach knapp zwei Jahren -: Mich stört,
dass wir in dieser Enquete-Kommission viel zu sehr Tagespolitik gemacht haben.
({0})
Anstatt das große Bild zu entwickeln und uns auf Gemeinsamkeiten der Netzpolitiker zu beziehen, anstatt
uns die Frage zu stellen, wie wir eigentlich die Internetregulierung der Zukunft gestalten wollen, haben wir versucht, tagesaktuelle Streitfragen in diese Enquete-Kommission hineinzutragen.
Hier hebt sich die Projektgruppe Medienkompetenz,
wie ich finde, sehr deutlich ab; denn es gab ein sehr konstruktives Klima. Meine Kollegen haben es mir als Projektgruppenvorsitzendem leicht gemacht, hier zu einem
guten Ergebnis zu kommen. Dafür bedanke ich mich. Okay, keiner applaudiert sich selbst.
({1})
Ich dachte, wenn man Kollegen lobt, sei das eine sichere
Garantie für Applaus.
Der Mitgründer des Chaos Computer Clubs, Wau
Holland, hat einmal gesagt:
Jede Oma, die es schafft, einen modernen Videorecorder zu programmieren, ist eine Hackerin.
Das verdeutlicht ganz gut, worin die Herausforderung
bei der Vermittlung von Medienkompetenz besteht: Wir
müssen viele mitnehmen. Ich glaube, wir haben - schon
vor mehr als einem halben Jahr - einen guten Bericht
vorgelegt, der in der Szene mittlerweile viel Anerkennung gefunden hat und den ich heute gar nicht mehr im
Einzelnen präsentieren möchte; denn er hat schon die
Runde gemacht.
Es gibt ein Programm, das ich besonders spannend
finde - das haben auch schon einige Kolleginnen und
Kollegen vor mir hier genannt -, nämlich das Programm
„Ein Laptop für jeden Schüler“. Denn wir haben festgestellt, dass wir es ein bisschen mit dem Henne-Ei-Problem zu tun haben. Überall in der Schule wird viel zu
wenig mit dem Internet gearbeitet. Es findet viel zu wenig Vermittlung von Medienkompetenz statt. Immer
wieder wird gefragt: Sollen wir erst Fortbildungen für
Lehrer machen, oder sollen wir erst in Ausstattung investieren?
({2})
Wir haben viel zu lange Klassensätze gekauft und
Computerräume ausgestattet und so letzten Endes dazu
beigetragen, dass zu viele die Gelegenheit haben, sich
wegzuducken und nicht über das Internet zu reden. Sie
könnten beispielsweise im Spanischunterricht spanische
Zeitungsartikel behandeln und im Deutschunterricht reflektieren, welcher Quelle sie im Internet eigentlich vertrauen können und welcher nicht. Das wird aber leider
nicht gemacht.
Deshalb sind wir konsensual zu der Meinung gelangt,
dass wir jedem Schüler einen eigenen Laptop oder ein
eigenes Tablet in die Hand geben müssen, um sie dazu
zu zwingen, sich mit dem Netz auseinanderzusetzen.
({3})
Ich glaube, das ist ein guter Weg, den wir jetzt über die
Länder und Kommunen verfolgen müssen.
({4})
Es gab beeindruckend viele Initiativen zur Förderung
der Medienkompetenz, und wir haben alle gewürdigt.
Darauf möchte ich verweisen und mich bei all denjenigen bedanken, die dazu beigetragen haben. Ich möchte
mich auch bei unseren externen Sachverständigen, die
sich über Adhocracy beteiligt haben, bedanken; denn wir
haben viele ihrer Gedanken aufgegriffen. Ich möchte
mich bei den Professoren Ring und Schulz bedanken, die
sich - so finde ich - sehr stark als Sachverständige eingebracht haben.
Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Thema platzieren, das auch bezüglich der Herausforderungen, vor
die uns der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag stellen
wird, eine Rolle spielen wird, nämlich die Frage der Einbeziehung der Eltern.
Wir haben auch heute hier viel über Schüler geredet.
Ich glaube, dass die Angebote zur Förderung der Medienkompetenz von Eltern nach wie vor unzureichend
sind. Deshalb möchte ich einfordern, dass wir ein Recht
auf Medienkompetenz für Eltern schaffen, dass wir dieses Recht auch in Landesgesetzen verankern und dass es
einen konkreten Ansprechpartner gibt, bei dem Eltern
ihr Recht auf Förderung ihrer Medienkompetenz geltend
machen können. Allein ein undefiniertes Recht hilft
nicht. Ich wünsche mir vielmehr, dass an jeder Schule
ein Lehrer, engagierte Eltern, ehrenamtliche Dritte oder
vielleicht auch Schüler oder Gruppen von Schülern dafür
sorgen - sie können beispielsweise Elternabende veranstalten und im Rahmen dieser über Medienkompetenz
informieren -, dass Eltern ihr Recht einlösen können.
Das ist aus meiner Sicht eine sehr wichtige Forderung an
dieser Stelle.
({5})
Wir haben rund um das Thema JugendmedienschutzStaatsvertrag gesehen, dass sich die Regulierung des
Rundfunks weiterentwickelt hat. Sebastian Blumenthal
hat das sehr gut zum Ausdruck gebracht: Wir können die
Regulierungsmechanismen des Rundfunks nicht eins zu
eins auf das Internet übertragen.
({6})
Deshalb ist es mir wichtig - und dafür wird sich auch
die CDU einsetzen, und ich meine, auch von einigen
Länderkollegen gehört zu haben, dass sie den Gedanken
gut finden -, dass wir neben den Alterskennzeichnungen
„6“, „12“ und „18“ - diese Kennzeichnungen kennen
wir bereits von professionellen Medien - im Internet
eine weitere Kennzeichnung einführen, und zwar ein Regime von Kennzeichnungen für blogger- und nutzergenerierte Inhalte, die ein Stück weit selbstreguliert sind
und bei denen Mechanismen des Crowdsourcings greifen. Wir müssen also - das würde den freiwilligen
Selbstkontrollen ähneln, die wir schon heute von der
Filmwirtschaft bis zur Spieleindustrie haben - auch bei
blogger- und nutzergenerierten Inhalten eine freiwillige
Selbstkontrolle einfordern.
({7})
Wir haben es geschafft, das Zugangserschwerungsgesetz zurückzunehmen und zu sagen, dass wir keine Sperren im Internet haben wollen.
({8})
Ich glaube, dass es als nächster Schritt gut wäre, auch
auf Länderebene zu sagen, dass wir uns vom Instrument
der Sperrverfügungen lösen wollen.
({9})
In mehr als zehn Jahren wurde noch kein einziges
Mal eine Sperrverfügung erlassen. Professor Ring als
der scheidende KJM-Vorsitzende erklärte, es sei technisch auch nur schwer möglich, das zu tun. Ich meine,
wenn man es ohnehin nicht machen kann, dann sollte
man sich davon auch verabschieden, um hier nicht einen
Eindruck zu erwecken, den man gar nicht erwecken
möchte. Nur aus Jugendschutzgründen Inhalte für alle zu
sperren, wäre meiner Ansicht nach unverhältnismäßig.
({10})
Ich möchte abschließend noch ein Thema ansprechen.
Im Zusammenhang mit dem JugendmedienschutzStaatsvertrag reden wir immer über Jugendschutzprogramme. Für mich ist es wichtig, dass man in der Verlängerung von Anerkennungen, die jetzt anstehen, voraussetzt, dass diese auch für mobile Geräte verfügbar sind.
Denn Jugendliche surfen heute nicht mehr vorwiegend
mit Windows-PCs, sondern mit Smartphones und
Tablet-PCs. Auch hierfür müssen wir Lösungen finden.
Ich freue mich, das mit Ihnen gemeinsam anzugehen.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Chefredakteur
von Prentice Hall aus dem Jahre 1957 zitieren, der gesagt hat: Ich habe die Länge und Breite dieses Landes
bereist und mit den besten Leuten geredet und kann Ihnen versichern, dass Datenverarbeitung ein Tick ist, welcher dieses Jahr nicht überleben wird.
Die Enquete-Kommission hat fast schon das zweite
Jahr überlebt. Deshalb bin ich zuversichtlich: Wir werden auch in der nächsten Zeit einen guten Job machen.
Ich danke Ihnen vielmals.
({11})
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuhörer! Früher hätte man
gesagt: Rezipienten; das würde auch die Twitterer und
Blogger umfassen.
Die Enquete ist ein bisschen wie ihr Gegenstand, das
Internet: nicht nur gut oder nur schlecht, nicht nur
schwarz oder nur weiß, sondern es gibt Licht und Schatten. Deswegen sollte man sich davor hüten, die Enquete
und ihre Arbeit schlechtzureden; aber man sollte sie
auch nicht nur gutreden.
Natürlich war es so, Kollege Jarzombek, dass viele
Themen nicht ausdiskutierbar waren, weil die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen Rücksicht auf die Konflikte in der Koalition in der aktuellen Tagespolitik genommen haben. Und natürlich war es so, dass ein Teil
der Arbeit leider dadurch geprägt war, dass man unangenehme Entscheidungen und Abstimmungen durch Tagesordnungstricks, durch Verschieben, durch Sitzungsunterbrechungen zu verhindern versuchte und mit
solchen Instrumenten teilweise auch den einen oder anderen Sachverständigen aus den eigenen Reihen zu disziplinieren versuchte.
({0})
Das hat leider auch das Bild der Enquete in der Öffentlichkeit und in der Szene stark geprägt. Dieser Eindruck ist zutreffend; aber das ist eben nicht alles. Es gab
- wir haben es angesprochen - in den Arbeitskreisen
breite Diskussionen, getragen von den Sachverständigen
und von den Abgeordneten und in der Vorarbeit übrigens
auch - in diese Richtung ebenfalls herzlichen Dank von den Mitarbeitern der Abgeordneten, der Fraktionen
und des Sekretariats der Enquete. In vielen Bereichen
konnten, wenn auch manchmal kontrovers - gerade im
Bereich des Datenschutzes gab es oft weder für die eine
noch für die andere Empfehlung eine Mehrheit -, zumindest Perspektiven, Themenfelder und Konflikte aufgezeigt werden. Ich glaube, das ist gut so. Aber ich glaube
auch, dass wir uns - wir sollten uns da nicht unter Zeitdruck setzen lassen und im Zweifel das Parlament bitten,
den Arbeitsauftrag zu verlängern - am Ende an der Qualität unserer Arbeit orientieren sollten und nicht nur daran, dass wir etwas vorlegen.
Natürlich ist es so, dass wir uns im Internet mit neuen
Qualitäten auseinanderzusetzen haben. Im Gegensatz
- das muss man offen ansprechen - etwa zum Bereich
der Medienkompetenz gibt es viele Bereiche, in denen es
gravierend unterschiedliche Einschätzungen gibt. Sie
alle kennen den schönen Witz, der nicht nur an Stammtischen, sondern manchmal auch in den Fraktionen über
die internetaffinen Politiker und Parteien gemacht wird:
Sie sitzen sich mit Laptops oder Smartphones gegenüber
und unterhalten sich über Twitter. Und dann lacht alles.
({1})
Die Tatsache, dass noch immer viele über diesen Witz
lachen, sagt weniger etwas über die Situation im Netz
aus als über diejenigen, die darüber lachen. Denn sie verkennen völlig die Qualität des Netzes. Wenn ich jemandem gegenübersitze und mit ihm direkt spreche, dann
beschränkt sich die Kommunikation mit ihm auf die
Reichweite meiner Akustik. Sie ist gebunden an Raum
und Zeit. Wenn ich die Kommunikation ins Netz trage,
dann können auch Leute partizipieren, die nicht anwesend sind. Sie können zu einem viel späteren Zeitpunkt
antworten und in andere Kommunikationszusammenhänge eintreten. Dieses Beispiel ist symptomatisch für
das ganze Netz. Die Unabhängigkeit von Raum und Zeit
im Netz, die teilweise durch Kommunikationsstrukturen,
aber auch durch Daten und Datenerfassung gegeben
wird, ist zum einen ein Vorteil, zum anderen stellt sie
eine Gefahr dar; denn den natürlichen Schutz der Persönlichkeitsrechte, die uns Raum und Zeit oft bieten,
gibt es im Netz vielfach nicht mehr. Vieles kann ausgeforscht und verknüpft werden, was in der normalen analogen Welt nicht ausforschbar und nicht verknüpfbar ist.
Hier liegt der Kern unserer grundsätzlichen Auseinandersetzungen. Es stellt sich schon die Frage: Funktioniert das alles nur durch reine Selbstorganisation nach
dem Motto der alten, gescheiterten Mär „Der Markt wird
es schon richten“? Man könnte sagen: Das Netz wird es
schon richten. - Ein großer Teil der Mitglieder der Enquete hat daran seine Zweifel; denn wir haben erlebt,
dass die Selbstregulierungskräfte und die Marktkräfte
auf den Finanzmärkten eben nicht zu Regulierungen geführt haben. Wir haben gerade schmerzlich erfahren
müssen, dass fehlende Regulierung dazu führen kann,
dass sich brutal unsoziales und teilweise sogar asoziales
Verhalten durchsetzt. Beim Thema Internetstalking haben wir erlebt, dass das auch im Netz passiert.
({2})
- Lieber Jimmy Schulz, natürlich ist es wichtig, Kompetenzen im Internet zu erwerben. Die Frage ist nur: Reicht
das aus? Keiner käme auf die Idee, zu sagen: Wir stärken
die Kompetenz im Bereich Baukunde, und deswegen
verzichten wir künftig darauf, Geländer vorzuschreiben.
Das Problem ist doch, dass wir ein Ungleichgewicht im
Netz haben - so war es auch in der Finanzkrise - zwischen denjenigen, die konstruieren, die Abläufe kennen
und sie nutzen können, und denjenigen, die konsumieren. Deswegen gab es eine zentrale Auseinandersetzung
um die Frage: In wie vielen Bereichen müssen wir den
Verbraucher durch Regulierung schützen? Es geht also
um das zentrale Feld des Datenschutzes.
Leider konnten wir uns in vielen Bereichen nicht einigen. Wie sieht es denn aus? Kann ich den Verbraucher in
seinem Surfverhalten ausforschen und sagen: Du hast ja
akzeptiert, dass der Browser so eingestellt bleibt, wie er
ist? Muss ich dafür seine Zustimmung erhalten? Es geht
nicht um die Frage, ob jemand im Netz reguliert oder reglementiert wird, sondern es geht um die Frage, ob er
das, was er zulässt, auch bewusst zulässt, oder ob ihm
die Daten sozusagen aus der Tasche geklaut werden und
er gar nicht mitbekommt, was ihm passiert.
Leider muss man feststellen: Wir haben uns oft nur
auf Formulierungen einigen können, die konsensual relativ schwach sind. Ich darf zitieren:
Deshalb empfiehlt die Enquete-Kommission dem
Deutschen Bundestag, die Informationspflichten so
auszugestalten, dass die Informationen von der Art
und vom Umfang her die Grundlage für informierte
und freiwillige Einwilligungen bilden, …
({3})
Na super! Was denn nun?
({4})
Opt-in oder Opt-out, Privacy by Design, Privacy by Default - alles bleibt völlig schwammig und offen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Ich
glaube nicht - das Gleiche gilt auch für den Beschäftigtendatenschutz -, dass die Arbeit der Enquete zu Ende
ist. Jimmy, wir greifen deine Idee gerne auf - auch wenn
du dich jetzt lieber mit deiner charmanten Kollegin als
mit mir beschäftigst -, dass die Enquete ähnlich wie bei
der Enquete „Bürgerschaftliches Engagement“ am Ende
den Vorschlag unterbreitet, einen eigenen Ausschuss zu
diesem Thema einzurichten, der dann vom nächsten
Bundestag übernommen wird. Selbst dann haben wir ein
gutes Maß an Arbeit geleistet. Ich vertraue darauf, dass
wir in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode stärker
sachorientiert arbeiten. Wir sollten uns daran orientieren,
dass die Arbeit an diesem wichtigen Thema weitergeht,
damit wir weiterhin agieren und diskutieren können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehgeräten und im Internet!
({0})
Ich begrüße auch diejenigen, die es später als Podcast
ansehen werden. Datenschutz ist auch eine Frage von
Medienkompetenz. Ich glaube, das haben wir in der
Enquete lernen können. Die einzelnen Projektgruppen
konnten wir nicht separat betrachten, aber es gab immer
wieder Schnittpunkte zwischen den Projektgruppen. Ich
habe als Vorsitzender der Projektgruppe Datenschutz öfter den Hinweis gegeben, dass manches eher ein Thema
für die Projektgruppe Medienkompetenz sei. Die Themen Medienkompetenz und Datenschutz greifen ineinander, Herr Kollege Reichenbach - jetzt unterhält er
sich mit einer netten Kollegin neben ihm, wie es Jimmy
Schulz vorhin mit seiner Kollegin getan hat -,
({1})
das haben wir gelernt. Ich freue mich, dass es auch dir
gelungen ist, das zu erkennen.
Die Projektgruppe Datenschutz hat seit der Konstituierung im Juni 2010 18 Sitzungen durchgeführt, in denen
viel diskutiert wurde, in denen viele Ideen nicht nur von
unseren offiziellen Sachverständigen, sondern auch vom
sogenannten 18 Sachverständigen eingebracht wurden.
Wir haben schon ein paar Sachverständige genannt. Ich
glaube, jedem von uns war vor Beginn der Arbeit in der
Enquete der Name „MrTopf“ kein Begriff. Jetzt wissen
wir: Es ist einer der 18. Sachverständigen, die sich immer stark einbringen. Ich bin dankbar, dass es viele gab
und gibt, die dies über die Beteiligungsplattform gemacht haben. Es hat übrigens zu Beginn lange gedauert,
bis sie aufgebaut war. Wir haben uns in der Projektgruppe zuerst über das Forum beholfen. Auch darüber
wurden gute Ideen eingebracht. Dies hat uns gezeigt:
Nicht die Technik ist entscheidend, sondern vor allen
Dingen ist die Beteiligung der Community, um den Begriff wieder einmal zu benutzen, relevant. Wer sich einbringt, wird in dieser Projektgruppe auch gehört. Über
viele gute, qualitativ hochwertige Ideen wurde zumindest diskutiert; einige wurden übernommen.
({2})
Wir haben in den Handlungsempfehlungen - das war
letztlich strittig; darüber wurde am meisten diskutiert im Bereich Datenschutz viele konsensuale Punkte aufgenommen. Ich bin sehr froh darüber. Ich sehe es nicht so
negativ wie Sie, Herr Kollege Reichenbach, wenn wir
eine Formulierung finden, die die Frage nicht ganz beantwortet.
({3})
Die Enquete-Kommission beschließt eben nicht alles,
sondern sie gibt Handlungsempfehlungen. Sie gibt dem
Deutschen Bundestag nicht vor, wie er zu handeln hat.
Ich finde es richtig, dass hier im Deutschen Bundestag
am Ende die Schlussfolgerung gezogen wird, was getan
wird, nachdem wir aufgezeigt haben, welche Möglichkeiten es gibt.
Wir haben in der Projektgruppe Datenschutz bei einigen Punkten erlebt, dass sich, wenn es zwei Positionen
gab, die unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel darstellten, keine Mehrheit für eine der Positionen finden
ließ. Ich finde auch das nicht negativ. Wir konnten zeigen, dass es zwei Optionen gibt. Der Deutsche Bundestag hat nach Vorlage des Berichts die Möglichkeit, intensiv über diese zwei Optionen zu lesen. Natürlich weiß
nicht jeder außerhalb der Enquete so viel darüber wie
wir; wir konnten in dieser Zeit viel darüber lernen. Deswegen ist es gut und sinnvoll, dass teilweise ausführliche
Texte über diese Themen vorliegen.
({4})
Wichtig ist für uns auch, zu verstehen, dass Datenschutz nicht nur eine rechtliche Herausforderung ist,
sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir
haben zum Beispiel intensiv über Fragen der Anonymität und des Umgangs mit Identitäten in den Netzwerken
diskutiert. Dies betrifft häufig auch Tagespolitik. Wir haben erlebt, dass tagespolitische Themen von Kollegen
der Opposition bewusst eingebracht wurden. Dies zu bemängeln und den Koalitionsfraktionen vorzuwerfen,
dass man darauf geachtet hat, dass tagespolitische Entscheidungen nicht blockiert werden, ist etwas scheinheilig. Sie haben solche Themen bewusst eingebracht. Dabei ist klar, dass wir als Regierungskoalition darauf
achten, dass aktuelle Punkte, auf die wir uns gerade
- teilweise nach intensiven Diskussionen in der Koalition oder in den Fraktionen - geeinigt haben, auch umgesetzt werden.
Lassen Sie mich zum Ende noch Dank sagen. Ich
möchte Dank sagen an all die Kollegen in allen Fraktionen, die konstruktiv mitgearbeitet haben, an die Sachverständigen, an die Mitarbeiter, auch die Mitarbeiter des
Sekretariats, die sehr viele Texte sortieren mussten und
dies sehr gut geschafft haben. Ich glaube, wir müssen
vor allen Dingen den von außen aktiv Beteiligten danken. Die Möglichkeit zur Beteiligung haben wir geschaffen, aber es reicht nicht, diese nur zu schaffen. Sie muss
auch genutzt werden. Deswegen richte ich einen herzlichen Dank an die Sachverständigen außerhalb des Parlaments, die uns bei der Arbeit geholfen haben.
Ich freue mich auf die zweite Hälfte und hoffe, dass
wir weitere strittige, nicht immer konsensuale, aber am
Ziel orientierte Berichte erstellen werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es passt sehr gut, dass wir über das Thema Medienkompetenz als erstes inhaltliches Ergebnis der Arbeit der
Enquete-Kommission hier im Plenum diskutieren. Medienkompetenz ist zwar nicht die Antwort auf alle Fragen, die sich uns im Zusammenhang mit dem Internet
stellen. Aber nur ein aufgeklärter, mündiger Nutzer kann
die Chancen realisieren, die sich ihm im Zusammenhang
mit dem Internet bieten, und nur ein aufgeklärter, mündiger Nutzer kann mit den Risiken umgehen, die mit einer
Nutzung des Netzes verbunden sind.
Medienkompetenz kann nicht gesetzlich verordnet
werden. Ihre Vermittlung ist auch nicht allein Aufgabe
des Staates. Aber der Staat muss und kann entsprechende
Bildungsangebote initiieren und fördern. Ein wichtiger
Erkenntnisgewinn und ein wichtiges Ergebnis der Arbeit
der Enquete-Kommission ist für mich persönlich, dass
im Zwischenbericht eine lange Liste von Initiativen, die
es in diesem Bereich schon gibt, zu finden ist. Das Rad
muss nicht neu erfunden werden. Aber es ist eine wichtige Handlungsempfehlung, die bestehenden Angebote
besser zu vernetzen.
Die Vermittlung von Medienkompetenz ersetzt nicht
andere staatliche Aufgaben wie zum Beispiel den Verbraucherschutz oder den Jugendmedienschutz. Da gibt
es natürlich auch Berührungspunkte. Eine große Leistung der Enquete-Kommission in diesem Bereich ist,
dass man sich im Konsens auf ein Leitbild verständigt
hat, wie gerade der Jugendmedienschutz im Verhältnis
zur Medienkompetenz zu bewerten ist. Frau Özoğuz und
Herr Jarzombek haben mit Herrn Professor Ring, Herrn
Professor Schulz und Alvar Freude schon wichtige
Protagonisten genannt, die diesen Konsens gefunden haben. Das darf man nicht unter den Teppich kehren.
Meine Damen und Herren, nicht jeder Jugendliche, so
medienkompetent er auch sein mag, muss, soll oder kann
alle Angebote, die ihm das Internet bietet, verarbeiten.
Man kann ihn auch nicht zu 100 Prozent schützen, vor
allem dann nicht, wenn er gezielt nach gewissen Angeboten sucht. Schutz im Internet ist daher immer auch
eine Art Risikomanagement, bei dem es darum geht, je
nach Zielgruppe und Schutzzweck Verantwortlichkeiten
zu verteilen, mit dem Ziel, die Risiken zu minimieren.
Hier hat die Enquete-Kommission wichtige Grundlagen
gelegt, an denen man sich bei zukünftigen Entscheidungen darüber, wie sich die Politik in diesem Spannungsfeld positioniert, orientieren kann.
Wir haben neben der Behandlung der inhaltlichen
Fragestellungen als zusätzlichen Auftrag vom Bundestag
mit auf den Weg bekommen, die Öffentlichkeit in geeigneter Art und Weise in unsere Arbeit einzubinden. Das
ist auch ein Lernprozess.
Was meines Erachtens durchaus erfolgreich läuft, ist
unsere Beteiligungsplattform www.enquetebeteiligung.de,
über die die interessierte Öffentlichkeit die Möglichkeit
hat, mitzudiskutieren, eigene Vorschläge einzubringen
und über die Vorschläge anderer abzustimmen. Fast alle
Vorschläge, die wir über das Internet bekommen, sind
von hoher Qualität. Das zeigt, dass sich auch außerhalb
des Deutschen Bundestages wirkliche Sachverständige
konstruktiv und ernsthaft mit diesen Themen beschäftigen.
Von dieser Stelle aus möchte ich denen, die sich über
diese Plattform einbringen, herzlich danken. Ich möchte
in meinen Dank explizit auch diejenigen einschließen,
die diese Adhocracy-Plattform, zum Teil in ehrenamtlicher Arbeit, mit aufgebaut haben und die sie im Moment
am Laufen halten.
({0})
Die Ergebnisse fließen direkt in unsere Arbeit und Texte
mit ein. Wenn ich sage: „Das ist auch ein Lernprozess“,
meine ich damit, dass wir vielleicht noch lernen müssen,
dies besser nach außen zu dokumentieren und den Nutzern aus dem Bundestag heraus ein Feedback zu geben.
Ich glaube, wenn wir hier besser werden, dann erhöhen
wir auch den Anreiz für die interessierte Öffentlichkeit,
sich inhaltlich noch mehr zu beteiligen.
Meine Damen und Herren, wenn es um das Bild geht,
das wir aus unseren öffentlichen Sitzungen der EnqueteKommission über den Livestream nach draußen transportieren, bin ich durchaus kritisch und auch selbstkritisch.
Kollege Brandl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Reichenbach?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, dass es der
Enquete-Kommission als Ganzes vielleicht gutgetan
hätte, wenn wir nicht nur unser Plenum öffentlich übertragen, sondern auch die viel sachbezogenere Arbeit in
den Projektgruppen öffentlich gemacht hätten?
({0})
Sind Sie vielleicht bereit, darüber mit uns noch einmal
zu diskutieren?
({1})
Ich sehe hier ein Spannungsfeld. Wir erleben in den
Projektgruppen eine sehr konstruktive Zusammenarbeit
der Sachverständigen und der Abgeordneten und auch
das, was man von einer Enquete-Kommission erwartet,
dass sich nämlich die Abgeordneten und Sachverständigen aus unterschiedlichen Fraktionen und vor unterschiedlichen Hintergründen aufeinander zu bewegen.
Genau das passiert in den Projektgruppen.
({0})
Herr Kollege, ich erlebe aber auch etwas anderes: Ich
erlebe die öffentlichen Sitzungen der Enquete-Kommission, die per Livestream im Internet übertragen und natürlich direkt über Twitter intensiv kommentiert werden,
und auch entsprechende Rückkopplungen.
({1})
Diese Sitzungen unterscheiden sich atmosphärisch
({2})
und auch von der Art und Weise der Zusammenarbeit
her diametral von den Sitzungen der Projektgruppen.
({3})
Eine Annäherung oder Kompromissfindung findet in
diesen öffentlichen Sitzungen nicht statt. Stattdessen
steht immer die Vermittlung der eigenen Position, der eigenen unverrückbaren Wahrheit im Vordergrund.
({4})
Der Herr Kollege Notz hat ja vorhin dargestellt, bei
welchen wichtigen und zentralen Punkten wir einen
Konsens gefunden haben.
Ich bin hier, wie ich gerade gesagt habe, selbstkritisch. Es liegt an uns, das besser darzustellen. Auch ich
habe kein Patentrezept dafür.
({5})
Ich beobachte nur, dass in den öffentlichen Sitzungen
der Enquete-Kommission, die per Livestream übertragen
werden, zwar vordergründig die totale Transparenz gegeben ist, aber eigentlich nicht die Wirklichkeit des konstruktiven Miteinanders vermittelt wird.
({6})
- Herr Reichenbach, ich habe versucht, Ihre Frage differenziert zu beantworten. Ich bin nicht gegen Transparenz
und gegen Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Wir müssen
versuchen, das, was wir hier tun, in der Öffentlichkeit
richtig darzustellen.
({7})
Sie müssen mir aber zustimmen, Herr Kollege: Die Erfahrung, die wir in den öffentlichen Sitzungen gemacht
haben, ist nicht geeignet, das Bild der Enquete-Kommission in der Öffentlichkeit zu fördern.
({8})
Es wundert mich deswegen auch nicht, dass sich die
Menschen, wenn sie nur dieses Schauspiel erleben, enttäuscht abwenden und sagen, die Enquete-Kommission
sei gescheitert. - Herr Kollege Reichenbach, Sie dürfen
sich setzen.
({9})
Ja, ich habe deswegen eine so lange Antwort auf Ihre
Frage gegeben,
({10})
weil mir das ein Anliegen ist und das ein Thema ist, mit
dem ich mich beschäftige, nämlich wie es uns besser gelingen kann, das konstruktive Miteinander öffentlich
darzustellen und nicht immer nur den Streit zu betonen.
Auch Streit ist wichtig, weil die Menschen wissen müssen, wer in der Politik für was steht. Aber das ist nicht
das, was sie von der Enquete-Kommission erwarten.
Wir haben sehr gute Zwischenberichte vorgelegt, insbesondere zur Medienkompetenz. Wer den Bericht liest,
sieht, dass wir und die Sachverständigen sehr viel Mühe
darauf verwendet haben, die teilweise sehr komplexen
Zusammenhänge von verschiedenen Seiten zu beleuchten und auch in weiten Teilen zu konsensualen Handlungsempfehlungen zu kommen.
Mir hat die Arbeit sehr viel Freude gemacht. Ich kann
auch sagen: Ich habe in der Arbeit viel von den Sachverständigen gelernt. Herzlichen Dank für den tollen Input,
den Sie immer wieder geliefert haben. Ich freue mich auf
die zweite Hälfte der Arbeit der Enquete-Kommission
und auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Kretschmer für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal: Nachdem wir vor zwei Jahren
während der Koalitionsverhandlungen überlegt hatten,
diese Enquete-Kommission einzusetzen - ein Vorschlag
von unserem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder -,
({0})
haben wir in diesem Parlament eine breite Mehrheit für
die Einsetzung der Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ gesucht und auch gefunden. Ich
glaube, das war die richtige Entscheidung. Wir können
bereits heute sagen: Das hat sich gelohnt.
Wir haben auf der einen Seite das Bewusstsein im
Parlament für die Themen der Netzpolitik und der Digitalisierung gesteigert, und wir haben auf der anderen
Seite ein Signal in die Gesellschaft gegeben, dass uns
diese zwei Themen besonders wichtig sind. Es handelt
sich deswegen um zwei Themen, weil „Netzpolitik“ und
„Digitalisierung“ nicht dasselbe meinen. Netzpolitik enthält wichtige Dinge, über die wir heute schon gesprochen haben, etwa Netzzugang und Datenschutz. Auch
Punkte wie die Regulierung des Internets sind nicht zu
vernachlässigen. Da gibt es eine ganze Menge Nachholbedarf.
Aber man darf die Digitalisierung nicht darauf verengen. Die Digitalisierung ist die große bahnbrechende
Entwicklung dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die
Chancen beherzt zu ergreifen und daraus, gerade für das
Hightechland Deutschland, Wertschöpfung, Wachstum
und Arbeitsplätze zu generieren.
({1})
Wir erleben heute bei dieser technischen Revolution
das, was auch in den vergangenen Jahrhunderten bei
Technologiebrüchen häufig der Fall war, dass versucht
wird, Besitzstände zu verteidigen, zum Teil mit scheinheiligen Argumenten. Ein Beispiel, an dem man das gut
sehen kann, ist die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Hier hätte die Digitalisierung viel Nutzen stiften können, aber die Lobby hat verhindert, dass
eine wirklich gute Lösung kommt.
Wir dürfen bei diesem konkreten Thema, aber auch
bei den anderen Punkten nicht klein beigeben. Die Digitalisierung ist eine große Chance für unser Land. Wir
müssen sie aber auch ergreifen. Das Internet und die Digitalisierung warten nicht auf 80 Millionen Deutsche.
Aber 80 Millionen Deutsche haben enorme Gestaltungsmöglichkeiten und können Standards setzen, wenn sie
sich in diesem Bereich an die Spitze der Bewegung setzen.
Es ist in den Diskussionen in der Enquete-Kommission, aber auch hier im Plenum des Deutschen Bundestags und in der Öffentlichkeit deutlich geworden, dass
die Digitalisierung ein Querschnittsthema für Politik und
Gesellschaft ist, das eine stärkere Koordinierung und
eine stärkere Verantwortlichkeit an einer Stelle erfordert.
Deswegen muss in den nächsten Monaten und Jahren darüber gesprochen werden, ob es nicht in der Regierung
eine zentrale Verantwortlichkeit, eine zentrale Koordinierung in Gestalt eines Ministers oder Staatssekretärs
geben muss.
In den verschiedenen Beiträgen war viel von den
18 Sachverständigen die Rede. Dies haben wir mit eingeführt, als wir die Enquete-Kommission eingesetzt haben. Ich finde, es war richtig, sich die Mühe zu machen,
auch intensiv über das richtige Beteiligungstool nachzudenken und sich dafür die passenden Regelungen zu
geben. Immerhin haben sich über 2 200 registrierte
Mitglieder an der Arbeit der Enquete-Kommission beteiligt. Es hat insgesamt rund 2 200 Kommentare und
12 000 Bewertungen gegeben. Für die Arbeit einer Enquete-Kommission sind das, vor allen Dingen vor dem
Hintergrund, dass es zum ersten Mal in dieser Form
stattgefunden hat, große Zahlen. Ich finde, auch deshalb
kann man sagen: Es war ein Erfolg.
({2})
Die Bedenken, ob man ein Beteiligungstool schaffen
und einen 18. Sachverständigen fest etablieren sollte, beruhten, glaube ich, zum großen Teil auf einem zentralen
Missverständnis, was die Frage angeht, ob dieser
18. Sachverständige über das entscheiden sollte, was
letzten Endes der Deutsche Bundestag beraten und beschließen oder was die Enquete-Kommission an Ergebnissen erzielen soll. Das geht natürlich nicht. Der Sachverständige von außen kann immer nur beraten.
Ich finde, dass wir es über das Beteiligungstool Adhocracy gut organisiert haben, uns eine Lobbygruppe zu
schaffen, wie sie in anderen Politikfeldern völlig selbstverständlich ist: Der ADAC berät in der Verkehrspolitik,
der BDI begleitet die Wirtschaftsfragen, und Greenpeace
erhebt in Umweltfragen die Stimme.
({3})
An keiner Stelle erwartet man, dass die einzelne Lobbygruppe repräsentativ für die gesamte Bevölkerung bzw.
für die gesamte Politik sprechen kann. Aber es ist uns
trotzdem wichtig, zu hören, was Greenpeace denkt, was
der BDI meint oder welche Position der ADAC vertritt.
Deswegen ist es richtig, den 18. Sachverständigen eingeführt zu haben. In diesem Selbstverständnis müssen wir
offen damit umgehen, auch in Zukunft Partizipationsmöglichkeiten im Deutschen Bundestag und in den Parteien bis hin zur Kommunal- und Landespolitik zu schaffen. Wenn man dieses Selbstverständnis hat, kann man
diese Möglichkeit der Beteiligung selbstbewusst und offen schaffen. Wir zumindest wollen das gern.
({4})
Es wurde viel über die Frage gesprochen, wie viel
Staat nötig ist. Ich teile die Einschätzung, dass gerade
beim Internet die Selbstregulierung und Selbstverantwortung sehr gut funktionieren, sodass man sagen kann:
An vielen Punkten im Internet ist durch die Experten und
Akteure Gutes entstanden. Das zeigt auch die Domainvergabe in den vergangenen Jahrzehnten, ein äußerst
komplexes Verfahren, das gut gemanagt worden ist.
Aber wir sehen auch: Je weniger technisch die regulierten Bereiche werden, desto stärker wird der Legitimationsdruck, wenn es keine staatlichen Vereinbarungen
und Gesetze gibt, in denen die Regularien festgelegt
werden, sondern alles von nichtstaatlichen Organisationen geregelt wird. Deswegen ist es richtig, dass wir auf
internationale oder europäische Vereinbarungen drängen, die gewisse Bereiche des Internets regulieren.
Insofern ist es richtig, dass sich die Europäische
Union darüber Gedanken macht, wie der Datenschutz im
Internet innerhalb der Europäischen Union organisiert
werden kann. Wenn die Europäische Union als großer
Raum einen Standard setzt, besteht natürlich die Möglichkeit, dass dieser Standard auch international verstärkt
zum Vorbild genommen wird.
Aber zu dem Entwurf der EU-Datenschutzverordnung, der am 25. Januar vorgestellt werden soll, gibt es
eine ganze Reihe von Fragezeichen und Bedenken, die
wir intensiv miteinander diskutieren müssen. Ich weiß
nicht, ob es in dieser Verordnung einen angemessenen
Ausgleich zwischen dem Schutz des Privaten und den
Interessen der Öffentlichkeit gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Linie zwischen dem Datenschutzrecht und
dem Äußerungsrecht richtig gezogen worden ist. Ich
weiß nicht, ob das, was man sich zum Thema „Recht auf
Vergessen“ vorgenommen hat, technisch möglich ist.
({5})
Ich wäre dankbar dafür, wenn nicht nur in der Internet-Enquete-Kommission, sondern auch darüber hinaus
intensiv über die Vorschläge der Europäischen Union
diskutiert würde. Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Es geht darum, etwas Richtiges aus der Verordnung zu machen. Wir sollten uns intensiv in die Diskussion einbringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele LösekrugMöller, Bernhard Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Festsetzung des Mindestlohnes ({1})
- Drucksache 17/4665 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 17/8385 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jetzt Voraussetzungen für die Einführung ei-
nes Mindestlohns schaffen
- Drucksachen 17/7483, 17/8385 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher
Mindestlohn jetzt
- Drucksache 17/8026 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionsreihen so
vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen und
dann den Rednerinnen und Rednern zuhören können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Weiß für die Unionsfraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die gerechte Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und deren Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg sind ein zentraler Markenkern einer sozialen
Marktwirtschaft. Das legendäre Credo Ludwig Erhards
„Wohlstand für alle“ war und ist unter anderem eine
klare Absage an Dumpinglöhne. Ludwig Erhard hat später als Bundeskanzler formuliert:
Ziel der deutschen Sozialpolitik muss es sein, alle
sozialen Gruppen vor einer Entwicklung zu bewahren, in der sie zunehmend bloß Objekte staatlicher
Fürsorge sind.
Das ist eine deutliche Ansage gegen eine Politik der
Ausgrenzung und zugleich ein Appell gegen staatliche
Bevormundung und Einmischung in alle Bereiche des
Lebens.
Um Lohndumping und damit Wettbewerbsverzerrung
zu verhindern, hat übrigens erstmals eine Koalition aus
CDU/CSU und FDP im Jahr 1996 mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes die Möglichkeit geschaffen, für bestimmte Bereiche einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn festzulegen. Schauen
wir uns vor diesem Hintergrund die jüngste Entwicklung
an. Zum 1. Januar dieses Jahres sind drei Mindestlohnregelungen neu bzw. erneut in Kraft getreten. Zum ersten
Mal gibt es eine Mindestlohnregelung bzw. eine untere
Lohngrenze für den Bereich der Zeitarbeit.
({0})
Die Gültigkeitsdauer der bestehenden Mindestlohnregelungen für Dachdecker und Gebäudereiniger wurde verlängert, und die Mindestlöhne wurden angehoben. Damit
sind heute 4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in Bereichen beschäftigt, in denen allgemeinverbindliche Mindestlohnregelungen gelten. So viele Mindestlöhne gab es in Deutschland noch
nie.
({1})
So viele Mindestlöhne gibt es nicht etwa unter einem sozialdemokratischen Kanzler, sondern unter einer christdemokratischen Kanzlerin. Das ist doch bemerkenswert.
({2})
Bei allen heute geltenden Mindestlohnregelungen
handelt es sich um Regelungen, die die Tarifpartner, Arbeitgeber und Gewerkschaften, frei ausgehandelt haben
und die anschließend durch das Bundesarbeitsministerium per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich
erklärt worden sind. Die Erfahrungen, die mit Mindestlöhnen gemacht wurden, sind positiv. Es sind diese Bundesregierung und diese Koalition aus CDU/CSU und
FDP, die eine wissenschaftliche Evaluierung der in
Deutschland geltenden Mindestlohnregelungen haben
vornehmen lassen. Das Ergebnis ist - zusammengefasst -,
dass sich keine negativen Effekte zeigen. Die Mindestlohnregelungen haben sich allesamt bewährt. Das zeigt,
dass der Weg, Mindestlohnregelungen durch die Tarifpartner frei aushandeln zu lassen und sie dann für allgemeinverbindlich zu erklären, richtig und erfolgreich ist.
({3})
Nun legen uns die Sozialdemokraten heute einen Gesetzentwurf zur Abstimmung vor,
({4})
der einen ganz anderen Weg vorsieht. Er sieht vor, dass
der Bundestag die Höhe des Mindestlohns beschließt
und dass die Tarifpartner eingeladen werden, an einer
Kommission mitzuwirken, in der sie darüber beraten
dürfen, ob der Mindestlohn nächstes oder übernächstes
Jahr angehoben werden soll. Im Gesetzentwurf steht
schon, dass dann, wenn sie sich nicht einig werden, die
Bundesministerin für Arbeit und Soziales das erledigt. Auf gut Deutsch: Dieser Gesetzentwurf der Sozialdemokraten ist nichts anderes als ein Misstrauensantrag gegen
die Tarifpartner in Deutschland.
({5})
Warum soll eigentlich noch ein Arbeitnehmer oder
eine Arbeitnehmerin einer Gewerkschaft beitreten, warum soll ein Unternehmen einem Arbeitgeberverband
beitreten,
({6})
wenn die Tarifpolitik in Wahrheit im Parlament und in
der Bundesregierung gemacht wird und der Beitritt zu
einer Gewerkschaft oder zu einem Arbeitgeberverband
für die Tarifgestaltung überhaupt keine Bedeutung mehr
hat?
({7})
Wer mit staatlicher Lohnfestsetzung beginnt, Herr Heil
- das wäre der Beginn einer staatlichen Lohnfestsetzung -, schwächt in Wahrheit die Gewerkschaften
wie die Arbeitgeberverbände, untergräbt die Arbeit der
Tarifpartner und beschädigt das Erfolgsrezept, das wir
bei der Lohnfindung in Deutschland bisher hatten.
Peter Weiß ({8})
({9})
Im Gegensatz dazu ist der Beschluss des Bundesparteitags der CDU vom November des vergangenen Jahres
ein wegweisender Beschluss,
({10})
der deutlich macht: Wir wollen die Tarifpartner stärken.
({11})
Unser Beschluss lautet: Wir wollen eine gemeinsame
Kommission der Tarifpartner, der Gewerkschaften und
Arbeitgeber, die miteinander eine allgemeine untere
Lohngrenze verhandeln können, die anschließend durch
eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Das heißt, die Verantwortung für die Lohnfindung bleibt dort, wo sie hingehört: bei den Tarifpartnern.
({12})
Es ist ein Vorschlag, der die Tarifpartner stärkt: Wer
gute Mindestlöhne will, muss in die Gewerkschaft eintreten. Wer als Arbeitgeber mitreden will, muss in den
Arbeitgeberverband eintreten. Es muss frei miteinander
verhandelt werden. Lohnpolitik gehört nicht in das Parlament, sie gehört nicht in die Bundesregierung; sie gehört dorthin, wo der Sachverstand dafür stets vorhanden
ist, nämlich bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
({13})
Die Tarifpartner haben in der Vergangenheit in den
verschiedensten Situationen gezeigt, dass sie zu sachgerechten Lösungen sehr wohl imstande sind. Mit der in
Deutschland gewachsenen Tradition der Sozialpartnerschaft verfügen wir über ein Modell, das staatlichen Eingriffen weit überlegen ist - es ist übrigens international
anerkannt - und für das wir von vielen beneidet werden.
({14})
Es ist nicht lange her, dass das Zusammenspiel der Sozialpartner den entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise geleistet hat. Deshalb finde ich: Eine solche Ohrfeige, wie sie hier von
den Sozialdemokraten ausgeteilt wird, haben die Tarifparteien nicht verdient.
({15})
Mit dem System der Tarifautonomie sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland letztlich
auch stets gut gefahren. Richtig ist, dass wir heute in vielen Bereichen eine geringe Tarifbindung und einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad haben.
({16})
Genau das veranlasst uns als Union ja dazu, eine Regelung zusätzlich vorzuschlagen, über die wir mit unserem
Koalitionspartner in den nächsten Wochen und Monaten
verhandeln wollen.
({17})
- Da gerade bei den Sozialdemokraten Parteitagsbeschlüsse angeblich eine so hohe Bedeutung haben, bitte
ich doch, das auch der CDU zuzubilligen.
({18})
Weil eben in Teilbereichen nur diese geringe Bindung
vorhanden ist, wollen wir eine Regelung schaffen, nach
der über die Branchen hinaus, in denen schon heute Mindestlöhne bestehen, die Tarifpartner miteinander eine
allgemeine Lohnuntergrenze verhandeln können. Ich
glaube, dass dieses Modell letztlich genau den Erfolg haben wird, den gute und starke Tarifpartner bei Tarifverhandlungen auch bisher zustande gebracht haben. Deshalb gilt für uns in dieser Debatte über untere
Lohngrenze und Mindestlöhne in Deutschland: Wir wollen in der Lohnpolitik an das Erfolgsrezept der sozialen
Marktwirtschaft anknüpfen. Das heißt: Nein zum Staatsinterventionismus, Ja zu starken Tarifparteien und Ja zu
Tariflöhnen.
Vielen Dank.
({19})
Kollegin Enkelmann, zur Geschäftsordnung?
Danke, Frau Präsidentin. - Kollege Weiß hat in seinem Beitrag deutlich gemacht, dass das Thema, über das
wir hier debattieren, für das gesamte Haus sehr wichtig
ist. Er sprach darüber, dass es dazu Verhandlungen innerhalb der Koalition gibt. Wir meinen schon, dass dann
auch die zuständige Ministerin im Plenum anwesend
sein sollte und nicht nur der Staatssekretär.
({0})
Unsere Fraktion fordert deswegen die Herbeirufung der
Ministerin Frau von der Leyen.
({1})
Wünscht jemand das Wort dazu, oder ist das allgemeiner Konsens?
({0})
- Das ist offensichtlich der Fall.
Hat die Bundesregierung einen Hinweis für mich, wo
sich die Ministerin befindet?
({1})
- Deswegen frage ich. Ich habe keine offizielle Entschuldigung vorliegen.
Dann unterbreche ich die Sitzung.
({2})
- Ich habe zweimal nachgefragt. - Es gibt jetzt doch eine
Wortmeldung aus der Unionsfraktion.
Ich habe Frau Enkelmann so verstanden, dass sie
möchte, dass die Ministerin anwesend ist. Aber offensichtlich legt sie doch nicht so viel Wert darauf, dass die
Ministerin kommt, weil sie dazu keinen Antrag stellt.
Wir sehen keine Notwendigkeit, dass die Ministerin
an dieser Debatte teilnimmt. Das Ministerium ist durch
den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Brauksiepe
vertreten. Es handelt sich um die Beratung der Beschlussempfehlungen des Ausschusses. Da ist es ohnehin nicht üblich, dass Minister noch das Wort ergreifen.
Wir sehen jedenfalls keine Veranlassung, sie herbeizurufen, zumal uns dieses Thema regelmäßig beschäftigt und
die Ministerin zu Anträgen der Opposition immer wieder
das Wort ergriffen hat und die Positionen dazu klarliegen. Es besteht also keine Veranlassung, die Ministerin
herzubitten.
Gut. Frau Enkelmann hat dies beantragt. Ich hatte gefragt, ob es dazu eine Gegenrede gibt, und Sie hatten
durch Kopfnicken vorerst signalisiert, dass Sie einverstanden sind.
({0})
Nun haben Sie deutlich gemacht, dass die Unionsfraktion diesen Konsens nicht mitträgt.
Wir stimmen also ab, ob die Frau Ministerin herbeigerufen wird. Ich bitte diejenigen, die für die Herbeirufung der Bundesministerin sind, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? ({1})
Das Präsidium ist sich leider in der Feststellung des Abstimmungsergebnisses nicht einig.
({2})
Also machen wir einen Hammelsprung. Ich bitte Sie,
den Plenarsaal zu verlassen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der FDPFraktion, erstens sich zu erheben und zweitens sich auf
den Weg zum Ausgang zu machen. Ich kann mir ja vorstellen, dass Sie manches beschwert. Aber jetzt ist erst
einmal Hammelsprung aufgerufen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die es noch
nicht geschafft haben, durch die Tür zu gehen, dies jetzt
zu tun. - Sind alle drei Türen geschlossen? - Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind an ihren Plätzen, und
die Türen sind verschlossen. Dann können wir die Türen
öffnen und mit dem Hammelsprung beginnen.
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die sich noch
vor den Türen befinden, den Saal wieder zu betreten.
Nach unserem Überblick ist dies ohne Weiteres möglich.
Die Türen werden geschlossen. Die Abstimmung ist
damit beendet.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir
das Ergebnis der Auszählung mitzuteilen. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit ich das Ergebnis
der Abstimmung über die Herbeizitierung der Bundesministerin bekannt geben kann: 138 Kolleginnen und
Kollegen haben mit Ja gestimmt, 190 Kolleginnen und
Kollegen haben mit Nein gestimmt. Enthalten hat sich
keine Kollegin bzw. kein Kollege. Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
({3})
Zur Erklärung für all diejenigen, die diesem ungewohnten Prozedere das erste Mal beiwohnen: Wir haben
bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass der Deutsche
Bundestag auch jetzt, um 11.25 Uhr, noch beschlussfähig ist.
({4})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem
Tagesordnungspunkt jetzt nicht mehr teilhaben können,
uns zu ermöglichen, in dieser Debatte fortzufahren, das
heißt, die Gespräche, die unbedingt notwendig sind, vor
den Plenarsaal zu verlagern. Diese Bitte richte ich an
Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen und im Übrigen auch an die Regierungsbank.
Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man in Zeiten wie diesen im Deutschen Bundestag
in einer öffentlichen Debatte redet, dann taucht immer
wieder ein Begriff auf, der im Hinblick auf das Vertrauen der Menschen in demokratische Politik so etwas
wie die knappste Ressource zu sein scheint, nämlich der
Begriff der Glaubwürdigkeit. Willy Brandt hat einmal
gesagt, wie Glaubwürdigkeit entsteht: Man muss sagen,
was man tut, und tun, was man sagt. Deshalb tun wir Sozialdemokraten das, was wir sagen, und legen heute diesem Haus in zweiter und dritter Lesung unseren Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
vor.
Herr Weiß, ich finde, das ist ein Unterschied zu dem,
was Sie hier geboten haben. Bei Ihnen klaffen Reden
und Handeln meilenweit auseinander. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
({0})
Viel über den Mindestlohn zu schwadronieren, aber keinen Gesetzentwurf vorzulegen, das ist kein Ruhmesblatt.
Wir schlagen vor, in Deutschland einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, damit
Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben
können. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, gibt
Gelegenheit, die Lebenssituation von über 5 Millionen
Menschen in Deutschland zu verbessern, von 16 Prozent
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bisher
weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Unter
dem Strich helfen wir damit nicht nur den Menschen
- das alleine wäre bereits ein Grund, dem Gesetzentwurf
heute zuzustimmen -, sondern auch den öffentlichen
Kassen und somit der Gesellschaft insgesamt.
Eine Studie des renommierten Prognos-Instituts hat
nachgewiesen, dass die fiskalischen, die finanzpolitischen Wirkungen der Einführung eines Mindestlohns für
die öffentlichen Haushalte zu einem Plus von 7 Milliarden Euro führen würden, und zwar durch steigende Erwerbseinkommen für private Haushalte und damit steigende Steuer- und Beitragseinnahmen, durch eine
Stärkung der Binnennachfrage, was gerade in Zeiten wie
diesen sehr wichtig ist, und nicht zuletzt durch sinkende
Sozialausgaben.
Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen trotz Vollzeitarbeit ergänzend Arbeitslosengeld II
vom Amt abholen müssen, sagen wir: Es muss Schluss
damit sein, dass wir immer mehr Armutslöhne in diesem
Land mit Steuergeldern aufstocken müssen. Das darf
nicht sein; das wollen wir beenden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den bisherigen
Regierungsfraktionen, ein Mindestlohn ist auch ordnungspolitisch geboten, weil es um fairen Wettbewerb
geht, weil wir die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die
ihre Leute anständig bezahlen wollen, vor Dumpingwettbewerb schützen wollen. Es muss um den Wettbewerb um die besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen gehen; es darf nicht um die niedrigsten Löhne in
Deutschland gehen.
({2})
Wir haben uns angehört, was Herr Weiß vorhin gesagt
hat. Herr Weiß, bei allem gebotenen Ernst: Ich nehme
Ihnen persönlich ab, dass Sie Gutes wollen; das unterstelle ich Ihnen in dieser Frage. Ich sage Ihnen: Wir müssen uns in den Wahlkämpfen, auch im kommenden
Bundestagswahlkampf, nicht streitig mit dem Thema
Mindestlohn auseinandersetzen; wir müssen das nicht.
Wir können - unsere Hand ist ausgestreckt - noch in dieser Legislaturperiode zu einer zureichenden Lösung
kommen, zu einer vernünftigen Lösung, die den Menschen hilft. Ich will Ihnen sagen, was wir damit meinen:
Erstens. Wir wollen, wie auch Sie, den Vorrang der
Tarifautonomie in Deutschland beibehalten. Wir wollen,
dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in Lohnverhandlungen auf Augenhöhe Löhne festsetzen; das soll der Regelfall bleiben.
({3})
Zweitens. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, wollen wir - das konstatieren Sie auch - einen Vorrang für
branchenspezifische Mindestlöhne nach dem Tarifvertragsgesetz und dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz.
Auch da könnten wir gemeinsam etwas machen: Wir
könnten es erleichtern, dass tarifvertragliche branchenbezogene Mindestlöhne zustande kommen.
Ich will Ihnen eines sagen: Sie rühmen sich hier, zum
1. Januar in drei Branchen Mindestlöhne eingeführt zu
haben. Ich kann mich ganz gut erinnern - die Kollegin
Pothmer auch -, wie mühsam wir Ihnen diese Mindestlöhne in den Bereichen der Zeit- und Leiharbeit, des
Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildung in den Verhandlungen abringen mussten.
({4})
Ich sage Ihnen: Wir könnten es einfacher machen, indem
wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ändern und jeder
Branche, die das will und kann, die Möglichkeit eines
branchenspezifischen Mindestlohns nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geben.
Gestatten Sie eine Frage des Kollegen Wadephul?
Bitte schön.
Das kann ich nur wünschen.
({0})
- und auf Ihr Angebot einzugehen, gemeinsam darüber zu diskutieren. Das, was Sie gerade vorgetragen
haben, findet sich aber sämtlich nicht in Ihrem Gesetzentwurf wieder. Werden Sie deshalb in dieser Debatte,
bei diesem Tagesordnungspunkt Ihren Gesetzentwurf
zurückziehen und damit gegebenenfalls ermöglichen,
dass man zu gemeinsamen Regelungen kommt, oder
werden Sie diesen Gesetzentwurf inkonsequenterweise
zur Abstimmung stellen?
({0})
Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese Frage ausgesprochen dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, diesen Zusammenhang zu erläutern. Ich habe eben gesagt:
Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen. Ich erwähne das, weil Herr Weiß das angesprochen
hat und dabei insinuiert hat, unterstellt hat, wir würden
die Tarifautonomie infrage stellen. Herr Wadephul, ich
frage Sie an dieser Stelle einmal - die Frage ist offen -:
Wären die Gewerkschaften in diesem Land für einen gesetzlichen Mindestlohn, wenn es stimmen würde, dass
seine Einführung die Gewerkschaften schwächt?
({0})
Deshalb ist der Zusammenhang klar.
Herr Wadephul, unser Vorschlag an Sie ist: Lassen
Sie uns dafür sorgen, dass es einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen gibt, damit wir zu fairen Löhnen in
Deutschland zurückkehren. Das wird durch unseren Gesetzentwurf nicht verunmöglicht; im Gegenteil: Er
stärkt, wie ich gleich zeige, die Tarifautonomie. Wir
wollen einen Vorrang für Mindestlöhne in einzelnen
Branchen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz; sie
sind schon jetzt möglich, aber wir wollen es einfacher
machen. Ich sage Ihnen: Wir brauchen gleichwohl
({1})
- diese Klarstellung müssen Sie sich gefallen lassen eine verbindliche Lohnuntergrenze und einen gesetzlichen Mindestlohn. Das unterscheidet uns möglicherweise noch.
({2})
Wenn ich mir Ihren Antrag und Beschluss vom Parteitag in Leipzig anschaue, dann fällt mir Folgendes auf:
Sie sagen, dass Sie einen Mindestlohn oder eine gesetzliche Lohnuntergrenze für die Bereiche wollen, in denen
es keine Tarifverträge gibt. Ich sage Ihnen: Das ist schon
heute über das Mindestarbeitsbedingungengesetz rechtlich möglich, nur funktioniert es leider nicht.
({3})
- Herr Wadephul, bleiben Sie bitte stehen. Ich will die
Frage, die Sie gestellt haben, beantworten. - Frau Präsidentin, ich finde es ein bisschen ungehörig, eine Frage
zu stellen und sich dann hinzusetzen.
({4})
Aber okay: So sind die Bürgerlichen im Moment.
({5})
Herr Wadephul, ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir
brauchen eine gesetzliche Lohnuntergrenze auch in den
Bereichen, in denen die Tarifautonomie einfach nicht
mehr funktioniert. Die berühmte Friseurin in Thüringen,
die 3,18 Euro pro Stunde verdient, erhält diesen Lohn
gemäß Tarifvertrag. Wir wollen die Lebenssituation dieser Menschen konkret verbessern. Deshalb brauchen wir
einen gesetzlichen Mindestlohn. Das gehört zusammen.
({6})
Unser Angebot steht: Sie von der Koalition können
heute ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn
Sie sich auf diesen Weg einlassen. Das werden Sie aller
Voraussicht nach nicht tun, auch weil Ihr Koalitionspartner Sie wieder einmal an einem richtigen Schritt hindert.
In diesem Zusammenhang muss ich der FDP an einer
Stelle ausnahmsweise recht geben. Herr Kollege Vogel
von der FDP, ich habe heute im Handelsblatt gelesen,
dass Sie die Position der Union schön umschrieben haben: Sie verstünden nicht genau, was die Union in diesem Bereich wolle. Am Ende des Tages sei das ein kräftiges Jein der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Sachen
Mindestlohn.
({7})
Wo die FDP recht hat, hat sie recht: Sie eiern in dieser
Frage herum.
({8})
Deshalb habe ich mich an den Lateinunterricht erinnert, den ich vor mehr als 20 Jahren hatte.
({9})
Da haben wir gelernt, was der Begriff „Placebo“ bedeutet. Placebo heißt - ich musste noch einmal nachgucken wörtlich übersetzt „Ich werde gefallen“. Im gemeinen
Sprachgebrauch nehmen wir den Begriff „Placebo“
heute für Arzneimittel, die keine Wirkung entfalten.
Deshalb kann man das, was Sie auf dem Parteitag in
Leipzig beschlossen haben, tatsächlich nur als einen Pla18342
Hubertus Heil ({10})
cebo-Mindestlohn beschreiben. Sie wollen gefallen, aber
Sie bewirken nichts mit dem, was Sie da beschließen.
Auch hier gilt Willy Brandt: Politik, die nicht dazu beiträgt, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern,
soll uns in diesem Land gestohlen bleiben.
({11})
Herr Weiß und Herr Schiewerling, ich nehme Ihnen
ab, dass Sie Gutes wollen. Ich bezweifle nur, dass Sie
eine Mehrheit im eigenen Laden und eine Mehrheit in
dieser Koalition haben. Dass die Kanzlerin in dieser
Frage schweigt und sich im Bereich der Finanztransaktionssteuer - da ist es ähnlich - nicht gegen einen schwächelnden Koalitionspartner durchsetzen kann, ist
schlimm genug.
Wir könnten miteinander zu vernünftigen Lösungen
kommen. Wir legen Ihnen heute einen schlanken, einen
guten, einen einfachen Gesetzentwurf vor.
(Dr. Johann Wadephul ({12}): Der passt
nur nicht zu Ihrer Rede!
Sie werden ihn ablehnen. Aber damit sind Sie das
Thema nicht los. Wir wollen faire Löhne in Deutschland.
Wir werden dafür sorgen, dass der Mindestlohn kommt.
Wenn Sie es nicht schaffen, wird dies nach der Bundestagswahl 2013 die erste Amtshandlung einer rot-grünen
Bundesregierung sein.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Heil, mit solchen „Versprechungen“, was
man nach der Wahl machen werde, soll man vorsichtig
sein.
({0})
- Nein, warten Sie es erst einmal ab. Der Schuss geht für
Sie nach hinten los, Herr Kollege Heil. Sie haben vor der
Bundestagswahl 1998 schriftlich versprochen: Als Erstes werden wir nach einer gewonnenen Bundestagswahl
den demografischen Faktor, den Schwarz-Gelb eingeführt hat, abschaffen. - Das haben Sie auch getan, aber
nur ganz kurz. Denn wenig später haben Sie festgestellt,
das passt gar nicht zusammen, und Sie haben den demografischen Faktor als Nachhaltigkeitsfaktor wieder eingeführt.
({1})
Seien Sie also vorsichtig mit solchen Aussagen, die die
Zukunft betreffen.
({2})
Das Zweite, was ich sagen will - damit ich es nicht
vergesse, sage ich es vorab -: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist kein Projekt dieser schwarz-gelben
Bundesregierung.
({3})
Das steht klar und unmissverständlich im Koalitionsvertrag. Und um es noch klarer zu sagen: Sie können dabei
das Wort „einheitlich“ auch durch die Worte „flächendeckend“ oder „für alle Branchen geltend“ ersetzen. Das
ändert an der Bewertung durch unsere Fraktion nichts.
Wir stehen zum Koalitionsvertrag, und ich habe keinen
Zweifel, anzunehmen, dass das bei unserem Koalitionspartner anders gesehen wird.
({4})
Herr Kollege Heil, zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie haben die Glaubwürdigkeit an den Anfang Ihrer Rede gestellt. Glaubwürdigkeit beinhaltet für mich, dass das,
was man sagt, stimmen sollte,
({5})
und man sollte keine falschen Eindrücke erwecken. Da
stelle ich gewisse Anforderungen an Sie persönlich
- denn ich schätze Sie sehr -, aber auch an Ihre Fraktion.
Ich finde, eine Partei, die von 1998 bis 2009 den Bundesarbeitsminister gestellt hat, kann nicht einfach so einen Antrag hinschmieren, wie Sie es mit dem vorliegenden Antrag offensichtlich getan haben. Ich will Ihnen
das an sieben Punkten untermauern.
Ich erwarte von der SPD, dass sie im Gesetz selbst
und nicht nur in der Begründung - Sie sagten nämlich,
wer hart arbeite, müsse davon auch leben können - klar
sagt, dass ihr Mindestlohn existenzsichernd nur für alleinstehende Vollzeitbeschäftigte sein soll
({6})
und dass ihr Mindestlohn nichts daran ändern würde,
dass auch in Zukunft in mehreren Hunderttausend Fällen, in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Menschen
Aufstockerleistungen in Anspruch nehmen müssten, um
ihr eigenes Einkommen dem tatsächlichen Bedarf anzupassen, nämlich Verheiratete und Familien mit Kindern.
Das ist übrigens keine Schande - das will ich hier einmal
sehr deutlich sagen -, sondern es ist eine Errungenschaft
unseres Sozialstaates, dass genau diese Aufstockung des
Einkommens bis zum Bedarf stattfindet.
({7})
Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass sie
ihre Begründung eines Mindestlohns laufend überprüft.
Sie haben in Ihrem Antrag vom Februar 2011 noch davor gewarnt, dass eine Invasion von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern aus Osteuropa nach Deutschland unDr. Heinrich L. Kolb
mittelbar bevorstünde. Die Entwicklung des letzten Jahres hat gezeigt, dass genau das nicht eingetreten ist. Deshalb hätte ich von Ihnen erwartet, dass Sie sagen, dass
jedenfalls dieses Argument zur Begründung eines Mindestlohnes in Deutschland nicht mehr taugt.
({8})
Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass,
wenn sie auf Seite 5 ihres Gesetzentwurfs schreibt, der
Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Armutslöhnen sei zwischen 1998 und 2008 von 8,3 auf
12,7 Prozent gestiegen, sie dann auch dazuschreibt: Das
ist genau der Zeitraum, in dem die SPD den Arbeitsminister in diesem Land gestellt hat.
({9})
- Nein, 98. Ich habe mir das selbst herausgeschrieben;
({10})
ich schreibe meine Reden durchaus noch selbst. - Dass
wir diesen Niedriglohnsektor haben, ist übrigens kein
Zufall und auch nicht versehentlich passiert. Vielmehr
war es ein bewusstes Ergebnis Ihrer Politik. Sie wollten
einen Niedriglohnsektor; Sie haben ihn ganz aktiv angestrebt.
Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, wenn sie
behauptet, der wachsende Niedriglohnsektor führe zu einer Erosion der Einnahmebasis der Sozialversicherungen und des Staates, wie es auf Seite 1 ihres Antrages
steht, dass sie das wenigstens überschlägig mit der Realität vergleicht. Schon ein kurzer Blick in die Beitragsund Steuerkassen hätte Ihnen gezeigt: Die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern sprudeln auf Rekordniveau in diesem Lande. Das zeigt, dass Ihre Prämisse an
dieser Stelle falsch ist.
Ich hätte von der SPD, Herr Kollege Heil, auch erwartet, dass sie nicht vordergründig behauptet, sie wolle
selbstverständlich einen unpolitischen Mindestlohn,
dann aber ein System vorschlägt, das politischer nicht
sein könnte. Was passiert denn, Herr Heil, wenn die
Kommission der Meinung ist, dass 8,50 Euro zu hoch
sind, wenn sie der Meinung ist, dass es in Deutschland
überhaupt keinen Mindestlohn geben sollte, oder sich
auf keinen Mindestlohn einigen kann, was jedenfalls
nicht ganz ausgeschlossen werden kann, oder wenn das
BMAS an dem vorgeschlagenen Mindestlohn keinen
Gefallen findet? In all diesen vier Fällen ist die Konsequenz Ihres Gesetzentwurfes - schütteln Sie nicht den
Kopf; lesen Sie es in Ihrem Gesetzentwurf nach, denn
dort steht es -, dass das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales, also die Politik, einen Mindestlohn in
Deutschland festsetzt. Das ist für uns nicht akzeptabel.
Von der SPD, Herr Kollege Heil, erwarte ich nicht
nur, sondern verlange es auch, dass sie verantwortungsvoll mit der Tarifautonomie umgeht. Was ist, wenn die
Tarifpartner zu dem Ergebnis kommen, dass sie von dem
Mindestlohn nach unten abweichen wollen? Das wollen
Sie nicht zulassen. In der Begründung zu § 8 Ihres Antrags heißt es nur lapidar, man wolle den Tarifpartnern
ein Jahr Zeit zur Anpassung lassen. Da kann ich nur sagen: Respekt vor der Tarifautonomie sieht nach unserer
Auffassung anders aus, Herr Kollege Heil.
({11})
Von der SPD erwarte ich auch, Herr Kollege Heil,
dass sie weiß - und Sie wissen das auch -, dass man mit
einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht, auch nach
45 Arbeitsjahren nicht, erreichen kann, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine
Alterssicherung haben, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten Leistung der Grundsicherung im Alter liegt.
({12})
45 Jahre Beschäftigung mit 8,50 Euro - natürlich in
Zeitwerten; das wird ja fortgeschrieben - führen aktuell
zu einer Rente von 571 Euro, mithin 100 Euro unter dem
Grundsicherungsniveau im Alter.
({13})
So kann man Menschen für dumm verkaufen, Herr Kollege Heil. Das lassen wir Ihnen als ehemaliger Regierungspartei einfach nicht durchgehen.
({14})
Man könnte zu Ihrem Antrag noch viel sagen. Zu dem
Antrag der Grünen etwas zu sagen, lohnt sich nicht; er
ist viel zu dünn, Frau Kollegin Pothmer.
({15})
Über eine grobe Skizze unverbindlichster Art geht er
nicht hinaus; deshalb ist er nicht der Rede wert.
({16})
Zu den Kollegen der Linken muss man sagen, dass sie
mir zu abgedreht sind. Über deren Antrag kann man
auch nicht ernsthaft diskutieren.
Am Ende muss ich leider sagen: Die SPD hat bei dieser Aufgabe schändlich versagt. Das hätte ich von einer
ehemaligen Regierungspartei nicht erwartet.
({17})
Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen, ebenso wie
die Anträge der weiteren Oppositionsparteien.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kolb, es kann sein, dass wir aus Ihrer Sicht
abgedreht sind, aber Ihre Position zum Mindestlohn, einschließlich die der gesamten Koalition, ist für jeden Arbeitnehmer, der wenig Geld verdient, eine Bedrohung
der Existenz. Das ist viel schlimmer, Herr Kolb. Das will
ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
({0})
Wir stimmen über einen Gesetzentwurf der SPD zum
Mindestlohn ab. Seit sechs Jahren diskutieren wir über
diese Frage. Sie blockieren alles. Sie sind damit für die
Armut durch Arbeit in diesem Land verantwortlich, und
zwar alle miteinander, so wie Sie hier sitzen. Das will
ich Ihnen sagen.
({1})
Die Einführung einer allgemeinverbindlichen Lohnuntergrenze ist dringend notwendig. Es stimmt, was in
Ihrem Gesetzentwurf steht: Jeder fünfte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnbereich, 1,15 Millionen für weniger als 5 Euro in der
Stunde. Herr Kolb, für dieses Geld würden Sie morgens
nicht einmal das Augenlid heben, um das einmal deutlich zu sagen.
({2})
3,4 Millionen arbeiten für weniger als 7 Euro die Stunde.
Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2008. Inzwischen haben die Probleme in diesen beiden Lohnsegmenten deutlich zugenommen. Im SPD-Antrag, mit dem
wir uns natürlich auseinandersetzen müssen, heißt es:
Zwischen 1998 und 2008 ist der Anteil der Beschäftigten
mit Armutslöhnen von 8,3 Prozent auf 12,7 Prozent gestiegen. - Das ist eine Steigerung um 50 Prozent. Das
Problem hat sich seit 1998 dramatisch verstärkt.
Liebe Genossinnen und Genossen von der sozialdemokratischen Partei, an dieser Stelle hat Herr Kolb
recht; denn Sie müssen sich schon die Frage stellen: Wer
hat damals regiert? Was ist in Ihrer Regierungszeit passiert, dass die Armutslöhne in unserem Land plötzlich so
zugenommen haben? Es war Ihre Regierung, die die
Leiharbeit geradezu gefördert hat.
({3})
- Herr Kolb, Sie haben übrigens immer zugestimmt. Da
brauchen Sie gar nicht versuchen, sich herauszureden.
Die Schutzregelungen für Arbeitnehmer bei befristeten Arbeitsverhältnissen wurden gelockert. Es war letztendlich die Agenda 2010 - die Sie heute wieder verteidigen -, die dazu geführt hat, dass Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer Arbeit aller Art anzunehmen haben, auch
wenn es nur 1 Euro dafür gibt. Deshalb haben Sie das
Problem mit verursacht. Sie sind nicht die Lösung, Sie
sind die Ursache des Problems, liebe Genossinnen und
Genossen, das muss ich euch leider sagen.
({4})
Es ist zwar recht und schön, wenn man die Feuerwehr
ruft, wenn es nicht mehr geht, aber wenn man vorher den
Brand selber gelegt hat, dann ist das nicht glaubwürdig.
Liebe Genossinnen und Genossen - ({5})
- Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD,
({6})
die CDU/CSU hat das, was ihr gemacht habt, immer sehr
gefreut, sie freut es noch heute. Ihr wart der Türöffner
für eine Entwicklung, die die Konservativen gefreut hat.
Dies alles hat im Ergebnis dazu geführt - Sie berufen
sich gerne auf den DGB und die Tarifautonomie -, dass
der Vorsitzende des DGB Ihnen allen ins Stammbuch
schreibt, dass Arbeit in unserem Land so billig geworden
ist wie Dreck. Deswegen brauchen wir einen Mindestlohn, was Sie verhindern. Insofern ist der Gesetzentwurf
der Sozialdemokraten durchaus richtig, weil er in die
richtige Richtung geht.
Wir müssen mithelfen, ein Problem zu lösen, für das
Sie selbst maßgeblich verantwortlich sind. Aber
8,50 Euro als Mindestlohn reichen nicht aus. Herr Kolb
hat hier im Übrigen auch recht.
({7})
In Ihrem Gesetzentwurf weisen Sie richtigerweise darauf
hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Rentenhöhe und den Löhnen gibt. Klar ist, dass zu niedrige
Löhne zu niedrigen Renten führen. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf - ich zitiere -:
Mit einem ausreichenden Mindestlohn würde erreicht, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer eine Alterssicherung erreichen
können, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten
Leistungen der Grundsicherung im Alter liegt.
Das stimmt. Leider tritt das bei einem Mindestlohn von
8,50 Euro nicht ein.
({8})
Ich habe die Bundesregierung gefragt: Wie hoch
müsste denn ein Lohn sein, damit ein entsprechendes
Rentenniveau erreicht wird? Ich habe eine Antwort bekommen. Die würde ich Ihnen gerne vortragen. Die Antwort ist nämlich eindeutig. Am 11. Mai habe ich vom
Bundesministerium für Arbeit mitgeteilt bekommen:
Um eine Nettorente im Alter in Höhe von 684 Euro
({9}) zu erreichen, wäre rechnerisch ein
Stundenlohn von 10 Euro erforderlich.
Herr Heil, das ist das Problem.
({10})
Es tut mir leid: Mit Ihrem Antrag werden Sie Ihren eigenen Anforderungen nicht gerecht. 10 Euro Mindestlohn
sind notwendig, damit Menschen, die ihr ganzes Leben,
also 45 Versicherungsjahre lang, vollzeitbeschäftigt waren, später eine Rente erhalten, für die sie nicht zum Amt
gehen müssen. Das wird mit Ihrem Antrag nicht erreicht.
({11})
Es ist bereits auf die Studie des Schweizer Forschungsunternehmens Prognos hingewiesen worden;
Herr Heil, Sie haben das getan. Ich möchte betonen, dass
bei einem Mindestlohn von 10 Euro der Einkommenszuwachs mehr als 26 Milliarden Euro betragen würde.
({12})
So sagt es Prognos. Das ist deutlich mehr als das, was
durch Ihren Gesetzentwurf zu erwarten wäre.
Von uns allen hier hängt ab, ob wir letztendlich ein
entsprechendes Gesetz beschließen werden. Wir werden
Ihrem Antrag zustimmen, weil er in die richtige Richtung geht, auch wenn der Betrag noch nicht stimmt.
({13})
Ich sage allen, die dagegen stimmen werden, dass Arbeit
auch etwas mit Würde zu tun hat. Wenn Menschen vollzeitbeschäftigt sind und von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, dann nimmt man ihnen die Würde. Ich sage
Ihnen, dass es dringend notwendig ist, den Menschen
ihre Würde zurückzugeben.
({14})
Das erreichen wir, wenn wir einen gesetzlichen Mindestlohn einführen. Ich bitte Sie: Reißen Sie sich in diesem
Zusammenhang einmal am Riemen!
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
allein in dieser Legislaturperiode die siebte Debatte zum
Thema Mindestlohn.
({0})
Aber, Hubertus, es gibt immerhin einen kleinen Fortschritt. Das Bohren dicker Bretter hat sich gelohnt. Wir
reden heute nicht mehr ernsthaft über die Frage, ob es einen Mindestlohn geben soll, sondern wir reden heute
über die Frage, Herr Kolb, wie dieser Mindestlohn ausgestaltet werden wird.
({1})
Diese Frage ist alles andere als trivial. Wenn Frau von
der Leyen - ich will an dieser Stelle noch einmal sagen:
ich finde es nicht hinnehmbar, dass sie bei einer solchen
zentralen arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht anwesend ist ({2})
bei ihrer Position bleibt, nämlich einen Mindestlohn nur
für die Bereiche einzuführen, in denen es keine Tarifverträge gibt, dann springen Sie mit diesem Ansatz deutlich
zu kurz. Sie können doch die Friseurin aus Sachsen mit
einem Tariflohn von 3,06 Euro nicht dafür bestrafen,
dass sie sich im Tarifsystem befindet. Sie können doch
die Floristin aus Thüringen nicht dafür bestrafen. Das
Gleiche gilt für die vielen Beschäftigten im Hotel- und
Gaststättengewerbe, im Gartenbau und in der Landwirtschaft.
({3})
Wenn diese Beschäftigten vom Mindestlohn profitieren wollen, dann müssen sie aus dem Tarifsystem aussteigen. Wenn Sie das machen, was Sie angekündigt haben, dann ist das ein Projekt zur Forcierung der
Tarifflucht. Das können Sie nicht wirklich wollen.
({4})
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Weiß?
({0})
Ja, bitte.
Frau Kollegin Pothmer, ich möchte Sie nur um eine
sachliche Klarstellung bitten: Würden Sie bitte dem
Hohen Hause und auch der Öffentlichkeit sagen, dass
die von Ihnen genannten Tarifverträge, die in der Tat
eine sehr geringe Entlohnung vorsehen, die wir alle uns
eigentlich gar nicht vorstellen können, zum Teil seit
zehn Jahren gekündigt sind und nur noch die sogenannte
Nachwirkung entfalten?
Sie sind trotzdem weiterhin wirksam. Herr Weiß, weil
Sie das wissen - ganz offensichtlich anders als Frau von
der Leyen -, haben Sie in Ihrem Vorschlag, den die Arbeiternehmergruppe zur Umsetzung des Beschlusses des
CDU-Parteitags vorgelegt hat, vorgesehen, dass diese
Nachwirkungsfrist auf ein Jahr begrenzt wird; denn Sie
wollen das, was Frau von der Leyen will, ganz offensichtlich nicht. Sie wollen mit Ihrem Beschluss erreichen, dass auch die Leute, in deren Branchen es Tarifverträge gibt, vom Mindestlohn profitieren. Das ist
richtig. Das unterstützen wir im Übrigen.
({0})
Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Welche Haltung
nimmt der Wirtschaftsflügel der CDU zu Ihren Vorschlägen ein? Bisher war es leider so, dass die gutgemeinten
Vorschläge der CDA immer so weit ausgehöhlt worden
sind, dass sie am Ende überhaupt keine Substanz mehr
entfaltet haben.
({1})
Frau von der Leyen - sie ist ja nicht da -, in einer solchen Situation, in der der Arbeitnehmerflügel der CDU
etwas vorlegt und der Arbeitgeberflügel der CDU dem
widerspricht, kommt es zentral auf die Arbeitsministerin
an. Sie muss jetzt zeigen, auf welcher Seite sie eigentlich
steht. Sie hat in einem Interview mit der HAZ gesagt, sie
wolle sich mit Verve dafür einsetzen, dass es noch in dieser Legislaturperiode einen Mindestlohn gibt.
({2})
Von dieser Verve konnte jedenfalls ich bisher nicht viel
erkennen.
({3})
Bisher jedenfalls - das zeigt ihre Abwesenheit bei der
heutigen Debatte zum x-ten Mal - hat sie sich nicht gerade als Speerspitze der Mindestlohnbewegung gezeigt.
Wenn überhaupt, war sie vielleicht eine Mitläuferin.
Der CDU-Parteitagsbeschluss ist Herrn Laumann zu
verdanken.
({4})
Der Vorschlag zur Umsetzung dieses Beschlusses
kommt aus der Arbeitnehmergruppe Ihrer Fraktion. Frau
von der Leyen ist die Prokura in Sachen Mindestlohn
ganz offensichtlich endgültig entzogen worden. Dabei
müsste sie jetzt in die Debatte eingreifen. Sie müsste die
Skeptiker in ihrer Fraktion mit Fakten überzeugen. Die
Fakten, meine Damen und Herren, sind hier x-fach genannt worden. Die Fakten liegen auf dem Tisch.
Nahezu 3,6 Millionen Menschen arbeiten für Löhne
unter 7 Euro die Stunde. 1,3 Millionen Beschäftigte
müssen, obwohl sie hart arbeiten, noch zum Jobcenter
gehen, um sich Finanzspritzen zu holen.
({5})
Das ist entwürdigend, und das ist teuer für die Gesellschaft.
({6})
Jeder vierte Beschäftigte, der arbeitslos wird, fällt sofort
in Hartz IV, weil die Löhne so skandalös gering sind.
Dass Mindestlöhne keine Arbeitsplätze bedrohen, haben
die Studien, die Sie selber in Auftrag gegeben haben,
endgültig unter Beweis gestellt.
({7})
Unter dem Strich ist festzustellen: Für viele Menschen ist Ihr Slogan „Arbeit soll sich wieder lohnen“
wirklich purer Hohn. Für diese Menschen gilt etwas
ganz anderes: Armut trotz Arbeit. Das, finde ich, ist ein
sozialpolitischer Skandal, der mit der sozialen Marktwirtschaft nicht zu vereinbaren ist.
({8})
Herr Kolb, jetzt zu Ihnen. Das, was ich gesagt habe,
sehen Ihre Wählerinnen und Wähler ganz offensichtlich
haargenau so. Eine Umfrage des Instituts Infratest dimap
aus dem Jahre 2009 kam zu dem Ergebnis, dass über
70 Prozent der FDP-Wählerinnen und -Wähler für einen
Mindestlohn sind, Herr Kolb.
({9})
Neuere Zahlen kann ich Ihnen leider nicht vorlegen. Das
hängt damit zusammen, dass die Zahl der Wählerinnen
und Wähler der FDP so weit geschrumpft ist, dass ihre
Auffassungen nicht mehr messbar sind. Das kann Sie
aber nicht ernsthaft wundern. Sie arbeiten doch mit
Hochdruck daran, Ihre Umfragewerte in den Keller zu
treiben. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für den Mindestlohn. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für die Finanztransaktionsteuer.
({10})
Aber hier im Bundestag blockieren Sie all die Projekte,
die Ihre Wählerinnen und Wähler wollen. Daher müssen
Sie sich nicht wundern, dass Sie inzwischen bei 2 Prozent gelandet sind.
({11})
Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 könnte das
Jahr des Mindestlohns werden. Die Bevölkerung will
ihn. Die Vorschläge der Opposition liegen auf dem
Tisch. Es gibt auch einen entsprechenden CDU-Parteitagsbeschluss. Wenn die Union ihre sozialpolitische
Glaubwürdigkeit nicht vollkommen verlieren will, dann
muss sie jetzt etwas vorlegen - mit oder ohne FDP.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig: Wir in der CDU haben uns die Debatte um Mindestlöhne und Lohnuntergrenzen nicht einfach gemacht.
Die Union war und ist der Meinung, dass ein Lohn dann
ungerecht ist, wenn er von einer Seite festgelegt ist, sei
es von den Arbeitgebern, sei es vom Staat. Deswegen
haben wir lange - vielleicht viel zu lange - ausschließlich auf die Tarifautonomie gesetzt. Im Prinzip ist es
richtig: Löhne von den Tarifpartnern verbindlich aushandeln zu lassen, ist der beste Weg, und er sorgt für gerechte Löhne. Wir haben aber auch anerkennen müssen,
dass die Bindungswirkung von Tarifverträgen abnimmt auch als unbeabsichtigte Folge staatlichen Handelns,
nämlich der Hartz-IV-Gesetze.
Nun stellte sich für uns die Frage: Wie finden wir ein
möglichst sinnvolles Verfahren, das die Grundidee der
Tarifautonomie und die Grundidee gerechter Löhne in
dieser neuen Situation miteinander verbindet? Das Ergebnis war der Beschluss von Leipzig.
Hier wird schon ein Merkmal deutlich, das uns von
den Sozialdemokraten unterscheidet: Wir haben sehr intensiv darum gerungen und darüber nachgedacht, wie
ein gerechter Mindestlohn zustande kommt. Die SPD
und ihre geistigen Milchbrüder von den Linken haben
darüber geredet, wie hoch er sein soll.
({0})
Ich weiß, dass es in der Sozialdemokratie und bei den
Linken eine Tradition gibt, die Parteitagsbeschlüsse bei
der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit zur Bibel zu
machen, aber mir ist bis heute noch nicht ganz klar, aufgrund welcher Eingebung Sie zu den verbindlichen Zahlen von 8,50 Euro bzw. 10 Euro Mindestlohn kommen.
({1})
Nun hat die SPD einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich
halte den Gesetzentwurf für schlecht, und zwar nicht,
weil das gewissermaßen in der - ({2})
- Der Kollege Heil.
Ich wollte Sie nicht mitten im Satz unterbrechen, aber
wenn Sie schon freiwillig aufhören.
Für den Kollegen höre ich gerne mitten im Satz auf.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Zimmer, weil Sie nicht begriffen haben,
wie wir auf 8,50 Euro kommen: Können Sie bitte zur
Kenntnis nehmen, dass das keine willkürlich herausgegriffene Zahl, sondern der Betrag ist, mit dem zumindest
dafür gesorgt würde, dass ein Alleinstehender, der vollzeitbeschäftigt ist, kein ergänzendes Arbeitslosengeld II
mehr braucht? Deshalb kamen wir auf 8,50 Euro. Das ist
ganz einfach zu berechnen und müsste sich auch Ihnen
erschließen. Sie müssen unsere Meinung ja nicht teilen,
aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen, wir
hätten gewürfelt.
Ich sage Ihnen: Das, was vorhin gesagt wurde,
stimmt. Natürlich wird eine Grundsicherung notwendig
sein, wenn ein Angehöriger hinzukommt, aber wir würden im diesem Bereich Millionen von Arbeitnehmern
helfen und auch Mittel für die Grundsicherung sparen.
({0})
Meine Bitte ist deshalb, dass Sie das einfach zur Kenntnis nehmen.
Herr Kollege Heil, ich unterbreche meine Rede für
Ihre sehr intellektuellen Zwischenfragen immer gerne. 18348
Gleichwohl gebe ich an dieser Stelle doch einmal zu bedenken: Sie wollen einen Mindestlohn von 8,50 Euro gewissermaßen flächendeckend einführen.
({0})
Ich komme aus Frankfurt. Dort ist es mit 8,50 Euro
wahrscheinlich nicht getan. In anderen Landesteilen reichen diese 8,50 Euro aus.
({1})
Insofern halte ich das, was Sie hier vortragen, dass nämlich 8,50 Euro gewissermaßen der Schlüssel- bzw. Zauberbetrag ist, durch den sich die soziale Wirklichkeit
endgültig zum Besseren entwickelt, für problematisch.
Diesen Optimismus teile ich nicht. - Danke schön.
({2})
Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, den ich
für staatsrechtlich bedenklich und handwerklich schlecht
gemacht halte.
({3})
Schauen wir in Art. 1. Dort heißt es:
({4}) Als unterste Grenze des Arbeitsentgelts wird der
Mindestlohn festgesetzt. Er soll vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein ihre
Existenz sicherndes Einkommen gewährleisten …
Hier habe ich erst einmal gestutzt.
({5})
Normalerweise wird in einführenden Paragrafen über
den Geltungsbereich eines Gesetzes gesprochen. Will
die SPD den Mindestlohn nur für Vollzeitbeschäftigte
und nicht für Teilzeitbeschäftigte? Nein, natürlich nicht.
Ich vermute einmal, Sie haben hier nur ein wenig Prosa
in den Gesetzentwurf hineingeschrieben. Diese Prosa hat
hier aber nichts zu suchen.
({6})
Sie führt nur zu Verwirrung und schlimmstenfalls zu
Rechtsunsicherheit.
Zur Festsetzung des Mindestlohns. In § 4 Abs. 1 Ihres
Entwurfs heißt es:
({7}) Die Mindestlohnkommission schlägt unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes, danach jeweils
zum 31. August eines jeden Jahres den Mindestlohn
durch Beschluss vor.
Ein wenig später heißt es in Abs. 5:
({8}) Schlägt die Mindestlohnkommission bis zu dem
in Absatz 1 genannten Zeitpunkt keinen Mindestlohn vor, bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Mindestlohn …
({9})
Also: Schlägt die Mindestlohnkommission nicht unverzüglich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einen
Mindestlohn vor, bestimmt das Ministerium. Da Sie in
§ 4 Abs. 2 bereits festgelegt haben, dass der Mindestlohn
mindestens 8,50 Euro beträgt, wird er dann unmittelbar
nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs vom Ministerium erhöht, weil Sie in diesem Absatz ja auch festgelegt
haben, dass nur ein höherer Mindestlohn vorgeschlagen
werden kann. Das ist ein politischer Dreisprung, gegen
den sich die Echternacher Springprozession harmlos
ausnimmt.
({10})
Der Kollege Heil hat von der Tarifautonomie gesprochen und davon, dass er sie hochhält. Mir scheint hingegen: Es ist im Wesentlichen das Ministerium für Arbeit
und Soziales, das in dem ganzen Prozess, den Sie hier
vorschlagen, eine herausragende Rolle spielt.
({11})
Das Ministerium benennt den Vorsitzenden der Kommission, die dann noch acht weitere Mitglieder enthält.
Über die Abstimmungsmodalitäten sagen Sie nichts. Ich
vermute einmal, dass der Vorsitzende gewissermaßen
der Tiebreaker sein wird.
Das Ministerium kann, wenn die Kommission zu keiner Einigung gekommen ist, einen Mindestlohn bestimmen und durch Rechtsverordnung festlegen. Das Ministerium kann den Mindestlohn, wenn ihm die von der
Kommission festgelegte Höhe nicht passt, ablehnen. Das
Ministerium hat also ein Vetorecht.
Was Sie hier vorschlagen, Herr Heil, ist ein mindestlohnpolitisches Ermächtigungsgesetz für das Ministerium für Arbeit und Soziales.
({12})
Ich habe keine Sorge, Herr Heil,
({13})
dass unsere Ministerin mit einer solchen Machtfülle
nicht verantwortlich umgehen würde. Aber bei Ihnen
habe ich da meine Zweifel. Vor jeder Wahl würde ein
SPD-geführtes Ministerium Lohngeschenke machen
können. Sie wären Ihrem alten Traum näher gekommen,
Wahlgeschenke auf Kosten Dritter machen zu können.
({14})
Ich sage hingegen, Herr Heil, auch gegen das Gebrüll,
das von Ihnen kommt: Ein Lohn ist ungerecht, wenn er
in der Weise, die Sie vorschlagen, vom Staat festgelegt
werden kann.
Letzter Punkt. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf
in § 1 Abs. 2, dass die Festsetzung des Mindestlohns unter Berücksichtigung der Beschäftigungseffekte, des
Existenzminimums und der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen erfolgt. Gleichzeitig schreiben Sie aber auch,
dass sich der Mindestlohn auf mindestens 8,50 Euro belaufen muss, und zwar unabhängig von den Beschäftigungseffekten und den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen.
Auch zum Existenzminimum habe ich eine Frage. Ich
komme aus Frankfurt. Da ist ein Lohn von 8,50 Euro
nicht auskömmlich. Aber ich kann mir vorstellen, dass
das in anderen Regionen anders ist. Ungleiches gleich zu
behandeln - schafft das nicht neue Ungerechtigkeiten?
Könnte es sein, dass Sie damit in ländlichen Regionen zu
einer zusätzlichen Abwanderung beitragen, weil die regionalen wirtschaftlichen Auswirkungen für Arbeitgeber
nicht mehr zu tragen sind?
({15})
Was ist, wenn die Kommission empfiehlt, ein Mindestmaß an regionaler Flexibilität einzuführen, was
unseren Überlegungen entspricht? Nach Ihrem Modell
kassiert dann mit einer großen Geste des „Basta!“ das
Ministerium den Vorschlag ein und macht, was es für
richtig hält. Klug ist das nicht, eher schon ideologisch
getrieben.
Ihr Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht. Er ist
missverständlich. Er gibt dem Ministerium zu viel
Macht. Er ist von einem Misstrauen gegen die Tarifpartner geprägt. Ihr Gesetzentwurf ist wie eine rektale Zahnbehandlung. Sie kann unter Umständen erfolgreich sein,
richtet aber auf dem Weg dahin so viel Schaden an, dass
die Gesamtbilanz negativ ist. Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen und zu gegebener Zeit einen eigenen Gesetzentwurf zu diesem Thema vorlegen.
Vielen Dank.
({16})
Herr Kollege Zimmer, wir haben in diesem Hause
sehr wenige Regeln. Zu den wenigen Regeln gehört,
dass wir Grenzüberschreitungen vermeiden sollten, etwa
Grenzüberschreitungen derart, eine andere demokratische Partei zu verdächtigen, dass sie etwas tue, was in
irgendeinem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht. Deswegen ermahne ich Sie, so etwas wie „Ermächtigungsgesetz“ nicht zu wiederholen. Ich tue das
ganz freundlich. Diesen Stil wollen wir uns nicht wechselseitig zumuten.
({0})
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für
Ihre Worte, Herr Präsident. Es hat mich schwer erschüttert, dass der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ im Zusammenhang mit der SPD verwendet wird,
({0})
einer Partei, deren Mitglieder durch den Nationalsozialismus verfolgt worden sind, die wegen ihres Kampfes
gegen den Nationalsozialismus gestorben sind.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fällt mir ein wenig schwer, zur Tagesordnung überzugehen, aber wir
diskutieren hier über einen Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland. An sich weiß jeder hier im Saal,
dass es kein Argument gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Wir können Ihnen die Zahlen an den Kopf
knallen und beobachten Ignoranz. Herr Kolb wirft uns
vor, dass wir nicht imstande sind, in dieser Republik
Traumwelten zu schaffen.
({2})
Das bedauern wir auch. Sicherlich wäre es wunderbar,
wenn wir es schaffen würden, über einen Mindestlohn
nicht nur Vollzeitbeschäftigte, sondern auch Familien
abzusichern. Sicherlich wäre es wunderbar, wenn wir es
schaffen würden, über einen Mindestlohn beispielsweise
auch Teilzeitbeschäftigte mit 30 Stunden abzusichern.
Sicherlich wäre es auch wunderbar, wenn bereits die
Einführung eines ersten Mindestlohns dazu führen
würde, dass Rentenansprüche oberhalb der Grundsicherung liegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
dennoch einige Zahlen nennen, die an sich bei Ihnen zu
großer Sorge führen müssten, sodass Sie sich endlich
Gedanken zu diesem Thema machen und einen Gesetzentwurf vorlegen. Das gilt auch für Sie von der FDP.
Wir haben in der Bundesrepublik einen Niedriglohnsektor, der dem in den USA gleicht. 22 Prozent aller Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland sind im
Niedriglohnsektor tätig.
({3})
In Dänemark sind es demgegenüber nur 8,5 Prozent, in
Frankreich 11,1 Prozent. Wir hatten zwischen 1995 und
2006 einen 40-prozentigen Zuwachs zu verzeichnen.
({4})
Im untersten Quartil sind die Löhne in den letzten Jahren
sogar um fast 14 Prozent gesunken. Wenn man eine einheitliche Niedriglohnschwelle sowohl für den Osten als
auch für den Westen der Bundesrepublik Deutschland
definiert, dann sind 40 Prozent aller Ostdeutschen im
Niedriglohnsektor tätig.
20 Prozent der Aufstocker arbeiten mehr als 35 Stunden, aber 50 Prozent bekommen weniger als 6,44 Euro
Lohn. 25 Prozent arbeiten sogar für weniger als
4,95 Euro.
Niedriglöhne gefährden damit die Funktionsfähigkeit
der Sozialversicherungssysteme. Die Krankenversicherungsbeiträge reichen nicht aus.
({5})
- Herr Kolb, Sie haben völlig recht. Ich würde Ihnen
gerne antworten, wenn Sie mich lassen.
({6})
- Es ist richtig, dass die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen ist, Herr Kolb. Aber es ist nicht richtig, dass die individuelle Beitragshöhe gestiegen ist. Sie müssen zugeben,
dass ein Niedriglohnempfänger insgesamt auch sehr
niedrige Beiträge in die Krankenversicherung einzahlt.
Leider müssen wir auch immer häufiger beobachten,
dass das System des Arbeitslosengelds I nicht greift,
sondern Menschen direkt Aufstockungsleistungen in
Anspruch nehmen müssen. Herr Kolb, Sie haben selber
dargelegt, wie die Situation in der Rentenversicherung
ist. Was sollen wir von diesem Rentenversicherungssystem perspektivisch erwarten, wenn 40 Prozent der Ostdeutschen im Niedriglohnsektor tätig sind? Wie sollen
diese Menschen jemals auf eine Rente oberhalb der
Grundsicherung kommen?
({7})
Mindestlöhne generieren zusätzliche staatliche Einnahmen. Gerade in der gegenwärtigen internationalen
Situation wäre es wunderbar, eine Art kleines Konjunkturprogramm zu haben. Wir könnten durch einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro 14,5 Milliarden Euro
zusätzlich an Erwerbseinkommen erzielen. Die zusätzlichen Steuereinnahmen hat Hubertus Heil auf der Grundlage der Berechnungen des Prognos-Instituts bereits beziffert, ebenso die Entlastungen bei Sozialtransfers. Wir
könnten die zusätzlichen Einnahmen beispielsweise
dazu nutzen, in eine vernünftige Fachkräfteinitiative zu
investieren. Auch das ist ein Thema, dem sich diese
Koalition leider verweigert.
Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze. Sie sollten die Recherchen ernst nehmen, die Sie selber haben
durchführen lassen, meine Damen und Herren von der
Koalition.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir können nur
hoffen, dass der Entwurf der Union irgendwann kommt.
Er wäre wenigstens ein erster Schritt in die richtige
Richtung.
Sie wollen eine Beschränkung auf Branchen ohne Tarifvertrag einführen. Das bedeutet zunächst einmal, dass
es keinerlei rechtliche Weiterung im Vergleich zum Mindestarbeitsbedingungengesetz gibt.
({8})
Der nächste Punkt ist: Wir bedürfen an sich gesetzlicher Mindestlöhne auch im Bereich der Tarifverträge.
Wie sollen die Gewerkschaften dort künftig agieren?
Sollen Gewerkschaften auf Tarifverträge verzichten?
Herr Kolb hat sehr offensiv gesprochen und behauptet,
wir würden einen Misstrauensantrag gegen die Gewerkschaften stellen.
({9})
Ich kann nur sagen: Nach meiner Auffassung handelt es
sich bei Ihrem Vorschlag um einen Attentatsversuch auf
die Gewerkschaften; denn diese kämen in die kuriose Situation, auf eigene Tarifverträge verzichten zu müssen,
um Beschäftigten in den betreffenden Branchen und
Sektoren eine Mindestabsicherung zu ermöglichen.
Überdies wäre das Ganze quasi ein Heiratsantrag an
Scheingewerkschaften. Diese würden befördert werden,
weil eine ganze Branche durch den Abschluss eines
Scheintarifvertrags für die Lohnuntergrenze gesperrt
werden könnte.
({10})
Sie wollen des Weiteren nach Branchen und Regionen
differenzieren. Das wird zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen führen. Es wird Jahre dauern, bis wir in der
Bundesrepublik Deutschland durchgängig Mindestlöhne haben. Viele Arbeitnehmer werden niemals wissen, welcher Mindestlohn für sie gilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten endlich
zur Vernunft kommen. Ich finde, es gibt kein Thema, bei
dem es so eindringliche Argumente gibt, die nahelegen,
endlich zu einer gesetzlichen Lösung zu kommen. Aber
diese Koalition scheint auch in diesem Punkt nicht handlungsfähig zu sein.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Kramme, Sie haben eben gesagt, wir
dürften bei der Betrachtung der Lage und unseren Überlegungen, wie wir am besten darauf reagieren, nicht
ignorant sein. Ich glaube, Sie haben recht. Aber dann
sollten wir zur Versachlichung der Debatte beitragen.
Johannes Vogel ({0})
Wir müssen uns zuerst überlegen, was wir wollen, und
dann schauen, welches der beste Weg ist.
({1})
Wir wollen auf dem Arbeitsmarkt Fairness gegenüber
drei Gruppen erreichen; Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, müssten dem eigentlich zustimmen. Wir wollen, dass Arbeitnehmer gute Löhne bekommen. Wir wollen aber auch, dass die Unternehmen in der
Lage sind, die Löhne zu zahlen; denn nur dann entstehen
Wachstum und Arbeitsplätze. Wir wollen außerdem
Fairness und Perspektiven für diejenigen, die noch auf
den Arbeitsmarkt wollen, und für diejenigen, die bei falschem politischen Handeln Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ausdruck von falschem politischen
Handeln sind Ihre Vorlagen.
({2})
Die Alternative ist das Vorgehen in drei Schritten, das
unserer sozialen Marktwirtschaft entspricht und zu der
sich diese Koalition - auch meine Fraktion - bekennt.
Erstens. Die Tarifautonomie, die Vorrang hat und Wesensbestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft ist, erfordert starke Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das
sollte der Regelfall sein.
Zweitens. Wir sollten in Branchen, in denen es Probleme gibt, in denen die Unternehmen weniger zahlen,
als sie könnten, die Möglichkeit nutzen, Tarifverträge für
allgemeinverbindlich erklären.
({3})
Die Lohnhöhe wird aber von den Tarifvertragsparteien
festgelegt.
Drittens. Mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz
gibt es eine letzte Auffanglinie für die dann noch bestehenden weißen Flecken in Deutschland.
Dieses Vorgehen in drei Schritten entspricht der sozialen Marktwirtschaft. Dazu bekennen wir uns, und das
ist besser als das, was Sie vorschlagen.
({4})
Schauen wir uns einmal an, was dafür und was dagegen spricht. Sie haben bereits die Ergebnisse der von
dieser Regierung in Auftrag gegebenen Evaluation des
Systems aus Mindestlöhnen und Allgemeinverbindlicherklärungen in einzelnen Branchen angesprochen. Ich
finde die Ergebnisse hochinteressant. Sie sind ein Indiz
für vieles, aber sicher kein Argument dafür, von diesem
System abzukehren. Zwei Ergebnisse dieser Evaluation
sind hervorzuheben. Es gibt Beschäftigungseffekte.
Wenn zu hohe Löhne festgelegt werden, dann passieren
Dinge - in geringem Ausmaß ist das in einzelnen Branchen bereits der Fall -, die weder Sie noch wir wollen.
Es gibt negative Beschäftigungseffekte. Es werden
Lohnbestandteile abgebaut, die zuvor gewährt wurden.
Beschäftigte werden teilweise durch Zeitarbeiter oder
durch befristet Beschäftigte ersetzt. Es gibt dann also
den von Ihnen beschriebenen negativen Effekt.
({5})
- Das besagt die Evaluation. Wir können das gerne
Punkt für Punkt durchgehen. Darüber haben wir im Ausschuss schon diskutiert. Lieber Hubertus, leider konntest
du an der entsprechenden Ausschusssitzung nicht teilnehmen. Aber wir können darüber gerne noch einmal
ausführlicher diskutieren.
Die Evaluation beweist aber auch, dass diese Effekte
gering sind - das ist richtig -, weil die Tarifpartner gut
darin sind, die richtige Lohnhöhe zu treffen. Aber das
kann nicht allen Ernstes als Beleg dafür angeführt werden, die Lohnfindung den Tarifpartnern wegzunehmen
und sie der Politik in die Hand zu geben. Wir sollten bei
dem bewährten System bleiben, das wir haben.
({6})
Ich freue mich über eine Zwischenfrage der Kollegin
Zimmermann.
Ja, bitte. - Herr Kollege Ernst, auch Sie haben sich
gemeldet, aber die Kollegin Zimmermann hat sich zuerst
gemeldet und somit den Vortritt.
Ladies first, Herr Kollege, sie war zuerst.
Lieber Herr Vogel, ich höre Ihnen immer wieder gern
zu.
Dito.
Ich muss aber jetzt einmal fragen, ob Sie in Folgendem mit mir einer Meinung sind: Wenn die Leute mehr
Geld in der Tasche haben, können Sie mehr kaufen.
Dann muss mehr produziert werden. Das schafft Arbeitsplätze.
({0})
Deshalb der Hinweis auf den gesetzlichen Mindestlohn.
Sind Sie in dieser Hinsicht mit mir einer Meinung?
({1})
Das müssten auch Sie verstehen.
({2})
Liebe Kollegin Zimmermann, ich bin der Meinung,
dass diese Sicht leider ein wenig unterkomplex ist,
Johannes Vogel ({0})
({1})
weil Sie völlig außer Acht lassen, dass dann, wenn der
Lohn zu hoch angesetzt wird - das ist nachweisbar; die
Evaluation, die wir in Auftrag gegeben haben, hat das
gerade wieder belegt -, der Arbeitsplatz weg sein kann.
({2})
Dann sind die Menschen arbeitslos. Das wollen wir alle
nicht.
({3})
Dann werden gar keine Löhne gezahlt, und dann kann
auch nichts ausgegeben werden. Das ist die Balance, die
wir halten müssen, und diese Balance - das ist der Punkt halten die Tarifpartner besser als die Politik. Deshalb
sollten wir dabei bleiben, Frau Kollegin Zimmermann.
({4})
- Teil unseres Austausches hier ist: Wir sollten die Argumente ernst nehmen und gewichten. Ich höre Ihnen auch
gern zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Herr Kollege, der Kollege Ernst will auch noch eine
Zwischenfrage stellen.
Er will auch noch eine Zwischenfrage stellen. Gern,
lieber Kollege Ernst.
({0})
- Ich höre auch gern Zwischenfragen zu, Frau Kollegin.
Ich freue mich, Herr Kollege, dass Sie sich so sehr für
die Verteidigung der Tarifautonomie einsetzen.
({0})
Mich wundert das etwas, wenn ich an die Positionen der
FDP zur Tarifautonomie in der Vergangenheit denke.
({1})
- Man darf nicht nur eine Frage stellen. Herr Kollege,
Sie wissen, man kann auch eine Bemerkung machen.
Darauf möchte ich einmal hinweisen.
Aber ich möchte Sie schon auch etwas fragen, Herr
Vogel. Sie haben gesagt, dass letztendlich durch die Tarifautonomie die richtigen Löhne zustande kommen.
Jetzt wissen wir, dass wegen der Schwäche der Gewerkschaften inzwischen Tariflöhne von 3,56 Euro gelten.
Sind Sie der Auffassung, dass das ein richtiger und angemessener Lohn ist? Sind Sie der Auffassung, dass wir in
diesem Bereich eine funktionierende Tarifautonomie haben?
({2})
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es notwendig ist,
die Tarifautonomie gerade von unten zu stützen, um wieder zu vernünftigen Löhnen bei Tarifauseinandersetzungen zu kommen?
({3})
Sind Sie mit mir der Auffassung - das ist meine letzte
Frage -, dass der DGB und die Einzelgewerkschaften
deshalb durchaus recht haben, wenn sie zur Unterstützung der Tarifautonomie - sie verstehen etwas davon für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn
sind?
({4})
Lieber Herr Ernst, Sie haben viele Fragen gestellt. Ich
freue mich, wenn ich ausreichend Zeit bekomme, die
Fragen zu würdigen.
Erstens. Ja. Ich bekenne mich bewusst zur Tarifautonomie und zu starken Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ich finde, der heutige Tag, an dem die IG Metall
erstmals seit vielen Jahren wieder steigende Mitgliederzahlen vermeldet, ist ein guter Tag, das zu tun. Es ist
falsch, was Sie machen, nämlich die Tariffindung den
Tarifpartnern aus der Hand nehmen zu wollen, was Ihrem Antrag zugrunde liegt, lieber Herr Ernst.
({0})
Ich finde es schade, dass Sie diesen Weg gehen.
({1})
Zweitens. Ich bin sehr wohl der Auffassung, dass neben dem Regelfall der funktionierenden Tarifautonomie
in einzelnen Problembranchen von einzelnen Unternehmen, von schwarzen Schafen teilweise, in der Tat zu
niedrige Löhne gezahlt werden, niedrigere, als sie zahlen
könnten. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dort
Auffanglinien brauchen. Deshalb bekennen wir uns zur
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.
Wir bekennen uns sogar zu einer weiteren Auffanglinie nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz. Aber
der Vorrang für die Lohnfindung durch die Tarifpartner
bleibt bei dem, was wir in der Koalition machen, gewährleistet; bei Ihnen nicht, und das ist der große Unterschied, Herr Ernst.
({2})
Drittens. Sie haben die Höhe von Tariflöhnen angesprochen; darauf will ich jetzt eingehen.
({3})
Johannes Vogel ({4})
- Das trifft sich gut, weil ich mich sowieso gerade mit
den Argumenten auseinandersetzen wollte, die gegen
das System, das wir heute in Deutschland haben, heute
häufig genannt wurden.
Lieber Hubertus Heil, du hast wie immer - das wird ja
gern getan - den Tarifvertrag für Friseure in Thüringen
angeführt. Das meine ich, wenn ich sage: Lasst uns einmal in die Details schauen! Das Interessante ist ja: Wenn
wir genauer hinschauen, Herr Ernst, sehen wir: Die Tarifpartner machen ihre Arbeit besser, als Sie es ihnen offenbar zutrauen. Das Beispiel der Friseure in Thüringen
habe ich mir angeschaut. Wenn wir die anderen Beispiele im Ausschuss diskutieren, werden wir zu ähnlichen Ergebnissen kommen; da bin ich ganz sicher. Das
können wir gerne im Detail machen.
In Thüringen, Herr Ernst, ist es so, dass im Tarifvertrag eine Umsatzbeteiligung fest vereinbart ist. Das
heißt, der Stundenlohn ist da gar nicht der einzige Lohnbestandteil, sondern es kommt ein großer Teil Umsatzbeteiligung dazu.
({5})
Wenn man das mit dem durchschnittlichen Umsatz der
Betriebe dort berechnet - lieber Hubertus Heil, du
kennst die Zahl so gut wie ich -, dann kommt man je
nach Geschäftsbetrieb auf einen Stundenlohn von 7 bis
8 Euro, lieber Herr Ernst.
Das zeigt: Die Tarifpartner verstehen mehr von ihrem
Geschäft als Sie, und deshalb gibt es erneut keinen
Grund, ihnen die Tarifbindung aus der Hand zu nehmen.
({6})
Ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, auf die anderen Argumente, die von der Opposition angeführt wurden, einzugehen. Es wurde wieder einmal von der Zahl
der Aufstocker geredet. Frau Kollegin Pothmer und Kollege Heil haben das getan.
({7})
- Ich muss Sie leider erneut darauf hinweisen, selbst
wenn es in der Debatte vorher genannt wurde.
Kollege Vogel, haben Sie Lust, noch eine weitere
Zwischenfrage zu beantworten?
Von wem denn?
Von der Linkspartei.
Ich nehme auch gerne noch eine dritte Zwischenfrage
an.
Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. - Ich möchte nur
kurz darauf hinweisen - ich komme aus Thüringen und
habe mich ausgiebig damit befasst -, dass der durchschnittliche Lohn der Friseure unter 7 Euro inklusive der
Umsatzbeteiligung liegt, weil diese nicht immer so optimal ist, wie Sie es darstellen. Bei Mietpreisen, zum Beispiel in Jena, wo ich herkomme, die sich auf dem Niveau
von vergleichbaren Städten wie Marburg usw. oder sogar
darüber bewegen, kann man mit solchen Einkommen
durchaus als arm gelten. Deshalb ist ein gesetzlicher
Mindestlohn erforderlich; denn wenn ich eine durchschnittliche Kaltmiete von 6 Euro pro Quadratmeter
habe, muss ich mit einem Einkommen in Höhe von
7 Euro bei 150 Arbeitsstunden noch zum Amt laufen
und Hilfe erbetteln. Das ist wirklich nicht tragbar. Stimmen Sie mir darin zu, dass das nicht korrekt ist?
({0})
Herr Kollege, ich nehme Ihre Zwischenbemerkung
erstens als Bestätigung dafür, dass die Tarifpartner in
Thüringen sehr wohl eine Umsatzbeteiligung vereinbart
haben. Es ist schön, dass das festgehalten wird. Zweitens
erneuere ich mein Angebot, dass wir uns diese Tarifverträge im Detail im Ausschuss anschauen. Drittens sage
ich zur Frage der Aufstocker: Die Statistik zu den Aufstockern ist die wichtigste Statistik; denn sie sagt etwas
darüber aus, wer in Deutschland von seinem Lohn leben
kann und wer nicht. Die Statistik zeigt, dass wir etwa
300 000 Vollzeitaufstocker in diesem Land haben, nicht
mehr. Das heißt, es sind diejenigen erfasst, die wegen
der Lohnhöhe aufstocken, und nicht die, die nur Teilzeit
arbeiten. Von diesen 300 000 stockt aber die weit überwiegende Zahl deshalb auf, Herr Kollege Lenkert und
liebe Kollegin Pothmer, weil sie eine große Familie hat.
Auch wenn Sie es ignorieren,
({0})
wenn Ihnen das gesagt wird: Ich finde - das kann ich für
die gesamte Koalition sagen -, dass eine Familie dabei
unterstützt wird, auf einem ordentlichen Niveau zu leben, ist eine sozialpolitische Errungenschaft in Deutschland.
({1})
Das ist nichts, was Sie schlechtreden sollten, Frau Kollegin, und das bleibt so.
({2})
Die zweite interessante Zahl zeigt, dass die Aussage
des Kollegen Heil - er ist leider hinausgegangen -, die
Zahl würde steigen, schlicht nicht stimmt. Die Zahl der
Vollzeitaufstocker in Deutschland sinkt seit Jahren. Wir
wollen diesen Prozess beschleunigen, deshalb bekennen
wir uns zur sozialen Marktwirtschaft. Sie tun das nicht.
Das ist der große Unterschied, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({3})
Johannes Vogel ({4})
Ich muss an dieser Stelle sagen: Auch das letzte Argument, das während der gesamten Debatte immer wieder
angeführt wurde, kann nicht überzeugen. Die letzen beiden Argumente bezogen sich auf die Prognos-Studie, die
beweise, es sei gut für die Einnahmen des Staates, einen
Mindestlohn einzuführen. Dazu muss man jedoch der
Ehrlichkeit halber sagen: Diese Prognos-Studie beinhaltet keine Betrachtung der Beschäftigungseffekte; das sagen die Verfasser ganz offen.
({5})
Das ist die entscheidende Frage, wenn es um Mindestlöhne geht. Deshalb bitte ich Sie, diese Studie, die
man wirklich nur als unseriös bezeichnen kann, beiseite
zu lassen.
Die zweite Behauptung ist - Frau Kollegin Kramme
hat es eben wieder gesagt -, der Niedriglohnsektor in
Deutschland würde steigen. Erstens ist das interessant,
da Sie immer einen Zeitraum ansprechen, in dem Sie
von den Grünen mit der SPD Regierungsverantwortung
getragen haben. Zweitens muss man sich dies genauer
anzuschauen. Die Wahrheit ist nämlich: Der Niedriglohnsektor steigt seit fünf Jahren nicht - im Gegenteil.
({6})
Auch dazu kann ich nur sagen: Wir wollen, dass sich
dieser Prozess fortsetzt, Sie offenbar nicht, sonst würden
Sie diese positiven Zeichen zur Kenntnis nehmen.
Es bleibt dabei: Es ist richtig, dass die Lohnfindung in
Deutschland bei den Tarifpartnern bleibt. Dort sollten
wir sie belassen, und im Notfall finden wir branchendifferenzierte Lösungen, um Ausbeutung zu verhindern.
Ein allgemeiner Mindestlohn von Aachen bis Cottbus
und von Flensburg bis Konstanz, der am Ende noch von
der Politik bestimmt wird, hilft keinem Arbeitnehmer
und führt nicht zu höheren Löhnen, sondern nur zu höherer Arbeitslosigkeit. Deshalb lehnen wir ihn sowie Ihre
Vorlagen ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Guten Tag, Herr Vorsitzender! Meine
Damen und Herren! Herr Vogel, sind Sie Mitglied einer
Gewerkschaft oder einer anderen Tarifvertragspartei?
Dieser Eindruck drängt sich ja nach Ihrem Plädoyer für
die Tarifautonomie auf. Wenn Sie das bisher noch nicht
sind - ich habe einen Aufnahmeschein dabei; den kann
ich Ihnen gerne geben.
({0})
- Nein, gibt es nicht. Aber angesichts seines Plädoyers
für die Tarifautonomie wäre es ja ein logischer Schritt,
das zu tun.
({1})
Ich habe kein Problem, über Mindestlöhne zu reden.
Ich finde aber, langsam muss Schluss damit sein, dass
wir darüber reden. Ich möchte gerne, dass es endlich einen Mindestlohn gibt,
({2})
und - davon gehe ich aus - Tausende, wenn nicht sogar
Millionen Menschen, insbesondere die, die in diesen
Niedriglohnbereichen arbeiten, möchten das ebenfalls.
Mit dieser Debatte muss endlich einmal Schluss sein. Es
ist unerträglich, dass wir immer wieder über die Frage
„Mindestlohn, ja oder nein?“ diskutieren, aber keinen
Schritt wirklich nach vorne gehen.
({3})
Schauen wir uns doch einmal an, wie die Diskussion
in den letzten Jahren gelaufen ist: Die SPD hat vor Jahren - ungefähr vor zehn Jahren wurde durch meine Partei der erste Antrag dazu gestellt - darin einen Angriff
auf die Tarifautonomie gesehen. Die Grünen konnten
sich zu dem Zeitpunkt einen Mindestlohn für alle nicht
vorstellen. Seinerzeit wurde in einer Debatte gesagt:
Sie können doch nicht alles über einen Kamm scheren und einen x-beliebigen Vertrag aufsetzen.
Solche Worte sind damals gefallen.
Ich persönlich kann mir ganz viele Wege vorstellen,
wie man es erreichen kann, dass der Niedriglohnbereich
verkleinert wird. Aber nachdem nun über 20 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich arbeiten, ist der
Karren so tief in den Dreck gefahren, dass er jetzt unbedingt wieder herausgeholt werden muss.
({4})
Wir reden nicht über eine geringe Anzahl, sondern wir
reden insgesamt über 3,6 Millionen Beschäftigte. Das ist
absolut keine vernachlässigbare Anzahl.
Ich habe in letzter Zeit viele Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Gewerkschaftsbereich geführt, aber auch mit Beschäftigten. Dabei habe ich immer wieder gehört: 8,50 Euro - so lautet ja die aktuelle
Forderung des DGB - sind im Grunde genommen zu
wenig. Diese Forderung des DGB ist ja auch schon drei
bis vier Jahre alt. Mit 8,50 Euro kann man gerade einmal
verhindern, dass Arbeitnehmer aufstocken müssen, aber
massiv ändert sich dadurch nichts. Zur Altersarmut hat
ja auch schon mein Kollege Klaus Ernst einen Satz verloren.
Die Grünen nennen nach wie vor leider noch keine
Zahl. Das stellt sich für mich so dar: Wasch mich, aber
mach mich nicht nass.
({5})
Mit anderen Worten: Diese Herangehensweise ist für
mich ziemlich unbefriedigend.
Wegen der Sache und weil im Grunde viele Menschen, die davon betroffen sind, den Eindruck haben,
dass das, was wir hier machen, Pillepalle ist, weil wir
nicht in der Lage sind, in der Sache einen Schritt nach
vorne zu gehen, werden wir als Linke beiden Anträgen
zustimmen. Ich fordere Sie von den Koalitionsfraktionen
auf, das ebenfalls zu tun.
({6})
Die CDU in Form von Karl-Josef Laumann
({7})
hatte damals gesagt, dass sie beim besten Willen keine
gesellschaftliche Unterstützung für unseren Wunsch
sehe, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Mittlerweile unterstützen 86 Prozent der Menschen in unserem Land die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns. An die CDU/CSU gerichtet - die FDP lasse ich
einmal außen vor; die haben sich ja gerade ganz eindeutig erklärt -, sage ich: Es wird Zeit für einen Mindestlohn. Machen Sie deshalb das, was der Mehrheitswille
dieser Gesellschaft ist, und nichts anderes! Hören Sie
auf, ständig hin und her und drum herum zu reden!
Angeblich haben Sie auf Ihrem letzten Parteitag so etwas wie die Einführung eines Mindestlohns beschlossen.
Tatsächlich handelt es sich aber um eine branchenabhängige Lohnuntergrenze inklusive einer Teilung in Ost und
West. Dafür können Sie ernsthaft keine Zustimmung erwarten. Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich machen: Jeder Tarifvertrag hat die Form eines Branchentarifvertrags. Gewerkschaften sind doch nicht unterwegs,
um überall nur Mindestlöhne zu vereinbaren.
({8})
Jeder Tarifvertrag ist ein Branchentarifvertrag, und jeder
Tarifvertrag beinhaltet eine sogenannte unterste Entgeltgruppe, die als Einstiegsgruppe dient. Darunter findet
nichts mehr statt, nur oberhalb. Die Arbeitgeber können
natürlich gerne mehr bezahlen als das, was im Tarifvertrag steht, aber nicht weniger.
Genau das ist das System, das wir mit Mindestlöhnen
meinen. Wir brauchen eine Untergrenze, und das ist die
Höhe des Mindestlohns. Alle Arbeitgeber können - daran wird niemand jemals etwas kritisieren - gerne mehr
bezahlen, aber nicht weniger.
({9})
Zu Herrn Weiß möchte ich noch etwas sagen. Gewerkschaften sollen ihre Arbeit machen, aber erst, wenn
wir gemeinsam den Dreck weggeräumt haben, den die
Regierungen der letzten Jahre produziert haben.
({10})
Das gilt für alle. Daher geht dieses Thema alle an. Wir,
die Linke, sind bereit, dabei zu helfen, den Karren aus
dem Dreck zu ziehen. Wir müssen es aber auch machen
und nicht nur darüber reden.
({11})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Daher meine Aufforderung: Stimmen Sie zu, damit
wir an dieser Stelle weiterkommen und nicht einen
Schritt nach hinten machen. Wir haben lange genug darüber geredet.
({0})
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Regel übe ich meist Kritik;
heute möchte ich aber einmal mit einem Lob beginnen,
und zwar für den Arbeitnehmerflügel der CDU/CSUFraktion. Sie haben energisch die Initiative für einen
Mindestlohn ergriffen und lassen auch nicht locker. Ein
gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland ist seit Jahren
überfällig. Bleiben Sie also dran; denn er ist die elementare Grundlage für mehr soziale Gerechtigkeit.
({0})
Ich hoffe auch, dass Sie geradlinig bleiben und es
nicht zulassen, dass es viele verschiedene Mindestlöhnchen geben wird, die sich von Region zu Region oder
von Branche zu Branche unterscheiden. Vor allem appelliere ich an Sie - besonders an Sie, Herr Weiß -, dass Sie
auf einen Tarifvorrang verzichten. Die daraus entstehenden Probleme kennen wir von der Leiharbeit. Wollen Sie
den Pseudogewerkschaften wirklich wieder Tür und Tor
öffnen und dann auf jahrelange Gerichtsverfahren hoffen? Wollen Sie tatsächlich neue Beschäftigte erster und
zweiter Klasse schaffen?
Ein gesetzlicher Mindestlohn ist per Definition der
kleinste gesetzlich zulässige Lohn. Er muss also flächendeckend und für alle Beschäftigten gleichermaßen eingeführt werden.
({1})
Alles andere kann ich nur als Etikettenschwindel bezeichnen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt möchte
ich mit vier Aspekten kurz, aber grundsätzlich etwas zu
all denjenigen sagen, die einen gesetzlichen Mindestlohn
immer noch ablehnen.
Erstens. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO,
listet bereits über 100 Staaten auf, die über einen Mindestlohn verfügen. Mindestlöhne gehören längst weltweit zu den etablierten Instrumenten, um den Arbeitsmarkt gerechter zu gestalten. Die Bundesregierung hat
das aber anscheinend noch nicht verstanden.
Zweitens. Der Europarat wertet den fehlenden Mindestlohn in Deutschland als Verstoß gegen das Recht auf
ein gerechtes Arbeitsentgelt, das in der Europäischen
Sozialcharta festgeschrieben ist.
({2})
Wir sind also längst verpflichtet, allen Beschäftigten, die
diesen Schutz brauchen, einen angemessenen Lebensstandard durch einen Mindestlohn zu ermöglichen. Allein dieses Argument müsste doch überzeugen.
({3})
Drittens. Tarifautonomie und gesetzlicher Mindestlohn sind kein Widerspruch. Im Gegenteil: Diverse
Studien und auch Aussagen der ILO belegen, dass Tarifautonomie und gesetzlicher Mindestlohn zusammengehören und sich ergänzen. Neben den Verhandlungen der
Tarifparteien dient der Mindestlohn vorrangig dem
Zweck, Beschäftigte im Niedriglohnsektor zu schützen.
Das ist fair und fördert übrigens auch den sozialen Frieden.
({4})
Viertens. Abschließend möchte ich kurz darauf eingehen, warum Sie sich gerade jetzt in der Euro-Krise mit
Lohnpolitik und mit dem Mindestlohn beschäftigen sollten. Wenn Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig
sind, dann entstehen Ungleichgewichte, und diese Ungleichgewichte sind eine Ursache der Euro-Krise. Mit
einer solidarischen Lohnpolitik, das heißt mit einem
Mindestlohn und mit gerechten Tariferhöhungen, würde
Deutschland endlich seinen Beitrag zu mehr makroökonomischer Stabilität leisten.
({5})
Wenn der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Fraktion
dies immer noch nicht nachvollziehen kann, habe ich
noch eine weitere Anregung: Klaus Schwab, der Präsident des Weltwirtschaftsforums, sagte in dieser Woche
in Genf bei der Pressekonferenz - ich zitiere sinngemäß -:
Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form passt nicht
mehr in die Welt. Wir haben die Lektionen aus der
Finanzkrise von 2009 nicht gelernt. Die globale Transformation muss dringend damit beginnen, dass sich
weltweit wieder ein Sinn für soziale Verantwortung ausbreitet.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, beginnen Sie einfach hier in Deutschland, und zwar mit einem Mindestlohn.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Zunächst eine Richtigstellung an die
Adresse des Kollegen Klaus Ernst von der Linkspartei.
Sie haben vorhin das Plenum mit der Bezeichnung „Genossen“ angeredet. Das trifft zwar für einen Teil, aber
zum Glück nicht für die weitaus meisten Mitglieder dieses Hauses zu. Sie haben hier nicht auf einem Parteitag
der Linken geredet, sondern im Plenum des Deutschen
Bundestages, dessen Mitglieder überwiegend keine Genossen sind.
({0})
Wir hoffen, dass das so bleibt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die bisherige Debatte hat ergeben: Wir haben das gleiche Ziel, aber unterschiedliche Wege. Das Mindestlohnkonzept, das Sie,
Herr Heil, vorstellen, ist nicht realisierbar. Lohnpolitik
ist gerade nicht per se zuallererst Sozialpolitik. Das ist
der entscheidende Fehler in Ihrem Entwurf.
Sehr geehrter Herr Heil, Sie haben in Ihrer Rede
selbst ausgeführt, dass die Löhne existenzsichernd sein
sollen. Dann stellt sich aber die Frage - auch darauf haben bereits einige Vorredner hingewiesen -, für wen sie
existenzsichernd sein sollen: Für den Singlehaushalt?
Kollege Vogel hat eben die 300 000 Singlehaushalte angesprochen, für die eine Lohnuntergrenze Sinn macht.
Aber man muss natürlich wissen, dass beispielsweise
eine vierköpfige Familie schon jetzt über Sozialleistungen mehr Geld bekommt, als mit den von Ihnen geforderten Mindestlohnhöhen - also 8,50 Euro bzw. 10 Euro aus eigener Kraft verdient werden kann.
({2})
In Zukunft müsste es also auch nach Einführung von
Mindestlöhnen ergänzende Sozialleistungen geben.
Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle das Bauhandwerk erwähnen. Hier wurde von einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein branchenspezifischer Mindestlohn eingeführt. Es gibt noch Kollegen unter uns
- wie den Kollege Kolb -, die damals an der Einführung
des Blüm’schen Mindestlohns mitgewirkt haben und
jetzt als Zeitzeugen fungieren können. Dieser Mindestlohn war wichtig, um inländische Arbeitsplätze zu schütPaul Lehrieder
zen und Dumpinglöhne zu verhindern. Sie sehen: Hier
und auch in weiteren Branchen waren die Beweggründe,
Lohnuntergrenzen einzuführen, nicht sozialpolitisch motiviert. Mindestlöhne stellen einen geordneten Wettbewerb her und gleichen negative externe Effekte einzelner
Branchen aus.
Meine Damen und Herren der Opposition, wir haben
auch über das Baugewerbe hinaus weitere zielführende
Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, die bereits für
viele Millionen Menschen Verbesserungen gebracht haben. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sorgt derzeit für
zwingend gültige Arbeitsbedingungen in sage und
schreibe elf Branchen und verhindert negative Auswirkungen auf die Lohnentwicklung von Geringverdienern.
({3})
Ich möchte ausdrücklich festhalten: An der Einführung
aller in diesen elf Branchen bestehenden Mindestlöhne
war die Union beteiligt. Das heißt, die Union ist die Partei der Mindestlöhne. Die Union hat sich dafür eingesetzt und nicht Sie von den Oppositionsfraktionen.
({4}) - René Röspel [SPD]: Dass
Sie dabei nicht rot werden!)
Neben dem Baugewerbe gehören dazu bereits die Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst, der Steinkohlebergbau, das Dachdeckerhandwerk
({5})
- das müssen Sie sich schon einmal anhören, Herr Heil -,
das Elektrohandwerk, die Gebäudereinigung, das Malerund Lackiererhandwerk, die Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistungen und Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft. Seit dem 1. Januar 2012, also seit
knapp drei Wochen,
({6})
gilt für die rund 900 000 Beschäftigten in der Zeitarbeit
ein Stundenlohn von mindestens 7,01 Euro im Osten und
7,89 Euro im Westen.
({7})
- Für Sie ist es immer zu wenig; das wird auch in der
Zukunft so sein. - Da sind wir schon ziemlich nahe an
Ihrer Forderung. Bei der Zeitarbeit ist uns wichtig, dass
nach einer angemessenen Einarbeitungszeit - jetzt passen Sie einmal auf; da können Sie etwas hinzulernen der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt wird.
({8})
- Hören Sie zu, Herr Heil! Bleiben Sie mit den Füßen
auf dem Boden! - Hier soll noch in den nächsten Monaten eine zufriedenstellende Lösung gefunden werden.
({9})
Ob der Bereich der Weiterbildung zukünftig auch aufgenommen wird, wird derzeit ebenfalls überprüft. Meine
Damen und Herren, das ist der richtige Weg. Diesen
Weg wollen wir für weitere Branchen eröffnen, und den
Zugang dazu wollen wir erleichtern.
Schauen wir beispielsweise einmal nach Frankreich.
In der Tat zeigen Studien - selbst wenn diese politisch
wie wissenschaftlich zum Teil umstritten sind -, dass
dort der monatliche Mindestlohn von 1 365 Euro - das
entspricht einem Stundenlohn von 9 Euro; er liegt also
zwischen den beiden Mindestlöhnen, die jeweils von Ihnen gefordert werden - nicht zu Arbeitsplatzverlusten
führt. Allerdings muss man hier auch sehen, dass die Unternehmen, die die Minimumlöhne auszahlen, vom französischen Staat tatkräftig unterstützt werden. Die Subventionen für Sozialversicherungsbeiträge in Frankreich
beliefen sich bereits im Jahr 2010 auf immerhin 30 Milliarden Euro.
Zudem darf hier nicht außer Acht gelassen werden,
dass es durch die staatlichen Subventionen zu erheblichen Mitnahmeeffekten kommt und die Unternehmen
sich bemühen, möglichst nur den niedrigen, subventionierbaren Mindestlohnsatz zu zahlen. Das heißt, dass
sich die Höhe der Löhne in Frankreich durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes sogar nach unten
entwickelt hat. Sollte der Staat seine Unterstützungszahlungen also nicht weiter leisten, so ist davon auszugehen,
dass auch in Frankreich erhebliche Arbeitsplatzverluste
drohen.
Nehmen wir das Beispiel Großbritannien; auch Großbritannien wird gern als Beispiel für einen gesetzlichen
Mindestlohn angeführt. In Großbritannien gibt es immerhin 14 Ausnahmen beim bestehenden gesetzlichen
Mindestlohn, unter anderem für alle Auszubildenden unter 19 Jahren, für Auszubildende zwischen dem 19. und
dem 25. Lebensjahr im ersten Ausbildungsjahr, bei Praktika insgesamt, bei Praktika von Studenten, für Au-pairs,
für Soldaten, für Fischer, für Gefangene, für freiwillig
Dienstleistende, auch für Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften.
({10})
Die Geltung des gesetzlichen Mindestlohnes in Großbritannien ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Man
kann nicht sagen, dass die Mindestlohnregelung, die in
Großbritannien gilt, bei uns den erwünschten Effekt
hätte.
({11})
Benachteiligt wären vor allem Geringqualifizierte.
Für die Mehrheit der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten schon heute
Tarifverträge; ich habe bereits darauf hingewiesen. Dass
jedoch die Tarifbindung in der Vergangenheit abgenommen hat, konstatieren wir durchaus, Herr Ernst. Um soziale Verwerfungen in den Branchen zu verhindern, in de18358
nen keine Tarifverträge gelten oder Tarifverträge nur eine
geringe Wirkungskraft entfalten, haben wir die Rechte
der Tarifvertragsparteien ausgeweitet. Diese haben künftig neben den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bietet, auch die Möglichkeit, branchen- und
regionalspezifische Lohnuntergrenzen vorzuschlagen.
Diese Vorschläge der Tarifvertragsparteien kann die Bundesregierung für verbindlich erklären und auch auf ausländische Arbeitnehmer erstrecken. Wir sind offen, diesen Prozess zu erleichtern. Wir wollen keine Billiglöhne.
Wir wollen branchenspezifische Mindestlöhne. Wir wollen starke Tarifpartner und Gewerkschaften.
Vorhin wurde auch das Thema „Nachwirkungen von
tarifvertraglichen Niedriglöhnen“ angesprochen. Hierzu
darf ich festhalten: Um künftig zu verhindern, dass sich
eine Tarifvertragspartei auf der Nachwirkung eines Tarifvertrages ausruht, um Haustarifverträge mit Niedriglöhnen ablösen zu können, soll die Nachwirkung von
Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz auf ein Jahr beschränkt werden. Wir werden Verwerfungen und Fehlentwicklungen also auch da entgegenwirken.
Das Aushandeln der Löhne muss die Aufgabe der Sozialpartner sein und auch bleiben; denn eine funktionsfähige Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände
und starke Gewerkschaften. Nur mit einer starken Position können diese für ihre Mitglieder verbindliche und
wirkungsvolle Abmachungen treffen. Wenn der Gesetzgeber die Tarifautonomie abschaffen würde, hätten wir
Lösungen, die nicht den Verhältnissen in den Branchen
und Regionen entsprechen würden.
({12})
Ist der Mindestlohn zu niedrig, ist sein Nutzen zur Armuts- und Ausbildungsabwehr gering. Ein zu hoher
Mindestlohn wiederum zwingt Unternehmen dazu, mehr
für Arbeit zu zahlen, als sie einbringt, und er wird zur
Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das wird Ihnen
jeder, der vernünftig rechnen kann, bestätigen.
Kurz vor Ende meiner Rede möchte ich noch auf eine
Aussage von Frau Kollegin Pothmer eingehen. Frau
Pothmer, Sie haben vorhin ausgeführt, wir hätten der
Bundesarbeitsministerin die Prokura für das Thema Mindestlohn entzogen; das war Ihre Formulierung. Bestätigen Sie das?
({13})
- Sehr gut. - Ich stelle fest: Wir haben sie der Bundesarbeitsministerin nicht entzogen. Wenn die Bundesarbeitsministerin unsere Arbeitsgemeinschaft in einen Arbeitskreis einbezieht, so ist das nur von Vorteil.
({14})
Frau Pothmer, ich dachte mir vorhin: Dieselbe Formulierung habe ich schon einmal irgendwo gelesen. Ich
habe nachgeschaut. Im Handelsblatt steht ein Zitat von
Herrn Kollegen Heil. Sie haben Herrn Heil zitiert, ohne
dies kenntlich zu machen. Man sollte Zitatstellen kenntlich machen, meine Damen und Herren.
({15})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen alles Gute.
({16})
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei der Debatte, die wir hier führen, werde ich
den Eindruck nicht los, dass der soziale Fortschritt in unserem Land seit Jahrzehnten hinter dem technologischen
Fortschritt zurückbleibt. Wenn ich einige Mitglieder der
Bundesregierung höre, habe ich den Eindruck, dass unser technischer Fortschritt zwar im 21. Jahrhundert angekommen ist, dass unser sozialer Fortschritt aber beim
Almosengedanken des 19. Jahrhunderts stehen geblieben ist.
({0})
Die Debatte um einen Mindestlohn in Deutschland
wird selten mit einem Blick auf die Realität in unseren
Betrieben und in unserer Gesellschaft geführt. Wir haben
zwar eine hohe Beschäftigungsquote, aber das Jobwunder ist ein Jobwunder der prekären Beschäftigung. Jeder
sechste Mensch in unserem Land ist armutsgefährdet.
Das zeigt: Armut ist nicht nur ein Problem für die Menschen, die keinen Job haben; vielmehr sind auch viele
Menschen mit Job armutsgefährdet, weil ihr Job schlecht
entlohnt ist, weil sie über einen Werksvertrag, befristet
oder in Teilzeit beschäftigt sind.
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsparteien,
sehen Sie es mir bitte nach - ich kann es nicht unerwähnt
lassen -: Frau Ministerin von der Leyen zeigt sich auf
Fotos gerne mediengerecht mit strahlenden Kindern und
tut so, als würde sie sich um deren Wohlergehen kümmern. Gleichzeitig toleriert sie aber, dass viele Eltern
dieser Kinder einen Hungerlohn erhalten und dass somit
laut UNICEF jedes sechste Kind in Deutschland dem Risiko der Kinderarmut ausgesetzt ist.
({1})
Im November letzten Jahres schien es für einen Moment so, als ob in Sachen Mindestlohn endlich Bewegung in die Union gekommen sei.
({2})
Immerhin haben Sie auf Ihrem Bundesparteitag im November 2011 einmal über das Thema Mindestlohn gestritten. Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
rate Ihnen, Ihre Ideen neu zu sortieren. Sie loben die
Branchenmindestlöhne immer wieder in den Himmel
und behaupten, hier schon einiges getan zu haben.
Ich sage jedoch: Gerechtigkeit kann nicht Schritt für
Schritt eingeführt werden. Es reicht nicht, Gerechtigkeit
in einzelnen Branchen einzuführen und die anderen
Branchen von der Gerechtigkeit auszuschließen; denn
das Brot kostet für alle - für Leiharbeiter, Gebäudereiniger oder Industriearbeiter - gleich viel.
({3})
Wir müssen flächendeckend handeln; denn wir sind gewählt, für alle Menschen in unserem Land Verantwortung zu tragen und nicht nur für diejenigen, die zufällig
in der richtigen Branche arbeiten.
({4})
Während der Finanz- und Euro-Krise ist auch die Bedeutung des Mindestlohns stark gestiegen. Wir alle wissen, dass Abstiegsängste nicht nur bei den Niedrigqualifizierten am Rand unserer Gesellschaft existieren,
sondern dass auch viele Facharbeiter Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg haben.
Niedriglöhne betreffen immer mehr Menschen der
Mitte in unserem Land. Diese Facharbeiter sind nicht
nur wirtschaftlich bedroht, sondern sie fürchten auch darum, gesellschaftlich stigmatisiert zu werden, beispielsweise bei der Kreditvergabe oder der Wohnungssuche.
Viele Menschen empfinden es als Schande, dass sie aufgrund der Niedriglöhne nicht genug verdienen, um ihre
Familien ernähren zu können, sodass sie am Ende des
Monats über Leistungen des Sozialamts aufstocken müssen, etwa indem sie Wohngeld beantragen.
Der Gang zum Sozialamt ist für viele Menschen eine
Verletzung der Würde und des Selbstwertgefühls, was
übrigens auch eine Ursache der zunehmenden psychischen Erkrankungen ist.
({5})
Die Menschen in unserem Land wollen aber keinen
Staat, der Almosen verteilt, sondern einen sozial gerechten Staat, der sich gegen Niedriglöhne und Abstiegsängste einsetzt.
({6})
Man darf nicht vergessen: Ein würdevoller Lohn und
Gerechtigkeit sind der Kitt des sozialen Zusammenhalts
unserer Gesellschaft.
Frau Merkel redet europaweit immer davon, wie
wichtig es ist, die Staatsverschuldung zu senken. Hier in
Deutschland treibt sie dagegen munter die Verschuldung
in die Höhe, indem sie den Menschen ein eigenständiges
Leben ohne die Notwendigkeit, über Leistungen vom
Sozialamt aufzustocken, verweigert. Ein gesetzlicher
Mindestlohn würde die Staatskasse um mehr als 7 Milliarden Euro entlasten.
Die FDP verspricht immer, Subventionen abzubauen.
Gleichzeitig verteilt sie aber munter Subventionen an die
Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können.
({7})
Das ist paradox und nur ein weiterer politischer Unsinn
der FDP.
({8})
Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Gesetzentwurf können wir Gleichgewicht in die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes bringen: Wir
senken die Staatsverschuldung, und wir schaffen soziale
Gerechtigkeit für rund 6 Millionen Arbeiter, die von
Niedriglöhnen betroffen sind.
Ich rede mit sehr vielen Unternehmern. Auch sie wollen einen Mindestlohn, damit um Qualität konkurriert
wird und sie nicht der Lohndrückerei ausgesetzt sind.
Deshalb sind die politischen Rahmenbedingungen für
eine soziale Gestaltung der Arbeit so wichtig. Hier können wir nach Baden-Württemberg schauen, wo nach
dem Regierungswechsel dank SPD und Grünen an einem Tariftreuegesetz gearbeitet wird und ein Konzept
für gute und sichere Arbeit existiert.
({9})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir für
ganz Deutschland, am besten auch nach einem Regierungswechsel.
Nun möchte ich mich an die Kolleginnen und Kollegen der Linken wenden. Vorhin hat hier der Kollege
Klaus Ernst - er ist nicht mehr hier - stark kritisiert, dass
die rot-grüne Regierung damals den Mindestlohn nicht
eingeführt hat. Ich bin ein IG-Metaller. Klaus Ernst
müsste als damaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall
wissen, welch schwierige Diskussionen es innerhalb der
Gewerkschaften gab.
({10})
Als wir uns geeinigt hatten, war es zu spät; dann hatten
wir keine Kanzlermehrheit mehr. Ich denke, das gehört
zur Wahrheit dazu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In die Debatte um eine untere Lohngrenze ist
durch einen Beschluss des Bundesparteitages der CDU
in der Tat Bewegung gekommen.
({0})
Herr Kollege Heil, wir können das erfreulicherweise vor
dem Hintergrund einer hervorragenden wirtschaftlichen
Entwicklung in Deutschland angehen. Dank unserer
Strukturpolitik für Deutschland gibt es eine Beschäftigungsquote, die wir unter Kanzler Schröder nie erreicht
haben.
({1})
Das ist übrigens die beste Sozialpolitik, die man in
Deutschland machen kann.
Herr Kollege Juratovic, Sie haben hier das Bild von
armen Kindern bemüht. Es ist in jedem Fall traurig,
wenn ein Kind in armen Verhältnissen aufwächst. Wir
müssen danach streben, jeweils die Lage zu verbessern.
Aber diese Koalition hat genau das gemacht. Wenn Sie
Frau von der Leyen in diesem Zusammenhang erwähnen, dann sollten Sie sie lobend erwähnen. Ursula von
der Leyen hat das Bildungs- und Teilhabepaket durchgesetzt; das haben Sie verabsäumt, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Opposition.
({2})
Wir tun etwas für die Bildung der Kinder, damit es ihnen
besser geht.
({3})
Die Diskussion ist völlig transparent. Jeder kann sich
an ihr beteiligen. Jeder weiß, wie die Diskussionsprozesse ablaufen. Sie haben die Diskussion innerhalb der
CDU verfolgt; wir werden mit unserer Schwesterpartei
CSU über diese Frage zu diskutieren haben.
({4})
- Sehr konstruktiv, wie der Kollege Lehrieder sagt. Das
ist bei dem CSU-Parteivorsitzenden, der Vorsitzender
der Vertretung des Arbeitnehmerflügels der CSU war,
eine Selbstverständlichkeit.
({5})
Auch mit den Freien Demokraten werden wir in der
Koalition darüber zu diskutieren haben.
({6})
Ich hoffe, dass wir zu einer Einigung kommen. Ansonsten
können wir hier im Deutschen Bundestag in dieser Wahlperiode zu keiner gesetzlichen Regelung kommen. Wir
sind aber zuversichtlich; bei den Freien Demokraten tut
sich viel. Herr Kollege Kolb, Sie haben die ersten Dinge
in diesem Bereich schon im vorletzten Jahrzehnt mit Bundesarbeitsminister Blüm angeschoben. Dafür herzlichen
Dank von der Unionsfraktion.
({7})
Darauf wollen wir aufbauen.
Darüber hinaus ist der einzige Sozialminister, den die
Freien Demokraten stellen - mein Freund Heiner Garg
in Kiel -, der Auffassung, dass wir hier zu einer gesetzlichen Regelung kommen sollten. Das ist ein weiterer
Baustein, wenn es darum geht, die erfolgreiche Arbeit
unserer Koalition auch in diesem Bereich fortzusetzen.
({8})
Intransparent ist allein das, was die SPD hier vorträgt.
Herr Kollege Heil, Sie haben wie immer eine lautstarke
Rede gehalten,
({9})
nur passte sie überhaupt nicht zu dem Gesetzentwurf,
den Sie hier vorgelegt haben; das ist das Problem in der
ganzen Debatte.
({10})
Sie wollen einen generellen gesetzlichen Mindestlohn
anbieten und reden dann hier von branchenspezifischen
Lösungen. Sie reichen uns noch formaliter die Hand.
({11})
- Ja, bitte, wo ist Ihre Hand? - Ich habe Sie gefragt: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück?
({12})
Dann sind Sie, wie Sie es als früherer Generalsekretär
der SPD gelernt haben, ausgewichen und haben die
Frage nicht beantwortet.
({13})
Wenn die Sozialdemokraten ernsthaft an einer Verständigung in dieser Frage interessiert wären und das nicht nur
Rhetorik wäre, Herr Kollege Heil,
({14})
dann würden Sie diesen Gesetzentwurf einkassieren. Er
leidet an zahlreichen Mängeln. Viele davon sind ausgewiesen.
({15})
Im Übrigen gibt es insbesondere für die Sozialdemokraten, aber auch für die Grünen keinen Anlass zu
Selbstgerechtigkeit. Herr Heil, Sie haben so getan, als
habe der Mindestlohn quasi schon im Godesberger Programm der SPD gestanden. Mitnichten! Das ist nun
wirklich eine neue Entwicklung. Auch auf dem Niedriglohnsektor, den Sie als hochproblematisch darstellen,
vollzieht sich keine neue Entwicklung. Noch 2005 hat
sich Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder
({16})
hier hingestellt und gesagt, Rot-Grün habe unter seiner
Kanzlerschaft den erfolgreichsten und effektivsten Niedriglohnsektor der ganzen Welt geschaffen. Meine Damen und Herren, vergessen Sie das nicht.
({17})
- Das hat Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt; ich kann es Ihnen gleich zeigen. Sie werden die Geister, die Sie selber gerufen haben,
nicht mehr los, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, und dazu sollten Sie auch stehen.
({18})
Darüber hinaus sollten Sie nicht den Eindruck erwecken - Herr Kollege Vogel hat das schon sehr gut deutlich gemacht -, es sei in Deutschland vorstellbar, dass
wir im Niedriglohnsektor eine Lohnhöhe hinbekommen,
die sicherstellt, dass niemand mehr in diesem Bereich
auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen ist. Sie
selber, Herr Heil, haben eingeräumt, dass das bei einem
Stundenlohn von 8,50 Euro nicht hinhauen würde.
({19})
Denn das sei maximal ausreichend für einen alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten. Nun wissen wir: Viele
sind nicht vollzeitbeschäftigt, und zum Glück sind auch
nicht viele alleinstehend, sondern haben einen Partner
oder eine Partnerin. Die 8,50 Euro reichen nicht aus. Es
wird also immer ergänzend der staatlichen Zuschüsse
bedürfen.
({20})
Ich finde, gerade als Sozialpolitiker sollten wir das
nicht diskreditieren. Die Menschen haben einen Anspruch auf staatliche Zuschüsse.
({21})
Sie sollten sich nicht dafür schämen; denn sie haben einen Rechtsanspruch auf diese Unterstützung.
({22})
Wir als diejenigen, die diese Rechtsansprüche hier im
Parlament beschließen, sollten das nicht schlechtreden,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ja, wir, die Union, tun uns schwer mit einer gesetzlichen Regelung in diesem Feld. Das haben wir deutlich
gemacht, und das merken Sie in allen Diskussionen, die
wir auch innerparteilich führen.
({23})
Das liegt daran, dass wir nach wie vor an die Tarifautonomie glauben. Herr Kollege Heil, Sie haben vorhin in
diesem Zusammenhang zu Recht - das ist völlig unstreitig - auf die Tradition der Sozialdemokratie hingewiesen. Bemerkenswerterweise sind wir, die Mitglieder der
christlich-liberalen Koalition, die letzten Verfechter der
Tarifautonomie in diesem Hause.
({24})
Das ist mittlerweile das Ergebnis.
({25})
Denn den Bereich, den Sie gesetzlich regeln wollen,
nehmen Sie den Tarifvertragsparteien weg.
({26})
Das heißt, dies bedeutet ein Weniger an Regelungskompetenz für die Gewerkschaften.
({27})
Deswegen wäre es angebrachter gewesen, wenn all
diejenigen, die sich hier als die vermeintlich größten
Verfechter von Gewerkschaftsrechten darstellen, ihre
Rede in Moll und nicht in Dur gehalten hätten. Das gilt
auch für Ihre Rede, Herr Kollege Heil.
Richtig ist: Der Organisationsgrad der Gewerkschaften hat rapide abgenommen.
({28})
Es gibt weiße Flecken. Es gibt in der Tat auch Probleme,
weil immer mehr Menschen nicht unter Tarifverträge
fallen.
({29})
Deswegen müssen wir in diesem Bereich auch handeln;
das ist keine Frage. Wir werden das auch machen. Es haben schließlich viele zum Ausdruck gebracht, dass die
politische Hoffnung auch vieler Oppositionsabgeordneten auf den Schultern der christlich-liberalen Koalition
ruht.
({30})
Da sind diese Hoffnungen gut aufgehoben. Wir werden
uns dieser Thematik mit Augenmaß annehmen.
({31})
Aufgrund der Bedeutung der Tarifautonomie wird unser Maßstab sein: Wir werden nur das Allernotwendigste
regeln. Insofern ist der Ausspruch, den ich von Ihnen gehört habe - „Mindestlohn light“ -, völlig falsch. Es geht
darum, „Tarifautonomie XL“ zu garantieren
({32})
und möglichst viel Tarifautonomie aufrechtzuerhalten.
({33})
Deswegen sollte eine paritätisch zusammengesetzte
Kommission mit dieser Aufgabe betraut werden.
({34})
Ich bin gegen eine pauschale Politikerschelte. Ich bin der
Meinung, der Ausspruch „Schuster, bleib bei deinem
Leisten“ gilt auch für Politiker. Politiker sollten sich
nicht anmaßen, etwas von Wirtschaft und von den Löhnen, die auf dem Arbeitsmarkt zu zahlen sind, zu verstehen.
({35})
Das ist nicht unsere Aufgabe. Dafür haben wir Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, und denen sollten
wir uns anvertrauen.
({36})
Da sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut
aufgehoben. Auf diesem Wege kommen wir zu einer
vernünftigen Lösung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({37})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Festsetzung des Mindestlohns. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8385, den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/4665 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/8385 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7483 mit dem Titel „Jetzt Voraussetzungen für die Einführung eines Mindestlohns schaffen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8026 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gutachten zu Forschung, Innovation und
technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2011
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 17/8226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile - ganz langsam, damit zuvor wieder Ruhe einkehren kann - dem
Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel für die
Bundesregierung das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Deutschland ist Spitze in Europa beim Wirtschaftswachstum und bei den Beschäftigungszahlen. Das ist angesichts der Finanz- und Staatsschuldenkrise wahrlich bemerkenswert.
Was ist die Grundlage dieser positiven Entwicklung
in Deutschland? Die Bundesrepublik hat ein äußerst
erfolgreiches Modell entwickelt, um mit innovativen
Produkten und Dienstleistungen und einer starken industriellen Basis im weltweiten Wettbewerb bestehen zu
können. Allein ein Fünftel der Wirtschaftsleistung
Deutschlands beruht auf dem Export von Technologiegütern. Das zeigt: Eine hohe Innovationskraft zahlt sich
aus.
Deutschland verbessert sich im aktuellen Innovationsindikator der Telekom-Stiftung im Vergleich zum
Jahr 2009 aus dem Mittelfeld auf Rang vier. Als einen
wesentlichen Grund für dieses gute Ergebnis werden
mehr Investitionen der öffentlichen Hand in Wissenschaft und Forschung genannt.
In der Tat: Diese Bundesregierung investiert mehr
Geld in Forschung und Entwicklung als jede andere Regierung zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
({0})
Zwischen 2005 und 2011 stiegen die Ausgaben der Bundesregierung für Forschung und Entwicklung um sage
und schreibe 42 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro.
({1})
Dies ist ohne Zweifel ein Signal, ein Signal an die Wissenschaft und an die Wirtschaft. So haben die deutschen
Unternehmen trotz Finanz- und Schuldenkrise ihre Investitionen in Forschung und Entwicklung im Jahr 2010
auf 47 Milliarden Euro gesteigert. Das ist ein Plus von
20 Prozent gegenüber dem Jahr 2005.
({2})
Insgesamt haben wir es gemeinsam geschafft, dass der
Anteil für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Prozent im Jahr 2005 auf 2,82 Prozent im Jahr 2010 gestiegen ist. Wir kommen immer näher an das 3-Prozent-Ziel heran.
Entsprechend ist auch die Zahl der in Forschung und
Entwicklung tätigen Menschen gestiegen. Ich sehe Uwe
Schummer hier sitzen,
({3})
einen Arbeitnehmervertreter. Er weiß, wie es bei den Arbeitnehmern in der Forschung aussieht. Wir brauchen
sie. Zwischen 2005 und 2010 gab es einen beachtlichen
Zuwachs von 72 000 Stellen im Bereich Forschung und
Entwicklung. Das ist ein wahrlich erfolgreiches Ergebnis.
({4})
In der rot-grünen Regierungszeit ist zwischen 2000 und
2005 die Zahl der im Bereich FuE tätigen Personen zurückgegangen.
({5})
All dies zeigt, dass die heutige Bundesregierung auf
dem richtigen Weg ist. Dies sagt auch die Expertenkommission „Forschung und Innovation“. Sie hebt die positiven Effekte der Hightech-Strategie hervor. Ich zitiere:
Die Expertenkommission befürwortet diese Neuausrichtung
- der Hightech-Strategie ebenso wie die Auswahl der prioritären Bedarfsfelder.
({6})
Das ist für uns Ansporn und Ermutigung.
Dabei orientieren wir uns an drei Prinzipien:
Erstes Prinzip. Wir wollen die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik stärken. Das
ist das Markenzeichen dieser Bundesregierung. Wir sind
davon überzeugt, dass sich die Schlüsselthemen unseres
Landes, wie der Umbau der Energieversorgung oder der
demografische Wandel, nur im Zusammenspiel aller Akteure erfolgreich gestalten lassen. Allein zwischen 2010
und 2013 wird die Bundesregierung im Rahmen der
Hightech-Strategie knapp 27 Milliarden Euro in den Bereich Klima und Energie, in die Gesundheitsforschung,
in die Mobilitätsforschung, in die Informations- und
Kommunikationstechnologie sowie in die Sicherheitsforschung investieren.
Mit ganz konkreten Zukunftsprojekten arbeiten wir
an den großen, uns alle bewegenden gesellschaftlichen
Herausforderungen. Wir arbeiten an einer Vision von
CO2-reduzierten und energieeffizienten Städten. Mit
dem „Internet der Dinge“ gestalten wir die vierte industrielle Revolution. Mit der Förderinitiative „Forschungscampus“ schaffen wir langfristige öffentlich-private
Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Wissenschaft
auf Augenhöhe, und das Ganze unter einem Dach. Mit
dem Spitzencluster-Wettbewerb mobilisieren wir gemeinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft Zukunftsinvestitionen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Gestern
haben wir die neuen Sieger vorgestellt. Ich nenne stellvertretend für alle den Bioökonomiecluster in Sachsen
und Sachsen-Anhalt. Man sieht: Es bewegt sich etwas in
Deutschland, und das ist gut so.
({7})
Zweites Prinzip: mehr Freiheit für wissenschaftliche
Initiative. Spitzenleistungen in Forschung und Wissenschaft brauchen einen Raum der Kreativität und Freiheit,
damit sie sich entfalten können. Diese Bundesregierung
steht dafür, dass sich die Forschungseinrichtungen entfalten können, dass sie mehr Flexibilität und mehr Freiheit bekommen. Damit unterscheidet sich die Bundesregierung von der Opposition. Wir wollen thematische
Breite und keine grüne Gängelung in der Forschung.
({8})
Ihre grüne Gängelung führt zu Abwanderung von Forschungskapazitäten, wie wir dies gerade bei der Verlagerung der Grünen Gentechnik von BASF ins Ausland erleben mussten. Sie von den Grünen freuen sich darüber,
wir nicht.
({9})
Drittes Prinzip: alle Qualifikationen und Talente in
Deutschland nutzen. Jeder muss seine Chance bekommen, sich und seine Talente zu entwickeln.
({10})
Auch hier gibt es positive Entwicklungen:
Erstens. Mit dem beschlossenen Anerkennungsgesetz
würdigen wir die im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen. Mit der Verbesserung der Zuzugsregelung für
Hochqualifizierte im Gesetzentwurf der Bundesregierung stärken wir den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Zweitens. Mit über 500 000 ist die Zahl der Studienanfänger so hoch wie nie zuvor. Mit dem Hochschulpakt
haben Bund und Länder dafür den entscheidenden Rahmen gesetzt.
Drittens. Seit 2005 hat sich die Zahl der Stipendien
für Begabte mehr als verdoppelt. Jeder kann sich jetzt in
diese Stipendienkultur einbringen und dazu beitragen,
dass wir mehr Stipendien in Deutschland bekommen.
({11})
Viertens. Noch nie hatten wir so viele ausländische
Studierende an deutschen Hochschulen. Das zeigt die
Attraktivität des Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungsstandorts Deutschland.
Meine Damen und Herren, Bildung, Forschung und
Innovationen sind der Schlüssel für Fortschritt und
Wohlstand in diesem Lande. Sie stärken unsere Wettbe18364
werbskraft. Sie fördern die individuellen Zukunftschancen und die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten.
Der Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland
ist in den letzten Jahren wahrlich attraktiver geworden.
Auf diesem erfolgreichen Weg wird die Bundesregierung weiter vorangehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
({0})
Es wurde leider noch gar nichts zum Thema gesagt,
Kollege Kretschmer. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich Ende Dezember 2011
erfuhr, dass wir in der ersten Sitzungswoche im Januar
den Expertenbericht „Forschung und Innovation“ beraten, habe ich gedacht: Wow, der liegt ja früh vor. Normalerweise wird er im Februar oder März veröffentlicht,
und nun werden wir schon im Januar den EFI-Bericht
2012 beraten. - Als ich dann in die Tagesordnung
schaute, habe ich gesehen, dass wir über die Unterrichtung durch die Bundesregierung zum EFI-Gutachten
2011 diskutieren werden. Das heißt, die Bundesregierung hat zehn Monate gebraucht, um eine Stellungnahme zu diesem Gutachten zu erarbeiten.
Dafür könnte ich sogar Verständnis haben. Diese Berichte sind wirklich sehr interessant und enthalten eine
Menge Material und Informationen. Man braucht Zeit,
dies vernünftig durchzuarbeiten. Aber dann habe ich
diese Stellungnahme in die Hand genommen. Sie umfasst nur etwa acht DIN-A4-Seiten. Der Umfang besagt
ja nicht alles. Also habe ich gedacht: Gut, vielleicht steht
in der Stellungnahme viel Aussagekräftiges zu diesem
Bericht. Aber mit so gut wie keinem Wort geht diese
Bundesregierung auf das EFI-Gutachten ein. Das ist aber
unser Thema.
({0})
Kollege Staatssekretär Rachel, in Ihrem mündlichen
Vortrag haben Sie dies leider auch nicht getan; das bedauere ich sehr. Dabei wäre ein Blick in dieses Gutachten ganz interessant gewesen. Im EFI-Gutachten 2011 ist
wieder eine Reihe von Kernthemen behandelt worden.
Ich will nur eines beispielhaft herausgreifen. Die Kommission nimmt ein zwischen der Bundesregierung und
der Landesregierung Schleswig-Holstein aufgetretenes
Geschacher auf: Ein zu 50 Prozent vom Land SchleswigHolstein finanziertes meereswissenschaftliches Institut
war in die Helmholtz-Gemeinschaft überführt worden,
sodass es nur noch zu 10 Prozent vom Land finanziert
werden muss. Die schleswig-holsteinische Landesregierung kann dadurch also Geld sparen. Dieses Vorgehen,
für das es politisch und wissenschaftlich überhaupt keinen Grund gibt
({1})
- doch, die Expertenkommission sagt es mit etwas anderen Worten: keine wissenschaftliche Grundlage -,
({2})
hat die Expertenkommission zum Anlass genommen, zu
überlegen, ob man die Forschungsfinanzierung nicht auf
eine andere Basis stellen sollte. Sie sagt: Ein einheitlicher Finanzierungsschlüssel für Forschung ist nicht nur
möglich, sondern auch nötig. Das ist eine wegweisende
Formulierung. Ich finde, Forschungspolitik muss sich
damit befassen. Es ist beschämend, dass die Bundesregierung darauf überhaupt nicht eingeht.
({3})
Als wir fast auf den Tag genau vor sechs Jahren darüber diskutiert haben, wie die Forschungsberichterstattung in Deutschland zukünftig aussehen könnte, haben
wir hier im Parlament einheitlich gesagt: Ja, es ist richtig, dass ein unabhängiges Gutachtergremium die Situation der Forschung in Deutschland beleuchtet, seine Kritik darstellt und uns Handlungsoptionen aufzeigt. Alle
waren sich einig. Die Bundesregierung schreibt in ihrer
Stellungnahme, dass dieses Gutachten eine gute Analyse
der Stärken und Schwächen des Innovationsstandortes
darstellt. Sie schreibt - ich zitiere aus dem Kopf -, dass
dieses Gutachten für sie sogar Grundlage für weitere forschungs- und innovationspolitische Entscheidungen sein
wird. Allerdings muss man ein solches Gutachten dann
auch lesen und Kritik aufnehmen.
({4})
Wir waren uns damals einig, dass wir uns von außen einen Spiegel vorhalten lassen und die Kritik annehmen
müssen. Aber die Bundesregierung schaut an diesem
Spiegel vorbei.
({5})
Ich habe zuerst gedacht, es sei ein Zufall, dass das dieses
Mal wieder so ist. Aber beim Blick in die anderen Gutachten habe ich festgestellt: Es ist offenbar die Strategie
und Systematik dieser Bundesregierung, sich von außen
nicht beraten zu lassen und nicht einmal vernünftige
Vorschläge anzunehmen.
Im EFI-Bericht 2008 - das ist fast sogar ein positives
Beispiel, an dem Sie sich laben könnten - hat als eines
der Kernthemen die steuerliche Forschungsförderung
sehr breiten Raum eingenommen, also die steuerliche
Förderung von Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren. Wir als SPD haben das etwas
zurückhaltend beurteilt. Wenn man dadurch tatsächlich
Investitionen heben kann, ist das ein geeignetes Instrument. Wenn damit Wirtschaftsförderung einhergeht,
kann man darüber reden. Aber es kostet viel Geld - die
notwendigen Mittel muss man haben -, und es darf nicht
zulasten der Projekt- oder Grundlagenforschung gehen.
Vor diesem Hintergrund waren wir hier sehr zurückhaltend.
Es waren die beiden Fraktionen von CDU/CSU und
FDP und eine Bundesministerin, die sich in Sachen steuerliche FuE-Förderung so weit aus dem Fenster gelehnt
haben, dass dem Betrachter schon schwindelig wurde.
Wissen Sie, was passiert ist? Nichts. Selbst die Gutachtenempfehlung, die für Sie eigentlich positiv ausgefallen
ist und positiv angenommen worden ist, ist nicht umgesetzt worden.
({6})
Sie haben sich zwar weit aus dem Fenster gelehnt, aber
Sie haben kein Stück zur steuerlichen FuE-Förderung in
Deutschland beigetragen.
({7})
Im EFI-Gutachten 2009 war Bildung eines der
Kernthemen. Gleich im Vorwort steht ein ganz wichtiger
Satz: dass uns die Schwächen des deutschen Bildungssystems nachhaltig belasten und zu einer Bedrohung für
die Innovationsfähigkeit Deutschlands werden. Ein
bestimmtes Diagramm, das in diesem EFI-Bericht enthalten war, habe ich danach auch in vielen anderen Publikationen gesehen. Hier geht es darum, dass die Bildungschancen der Menschen in Deutschland so sehr wie
in keinem anderen Industrieland von der Herkunft abhängig sind. Diese Abbildung macht deutlich: Von
100 gleich begabten Kindern, die aus Akademikerfamilien stammen, werden 83 ein Studium aufnehmen, von
100 gleich begabten Kindern, die aus Arbeitnehmerfamilien stammen, nur 23. Die Herkunft entscheidet also
über die Bildungschancen. Der Appell, hier aktiv zu
werden, wurde übrigens nicht nur an die Bundesregierung, sondern auch an die Politik insgesamt gerichtet.
Was haben Ihre Fraktionen gemacht? Sie haben vor
diesem Gutachten wie erstarrt verharrt. Der Bundesparteitag der CDU hat sich dann entschieden, sich von der
Hauptschule zu verabschieden - völlig ignorierend, dass
viele CDU-Bürgermeister in ländlichen Regionen längst
Abstand von der Hauptschule genommen haben, weil sie
sich diese aus demografischen Gründen nicht mehr leisten können.
Aber es gibt auch Regierungen, die die Ungleichgewichte im Bildungssystem wahrnehmen und handeln.
Ich bin sehr froh, dass die neue rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Studiengebühren ausgesetzt und zurückgenommen hat. Sie sind nämlich ein
wesentliches Kriterium dafür, dass Arbeitnehmerkinder
kein Studium aufnehmen. Es gibt also tatsächlich Regierungen, die handeln.
({8})
- Nein, das war kein großer Fehler. Vielleicht muss man
etwas weniger als ein Abgeordneter, also weniger als
8 000 Euro im Monat, verdienen, um sich vorstellen zu
können, dass eine normale Arbeitnehmerfamilie Schwierigkeiten hat, 1 000 Euro pro Jahr für das Studium der
Kinder aufzubringen.
({9})
Vielleicht ist das eine Wahrnehmungsfrage.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Murmann?
Aber gerne.
Bitte schön.
Lieber Kollege Röspel, es ist nett, dass Sie eine Zwischenfrage gestatten. - Auch Sie haben sich inzwischen
ja etwas von dem Gutachten entfernt. Deswegen möchte
ich Sie fragen, wie Sie folgende Zusammenfassung, die
am Ende des Gutachtens zu lesen ist, bewerten:
Die dargestellte Bilanz zeigt: Deutschland ist im
Bereich von Forschung und Innovation attraktiver
und stärker als je zuvor.
({0})
Deutschland hat seine Stellung als dynamischer
Innovations- und Forschungsstandort in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Die Bundesregierung arbeitet daran, diesen Erfolgskurs in den
kommenden Jahren fortzusetzen und Deutschlands
Innovationsführerschaft weiter auszubauen - mit
umfangreichen Maßnahmen, zielgerichteter Förderung und übergreifender strategischer Innovationspolitik unter dem Dach der Hightech-Strategie.
Denn Bildung, Forschung und Innovationen sind
der Schlüssel für Wachstum, Wohlstand und Zusammenhalt und damit eine der wichtigsten Grundlagen für eine gute Zukunft in Deutschland.
Das, was ich zitiert habe, war die komplette Zusammenfassung der Studie. Wie bewerten Sie das?
Das kann ich nur voll unterstreichen, weil es in der
Tat so ist, dass Deutschland heute besser dasteht als vor
10 oder 15 Jahren.
({0})
- Das ist noch Teil der Beantwortung. - Im EFI-Gutachten ist übrigens immer eine ganz spannende Tabelle enthalten, die weit über das hinausgeht, was in der Stellung18366
nahme der Bundesregierung zu lesen ist, in der nämlich
nur die Entwicklung seit 2005 betrachtet wird. Aus dem
Stand: Im EFI-Bericht 2009 können Sie auf Seite 72 die
Abbildungen 13 und 14 finden. Dort ist die Entwicklung
der Anteile der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, seit 1982 dargestellt. Hier wollen wir uns ja dem vereinbarten Ziel
- das sagte auch Staatssekretär Rachel - nähern. Man
sieht hier: Als Helmut Schmidt die Regierung an Helmut
Kohl abgegeben hat, war dieser Anteil viel höher als zu
dem Zeitpunkt, als Helmut Kohl die Regierung an
Gerhard Schröder abgab.
({1})
Das heißt, die erste christlich-liberale Koalition hat diesen Bereich heruntergewirtschaftet.
Unter der rot-grünen Bundesregierung, seit 1998, haben wir der Forschung und Entwicklung sowie der Bildung wieder einen Stellenwert gegeben und entsprechende Finanzen dafür zur Verfügung gestellt.
({2})
Es ist richtig und gut, dass die Große Koalition das fortgesetzt hat und Sie das jetzt auch tun. Deswegen kann
ich das unterstreichen.
({3})
Urheber waren aber nicht Sie, sondern andere.
Ich denke, damit ist Ihre Frage in aller Kürze ausreichend beantwortet.
Wenn man sich das vorletzte EFI-Gutachten, das von
2010, anschaut, dann sieht man: Eines der Kernthemen
ist die Föderalismusreform. Seit der Föderalismusreform
hat der Bund nicht mehr die Möglichkeit, den Ländern
und sogar den Kommunen finanzielle Mittel für Bildung
zur Verfügung zu stellen. Wer in den Kommunen tätig
ist, der weiß, dass sie danach lechzen. Das Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Bundesregierung aus
dem Jahre 2003 hat zu über 7 000 Ganztagsschulen geführt und den Kommunen geholfen. Das ist jetzt nicht
mehr möglich.
Im EFI-Bericht 2010 findet sich zum ersten Mal die
Forderung, dass das Kooperationsverbot dringend beseitigt werden muss. Diese Forderung, die auch im aktuellen Bericht steht, ist an uns alle gerichtet, weil wir das in
der Großen Koalition beschlossen haben.
({4})
Hier muss etwas passieren. Auch dazu hätte ich mir eine
Äußerung seitens der Bundesregierung gewünscht. Vielleicht hören wir ja aus den Regierungsfraktionen gleich
noch etwas dazu. Das ist ein dringender Appell der Expertenkommission. Dem sollten wir uns annehmen.
Wir als SPD haben das getan. Wir werden in der
nächsten Woche einen Antrag in Richtung Aufhebung
des Kooperationsverbotes einbringen, und Sie als Regierung sind herzlich eingeladen, an diesem vernünftigen
Antrag mitzuwirken und ihn zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Röspel, Sie haben völlig recht: Wir
müssen uns mit dem EFI-Gutachten und mit den Aussagen darin kritisch auseinandersetzen. Das werden wir
tun. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf Ausführungen zum Gutachten 2011. Darin gibt es eine ganze
Reihe von Empfehlungen. Ich gehe der Reihe nach vor
und ziehe nicht nur die eine oder andere heraus.
Ich möchte an dieser Stelle feststellen, dass wir - das
ist dort deutlich vermerkt worden - nach der Finanz- und
Wirtschaftskrise wieder eine führende Position in der
Weltwirtschaft eingenommen haben, vor allen Dingen
auch aufgrund der guten Forschungs- und Innovationspolitik.
({0})
Ein Grund für diese Entwicklung - das kann ich an dieser Stelle nur noch einmal unterstreichen - ist natürlich
unsere technologie- und innovationsorientierte Volkswirtschaft.
Im Gutachten kann man recht deutlich nachlesen,
dass wir vor allen Dingen von den forschungsintensiven
Industrien und von Spitzen- und Höchsttechnologien
profitieren. Auch in diesem Jahr wird die Entwicklung
bei uns aufgrund eines Wirtschaftspotenzials mit Wachstumserwartungen von 0,75 Prozent überaus stabil sein.
Diese Leistungsfähigkeit wird vom Innovationsindikator belegt. Hier ist Deutschland - das ist immer wieder
hervorzuheben - auf gutem Wege. Das lassen wir uns
nicht schlechtreden. In den letzten Jahren haben wir uns
im Ranking der innovativsten Nationen auf einen der
vorderen Spitzenplätze vorgearbeitet. Das ist ganz wichtig. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass wir gegenüber vielen anderen OECD-Staaten und Konkurrenten
einen Vorsprung durch Ideen und Innovationen haben.
Das müssen wir bewahren und weiter ausbauen.
({1})
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den Mitgliedern der Expertenkommission Forschung und Innovation für ihre geleistete Arbeit.
Kollege Röspel, jetzt komme ich auf einen Punkt zu
sprechen, den Sie auch angesprochen haben. Ein Grund
für diese erfolgreiche Entwicklung liegt vor allem in der
Dr. Martin Neumann ({2})
selbstkritischen Analyse. Das ist genau der Punkt, und
genau das tun wir an dieser Stelle.
({3})
- Frau Sager, Sie haben ja gleich im Anschluss noch Gelegenheit, das aus Ihrer Sicht darzustellen. - Ich glaube,
wir dürfen uns an dieser Stelle nicht auf den Erfolgen
ausruhen - das ist ein ganz wichtiger Punkt -,
({4})
sondern wir haben unsere Position immer wieder bzw.
fortwährend zu überprüfen.
Hier brauchen wir auch kritische Stimmen, die uns
die Schwächen vor Augen führen und an der Bewertung
keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese kritischen
Stimmen können und sollen natürlich auch aus dem Wissenschaftssystem selbst kommen. An dieser Stelle muss
es einen Dialog geben. Ich möchte hervorheben - deshalb ist dieser Bericht für uns sehr wertvoll -, dass aus
meiner Wahrnehmung heraus der Stellenwert der Expertenkommission mit jedem Bericht wächst.
Es gehört zur kritischen Analyse, dass wir über die
Grenzen hinausschauen. Das ist ganz wichtig, vor allen
Dingen in diesem Wettbewerb. Wenn wir uns die internationalen Entwicklungen konkreter anschauen und analysieren, stellen wir wieder fest, dass wir an dieser Stelle
wirklich führend sind. Wenn wir zum Beispiel nach
Skandinavien blicken oder in den südostasiatischen
Raum, stellen wir fest, dass wir uns mitten in einem
Wettbewerb befinden. Dieser Wettbewerb - das ist an
alle Adressen gerichtet - nimmt keine Rücksicht auf
Versäumnisse, sei es bei Investitionen, sei es bei der notwendigen Weichenstellung für Forschung und Innovation. In diesem Wettbewerb zählt nur die richtige Forschungspolitik.
An dieser Stelle hat die Expertenkommission den Finger tief in die Wunde gelegt. Die Schwächen werden benannt - das ist ganz klar - und Empfehlungen gegeben.
Ich glaube aber festzustellen - in diesem Kontext treffen
wir uns dann wieder -, dass der Weg richtig ist und dass
vor allen Dingen - das gilt auch in der Wirtschaft - das
richtige Klima geschaffen wird - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung der
Investitionen des Bundes, sei es zusätzlich durch eine
Wirtschaftspolitik, die Mehrausgaben in Forschung und
Entwicklung generiert. Dabei belegt das Gutachten
2011, dass wir mit der strukturellen und vor allen Dingen
strategischen Ausrichtung auf dem richtigen Weg sind.
({5})
Die Koalition hat mit der weiterentwickelten Hightech-Strategie 2020 eine missionsartige - so möchte ich
das sagen - Ausrichtung vorgenommen und die Forschungs- und Innovationsförderung auf globale Herausforderungen ausgerichtet. Daneben ist der Pakt für Forschung und Innovation als ein ganz entscheidendes
Instrumentarium etabliert.
({6})
Wir zielen mit dem Pakt auf die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die wir als integralen Bestandteil
unseres Innovationssystems verstehen. Genau diese Einrichtungen müssen weiter gestärkt und auch weiter an
die Wirtschaft herangeführt werden.
({7})
Hier ist eine jährliche Steigerung der Mittel von mindestens 5 Prozent zu verzeichnen. Damit geben wir ein
deutliches Signal. Hier kommt die Stelle, an der wir genauer hinschauen müssen, Herr Kollege Röspel - das
sage ich auch an Ihre Adresse -: Wir müssen darauf achten, dass es in der Finanzierung der Hochschulen in der
Kombination mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen eine Balance zwischen der Steigerung der
Mittel, die ich gerade angesprochen habe, und dem, was
über die Länderhaushalte an Mitteln für die Hochschulen
bereitgestellt werden muss, gibt. Auf diese Balance müssen wir achten.
({8})
Das heißt aber auch - dazu wird in dem EFI-Gutachten ausreichend Stellung genommen -, dass wir das gesamte System der Wissensgesellschaft im Auge behalten
müssen. Das beginnt tatsächlich mit dem „Haus der kleinen Forscher“ im Kitabereich und hört bei hochwertigen
Forschungsergebnissen auf. Wenn man sich die
Biografien der vielen erfolgreichen Nachwuchswissenschaftler genauer anschaut, sieht man, dass ihre Karriere
tatsächlich auf Förderung und vor allen Dingen auf der
hohen Qualität des Studiums beruht. Vor diesem Hintergrund sollten wir das Talentmanagement im Bereich der
Forschung und der Hochschulen tatsächlich als eine zukünftige Aufgabe erkennen.
An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen
- das muss man hervorheben, weil es ein Schritt auf dem
richtigen Weg ist -, dass wir mit der Aufstockung der
Mittel für den Qualitätspakt Lehre und dem Hochschulpakt eine wirklich sehr gute finanzielle Grundlage gelegt
haben.
({9})
Weil es zum System gehört und weil die Opposition
immer verschiedene Argumente dagegen anführt: In diesem Zusammenhang freut mich die positive Aufnahme
des Deutschlandstipendiums durch die Expertenkommission. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie immer machen.
({10})
Sie sagen immer: Das ist eine einseitige Orientierung.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen eine Kultur der Förderung und der Unterstützung der Hochschulen in den
Regionen, wir brauchen ein funktionierendes bürgerschaftliches Engagement und müssen alle Kräfte der Gesellschaft bündeln, die ein Interesse daran haben, dass es
auf diesem Weg weitergeht.
({11})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist
zu knapp, um sich den vielen Aspekten zu widmen. Die
Dr. Martin Neumann ({12})
Kommission hat uns sehr viele Empfehlungen mit auf
den Weg gegeben. Darüber muss geredet werden. Ich
habe das vorhin betont. Damit wir weiterhin Erfolg erzielen, ist, glaube ich, auch eine selbstkritische Analyse
wichtig. Ich kann Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen,
dass wir uns in allen Projekten, die notwendig sind, bei
allem Guten und Positiven wie auch da, wo wir tatsächlich noch Kräfte bündeln müssen, nicht auf dem Erfolg
ausruhen, sondern wir werden uns als christlich-liberale
Koalition für eine Fortentwicklung des Forschungs- und
Innovationssystems einsetzen.
Lieber Kollege Röspel, ich muss das noch ansprechen, weil Sie es hervorgehoben haben: Auf die vielen
Empfehlungen und Hinweise werden wir Antworten geben.
({13})
Ich bedanke mich.
({14})
Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über ein Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation. Dieser Gruppe gehören sechs
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Wirtschafts-, der Rechts- und der Sozialwissenschaft an. Sie
haben, wie man es von der Wissenschaft erwarten darf,
auch im Jahr 2011 - Herr Röspel hat es schon gesagt ihrer Auftraggeberin kein Gefälligkeitsgutachten vorgelegt und nicht nur eitel Freude bereitet.
({0})
Dafür kann man sich bei den Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern nur bedanken.
Ich hoffe, dass auch nach der personellen Umbesetzung dieser Gruppe eine solche kritische Distanz bewahrt werden kann. Immerhin haben die Gutachten der
letzten Jahre deutliche Signale gesetzt. Ich denke beispielsweise an den Verriss der Studienreform - nichts
anderes als ein Verriss war es - oder an die Kritik zur
Komplexität und Budgettransparenz eben jener von Ihnen gelobten Hightech-Strategie und Innovationspolitik.
So weit, so gut.
Wie hat die Bundesregierung auf das Gutachten 2011
reagiert? Auch in diesem Jahr hat die Bundesregierung
zunächst einmal mit bunten Bildchen reagiert. Mit ihnen
werden die wachsenden Mittel für Forschungsförderung
gefeiert. Das Eigenlob aus den Haushaltsberatungen bekommt sozusagen einen visuellen Gedächtnisschrein.
Aber die Expertenkommission ist eben nicht in Andacht
erstarrt. Sie hat vielmehr festgestellt, dass man den Aufwuchs der Mittel grundsätzlich anerkennen müsse.
({1})
Das ist aber auch schon alles. Nicht die Menge macht es;
manchmal macht es erst die Qualität. Es bleibt festzuhalten, dass mehr Mittel allein kein Garant für eine moderne Innovationspolitik sind.
Zu den dann folgenden Kritiken - das hat Herr Röspel
schon gesagt - äußert sich die Bundesregierung entweder gar nicht, oder sie reagiert durch gegenteilige Politik
darauf. Deshalb frage ich mich: Warum vergibt die Bundesregierung überhaupt derartige Aufträge, wenn sie in
diesen Punkten nicht wirklich im Kern etwas ändern
will? Da kippt der Buddha aus dem Schrein.
({2})
Die Linke dagegen will etwas ändern. Lassen Sie
mich das an einem Thema erklären, welches schon fast
als Dauerbrenner der Berichte gelten kann: Föderalismus
und Bildung. Die Kommission fordert unmissverständlich, den Wettbewerbsföderalismus im Bildungsbereich
einzudämmen.
({3})
Stattdessen soll eine kooperative Bildungspolitik praktiziert werden. Ebenso fordern die Expertinnen und Experten erneut die Überwindung der sozialen Spaltung im
Bildungswesen. Das wurde also nicht nur 2009 gefordert, wie Herr Röspel gesagt hat, sondern auch im diesjährigen Gutachten. Mehr Menschen aus bildungsfernen
Schichten sollen an die Hochschulen dieses Landes
kommen können. Ich frage mich: Wie viele Gutachten
braucht es noch, bis man in diesem Punkt nachhaltig umsteuert?
({4})
Schließlich werden neue Angebote für Ganztagsschulen gefordert. Die Lernbedingungen sollen verbessert
und die Zahl der Abgänge ohne Abschluss soll gesenkt
werden.
Die Linke fühlt sich durch die Kommission in ihren
Positionen bestärkt. Ich zitiere aus dem Gutachten:
Gute Bildungspolitik ist die Voraussetzung guter
Innovationspolitik.
({5})
Seit Jahren drängen wir hier im Bundestag auf ein
Bildungswesen, das individuelles Lernen tatsächlich ermöglicht. Es soll Schwächen ausgleichen, und es soll
eben auch die vielfältigen Talente von Kindern und Jugendlichen fördern. Das wird aber nicht ohne Bundeshilfe gehen. Das bleibt auch in Bundesverantwortung,
weil Bildung zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen gehört.
({6})
Was macht die Bundesregierung? Statt das Kooperationsverbot zu beerdigen und mit den Mitteln konsequent und ohne Umwege das öffentliche Bildungswesen
zu stärken, wird viel Geld auf Nebengleisen - mit vielen
bürokratischen Zwischenstopps - geparkt oder in solche
Programme wie Bildungs- und Teilhabepaket sowie ein
elitäres Studienprogramm geleitet. Das alles sind bürokratische Monster, bei denen klar ist, dass viel Geld an
Stellen verpulvert wird, die mit Bildung direkt nichts zu
tun haben.
({7})
Viel wichtiger wäre es, mit diesen vielen Mitteln das öffentliche Bildungswesen zu stärken. So könnte man wesentlich mehr Effekte erzielen.
({8})
Gemeinsam mit den Ländern sollte flächendeckend
für eine gute Ausstattung der Bildungseinrichtungen gesorgt werden. Die Umsetzung moderner Lern- und Lehrformen sollte gesichert werden. Gute Kitaplätze für alle
Kinder, längeres gemeinsames Lernen in Ganztagsschulen, offene, attraktive Hochschulen, und zwar nicht nur
an einzelnen exzellenten Standorten, sondern überall,
genau das sind die Aufgaben, die im Gutachten der Expertenkommission nachzulesen sind. Genau das gehört
zu einer guten Innovationspolitik.
({9})
Aber auch in Wissenschaft und Forschung wächst nun
die Kritik am Wettbewerbsföderalismus. Das Einwerben
von zusätzlichen Mitteln, sogenannten Drittmitteln, aus
der Wirtschaft und Bundesprogrammen wie beispielsweise der Exzellenzinitiative dominiert mehr und mehr
die Haushaltsanstrengungen an Wissenschaftseinrichtungen. Heute wissen wir aber aus vielen Schilderungen,
dass der Dauerstress wegen endloser Antragsrennen insbesondere personelle Ressourcen bindet, die letztlich
massiv in der Lehre, aber auch in der Forschung fehlen.
Angesichts der 19 000 Programme, die das Bundesforschungsministerium bereits jetzt finanziert, fragt man
sich doch: Wäre das Geld nicht viel besser angelegt,
wenn man einen Teil davon nutzte, um die Grundausstattung von Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern?
({10})
- Das kann sein. Aber wir werden versuchen, das zu verhindern.
Schließlich könnten die Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses dadurch verlässlicher und gerechter gestaltet werden. Natürlich gehört dazu auch eine
entsprechende Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes.
Laufen nun Hochschulpakt und Exzellenzinitiative in
ein paar Jahren aus, müssen wir dann sowieso über ein
nachhaltiges Finanzkonzept diskutieren. Mir ist völlig
klar, dass ein solches Konzept nicht erarbeitet werden
kann, ohne zuvor das Kooperationsverbot beerdigt zu
haben.
Die Expertinnen und Experten, also die Geister, die
Sie selbst gerufen haben, haben viele praktikable Vorschläge gemacht. Es bedarf schlicht und ergreifend mutiger und innovativer Grundsatzentscheidungen. Beim
Kooperationsverbot können Sie damit anfangen.
Nächste Woche werden wir darüber im Bundestag diskutieren. Dann werden wir sehen, welche Schlussfolgerungen Sie ziehen.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat das Jahresgutachten 2011 der Expertenkommission Forschung und Innovation leider ausgesprochen selektiv zur Kenntnis genommen.
({0})
Dass Sie in Ihrer Stellungnahme zu jedweder Kritik total
schweigen - das haben die Kollegen bereits angesprochen -, ist peinlich.
({1})
Diese Expertenkommission wurde von der Bundesregierung eingesetzt. Was haben Sie denn eigentlich von diesen Experten erwartet? Kollektive Lobhudelei, oder was?
({2})
Sie behandeln das wie das Rauschen im Wald. Ich finde,
dass Sie eine Missachtung gegenüber Ihren eigenen Experten an den Tag legen, wenn Sie kritische Aspekte mit
keinem Wort erwähnen. Dass die Opposition das nun anders macht, wird Sie sicherlich nicht verwundern.
({3})
Kommen wir also zu einem besonders beliebten
Thema: die steuerliche Forschungsförderung. Die
Expertenkommission hat die steuerliche Forschungsförderung wiederholt angemahnt. Wir wissen, dass sich das
in anderen Ländern als ein ergänzendes Instrument für
kleinere innovative Unternehmen bewährt hat, die von
der Projektförderung viel weniger profitieren als Groß18370
unternehmen. Dass die CDU/CSU da bisher nichts zustande bekommen hat, finde ich besonders peinlich.
({4})
Sie haben sich gleich zweimal ein Bein gestellt, sehr
verehrter Herr Rupprecht. Das erste Mal haben Sie sich
ein Bein gestellt, als Sie sich auf die dödelige Klientelpolitik der FDP, lieber Hoteliers zu fördern, als steuerliche Forschungsförderung zu betreiben, eingelassen haben.
({5})
Das zweite Mal haben Sie sich ein Bein gestellt, als
Sie sich von den Industrieverbänden ein besonders teures Modell haben einreden lassen. Dieses Modell wäre
nicht nur teuer; es würde vor allen Dingen die Großkonzerne der Pharma- und Autobranche bevorzugen. Dass
Sie das bei Ihrem Bundesfinanzminister schlecht durchbekommen, muss einen nicht verwundern. Die Gutachter
haben einfach recht, wenn sie sagen: Da muss die Koalition jetzt endlich einmal etwas zustande bringen und
Farbe bekennen.
({6})
Die Kolleginnen und Kollegen haben zu Recht darauf
hingewiesen, dass es richtig ist, im Zusammenhang mit
der Innovationspolitik die Bildungspolitik zu thematisieren, weil sie die Grundlage jeder Innovationspolitik ist.
({7})
Da finden die Gutachter erfreulicherweise klare Worte.
Sie sagen nämlich ganz deutlich: Das deutsche Bildungssystem ist selektiv, und es bietet zu wenig Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Bildungsreserven werden aus Sicht der Gutachter nicht effektiv
genug mobilisiert.
Sie benennen auch Problemgruppen. Dazu gehören
ganz besonders Kinder und junge Menschen aus einkommensschwächeren Familien, die von der Kinderbetreuung über die Schule bis in den Hochschulbereich hinein benachteiligt werden.
Vor diesem Hintergrund muss man noch einmal eines
feststellen: In diese Logik hinein kommen Sie jetzt mit
Ihrem Betreuungsgeld, das Eltern belohnen soll, wenn
sie ihre Kinder nicht in eine Kita mit der damit verbundenen Frühförderung bringen, sondern davon fernhalten.
Das ist bildungspolitisch ein Irrläufer erster Klasse.
({8})
Dass Sie darüber kein Wort verlieren, finde ich auch blamabel.
Dieses Instrument der Betreuungsprämie passt auch
nicht zu einem anderen Thema der Gutachter, nämlich
dass wir die Potenziale der jungen Frauen nicht genügend ausschöpfen. Die Große Anfrage der Opposition
hat gerade gezeigt, dass nicht nur im Wirtschaftsbereich,
sondern auch im Wissenschaftsbereich der Fortschritt
leider immer noch eine Schnecke ist, wenn es darum
geht, Frauen in Spitzenpositionen zu bringen. Die Bundesregierung scheut davor zurück, da endlich zu verbindlichen Regelungen zu kommen. Auch da: Schlechte
Politik!
({9})
Die Expertenkommission fordert außerdem, den sich
abzeichnenden Fachkräftemangel stärker durch eine gezielte Einwanderungspolitik zu bekämpfen. Was macht
die Regierung da? Flickenteppich! Stückwerk! Hier eine
Einzelfalllösung, dort eine Einzelfalllösung! Wir brauchen wirklich ein Punktesystem für die Einwanderung,
und wir brauchen auch eine wirkliche Willkommenskultur. Das zu Recht als Unwort des Jahres qualifizierte
Wort „Döner-Morde“ zeigt doch, dass wir bei der Willkommenskultur wirklich noch Nachholbedarf haben.
({10})
Das Jahresgutachten 2011 setzt sich ausgesprochen
kritisch mit der Föderalismusreform 2006 auseinander.
Die Gutachter - das wurde von den Kolleginnen und
Kollegen hier schon gesagt - fordern die Rückkehr zu einem kooperativen Föderalismus. Sie fordern ganz klar
die Rücknahme des Kooperationsverbotes. Für diese
Forderung erfahren sie mit Sicherheit nicht nur viel Unterstützung bei den Wissenschafts- und Bildungsorganisationen, sondern zunehmend auch in der Bevölkerung.
({11})
Deswegen stellt sich besonders die Frage: Warum
schweigt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu
diesem Punkt?
({12})
Es ist doch unlogisch, dass die Länder eine zunehmend
steigende Belastung aus der gemeinsamen Forschungsfinanzierung zu verkraften haben, dass sie immer weniger in der Lage sind, die Grundfinanzierung ihrer Hochschulen angemessen sicherzustellen, aber parallel dazu
der Bund sich beim Ganztagsschulausbau seit 2006 aus
der gemeinsamen Finanzierung verabschiedet hat. Da
passt eindeutig etwas nicht zusammen. Daher brauchen
wir eine Verfassungsreform, zu der sich die Bundesregierung dann auch bekennen müsste.
({13})
Bemerkenswert ist auch, dass die Gutachter kritische
Anmerkungen zur gemeinsamen Forschungsfinanzierung machen. Auch wir sind der Meinung, dass die
Strukturen nicht mehr logisch zu erklären sind: die unterschiedlichen Finanzierungsschlüssel und die Zuordnung von Einrichtungen zu Forschungsorganisationen.
Wir haben dazu einen eigenen Antrag vorgelegt und denken, dass wir hierüber in eine Diskussion kommen müssen. Das, was die Gutachter als einheitlichen Schlüssel
vorlegen, hat uns nicht überzeugt, weil es viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten nicht beseitigt.
({14})
Aber es darf wegen dieser Problematik nicht mit der
„Helmholtzifizierung“ der Forschungslandschaft weitergehen. Wir müssen an dieses Thema heran, das hat der
Wissenschaftsrat angemahnt und das sagt auch der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Wir erwarten, dass sich auch die Bundesregierung diesem Thema
endlich stellt.
Es gibt im deutschen Forschungs- und Innovationssystem durchaus mutmachende Aufbruchsignale - das
bestreiten wir überhaupt nicht -, aber es gibt auch viele
Baustellen. Aber wenn eine Bundesregierung überhaupt
nicht in der Lage ist, sich auf Kritik einzulassen, dann
bezweifeln wir, dass sie zu dem in der Lage ist, was die
Gutachter immer wieder anmahnen: eine kritische, transparente und ehrliche Bestandsaufnahme und ehrliche
Evaluation Ihrer Politik. Das leistet Ihre Stellungnahme
in keiner Weise.
({15})
Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für die Koalitionsfraktionen ist klar: Nur mit
Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit können wir auf internationaler Ebene bestehen und unseren
Wohlstand im internationalen Vergleich auch in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten erhalten.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren: Deutschland soll ein
innovatives Industrieland sein und bleiben.
({1})
Wir haben in den Krisen der vergangenen Jahre mehr
als deutlich gelernt, welch große Bedeutung die innovative Kraft und die technologische Leistungsfähigkeit unseres Landes haben, um durch diese Krisen hindurchzukommen. Aus diesem Grund ist für uns vollkommen
klar, dass wir in diesem Bereich weiter investieren müssen und jeder Euro, der in die Wissenschaft geht und für
technologische Kooperation sowie für die Fachkräfteentwicklung angewendet wird, gut angelegtes Geld ist.
({2})
Wir investieren in den schweren Zeiten der Haushaltskonsolidierung, in Zeiten, in denen wir eine Verschuldungsbremse haben, zusätzliches Geld in Milliardengrößenordnungen in diesen Bereich und haben es
geschafft, dass Deutschland das erste Mal seit der Wiedervereinigung 1990 beim Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt wieder vor den USA liegt. Das ist ein starkes Signal.
({3})
Wenn hier zwischen Helmut Schmidt, Helmut Kohl
und Gerhard Schröder verglichen wird, dann muss man
zur Kenntnis nehmen, dass dazwischen die deutsche
Einheit, ein gewaltiger Kraftakt, gelegen hat, den dieses
Land, den wir erfolgreich gestemmt haben. Ich finde, es
gehört zur Redlichkeit dazu, dass man dies immer wieder sagt, Herr Kollege Röspel.
({4})
Nein, meine Damen und Herren, diese Koalition unter
der Regierung von Angela Merkel hat nicht nur davon
gesprochen, dass Forschung und Entwicklung wichtig
sind, sondern sie hat dies wie keine Regierung in der
Vergangenheit, in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland, wahrgemacht und in Forschung und Entwicklung investiert. Das können Sie beklagen,
({5})
und Sie können immer irgendwie daran herumkritteln,
aber die deutschen Forschungsorganisationen, die deutsche Wissenschaft sowie der hier vorliegende Bericht
sprechen eine ganz klare Sprache: Es wird anerkannt,
und die Menschen sind dankbar dafür, dass auf uns Verlass ist, dass wir in diesem Bereich gemeinsam investieren.
({6})
Sie haben drei Punkte angesprochen: den einheitlichen Finanzierungsschlüssel, die steuerliche Forschungsförderung und das Kooperationsverbot. Zu allen
drei Punkten möchte ich etwas sagen.
Der einheitliche Finanzierungsschlüssel ist ein wichtiger Teil der Überlegungen zu der Frage, wie man das
Wissenschaftssystem und die außeruniversitäre Forschung in Zukunft neu aufstellt. Ich möchte nur eines zu
bedenken geben: Als die Regierung von Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn hier aktiv war, gab es nur
ein Hauen und Stechen zwischen Ländern und Bund,
weil sie permanent mit dem Kopf durch die Wand
wollte.
({7})
Sie hat per Dudenhausen-Erlass verfügt, dass sich die
außeruniversitäre Forschung nicht mehr an den Fachprogrammen des BMBF beteiligen konnte. Damit haben wir
aufgeräumt. Wir haben heute eine ganz andere Kooperationskultur. Heute herrscht ein Klima, in dem über einen
einheitlichen Finanzierungsschlüssel gesprochen wird.
({8})
Ich bin froh darüber, dass neutrale Wissenschaftler diesen Gedanken aufwerfen. Wir sollten uns damit intensiv
beschäftigen.
Wir sollten allerdings nicht so tun, Herr Kollege
Röspel, als würde die Welt von diesem kleinen Raum
hier gesteuert. Wir leben vielmehr in einem föderalen
Land. Das heißt, die Länder haben ein ganz gewichtiges
Wort mitzusprechen. Für meine Fraktion möchte ich
ganz deutlich sagen: Wir wollen diese Diskussion führen, aber auf Augenhöhe mit den Ländern und nicht mit
erhobenem Zeigefinger. Das ist der größte Unterschied
zwischen unseren Fraktionen.
({9})
Wenn ich es richtig verstanden habe, haben wir die
Grünen und die SPD überzeugt, dass die steuerliche Forschungsförderung in Deutschland eingeführt werden
soll. Das ist ein tolles Signal. Das war in den vergangenen Jahren anders.
({10})
Ich habe da ganz andere Sachen gehört. Für die Koalitionsfraktionen ist klar, dass die steuerliche Forschungsförderung ein wichtiges Instrument ist, das wir gerne
realisieren möchten. Aber, meine Damen und Herren,
man muss ehrlich und redlich sein und seine Prioritäten
klar benennen.
({11})
Wir haben unsere Prioritäten in den vergangenen Jahren
und auch in diesem Jahr deutlich gemacht: Hochschulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzinitiative und viele andere Dinge.
({12})
Sobald finanzieller Spielraum für die steuerliche Forschungsförderung da ist, werden wir sie auch einführen.
Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Ich finde
es in Ordnung, dass Sie Ihre Position in diesem Punkt
geändert haben. Sie können gerne auch an diesen Projekten mitwirken, meine Damen und Herren.
({13})
Der letzte Punkt betraf die Frage des Kooperationsverbotes. Es wird in der kommenden Woche ja noch einmal Gelegenheit sein, intensiv darüber zu diskutieren.
Auch in der Diskussion darüber stört mich einiges. Ich
kenne keinen Antrag SPD-regierter Länder im Bundesrat, in dem gefordert wird, dass das Kooperationsverbot
aufgehoben wird.
({14})
Das wäre allerdings der erste Schritt, der passieren
müsste. Wir reden dauernd von Bundesländern, die ihre
Aufgaben nicht erfüllen können - vor allen Dingen Sie
erzählen davon. Sie sagen nicht, dass vor allen Dingen
Länder, in denen die SPD regiert oder mitregiert, wie
Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und jetzt
Mecklenburg-Vorpommern, bei Wissenschaft und Forschung kürzen.
({15})
Wir werden in der nächsten Woche die Zahlen noch einmal miteinander diskutieren können. Vor allen Dingen
tun Sie aber so, als könnten Sie für die Länder bestimmen und denen sagen, was richtig und was falsch ist.
Wenn es um das Kooperationsverbot geht, müssen wir
als Allererstes
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
- ich bin sofort so weit - zur Kenntnis nehmen, dass
es eine gemeinsame Kommission von Bundesländern
und Bundestag, geführt von Müntefering und Stoiber,
gab, in der auf Augenhöhe all das verhandelt wurde, was
wir dann, übrigens auch gemeinsam mit der SPD, umgesetzt haben. Wenn hier jetzt wieder Veränderungen angemahnt werden, sollten wir darüber genau auf derselben
Augenhöhe diskutieren und nicht versuchen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen.
({0})
Das führt mit Sicherheit nicht zu einem vernünftigen Ergebnis.
({1})
Das Wort hat Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
schon etwas verwundert über den Verlauf der Debatte.
Ich habe das Gutachten gar nicht als eine Beurteilung
des Regierungshandelns der schwarz-gelben Koalition
gelesen, sondern als einen reichhaltigen Denkanstoß für
die Entwicklung von Innovationen in Deutschland.
({0})
Vielleicht sollten wir uns mehr auf diesen Aspekt konzentrieren. Sie listen hier - auch die Bundesregierung
hat das getan - alles nur akribisch auf, greifen aber keine
einzige Empfehlung der Kommission konstruktiv auf.
Zur Redlichkeit - darauf ist hier ja schon eingegangen
worden - gehört auch, zu sagen, dass die wesentlichen
Big Points, auf die sich die Forschungspolitik heute in
Deutschland bezieht, gar nicht von der schwarz-gelben
Koalition eingeführt worden sind, sondern dass die entOliver Kaczmarek
sprechenden Grundlagen während der rot-grünen Regierungszeit gelegt worden sind und die Hightech-Strategie,
die so oft angesprochen worden ist, während der Großen
Koalition in Angriff genommen worden ist. Das zu sagen, hätte auch zur Redlichkeit gehört. Hier schmückt
man sich mit fremden Federn.
({1})
Völlig richtig ist, dass der Bericht auch festhält, dass
es eben nicht nur um Forschung und Entwicklung gehen
darf, sondern dass auch nach dem gesellschaftlichen
Nutzen von Forschung und Innovation zu fragen ist;
denn nicht jede Innovation, nicht alles Neue ist zugleich
ein Fortschritt.
Für die SPD verbindet Fortschritt technologische
Innovation und wirtschaftlichen Erfolg mit gesellschaftlichem und individuellem Wohlstand. Fortschritt soll
eben auch zu sozialer Sicherheit und demokratischer
Teilhabe der gesamten Gesellschaft beitragen. Wir müssen auch erkennen: Das Fortschrittsverständnis der Vergangenheit stößt bezüglich Ressourcenverbrauch und
Klimaschutz an seine Grenzen. Nicht zuletzt deshalb haben wir ja auch parteiübergreifend eine Enquete-Kommission eingerichtet, die zum Ziel hat, einen alternativen
Wohlstandsindikator zu entwickeln.
({2})
Vielleicht findet diese Verbindung von gesellschaftlichem Fortschritt und Innovation derzeit ihren deutlichsten Ausdruck in der Bedeutung und Nutzung des Internets. Innovation ohne das Internet kann zumindest ich
mir nicht vorstellen. Deswegen widmet die Expertenkommission diesem Thema einen breiten Raum und
zeigt auf, dass das Internet zumindest derzeit der größte
und dynamischste Raum für Innovationen ist. Der
Schutz dieses innovationsfreudigen Raumes war auch
Teil einer Debatte von heute Morgen, als die EnqueteKommission ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Der
Schutz dieses innovationsfreudigen Raums ist eine forschungspolitische Aufgabe von, wie ich meine, größter
Bedeutung. Die Expertenkommission weist zu Recht darauf hin, dass der Erhalt des offenen und neutralen Internets im Widerspruch zu möglicher Preisdifferenzierung,
Zugangsgebühren oder Marktallianzen steht. Sie sieht
die Netzneutralität - wörtliches Zitat - akut gefährdet.
An der Stelle sind wir uns womöglich auch noch einig.
Uneinig sind wir uns in der Frage, wie man diesen
Raum für Forschung und Innovation, aber auch für andere Entwicklungen schützen kann. Aus meiner Sicht ist
es eine wichtige Voraussetzung, dass Daten im Internet
diskriminierungsfrei transportiert werden können. Es
darf kein Privileg für einzelne Anbieter mit Marktmacht
geben. Deswegen wollen wir im Unterschied zur Koalition die Netzneutralität im Telekommunikationsgesetz
verbindlich festschreiben.
({3})
Jeder Mensch muss im Internet grundsätzlich zu jedem
Inhalt freien Zugang haben und Inhalte selbst anbieten
können, selbstverständlich nur Inhalte, die sich im Rahmen von Recht und Gesetz bewegen.
({4})
Diese Diskriminierungsfreiheit ist ein konstitutiver Bestandteil des Internets. Wer das nicht versteht, hat das Internet nicht verstanden. Deswegen darf diese Diskriminierungsfreiheit nicht allein dem Markt überlassen
werden.
({5})
Nur kurz will ich ein weiteres Thema ansprechen; es
ist hier schon betont worden: Seit Jahren weist die Expertenkommission auf die bremsende Wirkung des Bildungssystems in Deutschland für Innovationen hin. Die
soziale Selektivität ist hier schon angesprochen worden.
Insgesamt will ich nur ein kleines Wort der Kritik an dem
Bericht äußern. Aus meiner Sicht wird die Rolle der beruflichen Bildung allenfalls am Rande benannt und die
Bedeutung der beruflichen Bildung nicht ausreichend gewürdigt. Deshalb eine kleine Anregung für den Bericht
im nächsten Jahr: Das duale System der Berufsausbildung gehört in Deutschland zu den wichtigsten Faktoren
der Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Deshalb sollte es auch im nächsten Bericht ausführlicher beleuchtet und gewürdigt werden.
({6})
Das Kooperationsverbot war hier schon Thema. Ob
Bewegung in diese Diskussion kommt, werden wir in
der nächsten Woche sehen, wenn wir die Debatte hier im
Deutschen Bundestag führen.
Zu den Vorschlägen: Die Bundes-SPD - so viel zum
Thema Augenhöhe - hat unter Beteiligung vieler Kultusminister und Ministerpräsidenten der SPD einen Vorschlag erarbeitet, der es dem Bund und den Ländern
erlauben soll, gemeinsam Bildungsaufgaben zu finanzieren. Es wäre gut, wenn dies gelänge. Das sage ich ganz
offen. Anders geht es auch gar nicht. Es wäre gut, wenn
wir im Bundestag einen breiten Konsens darüber finden
würden, dass wir diese Aufgabe angehen und das Kooperationsverbot aufheben.
({7})
- Auch im Bundesrat, aber es wäre schön, wenn der
Bundestag auch dieser Meinung wäre. Sie können davon
ausgehen, dass die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten den Änderungsvorschlag im neuen Art. 104 c GG
mittragen werden. Ich weise aber darauf hin, dass dies
nicht das Einzige ist. Sie müssen auch dafür sorgen, dass
die Länder ihre hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen
können. Dazu gehört es auch, auf Steuerentlastungen zu
verzichten und zusätzliche Mittel für Bildung bereitzustellen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir darüber
eine Diskussion führen werden, weil die Gesellschaft
viel weiter ist als die Diskussion, die wir hier in diesem
Raum führen.
Meine Damen und Herren, es stimmt: Deutschland ist
ein innovationsfähiges und innovationsfreudiges Land.
Das liegt vor allem an den vielen Menschen, die tagtäglich in Bildung, Wissenschaft und Forschung und in den
Betrieben daran arbeiten. Innovationen bringen die Gesellschaft jedoch nur dann weiter, wenn wir die Debatte
darüber zulassen, welchen gesellschaftlich und ökologisch nachhaltigen Ertrag Innovationen bringen. Deshalb ist es gut, dass uns die Expertenkommission als
Ratgeber zur Verfügung steht. Ich würde mich freuen,
wenn wir zukünftig wieder mehr über die einzelnen
Empfehlungen diskutieren würden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Albert Rupprecht für die
Unionsfraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Sitte, es ist natürlich und zum Glück kein Gefälligkeitsgutachten. Dennoch gefällt uns die zentrale
Botschaft des EFI-Gutachtens sehr wohl. Diese Botschaft lautet nämlich, dass die Innovationskraft Deutschlands exzellent ist. Das EFI-Gutachten belegt dies mit
Schlüsselindikatoren. Ich zitiere aus dem Gutachten: Die
Innovationskraft einer Volkswirtschaft bemisst sich an
den Patentanmeldungen. Hier liegt Deutschland weltweit nach der Schweiz auf dem zweiten Platz. - Das
EFI-Gutachten lobt explizit den massiven Mittelzuwachs
zur Erreichung des 10-Prozent-Zieles, die HightechStrategie, die Anstrengungen bei der Elektromobilität
und in vielen anderen Bereichen.
Während die Länder um uns herum in Arbeitslosigkeit und in Verschuldung versinken, wird Deutschland
von Tag zu Tag stärker.
({0})
Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung und mehr Lehrstellen als jugendliche Bewerber. Hingegen erleben wir, dass in anderen Ländern
Europas die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent und mehr
beträgt.
All diese Erfolge wären ohne Forschung und ohne die
Kraft zur Innovation nicht möglich. Deutschland belegt
in der Tat Spitzenplätze im weltweiten Standortvergleich.
Deutschland belegt - das wurde bereits gesagt - Platz vier
beim Innovationsindikator der Stiftung Telekom und
Platz vier beim weltweiten Vergleich der Europäischen
Union. Auch andere Untersuchungen zeigen, dass wir in
den letzten Jahren in sehr großer Anzahl Spitzenplätze bei
den Indikatoren einnehmen.
Was sagt der Mittelstand zu diesen Entwicklungen?
2005 haben bei Befragungen nur 10 Prozent der mittelständischen Betriebe gesagt, dass die Standortpolitik in
Deutschland gut ist. Heute bewerten 77 Prozent der Unternehmen die Standortpolitik in Deutschland als gut.
Das ist ein großer Erfolg.
({1})
Das alles haben wir trotz Finanz- und Wirtschaftskrise
und trotz Euro-Schuldenkrise erreicht. Daran hat die
Forschungs- und Innovationspolitik einen großen Anteil.
Am Ende der Legislaturperiode werden wir gegenüber 2005 - die Zahl ist schon mehrfach genannt worden, aber sie muss auch heute wieder genannt werden einen Zuwachs des Bildungs- und Forschungsetats im
Bundeshaushalt um sage und schreibe 74 Prozent haben.
Das ist mit Ausnahme des asiatischen Raums weltweit
die Spitzenposition.
({2})
In der Tat kann man sagen: Das EFI-Gutachten ist
kein Gefälligkeitsgutachten, sondern es zeigt uns, an
welchen Stellen es noch etwas zu tun und zu verbessern
gibt. Frau Sitte und Frau Sager, an allen Punkten, die Sie
aufgeführt haben, arbeiten wir im Augenblick. Da die
Legislaturperiode nicht zwei Jahre, sondern vier Jahre
umfasst, ist es vernünftig, sich ein Programm für die
Dauer von vier Jahren vorzunehmen und nicht alles in
das erste Jahr hineinzupacken. Wir werden in den nächsten zwei Jahren die anderen Punkte abarbeiten.
({3})
Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen
ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Deswegen werden
wir an der Einführung der steuerlichen Forschungsförderung in dieser Legislaturperiode festhalten, sobald der
Haushalt das zulässt. Wenn Sie die Medienberichterstattung der letzten Wochen verfolgt haben, dann wissen
Sie, dass sowohl bei der Klausurtagung der CSU in
Kreuth als auch bei der CDU-Vorstandstagung in Kiel
explizit Beschlüsse gefasst wurden, in denen diese
Punkte enthalten sind. Diese Beschlüsse wurden von allen und nicht nur von den Forschungspolitikern mitgetragen.
Vor einer Sache möchte ich warnen: Jeder, der sich
mit Innovationspolitik in Deutschland beschäftigt, versteht, dass man den Mittelstand nicht gegen die Großindustrie ausspielen kann.
({4})
Eine steuerliche Forschungsförderung muss sowohl den
Mittelstand als auch die Großindustrie, also den gesamten Standort, umfassen, weil nämlich vernetzt geforscht
und entwickelt wird. Man darf also nicht den einen gegen den anderen ausspielen.
Ähnliches gilt für die Themen Wagniskapital und
Business Angels, bei denen wir nach wie vor strukturelle
Defizite haben. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass
wir in der Großen Koalition nicht die Kraft hatten, in
diesem Bereich etwas Vernünftiges hinzubekommen.
Auch daran arbeiten wir im Augenblick. Wir werden
auch da Verbesserungen erreichen, sobald der Haushalt
dies zulässt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung
des Kollegen Rossmann?
Ja.
Herr Rupprecht, wir sind in Bezug auf die steuerliche
Förderung etwas erregt, weil es von Ihnen und vor allem
vonseiten der Ministerin schon Presseerklärungen und
Ankündigungen gab, dass diese Förderung in den Jahren
2010 und 2011 eingeführt werden sollte. Es ist immer
wohlfeil zu sagen, dass man daran arbeitet. Meine Frage
ist daher: Wann wird diese steuerliche Förderung kommen?
Ich habe noch eine zweite Frage. Halten Sie den Unterschied zwischen 600 Millionen und 2 Milliarden Euro
für relevant? Ist heute Ihre Botschaft, dass dieser Unterschied keine Relevanz hat? Dann müssten Sie ja - um
meine Frage einzuleiten - zu einer Differenzierung kommen. Meine Frage ist: Sind Sie zur Differenzierung bereit, oder schließen Sie eine Differenzierung aus?
Zum ersten Punkt, zum Zeitablauf. Sie werden nicht
gehört haben, dass ich mich abschließend auf einen Einführungszeitpunkt festgelegt habe; denn ich bin mir bewusst, dass das ein Thema für die ganze Legislaturperiode
ist und dass wir angesichts der großen Krisen im Augenblick beim Haushalt ganz klar Prioritäten zu setzen haben.
Deswegen haben sich die Pressemeldungen auf das Konzept bezogen, das wir einführen wollen. Der Ablauf war
in der Unionsfraktion ganz klar. Ähnlich war es bei den
FDP-Kollegen. Wir haben zunächst intern in den Fraktionen Eckpunkte formuliert. Diese Eckpunkte liegen vor.
Diese haben in der Unionsfraktion einen sehr ausführlichen Diskussionsprozess ausgelöst. Zum Schluss gab es
einen Beschluss aller fachpolitischen Gremien, der besagt: Wir wollen das. Eine entscheidende Frage ist noch
offen: Wann soll das in dieser Legislaturperiode sein? Das
ist eine Frage der Finanzierung. Ich glaube, das ist vernünftig. Alles andere würde die Bevölkerung nicht verstehen.
({0})
Herr Rossmann, ich will noch Ihre zweite Frage beantworten. Sie fragten nach der Differenzierung. Noch einmal: Ich bin mit Blick auf die Vernetzung von Innovationen der festen Überzeugung, dass sich der Mittelstand in
Deutschland nicht entwickeln kann, wenn es keine Großindustrie gibt. Der Mittelständler, der der Automobilindustrie zuliefert, der Mittelständler, der als Maschinenbauer zuliefert, braucht Innovationsnetzwerke mit der
Großindustrie.
({1})
- Frau Sager, es bringt uns nichts, wenn EADS nach Paris geht, weil der Mittelständler dann in Paris zuliefern
wird.
({2})
Deswegen ist es entscheidend, dass im Wettbewerbsvergleich zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen
Deutschland und anderen Ländern Deutschland auch im
Bereich der Großindustrie punktet. Ich stimme Ihnen zu
- das ist unser Konzept -, dass der Mittelstand höhere
Sätze bekommen soll.
({3})
Unser Vorschlag ist, dass der Mittelstand dreimal höhere
Sätze bekommt als die Großindustrie bzw. die Großindustrie entsprechend niedrigere Sätze, aber trotzdem davon
partizipiert. Wenn Sie mich persönlich fragen - darüber
gibt es keinen Beschluss der Koalitionsfraktionen -, ob
ich der Meinung bin, dass man im Zweifelsfalle mit einer
Mittelstandskomponente beginnen sollte, um den Einstieg zu schaffen, so sage ich: Wenn wir feststellen, dass
uns in einem Jahr nach wie vor die Euro-Schuldenkrise,
die Haushaltskonsolidierung und anderes den großen
Wurf erschweren, dann sollte man mit einem kleinen
Schritt anfangen. Ich teile aber nicht die Position von
Frau Sager, dass man auf Dauer die Großindustrie draußen lassen sollte.
({4})
Wir brauchen bei all diesen steuerlichen Maßnahmen
natürlich die Zustimmung der Ministerpräsidenten. Ich
stelle die Frage an Sie, ob Sie es gewährleisten können,
dass die SPD-Ministerpräsidenten den steuerlichen Maßnahmen auch zustimmen können?
Beim Kooperationsgebot und bei der Verfassungsfrage
stimmen wir mit Ihnen überein, dass wir für die befristeten Pakte, sobald sie auslaufen, eine längerfristige Lösung brauchen. Deswegen wird in wenigen Tagen der
Wissenschaftsrat beauftragt, bis 2013 einen Vorschlag
vorzulegen. Zur Wahrheit gehört aber auch, sehr geehrte
Damen und Herren, dass es noch nie so viel Kooperation
und noch nie so viel Geld des Bundes für originäre Länderaufgaben im Bereich der Bildung gab wie heute:
Hochschulpakt, Bildungspaket, Bildungsketten und vieles andere mehr. Zu behaupten, derzeit wäre es nicht möglich, dass wir im Bereich der Bildung vonseiten des Bundes den Ländern unter die Arme greifen, ist eine
Falschaussage. Im Gegenteil. Im Augenblick tun wir das
so stark wie noch nie.
({5})
Ich muss leider zum Ende kommen. Gerne würde ich
noch etwas zum Thema Fachkräfte sagen. Dazu steht
nicht nur etwas im EFI-Gutachten, sondern das Kabinett
hat auch bereits ein Maßnahmenbündel beschlossen, das
insbesondere Absolventen ausländischer Hochschulen in
Deutschland das Aufenthaltsrecht erleichtert, was wir
auch wollen. Dies werden wir im Frühjahr auch im
Deutschen Bundestag beschließen. Summa summarum
heißt das, dass wir die Punkte, die in dem EFI-Gutachten
angesprochen sind, in der Legislaturperiode sehr wohl
bearbeiten und auch umsetzen werden.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. 2005, als wir
die Regierung übernommen haben, betrug die Arbeitslo18376
Albert Rupprecht ({6})
sigkeit 5 Millionen. Jetzt, nach sieben Jahren, gibt es so
viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wie noch
nie. Wir haben eine so geringe Arbeitslosigkeit wie seit
20 Jahren nicht. Das ist auch eine Leistung unserer Innovations- und Forschungspolitik.
Danke schön.
({7})
Kollege Rupprecht, gestatten Sie mir den Hinweis:
Die mehrfache Ankündigung des Endes der Rede ersetzt
nicht den Schlusspunkt.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Nadine Schön für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann nahtlos an den Kollegen Rupprecht
anschließen: Ja, wir können stolz sein auf unser Land.
Deutschland gehört im Vergleich von 26 Industrieländern zu den vier innovativsten Standorten weltweit. Zu
diesem Ergebnis kam unlängst der Innovationsindikator
2011.
Das ist ein sehr großer Erfolg, vor allem, wenn man
weiß, dass wir 2005 noch auf dem zehnten Platz lagen.
Unter CDU/CSU-geführten Regierungen sind wir in die
Weltspitze aufgerückt; und darauf können wir wirklich
stolz sein.
({0})
Der Innovationsindikator wie auch das EFI-Gutachten,
über das wir heute reden, sagen ganz klar: Deutschland
ist auf Erfolgskurs. Wir sind innovativ, wir sind international konkurrenzfähig, und wir haben gute Zukunftsperspektiven.
Was sind die Gründe für den Erfolg? An erster Stelle
sind es die Investitionen. Trotz Krise - das haben die
Kollegen bereits gesagt - hat Deutschland in den letzten
Jahren konsequent in Bildung und Forschung investiert.
Seit 2005 sind die Ausgaben des Bundes in diesem Bereich um 42 Prozent gestiegen.
Als Mitglied des Wirtschaftsausschusses will ich auch
die Privatwirtschaft erwähnen. Auch hier sind die Ausgaben in Forschung und Entwicklung gestiegen, und
zwar um 20 Prozent seit 2005. Das ist eine beachtliche
Zahl; sie muss auch erwähnt werden. Diese Investitionen
sind der Treibstoff für Innovationen. Sie sind der Grund
dafür, weshalb unser Land gerade in der aktuellen Krise
so gut dasteht. Das wird in allen Studien positiv herausgestellt.
({1})
Gelobt werden in den Gutachten neben den Investitionen auch die Programme der Bundesregierung, vor allem die Hightech-Strategie. Als Abgeordnete, die aus einem Land kommt, das sich gerade im Strukturwandel
befindet - weg von der Montanindustrie, hin zu einem
modernen Industrie- und Technologiestandort -, nämlich
dem Saarland, weiß ich um die Bedeutung dieser Programme, wie etwa das Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand, das für die Unternehmen vor Ort wirklich
sehr wichtig ist. Dieses Programm haben wir gerade
wieder um 500 Millionen Euro aufgestockt. Solche Programme sind wichtig; sie sind wirkungsvoll, sie sind effektiv, und davon profitieren alle. Das sind die Gründe
für den Erfolg Deutschlands in der Welt.
Allerdings dürfen wir uns darauf nicht ausruhen; da
gebe ich Ihnen völlig recht. Die Konkurrenz schläft
nämlich nicht. China beispielsweise fördert seine FuETätigkeiten jährlich mit 100 Milliarden Euro. Auch andere Regionen und Staaten streben dynamisch voran.
Wir dürfen mit den derzeitigen guten Plätzen nicht zufrieden sein; wir müssen vielmehr immer besser werden,
wenn wir diese Spitzenpositionen verteidigen wollen.
Deshalb brauchen wir noch innovationsfreundlichere
Rahmenbedingungen.
Was wir uns vorstellen, haben die Kollegen bereits
angesprochen: zunächst die steuerliche Forschungsförderung. Egal ob Weltkonzern oder innovativer Mittelstand - in unseren Gesprächen vor Ort hören wir immer
wieder, dass die steuerliche Forschungsförderung in den
Betrieben ein wichtiges Thema ist. Auch das EFI-Gutachten empfiehlt ein solches Instrument.
Wir wissen sehr wohl: Man muss die steuerliche Forschungsförderung mit Bedacht angehen. Auch Sie haben
sie in Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt. Natürlich ist
die Haushaltskonsolidierung immer unser prioritäres
Ziel; das sage ich vor allem als junge Abgeordnete. Meiner Meinung nach liegen jetzt gute und machbare Vorschläge auf dem Tisch. Wir wissen um die Chancen dieses Instruments. Deshalb sollten wir diese Ideen nicht
aus den Augen verlieren.
({2})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Wagniskapital.
Unser Problem: In Deutschland entstehen die Ideen, umgesetzt werden sie aber in anderen Ländern. Neben MP3
und der Tintenstrahltechnik gibt es viele weitere Beispiele: Die Ideen wurden in Deutschland entwickelt, in
amerikanischen oder asiatischen Unternehmen jedoch
wurden sie zu marktfähigen Produkten gemacht. Wir
aber wollen, dass in Deutschland nicht nur die Ideen entstehen, sondern dass hier aus den Ideen auch Produkte
werden und die entsprechende Wertschöpfung in
Deutschland stattfindet. Denn nur dann profitieren wir
alle von den Innovationen.
({3})
Der Knackpunkt dabei ist oft die Finanzierung auf dem
langen Weg von der Idee zum Produkt.
Für die Finanzierung haben wir den High-TechGründerfonds, seit vergangenem Jahr sogar den Gründerfonds II, mit großen Investitionen von Staat und Unternehmen. Das ist eine tolle Sache mit wirklich großer
Wirkung. Allerdings reicht das nicht: Wir brauchen in
Deutschland - das sieht man im Vergleich mit anderen
Nadine Schön ({4})
Ländern - noch mehr privates Kapital, zum einen für die
Gründungsphase, zum anderen für die ganz entscheidende Wachstumsphase. Auch hier liegen gute Vorschläge unsererseits auf dem Tisch, an die wir in den
nächsten Monaten herangehen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Innovationen entstehen vor allem in einer Gesellschaft, die Innovationen
will, die sie akzeptiert und zulässt. Deshalb brauchen wir
neben all den Rahmenbedingungen vor allem innovative
Köpfe. Wir brauchen Menschen, die Lust haben, etwas
zu erfinden, etwas zu tun. Das geht mit dem Spaß am
Tüfteln im Kindesalter los, geht mit dem Erfindergeist in
den Schulen weiter und mündet schließlich in dem Mut,
sich selbstständig zu machen, mit seinen Ideen nach außen zu gehen und den Mut zu haben, sich mit seinem
Produkt dem Markt zu stellen.
Dazu braucht es auch eine Gesellschaft, die für neue
Technologien, Fortschritt und Unternehmertum, aber
auch für Risiko offen ist. Daran, liebe Kolleginnen und
Kollegen, können wir alle arbeiten. Jeder von uns kann
etwas dazu beitragen und mithelfen, dass wir ein innovatives und erfolgreiches Deutschland und eine gute Zukunft haben.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
- Drucksache 17/2419 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor 21 Jahren wurde die deutsche Teilung überwunden.
Vier Jahre danach folgten der Beschluss zum Umzug
von Parlament und Regierung nach Berlin und das ihn
begleitende Berlin/Bonn-Gesetz, das die Aufteilung der
Bundesregierung auf die beiden Standorte Berlin und
Bonn regelte. Die Teilung der Bundesregierung war damit ein Preis für die deutsche Einheit. Seit vielen Jahren
schlägt Ihnen die Fraktion Die Linke die Wiedervereinigung der Bundesregierung in Berlin vor. Da sagen Sie
einmal, dass Sie hier keine lustvolle und kreative Opposition haben!
({0})
Die Linke garantiert: Keinem Bonner wird es
schlechter gehen. Die Fakten 2012 sind aber: Fast die
Hälfte der Regierungsmitarbeiter ist nach wie vor am
Standort Bonn. Auf der anderen Seite sind alle der Bundesstadt Bonn versprochenen Ausgleichsmaßnahmen
- im Sinne der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie des
Erhalts und der Fortführung des Betriebs von Liegenschaften - seit 2005 bei weitem übererfüllt, unter anderem durch die Ansiedlung von 19 UN-Behörden.
Diese Teilung erweist sich inzwischen als außerordentlich uneffektiv für das Regierungshandeln: Die Entscheidungsfindung dauert zu lange und wird durch bürokratische Teilung behindert. 170 Beamte des Bundes
sind auch in dieser Minute, in der wir jetzt debattieren,
in der Luft, zwischen Berlin und Köln/Bonn. In jüngster
Zeit haben wir erfahren: Die Teilung der Regierung ist
für akutes Reagieren in Krisensituationen absolut untauglich.
({1})
Natürlich ist Bonn eine wunderschöne Stadt, in der
auch ich zeitweilig gern gelebt habe.
({2})
Aber wie soll ein Absolvent einer britischen Universität,
der Bundesbeamter werden will, seiner englischen Partnerin auf dem Weg nach Deutschland erklären, dass der
Weg nicht in die Bundeshauptstadt Berlin, sondern nach
Bonn führt?
({3})
Die Linke stellt einen Antrag, der moderat und realitätsnah ist und dem Sie sich - das glaube ich - auch anschließen können. Wir nehmen Institutionen, wie beispielsweise das Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland, die in der Region Köln/Bonn inzwischen
fest verankert sind, selbstverständlich aus unseren Umzugsabsichten aus.
({4})
Nun wird mir gelegentlich vorgehalten, die Linke in
Bonn und Köln vertrete dazu eine andere Position. Das
stimmt ja auch. Ich sage allerdings: Na und? Das ist bei
allen anderen Fraktionen auch so.
({5})
Für unseren Antrag sympathisiert selbstverständlich eine
Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag. Die Ausnahme sind Abgeordnete aus den Landesgruppen NRW,
aber das ist in allen Fraktionen so.
Wenn Sie dauernd von uns verlangen, wir sollten so
etwas wie eine normale Partei werden, dann machen wir
das auch einmal. Aber dann dürfen Sie uns auch nicht
wieder dafür kritisieren, meine Damen und Herren.
({6})
Selbstverständlich ist die Linke offen für weitere und
bessere Ideen. Der Antrag liegt schon eine ganze Weile
vor, und wir werden ihn heute in den Ausschuss überweisen. Beispielsweise haben wir im Haushaltsausschuss in der Zeit von 2006 bis 2009 in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe sehr wohl darüber diskutiert.
Leider wurden wir kurz vor dem Ergebnis und dem Mut
zur Entscheidung aufgrund von Koalitionsentscheidungen und -anweisungen angehalten.
Wir machen das nicht, um die Bundesregierung zu ärgern, sondern um sie zu verbessern, und mehr können
Sie von einer Opposition nun wirklich nicht erwarten.
Wir handeln ganz im Sinne des berühmten Neujahresgebets aus Münster: Gib den Regierenden ein besseres
Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. Eine wiedervereinigte Bundesregierung in Berlin ist
möglich, meine Damen und Herren.
({7})
Ergo: Das Berlin/Bonn-Gesetz hatte seinen Sinn. Es
hatte seit 1994 auch eine gute und lange Zeit. Doch auch
hier gilt das Bibelwort: Ein jegliches hat seine Zeit. - Es
heißt nicht: Ein jegliches hat seine Ewigkeit.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Herrmann für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege
Claus, solche Worte aus Ihrem Mund zu hören, überrascht mich schon. Nichtsdestotrotz widersprechen Sie
der Wahrheit und nehmen nicht die Fakten wahr, die wir
zur Kenntnis nehmen müssen.
Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht wieder
einmal ein Show-Antrag. Sie haben selbst gesagt, dass
Sie ihn jährlich stellen, aber auch durch Wiederholungen
wird er sichtlich nicht besser. Wenn man den Tatbestand
dieses Berlin/Bonn-Gesetzes einmal aufarbeitet, dann
muss man sicherlich auch historische Aspekte berücksichtigen.
Die Hauptstadtfrage wurde 1990 im Einigungsvertrag
geregelt. Danach schloss sich aber die Frage an, wo der
Parlaments- und Regierungssitz sein wird. In einer langen, historischen und sehr emotional geführten Debatte
- das muss man einmal sagen, und der eine oder andere
Kollege unter uns war damals auch zugegen - wurde
dann mit sehr knapper Mehrheit beschlossen, dass der
Regierungssitz nach Berlin verlegt wird.
Auch als Nordrhein-Westfale sage ich hier ganz bewusst, dass das eine gute Entscheidung war. Sie ist historisch begründet und absolut vertretbar, und ich würde
diese Entscheidung auch am heutigen Tag wieder so mittragen.
Die Frage war allerdings: Wie geht es mit Bonn weiter? Wie geht es mit der Region rund um Bonn weiter,
die als vorläufiger Regierungssitz ohne Frage ein guter
Gastgeber war? Befürchtungen wurden laut, dass es zu
einem Verlust von Arbeitsplätzen kommen könnte, Organisationen würden die Region verlassen und die Infrastruktur entsprechend leiden.
Daher wurde 1994 das Berlin/Bonn-Gesetz auf den
Weg gebracht, in dem eine Vereinbarung über die Ausgleichsmaßnahmen in der gesamten Region rund um
Bonn vorgesehen war. Zusagen wurden dahin gehend
gemacht, Teile der Bundesregierung, Ministerien, aber
auch Bundesbehörden in Bonn zu belassen und die Ansiedlung internationaler Institutionen und Verbände voranzutreiben.
Diese Forderungen wurden bis zum Umzug des Deutschen Bundestages und 20 weiterer Bundesbehörden
nach Berlin im Jahre 1999 auch umgesetzt und festgeschrieben. Heute haben neun Ministerien ihren ersten
Sitz in Berlin, wobei auch hier immer noch die Frage zu
klären ist, ob der Erst- bzw. Zweitsitz in Bonn oder in
Berlin liegen soll; darüber gibt es aber auch Absprachen.
Natürlich - und das muss man ehrlicherweise auch
sagen - hat es Verschiebungen in der Personalstruktur
gegeben. Heute sind 55 Prozent der Beschäftigten in den
Ministerien hier in Berlin angesiedelt; nur noch 45 Prozent sind in Bonn angesiedelt. Das ist zulässig, obwohl
das Gesetz sagt, dass die Mehrheit eigentlich in Bonn
verbleiben soll. Das ist aus meiner Sicht zulässig, weil
die Organisationshoheit bei den Behörden, also bei der
Regierung, liegt.
Eine Frage ist für mich als Haushälter ganz entscheidend: Wie sieht es mit den Kosten aus? Wir haben uns
oftmals irgendwelche Geschichten, Vermutungen und
Gerüchte anhören müssen, wie teuer es ist, die Institutionen in Bonn aufrechtzuerhalten. Seit 2008 gibt es erfreulicherweise einen Teilungskostenbericht, den wir als
Haushälter eingefordert haben. Darin sind Zahlen, Daten
und Fakten genannt worden, die für mich ein überraschend deutliches Ergebnis gebracht haben: Die zweigeteilte Struktur ist gar nicht so teuer, wie wir immer vermutet haben. Die Kosten sinken sogar. Das muss man an
dieser Stelle festhalten. 2010 haben wir noch 10,6 Millionen Euro für Flüge von Mitarbeitern oder den Aktentransport zwischen Bonn und Berlin ausgegeben. 2011
waren es nur noch 9,2 Millionen Euro, und in diesem
Jahr werden wir voraussichtlich nur noch 8,8 Millionen
Euro zur Verfügung stellen müssen.
Die Haushälter haben im Übrigen immer eingefordert, dass nur notwendige Dienstreisen, zum Beispiel zu
Ausschusssitzungen, erfolgen und ansonsten viel mehr
Video- und Telefonkonferenzen einberufen werden.
({0})
Außerdem - das mag vielleicht kein tragendes Argument
sein, aber es kam ja auch gerade von der Opposition bietet Bonn auch im Hinblick auf die Nähe zu gewissen
Institutionen Vorteile. Brüssel ist nicht sehr weit entfernt.
Ein gewichtiges Argument ist für mich allerdings die
Frage: Was würde der Umzug in Gänze kosten? Welche
Auswirkungen hätte er insgesamt? Bisher haben wir
circa 9 Milliarden Euro für den Umzug nach Berlin ausgegeben. Da können die Vorschläge der Linken noch so
gut sein, dass man das Tempelhofer Feld nutzen sollte,
um dort Regierungsbauten zu errichten. Es wäre auch
schön, wenn wir dort wieder einen Flugplatz hätten;
dann könnte man die Dinge noch viel besser zusammenbringen.
({1})
Aber es würde Milliarden kosten, das umzusetzen.
Auch die Rekrutierung von Arbeitskräften wäre nicht
einfach. Ich erinnere an den demografischen Faktor, mit
dem wir uns schon jetzt bei der Haushaltsaufstellung
auseinandersetzen müssen; denn es gibt nicht mehr sehr
viele junge Leute, die freiwillig in den öffentlichen
Dienst gehen. Das schwache Argument der Linken, Berlin sei so hip, dass alle nach Berlin kommen würden, um
hier zu arbeiten, scheint mir nicht sehr überzeugend.
Diejenigen, die in der Rhein-Region leben, wissen, wie
schön es dort ist.
({2})
Zudem wären Sonderregelungen für Beschäftigte erforderlich. Diese Erfahrung haben wir in vielen Bereichen schon gemacht. Als der Umzug der Ministerien damals geplant wurde, war es erforderlich, Maßnahmen in
Bezug auf Reisekosten, Trennungsgeld usw. zu treffen,
und viele waren nicht bereit, freiwillig zu gehen. Einige
haben wir überzeugen können, ihren Wohnsitz nach Berlin zu verlegen, keine Frage. Aber was würde passieren,
wenn wir von allen verlangen würden, umzuziehen? Ich
glaube, das wäre der Arbeitsmoral und der Arbeitsbereitschaft nicht dienlich.
Wir haben unter anderem damit zu kämpfen - das
muss man an dieser Stelle noch einmal sagen -, dass
Vereine, Organisationen, NGO und Stiftungen nicht
mehr bereit wären, in Bonn zu bleiben. Auch darüber
muss man sich im Klaren sein; denn letztendlich suchen
sie die Nähe zur Regierung.
Das würde dazu führen, dass sich Bonn in vielen Bereichen wieder verschlechtern würde. Die Ängste, die
damals mit Blick auf den Umzug aufkamen, nämlich
dass Bonn zu einer Region verkommt, in der nichts mehr
los ist, würden wieder geschürt.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
steht zum Berlin/Bonn-Gesetz und zu dem Wort, das wir
der Bonner Region damals voller Überzeugung und mit
großer Mehrheit gegeben haben. Daran wird sich erst
einmal nichts ändern lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Argumente für einen Verbleib in Bonn
deutlich besser sind als die dagegen.
Herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Johannes Kahrs hat für die SPD das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte gehört zu denen, die für einen
Abgeordneten relativ schwierig sind. Denn auf der einen
Seite hat man Grundüberzeugungen, und auf der anderen
Seite ist die Diskussionslage sehr differenziert.
({0})
- Außerdem wird man von Staatssekretären genötigt. Zum einen ist es so, dass man der heutigen Linkspartei
dafür danken muss, dass sie damals mit ihren Stimmen
dazu beigetragen hat, dass die Hauptstadt umziehen
konnte. Ich finde, das kann man durchaus erwähnen. Das
war ein vernünftiger Beitrag.
({1})
- Ich lobe nicht wirklich häufig die Linkspartei. Wenn
ich es dann einmal tue, dann möge man es mir durchgehen lassen. In diesem Fall ist es, glaube ich, vernünftig.
({2})
Zum anderen glaube ich, dass wir damals einen richtigen
und einen guten Beschluss gefasst haben. Bonn ist die
Hauptstadt.
({3})
Das ist auch gut so. Ich selber bin Hamburger, ich bin
Haushälter und als solcher würde ich das gerne bewerten.
Wir haben von der Linkspartei gehört, dass sie den
Umzug gerne sehr schnell hätte, am besten sofort. Ich
glaube, dass das nicht funktioniert. Danach haben wir ei18380
nen historisch rückblickenden Beitrag bekommen, wie
die Gesetzeslage ist, und den Hinweis, dass man sich an
Gesetze halten muss. Das ist richtig. Aber wir alle wissen auch, dass Gesetze evaluiert werden müssen, dass
man überprüfen muss, ob Gesetze noch zeitgemäß sind.
Man muss auch in der Lage sein, Gesetze zu evaluieren,
insbesondere nach über 15 Jahren. Das tun wir in vielen
anderen Bereichen auch.
Man muss an dieser Stelle all denjenigen danken, die
diese Zweiteilung überhaupt möglich machen, nämlich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zwischen
Bonn und Berlin pendeln müssen. Das ist nicht wirklich
einfach. Einige von ihnen verbringen ein Drittel ihrer
Arbeitszeit auf Reisen.
({4})
Sie stehen bei uns im Haushaltsausschuss teilweise den
ganzen Tag vor der Tür, dann wird der Tagesordnungspunkt aber abgesetzt und sie fahren zurück.
({5})
So läuft es weiter. Ich glaube, dass man würdigen muss,
was die Mitarbeiter auf sich nehmen. Es ist ein wichtiges
Zeichen, das immer wieder zu erwähnen.
Wenn man am Berlin/Bonn-Gesetz irgendetwas ändern sollte, dann muss man das in einem breiten Konsens machen. Es geht hier nicht um Fragen von Regierung oder Opposition. Man muss gemeinsam überlegen,
wie man einen vernünftigen Weg findet. Deswegen wird
die SPD heute den Antrag der Linkspartei ablehnen, weil
ich glaube, dass es nichts bringt, einen Hauruck-Antrag
vorzulegen. Man muss sich vielmehr überlegen, wie man
eine entsprechende Regelung vernünftig ausgestaltet.
Einfach einen Komplettumzug zu fordern, ist ein Totschlagargument. Damit wird keine Debatte angestoßen,
die wirklich interessant ist.
Als bekannt wurde, dass ich in dieser Debatte rede,
hatte ich sofort ein Gesprächsangebot von meinem Bonner Kollegen Uli Kelber.
({6})
Das ist in jeder Fraktion so, aber ich muss sagen: Wenn
ich Bonner Bürger wäre, würde ich gar nicht anders können, als Uli Kelber zu wählen,
({7})
weil er die Interessen Bonns massiv und energisch vertritt.
({8})
- Das ist ganz wunderbar. Das ist ja auch richtig.
({9})
Es ist richtig, die Wahlkreisinteressen zu vertreten, man
muss sie auch vertreten können, und auch die Bundesländer müssen ihre Interessen vertreten können. Aber ich
finde, es gibt auch ein gesamtstaatliches Interesse. Bei
diesem gesamtstaatlichen Interesse muss man sich überlegen, wie man einen Zustand erreichen kann, der dazu
führt, dass wir in Berlin eine vernünftige Arbeitsweise
entwickeln können, ohne dass man Bonn nachhaltig
schädigt; das will keiner. Ich habe dort ein ganz reizendes Jahr verbracht.
({10})
Die Haushälter innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion haben einmal für sich aufgeschrieben, wie sie sich
so etwas vorstellen können: eine stetig weitergeführte
Konzentration ministerieller Kernaufgaben in Berlin und
die Erledigung von Verwaltungsaufgaben in Bonn, und
das über einen vertretbaren mehrjährigen Zeitraum. Ich
finde, das ist angemessen, um Nachteile für Bonn und
hohe Zusatzkosten eines zeitnahen Umzugs großer
Funktionsbereiche der Bundesregierung nach Berlin zu
vermeiden. Wenn man das als Maßstab nimmt, dann
kommt man zu vernünftigen Ergebnissen.
Der Bundesregierung muss mehr Freiheit für die Ausübung ihrer Organisationshoheit gegeben werden. Dazu
ist es meiner Meinung nach notwendig, § 4 Abs. 4 des
Berlin/Bonn-Gesetzes aufzuheben. Damit gibt man der
Bundesregierung die Flexibilität, die sie braucht. Im Verteidigungsbereich haben wir es gesehen: Große Teile der
Bundesregierung mühen sich, vernünftig damit klarzukommen.
({11})
Gleichzeitig wäre es zielführend, § 4 Abs. 2 und 3 aufzuheben, um eine freie Aufteilung der Erst- und Zweitdienstsitze zu ermöglichen. Man muss aber auch überlegen, welche Verwaltungsbereiche sinnvollerweise in
Bonn verbleiben oder hinzukommen können.
Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man die Möglichkeit schafft, die Verantwortung für den Bund weiter
auszubauen bzw. aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig
die Region Bonn unberührt zu lassen. Das ist relativ
schwierig, aber im Ergebnis sehen wir, dass es zurzeit
nicht um die Frage geht: Wie viele Tonnen Post transportiere ich hin und her - ob es 1 oder 2 pro Tag sind -,
oder wie viele Tausende von Kilometern werden geflogen? Das ist nicht der Punkt. Die Frage ist: Wie bekommt man gutes Regieren hin?
({12})
Ich selber bin Berichterstatter für den Bereich Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Da ist es sehr viel praktischer, wenn man mit den Mitarbeitern reden kann,
wenn man sich mit ihnen trifft, wenn man kurzfristig
eine Konferenz anberaumen kann. Wenn die in Bonn sitzen, ist das relativ schwierig. Ich glaube, dass das zur
Lebenswahrheit gehört und dass man sich anschauen
muss, wie man es vernünftig hinbekommt.
Ein Kompromiss ist immer sinnvoll, setzt aber auch
voraus, dass die Beteiligten kompromissbereit sind. Zu
sagen: „Ein Gesetz ist ein Gesetz, und das muss ewig so
bleiben“, widerspricht der Praxis in diesem Hause. Wir
sind ständig dabei, Gesetze zu evaluieren und zu ändern.
Früher unter Rot-Grün gab es die Nachbesserung von
Gesetzen,
({13})
damit sie lebensnah und lebenspraktisch werden. Die
Lebensrealität in diesem Land ändert sich. Die Region
Bonn ist wirtschaftlich hervorragend aufgestellt. Ich
glaube, dass man zusammen einen vernünftigen Weg
finden muss. Ich glaube auch, dass man hierbei nicht in
Kategorien wie Regierung und Opposition denken sollte.
Gruppenanträge könnten zum Beispiel hilfreich sein.
Die Abgeordneten der jeweiligen Fraktionen könnten ihrer Auffassung folgen, und man könnte gemeinsam ein
Ergebnis erreichen, mit dem am Ende alle leben können.
Dazu muss man einen vernünftigen Vorschlag vorlegen.
Kompromisse sind immer gut und wären hier wichtig.
Die Diskussion über die Aufteilung der Regierungsfunktionen wäre dauerhaft beendet.
Zurzeit wächst der Frust bei vielen Abgeordneten im
Deutschen Bundestag, weil man bei diesem Thema immer auf eine Totalblockade stößt. Da wir bei jeder Wahl
neue Abgeordnete bekommen, die Bonn nicht kennen,
wird das irgendwann dazu führen, dass das ganze Gesetz
gekippt wird, so wie es die Linkspartei fordert. Das kann
weder im Interesse der Bonner noch im Interesse aller
anderen sein. Deswegen halte ich einen vernünftigen
Prozess, den alle gemeinsam unterstützen, für sinnvoll.
Ich glaube, dafür müssen sich einige bewegen. Wenn die
örtlichen Abgeordneten weiter für ihren Wahlkreis
kämpfen, ist das gut - das tun andere auch -, der Rest
hat aber gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen.
Vielen Dank.
({14})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Florian
Toncar das Wort.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Antrag ist - Herr Claus hat es selber
gesagt - im Grunde genommen ein Dauerbrenner. Man
muss festhalten: Die Linken haben die Wirtschaftlichkeit
nicht immer im Blick, aber dass man eine Idee fünfmal
zu einem Antrag macht, ist ausgesprochen wirtschaftlich. Diese Erkenntnis des heutigen Tages möchte ich für
das Protokoll festhalten.
({0})
Ich möchte einige Punkte nennen, warum der Antrag
heute nicht unsere Zustimmung bekommt.
Zum einen wird in dem Antrag behauptet, die Rolle
Berlins als Bundeshauptstadt werde dadurch geschwächt, dass es Ministerien gibt, die zwei Dienstsitze
haben, und dass die Beamten auf zwei Städte verteilt
sind. Ich glaube, dass das eine ziemliche Übertreibung
ist. Heute ist völlig unstrittig, dass Berlin die richtige
Bundeshauptstadt ist und dass es diese Funktion voll
ausfüllen kann. Berlin ist eine Metropole, die sich gewaltig entwickelt hat. Es ist eine weltoffene Stadt und
eine Weltstadt geworden. Die Anerkennung für Berlin
im In- und Ausland ist - meines Erachtens zu Recht gewachsen. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob
alle Ministerien in Berlin sind oder nicht.
({1})
Im Übrigen darf man sich nicht nur anschauen, wohin
die Touristen gehen, sondern man muss auch schauen,
wohin unsere Bürger gehen, wenn sie politische Anliegen haben. Wo wird für oder gegen etwas demonstriert?
Kommt irgendjemand auf die Idee, das in Bonn zu machen, oder ist es nicht vielmehr so, dass die politische
Meinungsbildung, dass Versammlungen in Berlin stattfinden?
({2})
Berlin hat die politische Funktion, aber auch die kulturelle Funktion einer Hauptstadt. Das hat wirklich nichts
damit zu tun, wie viele Stellen heute noch wo angesiedelt sind. Das muss man einmal festhalten.
({3})
Der zweite Punkt. Die Teilungskosten, das heißt die
Kosten der zwei Dienstsitze, werden übertrieben dargestellt. Die Berichte liegen vor. Es sind circa 10 Millionen
Euro pro Jahr. Die Kosten werden in den nächsten Jahren tendenziell sinken. Dies hängt auch mit modernen
Technologien zusammen. Die Akten, die früher auf dem
Postweg, zum Beispiel mit Flugzeugen, transportiert
werden mussten, werden heute per E-Mail verschickt.
Das kostet nichts. Auch das muss man sehen.
Eine Komplettverlagerung innerhalb kürzester Zeit
nach Berlin würde erst einmal erheblich Geld kosten. In
Berlin wären Investitionen in Milliardenhöhe notwendig, um die Gebäude herzurichten, auszustatten etc. Die
Beamten, die Mitarbeiter aus den Ministerien würden
entsprechende Leistungen für den Umzug bekommen.
Das alles würde von der öffentlichen Hand finanziert
werden. Das heißt, man müsste in den nächsten Jahren
sehr viel Geld in die Hand nehmen, und das in einer Zeit,
in der es darum geht, dass wir die Nullverschuldung, einen Haushalt ohne neue Schulden, schaffen. Ich glaube,
dass solche hohen Investitionskosten nicht mit diesem
Ziel, das wir in den nächsten fünf Jahren vorrangig anzustreben haben, zu vereinbaren wären.
Auch nach dem Vorschlag der Linken hätten die
Ministerien, die dann alle in Berlin wären, natürlich getrennte Dienstsitze. Auch dann wären also nicht alle unter einem Dach, sondern Sie schlagen die getrennte Unterbringung innerhalb einer Stadt vor. Dies würde in
jedem Fall weitere Kosten nach sich ziehen, weil es unterschiedliche Dienstsitze nebeneinander gäbe. Wenn
man sich genau anschaut, was Sie eigentlich fordern,
muss man feststellen, dass sich die Einsparungen, die Sie
sich davon versprechen und die Sie den Bürgern versprechen, etwas relativieren.
Auch wir als FDP-Fraktion wollen, dass die Kosten,
die mit dem Vorhandensein zweier Dienstsitze verbunden sind, optimiert werden. Hier besteht in der Tat noch
Handlungsbedarf. Da geht es beispielsweise um die
Frage: Verfügen die unterschiedlichen Ministerien eigentlich über die entsprechende Technik, zum Beispiel
über die erforderliche Konferenztechnik, um Videokonferenzen durchführen zu können, damit man nicht ständig mit dem Flugzeug unterwegs sein muss, um sich einmal persönlich zu treffen? Es gibt heutzutage ganz
hervorragende technische Lösungen, mit denen wir,
wenn wir sie einsetzen würden, Reisekosten sparen
könnten.
Natürlich muss man, auch aus Sicht des Bundestages,
kritisch hinterfragen, ob tatsächlich in jeder Ausschusssitzung die persönliche Anwesenheit jedes zuständigen
Mitarbeiters einer Bonner Liegenschaft nötig ist oder ob
nicht manche Leute für wenige Minuten, in denen sie
vielleicht noch nicht einmal etwas sagen müssen, nach
Berlin kommen und einen ganzen Arbeitstag mit einer
Reise verbringen. Auch der Deutsche Bundestag kann
also im täglichen Betrieb Kosten optimieren.
Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Sie haben in Ihrem Antrag geschrieben: Gerade jetzt, in der
Wirtschafts- und Finanzkrise, brauchen wir handlungsfähige Ministerien und Strukturen. - Deshalb wollen Sie
innerhalb der nächsten fünf Jahre alles nach Berlin holen. Unabhängig davon, ob man einen oder zwei Dienstsitze richtig findet: Wenn Sie in fünf Jahren 10 000 Beschäftigte und ihre Familien nach Berlin holen und hier
neu unterbringen wollen, dann sorgen Sie garantiert für
eines, nämlich dafür, dass durch Umstellungen und Einarbeitung Ressourcen gebunden werden und die Menschen erst einmal anderes machen, als sich um ihre
Kernaufgaben zu kümmern. Es wäre für jede Struktur
und jede Verwaltung eine Belastung, würde man sie
schlagartig nach Berlin holen. Die Beschäftigten müssten sich, wie gesagt, hier erst einmal einarbeiten. Das
Argument, gerade angesichts der Wirtschaftskrise könne
man durch einen Komplettumzug für eine größere Handlungsfähigkeit sorgen, kann ich nicht nachvollziehen.
Das ist mit Sicherheit eher ein Argument, das konstruiert
ist und nicht trägt.
Im Übrigen muss man sagen: Wenn es in der Privatwirtschaft zu Unternehmensfusionen kommt, hat dies
meistens nicht zur Folge, dass zunächst einmal alles in
einer Liegenschaft zentralisiert wird. So geht man auch
in der Privatwirtschaft nicht automatisch vor. Es spricht
also einiges dafür, dass Effizienz nicht immer mit Zentralisierung einhergeht, sondern dass es erst einmal
wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass bestehende Arbeitseinheiten arbeitsfähig sind und arbeitsfähig bleiben und
nicht mit einem Umzug oder ähnlichen Dingen beschäftigt werden. Insofern ist Ihr Antrag, auch was die Kosten
und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung angeht, nicht
unbedingt weiterführend.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Konsens der Beteiligten. Auch ich glaube, es ist richtig, dass man sich
immer wieder fragt: Ist das eine sachgerechte Lösung?
Können wir damit gut arbeiten? Aber es ist auch wichtig,
dass man das Gespräch miteinander sucht, das Gespräch
mit der Stadt Bonn und das Gespräch mit den Beschäftigten. Es wundert mich, dass ausgerechnet die Linken
einen Antrag einbringen, der gar nicht mit den Beschäftigten besprochen worden ist; das finde ich bemerkenswert.
({4})
Es geht immerhin um 10 000 Menschen und die dazugehörigen Familien, die einfach mal eben nach Berlin geholt werden sollen;
({5})
diese Entscheidung würde, ginge es nach Ihnen, von
oben herab gefällt werden, ohne dass zuvor ein entsprechender Konsens erzielt worden wäre. Mit Beamten
kann man das machen. Das ist rechtlich möglich. Ob es
fair ist, dies ohne entsprechende Konsultationen zu tun,
ist eine andere Frage.
Konsens herzustellen, ist bei Veränderungen, die man
irgendwann einmal vornehmen will, die zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht auch überzeugender sind als
heute, sicherlich ganz wichtig. Darum muss man sich bemühen, bevor man solche Initiativen beschließt. Insofern
würde ich mir mehr Pragmatismus wünschen. Ich denke
allerdings, dieses Thema wird in den nächsten Jahren
nicht entscheidend sein, wenn es darum geht, die Finanzen zu retten und die Arbeit unserer Verwaltung zu verbessern.
({6})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Claus, wie lustvoll es bei der Linkspartei zugeht, weiß ich nicht;
({0})
das will ich auch gar nicht beurteilen. Ihre Rede jedenfalls war munter und spaßig; das gestehe ich Ihnen zu.
Zum Teil war das sogar Realsatire. Wenn Sie sagen,
diese Regierung hätte in der Finanz- und Euro-Krise bessere und zügigere Entscheidungen getroffen, wenn alle
Ministerien in Berlin gewesen wären, frage ich Sie: Wer
soll das bitte glauben?
({1})
Dazu, dass Sie auf die Frage, was denn noch in Bonn
bleiben soll, großzügig das Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland erwähnen, muss ich sagen:
Auch das ist eher Karneval.
({2})
Auch dass das Bundeszentralregister, das von Berlin
nach Bonn verpflanzt wurde, nicht wieder zurückverpflanzt werden soll: Danke schön für diese Großzügigkeit.
Eigentlich wollte auch ich damit anfangen, dass wir
ohne die PDS überhaupt nicht hier in Berlin wären. Frau
Vogelsang, das ist leider so. Ich war damals gemeinsam
mit den anderen Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus
- parteiübergreifend - abends im Schöneberger Rathaus.
Wir haben dort stundenlang gestanden - von Sitzen war
gar keine Rede - und auf das Ergebnis gewartet. Von daher weiß ich, wie hoch emotional das gerade für die Abgeordneten der CDU war. Sie hätten ihre Parteibücher
spontan zerrissen, wenn ein anderes Ergebnis herausgekommen wäre. Deswegen habe ich auch das Abstimmungsergebnis im Kopf: 338 zu 320. Deshalb: Ehre,
wem Ehre gebührt, und Schande, wem Schande gebührt.
Das muss man zu diesem Tag noch einmal sagen;
denn das geschah in einer Zeit, als hier ein ehemaliger
VEB nach dem anderen geradezu implodierte,
({3})
als wir die Aufgabe hatten, einen Wasserkopf Ost und einen Wasserkopf West der Verwaltungen zusammenzuführen, was natürlich nur durch Entlassungen möglich
war, und als gleichzeitig die Berlinhilfe West so gekürzt
wurde, dass auch die flache Produktion im Westen zusammenbrach. In dieser Situation hätte eine Entscheidung für Bonn bedeutet, dass wir hier die Bürgersteige
hochgeklappt hätten und wie in Dessau oder anderen
Städten im Osten nur noch über Stadtrückbau und darüber hätten reden müssen, wie es sich in einem großen
Freilichtmuseum lebt, das die Touristen besuchen, um
einmal zu sehen, wie eine Industriestadt ausgesehen hat.
Das alles ist uns erspart geblieben. Deshalb ist uns
dieser Beschluss auch so etwas wie heilig; das sage ich
ganz ausdrücklich. Nach Punkt 4 dieses Beschlusses soll
eine faire Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn vereinbart werden. Darin steht nicht: Wir schieben die Bonner irgendwann so über die Rolle, wie ihr Berliner beinahe über die Rolle geschoben worden wäret, wenn
40 Jahre Sonntagsreden über deutsche Einheit und über
Hauptstadt Berlin in die Tonne getreten worden wären. Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu: Dieses Motto gilt auch hier.
({4})
Herr Kollege Claus, ich muss auch sagen, dass es
mich wundert: Sie schreiben zwar, wie prächtig sich
Bonn entwickelt hat - das stimmt -, aber Sie verschweigen, dass sich auch Berlin in dieser Zeit ganz prächtig
entwickelt hat.
({5})
- Ja. - Ich darf Sie erinnern: Zehn Jahre lang trug Ihre
Partei hier Verantwortung; Ihr Gregor Gysi nur sechs
Monate und den Rest der Zeit Ihr Harald Wolf.
Auch als Opposition sage ich jetzt einmal zu diesem
rot-roten Senat: Das ist eine positive Entwicklung. Die
Jugend der Welt kommt heute nach Berlin und will hier
auch leben und arbeiten. Wir müssen keine Anwerbeprämien und keine Zitterprämien mehr zahlen. Das alles ist
nicht mehr nötig. Das war so nicht vorauszusehen. Deswegen können wir ganz gelassen sein und arbeitet die
Zeit auch irgendwo für Berlin.
({6})
Ich bin ja auch dafür, dass man flexibel ist, aber man
darf doch keine Basta-Politik machen und keinen entsprechenden Antrag - jetzt ist Schluss! - stellen. Wir
müssen den politischen Aushandlungsprozess weiterführen. Wenn es zum Beispiel im Rahmen einer Bundeswehrreform sinnvoll ist, hier Veränderungen herbeizuführen, dann soll man das tun. Das alles lässt sich lösen,
wenn man gleichberechtigt und ohne solche Scheuklappen bzw. Schubladen, wie „Bonn gegen Berlin“ oder
„Berlin gegen Bonn“, vorgeht.
Deswegen sage ich auch ganz bewusst: Die vielen
Aufpasserinnen und Aufpasser aus Bonn hier wären gar
nicht nötig gewesen. Wir in Berlin sind inzwischen sehr
gelassen.
({7})
Wir sind insoweit verostet, dass wir das Motto „Freitags
ab eins macht jeder seins“ übernommen haben.
({8})
Deswegen gibt es hier in dieser Runde nur relativ wenige
Abgeordnete aus Berlin.
({9})
- Herr Krestel, ich habe Sie nicht übersehen. Ich sage
nur: Hier sitzen relativ wenige Abgeordnete aus Berlin
im Vergleich zu den Aufpassern aus der Rhein-Ruhr-Region.
({10})
Von daher nehmen Sie das als Zeichen unserer Harmlosigkeit. Nehmen Sie das auch als Zeichen unserer Dankbarkeit. Wir wissen, wie viel Solidarität wir in Berlin erfahren haben. Deswegen treten und schlagen wir auch
nicht um uns.
Vielen Dank.
({11})
Auch Freitag nach eins gilt allerdings: Wenn das Minuszeichen vor der Redezeit auftaucht, ist sie tatsächlich
abgelaufen, Kollege Wieland.
({0})
- Woran lag es wohl, dass das so ist? Aber gut.
({1})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Volkmar Klein für die Unionsfraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Wieland hat gerade zu Recht darauf
hingewiesen, dass das gegenwärtig geltende Gesetz einen fairen Ausgleich zwischen Bonn und Berlin beinhaltet. Ich kann mir diesbezügliche Anmerkungen sparen
und vielleicht auf den Antrag zurückkommen, in dem
vorgegeben wird, sparen zu wollen. Offensichtlich hoffen die Antragsteller, dadurch gute Kommentare zu erhalten.
Nur, erstaunlicherweise sind Sparen und wirtschaftliches Denken normalerweise überhaupt nicht Sache der
Linken. Dennoch bekommen wir hier in regelmäßigen
Abständen einen solchen Antrag vorgelegt. Vielleicht
gibt es dafür auch ganz andere Gründe. Vielleicht will
eine Partei, deren eigene Historie von Stacheldraht und
Diktatur geprägt ist, vielleicht sogar zusammengehalten
wird, ein Symbol für Demokratie und Freiheit in
Deutschland am liebsten abschaffen; denn genau dafür,
für Freiheit und Demokratie in Deutschland, steht Bonn,
für Werte, die mit Bonn eigentlich in Deutschland erst
heimisch geworden sind.
Aber das gilt nicht nur für Freiheit und Demokratie.
Bonn steht auch für gelebten Föderalismus und Dezentralität. Einige Länder auf der Welt suchen für sich andere Hauptstädte, mit denen sie genau das dokumentieren können. Das sind natürlich alles Themen, mit denen
die Linken keinen Vertrag haben; all das sind Werte, mit
denen sie weiterhin fremdeln. Hier sollen offensichtlich
Traditionslinien gekappt und Identitäten deutscher Demokratie infrage gestellt werden. Das machen wir nicht
mit. Uns ist wichtig: Ohne Bonn in der deutschen Geschichte gäbe es auch keine Freiheit für Chemnitz.
({0})
Diese ist uns genauso wichtig.
({1})
Jetzt ist es natürlich nicht so, dass dies ein teures
Hobby wäre, wie hier und da insinuiert wird, ganz im
Gegenteil: Wir haben eben schon einiges zu den Zahlen
gehört. Wir müssen davon ausgehen, dass maximal 10
Millionen Euro an jährlichen Kosten für die getrennten
Standorte entstehen.
({2})
Wenn man aber einmal überlegt, was ein Umzug - die
Schätzungen liegen zwischen 3 und 5 Milliarden Euro kosten würde, dann kann man selbst bei dem heutigen
extrem niedrigen Zinsniveau zu horrenden Zinszahlungen kommen. Wenn wir von Kosten in Höhe von nur
3 Milliarden Euro und von nur 2 Prozent Zinsen ausgehen, dann macht das 60 Millionen Euro Zinsen im Jahr.
Das heißt, die ganze Operation, mit der vorgegeben
wird, sparen zu wollen, kostet aufgrund der horrenden
Zinszahlungen am Ende im Jahr viermal so viel wie
heute. Also auch wirtschaftlich ist dieser Antrag substanzlos.
Jetzt hat der Kollege Claus in seiner ihm eigenen
freundlichen Ironie eben auf die Normalität seiner Partei
hingewiesen und damit ein bisschen kaschiert - von Dialektik versteht man bei den Linken mehr als bei den anderen -, dass da noch einiges auszudiskutieren ist. Wenn
man sich die Anträge der Linken im nordrhein-westfälischen Landtag ansieht - er hat selber darauf hingewiesen -, stellt man fest, dass diese diametral in die andere
Richtung gehen. Da wird nicht nur gesagt: „Am Berlin/
Bonn-Gesetz muss festgehalten werden“, vielmehr soll
das sogar jede einzelne Position betreffen. Ich will das
jetzt nicht vorlesen; die Zeit können wir uns sparen. Es
ist die Landtagsdrucksache 15/2907. Ich schlage vor,
diese internen Probleme erst einmal bei den Linken selber zu klären.
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Kosten
weiter zu senken; auch das haben wir eben gehört. Dieser Prozess kann sicherlich noch verbessert werden.
Bonn muss jedenfalls ein Symbol für Freiheit und Demokratie in Deutschland bleiben.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({0}), Tom Koenigs, Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Regime in Syrien international isolieren
- Drucksache 17/8132
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Situation in Syrien ist wirklich dramatisch. Seit
mehr als zehn Monaten protestieren Hunderttausende in
Syrien gegen das Assad-Regime und riskieren dabei ihr
Leben. Mehr als 5 000 wurden laut UN-Angaben bisher
getötet, darunter mehr als 300 Kinder. Hunderte starben
durch Folter, auch darunter viele Kinder. Mehr als
60 000 Menschen werden vermisst. Das ist noch nicht
alles. Das IKRK darf keine Aufständischen versorgen.
Damit wird klar gegen Konventionen verstoßen. Staatliche Krankenhäuser werden zu Folterkammern. Ärzte,
die Aufständische versorgen, werden gefoltert und ermordet.
Ich denke, es geht den meisten hier so, dass es angesichts dieser Lage unerträglich ist, dass die internationale Gemeinschaft diesem Morden immer noch hilflos
zuschaut, weil das wichtigste für Frieden und Sicherheit
zuständige internationale Gremium, nämlich der UNSicherheitsrat, diese schweren Menschenrechtsverletzungen bis heute nicht einmal verurteilt, geschweige
denn Sanktionen verhängt hat. Ich halte das für einen
politischen Skandal.
({0})
Was sind die Gründe dafür? Es liegt vor allem daran,
dass Russland eine knallharte internationale Interessenpolitik betreibt, Kriegsschiffe für Assad auffährt und das
Regime weiter mit Waffen versorgt. Ich möchte an dieser Stelle Russland und China auffordern: Beenden Sie
Ihre Blockade im Sicherheitsrat! Der Sicherheitsrat muss
die Gräueltaten des Assad-Regimes klar verurteilen. Das
ist das Mindeste. Solange das nicht passiert, sind Sie
- auch das sage ich sehr deutlich - mitverantwortlich für
jedes weitere Morden in Syrien. Solange das nicht passiert und das Regime nicht endlich politisch isoliert
wird, wird es umso brutaler gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, weil es hofft, den Kampf doch noch
überleben zu können.
Immerhin haben die Europäische Union, die USA und
andere inzwischen Sanktionen, ein Öl- und ein Waffenembargo verhängt. Dass zum Beispiel das Ölembargo
wirkt, hat der syrische Ölminister gestern selbst gesagt.
Er hat von schweren Verlusten in Höhe von 2 Milliarden
US-Dollar gesprochen.
Ich denke, zumindest die vernünftigen Teile der Linken sollten die abstruse Position bestimmter Teile der
Fraktion noch einmal überdenken, dass solche Sanktionen Kriegsvorbereitung seien. Sie sind vielmehr die
nichtmilitärische Alternative zum Krieg.
({1})
Ich begrüße ausdrücklich, dass der Europäische Rat
am Montag seine Sanktionen weiter verschärfen will.
Ich denke auch, dass es ein wichtiger Schritt war, dass
die Arabische Liga aktiv geworden ist. Sie hat die Mitgliedschaft Syriens suspendiert und Sanktionen für den
Fall beschlossen, dass der von der Liga vorgelegte Friedensplan nicht akzeptiert wird.
Auch die Entsendung der Beobachtermission war zunächst eine richtige Maßnahme. In der Zeit haben immerhin die größten Demonstrationen stattgefunden, die
Syrien bis dato gesehen hat. Allerdings: Jemanden wie
den sudanesischen General Mustafa al-Dabi, der dem einen oder anderen hier gut bekannt ist und der als verantwortlicher General selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen in Darfur zu verantworten hat, zum Chef der
Mission zu machen, heißt, den Bock zum Gärtner zu machen. Die 165 Beobachter haben sich wohl zum Teil
ziemlich ahnungslos vom Assad-Regime vorführen lassen. Damit ist die Mission diskreditiert. Ich erwarte daher nicht sehr viel von dem morgigen Bericht.
Fest steht: Von den Bedingungen des Friedensplans
der Arabischen Liga, deren Einhaltung die Mission überwachen sollte, hat Assad keine einzige erfüllt: kein
Rückzug der Armee aus den Städten und kein Ende der
Gewalt. Im Gegenteil: Während der Mission gab es laut
UN mehr Tote als zuvor. Ich fordere daher die Arabische
Liga auf: Wenn sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
will, muss sie ihre eigenen Beschlüsse ernst nehmen.
Das heißt, sie muss sofort ihre Mission beenden, Syrien
dauerhaft aus der Arabischen Liga ausschließen und den
Fall an den UN-Sicherheitsrat überweisen. So hat es die
Arabische Liga beschlossen. Mit einer Fortsetzung der
Beobachtermission, unter deren Augen das Morden einfach weitergeht, macht sich die Arabische Liga für das
Regime zum nützlichen Idioten.
({2})
Ich komme nun auf einen schwierigen Punkt zu sprechen. Ich bin der Meinung, dass hier die Voraussetzungen für Responsibility to Protect, die Wahrnehmung der
internationalen Schutzverantwortung, gegeben sind. Da
die syrische Regierung die einheimische Bevölkerung
massakriert, haben wir, die internationale Gemeinschaft,
die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen.
Ich sage: Ja, es ist richtig, es besteht die Gefahr eines
Flächenbrands, wenn die Lage eskaliert. Deshalb ist eine
Intervention oder die Einrichtung einer No-fly-Zone die
falsche Antwort. Dennoch will ich zum Schluss zu bedenken geben, ob es nicht notwendig ist, dass die internationale Gemeinschaft über Sanktionen hinaus eine humanitäre, entmilitarisierte Sicherheitszone - nicht in
Kerstin Müller ({3})
Syrien, wohl aber in der Türkei - einrichtet, in die die
Flüchtlinge, aber auch Deserteure, die sich zur Abkehr
entschlossen haben, fliehen können; denn die Schutzverantwortung verpflichtet uns, alles zu tun, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Dieser Verantwortung werden
wir bislang nicht gerecht.
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Dr.
Thomas Feist.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten über Sanktionen - diese werden
immer dringlicher - und ein klares Bekenntnis gegen das
syrische Regime. Heute ist der richtige Zeitpunkt dafür.
Sicherlich wäre ein früherer Zeitpunkt noch besser gewesen - Ihr Antrag stammt von Dezember letzten Jahres -;
aber es ist gut, dass wir uns heute dafür Zeit nehmen.
Wir sind uns in diesem Hause über wesentliche
Punkte einig. Frau Müller, Sie haben das kurz angesprochen: Es gibt immer einige Spinner, die dagegen sprechen. So gab es bereits gestern eine Aktuelle Stunde zu
einem abstrusen Aufruf, den sechs Bundestagsabgeordnete der Linken unterschrieben haben. Ich kann Ihnen,
meine Damen und Herren von der Linken, nur sagen: Es
wäre wichtig, dass sich Ihre Führung eindeutig dagegen
ausspricht und sich klar davon distanziert. Dieser Aufruf
ist menschenverachtend und zynisch.
({0})
Mehr als 5 000 Tote, Zehntausende in Internierungslagern, psychische und physische Folter, dazu können und
wollen wir nicht schweigen.
Nun zu dem Antrag der Grünen. Frau Müller, Sie haben völlig recht: Der UN-Sicherheitsrat und die Arabische Liga sollten hier endlich klare und akzeptable
Signale setzen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken. Aber die Bundesregierung tut genau das. Sie hat es im UN-Sicherheitsrat
nicht vermocht, die lupenreinen Demokraten in Russland oder die Kapitalkommunisten in China zu überzeugen, entsprechende Positionen zu unterstützen. Daran
müssen wir sicherlich noch arbeiten. Aber wie Sie wissen, ist es schwierig, gegen die Eigeninteressen von
Russland, China und Syrien anzukämpfen. Dennoch dürfen wir nicht nachlassen. Wir brauchen eine Resolution
des UN-Sicherheitsrats, die das Vorgehen der syrischen
Führung klar und deutlich verurteilt.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle auf die besondere Verantwortung hinweisen, die die Arabische Liga trägt. Es handelt sich hier um den ersten größeren Einsatz der Arabischen Liga. Sie hat schon Sanktionen ausgesprochen.
Das ist in der Geschichte beispiellos. Aber wir werden
die Staaten der Arabischen Liga daran zu messen haben,
ob es ihnen gelingt, die Sanktionen gegen Syrien umzusetzen; denn vorwiegend müssen die Probleme dort gelöst werden, wo sie entstanden sind. Das ist der arabische Raum. Deswegen fordern wir die Arabische Liga
auf, sich noch deutlicher und klarer als bisher gegen das
Regime in Syrien zu positionieren.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine stärkere Isolation
Syriens. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert
- das wissen wir alle -; denn es wäre nicht das erste Mal,
dass man es in einem neuen System auch mit Funktionsträgern aus dem vorherigen System zu tun hat. Deswegen versuchen wir dort, wo es möglich und sinnvoll ist,
noch Unterstützung zu geben.
Ich nenne als Beispiel dafür die Auswärtige Kulturund Bildungspolitik. Natürlich konnten wir nicht anders
- die Regierung hat hier sehr verantwortungsvoll entschieden -, als diejenigen, die nicht unbedingt notwendig sind, um in den Goethe-Instituten oder den deutschen Auslandsschulen zu unterrichten, zurückzuholen.
Aber es ist wichtig, für die syrische Opposition, vor allen
Dingen für die Intellektuellen, Anlaufpunkte offenzuhalten. Ich bin unserer Staatsministerin sehr dankbar dafür,
dass wir das nach wie vor tun; denn bei einem Regimewechsel braucht man Brücken. Wir haben gesehen, wie
hervorragend das in Ägypten funktioniert hat, gerade
durch das Engagement der Goethe-Institute auch in
schwieriger Zeit.
Ich darf noch zu einzelnen Punkten kommen. Keine
Angst, ich werde die zwölf Minuten Redezeit nicht ganz
ausschöpfen! Ich habe Ihnen zwei Minuten geschenkt,
und ich werde auch dem Hohen Haus sozusagen noch
ein paar Minuten zukommen lassen.
Es ist wichtig, dass die nächsten Schritte wirklich
Sanktionen bringen, die fühlbar werden. Das Waffenembargo, das Einfuhrverbot für Ölprodukte und den
Exportstopp für Technologie nach Syrien haben Sie angesprochen. Dazu ist in Ihrem Antrag ein Punkt zu finden. Darin geht es um ein Kraftwerk, das Siemens dort
bauen soll. Sie sagen, es wäre gut, wenn das in der momentanen Situation nicht geschähe.
Auf der anderen Seite reden Sie davon, dass das
deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen aufgekündigt werden soll. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag.
Den kann man nicht so einfach außer Kraft setzen. Sie
wissen doch auch ganz genau, dass momentan - das ist
gestern angesprochen worden - keine syrischen Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben werden.
({2})
- Nach Ungarn, aber nicht nach Syrien. Von Ungarn woandershin zu kommen, das war 1989 für die DDR-Bürger etwas anderes.
({3})
Ich denke schon, dass auch die Ungarn ihrer Verantwortung gerecht werden. Wir werden auf jeden Fall von
Deutschland aus darauf achten, dass jetzt möglichst
keine Flüchtlinge abgeschoben werden.
Kollege Feist, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Beck?
Aber gern.
({0})
Herr Kollege, Sie sprechen davon, dass Sie davon
ausgehen, dass Ungarn nicht nach Syrien abschiebt. Ist
Ihnen bekannt, was ich gestern in der Aktuellen Stunde
bereits angesprochen habe, nämlich dass die aktuelle Erlasslage in Ungarn vorsieht, weiter nach Syrien abzuschieben, dass dies auch geschieht und dass es deshalb
unverantwortlich ist, wenn wir die Drittstaatenregelung
nach der Dublin-II-Verordnung bei syrischen Flüchtlingen für Ungarn weiter anwenden?
({0})
Deswegen gibt es einen Erlass, in dem steht, dass es
momentan nicht ratsam sei, syrische Flüchtlinge abzuschieben. Das haben Sie gestern auch angesprochen. Mir
geht es nicht in erster Linie um die Formulierung, die gewählt worden ist, sondern mir geht es darum, dass dies
momentan ausgesetzt wird.
({0})
- Dafür sind die Linken bekannt, vor allen Dingen Sie,
Kollege Gehrcke.
({1})
Die Grünen sagen, dass Assad zurücktreten muss.
Das ist etwas, was wir durchaus teilen. Die Frage ist nur,
ob die deutsche Regierung jemanden auffordern kann,
zurückzutreten und sich freiwillig vor dem Internationalen Strafgerichtshof seiner Verantwortung zu stellen.
({2})
Das sind Fragen, die in der weiteren Beratung sicher
noch eine Rolle spielen werden. Wir sind heute in der
ersten Beratung. Wir werden noch weiter darüber reden.
Abschließend möchte ich noch etwas zum humanitären Engagement Deutschlands sagen. Sie haben die
Flüchtlinge in der Türkei angesprochen. Das internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond kümmern sich
um diese Flüchtlinge. Deutschland - auch das ist ein
deutlicher Beweis dafür, dass wir uns um die Problematik der Flüchtlinge kümmern - ist an der Finanzierung
dieser Maßnahmen mit 50 Prozent beteiligt. Ich denke,
das ist eine gute Nachricht.
Dies sollten wir festhalten: auf der einen Seite humanitäre Hilfe leisten und auf der anderen Seite schauen,
dass Sanktionen genau das bringen, was sie bringen sollen, nämlich den Freiheitswillen des syrischen Volkes zu
unterstützen.
Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Wochenende.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie in vergleichbaren Fällen gibt es auch im Falle
Syriens keine einfachen Antworten. Das gilt für die Vergangenheit und wird gerade in dieser Region wahrscheinlich leider auch für die Zukunft gelten. Jedes Land
und jede Situation ist anders. Deshalb muss auch jede
Reaktion von der internationalen Staatengemeinschaft
wohlüberlegt und unter Umständen auch anders sein.
Aber in jedem Fall muss die Gewalt vonseiten des
Assad-Regimes beendet werden.
({0})
Das steht für alle Fraktionen im Vordergrund der Forderungen gegenüber dem syrischen Regime.
Ich bekenne mich persönlich: Wir sind parteiisch und
nicht frei von Sympathien und Hoffnungen für die Demonstranten, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten. Aber ich fühle auch Scham und Hilflosigkeit,
weil wir nicht in dem Maße reagieren können, wie es
notwendig wäre, weil - das haben die Vorredner schon
angeführt - die Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben sind, weil es in dem Gremium, das nach dem Zweiten Weltkrieg für Frieden und Kooperation geschaffen
worden ist, für weitergehende Handlungen keine Einigkeit gibt. Es ist nicht leicht, dass man nicht mehr tun
kann. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu.
Syrien ist ein ethnisch und religiös gespaltener Staat,
der von seiner Geschichte geformt ist. Aber ich will vor
einer leichtfertigen Reaktion, wie man sie oft in der Berichterstattung sieht, warnen. Viele Menschen in Syrien
- Kurden, Christen, Drusen und andere - wollen genauso Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber dem Regime und unterstützen nicht vordergründig Assad. Sie
haben ihre eigene Biografie mitgebracht. Ich denke, diesen Unterschied sollten wir beachten. Wir sollten nicht
dem fatalen Irrtum anheimfallen, anzunehmen, dass eth18388
nische oder religiöse Auseinandersetzungen immer
machtpolitisch missbraucht werden. Wir haben in der eigenen europäischen Geschichte gesehen, wie ethnische
und religiöse Konflikte - wie im ehemaligen Jugoslawien - für Machtpolitik missbraucht worden sind. Dieser einfachen Logik dürfen wir in Syrien nicht folgen.
Deshalb habe ich allen Respekt vor jenen, die in Syrien
gegen dieses Regime demonstrieren, egal welcher
Ethnie oder Religion sie angehören.
({1})
Genauso differenziert müssen wir die Rolle der Arabischen Liga betrachten. Sie hat sich mit den Umbrüchen in der arabischen Welt verändert. Sie ist differenzierter und angemessener geworden. Sie handelt
vielleicht noch nicht mutig genug; aber ich denke schon,
dass wir die Arabische Liga und die Verantwortlichen
heute stärker darin unterstützen sollten, das Regime in
Syrien an den Pranger zu stellen. Die Suspendierung war
richtig. Aber im Grunde muss sie nach dem morgen vorliegenden Bericht der Beobachtermission tätig werden
und über die geschlossenen Kompromisse hinausgehen.
Kollegin Müller hat es angesprochen: Der Leiter der
Beobachtermission ist ein suspekter Akteur. Er wurde
vom Assad-Regime in dieser Rolle gewünscht, und die
Arabische Liga ist dem gefolgt. Das kann man nicht akzeptieren. Ich finde, morgen sollte die Arabische Liga
sehr deutlich machen, dass sie dies nicht mehr goutiert,
dass sie in eine andere Richtung geht und gegenüber
dem syrischen Regime viel deutlicher aktiv wird als in
der Vergangenheit. Ansätze dafür sind vorhanden. Es
waren mutige Beobachter in der Mission, die gesagt haben: Ich kann mein Amt nicht mehr ausführen. Ich habe
so viel Gewalt und so viele Schandtaten erlebt, dass ich
mich zurückziehe. - Es hat mutige Vertreter in der
Beobachtermission gegeben, die sich den Machenschaften dieses Regimes ausgeliefert fühlten und von ihrem
Amt zurückgetreten sind.
({2})
Ein weiterer Aspekt, der meines Erachtens für ein differenziertes Bild mit berücksichtigt werden muss, ist die
Rolle des Westens gegenüber Syrien. Diese ist ebenso
wie die Rolle des Westens gegenüber Russland - ich
werde gleich noch kurz darauf eingehen - von den Erfahrungen geprägt, die Syrien machte, als es in der Vergangenheit zu Verwerfungen in den Nachbarländern gekommen ist. So hat Syrien zum Beispiel eine Menge
Flüchtlinge aus dem Irak - wir kennen die Situation dort und aus dem Libanon aufnehmen müssen. Die Syrer haben diese Bürgerkriege vor Augen und auch die sehr
schwierigen Situationen, die damit in der Vergangenheit
verbunden waren. Wenn es all diese Ereignisse in der unmittelbaren Nachbarschaft von Syrien in der Vergangenheit nicht gegeben hätte, wären heute möglicherweise
noch mehr Syrer bereit, gegen ihr Regime auf die Straße
zu gehen und zu kämpfen. Doch jetzt haben sie auch immer diese Bilder aus der Vergangenheit vor Augen.
Wenn wir, völlig zu Recht, Vorwürfe gegen andere Akteure im Sicherheitsrat erheben, müssen wir uns natürlich auch immer wieder die geschichtliche Verantwortung des Westens in der Vergangenheit in Erinnerung
rufen.
Dennoch: Die syrische Opposition bekommt von uns
alle Sympathien und alle Unterstützung. Das sollte nicht
nur verbal geschehen, sondern auch im Rahmen des zurzeit Möglichen. Damit komme ich zur Rolle der Türkei.
Ich finde es beeindruckend, dass insbesondere Ministerpräsident Erdoğan seine Haltung gegenüber Syrien in einem wahrscheinlich schwierigen Umdenkprozess geändert hat und dass heute die Türkei eine andere Rolle
einnimmt als in den vergangenen Wochen. Das hat auch
der Opposition genützt. So konnten sich syrische Oppositionelle in der Türkei treffen. Vertreter des Deutschen
Bundestages hatten Gelegenheit, dabei in der Türkei mit
ihnen zu reden. Dass die Opposition auch von weiteren
Nachbarländern so unterstützt wird, geht letztlich auf
das Konto der Türkei. Deswegen sollte die Bundesregierung die Türkei bei ihrer Haltung jedwede Unterstützung
zusagen, nicht nur bezüglich der Flüchtlinge, sondern
insbesondere auch politisch.
Ich bedaure, dass die dritte Rede von Präsident Assad
nicht den geringsten Anlass zur Hoffnung gegeben hat.
Er hat weder signalisiert, dass er bereit wäre, auf Gewalt
zu verzichten, noch gab es irgendein Anzeichen dafür,
dass er der Opposition Angebote machen wird. Das ist
nicht erträglich. Das müssen wir insbesondere auch
Russland sagen. Russland muss klargemacht werden,
dass es, wenn es schon meint, eine Schutzfunktion übernehmen zu müssen, auch auf eine Änderung des Verhaltens von Präsident Assad hinwirken muss.
({3})
Diese Verantwortung hat Russland; sonst macht es sich
auf internationaler politischer Bühne schuldig.
Gezielte Sanktionen vonseiten der Europäischen
Union oder auch von einzelnen Ländern sind richtig, wie
das Einfrieren von Konten oder die gezielte Außerkraftsetzung einzelner Handlungsoptionen der Akteure des
syrischen Regimes. Weiterhin aktuell ist für Deutschland
aber auch - wir hatten ja im letzten Jahr fast zur selben
Zeit einen entsprechenden Antrag gestellt - die Kündigung des Rückübernahmeabkommens, die Aussetzung
von Abschiebungen. Wir sollten das nicht auf verschlungenen Pfaden umsetzen, sondern ein ganz deutliches
Zeichen setzen, indem wir dieses Rückübernahmeabkommen kündigen und keine Abschiebungen mehr vornehmen.
({4})
Zum Schluss möchte ich der Bundesregierung noch
eine Überlegung mit auf den Weg geben: Frau Staatsministerin, ich möchte Sie wirklich bitten, noch einmal
zu überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, alle europäischen Botschafter, zumindest zu Konsultationen, zurückzuziehen. Ich glaube, damit würden wir der Opposition ein deutliches Signal geben. Das Argument, das
bisher dagegen gesprochen hat, nämlich dass man sich
so der einzigen Möglichkeit berauben würde, um mit der
Opposition in Kontakt zu treten, trägt heute nicht mehr.
Dieses Vorgehen wäre zumindest erwägenswert.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Wie schön.
Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht allzu sehr überrascht.
Nein, vielen Dank. - Liebe Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Süddeutsche Zeitung hat
für einen Artikel vom 20. Dezember 2000 folgende
Überschrift gewählt: „Damaszener Morgenluft“. In diesem Artikel wurde auf die Reformen eingegangen, die
der damals neue Präsident Assad junior, der ein halbes
Jahr vorher installiert worden war, in Angriff genommen
hat. Das heißt, seine Amtsübernahme ist positiv bewertet
worden und gab Anlass zur Hoffnung. Assad hatte das
berüchtigte Mezze-Gefängnis, in dem Tausende von Gefangenen gefoltert worden sind, aufgelöst. Die Süddeutsche Zeitung schrieb:
Die Presse in Syrien ist so frei wie noch nie. Sogar
die Gründung privater Zeitungen wird diskutiert.
Wenn Intellektuelle mehr Freiheit fordern und die
Regierung kritisieren, lässt Baschar al-Assad sie
gewähren. Anfragen seines Sicherheitsdienstes, ob
man gegen die Kritiker wie in alten Tagen vorgehen
solle, beschied der Präsident abschlägig.
Das war damals nach Beobachtung von uns allen ein
Hoffnungsschimmer in Syrien. Die Süddeutsche Zeitung
hat es so ausgedrückt, wie wir es sicherlich auch alle
empfunden haben. Es gab Hoffnung, dass dieser junge,
im Westen ausgebildete Präsident als Nachfolger seines
Vaters anders vorgehen würde. Leider hat die Zeit gezeigt, dass dieses Hoffnungspflänzchen Monat für Monat, Jahr für Jahr zertrampelt worden ist. Syrien ist in
den Folgejahren eher zu einer Art Schurkenstaat geworden.
Dennoch haben wir als Opposition es damals für gut
befunden, dass der damalige Außenminister Steinmeier
als hochrangiger Vertreter erstmals Syrien besucht und
auch hier den syrischen Außenminister empfangen hat.
Wir fanden das gut; denn es ist richtig und wichtig
- auch heute noch -, zu versuchen, auch auf Staaten, mit
denen man Probleme hat, politischen Einfluss zu nehmen. Wir haben das damals ausdrücklich unterstützt. Ich
nehme von dieser Unterstützung auch heute nichts zurück. Leider hat sich dann vieles sehr dramatisch entwickelt, wie wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Der arabische Frühling ist spätestens seit den Ereignissen in Libyen und in Syrien fast zu einem arabischen
Drama geworden. So hoffnungsvoll es begonnen hat, so
problematisch ist die Situation speziell in Syrien und Libyen. Nun werden Libyen und Syrien häufig miteinander verglichen - auch darin, was wir machen können und
was wir nicht machen können. Natürlich gibt es Vergleichsmöglichkeiten: Die Leute gehen auf die Straße,
weil sie mit der Situation unzufrieden sind. Es gibt aber
auch jede Menge gigantischer Unterschiede zwischen
Libyen und Syrien. Deshalb ist eine Vergleichbarkeit der
Situation nicht gegeben.
Ein großer Unterschied ist, dass Libyen ein relativ
isoliertes Land mit geringen Auswirkungen auf andere
Nachbarstaaten ist. Das ist in Syrien völlig anders. Die
Problematik der Situation liegt darin begründet, dass Syrien im Zentrum einer gefährlichen Region liegt. Alles
das, was in Syrien passiert, hat Auswirkungen auf den
Libanon, auf Iran, auf Israel, auf die gesamte Region.
Deshalb ist Syrien ein Pulverfass, und deshalb müssen
wir uns darüber Gedanken machen, wie wir hier am besten vorgehen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Arabische Liga einen Paradigmenwechsel vorgenommen hat. Das war für
diese Länder nicht einfach. Frau Müller, über Ihren Vorschlag, darauf hinzuwirken, dass die Beobachter abziehen, müssen wir aber noch einmal intensiv reden. Wir
müssen uns wirklich überlegen, ob dieser Vorschlag
richtig ist. Ich bezweifle das zum jetzigen Zeitpunkt,
Frau Müller. Wenn die Arabische Liga ihre Beobachtermission fortsetzt - heutigen Agenturmeldungen zufolge
soll die Zahl der Beobachter auf 300 verdoppelt werden -,
heißt das, dass sie mit im Boot ist und für das in Haftung
genommen werden kann, was passiert. Ich glaube, es ist
richtig und wichtig, dass wir die regionalen Kräfte einbinden. Ich habe großen Respekt vor der veränderten
Rolle der Arabischen Liga. Dass sie nicht so handelt, wie
wir es wollen, ist völlig klar. Wir müssen uns aber auch
überlegen, wo diese Leute herkommen. Es gab noch nie
den Fall, dass es die Arabische Liga gewagt hat, einen
Mitgliedstaat so zu behandeln wie Syrien. Das ist ein
neuer Schritt. Wir fordern mehr; aber wir sollten die
Arabische Liga in ihrem Handeln unterstützen.
({0})
Ähnlich sieht es mit der Rolle der Türkei aus. Herr
Mützenich, ich stimme dem, was Sie dazu ausgeführt haben, völlig zu. Wir können dankbar sein, dass sich die
Türkei einmischt. Wir müssen auch froh darüber sein
- und dies bestärken -, dass uns, dem Westen, nicht immer automatisch die Rolle des Weltpolizisten zukommt,
der die Probleme lösen muss. Ich hoffe, es wird in Zukunft öfter passieren, dass schlagkräftige regionale Partner dafür sorgen, dass sich die Situation verändert. Deshalb finde ich es sehr gut, dass die Arabische Liga
weitermacht, und deshalb finde ich es auch sehr gut, dass
die Türkei sich nach langem Zögern eindeutig positioniert hat.
Die Europäische Union und Deutschland haben den
syrischen Nationalrat, also die Oppositionsbewegung,
anerkannt. Herr Ghaliun war am 14. November letzten
Jahres hier in Berlin und hat mit Außenminister
Westerwelle gesprochen. Damit haben wir sehr deutlich
gemacht, auf welcher Seite wir stehen.
In Syrien erleben wir in diesen Tagen interessanterweise eine Spaltung der Baath-Partei. Es gibt eine neue
Baath-Partei; es gibt dort neue Entwicklungen, die wir
genau beobachten müssen. Auch das Bild dieses Regimes bröckelt natürlich, und das müssen wir im Auge
behalten.
Aus heutiger Sicht sieht die Perspektive für die Zukunft nicht sehr positiv aus. Wir müssen zunächst einmal
versuchen, zu erreichen, dass das Morden aufhört. Deshalb stimme ich allen Vorrednern zu, dass es darum geht,
zu versuchen, mit Sanktionen so viel wie möglich zu erreichen. Ich bin sehr froh darüber, dass alle Vernünftigen
im Deutschen Bundestag einhellig der Meinung sind,
dass wir dies tun sollten.
Es besteht natürlich die Gefahr eines Bürgerkrieges.
Außerdem besteht die Gefahr, dass sich weitreichende
Spill-over-Effekte ergeben. Das ist außerordentlich problematisch. Es kann sogar passieren, dass nach Überwinden des Assad-Regimes die Aleviten, die circa 10 bis
15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die aber das
Regime stellen, plötzlich zu Verfolgten werden. Wir
müssen dann besorgt sein, ob es nicht eventuell einen
Völkermord mit umgekehrten Vorzeichen gibt. Mit all
diesen Dingen müssen wir uns beschäftigen.
Ich plädiere dafür, dass die Bundesregierung ihre
sinnvolle Einflussnahme fortsetzt und dass sie zusammen mit anderen europäischen Staaten das Sanktionsregime verstärkt. Ich plädiere vor allem dafür, dass wir die
Regionalkräfte ermuntern, ihren Einfluss geltend zu machen. Das ist wahrscheinlich sinnvoller und wirkungsvoller als all das, was wir hier tun können.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! - Kolleginnen
und Kollegen, ich hätte mir nach der gestrigen Veranstaltung - eine Debatte ist es ja nicht gewesen ({0})
sehr gewünscht, dass man heute einmal tatsächlich über
Syrien und über die Probleme des Landes redet, was nur
teilweise der Fall war. Ich will mich mit dem anderen
Unsinn nicht beschäftigen.
({1})
Ich habe mich immer an das gehalten, was die linken
und demokratischen Kräfte in den betroffenen Ländern
selbst vorschlagen und fordern. Ich will Ihnen einmal
vorlesen, welche Forderungen der Nationale Koordinierungsrat - dort sind die linken und demokratischen
Kräfte der Opposition vertreten - aufgestellt hat:
Wir halten dabei an drei Ablehnungen fest:
- das muss von allen Mitgliedern unterschrieben werden nein zur Gewalt, nein zur konfessionellen Spaltung
des Landes und nein zur ausländischen Einmischung.
Das sind die Forderungen. Ich finde sie richtig und
teile sie.
Ich schlage Ihnen erstens vor, dass wir nächste Woche
- wir werden eine namentliche Abstimmung beantragen - über zwei Punkte entscheiden. Der Deutsche Bundestag muss sich gegen jegliche Form - ohne Tricks von Abschiebungen nach Syrien aussprechen, und das
muss möglichst von allen Fraktionen getragen werden.
({2})
Ich bin zweitens dafür, dass wir uns auf einige Sanktionen hier einigen. Ich möchte unbedingt, dass wir uns gemeinsam gegen Rüstungsexporte und Waffenlieferungen
nach Syrien und in die gesamte Nahostregion aussprechen.
({3})
Ich habe auch nichts dagegen, wenn gegen die Repräsentanten dieses Regimes Reiseverbote verhängt werden. Aber ich unterstütze keine Sanktionen, die die Bevölkerung treffen. Darüber kann man nächste Woche in
namentlicher Abstimmung entscheiden.
Ich will jetzt zu den einzelnen Forderungen etwas sagen. Die Forderung „Nein zur Gewalt“ richtet sich in
erster Linie an das Regime Assad. Das muss ausgesprochen werden, und es wird auch von der Linken ausgesprochen. Von Assad geht die staatliche Gewalt aus. Er
setzt staatliche Gewalt ein. Es ist in keiner Weise akzeptabel und auch nicht begründbar, wie die staatliche Gewalt in Syrien eingesetzt wird. Das soll hier klar ausgesprochen werden.
({4})
Ich möchte aber auch feststellen, dass wir davon abraten, dass auf der anderen Seite Gewalt eingesetzt wird
oder dass von außen zur Gewalt aufgerufen wird. Hier
gibt es eine Differenz mit meinen Freunden in Syrien.
Sie sagen, Verhandlungen mit dem Assad-Regime sind
unsinnig, bringen nichts. Ich sehe aber keinen anderen
Weg als Verhandlungen. Das ist eine nicht ganz einfache
Frage. Syrien, das sich in Teilen schon in einem Bürgerkrieg befindet, darf nicht weiter in einen Bürgerkrieg abgleiten.
Ich will den Kollegen Hans-Ulrich Klose zitieren
- das mache ich nur selten -, der zu diesem Thema am
16. Januar etwas sehr Vernünftiges gesagt hat. Er hat gesagt: „Internationale Bemühungen sollten sich darauf
konzentrieren, überhaupt Gesprächskontakte zwischen
beiden Konfliktparteien herzustellen.“ Er sagte weiterhin, die Alternative dazu sei der Bürgerkrieg. Ich sehe es
ähnlich. Man muss miteinander reden, wenn man verhindern will, dass weiter aufeinander geschossen und gemordet wird.
({5})
Man muss miteinander reden, um zu Vereinbarungen zu
kommen. Ich sehe keinen anderen Weg.
Ich bin auch dafür, dass hier deutlich gegen ausländische Einmischung, gegen militärische Bedrohung und
das Spiel mit militärischer Drohung Stellung bezogen
wird. Wir - ich jedenfalls bin es - sind alle gebrannt von
dem, was in Libyen passiert ist. Es fing harmlos an, und
es endete bei 50 000 Toten in diesem Krieg. Ich weiß,
wie der Irakkrieg in Szene gesetzt worden ist. Ich
möchte keine Wiederholung.
({6})
Erinnern Sie sich doch daran, was der Kollege
Mißfelder hier ausgeführt hat. Waffengewalt bleibt auf
der Tagesordnung. Sie können viele Zitate finden, dass
der Bürgerkrieg in Syrien mindestens von außen angeheizt wird, weil man kein Interesse an einer Vereinbarung hat.
({7})
Wer nicht will, dass weiter geschossen wird, sollte
auch bereit sein, zu Verhandlungen überzugehen. Da
muss man Druck auf das Regime ausüben. Ich bin nicht
für unverbindliche Verhandlungen.
({8})
Ich bin für klare Verhandlungen, die ein Ergebnis bringen, dass das Morden und die Gewalt in Syrien aufhören. Das ist die Position, die ich vorschlagen möchte.
Das ist eine Position, die auch in Syrien sehr breit akzeptiert wird. Gehen Sie nicht nur von Ihren Bildern von außen aus, sondern reden Sie mit den politischen Kräften,
die in der Opposition sind, dann werden Sie zu anderen
Ergebnissen kommen.
Schönen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8132 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 25. Januar 2012, 13 Uhr.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende, soweit dies möglich ist.
Die Sitzung ist geschlossen.