Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Zusatzpunkt 7, die von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP verlangte Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland weiterhin
im Aufschwung“, wird heute abgesetzt. Sind Sie damit
einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union
- Drucksache 17/8682 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/9436 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({1})
Memet Kilic
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({3}), Rüdiger Veit, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Programm zur Unterstützung der Sicherung
des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln
- Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({4})
Memet Kilic
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.
Dann eröffne ich jetzt die Aussprache und erteile als
erstem Redner dem Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Noch niemals zuvor waren so viele Menschen in
Deutschland in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Die Wirtschaft in unserem
Lande ist - trotz des schwierigen konjunkturellen und
gesamtwirtschaftlichen Umfelds in der Welt und in Europa - leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass das so bleibt.
Da gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Eine
davon hat in dieser Woche eine besondere Rolle gespielt,
auch bei der Kabinettssitzung: die demografische Entwicklung. Die Menschen in Deutschland werden weniger, vor allem die jungen Menschen werden weniger. Ein
Rückgang der Zahl der Auszubildenden und Studenten
heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen. Wir brauchen Fachkräfte: Schon heute haben wir in einigen Bereichen die Situation, dass sich der Fachkräftemangel
wachstumshemmend auswirkt.
Deswegen hat sich die in dieser Woche vorgestellte
Demografiestrategie auch mit der Frage beschäftigt: Wie
können wir unter diesen Bedingungen die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechterhalten? Wichtigste Antwort: indem wir
dafür sorgen, dass sich die Menschen entfalten können,
dass das Potenzial, das wir im Lande haben, ausgeschöpft wird. Ich glaube, da sind wir alle in diesem Haus
uns einig: Die Bildung unserer jungen Menschen, die
Fort- und Weiterbildung, die Gestaltung einer Arbeitswelt, in der sich jeder optimal nach seinen persönlichen
Möglichkeiten einbringen kann, das ist die wichtigste
Antwort überhaupt.
({0})
Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in diesem Lande einbringen können, auch in die Gestaltung
der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft.
({1})
Zweitens. Deutschland ist attraktiv, als Land, als Lebensstandort, als Arbeitsmarkt, attraktiv für viele junge
Menschen in Europa. Wir haben in Europa eine durchaus
heterogene Situation: Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien liegt über 45 Prozent, in Italien liegt sie über
35 Prozent. In anderen Ländern, zum Beispiel Portugal,
gibt es viele Hochschulabsolventen, die nach Arbeitsstellen, nach angemessener Beschäftigung suchen. Denen sagen wir: Wir müssen Europa als eine gemeinsame
Einheit sehen. Es muss innerhalb Europas selbstverständlich sein, von einem Land zum anderen zu ziehen,
so wie es heute selbstverständlich ist, in Deutschland
von einem Bundesland zum nächsten zu ziehen. Diese
Möglichkeit müssen wir schaffen und attraktiv halten.
Ich bin sehr froh, dass sich sowohl die Bundesanstalt
für Arbeit, Frau Kollegin von der Leyen, als auch die Arbeitgeberverbände sehr bemühen, insbesondere den jungen, qualifizierten Menschen überall in Europa zu sagen:
Ihr werdet gebraucht. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass unser Euro, dass das Euro-Land wettbewerbsfähig bleibt. Jeder junge Mann und jede junge Frau, der
oder die sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt einbringen kann, statt in Italien arbeitslos zu sein, ist eine
Entlastung für den Euro, ist ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit Euro-Lands.
Drittens. Deutschland ist immer schon ein weltoffenes Land gewesen. Wir sind Exportweltmeister, keine
Frage. Handel und Wandel rund um den Globus, das ist
schon immer - man kann fast sagen: seit Jahrhunderten deutsches Prinzip gewesen. Es ist normal, dass junge,
qualifizierte Menschen aus Deutschland ihr Glück in der
Welt suchen. Von Kanada bis Australien gibt es deutsche
Männer und Frauen, die ihr Glück suchen, und sie finden
es auch. Umgekehrt wird es immer junge und auch alte
Menschen geben, die ihr Glück in Europa, in Deutschland suchen wollen. Deswegen ist es notwendig und
richtig, dass wir uns um das Thema Bevölkerungswanderung in der Welt kümmern.
Heute geht es um die Frage: Wie gewinnen wir für
unser Land die Hochqualifizierten, die wir brauchen?
Was können wir dafür tun, damit sie zu uns kommen?
Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass sie qualifiziert
sind, also leistungsfähig, und dass sie auch Leistung
bringen wollen. Zweitens. Wir müssen für attraktive Bedingungen für ihre Lebensgestaltung sorgen, damit sie
zu uns kommen wollen. Deswegen kommt in der Umsetzung der Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union,
die wir heute beraten, deutlich zum Ausdruck: Wenn jemand 45 000 Euro Gehalt geboten bekommt, dann ist
das zum einen ein klares Zeichen dafür, dass er von einem Arbeitgeber gebraucht wird, und zum anderen, dass
er leistungsfähig ist; denn sonst würde man ihm ein solches Angebot nicht machen. Bei Mangelberufen geht
man sogar von einem geringeren Mindestlohn von
35 000 Euro aus, wobei das nicht heißt, dass dieser Mindestlohn der Preis ist, zu dem Ingenieure und Ärzte zu
uns kommen, sondern es ist eine in der Richtlinie festgelegte Untergrenze; ich glaube, das muss man dazusagen.
Was bieten wir den jungen Menschen, die zu uns
kommen? Wir bieten ihnen nach drei Jahren - bei guter
Integration nach zwei Jahren - eine unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Wir bieten ihnen - das
ist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen -, dass sie
ihre Familien, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Kinder,
mitbringen können. Ich glaube, das ist ein wichtiges Kriterium.
({2})
Ein Ingenieur aus Indien hat keine Lust, seine Kinder zurückzulassen und alleine nach Deutschland zu kommen.
Deshalb müssen wir ihm eine entsprechende Perspektive
bieten. Auch das ist im Gesetz vorgesehen.
Wir haben im Gesetz also folgenden Dreiklang für
Deutschland vorgesehen: Geringqualifizierte erhalten
eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Hochqualifizierte erhalten nach drei Jahren, manche nach zwei Jahren, ein Aufenthaltsrecht und Niederlassungsrecht.
Höchstqualifizierte - also Nobelpreisträger - unterliegen
keinen Einschränkungen; sie erhalten sofort die unbefristete Niederlassungserlaubnis.
({3})
Ich komme zu Ihren Anträgen, die sich mit dem
Punktesystem auseinandersetzen. Welche Systematik hat
das Gesetz, welche Systematik hat unser Ansatz? Wir sagen: Du kannst kommen, wenn du einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht hast. - Mit dem Punktesystem, das
viele Experten diskutieren und loben und das in vielen
Ländern funktioniert, verfolgt man einen anderen Ansatz: Wir holen Menschen, die bestimmte Eigenschaften
haben, und geben ihnen für diese Eigenschaften Punkte.
Die Frage ist, nach welchen Kriterien das geschieht. Ich
habe gelernt: Es gibt eine zentrale Planungskommission,
die diese Kriterien festlegen soll. Wenn die Menschen
die Punkte haben, dann kommen sie. Die in dieser Woche behandelte Demografiestrategie zeigt aber, dass das
nicht bedeutet, dass die Menschen da hingehen, wo wir
sie zwingend brauchen. Sie steigen erst einmal in München, Stuttgart oder Frankfurt aus dem Flugzeug, und
dann ist noch lange nicht gesichert, dass sie im Erzgebirge, im Bayerischen Wald oder im Harz, wo sie in den
mittelständischen Unternehmen gebraucht werden, ankommen.
Deswegen ist für uns der entscheidende Ansatz: Für
die Möglichkeit, hierherzukommen, muss ein konkreter
Arbeitsplatz mit einem bestimmten Mindesteinkommen
nachgewiesen werden. Wir steuern die Zuwanderung
nach Deutschland also nicht durch eine zentrale Planungskommission, sondern jeder Arbeitgeber, jeder, der
einen Betrieb unterhält und Fachkräfte braucht, hat die
Möglichkeit, diese Leute zu holen.
({4})
Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mittelständler
nur in der Welt herumfährt, zum Beispiel nach Ägypten
oder Indien, und nach Ingenieuren sucht, sondern das
muss durch die Wirtschaft, die über ihre Verbände viele
internationale Kontakte hat, organisiert werden. Zudem
wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass junge Männer
und Frauen - damit sie nicht mit einem Drei-MonatsTouristenvisum hier herumfahren und nach einem Arbeitsplatz suchen müssen - ein halbes Jahr Zeit haben,
zu schauen, ob sie in diesem Land gebraucht werden
bzw. ob ihnen jemand ein Angebot macht und bereit ist,
für das, was sie bieten und leisten können, 45 000 Euro
zu zahlen. Es ist also ein sechsmonatiges Visum zur Arbeitsuche vorgesehen. Auch das ist, glaube ich, ein
wichtiger Punkt in diesem Gesetz.
({5})
Ich komme zum letzten Punkt: Hochschulabsolventen. Wenn jemand in Deutschland mit deutschen Steuergeldern eine Universität besucht hat, dort ausgebildet
wurde, gut integriert ist, Deutsch kann und einen Hochschulabschluss hat, müssten wir verrückt sein, wenn wir
dem sagen würden: Jetzt gehst du aber bitte wieder dahin
zurück, wo du hergekommen bist. Vielmehr brauchen
wir diese Leute. Wir wollen sie für unseren Arbeitsmarkt
auch haben. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir in
diesem Gesetz auch Erleichterungen für diejenigen vorsehen, die hier studiert und ihren Abschluss gemacht haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
geht es jetzt darum, dass auch die Arbeitgeber aktiv werden. Die Zeiten sind vorbei, in denen man alles auf dem
Silbertablett geliefert bekam. Vielmehr muss man etwas
tun. Man muss sich darum kümmern, dass man die Menschen, die man für seinen Betrieb, für sein Unternehmen
braucht, auch bekommt. Wir schaffen die rechtlichen
Voraussetzungen bzw. den Rahmen dafür. Ich denke,
dass das ein guter Ansatz ist, und ich hoffe, dass dieses
Gesetz hier mit großer Mehrheit angenommen wird.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Fachkräftesicherung auch durch Zuwanderung, das ist ein immer wichtiger werdendes Thema für
unsere Volkswirtschaft. Das hat auch die Koalition erkannt. Dazu erst einmal herzlichen Glückwunsch - und
fast noch mehr dazu, dass Sie sich bei diesem Thema tatsächlich zusammengerauft haben.
Zur Ehrlichkeit gehört aber dazu, dass Sie erst durch
die Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union zum
Handeln gezwungen worden sind. Sie haben Anfang
März mit einem Jahr Verspätung ein Gesetz zur Umsetzung vorgelegt. Man kann sagen: Die Europäische
Union hat hier ein gutes Werk getan und Schwarz-Gelb
zum Jagen getragen.
({0})
Ein Teil des Lobes geht also an die Europäische Union.
Wenn man den Gesetzentwurf, der hier am 1. März
beraten worden ist, mit dem heute hier vorgelegten Gesetzentwurf vergleicht, kann man sagen: Glücklicherweise hat das Struck’sche Gesetz Wirkung gezeigt. Das
Struck’sche Gesetz - für die, die es nicht kennen - lautet: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es in ihn
hineingekommen ist. Das hat dem Entwurf wirklich gutgetan. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein
anderer und besserer als der vom 1. März.
({1})
Bevor ich zum Gesetz selber komme, erwähne ich einen mindestens genauso wichtigen, wenn nicht sogar
noch wichtigeren Aspekt: Es lohnt sich, die Wirkmächtigkeit dieses Gesetzes anzuschauen und sie einzuschätzen. Was kann ein solches Gesetz beitragen, um den
Fachkräftemangel in unserem Land wirklich abzumildern? Wenn man Herrn Friedrich zuhört, hat man den
Eindruck, dass die gutqualifizierten Fachkräfte draußen
vor dem Tor stehen und nur warten, dass die Bundesregierung endlich ein Gesetz einbringt, damit sie alle zu
uns kommen können. Ich meine, dass die Erwartungen,
die die Bundesregierung weckt, deutlich überzogen sind.
Die Änderungen des bestehenden Zuwanderungsgesetzes sind moderat. Sie sind zum Großteil wirklich begrüßenswert, aber eine Revolution ist das beileibe nicht.
Um einem Fachkräftemangel vorzubeugen, wäre es
wichtig, die Potenziale, die wir im Lande haben, zu heben, zum Beispiel im Bereich des Bildungssystems. Herr
Friedrich, Sie haben dieses Thema zwar angesprochen,
aber auf Aktivitäten, die dazu beitragen, dass in diesem
Land wirklich jeder einen Schulabschluss macht, gegebenenfalls im zweiten oder dritten Anlauf, müssen wir
lange warten. Im Gegenteil: Sie marschieren in die andere Richtung.
Daniela Kolbe ({2})
Zur Vorbeugung eines Fachkräftemangels gehört
auch, die Potenziale der hier lebenden Migrantinnen und
Migranten in den Blick zu nehmen. Man darf nicht immer nur auf die gut Ausgebildeten im Ausland schielen.
({3})
Auch in dieser Hinsicht gilt bei Ihnen bisher: komplette
Fehlanzeige.
({4})
Noch wichtiger ist Folgendes: Wenn das Gesetz Wirkung entfalten soll, wenn Hochqualifizierte wirklich
nach Deutschland zuwandern sollen, dann brauchen wir
eine lebendige Willkommenskultur. Das wird auch von
Ihnen häufig angesprochen.
({5})
Zu einer Willkommenskultur gehört aber mehr als ein
Sektempfang für die neue Kollegin aus Kanada. Aufgrund dieses Gesetzes sollen Menschen aus der ganzen
Welt zu uns kommen. Eine Willkommenskultur wäre
eine Kultur, die Vielfalt als Bereicherung begreift, eine
Kultur, die Einwanderung als Bereicherung begreift, und
zwar unabhängig von der ökonomischen Verwertbarkeit
der Menschen, die zu uns kommen. Dabei geht es zum
Beispiel auch um die Familienangehörigen. Es bedarf einer Kultur, die Andersartigkeit als gleichwertig begreift.
({6})
Es bedarf einer Kultur weit ab von jeder Leitkulturdebatte.
„Willkommenskultur“, das ist ein Wort, das gerade
Sie sehr häufig im Munde führen.
({7})
Wir werden das in der heutigen Debatte von Ihrer Seite
noch häufig zu hören bekommen.
({8})
Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition: Damit geben Sie wirklich ein reichlich schräges Bild ab. Hier hören wir Willkommenskulturforderungen en masse. Auf der anderen Seite haben wir einen
Herrn Kauder, der über den Islam dampfplaudert, dass
man vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma bekommt,
({9})
und einen Innenminister, der uns jenseits aller Fakten erklärt, wie schlimm die muslimische Jugend sei, und als
Wahlkampfhilfe für Sarkozy gleich die europäischen
Grenzen innen und außen dichtmachen will. Hinzu kommen unsägliche Debatten über die doppelte Staatsangehörigkeit.
({10})
Das ist absurdes Theater, das hier zur Aufführung
kommt.
({11})
Das Klima, das die Bundesregierung produziert, schadet der Sache viel mehr, als drei solcher Gesetze wiedergutmachen können. Ich finde, Herr Friedrich alleine
schadet der Sache mehr, als es dieses Gesetz gutmachen
kann. Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nach
Deutschland ist längst kein Selbstläufer mehr. Die gutqualifizierten Menschen entscheiden selbst, ob sie nach
Deutschland kommen wollen.
Max Frisch sagte einst, als wir schon einmal Fachkräfte nach Deutschland gerufen haben, den wunderbaren und emotionalen Satz: Wir riefen Arbeitskräfte, und
es kamen Menschen. - Wenn aus diesem Satz nicht werden soll: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kam niemand“, dann haben gerade Ihre Parteien noch ein ganz
schön großes Stück Arbeit vor sich.
({12})
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der sich seit
der ersten Lesung verbessert hat. Es freut uns, dass der
Gesetzentwurf sich ein ganzes Stück dem SPD-Antrag
genähert hat.
({13})
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Situation für Bildungsausländer, gerade für Studierende aus Drittstaaten und
Azubis, zu verbessern
({14})
- natürlich; lesen Sie unseren Antrag - und ihre Arbeitsuche in Deutschland zu erleichtern. Grundsätzlich positiv ist, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche eingeführt wird. Wir hätten gerne ein Punktesystem
zur Zuwanderung eingeführt bzw. ein entsprechendes
Modellprojekt aufgelegt, weil ein solches Modell aus anderen Ländern bekannt
({15})
und potenziellen Zuwanderern daher leichter zu vermitteln ist. Ein solches Modell sendet das ganz klare Signal
aus, dass wir Einwanderung wollen. Die von Ihnen vorgesehene Erlaubnis zur Arbeitsuche ist aber ein Schritt
in die richtige Richtung.
Ausdrücklich loben möchte ich, dass Sie einen ganz
pragmatischen Vorschlag aus unserem Antrag übernommen haben, nämlich dass ein Antrag auf Vorrangprüfung
für einen Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz in
Deutschland gefunden hat, nach einer gewissen Zeit als
genehmigt gilt,
Daniela Kolbe ({16})
({17})
auch wenn die zuständige Behörde noch nicht beschieden hat. Genau diese Prüfung ist in der Tat für viele
Unternehmen und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein ganz langwieriges Prozedere, das sie nicht
einschätzen können. Daher stellt sie ein großes Hindernis bei der Zuwanderung dar. Diese Entscheidungsfiktion ist richtig. Sie setzen dafür einen Zeitraum von
zwei Wochen an. Das ist aus unserer Sicht allerdings ein
wenig zu kurz. Insgesamt haben wir also relativ viel
Übereinstimmung hinsichtlich des Gesetzentwurfs.
In einem Punkt widersprechen wir aber, und dieser
betrifft das Herz Ihres Gesetzentwurfs: die Umsetzung
der Bluecard-Richtlinie. Es geht um die Frage, wie viel
ein Zuwanderer mindestens verdienen muss, um eine
Bluecard zu erhalten. Für Mangelberufe schlägt die Bundesregierung eine Schwelle von etwa 34 000 Euro Jahresverdienst vor. Da können wir aus zwei Gründen nicht
mitgehen:
Erstens ist dies europarechtswidrig niedrig. Ich habe
das in der ersten Lesung hier vorgetragen, und in der Anhörung wurde dem wenig Stichhaltiges entgegengesetzt.
Ich möchte uns warnen, ein Gesetz, das möglicherweise
europarechtswidrig ist, zu verabschieden.
Zweitens ist diese Schwelle arbeitsmarktpolitisch zu
niedrig. Wir sprechen über Fachkräfte, über Ingenieure,
über Physikerinnen und Physiker, über Mathematikerinnen und Mathematiker. 34 000 Euro Jahresgehalt bedeutet in diesen Branchen auch für Berufseinsteiger
Lohndumping. Zum Vergleich: Das Einstiegsjahresgehalt im öffentlichen Dienst beträgt in TVöD 13 etwa
40 000 Euro. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die
SPD will qualifizierte Zuwanderung, aber wir wollen
kein Lohndumping.
({18})
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf geht in die
richtige Richtung. Er enthält viele positive Aspekte. Die
angesetzte Mindestverdienstgrenze halten wir jedoch
politisch und rechtlich für zu niedrig angesetzt. Deshalb
werden wir uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Damit dieses Gesetz, dem wir in der
Grundintention zustimmen, wirklich wirkt, damit also
qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen,
muss sich an ganz anderer Stelle etwas ändern. Zugewanderte müssen wissen, dass sie - das muss gelebte
Realität sein - in deutschen Unternehmen, Behörden und
auf der Straße erwünscht und willkommen sind und
wertgeschätzt werden. Bis wir diese Haltung durchgesetzt haben, ist es noch ein weiter Weg, gerade für diese
Koalition.
Vielen Dank.
({19})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Volker Kauder.
Frau Kollegin Kolbe, Sie hatten wohl den Eindruck,
Sie müssten eine Aussage von mir in einer Art und
Weise qualifizieren, die ich in aller Form zurückweise.
Bevor Sie eine solche Qualifizierung vornehmen, sollten
Sie einmal ein bisschen nachdenken.
({0})
Ich habe wörtlich gesagt, dass der Islam nicht zu
Deutschland gehört, dass aber Muslime zu Deutschland
gehören.
({1})
Diese Aussage wurde von prominenten Personen unterstützt, die Sie ebenfalls der Dampfplauderei bezeichnen,
obwohl sie geistig wahrscheinlich schon mehr geleistet
haben, als Sie aufgrund Ihres Alters bisher leisten konnten.
({2})
- Sie alle sollten die neueste Ausgabe von Cicero lesen,
in der sehr schön beschrieben wird, dass es in dieser Republik einige gibt, die meinen, wir seien eine Rechthaberrepublik.
({3})
Ich habe das Recht, meine Meinung klar und deutlich zu
formulieren.
Jetzt möchte ich noch etwas sagen, und zwar in aller
Ruhe. Wissen Sie, auch das zeichnet Leute, die so argumentieren wie Sie, aus: Sie nehmen für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen, aber hören anderen gar
nicht mehr zu. Das ist nicht in Ordnung; das muss man
einmal klar und deutlich sagen.
({4})
Meine Aussage wurde von Martin Mosebach, Dampfplauderer, Monika Maron, Dampfplauderer, und Heiner
Geißler unterstützt.
({5})
Dass die Zustimmung in der Bevölkerung riesengroß ist,
wird Sie wahrscheinlich nicht erstaunen. Ich möchte
trotzdem noch einmal klar und deutlich sagen: Dass der
Islam nicht zu Deutschland gehört, hat etwas mit Tradition und Identitätsbildung in diesem Land zu tun. Die
Menschen gehören zu uns. Von dieser Aussage habe ich
nichts zurückzunehmen.
({6})
Zur Erwiderung, bitte, Frau Kolbe.
Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, nichts liegt mir
ferner, als Ihnen Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu
nehmen. Ich nehme mir jedoch das Recht heraus - auch in
meinem jungen Alter, auf das ich sehr stolz bin -,
({0})
Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre Aussagen natürlich
auch eine Wirkung entfalten. Sie können sagen, was Sie
wollen. Aber: Sie sind Vorsitzender einer großen - leider
der größten - Fraktion dieses Hauses. Sie haben mit Ihren Aussagen einen gravierenden Einfluss auf die Stimmung in diesem Land, auf das Zusammenleben in diesem Land. Ich möchte diesen Hinweis auch an Herrn
Friedrich adressieren, der im Hinblick auf die Studie zu
jungen Muslimen in diesem Land Aussagen getroffen
hat, die für unser Zusammenleben schädlich sind.
({1})
Das ist für die Menschen, die hier leben, ein Problem,
und es ist im Zusammenhang mit der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte ein Problem. In ein Land, in dem
man immer wieder als andersartig bezeichnet wird,
möchte man eben nicht gerne einwandern. In Ländern, in
denen jeder, welcher Religion auch immer er oder sie angehört, herzlich willkommen ist, aufgenommen wird und
leben darf, wie er oder sie es möchte,
({2})
ist das eine ganz andere Geschichte. Fahren Sie einmal
in die USA - Sie waren sicherlich schon dort -, und
überlegen Sie, warum so viele Menschen gerade in dieses Land, das die rigideste Einwanderungspolitik macht,
wollen.
({3})
Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat der
Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist sinnvoll, dass wir zum Thema zurückkommen.
({0})
Es ist nämlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass
die Sozialdemokraten den großen Erfolg der Koalition
gerade in diesem Bereich niederreden wollen, indem sie
einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.
({1})
Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist, die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser zu erschließen und den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderung
bereicherten Gesellschaft zu stärken. Wenn wir heute gemeinsam den vorliegenden Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen verabschieden, dann vollenden wir das
hochambitionierte Programm, das wir uns in der christlich-liberalen Koalition vorgenommen haben.
({2})
Am Anfang dieser Wahlperiode, im Herbst 2009,
habe ich an dieser Stelle gesagt: Deutschland verändert
sich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderung
gestalten. Migration und Integration stellen Deutschland
vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue
Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente
Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine
aktive Integrationspolitik geeinigt.
Heute wird diese neue Zuwanderungssteuerung im
Bundestag verabschiedet. Wir verbinden die wirksame
Integration mit der aktiven Steuerung von Zuwanderung,
ökonomische Vernunft und Fairness, Offenheit und Klarheit, Fördern und Fordern. Dieser rote Faden zieht sich
durch die christlich-liberale Integrations- und Migrationspolitik.
Man schaue sich die schon erreichten Erfolge an: Wir
haben die Visa-Warndatei eingeführt. Wir erleichtern so
den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland
unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stärken zugleich die Sicherheit unseres Landes, ohne ausufernde Datenerfassung und unter Wahrung der Bürgerrechte.
({3})
Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurde
für minderjährige, heranwachsende geduldete Ausländer
ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist humanitäre Rechtssicherheit.
Wir haben die Übermittlungspflichten zugunsten von
Kindern abgeschafft und die Residenzpflicht für die
Ausbildung und Bildung gelockert.
Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Menschenhandel auf drei Monate ausgedehnt und sind damit
einem Petitum von Opferverbänden und der Polizei gefolgt.
Wir haben die Bedingungen für die Abschiebehaft signifikant verbessert.
Und wir haben ein eigenständiges Wiederkehr- und
Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geschaffen und den eigenständigen Straftatbestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Opferschutz, verbunden mit dem klaren Appell, unsere
freiheitliche Werteordnung zu achten.
Hartfrid Wolff ({4})
Andere reden, meine Damen und Herren, wir haben
es gemacht. Die Koalition aus Union und FDP hat tatsächlich eine neue Zuwanderungs- und Integrationspolitik auf den Weg gebracht, die sich vom ideologischen
Ballast links-rot-grüner Utopien befreit hat.
Eine effiziente und interessengeleitete Steuerung von
Zuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt bürokratische Hemmnisse aufzubauen, wollen wir die Zuwanderung sinnvoll und interessengeleitet steuern. Die EURichtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten und
zur Blauen Karte bietet jetzt Anlass, den nächsten, weitergehenden Schritt zur Umsetzung des Konzepts der
Koalition zu tun, und wir gehen deutlich über die Richtlinie hinaus.
Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten
und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen wichtig.
({5})
Deutschland braucht qualifizierte Fachkräfte, Forscher und Entwickler und auch Unternehmer aus dem
Ausland. Diese brauchen klare, transparente und einfache Regeln. Diese schaffen wir mit dem vorliegenden
Gesetz.
Wichtig ist zudem, dass im Ausland für den Ausbildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland geworben wird. Auch deshalb müssen die aufenthalts- und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zum Beispiel
für Studenten aus Drittstaaten oder eben auch für Hochqualifizierte deutlich abgebaut werden. Dabei stehen die
EU-Mitgliedstaaten gegenseitig in einem starken Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb nehmen wir heute mit einer verbesserten Zuwanderungssteuerung auf.
Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Zuwanderung von Hochqualifizierten entbürokratisieren, beschleunigen und vereinfachen. Wir wollen zugleich zusätzliche Integrationsanreize schaffen. Wir modernisieren das deutsche Zuwanderungsrecht und passen
es den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaft
an. Schnelle behördliche Entscheidungen schaffen Klarheit. Dabei achten wir darauf, dass die Öffnung für
Hochqualifizierte nicht missbraucht wird.
Zusätzlich zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die
Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen und den
dauerhaften Zuzug von Fachkräften, für die auf dem
deutschen Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, zu erleichtern. Die bürokratische Vorrangprüfung entfällt in wesentlichen Bereichen.
Um den dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten
nach Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die
Gehaltsschwelle deutlich. Für Beschäftigte aus Mangelberufen ist der Zuzug signifikant vereinfacht worden.
Entscheidend ist zudem: Wir schaffen den Paradigmenwechsel in der Arbeitsmigration. Wir kommen ausländerrechtlich von einer Nachfrage- hin zu einer Angebotsorientiertheit. Der befristete Zuzug zur Arbeitsuche,
also ohne bestehenden Arbeitsvertrag, ist ein wesentlicher Schritt, der dies deutlich macht.
({6})
Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit dargestellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstruktiven und sehr fortschrittlichen Verhandlungsprozess in
der Zuwanderungspolitik gefunden. Lieber Reinhard
Grindel, wir machen noch weiter, nicht?
({7})
Diese Koalition hat einen entscheidenden Kurswechsel
in der Zuwanderungspolitik umgesetzt: mit Fördern und
Fordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrationsund arbeitsmarktorientiert.
({8})
Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequente
Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine
aktive Integrationspolitik um. Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen
auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und
Perspektiven eröffnet.
({9})
Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken,
für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern wollen Anreize dafür setzen.
({10})
Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen
muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich
positiv und aktiv denken. Ich erwarte - Frau Kollegin
Andreae, das ist damit gemeint -, dass wir durch serviceorientierte Behörden auch im Vollzug vor Ort, zum Beispiel bei Frau Öney in Baden-Württemberg, die in unserem Gesetz angelegten Anforderungen in täglich gelebte
Willkommenskultur umsetzen.
({11})
Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft, die
ganze Nation, wird durch Zuwanderung bereichert. Wissen ist längst international. Arbeit ist längst international. Forschung und Entwicklung machen eben nicht vor
Grenzen halt. Die deutsche Wirtschaft ist auf allen
Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte
ist längst international. Zuwanderung von Hochqualifizierten schafft Arbeitsplätze und weitet gesellschaftlich
den Horizont.
Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der
christlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderungen - ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.
({12})
Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um eines vorweg klarzustellen: Die Linke war
schon immer für Einwanderungserleichterungen, allerdings nicht, wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurf
vorgesehen ist, ausschließlich nach Nützlichkeitserwägungen der reichen Industrienationen,
({0})
sondern im Sinne von Menschenrechten und im Interesse der Menschen. Wir möchten keine Politik unterstützen, die Menschen zu trennen versucht nach denen,
die uns nützen, und denen, die uns vermeintlich ausnützen.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland schon so ein bisschen in die Nähe von Neokolonialismus kommt.
({1})
Wir bedienen uns nicht nur der Rohstoffe von Drittländern, sondern auch ihres „Humankapitals“, wie es ein
Sachverständiger in der Anhörung am Montag ausdrückte; ein Wort, das ich ausgesprochen schrecklich
finde; es war im Übrigen auch Unwort des Jahres 2004.
Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gibt es im Detail weitere Defizite im Gesetzentwurf. Ich möchte auf
zwei eingehen:
Zunächst - das ist schon angesprochen worden - die
mangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie in einem zentralen Punkt. Ich sage Ihnen: Die Berechnung der Gehaltsschwellen für Fachkräfte aus dem Ausland unter
Einbeziehung der Löhne von Menschen in Teilzeit und
in prekärer Beschäftigung verstößt eindeutig gegen die
EU-Vorgaben.
({2})
Das haben in der Anhörung am Montag auch gleich drei
Sachverständige bestätigt.
({3})
Die anderen haben sich dazu nicht konkret geäußert.
Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie muss die Erteilung der
Bluecard davon abhängig gemacht werden, dass die Gehaltshöhe dem 1,5- bzw. 1,2-Fachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedstaates, also in diesem Fall Deutschland, entspricht. Das ist
das Mindestniveau.
Ich unterstelle einfach einmal, dass die Bundesregierung weiß, dass sie die Richtlinie in diesem Punkt falsch
umsetzt. Wie anders ist zu erklären, dass im Gesetzentwurf jede nachvollziehbare Darlegung der Berechnung
des Bruttojahresgehalts fehlt? Selbst auf Nachfrage meiner Fraktion wurden die Zahlen verweigert. Das wundert
nicht; denn selbst wenn man die Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zugrunde legt - dies ist ja
nach Auskunft von unserem Staatssekretär Ole Schröder
die einzig mögliche und von der Bundesregierung gewählte Bezugsgröße -, werden die Vorgaben der Richtlinie nicht erfüllt. Wir müssen auch nicht groß rechnen,
um den Trick der Bundesregierung zur möglichst effektiven Absenkung der Mindestgehaltsschwelle zu durchschauen. Dieser besteht, wie gesagt, darin, nicht nur die
Gehälter der Vollzeitbeschäftigten heranzuziehen, sondern auch die Löhne von Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten, Minijobbern, Schülern, Rentnern mit Aushilfstätigkeiten usw.
Ich bitte Sie: Es geht hier um die Beschäftigung von
Hochqualifizierten, und Sie berechnen deren Mindestgehalt mithilfe der häufig nicht einmal existenzsichernden
Löhne in prekären Beschäftigungen, für deren zahlenmäßige Vermehrung Sie im Übrigen verantwortlich sind!
Wenn Hochqualifizierte teilzeitbeschäftigt werden sollen, finde ich das okay. Dann können sie sich mehr um
die Familie kümmern; ich bin ja auch Familienpolitiker.
Dann ziehen Sie aber auch nur für diese die Löhne der
Teilzeitbeschäftigten heran.
Warum bezieht sich die Bundesregierung nicht auf die
Zahlen von Eurostat, wie es in der Richtlinie vorgesehen
ist? Einfach deshalb, weil sich diese Zahlen auf Vollzeitarbeitskräfte beziehen. Das Statistische Bundesamt hat
Eurostat deshalb zuletzt einen Wert von 42 100 Euro
Bruttojahresgehalt geliefert. Das anderthalbfache davon
sind 63 150 Euro. Das müsste nach der Richtlinie das
Mindestgehalt sein. Das sind aber fast 20 000 Euro
mehr, als von der Bundesregierung vorgesehen. Sehenden Auges nimmt diese Regierung lieber ein Vertragsverletzungsverfahren in Kauf, als von dem durchsichtigen Versuch, die Löhne zu drücken, abzulassen. Zu den
maßgeblichen Hintergründen wird nachher meine Kollegin Krellmann noch Stellung nehmen.
Der zweite Punkt betrifft die Verhinderung des sogenannten Braindrain, also des Talentschwunds in den
Ländern, aus denen die Fachkräfte kommen. Auf die
Frage, ob eine Verordnung geplant ist - das ist ja vorgesehen -, um ein Ausbluten der Herkunftsländer bezüglich der von ihnen ausgebildeten Fachkräfte zu verhindern, und welche Kriterien eine solche Verordnung oder
Liste haben müsste, konnte die Bundesregierung am
Montag in der Anhörung keine Antwort geben. Vielleicht kann im Verlauf dieser Debatte noch jemand dazu
Auskunft geben. Denn ansonsten gehe ich davon aus,
dass es eine solche Verordnung nicht geben wird und
diese Bestimmung ein bloßes Feigenblatt darstellt. Aber
selbst wenn es eine solche Vorschrift geben sollte, bestünde nach wie vor noch die Möglichkeit, Fachkräfte
über § 18 Aufenthaltsgesetz einwandern zu lassen, ohne
auf die möglichen negativen Folgen in den Herkunftsländern zu achten.
Von all dem abgesehen gilt - das ist schon angesprochen worden; Sie und ich wissen das auch -, dass die
Fachkräfte im Ausland, egal welche Gesetze wir hier erlassen, gewiss nicht nach Deutschland strömen werden,
solange wir ein gesellschaftliches Klima haben, welches
nicht gerade der Migration zuträglich ist.
({4})
Wir konnten es gerade wieder live erleben, was für ein
Klima hier in Deutschland herrscht. Hören Sie endlich
auf, von Integrationsverweigerern und Einwanderern in
die Sozialsysteme zu schwadronieren! Wenn das aufhört,
würde das die Bereitschaft von Fachkräften, nach
Deutschland zu kommen, in der Tat fördern. Dann könnten wir wirklich eine vernünftige Einwanderungspolitik
machen.
({5})
Diesen Gesetzentwurf müssen wir ablehnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Zuwanderungsgesetz hat sich zu einem
Paragrafendschungel entwickelt. Anstatt den Paragrafendschungel zu lichten, wurschtelt die Bundesregierung
darin weiter und erreicht nur eine Verdunkelung.
Die Bundesregierung hat in der ersten Plenardebatte
zur Hochqualifizierten-Richtlinie reumütig angekündigt, ihren mangelhaften Gesetzentwurf zu verbessern.
Allerdings hat sie mit ihren Änderungen nur für mehr
Verwirrung und weniger Transparenz gesorgt. Die Einwanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte hat sie
teilweise sogar verschlechtert. Der Teufel steckt hier im
Detail, Herr Bundesinnenminister.
({0})
Spezialisten und leitende Angestellte sollen in Zukunft nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis für drei
Jahre erhalten. Bisher haben diese Personen eine Niederlassungserlaubnis, also ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, bekommen. Glaubt die Bundesregierung ernsthaft,
dass sie mit einem befristeten Aufenthaltsrecht die klugen Köpfe aus dem Ausland locken kann? Denken Sie
wirklich, dass diese Leute mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ihre Zukunft in Deutschland planen werden? Natürlich werden sich die Hochqualifizierten lieber
einen Staat aussuchen, der ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus gibt. Die Bundesregierung verpasst hier leider Chancen. Das geht nicht an.
({1})
Der Regierungsvorschlag, die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte von den
Deutschkenntnissen abhängig zu machen, ist fatal. Ein
Informatiker, für dessen Tätigkeit die englische Sprache
entscheidend ist, sollte nicht aufgrund geringer deutscher Sprachkenntnisse ausgeschlossen werden. Ansonsten kann Deutschland nur noch auf die klugen Köpfe aus
Österreich und der deutschsprachigen Schweiz hoffen.
Allerdings verlieren wir gerade selbst hochqualifizierte
Fachkräfte an diese Nachbarstaaten. Das ist doch hirnrissig, meine Damen und Herren.
({2})
Die Frist für die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie
lief am 19. Juni letzten Jahres aus. Die Bundesregierung
ist nicht nur im Verzug, sondern setzt manche Vorgaben
der europäischen Richtlinie gar nicht um. Ein Beispiel
dafür ist die Festlegung der Gehaltsgrenze für hochqualifizierte Fachkräfte. Diese bemisst sich nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung an der Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung. Hierzu ist
zum einen festzustellen, dass wir in Deutschland zwei
Beitragsbemessungsgrenzen haben, nämlich für Ost und
West, und zum anderen, dass die europäische Richtlinie
vorschreibt, dass die Gehaltsgrenze sich am durchschnittlichen Bruttojahresgehalt im jeweiligen Land
orientieren muss. Sie haben insofern einen mangelhaften
Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie lieber zurückziehen
sollten. Wer die Blaue Karte EU so schlecht und schlampig umsetzt wie die Bundesregierung, der verdient nur
eine Rote Karte, meine Damen und Herren.
({3})
Schwarz-Gelb beschränkt den Kreis der Begünstigten
auf Hochschulabsolventen. Menschen mit langjähriger
Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulabschluss vergleichbar ist, werden nicht berücksichtigt.
Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Der Gesundheitsminister Daniel Bahr gibt sich mit den geplanten
Änderungen nicht zufrieden. Er fordert, die Einwanderungsbedingungen für Pflegekräfte zu lockern. Während
sich die Koalition streitet, entgeht uns das großen Potenzial an Fachkräften. Wenn die Bundesregierung es ernst
meint mit der Anwerbung von klugen Köpfen aus dem
Ausland, muss sie endlich umdenken.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist
der große Wurf leider ausgeblieben.
({5})
Trippelschritte im Zuwanderungsrecht reichen nicht aus,
zumal es auch teilweise Rückwärtsschritte sind. Der Gesetzentwurf ist nicht nur kleinteilig und bürokratisch,
sondern enthält sogar Vorschriften zur Verschärfung der
derzeitigen Rechtslage. Insgesamt ist dieses halbherzige
Vorgehen ein falsches Signal an diejenigen Fachkräfte,
denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedingungen bieten möchte.
Im Gegensatz zur Bundesregierung arbeiten wir konstruktiv. Deshalb haben wir zu unseren Kritikpunkten einen sinnvollen und lösungsorientierten Entschließungsantrag eingebracht. Hier kann die FDP endlich über
ihren eigenen Schatten springen, eine letzte gute Tat tun
und unserem Antrag zustimmen.
Wir müssen dringend das deutsche Einwanderungsrecht grundlegend und umfassend reformieren. Die Leitgedanken sollten dabei sein: erstens Vereinfachung,
zweitens mehr Systematik und Transparenz sowie drittens weniger Bürokratie. Das kann man am besten mit
der Schaffung eines sogenannten Punktesystems realisieren. Dazu haben wir bereits einen Antrag eingebracht,
der heute auch zur Abstimmung steht. Neben dem DGB,
den Arbeitgeberverbänden und der Wissenschaft streben
auch SPD und FDP ein Punktesystem an. Die Linke
spielt dabei mit der Union die Dagegenpartei und blockiert die notwendige Modernisierung. Dafür bekommen beide null Punkte.
({6})
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es für notwendig erachtet, diese Debatte zu einem Angriff auf unseren Fraktionsvorsitzenden zu nutzen.
({0})
Ich finde, Sie sollten darüber nachdenken, ob man nicht
ausländische Mitbürger auch dadurch verunsichert, dass
man Äußerungen des politischen Gegners bewusst fehlinterpretiert.
({1})
Unsere Mitbürger muslimischen Glaubens gehören zu
uns und zu unserem Land. Wir führen mit ihnen den Dialog.
({2})
Aber wer den Dialog führt, der muss seine eigene Identität, seine eigene Geschichte und seine eigene Herkunft
kennen. Sonst kann kein ehrlicher Dialog geführt werden.
({3})
Dazu hat sich Volker Kauder geäußert. Sie sollten nicht
mit Fehlinterpretationen unsere ausländischen Mitbürger
verunsichern und damit politische Spielchen treiben. So
erreichen Sie genau das, was Sie meinten, Volker Kauder
vorwerfen zu müssen. Das ist nicht in Ordnung, Frau
Kollegin.
({4})
Mit unserem Gesetzentwurf kommen wir einem immer wieder gerade auch von der Wirtschaft vorgetragenen Wunsch nach, nämlich den Zugang von ausländischen Fachkräfte zu erleichtern, ohne allerdings auf eine
notwendige Steuerung der Zuwanderung zu verzichten.
Wir beseitigen bürokratische Hürden und erleichtern es
den Unternehmen gerade aus dem Mittelstand, gegen
den Fachkräftemangel anzugehen.
Ich will jedoch gleich eines festhalten: Beim Kampf
um die klugen Köpfe reicht es nicht aus, allein für eine
transparente und nachvollziehbare rechtliche Grundlage
zu sorgen. Jetzt ist die Wirtschaft gefragt, selbst substanzielle Beiträge zu leisten und Deutschland attraktiver für
kluge Köpfe zu machen, die aus aller Welt zu uns kommen sollen. Eines müssen wir uns ja vor Augen führen:
Leider verlassen Deutschland immer noch mehr Fachkräfte, als neue zu uns kommen. Das kann ersichtlich
nicht am Ausländerrecht liegen.
({5})
Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte aus den
zehn neuen EU-Beitrittsländern sind gerade einmal
60 000 Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu uns gekommen. Mit bis zu einer halben Million hatte man gerechnet. Deutschland muss insgesamt attraktiver werden.
Das geht über die rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus.
Ausländischen Fachkräften muss schlicht und ergreifend eine bessere Bezahlung angeboten werden. Ausländische Studienabsolventen, in die wir gerade viel investiert haben, dürfen nicht mit Praktika oder kurzfristigen
Zeitverträgen abgespeist werden, sondern sie müssen
eine ordentliche Anstellung bekommen. Und unsere Unternehmen müssen mehr in die Sprachkompetenz ihrer
Mitarbeiter investieren. Das ist genau das, was wir mit
Willkommenskultur meinen. Es müssen diejenigen, die
nicht zuletzt zu unserem Wohlstand beitragen, die notwendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um sich in
unserem Land wohlfühlen zu können.
({6})
Ich will deutlich hervorheben, dass die Koalitionsfraktionen substanzielle Veränderungen des ursprünglichen Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgenommen haben. Unsere Änderungen haben das Gesetz besser
gemacht. Das ist uns in einer bei dieser ausländerrechtlichen Thematik ungewöhnlichen Breite von den Sachverständigen bei der Anhörung am Montag bestätigt worden. Deswegen wird sich die SPD, auch wenn man es
nach der Rede von Frau Kolbe kaum glauben kann,
heute hier wie im Innenausschuss enthalten.
Wenig Verständnis habe ich angesichts dieser Diskussionslage dafür, dass ausgerechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag größter Kritiker unseres
neuen Gesetzes ist, noch dazu mit Argumenten, die von
Sachkenntnis völlig ungetrübt sind. Ich will hier eines
deutlich betonen: Es wäre auch Aufgabe des DIHK mit
seinen Außenhandelskammern gewesen, also den Vertretungen in den Ländern, in denen die klugen Köpfe
sind, die zu uns kommen sollen, mehr zu tun, um Fachkräfte für den Arbeitsplatzstandort Deutschland zu interessieren. Da hat es in der Vergangenheit erhebliche Versäumnisse gegeben. Ich rufe uns alle auf, Politik, aber
auch Wirtschaft, gemeinsam mehr zu tun, wo immer wir
können, gerade auch im Ausland, um dafür zu werben,
hier in Deutschland sein Glück zu machen und hier seinen Arbeitsplatz zu wählen. Die notwendigen Rahmenbedingungen haben wir dafür jetzt geschaffen.
({7})
In Zukunft gibt es einen einheitlichen Aufenthaltstitel
für ausländische Fachkräfte. Wer sagt, lieber Herr Kollege Kilic, wir hätten den Dschungel noch vergrößert,
({8})
der rennt als Schwarzmaler mit einer Sonnenbrille durch
den Dschungel. Das kann man so nicht stehen lassen.
Nach drei Jahren Beschäftigung gibt es jetzt für alle eine
Niederlassungserlaubnis. Wir glauben, dass man in der
Tat von einer Integration in den Arbeitsmarkt ausgehen
kann. Wenn der betroffene ausländische Arbeitnehmer
besonders gute Deutschkenntnisse nachweist, dann kann
er schon nach zwei Jahren die Niederlassungserlaubnis
erlangen.
Ich will hier - auch der Bundesinnenminister hat das
dankenswerterweise schon getan - noch einmal besonders hervorheben: Erstmals verknüpfen wir im Aufenthaltsrecht eine Integrationsleistung mit einer Verbesserung des Aufenthaltsstatus. Das ist der eigentliche
Paradigmenwechsel in diesem neuen Gesetz: Die aufenthaltsrechtliche Situation des Ausländers verbessert sich,
je mehr er selbst für seine Integration leistet. Das halte
ich für die wegweisende Neuorientierung. Wir sollten
überlegen, das auch an anderen Stellen des Ausländerrechts zu machen. Wer Ja zu unserem Land sagt, wer
sich selbst um die Integration bemüht, wer gute Sprachkenntnisse erwirbt,
({9})
der bekommt auch schneller einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Das ist kluge Integrationspolitik.
({10})
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?
Wenn er nicht wieder irgendwelche Karten zeigt und
Noten gibt, ja.
Lieber Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu,
dass Sie in § 19 Abs. 2 Nr. 3 eine Regelung streichen?
Bisher bekommen die dort genannten Spezialisten und
leitenden Angestellten eine Niederlassungsgenehmigung. Sie werden im Zuge der Bluecard-Regelung jetzt
in den neu geschaffenen § 19 a geschoben. Dadurch erreichen Sie nur Verwirrung.
Stimmen Sie mir auch zu, dass die Hochqualifizierten
gemäß § 19 ihre Ehegatten nachziehen lassen und mitnehmen konnten, ohne dass sie deutsche Sprachkenntnisse hatten, und diese eine eigenständige Niederlassungsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung bekommen
haben, jetzt aber, wo sie in den § 19 a geschoben werden,
die Ehegatten die Niederlassungsgenehmigung nicht automatisch bekommen, es sei denn, sie sind Bluecard-Inhaber oder Pflegekräfte, und sie ihre Ehegatten nur dann
mitnehmen können, wenn die Ehe bereits bestanden hat,
aber nachziehende Ehegatten dann doch deutsche
Sprachkenntnisse nachweisen müssen?
Ist das eine Vereinfachung, oder wie soll man das verstehen? Können Sie mir erklären, wieso ich mich angesichts dessen wie mit einer Sonnenbrille im Dschungel
bewegen soll?
({0})
Was meinen Sie wohl, was die Zuschauer, die uns
jetzt über Phoenix zuschauen, bei Ihrer Frage eben gedacht haben? Die haben nichts verstanden.
({0})
Ihre Frage zeigt, dass Sie das Gesetz nicht verstanden
haben.
({1})
Es gibt jetzt einen einheitlichen Aufenthaltstitel für alle
und damit natürlich auch für die Gruppe, die Sie angesprochen haben. Es wäre doch völlig widersinnig, wenn
wir einen Aufenthaltstitel für Bluecard-Inhaber und dann
noch einen Aufenthaltstitel für leitende Angestellte und
Spezialisten hätten. Wir schaffen eine einheitliche Regelung beim Ehegattennachzug; das haben wir Ihnen gesagt. Die Spezialisten und Fachleute werden jetzt genauso behandelt wie alle anderen Bluecard-Inhaber. Sie
werden eine dauerhafte Perspektive in Deutschland haben, wenn sie so qualifiziert sind, wie sie es nach der gesetzlichen Grundlage sein müssen. Das ist ja gerade,
wenn Sie so wollen, das Anti-Dschungel-Instrument dieses Gesetzes: ein Aufenthaltstitel für alle ausländischen
Fachkräfte, die zu uns kommen wollen. Ich halte das für
transparent, für nachvollziehbar, und das wird hoffentlich erfolgreich sein, wenn man nicht mit solchen verwirrenden Zwischenfragen Unruhe und Unfrieden stiftet, Herr Kollege Kilic.
({2})
Ich will nur noch auf einen Punkt hinweisen, bei dem
es um eine Frage der inhaltlichen Sichtweise von Politik
geht. Sie haben im Innenausschuss einen Änderungsantrag zu der Regelung eingebracht, die ich gerade genannt
habe: Rund drei Jahre guter Aufenthalt mit Beschäftigung in Deutschland führt zur Niederlassungserlaubnis;
wenn man gute Deutschkenntnisse hat, gibt es die Niederlassungserlaubnis schon nach zwei Jahren. Das wollten Sie streichen. Sie schreiben zur Begründung Ihres
Änderungsantrages - das muss man sich wirklich auf der
Zunge zergehen lassen -:
Mit dem Änderungsantrag wird darüber hinaus die
Pflicht, Deutschkenntnisse nachzuweisen, gestrichen.
({3})
Das ist der Unterschied zwischen Grünen und CDU/
CSU: Wir prämieren, wenn man Deutsch lernt. Sie wollen prämieren, wenn man nicht Deutsch lernt.
({4})
Das ist der Unterschied in der Integrationspolitik. Ich
halte den Weg, den Sie da beschreiten, Herr Kollege
Kilic, für einen ziemlichen Irrweg.
({5})
Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie Sie uns hier Lohndumping vorhalten können;
denn gerade Lohndumping und ausbeuterische Arbeitsbedingungen werden mit dem Bluecard-Gesetz verhindert. Die von uns gewählten Einkommensgrenzen sorgen
gerade dafür, dass tatsächlich nur qualifizierte Fachkräfte in unser Land kommen. Kein einheimischer Arbeitsloser muss befürchten, durch das Bluecard-Gesetz
ins Hintertreffen zu geraten. Gleichzeitig sehen wir bei
den Mangelberufen, bei denen die Einkommensgrenzen
etwas niedriger liegen, sogenannte Vergleichbarkeitsprüfungen vor, die eben für faire Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sorgen. Unser Gesetz sorgt gerade nicht dafür, dass Arbeitslosen in Deutschland Konkurrenz durch
willige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland entsteht. Das wollen wir als CDU/CSU gerade nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Wir wollen auch, dass es dabei bleibt, dass derjenige,
der als Deutscher oder Ausländer bei der Bundesagentur
als Arbeitsloser gemeldet ist und in genau der gleichen
Weise qualifiziert ist wie eine ausländische Fachkraft,
die in unser Land kommen soll, grundsätzlich Vorrang
hat, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu besetzen.
Daran wird nicht gerüttelt. Es bleibt beim Vorrang unserer einheimischen Arbeitslosen. Es gibt jetzt die Verpflichtung - Kollege Wolff hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass die Bundesagentur innerhalb von zwei
Wochen entscheidet; sonst gilt die Zustimmung als erteilt. Aber es bleibt eben beim Vorrang.
Schlusssatz, Herr Präsident: Mit unserem Gesetz zur
Zuwanderung von ausländischen Fachkräften machen
wir den Arbeitsplatz- und auch den Studienstandort
Deutschland attraktiver. Die Politik hat die notwendigen
Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt ist die Wirtschaft
an der Reihe, ihren Beitrag zu leisten, damit unser Land
den Kampf um die klugen Köpfe gewinnt.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({7})
Das Wort hat der Kollege Swen Schulz von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland
muss ein offenes Land werden - offener, als es heute bereits ist, ein Land, das Menschen einlädt, zu uns zu kommen und hier mitzuhelfen, mitzutun. Es ist wichtig, dass
Deutschland ein Land wird, das Menschen Chancen gibt,
auch Anerkennung gibt - unabhängig von ihrer Herkunft.
({0})
Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Das ist wichtig
für die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit und auch
für die Finanzierung von sozialer Sicherheit.
Die gute Nachricht von heute - bei allen Unterschieden in der Debatte - ist, dass alle Fraktionen bekundet
haben, dass sie das vom Grundsatz her genauso sehen.
Das war aber in der Vergangenheit mitnichten immer der
Fall. Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie es
war, als Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard
Schröder ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. Es
wurde insbesondere von der CDU/CSU nachgerade mit
dem Messer zwischen den Zähnen bekämpft. Wir wissen
das noch sehr genau.
({1})
Aber Sie sind inzwischen ein gutes Stück weit auf uns
zugekommen. Das will ich hier auch einmal positiv hervorheben. Dies zeigt sich auch bei der Umsetzung der
Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union.
Es hat lange gedauert; es war mühsam; es bedurfte des
Anschubs der Europäischen Union. Aber jetzt gab es immerhin dann doch den Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Was mich heute Morgen ganz besonders milde
stimmt, ist Folgendes: Die Koalitionsfraktionen sind auf
Verbesserungsvorschläge eingegangen. Wir haben unter
Swen Schulz ({2})
anderem beantragt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten
ausländischer Studierender verbessert werden und dass
die Frist für die Arbeitsplatzsuche von Absolventen verlängert wird. Dem sind Sie gefolgt.
({3})
Die Beratungen haben also etwas gebracht. Das will ich
hier auch einmal ausdrücklich loben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Bevor Sie jetzt aber vor lauter Komplimenten von
meiner Seite rot werden, will ich doch noch auf einige
Fehlstellen hinweisen.
Im Gesetz werden beruflich Qualifizierte schlechter
gestellt als Akademiker. Das ist ein Problem. Auch bei
der Definition der Angemessenheit der Arbeit hätte es
Vereinfachungen geben sollen. Grundsätzlich wäre es
besser gewesen, ein reformiertes Zuwanderungsrecht zu
schaffen, anstatt an einzelnen Stellen herumzuschrauben. Erst mit einem neuen Punktesystem aus einem Guss
kommen wir wirklich auf einen internationalen Standard, der uns voranbringt. Aber da waren offenbar die
Einwände und die Vorbehalte bei der Union zu groß.
Es gibt noch andere Themen, die die Koalition nicht
im Blick hat. So ist die Frage der Fachkräfte eine Thematik nicht nur des Zuwanderungs- und des Aufenthaltsrechts. Da braucht es eine Politik, in der die Zahnräder
ineinandergreifen und sich sozusagen ergänzen. Das
lässt die Koalition leider schmerzlich vermissen. Ich will
hierzu nur einige Stichworte aus dem Bereich der Bildungspolitik nennen.
Nach einer aktuellen Studie bekunden 80 Prozent der
ausländischen Studierenden, dass sie nach ihrem Abschluss hierbleiben wollen; aber nur 26 Prozent schaffen
das tatsächlich. Das ist selbstverständlich auch eine
Frage des Aufenthaltsrechts, aber eben nicht nur. Da
geht es auch um weitere Rahmenbedingungen.
An dieser Stelle will ich auf einige Punkte hinweisen.
Menschen, die hier arbeiten wollen und Familie haben,
nützt eine Diskussion um das Betreuungsgeld überhaupt
nichts. Sie brauchen Betreuungsangebote, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
({5})
Sie brauchen gute Schulen mit den entsprechenden
Ganztagsangeboten. Für ausländische Absolventen benötigen wir auch mehr Studienplätze. Da ist eine Aufstockung der Mittel des Hochschulpaktes erforderlich. An
allen diesen Stellen herrscht bei der Regierungskoalition
leider Fehlanzeige.
Ganz wichtig ist, dass natürlich auch und vor allem
die Menschen, die bereits hier leben, in der Bildung und
im beruflichen Bereich unterstützt und gefördert werden.
Da ist das Betreuungsgeld genau falsch; es ist kontraproduktiv.
Außerdem brauchen wir endlich bessere Schulen. Da
muss der Bund dann auch den Ländern helfen.
({6})
Aber Sie von der Regierungskoalition verweigern sich ja
der Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich.
({7})
Zudem brauchen wir mehr Studienplätze. Aber die Finanzplanung der Bundesregierung sieht nach der Bundestagswahl 2013 eine Kürzung im Bildungsbereich vor.
CDU/CSU und FDP setzen den Rotstift an der Bildung
an, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist genau der falsche Weg.
({8})
- Schauen Sie sich doch die mittelfristige Finanzplanung
Ihrer Bundesregierung an. Was passiert denn nach 2013?
2014 bis 2016 sind über eine halbe Milliarde Euro weniger vorgesehen. Das ist die bittere Wahrheit. Sie sollten
sich einmal mit Ihren eigenen Vorlagen beschäftigen,
liebe Kollegen.
({9})
Bei allem Lob, das ich Ihnen zu Beginn der Rede für
Verbesserungen an dem Gesetzentwurf gezollt habe, fällt
die Bilanz insgesamt also ziemlich durchwachsen aus.
Ordentlich voran kommen wir wohl erst bei einem Regierungswechsel nach den nächsten Wahlen.
({10})
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich glaube, es ist heute ein guter Tag; denn wir
brauchen in Deutschland dringend mehr Zuwanderung.
Ich bin froh darüber, dass hierin offenbar zwischenzeitlich Einigkeit besteht.
Die Lage ist klar. Schauen wir uns die demografische
Entwicklung an: Im Jahr 2025 werden wir in Deutschland 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter
weniger haben als heute. Negative Auswirkungen sind
schon heute absehbar. Wenn ich mit mittelständischen
Johannes Vogel ({0})
Unternehmen meines Wahlkreises im Sauerland rede,
zum Beispiel mit Unternehmen der Automobilzulieferindustrie, dann sagen die Unternehmer: Wenn wir in Zukunft Ingenieurstellen nicht mehr besetzen können, dann
wird das auch die Arbeitsplätze der Angestellten in der
Produktion gefährden. Umgekehrt gilt: Wenn wir gute
und hochqualifizierte Ingenieure finden, dann ist sichergestellt, dass wir auch in Zukunft innovative Produkte
entwickeln und weitere Arbeitsplätze schaffen können. Deswegen müssen wir alles tun, um auf den demografischen Wandel zu reagieren.
({1})
Das heißt zuvorderst, sich den inländischen Potenzialen zu widmen. Es geht natürlich um die Älteren am
Arbeitsmarkt, um Frauen am Arbeitsmarkt, um Weiterbildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen, um die
Anerkennung von Abschlüssen und um die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. All diesen Themen widmet sich die
christlich-liberale Koalition bereits sehr erfolgreich.
Aber all das zusammen wird nicht reichen. Auch wenn
in allen Bereichen alles gelingt: Ohne mehr Zuwanderung
wird es nicht gehen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns
auf die erfolgreiche Zuwanderungstradition in Deutschland berufen. Man muss noch einmal klar sagen: In
Deutschland ist die Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte.
Vor 300 Jahren sprach ein Viertel der Einwohner in Berlin
fließend Französisch. Vor 100 Jahren sprachen eine halbe
Million Menschen im Ruhrgebiet fließend Polnisch.
Heute sprechen zwei Millionen Menschen in diesem
Land fließend Türkisch, weil sie türkische Wurzeln haben. All diese Zuwanderer in der Vergangenheit haben
nicht nur unsere Gesellschaft bereichert, sondern auch die
wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in Deutschland mitgeschrieben. Das muss man klar sagen.
({2})
Deshalb müssen wir uns auf diese Tradition besinnen;
denn heute - das müssen wir ehrlich anerkennen - sind
wir nicht gut im Wettbewerb um die klugen Köpfe auf
dem globalen Arbeitsmarkt. Das hat Gründe. Diese liegen auch in unserem Zuwanderungssystem. Wir müssen
uns folgende Situation vergegenwärtigen: Wenn sich
beispielsweise ein gut ausgebildeter junger Mensch von
den Philippinen überlegt hat, sein Land zu verlassen und
in Deutschland zu arbeiten, dann musste er Deutsch
sprechen lernen - das ist richtig und muss auch so bleiben -, weil hier nicht allein die Weltsprache Englisch gesprochen wird. Aber außerdem musste dieser junge
Mann, der sich vom Ausland aus auf eine Stelle bewarb,
in Deutschland eine langwierige Vorrangprüfung durch
die Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, oder er
musste sehr viel verdienen, was für die meisten Berufseinsteiger völlig unrealistisch ist.
In Kanada beispielsweise kann jemand innerhalb weniger Minuten im Internet ermitteln, ob er zuwandern
darf. Ist das der Fall, dann bekommt er die Genehmigung
zur Einreise. Danach kann er sich innerhalb eines Jahres
in Ruhe um einen Arbeitsplatz kümmern. Man muss sich
also nicht wundern, dass das bisherige System in
Deutschland nicht wettbewerbsfähig war. Es ist gut, dass
sich die christlich-liberale Koalition die Aufgabe stellt,
das zu reformieren. Das ist ein Erfolg für unser Land.
({3})
Schauen wir uns an, was durch den Gesetzentwurf erreicht werden soll. Die Vorrangprüfung für Mangelberufe wird ausgesetzt. Eine Genehmigungsfiktion bei der
Vorrangprüfung wird eingeführt. Die Gehaltsgrenzen für
Mangelberufe werden auf ein realistisches Maß zurückgeführt. Wir geben den Menschen, die hier studiert haben und sich danach einen Arbeitsplatz suchen wollen,
bessere Voraussetzungen als bisher. Hier wünsche ich
mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, angesichts dieses Paradigmenwechsels mehr Anerkennung.
({4})
Ich habe mich über Ihr Lob gefreut. Aber eines haben
Sie unterschlagen: Durch die Einführung des Arbeitsuchvisums kommen wir erstmalig von der zwingenden
Voraussetzung des Vorliegens eines Arbeitsplatzes weg,
auf den man sich vom Ausland aus bewerben muss. Das
ist ein entscheidender Paradigmenwechsel. Diese Systemveränderung leiten wir ein. Das ist gut für unser
Land. Das ist die entscheidende Reform, über die wir
uns heute alle freuen können.
({5})
Richtig ist natürlich: Es kann nicht nur bei einem System bleiben. Ein wettbewerbsfähiges modernes Zuwanderungssystem ist ein entscheidender Faktor im Wettbewerb um die klugen Köpfe. Das ist aber nicht der
einzige.
Wir brauchen drei Dinge, drei Ws: Zunächst benötigen wir ein wettbewerbsfähiges System; das führen wir
heute ein. Hiermit schaffen wir den entscheidenden
Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen
- und da wird die Wirtschaft in der Tat besonders gefordert sein - die deutschen Unternehmen um die klugen
Köpfe im Ausland werben; sie müssen eine ganz konkrete Anwerbungspolitik betreiben. Außerdem - ich
freue mich, dass auch darüber heute Konsens herrscht brauchen wir eine Willkommenskultur. Das halte ich im
Übrigen für eine überparteiliche Aufgabe. In der Vergangenheit ist hier in allen politischen Bereichen viel schiefgelaufen. Wir - das heißt die deutschen Behörden, wir
als Politiker und die deutsche Gesellschaft - brauchen
eine gemeinsame Willkommenskultur.
Ich will mit gutem Beispiel vorangehen und möchte
in diesem Zusammenhang den neuen Bundespräsidenten
Gauck zitieren. Zum Thema Willkommenskultur hat
nicht nur der vorherige Bundespräsident kluge und wichtige Dinge gesagt, sondern gestern in der Paulskirche in
Frankfurt auch der neue Bundespräsident Gauck. Er
sprach zu jungen Migrantinnen und Migranten, also
Menschen mit ausländischen Wurzeln, die im Rahmen
Johannes Vogel ({6})
eines Stipendienprogramms, das vor zehn Jahren eingeführt wurde, gefördert werden. Er hat etwas gesagt, was
der Grundsatz einer Willkommenskultur sein sollte und
was wir denjenigen Menschen, die noch nicht in
Deutschland leben, ebenfalls sagen sollten. Ich zitiere
den Bundespräsidenten:
Wir glauben an Euch! Nicht nur als Fachkräfte von
morgen, sondern als Bürger, Menschen an unserer
Seite, hier in diesem unserem Land!
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist der Geist unserer
Politik.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich auf die Zuwanderung von vielen Menschen aus dieser Welt. Allerdings finde ich, dass
dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als wieder einmal der Versuch, Lohndumping in dieser Republik zu
befördern.
({0})
Sie wollen die Mindestgehaltsgrenzen für die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung von Beschäftigten aus
außereuropäischen Ländern deutlich unter den bestehenden Tarifentgelten ansetzen.
({1})
- Jetzt rede ich, danach dürfen Sie. - Das ist unverantwortlich, sowohl gegenüber den zuwandernden wie auch
gegenüber den einheimischen Arbeitskräften. Die Beschäftigten werden gegeneinander ausgespielt. Der Wert
von Tarifverträgen für Hochqualifizierte wird von der
Politik infrage gestellt. Wo bleibt eigentlich Ihr Aufschrei bei diesem politischen Angriff auf die Tarifautonomie?
({2})
Sie präsentieren sich an anderer Stelle, insbesondere
wenn es um Mindestlöhne geht, als die großen Hüter.
Und jetzt? Anscheinend gilt Ihre Sorge um die Tarifautonomie nur dann, wenn Sie die Interessen von Arbeitgebern schützen können.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bundesland,
aus Niedersachsen: Nach den Vorstellungen der Koalition soll ein hochqualifizierter Ingenieur aus einem
Nicht-EU-Staat in Zukunft hierzulande für ein Entgelt
von 34 000 Euro im Jahr arbeiten können. Derzeit beläuft sich dieser Schwellenwert auf 66 000 Euro pro
Jahr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Fachhochschulausbildung verdient in Niedersachsen nach Tarifvertrag 47 000 Euro pro Jahr, ein Diplomingenieur oder
eine Diplomingenieurin 53 000 Euro. Es liegt auf der
Hand, dass bei der beabsichtigten Absenkung der Mindestgehaltsgrenze Ingenieure und Ingenieurinnen aus
dem Nicht-EU-Ausland dazu missbraucht werden können, um das derzeitige Einkommensniveau der heutigen
Ingenieure unter Druck zu setzen.
({3})
Das ist nicht hinnehmbar!
({4})
Die Linksfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb
entschieden ab. Wir lehnen es ab, dass sich die Unternehmen hemmungslos auf dem weltweiten Arbeitsmarkt
günstig bedienen können, statt für gute Jobs, für Qualifikation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für genügend Ausbildungsplätze zu sorgen.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
schieben den Fachkräftemangel doch nur vor. Es gibt erhebliche Zweifel über das Ausmaß des Fachkräftemangels. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise das
DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, einen nennenswerten Ingenieurmangel bestreitet. Für
meine Region kann ich nicht behaupten, dass es keine
Probleme gäbe. Bei uns klagen Betriebe durchaus über
Ingenieurmangel, insbesondere im Bereich Elektrotechnik. Die Unternehmen klagen aber nicht über die Höhe
des Schwellenwertes, sie fordern auch nicht die Absenkung, sondern ihr Ziel ist die Einstellung von Fachkräften. Sie bieten freiwillig gute Bedingungen und gutes
Geld.
({5})
Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel in
diesem Land tun wollen, dann erweisen Sie diesem
Anliegen mit Ihrem Gesetzentwurf regelrecht einen Bärendienst. Lohndrückerei hat mit nachhaltiger Beschäftigungspolitik und Qualitätssicherung nichts zu tun. Was
wir eigentlich brauchen, ist ein umfassendes Maßnahmenpaket. Wir brauchen gute Tarifverträge, gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, den Abbau von Bildungshürden und die langfristige Förderung und
Weiterbildung der Menschen hier in diesem Land.
({6})
Die IG Metall, Bezirk Niedersachsen und SachsenAnhalt, hat am vergangenen Montag ein solides Konzept
mit Maßnahmen für die Fachkräftesicherung im Ingenieursbereich vorgelegt. Ich kann Ihnen die Lektüre dieses Konzepts nur wärmstens empfehlen.
Die Linke fordert: Streichen Sie die Anstiftung zum
Lohndumping aus diesem Gesetzentwurf. Das wäre ganz
einfach: Sie müssten einfach nur die Vorgaben der EURichtlinie umsetzen.
({7})
Mein Kollege Wunderlich hat das hier schon dargelegt.
({8})
Orientieren Sie die Mindestgehaltsgrenze am durchschnittlichen Bruttojahresgehalt eines Vollzeitbeschäftigten und lassen Sie uns dann darüber sprechen, wie wir
die Fachkräftesituation verbessern können, und zwar im
Interesse der zuwandernden und der einheimischen Beschäftigten.
Vielen Dank.
({9})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Kerstin Andreae.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die wichtigste Ressource unserer Wirtschaft
sind die Köpfe gut ausgebildeter Fachkräfte. Der VDI
sagt: Uns fehlen derzeit 110 000 Ingenieure; damit einher geht ein Wertschöpfungsverlust von 8 Milliarden
Euro. Deutsche Schlüsselindustrien wie Maschinenbau,
Elektrotechnik, Fahrzeugbau und Telekommunikation
sind massiv betroffen. Aber auch in anderen Branchen
fehlen Fachkräfte; etwa im Pflegebereich gibt es 42 000
offene Stellen.
Deshalb brauchen wir eine bessere Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen und von älteren Beschäftigten
und natürlich die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus sind deutlich attraktivere Bedingungen für qualifizierte Spezialisten und Hochschulabsolventen aus dem Ausland und deren
Familienangehörige vonnöten. Ich betone: Es bedarf
deutlich besserer Bedingungen. Diese beiden Aspekte
- Bildung hier, Zuwanderung dort - dürfen wir nicht gegeneinander ausspielen; wir brauchen beides.
({0})
Die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie wäre eine Chance für eine neue Willkommenskultur. Aber Sie verstecken sich hinter dieser Richtlinie, anstatt sie als Türöffner zu nutzen. Viele Regelungen in
diesem Gesetzentwurf sind kleinteilige Ausnahmen, die
manches eher erschweren. Damit bauen Sie Hürden auf.
Die in Sonntagsreden geforderte Willkommenskultur
wird genau damit nicht geschaffen. Sie verstecken sich.
Sie springen halb, aber keineswegs ganz, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition.
({1})
Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Vogel hat von
der arbeitsplatzunabhängigen Einwanderung von Hochschulabsolventen gesprochen. Gute Idee! Hochschulabsolventen können für sechs Monate - nach unserer Auffassung wäre ein Zeitraum von einem Jahr besser
gewesen - hierherkommen; das ist okay. Um kommen
zu dürfen, müssen sie keinen Job vorweisen, sondern es
reicht, wenn sie sich darum bemühen. Wunderbar! Warum steht im Gesetzentwurf, dass diese Regelung nach
vier Jahren ausläuft? Das ist doch keine Willkommenskultur, mit der Sie signalisieren: Klar, wir machen etwas
für euch. Stattdessen schaffen Sie eine weitere Hürde.
Wovor haben Sie denn Angst?
({2})
- Natürlich können Sie nach vier Jahren eine bessere Regelung schaffen.
({3})
Entschuldigung, Gesetze verabschiedet man nicht mit
der Absicht, irgendwann einmal bessere zu verabschieden. Stattdessen bringt man das Bestmögliche auf den
Weg, und wenn man weiß, wie es besser geht, dann setzt
man es gleich um. Mit dem, was Sie tun, signalisieren
Sie nur - darauf bezieht sich doch der Streit zwischen Ihnen -, dass Sie nicht wirklich wollen, dass wir uns hier
als offene, moderne Gesellschaft präsentieren.
({4})
Immer wieder tragen Sie Scheuklappen, und immer
wieder nähern Sie sich der Sache mit Angst vor zu viel
Zuwanderung.
({5})
Stattdessen sollten Sie einfach sagen: Ja, ausländische
Hochschulabsolventen, wir sehen es gern, dass ihr zu
uns kommt. - Das ist die Botschaft, die Sie senden sollten. Wovor haben Sie eigentlich Angst?
({6})
Dass uns jetzt eine große Anzahl von ausländischen
Fachkräften Arbeitsplätze wegnimmt, das ist doch nicht
die Realität.
({7})
Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen und den
ausländischen Hochschulabsolventen sagen: Ja, kommt
zu uns! Unser Fachkräftemangel ist allein national nicht
zu bewältigen.
({8})
Um damit fertigzuwerden, brauchen wir auch Hochschulabsolventen aus dem außereuropäischen Ausland.
({9})
Dann müssen Sie aber vor allem auch bessere Rahmenbedingungen für die Familienangehörigen schaffen.
({10})
Herr Vogel, der von Ihnen erwähnte Philippiner ist doch
vielleicht ein junger Mann, der Familie hat. Für ihn wird
relevant sein: Was ist mit meinen Familienangehörigen?
Können sie mitkommen?
({11})
Wir müssen uns fragen: Was müssen wir ihnen anbieten?
Wie sind die Regeln für einwanderungswillige Fachkräfte? Wie werden ihre Familienangehörigen hier aufgenommen? Mit dem vorliegenden Regelwerk bauen Sie
keine Brücken; Sie haben Hindernisse aufgestellt. Das
Entscheidende ist, dass wir bessere Rahmenbedingungen
für Familienangehörige schaffen.
({12})
- Nein, das steht leider auch noch im neuen Entwurf.
Sie könnten aber auch andere Sachen machen: die
Vereinfachung der Einreisebürokratie. Laut Normenkontrollrat dauert es sechs Wochen und länger, bis ein Visum erteilt wird. Die reine Bearbeitungszeit beträgt einen halben Tag. Sie könnten außerdem ein zentrales
Informationsportal auf Deutsch und Englisch ins Internet
stellen.
Jetzt noch die Sache mit den Deutschkenntnissen: Die
Sprache der Wirtschaft wird mehr und mehr Englisch.
Wenn wir hier immer wieder sagen, dass Deutschkenntnisse für die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis verpflichtend sind, dann sind wir nicht am Weltmarkt und an einer modernen Zukunft orientiert, dann
sind wir nicht an einer Wirtschaft orientiert, die auf dem
Weltmarkt bestehen muss. Die Bindung der Aufenthaltserlaubnis an Deutschkenntnisse ist realitätsfremd. Das
sollten Sie hier ändern.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Andreae. Sie
sind schon anderthalb Minuten drüber.
Fazit: Wir kommen an einer grundlegenden Neuausrichtung der Zuwanderungspolitik nicht vorbei, aus humanitären Gründen, aber auch weil wir sonst nicht nur
den Kampf um die kreativsten Köpfe, sondern auch die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verlieren. Hören Sie mit diesem ideologischen Klein-Klein auf und
entwickeln Sie eine Willkommenskultur, die tatsächlich
ihren Namen verdient.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Das Gesetz, das wir heute debattieren,
ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist in
dem Gesamtzusammenhang zu sehen, dass wir aufgefordert sind, den sich weiterhin zuspitzenden Fachkräftemangel zu bekämpfen. Eines muss aber auch klar sein:
Der Schwerpunkt muss weiterhin auf der Pflege und der
Hebung des inländischen Potenzials liegen.
Es geht auch in Zukunft darum, mehr für die Sicherung der Beschäftigung für die schon aktiv im Arbeitsleben stehenden Menschen zu tun. Es wird in Zukunft verstärkt darum gehen, mehr für die Integration von
Arbeitsuchenden, auch für die Integration von Arbeitsuchenden mit Handicaps, in den ersten Arbeitsmarkt zu
tun. Wir müssen weiterhin die Bildungschancen auch der
Benachteiligten von Beginn an erhöhen. Es wird in Zukunft verstärkt darum gehen, mehr in die Qualifizierung
von Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu investieren,
insbesondere in die Aus- und Weiterbildung.
Es wird, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch darum gehen, sich noch mehr der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zuzuwenden. Dazu gehören
Dinge wie der vollkommen richtige Ausbau von Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen für unter
Dreijährige. Hier investiert die christlich-liberale Koalition insgesamt 4 Milliarden Euro. Das ist richtig und gut.
Genauso richtig ist, dass auch das Betreuungsgeld
kommt. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Staat
hat hier nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht, eine
Lebensform der anderen vorzuziehen und sie vorzugswürdig zu behandeln. Wir müssen beides tun - nicht das
eine tun und das andere unterlassen -: sowohl in den Bereich der Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen investieren als auch denjenigen etwas zuteilwerden lassen, die nicht von den Kinderkrippen Gebrauch
machen, aus welchen Gründen auch immer. Der Staat
hat nicht das Recht, hier diskriminierend vorzugehen.
({0})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das
Gesetz, das heute verabschiedet wird, schafft kein
grundlegend neues Zuwanderungsrecht; aber es ist eine
zeitgemäße und moderne Anpassung an die Bedürfnisse
der Arbeitswelt und an die wirtschaftliche Situation. Ich
kann durchaus verstehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich
echauffieren; denn Sie sind orientierungslos.
({1})
Die SPD - liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es angekündigt - wird sich kraftvoll enthalten. Allein dies
zeigt schon: Es klappt nicht mehr, mit den alten Stig20896
Stephan Mayer ({2})
mata, Klischees und Allgemeinplätzen zu agieren, die
Sie uns bei derartigen Diskussionen immer um die Ohren hauen wollten. Es heißt dann, wir seien rückwärtsgewandt, wir wollten nur einer Wagenburgmentalität Vorschub leisten, wir wollten die Schotten dichtmachen.
Wir handeln tatsächlich. Sie haben in Ihrer Regierungszeit immer nur geredet. Aber wir tun mehr für die Zuwanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland.
({3})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, auch Sie haben sich im Innenausschuss
kraftvoll enthalten. Lieber Herr Kilic, liebe Frau
Andreae, Sie müssen schon einmal erklären, was denn
nun gilt. Gilt die Aussage von Herrn Wieland im Innenausschuss, der klargemacht hat, dass sich die Grünen
enthalten werden? Oder gilt Ihre Rote Karte, Herr Kilic?
Ich war zunächst erschrocken, als Sie uns die Rote Karte
gezeigt haben; als überzeugter Anhänger des FC Bayern
München habe ich sofort gedacht: Nicht noch eine
Sperre für das Champions-League-Finale; es reicht
schon, wenn drei Stammspieler am 19. Mai gesperrt
sind. Aber wir haben dann festgestellt: Ihre Rote Karte,
Herr Kilic, ist vollkommen wirkungslos.
({4})
Wir werden weiterhin erfolgreich regieren. Wir werden
im September oder Oktober nächsten Jahres eine Vertragsverlängerung von den Wählerinnen und Wählern in
Deutschland bekommen. Wir werden trotz Ihrer Roten
Karte wieder aufgestellt, weil wir handeln und nicht nur
reden.
({5})
Der Grundsatz im Bereich der Zuwanderung Hochqualifizierter muss sein, dass wir uns verstärkt denjenigen zuwenden, die sich bereits in Deutschland befinden.
Es ist leichter, diejenigen zum Bleiben zu bewegen, die
bereits in Deutschland sind, als diejenigen, die noch
nicht in Deutschland sind, zu motivieren, nach Deutschland zu kommen.
Es mag durchaus sein, dass viele ausländische Hochschulabsolventen bisher den abstrakten Wunsch hatten,
in Deutschland zu bleiben. Aber wir mussten feststellen,
dass nur etwa 25 Prozent von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. 75 Prozent der ausländischen
Hochschulabsolventen haben Deutschland nach dem
Abschluss wieder verlassen. Interessanterweise sind die
meisten nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt,
sondern in andere, vermeintlich attraktivere Länder wie
die USA, Frankreich, Großbritannien oder die skandinavischen Länder gegangen.
({6})
Es gilt, sich diesem Personenkreis in Zukunft verstärkt
zuzuwenden. Es ist deshalb richtig, dass wir die Frist für
die Suche nach einem Arbeitsplatz von 12 auf 18 Monate verlängern. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt in
Richtung der so vielzitierten Willkommenskultur.
({7})
Es ist auch richtig, dass wir die Frist für einen Aufenthalt von Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Ländern
von drei auf sechs Monate verlängern. Voraussetzung
dabei ist, dass sie nachweisen können, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist aber - auch das möchte
ich vermerken - kein Einstieg in das Punktesystem. Das
Visum, das in Zukunft für sechs Monate ausgereicht
wird, ist wie bisher nachfrageorientiert, das heißt, es
muss ein konkreter und der geforderten Qualifikation
entsprechender Arbeitsplatz bei der späteren Arbeitsaufnahme nachgewiesen werden. Das Verfahren ist wesentlich unkomplizierter und unbürokratischer als ein Punktesystem und macht dieses aus meiner Sicht schon allein
deshalb überflüssig. Ein Punktesystem wäre ein bürokratisches Monster, starr und unflexibel, weil nur irgendwelche abstrakten, möglicherweise gar nicht benötigten
Qualifikationen ohne einen konkreten Arbeitsplatznachweis bewertet werden müssten.
Ich möchte auf das Beispiel Kanada, insbesondere auf
die Provinz Quebec verweisen, die immer als Beispiel
einer Vorzeigeprovinz herangezogen wird. Fahren Sie
einmal dorthin. Die Arbeitslosigkeit in Quebec ist höher
als in Deutschland. Die Begeisterung über das dort praktizierte Punktesystem ist beileibe nicht so groß, wie uns
hier von mancher Seite weiszumachen versucht wird.
Ein Punktesystem ist starr, unflexibel, und es bedeutet,
dass jeder, der die Punkteanzahl einfach nur von der
Quantität her erfüllt, eine Niederlassungserlaubnis in
Kanada erhält, ohne dass er einen konkreten Arbeitsplatz
nachweisen muss, was zur Folge hat, dass viele entweder
sofort oder zumindest sehr schnell in die Arbeitslosigkeit
rutschen.
({8})
Es ist außerdem richtig, dass die Neuregelung auf drei
Jahre befristet ist, aber das heißt nicht, dass sie nicht
fortgesetzt wird; das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, Frau Kollegin Andreae. Wenn ein neues Instrument
eingeführt wird, dann ist es aus meiner Sicht richtig, drei
Jahre abzuwarten, die Erfahrungen zu evaluieren und
dann ganz offen darüber zu debattieren, ob es richtig ist,
die Regelung nach Ablauf der drei Jahre fortzusetzen.
({9})
Genauso richtig ist es, dass die Niederlassungserlaubnis zunächst nicht als unbefristete, sondern als befristete
Aufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Dadurch besteht
die Möglichkeit, Anreize zu schaffen. Wer einen entsprechenden Nachweis über Deutschkenntnisse der
Stufe B 1 erbringen kann, erhält einen Bonus von einem
Jahr, das heißt, dass schon nach zwei Jahren die unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland gewährt
wird. Das zeigt, dass wir Ernst machen mit einer erfolgStephan Mayer ({10})
reichen Politik der Integration in die deutsche Gesellschaft.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, es hat überhaupt nichts mit Zwangsgermanisierung und Deutschtümelei zu tun, wenn wir Anreize
schaffen, Deutsch zu lernen.
({11})
Es ist nun einmal so, Frau Kollegin Andreae: Wenn man
sich in Deutschland aufhält, muss man Deutsch können
und sich in der deutschen Gesellschaft bewegen können,
obwohl die Lingua franca im Wirtschaftsleben mittlerweile Englisch ist.
Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben gerade auf mein
Idiom Bezug genommen. Ich möchte dazu sagen, dass es
eine neue Studie im Zusammenhang mit der Evaluation
aller 16 Bundesländer gibt, was die Deutschkenntnisse,
das Sprachverständnis, die Orthografie usw. anbelangt.
Erstaunlicherweise hat Bayern - für die kundigen Thebaner ist das aber gar nicht so erstaunlich - am besten
abgeschnitten.
({12})
Wenn die Baden-Württemberger zu Recht behaupten:
„Wir können alles, außer Hochdeutsch“, dann kann Bayern mittlerweile sagen: Wir können alles, auch Hochdeutsch.
({13})
Abschließend darf ich noch sagen, dass wir einen
deutlichen Fortschritt in Sachen Entbürokratisierung und
Schaffung von Rechtssicherheit erreichen, indem wir einen langgehegten Wunsch der Wirtschaft in die Tat umsetzen, dass nämlich bei der Vorrangprüfung mit einer
Genehmigungsfiktion gearbeitet wird. Nach zwei Wochen gilt die Vorrangprüfung als erfüllt.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt
kann man festhalten: Wir schaffen mit dieser Neuregelung ein intelligentes und interessengeleitetes Zuwanderungsrecht, das auch dem Gedanken des Humanismus
und des christlichen Menschenbildes Rechnung trägt.
Derjenige, der verfolgt wird, dessen Leib und Leben bedroht sind, hat immer die Möglichkeit, in Deutschland
Zuflucht zu finden.
Betonen möchte ich zuletzt: Nach der Beschlussfassung über dieses Gesetz sehe ich die Wirtschaft verstärkt
in der Verantwortung, dieses Gesetz sinnvoll anzuwenden und aktiv mehr für die Anwerbung von ausländischen Fachkräften zu tun, damit diese nach Deutschland
kommen.
Herzlichen Dank.
({14})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Gabriele Lösekrug-Möller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die
SPD-Fraktion möchte ich Herrn Kollegen Mayer und anderen sagen: Wir bleiben trotz einiger Ihrer Wortbeiträge
bei Enthaltung. Das fällt uns nach anderthalb Stunden
Debatte mit Positionierungen, die teilweise kaum zu ertragen waren, jedoch ein wenig schwerer. Ich will das
begründen. Worum geht es uns?
Wir haben schon jetzt die Sorge, dass wir zu wenig
Fachkräfte haben. Der Bedarf wird möglicherweise steigen. Wir werden ihn aber nur schwer decken können.
Nach den anderthalb Stunden frage ich mich angesichts
der Themen, die wir hier behandelt haben: Wie würden
es eigentlich Interessierte, die aus dem Ausland zu uns
kommen wollen, einschätzen, wie willkommen sie sind,
wenn sie hören, wie wir hier debattieren? Ich glaube, da
war mehr Abschreckung im Spiel als tatsächliche Einladung.
({0})
Wie würden Menschen, die schon hier sind und einen
Migrationshintergrund haben und deren Motivation und
Potenziale durch Ihre Politik überhaupt nicht abgeholt
werden, diese Debatte von anderthalb Stunden verstehen? Weiter frage ich: Wie verstehen eigentlich die Bildungsverlierer, von denen wir in Deutschland viele haben, unsere Diskussion?
({1})
Wenn wir über Fachkräfte und Bedarfssicherung reden, brauchen wir einen Dreiklang von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Innenpolitik. Wenn ich auf Ihre Politik
schaue, gibt es da keine Harmonie. Ich höre da einen
Missklang nach dem anderen.
({2})
Denn wir tun zu wenig für die Menschen in Deutschland, die wir entwickeln wollen, damit sie gute Fachkräfte werden. Wir haben Bildungsverlierer ohne Ende.
({3})
Wir sind stolz darauf - jedenfalls einige von Ihnen -,
dass wir jährlich nur noch 53 000 Schülerinnen und
Schüler ohne Abschluss haben. Was machen wir mit
über 7 Millionen funktionalen Analphabeten, die erwerbsfähig sind? Wir lassen sie allein. Es gibt bei uns
auf dem Arbeitsmarkt Potenziale ohne Ende, die aber
nicht Ihr Interesse für politische Aktion auslösen.
Deshalb sage ich: Wir erkennen die Schritte an, die
Sie jetzt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts unternommen haben. Seien Sie aber ehrlich: Wären Sie ohne
die EU-Richtlinie da hingekommen? Ich gehe gerne
noch einmal auf den ausgezeichneten Wortbeitrag meiner Kollegin Kolbe ein. „Mit großer Verspätung“ und
„zum Jagen getragen“, das waren ihre Worte. Dazu kann
ich nur sagen: Das unterschreiben die Sozialdemokraten
sofort, weil sie leider recht hat.
({4})
Kommen wir zu dem Thema gute Arbeit: Ist es eigentlich attraktiv, zu uns zu kommen, wenn man weiß,
dass wir mehr Teilzeit- und befristete Stellen als Vollzeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse haben?
Steht das auf der Einladungskarte als Plus? Steht als Plus
auf der Einladungskarte an diejenigen, die wir haben
wollen: „Wir machen Betreuungsgeld statt Krippenausbau“? Ist es einladend, wenn wir sagen: „Ja, wir kümmern uns auch um diejenigen, die in der Grundsicherung
sind. Wir erhöhen die Hinzuverdienstgrenzen, aber, ehrlich gesagt, um existenzsichernde sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kümmern wir uns nicht“? Ist
das einladend? Kommen die Leute aufgrund dieses Klimas gerne nach Deutschland?
Man gewinnt den Eindruck, dass Sie sich geradezu
wehren müssen, weil Millionen von Menschen an unseren Grenzen darauf warten, endlich nach Deutschland
kommen zu können, dass sich dort regelrecht Schlangen
bilden. Und dann sagen wir ihnen noch: Sie sind uns
willkommen, wenn Sie hochqualifiziert sind. Dann können Sie gerne - allerdings mit vielen Einschränkungen,
über die heute schon gesprochen wurde - Ihre Familie
mitbringen. - Wissen Sie, das ist ein wenig halbherzig.
Ich glaube, diese Halbherzigkeit spüren alle, um die wir
eigentlich werben. Wir sind doch nicht die einzige Nation, die um Hochqualifizierte wirbt. Viele Staaten, nicht
nur europäische, sagen: Wir brauchen das für unsere
Entwicklung.
Herr Kollege Mayer, die kanadische Provinz Quebec
ist ein schlecht gewähltes Beispiel. Ihre Sachkenntnis
scheint nicht tief genug zu gehen. In dieser Provinz, in
der Französisch gesprochen wird, wird Kompetenz in
französischer Sprache besonders hoch bepunktet. Die
von Ihnen angesprochene Schieflage ist typisch für diese
eine Provinz. Deshalb taugt Quebec nicht als Beispiel. Ich habe leider recht, auch wenn Sie mit dem Kopf
schütteln.
({5})
Ich komme auf unseren Antrag zurück, den ich wesentlich zukunftsweisender finde. Wir sagen: An einem
Punktesystem ist vermutlich viel Gutes. Es lohnt, es auszuprobieren. Es lohnt, die Sache zu überprüfen und sie
nicht gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn eines ist klar: Neben den mangelhaften Regelungen, die
Sie zur Umsetzung der Richtlinie vorschlagen und die
wir heute den Bundestag passieren lassen, haben Sie
nichts im Köcher, was echte Zuwanderung möglich
macht. Deshalb werden die in Deutschland lebenden
Ausländer sagen: Die Willkommenskultur ist noch
mächtig ausbaufähig. - Dafür sollten wir eine Menge
tun.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Tankred Schipanski
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute
vorliegende Gesetzespaket bezieht sich auf eine typische
Querschnittmaterie zwischen den Bereichen Inneres,
Bildung und Arbeit. Ein ganz herzliches Dankeschön an
die involvierten Arbeitsgruppen. Ein herzlicher Dank an
die vielen Abgeordneten, die an der Vorbereitung dieses
Gesetzespakets mitgearbeitet haben. Im Bildungsbereich
waren das unser Sprecher Albert Rupprecht und von der
FDP Patrick Meinhardt. Im innenpolitischen Bereich
waren das der Kollege Grindel und der Kollege Wolff.
Als Forschungs- und Bildungspolitiker der Koalition
kann man nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Anhörung
am 23. April dieses Jahres hat von allen Sachverständigen viel Lob und Anerkennung gebracht.
({0})
Die Sachverständigen der Bundesagentur für Arbeit, des
sächsischen Innenministeriums, des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration,
ein Richter vom Verwaltungsgericht in Darmstadt und
die Sachverständigen unserer Verbände, des Wirtschaftsrats, des BVMW, des Hochschulverbands und der BDA,
alle waren sich einig: Dieses Gesetz ist ein großer Wurf.
({1})
Der Kollege Stephan Mayer hat zu Recht festgestellt:
Das Verhalten der SPD, ihre Enthaltung heute, ist einfach nicht nachvollziehbar.
({2})
Die SPD hat, wie bei der ersten Lesung, keine einheitliche Position. Frau Kolbe schürt hier gemeinsam mit den
Linken Angst vor Lohndumping. Das ist billiger Populismus.
({3})
Im Kern dieses Gesetzespakets geht es um Hochqualifizierte; daran möchte ich in dieser Debatte noch einmal erinnern. Heinrich Alt von der Bundesagentur für
Arbeit hat in der Anhörung ebenso wie Reinhard Grindel
heute hier im Plenum richtigerweise festgestellt: In
Deutschland haben wir bei den Hochqualifizierten immer noch eine negative Wanderungsbilanz. Das heißt, es
gibt mehr Hochqualifizierte, die Deutschland verlassen,
als solche, die zuziehen.
({4})
Genau da setzt die christlich-liberale Koalition, insbesondere in der Bildungspolitik, an, und zwar nicht nur
mit diesem Gesetz, sondern auch, wie gestern Abend
hier behandelt, mit einem Antrag zum wissenschaftlichen Nachwuchs, mit dem sehr ambitionierten Berufsanerkennungsgesetz, das wir im September 2011 hier beschlossen haben,
({5})
und mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, über welches
wir in Kürze in diesem Hohen Hause debattieren werden.
({6})
Heute sprechen wir über Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und der damit verbundenen Verordnungen.
Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Willkommenskultur in Deutschland etablieren. Es ist schon
verwunderlich, welche Seiten des Hohen Hauses heute
die Willkommenskultur etabliert haben möchten. Frau
Kolbe, Sie haben versucht, diesen Begriff zu interpretieren. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht nötig; denn wir,
die Koalition, haben diesen Begriff bereits klar besetzt.
Wir setzen mit diesem Gesetz nicht irgendwelche
Forderungen aus einem SPD-Antrag um, sondern Forderungen der Bologna-Konferenz des vergangenen Jahres.
Wir setzen Ideen um, die wir durch intensive Gespräche
mit den Studierenden und den Lehrenden an den Hochschulen entwickelt haben,
({7})
aber auch durch Gespräche mit Unternehmern vor Ort.
Diese Koalition ist eben nah an den Menschen und kann
zuhören.
({8})
Blicken wir einmal auf die neuen Regelungen für ausländische Studenten. Ich nenne dazu immer die entsprechenden Paragrafen, damit Kollege Kilic die Systematik
dieses Gesetzes versteht. § 16 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz:
Die Begrenzung der Beschäftigung in einem Nebenjob
wird von bisher maximal 90 Tagen auf 180 Tage pro
Jahr erweitert.
({9})
§ 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz: Ausländische Hochschulabsolventen, die in Deutschland ihren Abschluss
erworben haben, konnten bislang nur zwölf Monate bei
uns bleiben, bevor sie eine Anstellung gefunden haben
mussten. Diese Orientierungsphase verlängern wir auf
18 Monate. Ähnliches gilt für einen neuen Aufenthaltstitel, § 18 c Aufenthaltsgesetz, den wir für ausländische
Absolventen eingeführt haben. Das sind wirkungsvolle
Maßnahmen.
Es geht auch darum, junge Unternehmer zu gewinnen. Wir erleichtern Unternehmungsgründungen bzw.
Selbstständigkeit über § 21 des Aufenthaltsgesetzes und
ergänzen somit die Entrepreneurship-Studiengänge an
den Hochschulen.
Sie sollten also keine Schwarzmalerei betreiben.
Wenn Sie an die Hochschulen gehen, werden Sie feststellen, dass man sich dort über das Gesetz freut. In Gesprächen an meiner Heimathochschule in Ilmenau - dort
gibt es etwa 800 ausländische Studierende - wurde deutlich, dass die ausländischen Studierenden begeistert von
diesem Gesetz und dankbar dafür sind. Wir gehen weit
über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus.
({10})
Herr Kollege Schipanski, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?
Nein, ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit.
Die Redezeit wird dafür angehalten.
Er kann ja nach meiner Rede eine Kurzintervention
machen.
Ich darf gerade den Grünen noch ein Sahnehäubchen
präsentieren; dies haben sie wahrscheinlich nicht gesehen. § 3 der Beschäftigungsverfahrensverordnung wird
ebenfalls geändert.
({0})
Die Ehepartner ausländischer hochqualifizierter Fachkräfte dürfen in Deutschland künftig eine Beschäftigung
ausüben, ohne dass dies zuvor von der Ausländerbehörde genehmigt werden muss. Für die Betroffenen ist
dies ein Meilenstein.
({1})
Abschließend darf ich sinngemäß die Aussage eines
Sachverständigen der Universität Konstanz wiedergeben, der am Montag feststellte: Man hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für die betroffenen Gruppen alles
gemacht, was man machen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Arbeitsmarktpolitiker muss ich sagen: Für den deutschen
Arbeitsmarkt ist die Umsetzung der Hochqualifiziertenrichtlinie eine gute Nachricht. Die vorgeschlagenen
Maßnahmen helfen uns, Arbeitsplätze zu sichern und
Arbeitsplätze neu zu schaffen. Das betrifft nicht nur den
Bereich der Hochqualifizierten, sondern ich sehe auch
indirekte positive Wirkungen für die weniger Qualifizierten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Damit kommen wir unserem Ziel näher, gerade auch diesen
Menschen eine Arbeitsperspektive zu bieten. Sosehr ich
diese Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verstehe - sie ist richtig -: Es geht auch
um den Erhalt und Ausbau von Beschäftigungschancen
derjenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Das
hat Kollege Vogel in aller Deutlichkeit gesagt.
Ich sage sehr deutlich: Das darf keine isolierte Maßnahme sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anzahl
derjenigen abnimmt, die ohne Schulabschluss und Ausbildung sind. Wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älterer fördern und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Diese unterschiedlichen Bausteine
gehören zusammen und ergänzen sich.
({0})
Besonders gefreut hat mich - der Kollege Schipanski
ist darauf eingegangen -, dass wir die Anreize für ausländische Studenten, neben dem Studium zu arbeiten,
verbessert haben und ihnen auch eine längere Frist eingeräumt haben, nach dem Studium hier eine Arbeit zu
finden. Ich habe es immer als widersinnig betrachtet,
junge Menschen aus dem Ausland hier bei uns zum Studium zuzulassen und es ihnen nach dem Studium so
schwer zu machen, bei uns eine dauerhafte Perspektive
zu finden. Seien wir ehrlich: Wir können doch um jeden
guten Studenten froh sein, der nicht in die USA oder
nach Kanada geht, sondern sich für eine deutsche Universität entscheidet.
({1})
Die neue Regelung erleichtert den beruflichen Einstieg
in Deutschland und ist auch ein Stück praktischer Integrationspolitik.
Die Kollegin Kolbe hat ein Zitat von Max Frisch angeführt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen.“ Wir sind es den Menschen, die wir rufen,
schuldig, sie nicht nur als Arbeitskräfte anzusehen. Dazu
gehören meines Erachtens zwei Dinge: dass wir ihnen
auf der einen Seite sehr deutlich sagen, was wir von ihnen erwarten, etwa was Sprachkenntnisse oder die Bereitschaft angeht, sich mit unserer Gesellschaft und unserer Kultur auseinanderzusetzen, dass wir auf der anderen
Seite aber gleichzeitig eine Willkommenskultur der ausgestreckten Hand praktizieren. Hier können wir von klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien einiges lernen; die Kollegin Lösekrug-Möller hat das
richtigerweise angesprochen.
Meine Damen und Herren, wir sind aber auch im
Wandel zu einer Arbeitnehmergesellschaft. Die Knappheit von Arbeitskräften führt dazu, dass wir auch in der
Arbeitswelt über ein neues Miteinander nachdenken
müssen. Ich finde deshalb die Idee sehr reizvoll, durch
einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung den Graben
zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken und neue
Formen des partnerschaftlichen Arbeitens zu etablieren.
Das könnte ein Alleinstellungmerkmal werden, das uns
für hochqualifizierte Arbeitskräfte auch international attraktiv macht.
Gute Standards für gute Arbeit durch mitarbeiterorientierte Personalpolitik und eine gute Unternehmenskultur sind dabei auch eine Bringschuld der Wirtschaft.
Die Forderung nach olympiareifen Arbeitnehmern, die
billig sind, ist ein Irrweg. Der Mensch kommt nicht als
Produktionsfaktor zur Welt, und er verlässt sie auch
nicht als solcher. Nichts rechtfertigt die Annahme, er
könne dazwischen darauf reduziert werden.
({2})
Wer in Arbeit nur einen Produktionsfaktor sieht, vergrault am Ende vielleicht diejenigen Menschen, die dringend gebraucht werden. Dann sucht sich der Produktionsfaktor nämlich eine Umgebung, in der er als Mensch
ernst genommen wird und besser gedeihen kann.
({3})
Deutschland für Fachkräfte attraktiver zu gestalten
und Abwanderung zu stoppen, ist also nicht nur eine
Frage des Zugangs und der guten Bezahlung, sondern es
bedarf auch einer neuen Form des Miteinanders, am Arbeitsplatz wie in der Gesellschaft. Dies zu leisten, ist
häufig jenseits unserer Möglichkeiten als Gesetzgeber.
Es ist aber in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen
Union. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9436,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8682 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9437.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9436 fort.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9029 mit dem Titel
„Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fach-
kräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD
und Grünen.
Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/3862 mit dem Titel „Fachkräfteeinwanderung
durch ein Punktesystem regeln“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü-
nen und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr abschaffen - Hausärztinnen und
Hausärzte stärken
- Drucksache 17/9189 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten
jetzt abschaffen
- Drucksache 17/9067 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen
- Drucksache 17/9408 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist Teil der Wahrheit: Die Praxisgebühr, die wir
heute besprechen, ist damals von uns mit Unterstützung
der Union, die im Vermittlungsausschuss den Vorschlag
durchgesetzt hat, eingeführt worden. Wir müssen feststellen, dass wir, die SPD, die Praxisgebühr damals für
richtig gehalten haben.
Der Hintergrund ist ganz klar: Wir haben uns davon
erwartet, dass es zu einer Reduktion der Zahl der Arztbesuche kommt. Wir haben damals erwartet, dass die hausärztliche Versorgung im Vergleich zur fachärztlichen
Versorgung besser angesteuert werden kann, und wir haben damals ebenfalls davon erwartet, dass es ein höheres
Kostenbewusstsein geben wird.
Alle drei Erwartungen haben sich nachweislich nicht
erfüllt: Die Zahl der Arztbesuche ist nicht gesunken.
Nach dem, was wir wissen, gilt dies insbesondere auch
für die Zahl der überflüssigen Arztbesuche. Es konnte
nicht erreicht werden, dass Hausärzte im Vergleich zu
Fachärzten einfacher angesteuert werden können, und es
gibt auch kein gestiegenes Kostenbewusstsein, wie jeder
der täglichen Praxis, den Studien und der Berichterstattung entnehmen kann. Somit kann man sagen: Die Praxisgebühr hat enttäuscht. Sie hat, wenn man so will, versagt und gehört daher abgeschafft.
({0})
Das ist insbesondere deshalb so, weil die Praxisgebühr auch unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringt.
Wir wissen, dass die Praxisgebühr Obdachlose, Einkommensschwache, Arbeitslosengeldempfänger und Menschen mit Migrationshintergrund und mit geringen Einkünften auch dann vom Arztbesuch abhält - oft im
Übrigen ohne tatsächlichen Grund; denn oft sind sie von
der Zuzahlung der Praxisgebühr gar nicht direkt betroffen -, wenn er sinnvoll ist. Das ist natürlich eine gravierende Nebenwirkung.
({1})
Ich spitze es zu: Man kann sagen, die Praxisgebühr ist
ungerecht, weil sie Arme und Einkommensschwache belastet. Sie hat keine positive Wirkung. Eine Nebenwirkung ist, dass sie Einkommensschwache von nötigen
Arztbesuchen abhält. Sie ist im Prinzip eine Arznei nur
mit negativen Wirkungen und keiner positiven Wirkung
und gehört daher vom Markt genommen. Es muss sozusagen der Rote-Hand-Brief verschickt werden, meine
lieben Genossinnen und Genossen.
({2})
- Ich glaube, dass wir in dieser Frage, Herr Zöller, alle
hier im Saal Genossinnen und Genossen sind; denn hier
kann ja nicht über die Inhalte gestritten werden. Selbst
Herr Bahr stimmt mir in dieser Sache ausnahmsweise
zu.
Jetzt muss man sich die Frage stellen: Wieso lehnt die
Union weiterhin die Abschaffung der Praxisgebühr ab?
Sie ist heute hier im Plenum die einzige Partei, die die
Praxisgebühr weiter verteidigt. Ich kann es Ihnen sagen:
Es geht um Ideologie. Es kann keine Sachgründe geben,
sondern ihre Ideologie ist: Je mehr Zuzahlungen und je
mehr direkte Belastungen es für den Versicherten und für
den Patienten gibt, desto besser ist das Gesundheitssystem.
({3})
Hier zeigt sich noch einmal die alte Zuzahlungsideologie
der Union. Diese Ideologie wird heute von den Bürgern,
von den Patienten und von allen anderen Fraktionen hier
im Saal abgelehnt.
({4})
Es ist eine konservative Ideologie, die darauf hinausläuft, dass man Dinge macht, auch wenn man weiß, dass
sie nicht richtig sind, weil man glaubt, damit eine alte
konservative Idee verteidigen zu können. Wir erleben
das Gleiche derzeit beim Erziehungsgeld, oder, genauer
gesagt, beim Nichterziehungsgeld. Mit dem Nichterziehungsgeld soll ein Anreiz gegeben werden, damit Einkommensschwache ihre Kinder nicht in die Kita bringen. Das ist Unsinn!
({5})
Bei der Praxisgebühr soll ein Anreiz gesetzt werden, damit Einkommensschwache nicht zum Arzt gehen. Auch
das ist Unsinn. Somit ist es nichts anderes als eine Bestrafung und im Prinzip eine Sanktion gegen die Bedürftigen und aus meiner Sicht somit eine Politik gegen Vorbeugung und gegen Prävention.
Wir müssen daher heute gemeinsam betonen, was wir
gelernt haben. Wir werden gleich von den Kollegen von
der Linkspartei das hören, was wir immer hören: Die
Linkspartei hat das schon immer gewusst, zum Beispiel
bei der Finanzkrise.
({6})
Es gibt kein Thema, bei dem Sie es nicht vorher schon
besser gewusst haben; das wissen wir.
({7})
- Ja, ganz genau.
Aber nichtsdestotrotz ist der Punkt heute der, dass wir
aus gemachten Fehlern lernen. Wir sind gewählt, um zu
regieren, um etwas gebacken zu bekommen. Was wir
derzeit bei der Regierungskoalition sehen, zeigt: Die Regierungskoalition bekommt nichts gebacken. Es gibt
kein noch so kleines Thema, bei dem Sie etwas gebacken bekämen. Selbst bei der Praxisgebühr sind Sie zerstritten. Minister Bahr von der FDP hat recht, wenn er
sagt: Die Praxisgebühr hat keinen Wert. Auch die FDP
kann einmal recht haben.
({8})
Nur weil die FDP einen Vorschlag unterstützt, ist er
nicht automatisch falsch.
({9})
Aber was immer gilt, ist: Diese Regierung bekommt
nichts mehr gebacken. Es gibt kein Thema, bei dem noch
etwas entschieden werden könnte.
({10})
Daher sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich zurück. Beachten Sie: Der Wähler kann das nicht mehr ertragen.
Der Wähler will, dass wir handlungsfähig sind. Der
Wähler will, dass wir in der Sache streiten, nicht über
Ideologien. Der Wähler will nicht, dass wir mit jeder
Sachfrage Wahlkampf machen.
({11})
Das ist eine Tatsache.
Wenn es so ist, dass Sie eine Position nicht verteidigen können, dass Sie keinen einzigen Vorteil für die Praxisgebühr anführen können, dann, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen und Nicht-Genossen von der
Union, sage ich Ihnen: Nehmen Sie davon Abstand. Machen Sie das, was der Bürger will. Machen Sie das, was
uns die Sachverständigen sagen. Machen Sie, wofür Sie
gewählt sind.
Vielen Dank.
({12})
Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genosse Lauterbach, ich erinnere mich an die Debatten, die
wir vor zwei Jahren geführt haben, übrigens auch vor einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sie verliefen
damals nach dem Motto Und täglich grüßt das Murmeltier, und genau so machen Sie es jetzt sitzungswöchentlich auch.
Wir haben damals übrigens - das ist ganz spannend regelmäßig in Aktuellen Stunden über Ihren Vorwurf
diskutiert, wir würden im Gesundheitswesen nicht genug
sparen. Das haben Sie 2010 gesagt: Wir sollten mehr
sparen. Bei Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern und
der Pharmaindustrie sollten wir endlich einmal richtig
hinlangen.
Nun - zwei Jahre später - kann Ihnen, der Opposition
insgesamt, das Geldausgeben nicht schnell genug gehen.
({0})
Sie wollen alle Zuzahlungen - das sind 5 Milliarden
Euro - abschaffen.
({1})
Sie wollen mehr Geld für die Krankenhäuser. Frau
Kollegin Bunge hat gestern angedeutet, sie könne sich
bis zu 600 Millionen Euro mehr für die Apotheker vorstellen.
Sie wollen also mehr für Ärzte und Krankenhäuser
und im Zweifelsfall die Zuzahlungen streichen, ohne
auch nur einen Satz darüber zu sagen, wie das gegenfinanziert werden soll. Das macht, wie übrigens Ihre
ganze Rede, einmal mehr den Unernst deutlich, mit dem
Sie diese Diskussion führen.
({2})
Ihnen geht es an dieser Stelle nicht um die Sache, sondern schlicht und ergreifend um die Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.
Es ist bemerkenswert, dass nach dem Spruch „Currywurst ist SPD“, den ich für den Höhepunkt des Unernstes im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gehalten
habe, Frau Kraft und Frau Löhrmann vor dem Landtag
in Nordrhein-Westfalen, einem Ort, an dem eigentlich
über die Fragen der Landespolitik diskutiert werden
müsste - in Nordrhein-Westfalen gäbe es viel zu diskutieren, was die Verschuldung angeht; das kann ich als
Westfale sagen -, plakatieren: Die Praxisgebühr muss
weg.
Wenn es noch eines Beispiels bedurfte, dass es Ihnen
nicht um die Sache, sondern um Klamauk und Wahlkampf geht, dann ist das an dem Tag deutlich geworden.
({3})
Schade ist daran, dass Sie es am Ende nicht mehr hinbekommen, zu dem zu stehen, was Sie selber beschlossen
haben, und zwar aus guten Gründen. Sie sind in Ihrer
ganzen Rede, die auch von Klamauk und Witzemachen
geprägt war, nicht bereit gewesen, sich ernsthaft mit den
ganzen Fragen auseinanderzusetzen.
({4})
SPD und Grüne haben 2004 aus guten Gründen die
Praxisgebühr zusammen mit anderen Zuzahlungen mit
unserer Zustimmung eingeführt.
({5})
Zuzahlungen und Eigenbeteiligung sind nämlich auch
ein Ausdruck von Solidarität.
Wir haben eines der besten Gesundheitswesen der
Welt.
({6})
Wir bieten flächendeckend in allen Regionen des Landes
eine Gesundheitsversorgung auf einem Niveau, wie es
das in keinem anderen Land der Welt gibt, und jeder hat
unabhängig vom Einkommen Zugang dazu. Ich behaupte, wir haben das beste Gesundheitssystem der
Welt.
Wir haben 2004 gemeinsam gesagt, dass sich derjenige, der von diesem hervorragenden Gesundheitssystem profitiert - das auch ein teures ist, aber wir wollen
das -, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Eigenbeteiligung auch ein Stück weit mit einbringen soll. Das
ist auch Solidarität damit, dass wir ein so tolles System
zur Verfügung stellen, auf das man auch unabhängig
vom Einkommen und dem, was man nötig hat, zugreifen
kann.
({7})
Bei der Eigenbeteiligung durch Zuzahlungen und Praxisgebühren gibt es aber Einkommensgrenzen. Ein chronisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Einkommens insgesamt für Zuzahlungen und Praxisgebühr
aufbringen, die anderen nicht mehr als 2 Prozent. Das
sind bei 800 Euro Rente oder Einkommen im Monat
8 Euro monatlich, die man im Fall der Fälle maximal an
Zuzahlungen aufbringen muss.
({8})
Ich finde, das ist am Ende ausgewogen und ein Ausdruck von gegenseitiger Solidarität. Es bringt zum Ausdruck, dass man bereit ist, für den Nutzen des guten Gesundheitssystems auch etwas mit einzubringen, dass
aber gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass niemand überfordert wird.
Sie machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur ansatzweise zu erklären, warum das 2004 eingeführt worden ist und warum auch das einen vernünftigen Kern
hatte. Sie geben sich nur dem Wahlkampf hin, weil es
viel einfacher ist, alles zu vergessen, was man einmal für
richtig gehalten hat.
({9})
Hinzu kommt die Frage der Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung.
({10})
Ihnen kann es mit Hinweis darauf, dass unsere Finanzlage so gut ist wie seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten nicht mehr, nicht schnell genug gehen, das Geld
schnellstmöglich auszugeben, ohne zu sagen, wie das
mittel- und langfristig sauber finanziert werden soll.
({11})
Es ist erst einmal etwas Schönes - ich jedenfalls freue
mich darüber -, dass es die Politik dieser christlich-liberalen Koalition geschafft hat, dass wir zum ersten Mal
seit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik nicht über
Defizite, Sparmaßnahmen und Kostendämpfungen reden
müssen, wie noch 2004, als wir etwa Brillen aus der Erstattung ausgegliedert haben. Wir haben aufgrund der
guten wirtschaftlichen Entwicklung und der Spargesetze
dieser Koalition für 2011und 2012
({12})
für Solidität und eine gute Finanzlage in der gesetzlichen
Krankenversicherung gesorgt, wie es sie seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. Ich finde, wir sollten uns zuerst einmal über die gute wirtschaftliche und finanzielle
Lage freuen.
({13})
Sie erwecken den Eindruck, als wäre nun alles egal,
weil es gut läuft. Mehr Geld für Krankenhäuser, Ärzte
und Apotheker sowie Abschaffung der Zuzahlungen, jeder bekommt das, was er sich wünscht.
({14})
Sie können mir glauben: Wir würden das ebenfalls gerne
machen. Aber wir sind der Meinung, dass wir auch Verantwortung für die langfristige Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Wir alle wissen,
dass sich die Gesundheitsversorgung in einer älter werdenden Gesellschaft und in einem System, in das wir
medizinischen Fortschritt integrieren wollen - wir wollen doch, dass die Menschen auch in Zukunft von dem
profitieren, was die Medizin ermöglicht - verteuern
wird.
({15})
Daher macht es doch Sinn, in guten Zeiten Rücklagen
aufzubauen und diese dann in den Zeiten, in denen es
teurer wird und wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft wie
im Moment, zu nutzen. Jedenfalls wäre es fatal, in einer
beginnenden Wirtschaftskrise wie in den Jahren 2004,
2005 oder 2008 als Erstes die Krankenversicherungsbeiträge erhöhen oder ein massives Sparprogramm auflegen
zu müssen; das wäre das Schlechteste.
Alles, was wir vorschlagen und worüber wir diskutieren - zum Beispiel zusätzliche Leistungen oder geringere Einnahmen -, muss dauerhaft finanziert sein. Das
ist es nicht, wenn man wie Sie kurzfristig auf 5 Milliarden Euro verzichtet. Sie machen die Praxisgebühr nicht
umsonst zum Thema in einem Landtagswahlkampf;
denn Sie wissen, dass man für die Forderung nach Abschaffung dieser Gebühr zuerst Applaus erntet.
({16})
Aber wir meinen, dass es zwar unpopulär, aber der Sache wert ist, sachlich zu argumentieren und darauf zu
verweisen, dass die Praxisgebühr eine Komponente der
Solidarität und der zukünftigen finanziellen Tragfähigkeit darstellt. Wir wollen deshalb an der Praxisgebühr
festhalten und die Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung für schlechte Zeiten aufheben. Das ist
zwar nicht populär, liegt aber im Interesse der Menschen
und ist für eine medizinische Versorgung auch in Zukunft das Richtige und das Verantwortbare.
({17})
Das Wort hat für die Fraktion Die Linke der Kollege
Klaus Ernst.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Anträge, mit denen wir uns heute befassen,
sind höchst erfreulich. Aber ich kann nicht glauben, Herr
Lauterbach,
({0})
dass ihr die unerwünschten Nebenwirkungen der Praxisgebühr erst nach sechs Jahren bemerkt haben wollt. Da
hättet ihr ein wenig schneller sein sollen.
({1})
Sie alle haben die bundesrepublikanische Bevölkerung
eigentlich einem Feldversuch ausgesetzt. Dieser ist
gründlich gescheitert. Es ist erfreulich, dass Sie, meine
Damen und Herren von der SPD, nun zur Vernunft kommen. Von Ihnen, Herr Spahn, kann man das nicht behaupten.
({2})
Die Praxisgebühr war von Anfang an grober Unfug.
Es war von Anfang an klar, dass es den Menschen an die
Geldbörse geht und dass Arztbesuche nicht mehr in dem
Maße stattfinden, wie es notwendig wäre. Die Bürokratie wurde aufgebläht, und das ausgerechnet durch Sie,
die Sie sich sonst immer gegen Bürokratie wenden. Die
Parität bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung
wurde weiter ausgehöhlt. Im sogenannten Zuzahlungsbericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
heißt es - das müsste Ihnen wirklich zu denken geben,
auch Ihnen Herr Spahn, der Sie über alles Mögliche reden, nur nicht über die Patienten - zur Praxisgebühr:
({3})
Allerdings hat sie insbesondere bei einkommensschwachen Versicherten zu einer Verzögerung oder
Vermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesuchen beigetragen.
Das sagen nicht wir, sondern die gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, die Praxisgebühr abzuschaffen, sind Sie persönlich für den sich verschlechternden Gesundheitszustand dieser Menschen
mitverantwortlich, Herr Spahn.
({4})
Jetzt könnte man sagen: Die FDP macht es richtig.
Fünf stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder haben sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen. Es waren Heiner Garg, Martin Zeil aus Bayern - bei dem hat
es mich besonders gewundert -, Jörg-Uwe Hahn, Jörg
Bode und Sven Morlok. Alle sagen, dass die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument versagt hat. Das Zahlungsausfallrisiko liegt bei den Ärzten, die Belastung für
die Praxen ist hoch, und es gibt weitere Argumente. Das
ist vollkommen richtig.
In der gemeinsamen Erklärung der FDP-Minister
heißt es dann - ich zitiere -:
Die stellvertretenden Ministerpräsidenten der FDP
erwarten von der Bundesregierung, dass die Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung
nicht länger mit der Erhebung einer Praxisgebühr
belastet werden.
Richtig. Da haben sie ausnahmsweise einmal recht.
Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.
({5})
Nur, ich sage Ihnen: Wir müssen uns natürlich die
Frage stellen, warum wir die Praxisgebühr noch haben,
wenn die Oppositionsparteien und auch die FDP gegen
die Praxisgebühr sind. Warum existiert sie eigentlich
noch?
({6})
Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Linke im
Jahr 2006 die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert
hat. Wer hat die Abschaffung der Praxisgebühr durch
sein Nein hier im Bundestag verhindert? Das waren die
CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Im
Jahr 2011 haben wir erneut einen Versuch unternommen,
die Praxisgebühr abzuschaffen. Wer war dagegen? Die
CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Wir waren die Einzigen, die die Abschaffung gefordert haben.
Jetzt wird es spannend. Was treiben Sie von der FDP
eigentlich hier? Wir haben im Jahr 2012, vor kurzem,
hier einen Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr
vorgelegt und gesagt: Lasst uns sofort darüber abstimmen. - Wie haben Sie sich verhalten? Bei der Abstimmung darüber hat die CDU/CSU natürlich mit Nein gestimmt, auch die SPD hat mit Nein gestimmt - im
Jahr 2012, wohlgemerkt -, auch die FDP hat mit Nein
gestimmt. Jetzt machen Sie den doppelten Rittberger
und stellen sich an die Spitze der Bewegung. Das glaubt
Ihnen von der FDP doch kein Schwein mehr in diesem
Land, um das einmal deutlich zu sagen.
({7})
Die Grünen haben schon richtigerweise mit uns gestimmt.
Die Gründe sind spannend. Die SPD hat ihre Ablehnung immer damit begründet, die Abschaffung sei nicht
finanzierbar. Die Grünen sagten früher, es fehle an Belegen, die eine Abschaffung rechtfertigten. Die FDP argumentierte, es fehle an Alternativen, wie die Anzahl der
Arztbesuche begrenzt werden könne. Das waren Ihre Argumente. Es hat sechs Jahre gedauert, von 2006 bis
2012, bis einige zur Vernunft kamen - einige. Die CDU/
CSU ist noch weit von der Vernunft entfernt. Herr Spahn
hat das gerade unter Beweis gestellt.
Aber was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, zurzeit treiben, ist der Hammer. Weshalb? Weil wir
heute über einen Antrag der Linken entscheiden und die
Praxisgebühr abschaffen könnten, wenn Sie nicht im
Ausschuss die Behandlung unseres Antrags verhindert
hätten, sodass er heute nicht zur Abstimmung steht.
({8})
Das ist die Wahrheit.
({9})
Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie treiben, schlägt dem
Fass wirklich den Boden aus.
({10})
Sie rennen durch die Gegend, Ihre Vizeministerpräsidenten machen schöne Erklärungen, und wenn es zum
Schwur kommt, dann machen Sie den schlanken Hasen.
Sie laufen doch schneller rückwärts, als Sie nach vorne
denken können. Das ist Ihr Problem, wenn es konkret
wird.
({11})
Deshalb sage ich Ihnen: Was wir brauchen, ist eine
Gesundheitspolitik im Interesse der Bürger. Sie führen
die Leute hinter die Fichte. Sie tun so, als ob Sie etwas
ändern wollten, aber in Wirklichkeit verhindern Sie die
Abschaffung der Praxisgebühr. Das ist die Wahrheit. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine
Aschenberg-Dugnus das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute über zwei Anträge zur Praxisgebühr. Ich habe schon beim letzten Mal gesagt: Es ist
doch schön, dass wir hier solche Luxusdebatten führen
können; denn es geht auch darum, dass wir Überschüsse
im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Herr Lauterbach, ich bin richtig begeistert. Allein dieser Debatte heute zu folgen, war es schon wert, hier zu
sein.
({0})
Sie als reumütigen, irregeleiteten Menschen zu erleben,
der endlich zugibt, dass er unrecht gehabt hat, ist ein
Grund, das heutige Datum im Kalender anzustreichen.
Aber das nimmt Ihnen hier in diesem Saale überhaupt
niemand ab.
({1})
Das Konzept der Praxisgebühr geht nämlich auf einen
Vorschlag des Sachverständigenrats für die Konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen zurück. In dem Vorschlag
heißt es:
In diesem Zusammenhang steht auch die Erhebung
einer sog. Praxisgebühr … zur Diskussion.
Dann werden viele Worte über die positiven Effekte einer finanziellen Schwelle gegenüber sogenannten Bagatell-Inanspruchnahmen geschrieben. Also, es wird die
Praxisgebühr befürwortet.
Nun dürfen Sie mal raten, wer einer der Sachverständigen war, der diesen Vorschlag verfasst und unterschrieben hat!
({2})
Na?
({3})
Richtig! Es war Karl Lauterbach, Institut für Gesundheitsökonomie, Universität Köln.
({4})
All die Jahre haben Sie so getan, als stünden Sie dahinter, lieber Herr Kollege Lauterbach, und jetzt auf einmal tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst.
Das nimmt Ihnen niemand ab.
({5})
- Das haben Sie gesagt, und das kann auch niemand
wegschieben.
({6})
Tatsache ist: Rot-Grün hat diese Praxisgebühr eingeführt. Nicht die FDP, sondern Rot-Grün war es, und das
kann man hier gar nicht oft genug wiederholen.
({7})
Wenn Sie jetzt im NRW-Wahlkampf die Abschaffung
der Praxisgebühr fordern, dann ist das absolut unglaubwürdig und unredlich. Es ist unseriös, weil Sie nämlich
für diese Praxisgebühr verantwortlich sind. Wir werden
nicht müde werden, das immer und immer wieder zu
wiederholen. Ich sage es noch einmal: Ihren Sinneswandel jetzt nimmt Ihnen sowieso niemand ab.
({8})
Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, wer wann zuerst geahnt hat, dass mit der Praxisgebühr vielleicht
nicht das erreicht werden kann, was erreicht werden
sollte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass wir hier Erkenntnisse darüber gewinnen, was die Praxisgebühr ausmacht, was sie anrichtet, und diese Erkenntnisse dann in
unsere Beratungen einzuführen.
Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine
Frage oder Bemerkung des Kollegen Lauterbach?
Aber gern doch, Herr Kollege.
Frau Dugnus, erinnern Sie sich daran, dass wir die
Abschaffung der Praxisgebühr bereits gefordert haben,
als noch gar nicht klar war,
({0})
dass Ihnen durch ein Missgeschick die Neuwahl in NRW
droht?
({1})
Wir waren keine Hellseher. Ein Blick auf die Termine
wird Ihnen zeigen: Nur die Linkspartei hat möglicherweise schon gewusst, dass es zu Neuwahlen kommt, und
auch die Grünen.
({2})
Stimmen Sie mir somit zu, Frau Dugnus, dass wir
dies schon gefordert haben, als wir von der Neuwahl
noch nichts wussten, und dass Ihr Vorwurf daher nicht
redlich ist? Wir haben Ihnen nicht vorgeworfen, dass Sie
sich dieser Forderung jetzt im Wahlkampf NRW anschließen.
({3})
Das habe ich der FDP nicht vorgeworfen, weil ich das
auch nicht unterstellen möchte. Wieso - das ist meine
Frage - werfen Sie uns etwas vor, was nachweislich so
nicht stimmen kann, derweil Sie sich selbst diesem Verdacht doch aussetzen? Das ist unredlich.
({4})
Herr Kollege Lauterbach, Sie meinen sicher Scheinanträge wie die, die heute vorliegen, in denen es überhaupt nicht um die Praxisgebühr, sondern um andere
Dinge geht, zum Beispiel um die Bürgerversicherung.
Das nimmt Ihnen ja auch niemand ab.
Wir werden in der Koalition ganz in Ruhe darüber
diskutieren. Wir legen hier unsere Argumente auf den
Tisch und werden im Gesundheitsausschuss mit unserem
geschätzten Koalitionspartner diskutieren und die Argumente austauschen; dafür sind wir da.
({0})
Daran lassen wir die Öffentlichkeit teilnehmen.
Wir hatten immer eine klare Positionierung zur
Praxisgebühr. Insofern haben wir uns da nichts vorzuwerfen. Aber ich kann den Ball an Sie zurückgeben. Bei
Ihnen sieht das, glaube ich, ein bisschen anders aus.
({1})
Ich würde jetzt gern in meiner Rede fortfahren und
auf die Sachargumente zu sprechen kommen. - Die
Steuerungseffekte, derentwegen die Praxisgebühr eingeführt wurde, sind - das wissen wir alle; das wurde bereits erwähnt - überhaupt nicht eingetreten. Die Gebühr
hat die Zahl der sogenannten Bagatell-Inanspruchnahmen - darum geht es ja - nicht nennenswert verringert.
Wo die Praxisgebühr allerdings unschlagbar ist - das ist
unser Credo als FDP -, ist der unnötige Bürokratieaufwand, der dadurch erzeugt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro wurde nach Angaben der KBV, der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Jahr 2010
156 Millionen Mal erhoben. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen.
Kollegin Dugnus, es gibt einen weiteren Wunsch,
eine Frage zu stellen oder eine Zwischenbemerkung zu
machen, nämlich vom Kollegen Harald Weinberg.
Jetzt würde ich gern meine Ausführungen zu Ende
bringen,
Gut.
- und nachher können wir gern weitermachen.
Geht man bei der Praxisgebühr von einem Bearbeitungsaufwand von nur vier Minuten aus, kommen wir im
Jahr auf stolze 624 Millionen Minuten administrativen
Aufwand insgesamt. Das entspricht über 10 Millionen
Stunden, die in deutschen Arztpraxen für die Erhebung
der Praxisgebühr aufgewendet werden.
({0})
Bei 87 000 Arztpraxen macht das pro Jahr und Praxis einen Durchschnittswert von ungefähr 119 Stunden, die
einfach so für die Erhebung der Praxisgebühr draufgehen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Mahnverfahren. In
der Summe sprechen wir von Verwaltungskosten in
Höhe von 360 Millionen Euro.
Wen wir auch nicht vergessen dürfen, sind die Patienten. Sie haben ebenfalls einen Aufwand, etwa wenn sie
sich von der Praxisgebühr befreien lassen wollen. Sie
müssen Belege sammeln und das Ganze einreichen. Und
wenn sie die 10 Euro nicht in der Tasche haben, müssen
sie noch einmal in die Praxis gehen und die Praxisgebühr
nachbezahlen.
Im Ergebnis ist klar: Die Praxisgebühr ist ein Bürokratiemonster, und zwar eines, das keinerlei Steuerungswirkung entfaltet hat.
({1})
Jetzt komme ich zu den lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Wie ich eben schon angedeutet
habe, ist in den Überschriften Ihrer Anträge die Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr natürlich teilweise enthalten. Sie versuchen hier heute vergeblich, einen vermeintlichen Widerspruch zwischen unserer
Ablehnung Ihrer Anträge und unserer Forderung nach
Abschaffung der Praxisgebühr herzustellen.
Die Wahrheit ist aber, dass Ihre Anträge Mogelpackungen sind; denn Ihnen geht es doch gar nicht um die
Abschaffung der Praxisgebühr. Im Kern wollen Sie alle
auf der linken Seite eine, wie auch immer geartete, Bürgerversicherung einführen
({2})
- sehen Sie; Sie geben es ja zu -; eine Bürgerversicherung, in die jede noch so kleine Sparbucheinlage und
jede noch so kleine Mieteinnahme einfließen.
({3})
Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine
Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?
Nein, danke; ich würde gerne zu Ende kommen.
({0})
- Jetzt geht es nämlich gegen Sie. Das müssen Sie sich
erst noch einmal anhören. Im Gewand eines Antrags auf
Abschaffung der Praxisgebühr präsentieren Sie uns nämlich in drei unterschiedlichen Varianten den gleichen Unsinn der Bürgerversicherung. Deswegen werden wir Ihre
Anträge auch ablehnen.
Die FDP plädiert für die Abschaffung der Praxisgebühr. Wir plädieren aber auch für eine sachliche Debatte
über den Weg, auf dem wir dahin kommen.
Wir widmen uns den tatsächlichen Herausforderungen des Gesundheitssystems. Wir haben es in der Koalition in kürzester Zeit geschafft, die Finanzen auf eine
stabile Grundlage zu stellen. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Menschen auch im ländlichen Raum beste medizinische Versorgung erhalten. Jetzt sorgen wir dafür,
dass die Pflegeversicherung zukunftsfest gemacht wird.
Zudem haben wir noch ein Plus in den Kassen. Ich
denke, dass sich das alles sehen lassen kann.
Stellen Sie ruhig weiter Ihre Schaufensteranträge. Wir
arbeiten ganz in Ruhe an der Sache. Wir führen diese
Sachdebatte da, wo sie hingehört, nämlich im zuständigen Gremium des Deutschen Bundestages, also im Gesundheitsausschuss.
({1})
Was wir nicht tun, ist, Ihren Schaufensteranträgen und
Ihren Mogelpackungen zuzustimmen.
Danke sehr.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Weinberg
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe mich zu
dieser Kurzintervention gemeldet, weil die Kollegin gerade zunächst einmal sehr gute Argumente gegen die
Praxisgebühr vorgebracht hat, dann allerdings an einer
Stelle eindeutig die Unwahrheit gesagt hat. Unser Antrag trägt nämlich, um das ganz deutlich zu sagen, die
Überschrift „Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen“ und hat den Text:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur
Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorzulegen.
({0})
Es geht um die Praxisgebühr und gibt keinen einzigen
Hinweis auf die Bürgerversicherung, wie Sie behauptet
haben.
({1})
Sie müssten auch noch einmal folgenden Widerspruch aufklären: Die FDP sammelt sowohl im schleswig-holsteinischen Wahlkampf als auch im NRW-Wahlkampf Unterschriften gegen die Praxisgebühr. Auf der
Website der FDP hat sie eine Umfrage zur Praxisgebühr
gestartet, an der inzwischen über 6 000 Personen teilgenommen haben. Über 80 Prozent sind übrigens dagegen,
um das ganz deutlich zu sagen. Das finde ich auch sehr
gut. Schaufenstersachen macht die FDP also in einer
sehr ausführlichen Art und Weise.
Gleichzeitig verhindert sie allerdings den Beschluss
unseres Antrags. Außerdem wird sie nachher hier mit Sicherheit auch die Sofortabstimmung über die Praxisgebühr verhindern. Woher kommt diese Schizophrenie?
Das müssen Sie mir einmal erklären.
({2})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
({0})
Ja, ich werde versuchen, Ihnen diesen Passus zu zeigen. Sie wollen die Zuzahlung und bestimmte Dinge abschaffen. Das sind Teile der Bürgerversicherung.
({0})
Falls ich mich geirrt haben sollte, entschuldige ich mich
jetzt schon einmal dafür.
({1})
Ich glaube, dass in anderen Anträgen die Bürgerversicherung erwähnt wurde. Herr Kollege, wir können uns
darüber gerne noch einmal in Ruhe unterhalten.
Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe schon wiederholt erläutert: Die FDP hat sich von Anfang an gegen die
Praxisgebühr gewandt. Ich kann Ihnen viele Veranstaltungen nennen, bei denen ich das öffentlich gesagt habe.
({2})
Deswegen ist es in Ordnung, dass wir so argumentieren.
Ich bin zum Beispiel seit 28 Jahren verheiratet. Was
meinen Sie, wie oft ich mit meinem Mann unterschiedlicher Meinung war? Zum Wohle der Familie haben wir
uns trotzdem immer geeinigt. So gehen wir auch in der
Koalition vor.
({3})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich möchte im Urlaub nach
Sylt fahren und mein Mann möchte nach Bayern fahren.
Wir einigen uns dann auf einen Urlaub in Deutschland.
({4})
Nun kommt der Nachbar und sagt: Ich fahre mit dir nach
Sylt. - Ich werde dann sicher nicht mit dem Nachbarn
nach Sylt fahren, sondern mich mit meinem Mann darüber einigen, wohin wir gemeinsam in den Urlaub fahren.
({5})
Ich hoffe, Sie haben mit diesem Bild meine Intention
verstanden. Über den Antrag unterhalte ich mich nach
der Debatte gerne mit Ihnen. Dann können wir in den
Dialog treten, auch darüber, was ich über die Bürgerversicherung behauptet habe. Ich nehme jedoch zur Kenntnis, dass Sie nicht für die Bürgerversicherung sind.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute an dieser Stelle
über Szenen einer Ehe rede statt über ein ganz klares Anliegen: über Praxisgebühr, Zuzahlung und Zusatzbeiträge.
({0})
Das ist heute das Thema. Dazu sind drei verschiedene
Anträge gestellt worden. Den Antrag der Linken gab es
tatsächlich schon vor der Osterpause. In diesem geht es
um die Abschaffung der Praxisgebühr. Sie hätten jederzeit die Möglichkeit gehabt, der Diskussion dieser Forderung im Ausschuss tatsächlich einen angemessenen
Rahmen zu geben.
({1})
Weder vor den Osterferien noch in dieser Woche ist er
diskutiert worden. Dabei haben Sie gesagt, Sie wollten
diesem Anliegen einen Raum verschaffen. Es war nicht
einmal eine Diskussion möglich. Er wurde von der Tagesordnung gestrichen. So viel zur Seriosität, zur Redlichkeit, zur Verantwortlichkeit.
({2})
Ich muss sagen: Wir haben ganz andere Anliegen.
({3})
Dazu, dass Sie dann als Krönung der SPD und den
Grünen in NRW und in Schleswig-Holstein vorwerfen,
sie würden dieses Thema instrumentalisieren, sage ich
Ihnen: Es ist ein legitimes Anliegen, einem Thema, das
in weiten Teilen der Gesellschaft debattiert worden ist,
zum Durchbruch zu verhelfen und zu verdeutlichen, dass
Sie dies auf der einen Seite zum Thema gemacht, aber
auf der anderen Seite Versprechungen gemacht haben,
die Sie überhaupt nicht realisieren wollen. Darum geht
es.
({4})
Das treibt auch die Kollegen von der Union auf die
Palme. Es geht darum, dass Sie eine Forderung erheben,
die erstens dem Koalitionsvertrag widerspricht und die
sich zweitens in Ihrem Wahlprogramm so nicht wiederfindet.
({5})
Sie haben dort immer von einer unbürokratischen Form
der Selbstbeteiligung geredet. Sie haben aber nie die
Selbstbeteiligung an und für sich infrage gestellt. Es
ging Ihnen immer nur um den bürokratischen Aufwand,
der damit verbunden war. Das noch einmal zur Klarstellung.
Dann führen Sie die Union vor und überlassen der
Union die anderen Dinge, die in diesem Zusammenhang
zu klären sind,
({6})
nämlich dafür sorgen, dass es für die Abschaffung der
Praxisgebühr eine entsprechende Gegenfinanzierung
gibt. Das ist der einzige Punkt, bei dem Jens Spahn vorhin recht hatte.
({7})
Natürlich muss man für eine Gegenfinanzierung sorgen,
wenn man den Krankenkassen 2 Milliarden Euro wegnimmt.
({8})
- Ganz genau.
({9})
Aber es kommt noch mehr. Unser Antrag, der Ihnen
heute vorliegt, enthält drei Elemente: Wir haben Ihnen
erstens geraten, die Praxisgebühr abzuschaffen, zweitens
haben wir Ihnen geraten, die Zusatzbeiträge abzuschaffen, und drittens haben wir Ihnen geraten - als wichtiges
Element -, den Krankenkassen die Beitragsautonomie
zurückzugeben.
Das ist doch der wahre Knackpunkt in diesem Spiel.
Sie haben mit der Gesundheitsreform 2010 ein System
geschaffen, in dem für die Krankenversicherung zentralistisch ein Einheitsbeitrag festgesetzt wurde. Das führte
dazu, dass es bei den Krankenkassen keine wirkliche
Steuerung gibt, sondern diese in irgendeiner Weise mit
den Beiträgen zurechtkommen müssen. In diesem Fall
hatten Sie großes Glück; denn Konjunktur und Arbeitsmarktlage waren gut.
({10})
Deshalb gibt es bei den Krankenkassen und im Gesundheitsfonds einen immensen Überschuss.
({11})
Dieser Überschuss aber - das muss man ganz klar
sagen - gehört den Versicherten.
({12})
Er gehört nicht den Krankenkassen. Die Krankenkassen
sind zu Recht keine Sparkassen; vielmehr haben sie eine
definierte Liquiditätsreserve, die aber längst überschritten ist. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Diskussion über die Abschaffung der Praxisgebühr einzusteigen.
Ein weiterer Punkt. Ich habe aus Ihren Reihen nichts
gehört zur inhaltlichen Auseinandersetzung um die Praxisgebühr und die Zuzahlungen.
({13})
Genau darum geht es aber im Wesentlichen. Alle drei
Elemente bedeuten zusätzliche unsolidarische Belastungen, die einseitig nur die Versicherten treffen.
({14})
Das führt dazu, dass die von Ihnen genannten sozial Benachteiligten eben keine gerechte Teilhabe an der gesundheitlichen Versorgung erfahren.
Hier müssen wir gegensteuern. Darum geht es uns
heute. Wir wissen, dass wir gegensteuern müssen. Es
sind die 20 oder 25 Prozent der immer wieder beschworenen sozial Benachteiligten und der bildungsschwachen
Haushalte, die gesundheitlich schlecht versorgt sind, die,
wie Studien nachgewiesen haben, wegen der Praxisgebühr und wegen der Zuzahlungen nicht oder zu spät
zum Arzt gehen. Das ist Ihnen bekannt; man kann das in
Arzneimittelreporten oder Gesundheitsreporten nachlesen.
({15})
Das ist der Sachstand. Heute ist es an der Zeit, endlich
gegenzusteuern.
({16})
- Es ist in der Tat so, dass die Grünen die Praxisgebühr
im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz mit eingeführt haben, und zwar auf Betreiben der Union, das ist ja klar.
({17})
Es hat immer schon große Vorbehalte gegeben, aber
man ist auch ein Stück weit dem Rat der Sachverständigen gefolgt.
({18})
- Hören Sie mir mal zu? Haben Sie keine Lust mehr, zuzuhören? Wir führen heute eine Debatte, die Sie draußen
in der Bevölkerung ereilen wird. Sie werden also schon
zuhören müssen.
({19})
- Ja, genau so wird es sein. - Bei genauerem Hinsehen
werden Sie feststellen, dass man für die Praxisgebühr
nicht wirklich weiterhin werben kann. Man kann nicht
dafür einstehen, außer es geht um die Frage der Finanzierung. Dann müssen Sie sich aber fragen lassen, wie
insgesamt eine nachhaltige Finanzierung in der Gesundheitspolitik aussehen soll.
Sie haben mit dem Zusatzbeitrag ein Konstrukt geschaffen, angesichts dessen Sie sich heute eigentlich entsetzt abwenden müssten; denn Sie fürchten ja selbst die
Folgen dieser Zusatzbeiträge. Sie müssen heute dafür
sorgen, dass es auf keinen Fall zur Einführung der Zusatzbeiträge kommt. Sie müssen für eine Liquiditätsreserve sorgen, ein Sicherheitspolster, das Sie sicher
über die nächsten Wahltermine und bis 2013 bringt.
Darum geht es doch. Darum kämpfen Sie, Jens
Spahn, für dieses Sicherheitspolster, weil Sie genau wissen, dass Sie ansonsten in die Lage geraten, die Zusatzbeiträge wirklich einzuführen. Und was wäre dann?
({20})
Es gäbe einen bürokratischen Aufwand ohne Ende.
Schauen Sie sich die Regelungen im SGB V an: Sie umfassen sieben Absätze mit zahlreichen Formulierungen
und Regelungen, die in den Unternehmen und anderswo
zu großem bürokratischen Aufwand führen werden. So
verhält es sich doch. Gleichzeitig ist es eine Tatsache: Es
wird zu einer zusätzlichen Belastung ausschließlich der
Versicherten kommen. Auch das ist etwas, was Sie
heute, vor den Wahlen, nicht an die Oberfläche kommen
lassen wollen. Darum geht es im Kern. Darum kämpfen
Sie vonseiten der Union.
Klar ist natürlich auch, dass Sie darüber einen Ehezwist haben. Ich hätte an Ihrer Stelle ebenfalls keine
Lust, allein für die Folgen einer solchen verfehlten Politik einzustehen; auch darum geht es. Da macht sich die
FDP nämlich in der Tat einen schlanken Fuß. Sie hat
sich im Februar überlegt: Ach ja, die Abschaffung der
Praxisgebühr, das wäre populär. Das ist ein schönes
Signal an die Ärzteschaft. ({21})
Es ist gleichzeitig ein Signal, dass die FDP in der Lage
ist, ein wärmendes, soziales Mäntelchen zu tragen. Darum geht es.
Schauen wir uns jetzt einmal Folgendes an: Sie haben
schon heute die Möglichkeit, über den Antrag der Linken abzustimmen. Sie haben in den nächsten Wochen die
Möglichkeit, über die in unseren verschiedenen Anträgen enthaltenen Regelungen abzustimmen. Wir werden
erleben: Nichts davon wird kommen. Aber es wird wahrscheinlich etwas anderes kommen. Es wird zu einer Art
Eintrittsgebühr beim jeweiligen Arztbesuch kommen.
Darüber haben Sie nämlich schon Ende letzten Jahres
nachgedacht.
({22})
- Herr Lanfermann, noch Ende Dezember haben Sie davon gesprochen, dass gegen eine kleine Selbstbeteiligung, die unbürokratisch ausgestaltet ist, nichts einzuwenden ist. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, wessen
Geistes Kind sämtliche Anliegen der FDP sind.
({23})
Ich habe jedenfalls größere Schwierigkeiten, zu glauben,
dass Sie tatsächlich für Ihre Forderungen einstehen werden.
Vielen Dank.
({24})
Der Kollege Stephan Stracke hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Klein-Schmeink, Sie setzen darauf, dass wir für jeden Arztbesuch eine Art Eintrittsgebühr einführen wollen. Sie können davon ausgehen, dass
Ihre Vermutung ins Leere laufen wird. Das ist reine Spekulation.
({0})
Reine Spekulation ist auch das, was Sie uns in Bezug
auf das Thema Zusatzbeiträge unterstellen. Die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land ist so hervorragend, dass es weder in diesem Jahr noch im nächsten
Jahr Zusatzbeiträge im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Also behaupten Sie nichts,
was sich aufgrund der gegenwärtigen Lage als irreal herausstellt. Deutschland geht es gut, und die Menschen
profitieren davon. Die Beschäftigung in Deutschland befindet sich auf Rekordhöhe. In Deutschland sind mehr
Menschen als je zuvor in Lohn und Brot, und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik, und
das ist das Ergebnis einer Politik für Wachstum, Stabilität und Beschäftigung in diesem Land.
({1})
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Tatsache,
dass die Effektivlöhne steigen werden, zeigen, dass der
Aufschwung bei den Menschen tatsächlich ankommt.
Wir sorgen dafür, dass die Menschen auf breiter Front
entlastet werden. Die CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass
die Bürger ab dem Jahr 2009 um 24 Milliarden Euro entlastet wurden. Beispielsweise hat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz durch die Erhöhung des Kindergeldes und eine Ausweitung des Kinderfreibetrags zu
Entlastungen in Höhe von über 4,3 Milliarden Euro geführt.
Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ich möchte im Zusammenhang ausführen. Danach
kann Herr Ernst gern eine Zwischenfrage stellen.
Das zeigt, wir entlasten die Bevölkerung hier auf breiter Front, und das gilt auch für die Sozialversicherungssysteme.
({0})
Beispielsweise sinkt der Rentenversicherungsbeitrag um
0,3 Prozentpunkte. Das ist insgesamt eine Entlastung
von 3 Milliarden Euro.
({1})
Bei der Arbeitslosenversicherung hat es im Vergleich zu
2005 Entlastungen von insgesamt rund 28 Milliarden
Euro jährlich gegeben; auf die Arbeitnehmerschaft ent20912
fallen dabei 14 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis
christlich-liberaler Politik. Das trägt, und das wirkt auch
in die Bevölkerung hinein.
({2})
Jetzt zum Thema Praxisgebühr. Es geht tatsächlich
darum, wie die gesetzliche Krankenversicherung nachhaltig finanziert wird.
({3})
Wir haben einen Finanzierungsmix aus Beiträgen, aus
staatlichen Zuschüssen und aus Zuzahlungen. Die Zuzahlungen belaufen sich auf insgesamt 5 Milliarden
Euro. Ich glaube, das ist ein sozial ausgewogenes Konzept.
Wenn es darum geht, wie die Gegenfinanzierung der
Abschaffung der Praxisgebühr aussehen soll, dann
kommt aus dem Bereich der Linken natürlich wie immer
überhaupt kein Vorschlag.
({4})
Ich habe mir Ihren Antrag nämlich tatsächlich angeschaut. Sie versprechen hier wie immer den Himmel auf
Erden, und in der Realität - das hat die Vergangenheit
gezeigt - ist es oftmals die Hölle.
Ich komme zur SPD und zu den Grünen. Wenn es um
die Gegenfinanzierung geht, sagen sie zunächst einmal:
Wir haben ja die Rücklagen. - Ja, wir haben die Rücklagen; aber wir wissen auch, dass diese Rücklagen nur
über einen gewissen Zeitraum bestehen werden, weil es
aufgrund der demografischen Entwicklung eine Steigerung der Ausgaben im Gesundheitssystem um 60 Euro
pro Jahr und Versichertem gibt. Das zeigt: Seriöse Politik muss auch darauf achten, dass langfristig und gut finanziert wird.
Dann wird immer das Stichwort Bürgerversicherung
in den Raum geworfen. Das Stichwort Bürgerversicherung ist eigentlich das Ü-Ei, das Überraschungsei der
Sozialdemokratie und vor allem der Grünen.
({5})
Da locken Sie zunächst einmal mit Verführerli und sagen: Wir schaffen die Praxisgebühr ab oder sorgen für
andere Wohltaten. - Wenn man sich das Überraschungsei Bürgerversicherung genauer anschaut, wenn
man es auspackt, dann findet man einen Zettel.
({6})
Dort liest man: „Ätsch, reingefallen! Ihre SPD und
Grüne.“
({7})
Das ist das Ergebnis; das macht die Bürgerversicherung
tatsächlich aus. Denn die Bürgerversicherung trifft zunächst einmal in ganz breiter Front die Mittelschicht und
die Leistungsträger in diesem Land.
Wenn man sich beispielsweise die Vorschläge der
Grünen vergegenwärtigt: Sie wollen -
Kollege Stracke, könnten Sie mir ein Zeichen geben?
Ich habe jetzt mehrere Meldungen zu Zwischenfragen
oder -bemerkungen.
({0})
Das machen wir am Schluss.
Irgendwann ist die Redezeit um. Ich sage es Ihnen
nur.
Dann machen wir keine Zwischenfragen. - Welche
Gegenvorschläge werden hier im Zusammenhang mit
der Bürgerversicherung vorgelegt? - Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent. Das trifft vor allem 4,5 Millionen gesetzlich Versicherte, nicht, wie immer behauptet wird, vor allem die Privatversicherten.
({0})
Das trifft vornehmlich die breite Mittelschicht in diesem
Lande und damit diejenigen, die in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind.
Dann wollen Sie Mieten, Pachten und Zinsen einbeziehen. Das ist nichts anderes als eine zweite Einkommensteuer. Hier wollen Sie rund 4 Milliarden Euro generieren.
Dann wollen Sie auch noch die beitragsfreie Familienversicherung für Ehegatten einschränken. Hier kassieren Sie noch einmal 1 Milliarde Euro ein.
({1})
Das, was Sie als vermeintliche Wohltaten in Aussicht
stellen, wird also zunächst einmal an anderer Stelle einkassiert und dann verteilt. Das ist nicht seriös; die Bürgerversicherung verspricht keine seriöse Politik. Die
Bürgerversicherung ist in Wahrheit ein ganz faules Ei,
das Sie der Bevölkerung unterschieben wollen. Deswegen machen wir das nicht.
({2})
Wir sagen: Seriöse Politik zeichnet sich dadurch aus,
dass wir die Rücklagen, die die Versicherten mit ihren
Geldern angespart haben, zunächst einmal aufbewahren,
weil wir ganz genau wissen, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung Ausgabensteigerungen in der
gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Das ist
seriöse, nachhaltige Politik; das ist die Politik der CDU/
CSU.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Klaus
Ernst das Wort.
Lieber Kollege Stracke, ich möchte eine Feststellung
treffen: Sie haben sich so intensiv mit dem Vorschlag der
Opposition auseinandergesetzt, dass sie in den ersten
zwei Minuten Ihrer Rede über den Arbeitsmarkt und die
Arbeitslosenversicherung geredet haben.
({0})
Da würde ich erst einmal sagen: Thema total verfehlt.
Das muss ich einfach sagen.
Zweiter Punkt. Sie haben dann gesagt, wir - da meine
ich die gesamte Opposition - hätten keine Vorschläge
zur Gegenfinanzierung gemacht; aber dann setzen Sie
sich den Rest Ihrer Rede mit der Bürgerversicherung
auseinander, nicht mit dem eigentlichen Thema. Auch
das ist ein interessanter Punkt.
Ich möchte zudem feststellen, dass Herr Spahn von
Solidarität gesprochen hat. Für Sie, Herr Spahn, und für
die CDU/CSU ist es offensichtlich der stärkste Ausdruck
der Solidarität, dass wir mit dem System der Praxisgebühr Menschen ganz bewusst vom Zugang zu einem
Arztbesuch ausgrenzen. Das ist offensichtlich Ihr Begriff
von Solidarität.
({1})
Ich finde das verwerflich. Das möchte ich in aller Klarheit sagen.
Wenn wir von Solidarität sprechen, dann möchte ich
einen Punkt in Bezug auf die Bürgerversicherung ansprechen. Die Bürgerversicherung ist tatsächlich eine solidarische Bürgerversicherung, und zwar deshalb, weil
alle prozentual von ihren Einkommen den gleichen Beitrag in die Versicherung einzahlen würden. Die Beiträge
könnten sinken, und es wäre nicht so, dass die Sekretärin
letztendlich prozentual mehr für die Gesundheit ausgeben muss als ihr Chef; denn das ist zutiefst unsolidarisch. Das System muss geändert werden, deshalb wollen wir die Bürgerversicherung. Das ist übrigens unsere
Finanzierung, darauf möchte ich Sie aufmerksam machen.
({2})
Kollege Stracke hat das Wort zur Erwiderung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Ernst,
Ihre Ausführungen hatten einen sehr lehrerhaften Ton.
Da kann man nur sagen: Solche Lehrer brauchen wir
nicht in unserem Land.
({0})
Auch in der Sache liegen Sie falsch. Die Praxisgebühr
und alle Zuzahlungen sind sozial ausgewogen. Sie wissen ganz genau, dass wir beispielsweise im Rahmen der
Chroniker-Richtlinie die Grenze bei 2 Prozent des Einkommens festgelegt haben,
({1})
- Bei 1 Prozent. 2 Prozent sind es bei denjenigen, die
von ihrer Einkommenslage her nicht so gut gestellt sind.
({2})
Es ist also ganz klar, dass wir im Rahmen unseres Zuzahlungssystems durchaus die soziale Balance einhalten.
Ein zweiter Punkt. Herr Ernst, in Ihrem Antrag beschäftigen Sie sich mit keinem Wort mit der Gegenfinanzierung.
({3})
Das ist der eigentliche Skandal: Sie stellen Versprechen
in den Raum.
({4})
Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zurückführen, aber
Sie sagen mit keinem Wort, wie Sie das finanzieren wollen.
({5})
Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Sie sagen einfach: Wir finanzieren das. Wir wissen zwar noch nicht genau wie,
aber wir versprechen es schon einmal. Das ist nicht die
Form von seriöser Politik, wie wir sie betreiben.
({6})
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege
Spahn das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte das Wort
ergreifen, weil der Kollege Ernst mich direkt angesprochen hat. Er hat auch Bezug auf das genommen, was
Stephan Stracke gesagt hat.
Zum Thema Solidarität. Ich bin der festen Überzeugung: Die größte Solidarität, die wir leisten können, ist
die, dass wir insbesondere kranken Menschen und Menschen mit geringem Einkommen ein Gesundheitssystem
in der Qualität und in der Dichte auch in den ländlichen
Regionen zur Verfügung stellen, wie wir es in Deutschland tun. Ein solches System, das die sofortige Teilhabe
am medizinischen Fortschritt möglich macht, etwa bei
neuen Medikamenten gegen Krebs, MS oder Parkinson,
das die Kosten sofort erstattet, gibt es in keinem anderen
Land der Welt. Das ist der größte Ausdruck von Solidarität, den es geben kann, und genau die wird in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung gelebt. Das ist
mein erster Punkt.
({0})
Zum Zweiten. Es gehört zu unserem Verständnis dazu
- Solidarität ist keine Einbahnstraße -, dass man sich im
Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit an den
Kosten beteiligt.
({1})
Sie wissen genau, was das heißt - den Teil lassen Sie immer weg -: Ein chronisch Kranker muss maximal 1 Prozent seines Einkommens zuzahlen: für Medikamente, für
Praxisgebühr und alle anderen Dinge zusammen. Diese
Regelung führt dazu, dass niemand durch Zuzahlung
und Praxisgebühr überfordert wird.
({2})
Wir finden schon - anders als Sie vielleicht, Sie sind
groß im Verteilen des Geldes anderer Leute -, dass zur
Solidarität beide Seiten beitragen müssen.
Ich möchte einen dritten Aspekt nennen. Zur Solidarität gehört es auch, dafür zu sorgen, dass das Gesundheitswesen, das das beste auf der Welt ist, auch mittelfristig solide bleibt. Das Schlechteste, was wir
insbesondere für kranke Menschen tun könnten, ist, ein
Gesundheitssystem anzubieten, das nicht auf soliden finanziellen Beinen steht, sodass wir früher oder später
über Ausgliederung, über Senkungen, über Sparmaßnahmen und über Kostendämpfung reden müssten. Das
wäre das Schlechteste. Deswegen sagen wir: Gerade im
Interesse von kranken Menschen wollen wir die solide
finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung
beibehalten.
({3})
Da springen Sie leider zu kurz. Sie sagen an einer Stelle
immer nur: Abschaffen, abschaffen, abschaffen. An anderer Stelle aber sagen Sie: Mehr Geld, mehr Geld, mehr
Geld. Wie es aber finanziert werden soll, sagen Sie nicht.
Da lassen wir Sie aber nicht heraus. Die größte Solidarität besteht in einer guten Finanzlage.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt erst
einmal ein paar geschäftsleitende Bemerkungen machen.
Bei mir wurde, was jederzeit möglich ist, eine Kurzintervention des Kollegen Spahn aus der Unionsfraktion angemeldet. Auch wenn sich hier eine muntere Debatte
zwischen Kollegen entfaltet hat, die schon gesprochen
haben oder noch sprechen wollen, besagt unsere Geschäftsordnung, dass nur der Kollege Stracke auf diese
Kurzintervention antworten kann. Ich habe kein Signal
gesehen, dass er das jetzt vorhat. Das heißt aber auch,
dass die weiteren Wortmeldungen, die ich hier wahrgenommen habe, in ein anderes Format umgewandelt werden müssten. Wir haben aber noch ein wenig Debattenzeit; das bekommen wir sicherlich hin.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen-Claudio
Lemme für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Herr Gesundheitsminister Bahr! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz!
Meine Fraktion freut sich, dass es heute hier im Haus
doch eine Mehrheit für die Abschaffung der Praxisgebühr gibt. Es gibt allerdings zwei Probleme und auch
zwei Verlierer bei dieser Mehrheit. Das ist zum einen die
FDP, die gegen ihren eigenen Parteitagsbeschluss handelt. Zum anderen ist es die CDU/CSU, die die Patientinnen und Patienten in unserem Land nicht entlasten
will. Das ist kein gutes Zeichen für unsere parlamentarische Demokratie.
({0})
Warum ist das so? Wir debattieren hier heute über ein
gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument, das einfach nicht mehr der Realität unserer Krankenversicherungslandschaft entspricht. Grundsätzlich gilt, dass jede
politische Mehrheitsentscheidung auch immer Kind ihrer Zeit ist. Es ist unsere Aufgabe als politische Entscheidungsträger, Regelungen zu überprüfen und auch
veränderte Rahmenbedingungen zu überdenken. Das ist
nun auch im Falle der Praxisgebühr notwendig geworden. Wir müssen feststellen, dass sie klar hinter der erwarteten Steuerungswirkung zurückbleibt und nur unzureichend zur finanziellen Entlastung des Systems
beiträgt. Hier müssten wir eigentlich gemeinsam handeln.
Ich erinnere aber auch daran, dass es in der Vergangenheit wiederholt zu anderen Einschätzungen der Sachlage gekommen ist. Deshalb will ich uns kurz noch einmal die Entstehung und Entwicklung der Praxisgebühr
ins Gedächtnis rufen. Wie mein Kollege Karl Lauterbach
bereits ausgeführt hat, ist die derzeitige Ausgestaltung
Kompromissen geschuldet, die wir Sozialdemokraten
seinerzeit im Vermittlungsausschuss gegenüber CDU
und CSU machen mussten.
Die Union wollte damals mit ihrer Praxisgebühr von
den Patientinnen und Patienten noch wesentlich höhere
Zuzahlungen, während wir mit unserer Abgabe nur beim
Facharzt die hausarztzentrierte Versorgung stärken wollten.
({1})
Hierzu stehen wir auch heute. Wir halten weiter an unserer Überzeugung der Notwendigkeit einer hausarztzentrierten Versorgung fest.
Wir mussten damals, in den Jahren 2003/2004, dafür
Sorge tragen, dass sich die Defizite in der gesetzlichen
Krankenversicherung - damals betrug der Fehlbetrag bereits drei Jahre in Folge durchschnittlich 1 Milliarde
Euro pro Jahr - nicht fortsetzten. Das ist uns damals
auch gelungen. Die Praxisgebühr war nur ein Baustein
von vielen zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung.
Für uns Sozialdemokraten war, ist und bleibt es zwingend, dass gerade bei der Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung sauber gearbeitet wird. Schnellschüsse zahlen sich für die Versicherten nie aus. Sie wirken sich zu einem späteren Zeitpunkt negativ aus.
Die ersten Gutachten zur Praxisgebühr - etwa des
Wissenschaftlichen Instituts der AOK, des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung oder des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung - zogen eine
durchweg positive Steuerungsbilanz.
Zweistellige Fallzahlenrückgänge bei Augenärzten,
Chirurgen oder Orthopäden sprachen damals eine deutliche Sprache. Auch die Akzeptanz des immer wieder diskutierten Instruments wuchs in der Bevölkerung rasch.
So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des
Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahre 2010 annähernd 70 Prozent der Befragten dafür aus, die Gebühr
unverändert beizubehalten.
Nichtsdestotrotz verweisen andere Studien, zum Beispiel die Studie des Helmholtz-Zentrums München aus
dem Jahr 2008, die zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung herausgegeben wurde, auf negative Steuerungseffekte. Danach würden junge und gesunde Menschen
notwendige Arztbesuche dreieinhalbmal häufiger verschieben als ältere Menschen, Geringverdiener immerhin zweieinhalbmal häufiger als Besserverdienende.
Hierauf machen insbesondere Sozial- und Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften aufmerksam. Sie betonen
insgesamt die negativen Auswirkungen für ältere Menschen und Geringverdiener. Das sind Hinweise, die wir
nicht ignorieren können; denn wir alle wissen: Präventionsmaßnahmen und die frühzeitige Behandlung von
Krankheiten helfen, hohe Folgekosten zu vermeiden.
Kurzum: Die Praxisgebühr wurde seit ihrer Einführung unterschiedlichen Zeugnissen unterworfen und
blieb stets Gegenstand kontroverser Debatten.
Letztlich macht die Gebühr nur einen Bruchteil der
Finanzierungsgrundlage aus. Sie trägt nicht nachhaltig
genug zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung bei. Hören Sie: Ich habe im Petitionsausschuss
bei Entscheidungen zur Praxisgebühr wiederholt darauf
hingewiesen, dass ein finanzieller Spielraum Voraussetzung für die Abschaffung der Praxisgebühr ist. Die Koalition hat sich aber allen konstruktiven Vorschlägen zur
Beschaffung der notwendigen Mittel, zum Beispiel
durch Einführung einer effektiveren Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln, verweigert.
({2})
Diese Wahlperiode bot bisher keine finanziellen
Spielräume für Entlastungen. Aber die Rahmenbedingungen haben sich mittlerweile durch die gute Konjunktur verbessert. Wir sollten diesen Spielraum nutzen. Ich
fordere Sie daher auf: Stimmen Sie der Abschaffung der
Praxisgebühr zu, und sorgen Sie für eine Entlastung der
Patientinnen und Patienten.
({3})
Neben der Abschaffung der Praxisgebühr wird langfristig jedoch nur eine Stärkung der Solidarität in der
GKV eine umfassende Entlastung für die Versicherten
bringen. Die Rückkehr zur Parität, die Abschaffung von
Zusatzbeiträgen und letztendlich die Einführung der solidarischen Bürgerversicherung müssen folgen; denn nur
so wird unsere gesetzliche Krankenversicherung zukunftsfest gemacht.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz
Lanfermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da haben wir sie wieder gehört, die Heilserwartungen, die mit
der Bürgerversicherung verbunden werden. Aber dazu
ist ja schon einiges gesagt worden.
Die Aufforderung aus den Reihen der Opposition, die
uns gleich mit drei Anträgen beglückt hat, die FDP möge
ihrer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr
nachkommen, ist absolut scheinheilig. Das kann man
schon an den Überschriften der drei Anträge erkennen.
Das wird erst recht deutlich, wenn man die Anträge liest.
({0})
Bei den Grünen zum Beispiel geht es um Änderungen
bei der Beitragssatzautonomie, dabei geht es - das haben
wir ja gehört - in Richtung Bürgerversicherung. Die
SPD hat gleich auch noch ihr Hausarztmodell mit dazugepackt. Das ist Ihr gutes Recht, aber dann tun Sie nicht
so, als gehe es hier nur um die Praxisgebühr. Die Linken
rufen in der Tat nach Abschaffung aller Zuzahlungen als
Vorstufe zum Heil. Das ist sozusagen eine Eintrittskarte
in den Himmel der Bürgerversicherung. Herr Weinberg,
ich kann verstehen, dass man frustriert ist, wenn die
selbsternannten Gesundheitsexperten der Fraktionsspitze
hier sprechen. Gestern hatten wir die „hälftige Fraktionsvorsitzende“ Künast als Pflegeexpertin, die hier ihre Unkenntnis ausgebreitet hat. Heute hat Herr Ernst hier
gesprochen. Ich sage: Überlassen Sie das den Fachpolitikern. Die Debatten sind dann etwas besser.
({1})
Herr Kollege Weinberg, Sie haben der Kollegin
Aschenberg-Dugnus einen falschen Vorhalt gemacht und
gesagt, sie hätte hier etwas Unwahres gesagt, als sie
meinte, in Ihrem Antrag sei von der Bürgerversicherung
die Rede, auf die Sie hinaus wollten. Sie haben hier laut
gerufen: Dann zeigen Sie es mir doch einmal. - Sie hat
Ihnen angeboten, sich zu entschuldigen, sollte sie sich
geirrt haben. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, damit
Sie gleich die richtigen Worte gegenüber der Kollegin
finden. In Ihrem Antrag steht:
Die Abschaffung der Zuzahlungen ist damit zumindest für 2012 gegenfinanziert.
Jetzt kommt der Blick in die Zukunft:
Langfristig ist für eine gerechte und stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine
solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
einzuführen.
({2})
Sind wir nun diejenigen, die nicht lesen können, oder
sind Sie es, Herr Kollege Weinberg?
({3})
Wir haben hier - das war etwas kleinkariert - gehört,
dies sei eine Wahlkampfdebatte. Die Zuhörer merken,
wer hier in der Sache argumentiert
({4})
und wer nervös ist.
Kollege Lanfermann.
Nein, danke.
({0})
Das Spiegelbild der Debatte sind die Umfragen. Entgegen Ihren Erwartungen steigen in Schleswig-Holstein
und Nordrhein-Westfalen die Umfragewerte der FDP,
während die Umfragewerte der Linken sinken - und das
dramatisch. Auch die Grünen verlieren Wähler, und
zwar an die Piraten. Inwieweit Sie daraus Schlussfolgerungen ziehen, mögen Sie unter sich ausmachen.
({1})
Wir haben gerade eine weitere Falschaussage gehört.
Es wurde behauptet, wir würden gegen Parteitagsbeschlüsse verstoßen. Wenn Sie sich - ich hätte Ihnen das
empfohlen - auf Phoenix den Parteitag der FDP in
Karlsruhe angesehen haben, dann haben Sie gehört, wie
begeistert dort die Delegierten gesagt haben: Ja, wir, die
FDP - es ging bei diesem Parteitag um uns als Partei -,
sind für die Abschaffung der Praxisgebühr.
({2})
Wir haben übrigens in dieser Debatte die Gründe dafür
dargestellt. Kollegin Aschenberg-Dugnus hat sie aufgeführt. Alle reden davon, man soll nicht polemisch sein
und Sachdebatten führen, aber wer nennt einmal die
Gründe, die dafür und dagegen sprechen?
({3})
Sie hat die Gründe genannt. Kollege Spahn hat auf die
finanziellen Fragen hingewiesen - völlig zu Recht.
Ferner: Es hat niemals in der FDP die Auffassung gegeben, dass wir diese Gebühr behalten wollen.
Sie sagen - das war eine weitere Äußerung hier -, das
sei gegen den Koalitionsvertrag. Das ist natürlich wieder
einmal nur so dahergeredet.
({4})
Im Koalitionsvertrag steht - ich darf wörtlich zitieren -:
„Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches Erhebungsverfahren überführen.“
({5})
Erstens ist das finanzneutral ausgedrückt; denn die Finanzfrage ist wichtig. Zweitens ist der Vorschlag - er
wurde übrigens im Wesentlichen von mir auf den Weg
gebracht - allgemein gemacht worden und hat Fahrt aufgenommen, als die Finanzlage der Krankenversicherungen, also Gesundheitsfonds plus Rücklagen der Kassen,
nach den entsprechenden Berichten in die Diskussion
kam.
({6})
Dann sind in diese Diskussion auch andere eingestiegen,
die sich jetzt hier als Väter und Mütter dieser Idee aufspielen. In Wirklichkeit sind sie nur Mitläufer und versuchen, einen Keil zwischen uns zu treiben, nur weil wir
gesagt haben: Das ist unser Vorschlag. Jetzt lasst uns
doch einmal darüber diskutieren und Argumente austauschen. Das tun wir natürlich erst einmal innerhalb der
Koalition. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun.
({7})
Denn ich rechne nicht damit, dass sich die Union bis
Mitte Mai eines anderen besinnt. Aber ich weiß, dass wir
dafür werben können und dass die Argumente nach
Mitte Mai vielleicht etwas mehr Gehör finden.
Sie können sich selbst im Ausschuss helfen. Dass Ihre
Forderungen scheinheilig und ein Trick sind, zeigt sich
daran, dass in allen drei Anträgen die Praxisgebühr nur
ein Nebenthema ist. In Wirklichkeit haben Sie andere
Anliegen. Sie wollen über diese Anträge weder untereinander noch mit den anderen Fraktionen im Ausschuss
diskutieren. Wie kämen Sie sonst auf die seltsame Idee,
hier Anträge vorzulegen, die nicht einmal in allen Punkten ordentlich ausformuliert sind und zu denen es viele
Nachfragen gibt?
Uns werfen Sie hier vor - dabei handelt es sich um
ein ganz normales parlamentarisches Verfahren -, dass
wir für die Überweisung stimmen. Wir wollen heute weder Bürgerversicherung noch Zuzahlungsbefreiung ablehnen. Vielmehr wollen wir Ihnen die Chance geben, im
Ausschuss darüber zu diskutieren. Verweigern Sie das
nicht. Sie können auch die öffentliche Diskussion weiterführen und Ihre Argumente nennen, warum man die
Praxisgebühr abschaffen oder warum man sie durch ein
anderes Instrument ersetzen sollte.
Kollege Lanfermann, ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Sie haben gleich noch die Chance, auf eine Kurzintervention zu erwidern. Aber Sie müssen bitte zum
Ende kommen.
Ja. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Es gibt eine
breite Palette von Möglichkeiten, wie man Zuzahlungen,
Eigenbeteiligungen oder Ähnliches regeln kann. Sie sind
eingeladen, darüber zu diskutieren, und zwar ergebnisoffen und unvoreingenommen. Ich bitte Sie, dies zum Gegenstand und zur Richtlinie Ihrer Beiträge zu machen.
Herzlichen Dank.
({0})
Bevor ich dem Kollegen Weinberg das Wort zu einer
Kurzintervention gebe, weise ich darauf hin, dass unsere
Regelung in der Geschäftsordnung heißt: Der Präsident/
die Präsidentin kann das Wort zu Kurzinterventionen erteilen. - Das impliziert auch eine andere Möglichkeit.
Ich werde im weiteren Verlauf der Debatte natürlich darauf achten, dass die Proportionen eingehalten werden.
Bitte, Kollege Weinberg.
({0})
Vielen Dank. - Herr Spahn, auch Sie haben Ihre Redezeit durch Ihre Kurzintervention etwas verlängert. Das
war meines Erachtens zumindest inhaltlich durchaus
problematisch.
Ich bin von Herrn Lanfermann in Bezug auf meine
Bemerkung zu den Aussagen der Kollegin AschenbergDugnus angesprochen worden. Ich möchte darauf hinweisen: Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat auf die
Anträge zur Praxisgebühr Bezug genommen - nicht auf
die Anträge auf Abschaffung der Zuzahlungen, sondern
auf die Anträge zur Praxisgebühr; dazu liegt auch ein
Antrag von uns vor. Sie hat ausgeführt, in diesen Anträgen sei jeweils ein Bezug zur Bürgerversicherung enthalten, de facto seien es also verkappte Anträge zur Bürgerversicherung. Daraufhin habe ich gesagt: In unserem
Antrag zur Praxisgebühr mit der Überschrift „Praxisgebühr abschaffen“ steht kein einziges Mal das Wort „Bürgerversicherung“. Kein einziges Mal! Insofern habe ich
versucht, dies richtigzustellen. Es ist nach wie vor so,
wie ich es gesagt habe, nicht anders.
({0})
- Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer sagen;
sie lautet: 17/9031.
Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf das Argument
von Herrn Lanfermann im Hinblick auf die Diskussion
im Ausschuss eingehen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung beantragt, über diesen Antrag zu diskutieren und ihn abzuschließen. Mit den Stimmen der Koalition ist verhindert worden, dass er abgeschlossen wird
und dass er heute Gegenstand im Plenum sein kann. Ich
wiederhole: mit den Stimmen der Koalition, auch und
gerade mit den Stimmen der FDP. Die FDP hat verhindert, dass er hier wieder zur Diskussion stehen kann. Ich
habe in der Ausschusssitzung am Mittwoch dazu einen
Wortbeitrag geleistet. Die Vertreter der Koalitionsparteien haben mit Hinweis auf die heutige Debatte auf Diskussionsbeiträge ihrerseits verzichtet. Also: Sie sollten
nicht so tun, als sei die Diskussionskultur im Ausschuss
besonders ausgeprägt, was das betrifft.
Vielen Dank.
({1})
Kollege Lanfermann, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist schon ein
rechtes Verwirrspiel, das der Kollege Weinberg hier aufzuziehen versucht.
({0})
Ich darf es für alle vielleicht kurz erklären.
({1})
Die Linken haben, um dieses Verwirrspiel zu inszenieren, zwei Anträge gestellt. Den einen haben sie vor einigen Wochen gestellt. Über ihn ist damals hier im Plenum
diskutiert worden. Er ist auch mit erstaunlicher Geschwindigkeit im Ausschuss aufgesetzt und diskutiert
worden. Dann haben sie aber schon mit den nächsten
Anträgen vor der Tür gestanden. Darüber diskutieren wir
heute. Die Linke hat das Thema „Praxisgebühr“ sozusagen zweimal vermarkten wollen. Heute geht es um den
Antrag, auf den sich Herr Weinberg gerade zu beziehen
versucht hat. Der andere Antrag steht heute nicht auf der
Tagesordnung. Heute steht der Antrag auf der Tagesordnung, aus dem ich zitiert habe. Darin wird auf die Bürgerversicherung verwiesen. Deswegen bleibt es nach
wie vor Ihre Aufgabe, Herr Weinberg, dies gegenüber
der Kollegin Aschenberg-Dugnus klarzustellen.
Zum Zweiten. Ich habe Ihnen auch im Ausschuss ausdrücklich gesagt: Wir können über alles reden. - Wir haben bewusst darauf verzichtet, den Antrag, der zum
zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf der Ausschusstagesordnung stand, von der Tagesordnung abzusetzen.
Ich habe auf die entsprechende Frage der Vorsitzenden
gesagt: Wir können heute beraten. Aber wir wollen nicht
abschließen. Denn zwei Tage später kommen aus dem
Plenum weitere Anträge in den Ausschuss. Alle Anträge
können dann gemeinsam beraten werden. - Also: Sie haben alle Zeit der Welt, diese Anträge im Ausschuss zu
beraten. Deswegen: Tun Sie nicht so, als sei hier irgendein Recht der Opposition unterdrückt worden. Mit unserem Abstimmungsverhalten wollten wir dafür sorgen,
dass Sie mehr Gelegenheiten zum Diskutieren haben.
Stellen Sie das hier bitte nicht anders dar.
({2})
Nun hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich frage mich: Was findet hier statt?
({0})
Die Faktenlage ist eindeutig und erdrückend, aber nichts
passiert. Die Praxisgebühr bringt Belastungen, sie hat
keinerlei Steuerungswirkungen, und sie verursacht Bürokratie. Also in Summe: Die Praxisgebühr ist unsinnig,
unsozial und ungesund.
({1})
Faktisch verstößt Deutschland mit der Praxisgebühr
gegen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.
In ihrem Bericht vom letzten Jahr bekräftigte die WHO
- ich darf zitieren -:
Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf
die Gesundheit. Menschen im Moment der Inanspruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor
ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Eine Ratsuchende oder einen Hilfesuchenden eine
Eintrittsgebühr zum Arzt zahlen zu lassen, macht Gesundheit zur Ware. Das widerspricht dem Willen der
Mehrheit der Bevölkerung, und deshalb ist die Zustimmung in der Bevölkerung dafür so groß, dass die Praxisgebühr und andere Zuzahlungen, durch die die Kranken
jährlich mit insgesamt 5 Milliarden Euro belastet werden, endlich weg müssen.
({2})
Der Zeitpunkt dafür, diese Praxisgebühr abzuschaffen,
war nie günstiger. Zu dem, was wir in den letzten Wochen hier in der Politik beobachtet haben, sagen mir aber
viele: Das ist doch ein Schmierentheater. So empfinden
wir das. - Alle Oppositionsfraktionen wollen die Praxisgebühr abschaffen, der Bundesgesundheitsminister und
die FDP-Fraktion - allen voran der Fraktionschef - sprechen davon, und auch seitens der Union gibt es solche
Meinungen. Der Patientenbeauftragte hat Ende März gesagt: Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen.
Daraufhin hat die Kanzlerin ein Machtwort verkünden lassen. Ich denke, damit hat sie die Katze aus dem
Sack gelassen. Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben völlig recht gehabt: Die Kanzlerin hat am 13. April 2012
verkünden lassen, es sei im Moment kein Thema, die
Praxisgebühr abzuschaffen, es käme darauf an, das Geld
der Beitragszahler zusammenzuhalten; denn künftig
müssten neue Zusatzbeiträge verhindert werden.
Ja, das offenbart, warum Versicherten und Kranken
das Geld vorenthalten wird: Die Kanzlerin möchte das
Wahljahr 2013 schonen und schützen und ein Polster
aufbauen, damit es nicht massenhaft zu Zusatzbeiträgen
kommt. Wir sagen dazu: Damit wird die Kopfpauschale
durch die Hintertür eingeführt. Diese soziale Grausamkeit soll vom Wahljahr ferngehalten werden. Ich nenne
das Angst vor dem Fluch der eigenen bösen Tat.
({3})
Aber das Machtwort ist verpufft. Wir diskutieren weiter. Natürlich erreichen wir das auch mit unseren Anträgen. Wir wollen, dass das Geld endlich zu denen fließt,
denen es gehört. Es ist von den Kranken genommen
worden, und dorthin muss es zurückfließen. Deshalb haben wir den Antrag heute auch ergänzt und sagen: Die
Zuzahlungen müssen weg.
Wenn heute abgestimmt werden würde, was Sie ja
verhindern - das ist hier ausreichend erläutert worden -,
dann könnte und müsste die Bundesregierung endlich
handeln. Wissen Sie, wie es mir vorkommt, dass das nun
verhindert wird, während die FDP trotzdem will - wir
haben das auf Ihrer Internetseite gelesen, und auch der
Minister wird morgen garantiert wieder davon reden -,
dass die Praxisgebühr abgeschafft wird? Das ist wie ein
kleiner Hund, der laut bellt, aber nur so lange, wie er an
der Leine des großen Herrchens ist.
({4})
Fakt ist, dass für die Abschaffung der Praxisgebühr
und der Zuzahlungen ein Zukunftskonzept für das Gesundheitssystem nötig ist. Das hat die Regierung nicht.
Das beweist ja die Angst der Kanzlerin vor den Zusatzbeiträgen. Bei der Opposition sieht das mit den Modellen für eine Bürgerversicherung anders und günstiger
aus. Aber Sie von CDU/CSU und FDP diffamieren all
diese Alternativen nur.
Unser Konzept, das konsequenteste von allen, tun Sie,
Herr Spahn - ich sehe ihn jetzt gar nicht mehr -, nur als
Schlagwort ab. Schauen Sie einmal auf die Internetseite
unserer Fraktion. Dann werden Sie sehen, dass dieses
Modell durchgerechnet ist. - Ich finde es toll, dass Herr
Spahn jetzt nicht da ist. Ich wollte ihm nämlich gerade
das Wesen der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung erläutern: Wir beteiligen alle Bürgerinnen und Bürger nach
ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesundheitssystems und nicht die Kranken nach ihren Möglichkeiten an den Behandlungskosten. Das unterscheidet uns
in Bezug auf unser Verständnis von Solidarität. Ich
denke, über diesen grundlegenden Unterschied sollten
wir einmal reden. Dann werden wir hier auch weiterkommen.
({5})
Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema Praxisgebühr zum wiederholten Male in diesem Hohen Haus!
Gott sei Dank, Frau Kollegin Bunge, sind wir hier nicht
im Zoo. Ihre Ausführungen sprechen für sich.
Die SPD begründet ihre heutige Forderung mit der
aus ihrer Sicht diffusen Steuerungswirkung der Praxisgebühr und mit der aktuell positiven finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Praxisgebühr fällt mir spontan etwas ein, was mit ihr
untrennbar verbunden ist: Einführung durch Rot-Grün,
durch die damalige Ministerin Ulla Schmidt, auch wenn
bei Ihnen, verehrte Damen und Herren von der SPD, die
Ministerin wohl nicht mehr so bekannt sein dürfte. Aber
nicht nur ich, sondern auch die Wählerinnen und Wähler
im Land, vor allem die in NRW und Schleswig-Holstein,
verbinden die Praxisgebühr mit Ihrer Partei, auch wenn
Sie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, Ihr Produkt jetzt nicht
mehr so attraktiv finden.
Sie wissen, dass wir zu Beginn dieser Legislaturperiode zunächst die Finanzlage der GKV stabilisieren
mussten. Bitte erinnern Sie sich an die düsteren Zukunftsszenarien für die gesetzliche Krankenversicherung
zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals wurden für
2011 Milliardendefizite vorausgesagt; damals kamen
von der Opposition Rufe nach Spargesetzen. Mit mehreren Gesetzen, dem GKV-Änderungsgesetz, dem GKVFinanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungsgesetz, haben wir ein Paket geschnürt, das alle Seiten an
den Lasten beteiligt: Leistungserbringer, Arbeitgeber,
gesetzliche Krankenkassen, die Mitglieder der Krankenkassen, pharmazeutische Industrie, Großhandel und
Apotheken.
Damit kann man den Unterschied zwischen der Gesundheitspolitik der SPD und der der christlich-liberalen
Koalition in Euro berechnen: Das sind 30 Milliarden
Euro. Denn anstelle des erwarteten Defizits von 10 Milliarden Euro schreibt der Gesundheitsfonds nun wieder
schwarze Zahlen. Bei Krankenkassen und Gesundheitsfonds können wir uns über ein Plus von circa 20 Milliarden Euro freuen. Damit können wir heute feststellen:
Diese Gesetze haben die erhoffte Wirkung gehabt.
Durch diese Gesetze konnten erhebliche Einsparpotenziale in der gesetzlichen Krankenversicherung realisiert
werden. Erstmals seit Jahren wird wieder mehr Geld für
die ambulante Versorgung als für Arzneimittel aufgewendet. Ohne diese erfolgreichen Gesetze würden wir
die heutige Debatte überhaupt nicht führen bzw. führen
können. Ihre heute formulierten Begehrlichkeiten würden völlig ins Leere laufen.
Natürlich weckt die aktuelle Situation Begehrlichkeiten bei allen, die damals einen Teil der Lasten zu übernehmen hatten, erstaunlicherweise wohl auch bei den
heutigen Antragstellern. So erleben wir, dass die Linke,
die SPD und die Grünen - ich räume ein, mit jeweils etwas anderer Argumentation - mit dem Füllhorn durchs
Land ziehen und die Praxisgebühr als Wahlkampfgeschenk abschaffen wollen.
({0})
Interessant ist, welche Patienten von der Abschaffung
der Praxisgebühr profitieren würden. Das sind jedenfalls
nicht die chronisch Kranken mit niedrigem Einkommen.
Beispielsweise hätte ein verheirateter, kinderloser, chronisch kranker Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen von circa 18 000 Euro eine Zuzahlungsgrenze
von etwa 133 Euro pro Jahr. Als chronisch Kranker
nimmt unser Patient regelmäßig Medikamente, zum Beispiel Cholesterinsenker, Betablocker oder Blutverdünner. Dafür muss er pro Verordnung im Quartal 10 Euro
zuzahlen. Das wären 160 Euro im Jahr. Seine Zuzahlungsgrenze liegt aber bei 133 Euro. Es kommt für ihn
also nicht mehr darauf an, ob er theoretisch beim Hausarzt pro Quartal 10 Euro Praxisgebühr oder beim Zahnarzt weitere 10 Euro zahlen müsste. Denn er zahlt sie
nicht, weil sie oberhalb seiner Zuzahlungsgrenze liegt.
Deshalb kann ihn die Abschaffung der Praxisgebühr
nicht entlasten.
Umgekehrt hätte ein verheirateter, kinderloser, gesunder Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen
von 39 000 Euro eine entsprechend hohe Zuzahlungsgrenze von etwa 636 Euro pro Jahr. Ihm würde die Abschaffung der Praxisgebühr unmittelbar zugutekommen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Herr
Dr. Lauterbach, so viel zu Ihren sozialen Ungerechtigkeiten.
Bei der Praxisgebühr geht es um eine Einnahme in
Höhe von circa 2 Milliarden Euro. Wie soll ihre Streichung - das ist schon mehrfach angesprochen worden langfristig gegenfinanziert werden? Wer aufgrund der
guten aktuellen Situation eine Einnahmequelle dauerhaft
abschafft, der muss sagen, woher das Geld im Zweifelsfall kommen soll,
({1})
insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen von
Konjunktur und Arbeitsmarkt einmal nicht mehr so
günstig sind wie heute.
Dazu schweigen sich die Antragsteller - das ist nachvollziehbar - aus.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, erklären Sie bitte klar und unmissverständlich den Wählerinnen und Wählern vor allem aktuell in NRW und Schleswig-Holstein diese Politik!
Sparen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, wie es
unser verehrter Herr Bundesfinanzminister vielleicht
ausdrücken würde. Aber die Beitragszahler haben ein
Anrecht darauf, dass die von ihnen eingezahlten Mittel
sparsam und effizient eingesetzt werden. Sie haben auch
Anspruch auf Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung,
({3})
die es erst ermöglicht, dass sie im Krankheitsfall Leistungen in Anspruch nehmen können und die Krankenkassen sie bezahlen, dass sie am medizinisch-technischen Fortschritt teilhaben und dass die Strukturen der
medizinischen Versorgung zum Beispiel angesichts der
demografischen Herausforderungen nachhaltig weiterentwickelt werden.
Gerade die von dieser Koalition durchgeführte Konsolidierung hat den Spielraum eröffnet, sich mit den
Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung zu befassen. So gehört das Versorgungsstrukturgesetz zu den
ganz wenigen Gesetzen der letzten zehn Jahre im Gesundheitsbereich, die nicht Kostendämpfung betreiben.
Vielmehr befasst es sich mit der über den Tag hinaus
nachhaltigen Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen in diesem Land.
({4})
In diese Richtung der Nachhaltigkeit sollten wir voranschreiten. Die vorliegenden Anträge leisten dazu leider keinen Beitrag.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar
Franke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, ich kann die heutige Debatte, jedenfalls bis jetzt, folgendermaßen zusammenfassen: Wir
sind uns mit Ausnahme der Union inhaltlich zumindest
in der Analyse einig. Bei der FDP scheitert es wahrscheinlich ein bisschen an der Umsetzung, Frau
Aschenberg-Dugnus.
({0})
Aber wir sind uns einig, dass die Praxisgebühr abzuschaffen ist,
({1})
weil sie als Steuerungsinstrument versagt hat, weil sie
sozial ungerechtfertigt ist und weil man damit nur Bürokratie geschaffen hat. Darin sind wir uns hoffentlich einig, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
Das wird von sehr vielen Menschen so gesehen, natürlich auch in Nordrhein-Westfalen. Denn die überwiegende Zahl der Menschen sagt: Die Praxisgebühr muss
abgeschafft werden. - Deshalb sind alle Anträge, die in
diese Richtung gehen, richtig und gut.
Herr Ernst hat gesagt, ob eine Steuerungswirkung eintritt, hätte man schon früher sehen können. Sie haben,
glaube ich, gesagt, wir hätten einen Feldversuch gemacht. Aber was wollten wir ursprünglich? Wir wollten
klarmachen, dass Arztbesuche Geld kosten und sozusagen einen geldwerten Vorteil haben. Wir wollten vor allen Dingen klarmachen, dass Facharztbesuche sehr teuer
sind, und zwar für die Solidargemeinschaft. Das war der
Ursprungsgedanke. Man wollte vor allen Dingen das
Doktorhopping vermeiden, Herr Ernst. Das sind, glaube
ich, ehrenwerte Motive. Frau Ferner hat mir eben bestätigt, dass die Praxisgebühr anfangs Erfolge gezeitigt hat.
Zu Beginn gab es weniger Arztbesuche. Aber in den
letzten Jahren ist die Zahl der Arztbesuche nicht mehr
zurückgegangen. Deswegen ist es richtig, glaube ich, die
Praxisgebühr nun abzuschaffen.
Kollege Franke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Vogler?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Kollege Franke, ich kann mich noch gut daran erinnern,
dass wir im März dieses Jahres, als wir unseren Antrag
auf Abschaffung der Praxisgebühr auf die Tagesordnung
dieses Hauses gesetzt hatten, von Ihnen zu hören bekamen, diese Forderung sei populistisch und sei nicht gegenfinanziert. Deswegen war auch Ihre Fraktion damals
dagegen, mittels Sofortabstimmung - diese haben Sie
nun für Ihren heutigen Antrag beantragt - über unseren
Antrag zu befinden. Wir hätten also schon im März dieses Jahres auf dem gleichen Erkenntnisstand wie heute
mittels Sofortabstimmung die Abschaffung der Praxisgebühr beschließen können. Da Sie noch im März dieses
Jahres unsere Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen,
für nicht gegenfinanziert hielten, finde ich es erstaunlich,
warum Sie heute einen Antrag vorlegen, durch den,
wenn ihm gefolgt wird, noch mehr finanzielle Belastungen auf die Krankenkassen zukommen. So wollen Sie
den Hausärzten mehr Geld geben, um die hausarztzentrierte Versorgung zu stärken. Mich interessiert, wie
Sie das mit der Gegenfinanzierung heute sehen und warum sich Ihre Auffassung gewandelt hat. Ich war relativ
überrascht, nun in Zeitungen und im Internet zu lesen,
dass SPD und Grüne die Abschaffung der Praxisgebühr
zum Wahlkampfthema in Nordrhein-Westfalen machen.
Die Abschaffung der Praxisgebühr sollte hier im Deutschen Bundestag Thema sein. Das gehört hierhin und
nicht in den Landtag von NRW.
({0})
Das sage ich, obwohl wir Linke jederzeit bereit sind, alles zu unternehmen, um diese unsinnige Gebühr abzuschaffen.
({1})
Liebe Frau Vogler, ich beantworte Ihre Frage sehr
gerne. Sie haben damals Ihren Antrag auf Abschaffung
der Praxisgebühr im Zusammenhang mit einem Antrag
auf Abschaffung aller Zuzahlungen gestellt. Das hätte
insgesamt 5 Milliarden Euro gekostet. Sie wollten diese
Summe durch eine - so haben Sie es formuliert - pauschalierte Umverteilung locker gegenfinanzieren. Das ist
aus meiner Sicht ein Kritikpunkt, dem man sich stellen
muss; denn die Frage nach der Gegenfinanzierung wird
sich spätestens 2013 stellen. Dann ist der Überschuss in
Höhe von 20 Milliarden Euro aufgebraucht. Insofern ist
die Gegenfinanzierung der entscheidende Punkt. Man
muss die Abschaffung der Praxisgebühr in ein seriös gegenfinanziertes Konzept einpassen. Vor diesem Hintergrund ist meine Kritik am damaligen Antrag der Linken
zu sehen.
({0})
- Ich komme gleich dazu.
Frau Präsidentin, ich fahre jetzt fort. - Ich möchte
noch auf Herrn Monstadt und Frau Aschenberg-Dugnus
eingehen, die gesagt haben, dass die Praxisgebühr unter
einer SPD-Ministerin eingeführt wurde. Jeder hier im
Saal, der länger dabei ist, weiß, dass die Praxisgebühr
ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der damaligen
Regierung und Horst Seehofer ist. Horst Seehofer hat
damals auf einer Pressekonferenz gesagt, dass das die
schönste Nacht seines Lebens war. Was wollte Horst
Seehofer in dieser schönsten Nacht? Er wollte, dass jeder Arztbesuch mit einer Gebühr belegt wird. Das ist die
Wahrheit; das muss man hier auch sagen. Die Praxisgebühr ist nichts anderes als ein Kompromiss, der damals
geboren wurde.
({1})
Festzuhalten bleibt, dass die Praxisgebühr nur noch
ein Finanzierungsinstrument und kein Steuerungsinstrument mehr ist. Dafür war sie nicht gedacht. Deshalb gehört sie abgeschafft.
Des Weiteren werden Kranke und Einkommensschwache durch die Praxisgebühr besonders belastet. Ihnen steht dadurch weniger Geld zur freien Verfügung.
Deswegen ist die Praxisgebühr unsozial. Sie ist auch unsozial - darin werden Sie mir zustimmen, Herr Ernst -,
weil sie nicht paritätisch finanziert ist.
({2})
- Dann können Sie auch einmal klatschen.
({3})
- Ich bedanke mich für den Applaus der Linken.
Ich komme ursprünglich aus dem Bereich der Prävention und der Unfallversicherung. Wenn Sie mit Zahnärzten sprechen, dann erfahren Sie, dass Kontrolluntersuchungen - Stichwort Prophylaxe - oftmals von
Einkommensschwächeren nicht wahrgenommen werden, weil für solche Leute die Praxisgebühr im wahrsten
Sinne eine Eintrittsgebühr bedeutet.
Einen weiteren Punkt darf man nicht vergessen. Die
Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungskosten geführt. Wenn man mit Ärzten spricht,
dann geißeln diese in schillernden Farben die Dokumentationspflichten und die Bürokratie. Aber auch der Normenkontrollrat hat festgestellt, dass wir 300 Millionen
Euro Bürokratiekosten durch die Praxisgebühr haben.
Wenn wir diese abschaffen können, dann ist das vernünftig; denn das ist letztendlich nicht nur gut für die Patien20922
ten, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte profitieren,
wenn sie dieses Geld einsparen.
Frau Vogler, ergänzend zu dem, was ich auf Ihre
Frage geantwortet habe: Die Praxisgebühr können wir
nur dann abschaffen, wenn wir 2 Milliarden Euro gegenfinanzieren und eine konzeptionelle Anpassung vornehmen. Nur dann erreichen wir, dass das System sich selbst
ausbalanciert, wenn die Überschüsse nicht mehr da sind
und die Konjunktur nicht mehr so gut läuft.
Ein Argument wird immer wieder von der Koalition
vorgebracht. Ich sehe gerade, dass auch Herr Brüderle,
der Fraktionsvorsitzende der FDP, da ist. Auf dem Parteitag haben Sie, Herr Brüderle, gesagt, dass Sie für die
gute Konjunktur verantwortlich sind. Wer hat aber die
gute Konjunktur wirklich geschaffen? Warum haben wir
Rücklagen in der Krankenversicherung, Herr Brüderle?
Warum haben wir so gute Arbeitsmarktzahlen? Warum
haben wir so gute Wirtschaftsdaten? All das ist das Ergebnis der Strukturreformen von Rot-Grün, das ist nicht
auf diese Regierung zurückzuführen.
({4})
Das muss man ganz klar sagen, um der Geschichtsklitterung, die gerne gemacht wird, entgegenzuwirken. Auch
Sie, Herr Brüderle, haben das rhetorisch geschickt - das
muss ich zugeben - auf dem Parteitag gemacht.
Was ist zu tun? In der Gesundheitspolitik dürfen nicht
allein die gesetzlich Versicherten, dürfen nicht allein die
Patienten die Zeche zahlen. Das ist der entscheidende
Punkt. Herr Stracke hat vorhin gesagt, wir hätten immer
das Überraschungsei Bürgerversicherung. Die Bürgerversicherung ist kein Überraschungsei. Das Konzept der
Bürgerversicherung besagt, dass wir eine nominelle Parität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen.
Das bedeutet die Bürgerversicherung, und das ist gerecht. Das sehen alle Menschen in unserem Land so.
({5})
Meine lieben Linken, wie wäre es mit Beifall? Der hat
sich wohl an der einen Stelle erschöpft.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen
aber auch, dass wir den Faktor Arbeit nicht so stark belasten dürfen. Das weiß die FDP anscheinend nicht;
denn sie hat die Beiträge erhöht, was zu den Rücklagen
in der Krankenversicherung geführt hat. Wir brauchen
- das sage ich abschließend der FDP - Beitragsautonomie. Dann balanciert sich das System selber aus. Wir
brauchen Effizienzsteigerungen, innovative und integrierte Versorgungssysteme und eine hausarztzentrierte
Versorgung. Dann können wir unser Gesundheitssystem
nachhaltig finanzieren.
Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik muss immer
der Patient, der Mensch stehen. Letztlich brauchen wir
eine solidarisch finanzierte Versorgung für die Menschen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir sind für die heutige Debatte sehr dankbar,
weil sie uns die Möglichkeit gibt, zwei Stunden über die
Erfolge dieser Koalition in der Gesundheitspolitik zu reden.
({0})
Die Gesundheitsausgaben in Deutschland hatten im
Jahr 2010 ein Rekordniveau erreicht. Sie betrugen nach
den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes insgesamt 287,3 Milliarden Euro. Der Anstieg der Ausgaben gegenüber dem Vorjahr betrug damit 8,9 Milliarden
Euro oder 3,2 Prozent. Damit entsprach der Zuwachs der
Gesundheitsausgaben in 2010 in etwa dem durchschnittlichen jährlichen Wachstum zwischen 2000 und 2009 in
Höhe von 3 Prozent.
Warum stelle ich das an den Beginn meiner Ausführungen? Weil wir nicht so tun dürfen, als ob wir mit dem
gegenwärtigen Finanzpolster in der gesetzlichen Krankenversicherung leichtfertig umgehen können, und weil
wir der Versuchung widerstehen sollten, kurzfristig Beifall einzuheimsen auf Kosten einer stabilen und über den
Tag hinaus soliden Finanzierung unseres Gesundheitssystems!
({1})
Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion die geforderte ersatzlose Abschaffung der Praxisgebühr ab.
Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass die
Praxisgebühr keine optimale Lösung ist. Ihre Steuerungswirkung ist beschränkt. Tatsache ist aber auch, dass
die Gebühr für die Arztbesuche den Krankenkassen derzeit rund 1,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt, die Praxisgebühr für Besuche beim Zahnarzt noch einmal rund
400 Millionen Euro.
Zuzahlungen sind in unserem Gesundheitswesen keineswegs unüblich. Ich erwähne die Zuzahlungen im
Krankenhaus, die jährlich etwa 700 Millionen Euro erbringen, und die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, die sich
2010 auf knapp 1,7 Milliarden Euro beliefen.
({2})
Insofern fällt es nicht aus dem Rahmen, dass seit dem
Jahr 2004 gesetzlich Versicherte beim ersten Arztbesuch
im Quartal 10 Euro bezahlen müssen. Beschlossen
wurde das - das ist schon mehrfach erwähnt worden - in
Zeiten der rot-grünen Regierung. Ich betone das deshalb,
weil Sie auch in anderen Fragen von Ihrem eigenen ReErwin Rüddel
gierungshandeln nichts mehr wissen wollen, seit Sie in
der Opposition sind.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir
die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches
Erhebungsverfahren überführen wollen. Dass die Praxisgebühr angesichts der unbefriedigenden Steuerungsfunktion überprüft werden sollte, liegt auf der Hand. Allerdings bleibt die Frage, wie diese Einnahmequelle im
Gesundheitssystem - wir sprechen von 2 Milliarden
Euro - ersetzt werden kann.
„Wenn man die Praxisgebühr abschaffen will, muss
man über eine alternative Einnahmequelle reden“, hat
Frau Pfeiffer vom Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenkassen festgestellt.
({3})
Dem stimmen wir zu. Ich bin der Meinung, dass wir die
Gebühr nur abschaffen können, wenn wir gleichzeitig
die Einnahmen sichern, eine bessere Steuerungswirkung
erreichen und Bürokratie abbauen können, ohne chronisch kranke Menschen zu überfordern.
Aus diesem Grund wehren wir uns dagegen, wegen
eines vielleicht populären, aber nur einmaligen Effekts
die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung in Not zu bringen. Denn wer sagt uns, dass
die gegenwärtig sehr positive wirtschaftliche Entwicklung über Jahre hinweg unverändert anhalten wird? Deshalb wollen wir die beim Gesundheitsfonds liegenden
Rücklagen auch als Vorsorge für wirtschaftlich schlechte
Zeiten betrachten.
({4})
Ich wundere mich sowieso über Ihre Spendierfreudigkeit. Wir erinnern uns noch gut daran, wie Sie in Ihrer
Regierungszeit fortwährend nach zusätzlichen Einnahmequellen im Gesundheitswesen gesucht haben. Wir haben auch nicht vergessen, dass wir nach Bildung der
christlich-liberalen Koalition vor der Situation standen,
ein drohendes Defizit der GKV in zweistelliger Milliardenhöhe abwenden zu müssen. Verglichen mit Ihrer Regierungszeit haben wir es jetzt fast mit einem Luxusproblem zu tun, dies aber nur deshalb, weil wir erstmals seit
vielen Jahren für eine mittelfristig stabile und verlässliche Finanzierung unseres Gesundheitssystems gesorgt
haben.
({5})
Meine Damen und Herren, den einzelnen Kassen
steht es doch frei, zumindest Teile ihrer Rücklagen in
Form von Prämien oder Erstattungen an ihre Versicherten zurückzugeben. Das wäre im Übrigen durchaus systemkonform; denn wo es Zuzahlungen gibt, da sollte es
auch Prämien und Erstattungen geben. Und wir sprechen
nicht ohne Grund davon, dass wir im Gesundheitswesen
mehr Wettbewerb wollen. Was hindert die Kassen also
daran, in diesem Sinne tätig zu werden?
Die CDU/CSU-Fraktion ist stolz darauf, dass unser
Gesundheitssystem endlich einmal solide durchfinanziert ist. Das war - ich habe eben darauf hingewiesen in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Die
gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung
ist deshalb ein wichtiger Erfolg dieser Koalition.
({6})
Sie ist das Ergebnis der überaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und unserer klugen
Gesundheitspolitik der vergangenen zwei Jahre. Das
sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr gut, dass
Sie so zahlreich zu dieser Debatte und auch zur nachfolgenden Abstimmung erschienen sind. Ich bitte aber die
Kolleginnen und Kollegen sowohl auf der Regierungsbank als auch auf der von mir aus rechten Seite des Hauses, dafür zu sorgen, dass wir der Kollegin Karin Maag
aus der Unionsfraktion jetzt auch folgen können. - Sie
haben das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ein guter Schluss sichert alles. Deswegen zitiere ich einfach einmal das Bundessozialgericht:
Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und taugliches
Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz
der Leistungen der GVK, aber auch ihrer Qualität
und Finanzierbarkeit.
Das ist zwar nicht mein Satz; ich habe ihm aber nur wenig hinzuzufügen.
({0})
Ich will gerne darüber reden, wie wir - das ist das Angebot an die FDP - die Praxisgebühr vereinfachen können.
Dem Antrag der Linken, der SPD und der Grünen, sie
abzuschaffen, werden wir natürlich auch im dritten Anlauf - und in allen weiteren Anläufen, merke ich vorsorglich einmal an - nicht zustimmen.
Wir haben in dieser Koalition mit nachhaltigen Reformen - viele Redner haben es erwähnt - dafür Sorge getragen, dass unser Gesundheitssystem auch in Zukunft
trägt, dass es bei einer guten medizinischen Versorgung
bleibt und dass alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können.
({1})
Wir haben mit unseren nachhaltigen Gesetzen vor allem dazu beigetragen, dass ein prognostiziertes Defizit
von 9 Milliarden Euro - so haben wir das Ganze übernommen - nicht nur vermieden werden konnte, sondern
dass heute die meisten Kassen - aber nicht alle Kassen;
das ist mir wichtig - Rücklagen bilden konnten.
Aber - jetzt bin ich bei den sehr einfachen Finanzierungsvorschlägen, insbesondere von den Linken - bei
den Kassen werden keine Vermögen angehäuft, die jetzt
als Spielmasse in einem Wahlkampf verschleudert werden können.
({2})
Auch wenn wir im Boomjahr 2011 einen Überschuss
für alle Kassen - jetzt bin ich wieder bei allen Kassen von rund 4 Milliarden Euro hatten, muss man doch differenziert jede einzelne Kasse betrachten. Schließlich gibt
es viele Kassen, die bisher noch nicht über ausreichend
Betriebsmittel und Rücklagen verfügten und die ihre Finanzsituation jetzt endlich erstmals verbessert haben.
({3})
Diese Kassen würden Sie doch wieder in die Übernahmesituation treiben. Das wollen wir nicht.
({4})
Zumindest meine Fraktion erwartet von den Kassen
ein nachhaltiges Wirtschaften. Wie soll das denn funktionieren, wenn wir diese Einnahmen der Kassen jetzt
wieder der Beliebigkeit aussetzen? Mit uns wird so etwas nicht funktionieren.
({5})
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, sieben Kassen
haben es derzeit richtig gemacht - sieben Kassen, denen
es gut geht. Sie geben nämlich ihren Versicherten einen
Teil der Beitragsleistung in Form von Prämien zurück.
Das ist aus meiner Sicht der einzig richtige Weg. Andere
Kassen - auch das ist für mich beispielgebend - gehen in
die Leistungsverbesserung. So etwas dürfen wir doch
nicht verhindern.
Im Gesundheitsfonds hat sich 2011 ein Überschuss
von 5 Milliarden Euro angesammelt. Das sind 2 bis
3 Prozent der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Kassen.
({6})
Können Sie sich vorstellen, wie schnell ein solches Polster in Zeiten der zurückgehenden Konjunktur vervespert
ist?
Es gibt den schönen Satz: Spare in der Zeit, dann hast
du in der Not. - Daran richten wir unsere Politik aus. Für
das Jahr 2012 - das will ich auch einmal deutlich sagen liegen noch keine Abrechnungs- und Finanzdaten vor,
und Sie geben die Milliarden bereits aus. Ich habe mich
gestern beim Schätzerkreis informiert: Für das Jahr 2012
reden wir von einem Überschuss - Gott sei Dank - von
350 Millionen Euro.
Frau Klein-Schmeink, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nur am Rande: Wir haben mit den
guten Daten der Kassen eindeutig bewiesen, dass es zu
einer Konsolidierung der Finanzen sicher keiner Bürgerversicherung bedarf.
({7})
Wir haben bewiesen, dass mit der Hebung von Effizienzreserven und einer mittelguten Wirtschaftslage, für die
diese Regierung auch steht, in den bestehenden Verhältnissen noch ganz gute Ergebnisse erzielt werden können.
({8})
Wenn Sie mittelfristig Ihre Bürgerversicherung als Finanzierungsinstrument anbieten: Wie finanzieren Sie die
kurzfristige Abschaffung der Praxisgebühr? Das alles
passt nicht zusammen.
({9})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sagen,
wir haben genügend Geld im System. Die Grünen und
die SPD behaupten, in den kommenden Jahren sei mit
einem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung der
Versicherten zu rechnen. Hier setzen Sie uns ein großes
Fragezeichen vor die Nase. Was gilt denn nun? Auf der
einen Seite fallen Weihnachten und Ostern offensichtlich
zusammen, und auf der anderen Seite wird bei derselben
Debatte von der übrigen Opposition eine Notlage herbeigeredet. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie den
Menschen erklären wollen.
({10})
Der GKV-Spitzenverband hat jedenfalls in der Anhörung ausgeführt, ohne die Zuzahlungen fehlten den gesetzlichen Kassen rund 5 Milliarden Euro. Von diesen
5 Milliarden Euro entfallen 2 Milliarden Euro auf die
Praxisgebühr. Wenn wir in Beitragssatzpunkten rechnen:
Die Summe von 5 Milliarden Euro entspricht konstant
0,5 Beitragssatzpunkten. Wenn es dann tatsächlich nicht
mehr reicht, was ich eingangs dargestellt habe, dann
frage ich Sie: Wollen Sie dann die Beiträge entsprechend
erhöhen? Oder woher nehmen Sie sonst das Geld?
Uns wurde gestern in der Pflegedebatte vorgeworfen,
wir hätten angeblich nur - die Betonung liegt auf: nur 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und keine
6 Milliarden Euro, die angeblich notwendig wären.
Auch das würden wir nur mit einer Erhöhung der Beiträge schaffen.
({11})
So viel Ehrlichkeit muss sein. Es ist Ihre und nicht unsere Politik. Wir versuchen eine nachhaltige Gestaltung.
({12})
Das werden uns die Wählerinnen und Wähler danken.
Jetzt möchte ich noch zwei Punkte zur angeblich fehlenden Steuerungswirkung nennen: Die Begründung im
Jahr 2003 für die Praxisgebühr war vor allem, dass ein
Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen geleistet werden sollte. In einem zweiten Schritt sollten die Zahlen
der ärztlichen Konsultationen reduziert werden. Heute
schämen Sie sich offenbar dafür, dass die Versicherten
zu zusätzlichen Leistungen herangezogen wurden. Das
werfe ich Ihnen gar nicht vor. Damals waren Sie in der
Regierung. Damals ging es darum, sich um die Bezahlbarkeit zu kümmern. Es ist Regierungsverantwortung,
dass Sie Antworten auf solche Fragen geben.
({13})
Natürlich hat sich die direkte Steuerungswirkung abgeflacht. Die Versicherten haben sich tatsächlich daran gewöhnt. Dass Zuzahlungen aber generell steuern können,
sieht man auf dem Arzneimittelmarkt, wo beispielsweise
die Generika von der Zuzahlung befreit und deswegen
auch stark nachgefragt sind.
Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Es
geht um die Bindung an den behandelnden Arzt durch
die Praxisgebühr. Sie haben die Hausarztverträge erwähnt. Ich teile Ihre Ansicht nicht. Die Hausarztverträge
werden mit der Praxisgebühr unterstützt. Sie setzen dies
leichtfertig aufs Spiel und damit die Option, weitere
Wirtschaftlichkeit ins System zu bringen. Die Hausarztverträge funktionieren nur dort, wo Versicherungen Anreize bieten. Dazu gehört die Befreiung von der Praxisgebühr.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit und kommen zum Schluss.
Ich achte auf die Zeit und komme zum Schluss. - Es
gilt das Erstgesagte: Wir werden auch künftigen Anträgen nicht zustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch am
Ende der Debatte.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Anträgen auf Drucksachen 17/9189,
17/9067 und 17/9408. Die Fraktionen der SPD, die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils
Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen jeweils Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und
mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und
an den Haushaltsausschuss.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen, und wir stimmen
heute noch nicht in der Sache ab.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
- Drucksache 17/9145 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({0})
- Drucksache 17/9435 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({1})
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz ({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es enttäuscht mich
jetzt ein wenig, dass sich die Reihen aus für mich nicht
gerade erklärbarer Ursache so sehr lichten. Vor allen
Dingen bitte ich Sie aber, wenn Sie jetzt anderen Verpflichtungen nachgehen müssen, dafür zu sorgen, dass
wir hier ordnungsgemäß weitertagen können. Ich bitte
Sie also, die notwendigen Gespräche vor der Tür des
Plenarsaals zu führen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme
an, dass die Geräusche hier neben mir rechts keinen Widerspruch bedeuten.
({3})
- Zustimmung. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Barthle für die Unionsfraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz passen wir die Regelungen zur Beteiligung des Deutschen Bundestages
am temporären Rettungsschirm EFSF an die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts an.
Die Tatsache, dass wir einen fraktionsübergreifenden
Kompromiss gefunden haben, zeigt, dass wir als Parlament die Ausgestaltung unserer Rechte verantwortungsbewusst und gemeinsam in die Hand nehmen. Wir bringen damit auch unseren Respekt vor dem obersten
Gericht zum Ausdruck. Ich möchte daher allen Beteiligten ganz herzlich dafür danken, dass wir das Gesetz
heute so beschließen können.
({0})
Auch mit Blick auf unsere europäischen Partner sowie zur Minimierung von Unsicherheiten an den Finanzmärkten ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir
hinsichtlich möglicher Anwendungen des Rettungsschirms für entsprechende Rechtssicherheit sorgen. Wir
geben mit diesem Gesetz nahezu alle Entscheidungsbefugnisse über die Vereinbarung neuer Hilfsprogramme
an das Plenum des Deutschen Bundestages. Damit gewährleisten wir ein Maximum an parlamentarischer Mitbestimmung.
Es bleibt nur eine Ausnahme: Mögliche Anträge zu
Sekundärmarktaktivitäten, die einer besonders vertraulichen Behandlung bedürfen, werden zukünftig im sogenannten Neunergremium behandelt. Das Neunergremium wird dann sowohl die Mehrheitsverhältnisse im
Deutschen Bundestag widerspiegeln als auch dem
Grundsatz der Spiegelbildlichkeit entsprechen. Es wird
zudem in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Bundestages gewählt und damit zusätzlich legitimiert. Außerdem erhöht die Wahl von Stellvertretern die Legitimation und Beschlussfähigkeit. Ich bin davon überzeugt,
dass wir damit eine vernünftige sowie verfassungsrechtlich sichere Regelung gefunden haben.
Diese Regelung ist sachlich von großer Bedeutung,
um das Instrument der Sekundärmarktankäufe nicht im
Vorhinein zu lähmen. Das betone ich besonders, da die
einstweilige Verfügung, die erwirkt wurde, mögliche Beschlüsse durch das Neunergremium noch komplett untersagt hatte. Das Gericht hat dann aber klargestellt, dass
der Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestages
prinzipiell rechtfertigen kann, dass der Bundestag zumindest in Fällen besonderer Vertraulichkeit die Rechte
des Plenums an ein kleineres Gremium delegieren kann.
Ich will an dieser Stelle mögliche Kritikpunkte vonseiten der SPD-Kollegen vortragen, insoweit als man sie
in den Protokollen der Sitzungen des Haushaltsausschusses nachlesen kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch
der von der SPD vorgelegte Vorschlag zur Änderung des
StabMechG verfassungsrechtlich problematisch war,
dass sie das Neunergremium allein aus Gründen besonderer Eilbedürftigkeit etablieren wollte. Genau diesen
Grund hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert. Für
eilbedürftige und vertrauliche Fälle wollte die SPD den
Haushaltsausschuss entscheiden lassen. Wie gesagt, die
Eilbedürftigkeit in diesen Fällen, so das Bundesverfassungsgericht, wird auch vom gesamten Plenum zu gewährleisten sein.
Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Änderungsgesetzes legen wir etwas vor, was den Vorgaben des Verfassungsgerichts vollumfänglich entspricht. Deshalb
sollten wir dieses gemeinsam erzielte Ergebnis, diesen
Kompromiss, nicht zerreden, was dadurch geschieht,
dass sich einzelne Fraktionen als klüger darstellen als
andere. Wir sollten gemeinsam auf dieses Ergebnis stolz
sein. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst unserem
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert danken, der
sich mit seiner Expertise eingebracht hat. Außerdem will
ich unserem Parlamentarischen Geschäftsführer Peter
Altmaier danken, der den Diskussionsprozess moderiert
hat.
In der Diskussion über die Ausgestaltung unserer Parlamentsbeteiligung sind wir einen guten Schritt vorangekommen. Wie so oft liegt das beste Ergebnis tendenziell
in der goldenen Mitte. Wir dürfen die fundamentalen,
durch die Verfassung geschützten Rechte einzelner Abgeordneter durch eine eilige Kriseninterventionspolitik
nicht aufs Spiel setzen. Genauso wenig dürfen wir unseren Wunsch nach Mitsprache übertreiben; wir dürfen
nicht bei allem und jedem mitbestimmen wollen. Wir
müssen immer auch die Grenzen zwischen exekutiven
und parlamentarischen Zuständigkeiten klar ziehen.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Parlamentsbeteiligung überziehen, blockieren wir nämlich letztlich
die Funktionsfähigkeit des Rettungsschirms und behindern seinen Zweck. Dann dürfen wir uns nicht wundern,
wenn die eigentlichen Aufgaben des Rettungsschirms
zum Beispiel von der EZB übernommen werden.
({1})
Diese Lehre sollten wir auch für die Regelung der
jetzt anstehenden Parlamentsbeteiligung beim Europäischen Stabilitätsmechanismus im Hinterkopf behalten.
In Bezug auf die Frage der Eilbedürftigkeit haben wir
uns im Hinblick auf das StabMechG darauf geeinigt,
keine gesonderte Regelung vorzunehmen. Ich kann diesen Kompromiss gut mittragen. Wir müssen uns aber
auch bewusst sein, dass wir, und zwar das gesamte Haus,
dann gegebenenfalls extrem schnell zusammenkommen
müssen. Die Praxistauglichkeit dieser Regelung wird
sich zeigen, sollte sie tatsächlich zur Anwendung kommen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir
mit diesem Gesetz die Möglichkeit schaffen, im Haushaltsausschuss eine Anhörung zu Anträgen und Vorlagen
der Bundesregierung in Bezug auf den Rettungsschirm
durchzuführen. Das gab es zu Zeiten der alten Gesetzesregelung in dieser Form nicht. Diese Neuregelung umfasst den Inhalt des Änderungsantrags, den wir gemeinsam erarbeitet haben. Wir, das Parlament, der Deutsche
Bundestag, haben die Aufgabe, das Ganze zu regeln,
selbst in die Hand genommen. Das war richtig so und ist
gut so.
Ich freue mich, dass mit dieser Änderung die Rechte
der Mitglieder des Deutschen Bundestages insgesamt
gestärkt werden und dass damit die Vorgaben des Verfassungsgerichts vollumfänglich erfüllt sind. Ich bitte Sie,
alle Fraktionen dieses Hauses, um Zustimmung zu diesem Gesetz. Damit würden wir das Vorhandensein eines
rechtsfreien Raums beenden und demonstrieren, dass
wir handlungsfähig sind.
Danke sehr.
({2})
Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages werden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung
im Plenum wahrgenommen. … Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffentlichkeit aus dem … Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie …
So das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
28. Februar 2012 zur Klagesache unserer Kollegen
Dr. Peter Danckert und Swen Schulz.
Meine Damen und Herren, wir beschließen heute ein
Gesetz zur Parlamentsbeteiligung beim Euro-Rettungsschirm, das diesen Anforderungen endlich, und zwar im
vollen Umfang, gerecht wird, und das ist gut so.
({0})
Damit findet auch ein Emanzipationsprozess des Parlaments, der sich über fast zwei Jahre hingezogen hat, sein
gutes Ende. Ich will noch einmal daran erinnern.
Als die Bundesregierung den befristeten Euro-Rettungsschirm, EFSF, auf den Weg gebracht hat, ging sie
davon aus, dass der Deutsche Bundestag dabei genauso
wenige Mitwirkungsrechte bekommen muss wie bei allen klassischen Euro-Angelegenheiten. Da wird über Finanzgipfel auf Europaebene in der Regel nur informiert,
und das war es dann auch. Natürlich war klar, dass der
Gewährleistungsrahmen der EFSF insgesamt per Gesetz
genehmigt werden musste. Aber für das laufende Rettungsgeschehen sah das Beteiligungsgesetz vom Mai
2010 deshalb nur vor - ich darf zitieren -:
Vor Übernahme von Gewährleistungen … bemüht
sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem
Haushaltsausschuss … herzustellen.
Zu mehr waren die Bundesregierung und die sie tragende Koalition damals nicht bereit.
Das änderte sich erst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EFSF und zur Griechenland-Hilfe.
Nun war klar, dass wir auch beim laufenden Rettungsgeschehen im Kernbereich des parlamentarischen Budgetrechts sind und die Handlungen der Bundesregierung
auch auf der übernationalen Ebene des Euro-Rettungsschirms der Zustimmung des Deutschen Bundestages
bedürfen. Dass wir dieses Urteil nicht bereits im September 2011 mit einem adäquaten, verfassungsfesten
Beteiligungsgesetz umgesetzt haben, meine Damen und
Herren, ist kein Ruhmesblatt der deutschen Parlamentsgeschichte. Allerdings haben die Fraktionen daran
durchaus unterschiedlichen Anteil. Das will ich ansprechen.
Die Sozialdemokraten müssen sich vorhalten lassen,
dass sie im Herbst letzten Jahres bei der Schlussabstimmung im Plenum unter dem Druck des Faktischen und
aufgrund eines Loyalitätsgefühls gegenüber einer letztendlich an dieser Stelle falschen Staatspraxis der Forderung der Koalition nachgegeben haben und zunächst ein
verfassungswidriges Beteiligungsgesetz mit beschlossen haben. Allerdings hatte die SPD zuvor im Haushaltsausschuss Änderungsanträge eingebracht, die genau die
schwierigen Stellen markierten,
({1})
und die mögliche Verfassungswidrigkeit im Ausschuss
thematisiert, und zwar in Bezug auf die Stellen, die später bei dem Urteil eine zentrale Rolle spielten. Das gilt
für die exzessive Verweisung von Beratungsgegenständen an das damalige Neunergremium: Wir wollten schon
damals, dass hier nur Sekundärmarktkäufe erfasst werden und nicht mehr.
({2})
Das gilt auch für die von der Koalition gewollte Regelvermutung der besonderen Eilbedürftigkeit: Man wollte
viele Beratungsgegenstände unter diesem Rubrum erfassen, was das Verfassungsgericht später bekanntermaßen
kassierte.
So wie ich die Verantwortung der SPD thematisiere,
will ich auch ausdrücklich sagen: Es liegt in der Verantwortung der anderen Fraktionen - die Linke, die hier anders votiert hat, ausgenommen -, dass diese Vorschläge
damals im Haushaltsausschuss abgelehnt worden sind
und wir erst durch eine neue Verfassungsklage hier zu einem Umdenkungsprozess gekommen sind.
({3})
An dieser Stelle, meine Damen und Herren, will ich
den Kollegen Peter Danckert und Swen Schulz meinen
ausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen, die mit
ihrer Verfassungsklage letztendlich den Weg zu unserer
heutigen Gesetzesänderung eröffnet haben. Das ist kein
leichter Gang und alles andere als eine Selbstverständlichkeit, wenn zwei Kollegen sich aufmachen und vor
dem Bundesverfassungsgericht quasi ihr eigenes Parlament verklagen. Das ist für beide Kollegen nicht leicht
gewesen. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in
dem das rechtlich möglich ist. Ich finde, beide Kollegen
haben Respekt für diesen Vorgang verdient.
({4})
Herr Kollege Schwanitz, darf der Kollege Willsch Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Nein, ich möchte bitte weiter vortragen.
Was wir heute am Gesetz ändern, sorgt für eine Parlamentsbeteiligung, die der Stellung des Budgetrechts als
Königsrecht des Parlaments wirklich gerecht wird. Die
SPD findet ihre Vorschläge, die sie hier mit eingebracht
hat, nahezu vollständig wieder.
Alle Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen und ihre
Änderungen werden künftig im Plenum des Deutschen
Bundestages, das heißt von allen Abgeordneten und im
Lichte der Öffentlichkeit, entschieden. Das gilt für Darlehen, für Ankäufe am Primärmarkt und für vorsorgliche
Maßnahmen ebenso wie für Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten; es gilt aber auch für Leitlinien
und für sogenannte Hebel, über die viel diskutiert worden ist, und schlussendlich auch dann, wenn sich die Bedingungen für finanzielle Instrumente geändert haben.
Im Haushaltsausschuss werden künftig auch bei Regierungsvorlagen Minderheitenrechte für Anhörungen
bestehen. Damit wird der unwürdige Zustand beendet,
dass die Opposition bei der Befassung und bei der Organisation fachlicher Expertise im Ausschuss von der
Gnade der Mehrheit abhängig ist und dass die Koalition
eine solche Anhörung mit ihrer Mehrheit schlicht und
einfach verhindern kann. Damit haben wir in den zurückliegenden Monaten hinreichend Erfahrung sammeln
müssen.
Das Sondergremium wird sich künftig ausschließlich
mit Sekundärmarktkäufen befassen. Die exzessive Zuordnung von Vorlagen und das überdimensionierte Agieren hinter verschlossenen Türen werden aus dem Gesetz
gestrichen. Das Sondergremium wird durch Stellvertreter vergrößert und durch geheime Wahlen im Plenum des
Deutschen Bundestages mit der Mehrheit der Mitglieder
dieses Hauses ordentlich demokratisch legitimiert.
({0})
Auch die Auszahlung der Hilfstranchen, also dort, wo
quasi richtiges Geld fließt, wird künftig nur nach vorheriger Beteiligung des Haushaltsausschusses erfolgen.
Seine Stellungnahmen müssen von der Bundesregierung
berücksichtigt werden. Das ist richtig so; denn auch mit
der Auszahlung von Teilbeträgen können politische Fragen von erheblicher Bedeutung verbunden sein. Deshalb
ist es richtig, dass wir von einer bloßen Kenntnisnahme
zu einem echten Beteiligungsrecht des Haushaltsausschusses kommen.
({1})
Mit den Änderungen im vorgelegten Gesetzentwurf in
Bezug auf den befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF
wird es eine Weiterentwicklung von einer partiellen zu
einer umfassenden Parlamentsbeteiligung und -entscheidung geben. Künftig gilt auch hier das Plenarprinzip:
Alle wichtigen Entscheidungen können in Zukunft im
Plenum von allen Abgeordneten im Lichte der Öffentlichkeit entschieden werden.
({2})
Das Budgetrecht des Parlaments wird damit faktisch auf
das Agieren der Bundesregierung in Bezug auf den EuroRettungsschirm erstreckt - ein Standard, der sicherlich
auch beim dauerhaften Rettungsschirm ESM nicht mehr
infrage gestellt werden wird.
Meine Damen und Herren, die heutige Entscheidung
markiert ein gutes Stück Parlamentsgeschichte in
Deutschland. Die Entscheidung ist wichtig für die Akzeptanz und Legitimation des Rettungsgeschehens und
auch für die Akzeptanz und das Funktionieren unserer
Demokratie in Deutschland. Deswegen bitte ich um eine
breite Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Willsch
das Wort.
Herr Kollege Schwanitz, ich hätte Ihnen gerne eine
Zwischenfrage gestellt, aber nun muss ich mein Anliegen in einer Kurzintervention darstellen.
Man wird mir ohne Weiteres abnehmen, dass es in
meinem Interesse liegt, dass eine Verhandlung dieser
Angelegenheiten im Parlament und damit in der Öffentlichkeit erfolgt. Die Union wirkt ja bei der Gesetzesänderung mit. Wenn es aber Ausweis der Bedeutung ist,
die die Mitglieder des federführenden Ausschusses,
nämlich des Haushaltsausschusses, dieser öffentlichen
Debatte beimessen, dass heute von zehn Mitgliedern der
SPD dieses Ausschusses gerade zwei anwesend sind,
dann will ich meine Sorge zum Ausdruck bringen, was
das für die Zukunft der Parlamentsbeteiligung in diesen
Fragen bedeutet.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Man sollte in den Vordergrund stellen, dass
für das Gesetz drei Dinge maßgeblich waren: erstens die
Vorgaben des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins umzusetzen; ich glaube, wir haben sie
sogar übererfüllt; zweitens - das ist das Schwierigere die Handlungsfähigkeit der EFSF zu erhalten; und drittens die von uns gerade dargestellte interfraktionelle
Übereinkunft zu erreichen.
Im Einzelnen und zum Verständnis: Worum geht es
heute eigentlich? Geht es heute um die Frage der EuroRettung als solche? Nein, es geht um eine Grundfrage
von Demokratie, um die Grundfrage, wie wir in Staaten
miteinander umgehen. Wenn man so will, geht es um
Locke und Montesquieu, um Gewaltenteilung.
Faktisch ist es hier doch so: Wir haben eine Regierung, die auf europäischer Ebene handeln will und muss,
und wir haben ein Parlament, das die Haushaltsverantwortung hat. Übersetzt heißt das: Das Parlament hat die
Verantwortung, zu bestimmen, wann und unter welchen
Bedingungen die andere Gewalt, die Regierung, konkret
über wie viel Geld entscheiden kann und wie weit wir
dabei ins Detail gehen.
Die dritte Gewalt, die Rechtsprechung, versucht auch
wieder, die unterschiedlichen Gewaltenstränge einigermaßen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir vor
fünf Jahren - das müssen wir erkennen - gesagt hätten,
dass wir in diesem Bundestag wiederholt darüber entscheiden müssen, was der richtige Weg ist, dann hätten
wir Stimmen gehört - diese gibt es weiterhin -, die gesagt hätten: Eigentlich sollte das Parlament überhaupt
nicht darüber entscheiden; das ist eine reine Exekutiventscheidung. - Ich glaube, dass die Lösung, die wir jetzt
gefunden haben, vertretbar ist. Ob sie die richtige ist,
wird die Zeit erweisen. Ich halte sie jedenfalls für eine
gute.
Ich sage das unumwunden: Wir alle - alle Parteien,
die Regierung und übrigens auch das Verfassungsgericht haben jeweils Veränderungen unserer Positionen vorgenommen. Die Regierung hat erkennen müssen, dass es
ein selbstbewusstes Parlament gibt. Sie hat erkennen
müssen, dass das nicht nur im Haushaltsausschuss so ist,
sondern dass das gesamte Parlament - wie auch die gesamte Bevölkerung - Interesse an diesem wichtigen
Thema hat. Das ist nicht nur deshalb so, weil es um so
viel Geld geht, sondern auch, weil es darum geht, wie
Europa eigentlich aussehen soll.
Das Verfassungsgericht hat in seiner ersten Entscheidung gesagt - das war für uns maßgeblich -: Wir haben
eine Vorstellung davon, wie ihr das machen könnt. Es
hat dann aber einen weiteren Satz gesagt, der für uns
alle, damals übrigens auch für die SPD und die Grünen,
durchaus sehr prägend war. Die ursprüngliche Entscheidung des Verfassungsgerichts - daran möchte ich immer
wieder erinnern - war nämlich: In Eilfällen kann die Regierung, die exekutive Gewalt, das allein machen.
Ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem neuen Urteil mit diesem Satz
auseinandergesetzt hätte. Dass es jetzt anders entschieden
hat, haben wir auch den beiden Abgeordneten zu verdanken, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. So
gehört sich das auch. Ich bin nicht immer derselben Meinung wie der Kollege Danckert gewesen. Auch der Kollege Danckert - er kann heute wahrscheinlich leider nicht
kommen; das ist aber okay - muss anerkennen, dass seine
Vorstellung - er meinte, der Haushaltsausschuss müsse
die wesentlichen Dingen entscheiden - nicht umgesetzt
wurde. Vielmehr machen wir das jetzt im Plenum.
Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Haushaltsausschuss sind, will ich eines deutlich sagen: Jeder
Abgeordnete muss sich darüber klar sein, dass, wenn es
für Europa notwendig ist - mit Blick auf die Stabilisierung des Kontinents, aber auch auf die Stabilisierung unseres Staates, unserer Sozialsysteme, unserer Altersvorsorge; denn wir brauchen Europa -, die gefundene
Lösung notfalls bedeutet, dass am Pfingstsonntag eben
nicht nur der Heilige Geist über ihn kommt, sondern
auch eine notwendige Abstimmung. Für meine Fraktion
sage ich: Wenn es für Europa, für unsere Bürger, für unsere Altersvorsorgesysteme usw. notwendig ist, werden
wir am Pfingstsonntag hier sein. Da werden wir weitere
Erfahrungen sammeln; aber nach dem, was ich erlebt
habe, werden wir auch Gemeinsamkeiten finden.
Wir als FDP haben an bestimmten Stellen zurückstecken müssen. Das ist der kleine Wasseranteil, den ich in
den Wein gieße; Sie haben das ja auch gemacht. Aber,
Kollege Schwanitz, ich muss auch sagen: Auch bei der
SPD hat es durchaus kleinere Änderungen gegeben. Ich
habe mir noch einmal Ihren Gesetzentwurf vom September angesehen. In dem hieß es noch: Über Eilfälle soll in
einem Neunergremium beschleunigt entschieden werden; aber in Vertraulichkeitsfällen sei das eigentlich
nicht notwendig. Das Verfassungsgericht hat das umgekehrt gesehen. Wir sind zu neuen Erkenntnissen gekommen, und das ist auch in Ordnung.
Mit dem, was wir heute zur EFSF beschließen - dabei
geht es um den temporären Schutzschild des Euro -, gehen wir sehr viele Punkte an, die mit Blick auf eine Parlamentsbeteiligung beim ESM schon die Richtung weisen. Zwei Umstände sehe ich allerdings durchaus als
schwierig an. Einen hat der Kollege Barthle schon deutlich gemacht. Wenn wir unsere Parlamentsbeteiligung
destruktiv wahrnehmen und nicht klarmachen, unter welchen Bedingungen der Finanzminister im Gouverneursrat handeln kann, und wenn es daraufhin zu einer Handlungsunfähigkeit der Stabilitätsmechanismen kommt,
dann wird die Europäische Zentralbank, bei der wir kein
Vetorecht haben, sagen: Na, dann noch eine „dicke
Bertha“. Übersetzt heißt das: noch einmal 500 Milliarden
Euro, und zwar ohne Bedingungen und ohne der Politik
in anderen Ländern sagen zu können: Ihr müsst Reformen machen.
Ich will einen zweiten Punkt deutlich ansprechen:
Wenn wir das Neunergremium in der geplanten Ausgestaltung haben, sind wir uns dann sicher, dass es nur in
Fällen von Sekundärmarktaktivität tätig wird, weil nur in
diesen Fällen Vertraulichkeit notwendig ist, um einen
Effekt zu erzielen? Deswegen will ich für meine Fraktion sagen: Die Handlungsfähigkeit wird auch davon abhängen, dass nicht gesagt wird: Da man das nicht vertraulich machen kann, müssen wir das Ganze jetzt leider
über die EZB machen. - Ich bitte darum, dass wir alle
uns das sehr genau anschauen; denn wir wollen doch erreichen, dass parlamentarische Beteiligung, wo sie notwendig ist, von dem richtigen Gremium wahrgenommen
wird.
Wir haben jetzt diese Verteilung. Wir alle werden
weiter lernen. Wir alle haben schon hinzugelernt. Insofern ist dies wirklich ein guter Tag für die Gewaltentei20930
lung und für die Demokratie. Manchmal sollte es eben
auch so im Parlament ablaufen.
Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.
({0})
Das schöne Wochenende wird noch einen Augenblick
auf sich warten lassen müssen, aber die Wünsche können ja schwerlich zu früh kommen.
Jetzt hat der Kollege Steffen Bockhahn für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Worum geht es heute? Wir müssen
klären, wie der Deutsche Bundestag künftig bei den
Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem europäischen Rettungsschirm notwendig sind, mitentscheiden
soll. Momentan geht es noch um den temporären Rettungsschirm, also um die EFSF. De facto reden wir aber
auch schon über das, was künftig mit dem ESM passieren soll. Dabei geht es dann um 700 Milliarden Euro.
22 Milliarden Euro sind von Deutschland bar einzulegen, und 168 Milliarden Euro muss Deutschland jederzeit als abrufbares Kapital zur Verfügung stellen. Wir reden also über Summen, die mehr als die Hälfte des
gesamten Bundeshaushalts eines Jahres ausmachen.
Nun geht es um die Frage: Bei welchen Maßnahmen
wird sich das Parlament wie einbringen? Ja, es ist gut,
dass geklärt ist, dass der Bundestag im Grundsatz im
Plenum in Gänze zu entscheiden hat. Es gibt aber eine
Ausnahme, nämlich die sogenannten Sekundärmarktkäufe. Das heißt, über den Ankauf von Staatsanleihen,
die schon im Umlauf sind, die also eine Bank hat und die
von anderen gekauft werden sollen, nämlich vom ESM,
hat das sogenannte Neunergremium zu entscheiden. Es
heißt, solche Fälle bedürften einer besonderen Vertraulichkeit, und deshalb könne man darüber nicht offen im
Plenum entscheiden. In solchen Fällen soll das sogenannte Neunergremium, über das wir hier reden, aktiv
werden.
Es geht um Transparenz und Beteiligung. Ich gebe zu:
Ich bin ein wenig irritiert ob einiger Sätze, die ich heute
gehört habe. Es heißt, wenn der Deutsche Bundestag
seine Rechte zu sehr in Anspruch nähme, würde er letztlich den Europäischen Stabilitätsmechanismus gefährden.
({0})
Das ist für mich unter demokratietheoretischen Aspekten
eine sehr problematische Auslegung.
({1})
Ich sage Ihnen auch, warum: weil es suggeriert, dass es
keine Möglichkeit gäbe, dass der Deutsche Bundestag
Dinge vertraulich behandelt. Nehmen Sie das Grundgesetz: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sieht vor,
dass der Deutsche Bundestag im Plenum in geschlossener Sitzung tagen darf. Es liegt an uns, diese Rechte in
Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich finde, angesichts
der Summen, über die wir hier reden, sind wir nicht nur
aufgerufen, sondern sogar verpflichtet, diese Verantwortung wahrzunehmen. Wir reden wahrscheinlich über
mehrere Milliarden Euro. Ich finde, diese Verantwortung
kann man nicht Einzelnen überlassen. Dafür sind wir
alle zusammen zuständig.
({2})
Schauen wir uns einmal an, was in den vergangenen
Wochen und Monaten noch so alles passiert ist. Bei der
Abstimmung über das zweite Griechenland-Rettungspaket war keine Kanzlermehrheit vorhanden.
({3})
Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum SPD und
Grüne diesem Gesetzentwurf jetzt zustimmen. Damit
entlasten Sie die Koalition, die offensichtlich nicht mehr
in der Lage ist, bei Entscheidungen, bei denen es um die
europäische Stabilität geht, eine eigene Mehrheit herzustellen.
({4})
Durch Ihre Zustimmung ermöglichen Sie es, dass die
Koalition treue Kolleginnen und Kollegen in das Neunergremium entsendet. Dort hat die Koalition dann eine
eigene Mehrheit und ist auf Sie gar nicht mehr angewiesen. Im Plenum sähe die Sache anders aus. Dort müsste
unter Umständen auch anders verhandelt werden, weil
die Mehrheitsverhältnisse im Plenum offensichtlich
nicht so sind, wie sie im Neunergremium schnell herzustellen sind. In das Neunergremium kann ich zwei, drei
Leute schicken, auf die ich mich verlassen kann. Im Plenum habe ich es mit der Gesamtheit des Parlaments und
damit mit der Gesamtheit der politischen Ansichten zu
tun. Das ist zwar komplizierter, aber es ist ehrlicher, und
es ist auch verantwortungsvoller gegenüber dem Haushalt.
({5})
Sie mögen das jetzt so interpretieren, dass wir eigentlich nur wieder einen Grund gesucht haben, um Nein zu
sagen. Aber es ist ausdrücklich nicht so. Uns geht es darum, dass wir über Beträge reden, die sich niemand mehr
vorstellen kann. Wir sprechen bei diesem Thema über
Zahlen mit neun Nullen. Diese Zahlen sind jenseits von
Gut und Böse, niemand versteht sie. Allein die 22 Milliarden Euro Bareinlage, die wir im ESM zu zahlen haben, über die ich persönlich sage: „Ja, wir haben hier
eine Verantwortung“, sind mehr als das Doppelte der
Haushaltsmittel, die das Bundesinnenministerium und
das Bundesfamilienministerium im ganzen Jahr haben.
Ich finde, über diese Mittel müssen wir alle zusammen
transparent entscheiden. Niemand von Ihnen würde akzeptieren, dass über einen Einzelplan des Haushalts
nicht im Plenum, sondern in einem Neunergremium entschieden wird.
Danke.
({6})
Die Kollegin Priska Hinz hat nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Bockhahn, es geht heute nicht um die Parlamentsbeteiligung für den ESM, den ständigen Rettungsschirm. Heute geht es ausdrücklich um die Parlamentsbeteiligung für den vorläufigen Rettungsschirm, die
EFSF. Ich finde, das muss man auseinanderhalten.
({0})
Zu dem anderen Gesetzentwurf werden wir erst noch
eine Anhörung durchführen.
({1})
Im Lichte dieser Anhörung werden wir dann darüber diskutieren, wie man eine gute Parlamentsbeteiligung hinbekommen und gleichzeitig - das ist ein Balanceakt den ständigen Rettungsschirm funktionsfähig machen
und halten kann. Das wird für uns alle eine schwierige
Aufgabe,
({2})
wenn wir tatsächlich an der Euro-Rettung interessiert
sind.
Zum Zweiten. Die Parlamentsbeteiligung im Rahmen
dieses Gesetzes hat sich - genauso wie das Gesetz - weiterentwickelt. Das muss man so sagen. Ich habe jetzt
keine Lust auf das Schwarzer-Peter-Spiel, hin und her,
wer hat was wann eingebracht.
({3})
Das kann draußen an den Bildschirmen sowieso niemand nachvollziehen. Ich glaube, wichtig ist, dass wir
heute feststellen, dass wir das zweite Urteil des Verfassungsgerichts nicht nur umsetzen, sondern teilweise darüber hinausgehen.
({4})
Das will ich nachdrücklich festhalten. Deswegen werden
wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen.
Die Formulierungen des Gesetzes sind klarer geworden, und die Rechte der Abgeordneten wurden gestärkt,
weil jetzt weitestgehend alle Entscheidungen vom Bundestag in Gänze getroffen werden müssen. Das ist zum
Beispiel hinsichtlich der Leitlinien wichtig. Ich erinnere
an den Streit, den wir über die Frage der Hebelung geführt haben. Die Koalition wollte nicht, dass wir über
diese Frage hier im Bundestag diskutieren und entscheiden. Letztendlich haben wir dann hier darüber diskutiert.
Insofern war die Öffentlichkeit beteiligt und die Entscheidung transparent. Künftig wird es generell so sein.
Das halten wir in diesem Fall für richtig.
({5})
Das Sondergremium kann nach dem Urteil des Verfassungsgerichts für die Sekundärmarktankäufe weiter
bestehen. Alle anderen Aufgaben, die das Sondergremium laut dem ursprünglichen Gesetz hatte, sind jetzt
auf das Plenum übertragen worden. Ich verhehle nicht,
dass ich die Stellvertreterregelung für problematisch
halte. Ich bin nicht sicher, ob dies insgesamt praktikabel
sein wird und das Gremium jemals tagen wird. Aber wir
alle lernen mit diesen Gesetzen dazu. Die Staatsschuldenkrise dauert Gott sei Dank noch nicht so lange an,
dass wir schon alle parlamentarischen Erfahrungen damit hätten machen können. Wir werden sehen, ob es sich
bewährt oder ob die EZB künftig auch in dieser Frage
einschreiten muss. In diesem Lichte müssen wir dann
noch einmal über die Aufgaben des Sondergremiums
diskutieren.
({6})
Das Gleiche gilt für die Eilfälle. Die Eilfallregelung
wurde nicht mehr in den Gesetzentwurf aufgenommen,
weil SPD und Grüne dagegen waren, dass die Regierung
entscheidet, was ein Eilfall ist,
({7})
und weil wir auch nicht akzeptieren wollten - entschuldigen Sie bitte -, dass der Bundestagspräsident allein
entscheidet, was ein Eilfall ist. Auch dies fanden wir unparlamentarisch.
Was im Übrigen, wie Sie wissen, auch nicht vorgesehen war.
({0})
Von daher gibt es jetzt im Gesetzentwurf keine Regelung für Eilfälle. Das heißt, das Plenum muss zusammentreten, wenn es einen Eilfall gibt, notfalls auch in der
sitzungsfreien Zeit in der Sommerpause. Auch damit
werden wir Erfahrungen sammeln müssen, um beurteilen zu können, ob das praktikabel ist oder ob man im
Hinblick auf Eilfälle, in denen das nicht funktioniert, etwas im Gesetz ändern muss.
Wo wir als Grüne, als es um dieses Gesetz ging, leider
nicht durchgedrungen sind, ist das Thema Anhörung.
Eine Anhörung zu beantragen, wird auch für eine Minderheit ermöglicht. Allerdings wollten wir gerne die Regelung, dass entweder zwei Fraktionen oder 25 Prozent
der Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Anhörung
beantragen können. Die Mehrheit des Hauses wollte das
nicht akzeptieren. Das finden wir bedauerlich, weil das
im Zweifel natürlich uns als kleinere Fraktion betreffen
würde.
({0})
Aber daran wollen wir das Gesetz nicht scheitern lassen.
Priska Hinz ({1})
Sinnvoll wäre aus unserer Sicht gewesen, eine Anhörung zu diesem neuen Gesetzentwurf am 7. Mai durchzuführen, wenn auch eine Anhörung zum ESM und zum
Fiskalpakt stattfindet. Aus Zeitgründen ist von der
Mehrheit darauf verzichtet worden. Das finden wir wirklich nicht sinnvoll. Uns wäre es wichtig gewesen, eine
Anhörung durchzuführen. Aber davon machen wir unsere Entscheidung nicht abhängig, weil wir es für sachlich gerechtfertigt halten, die starke Parlamentsbeteiligung, die im Gesetz verankert ist, jetzt zu vollziehen.
Danke schön.
({2})
Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner, der feststellen
kann, dass wir uns weitestgehend einig sind, könnte ich
mit Karl Valentin sagen: Es ist schon alles gesagt, nur
noch nicht von jedem. - Aber gerade aus Gründen des
Respekts vor dem Bundesverfassungsgericht und aus
Gründen der Selbstachtung des Parlaments
({0})
ist es geboten, diese Debatte sehr ernsthaft und seriös zu
führen.
Wir tragen mit dieser Gesetzesänderung den Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Rechnung. Dieses hat mit seinem Urteil die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages gestärkt und damit auch die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktaktivitäten begrenzt. Damit ist klargestellt, dass dieses
Gremium, das eingerichtet werden soll, ein Spiegelbild
der Mehrheitsverhältnisse sein muss. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben - dafür darf ich mich
ganz herzlich bedanken - unter der Führung von Peter
Altmaier, wie ich glaube, eine sehr gute Lösung gefunden,
({1})
sodass wir jetzt zu einer einvernehmlichen Regelung und
Entscheidung kommen und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang Rechnung tragen
können.
({2})
Ich habe bereits gesagt, dass die Zuständigkeiten des
sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktaktivitäten begrenzt werden. Ich halte das für dringend
geboten. Denn wenn durch Indiskretionen irgendetwas
herauskäme, könnten Deutschland und allen anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union milliardenschwere Schäden entstehen.
Das Thema Eilbedürftigkeit will ich nicht weiter vertiefen. In der Zukunft hat das Plenum des Deutschen
Bundestages die Gesamtverantwortung. Das heißt, dann
muss das Plenum in allen Fällen entscheiden. Ich glaube,
von der Kollegin Hinz ist schon gesagt worden: Das
kann durchaus eine sportliche Veranstaltung für das Plenum des Deutschen Bundestages werden. Wenn wir aber
die Wahrung der Parlamentsrechte bzw. des Budgetrechts in vollem Umfang gewährleisten wollen, dann gehört dazu auch, dass wir zur Stelle sind, wenn dies geboten ist.
Der Kollege Riegert möchte und darf offenkundig
eine Zwischenfrage stellen. - Bitte sehr.
Herr Kollege Kalb, mit „sportliche Veranstaltung“ haben Sie mir gerade ein Stichwort gegeben. Sie haben ja
von der Stabilität der Währung gesprochen. Unser Saaldiener Hermann Rost hat als Zeugwart für stabile Verhältnisse in der Bundestagsfußballmannschaft gesorgt.
Er hat heute seinen letzten Arbeitstag, ist bis zuletzt an
seinem Platz und bringt uns das köstliche Wasser.
({0})
Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass wir ihn mit einem herzlichen Dankeschön und dem Wunsch eines stabilen Alters und einer stabilen Pension verabschieden
sollten?
({1})
Herr Kollege Riegert, ich freue mich ganz ausdrücklich über diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit
gibt, den Dank, den Sie schon ausgesprochen haben,
auch meinerseits - ich denke, auch für die vielen Kolleginnen und Kollegen - zum Ausdruck zu bringen. Ich
kenne Hermann Rost schon seit 25 Jahren, und ich durfte
auch einmal ein bisschen in der Fußballmannschaft des
Bundestages mitspielen.
({0})
Herzlichen Dank und alle guten Wünsche an Hermann
Rost!
Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, dann
darf ich dies zum Anlass nehmen, Hermann Rost auch
stellvertretend für die vielen zu danken, die uns hier im
Plenum des Deutschen Bundestages, in den Ausschüssen
usw. mit voller Hingabe tagtäglich treu zur Seite stehen
und unsere Arbeit ermöglichen. Herzlichen Dank an alle
und alles Gute für Hermann Rost im Ruhestand.
({1})
Das Präsidium schließt sich diesen guten Wünschen
ausdrücklich und gerne an. Sie hätten auch in keiner passenderen Debatte als in dieser vorgetragen werden können.
({0})
Ich vermute, dass nur deswegen darauf verzichtet wurde,
das auch in den Gesetzentwurf einzufügen, weil wir von
der Sicherheit der Rechtsansprüche der Beamtenpension
ohnehin fest überzeugt sind.
({1})
Herr Präsident, es steht mir nicht zu, Ihre Worte zu
kommentieren, aber wenn es notwendig gewesen wäre,
dann hätten wir es tatsächlich fertiggebracht, das in diesem Gesetzentwurf auch noch festzuschreiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt
in meinem Redefluss natürlich etwas unterbrochen worden.
({0})
Ich will nun auf das Thema zurückkommen.
Wir befassen uns jetzt mit der Mitwirkung und Beteiligung des Parlaments am temporären Rettungsschirm in
Europa. Wir sind im Moment parlamentarisch auch dabei, den dauerhaften Rettungsschirm für Europa, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, zu beraten. Hierbei
wollen wir - ich glaube, Kollege Fricke hat es schon
zum Ausdruck gebracht - die Parlamentsbeteiligung und
die Parlamentsrechte ebenso stark berücksichtigt finden.
Darüber beraten wir gerade. Ich bin davon überzeugt,
dass uns auch das gelingen wird.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es sich
bei den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, nur um
Maßnahmen handelt, um unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte zu stärken und die Rettungsschirme
funktionsfähig zu machen. Das entbindet aber keinen
Mitgliedstaat in der Europäischen Währungsunion, seine
Hausaufgaben zu machen, eine solide Haushaltspolitik
zu betreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir haben bereits gestern darüber debattiert. Das wird
die Kernaufgabe schlechthin sein.
Es wird somit auf der einen Seite darauf ankommen,
dass sich alle in Europa entsprechend anstrengen, damit
diese Vorgaben, die wir im Fiskalpakt vereinbart haben,
eingehalten werden. Auf der anderen Seite wollen wir sicherstellen, dass kein Mitgliedsland der Euro-Zone in
existenzielle Probleme gerät; denn ganz gleich, welches
Land in Schwierigkeiten käme und Finanzierungs- bzw.
Refinanzierungsprobleme hätte: Es würde natürlich andere mitziehen, und es würde Rückstoßeffekte für uns
alle geben. Es ist also - der Kollege Fricke und der Kollege Barthle haben schon darauf hingewiesen - in unserem und im Interesse unserer Bürger, dass wir für stabile
Verhältnisse in Europa, in der Europäischen Union und
insbesondere in der Währungsunion sorgen.
Herzlichen Dank, alles Gute, schönes Wochenende!
({1})
Ein zweites Mal hat sich der Kollege Kalb leider nicht
stoppen lassen, und nach Überschreiten der Redezeit
können keine weiteren Zusatzfragen angenommen werden.
Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, hat
der Kollege Ströbele um eine Erklärung zur Abstimmung gebeten. Dazu hat er jetzt Gelegenheit. Danach
stimmen wir über den Gesetzentwurf ab.
Ich danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mir ist dieses allgemeine Schulterklopfen in
dieser Debatte etwas unangenehm. Deshalb habe ich
mich hier zu Wort gemeldet.
Bei der Verabschiedung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes habe ich damals nicht zugestimmt, weil ich
die gleichen Bedenken hatte, die dann die Kollegen von
der SPD beim Bundesverfassungsgericht vorgetragen
haben. Ich fand es vom Kollegen Schwanitz etwas wohlfeil, hier nun die Kollegen dafür zu loben, dass sie zum
Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Ich fand das
richtig, hätte es auch gerne getan. Ich war aber nicht so
schnell und hatte keinen so guten Rechtsrat. Aber wir
dürfen nicht vergessen: Die SPD hat damals diesem offensichtlich in Teilen verfassungswidrigen Gesetz zugestimmt.
({0})
Herr Kollege Ströbele, Sie wollten aber eigentlich
eine Erklärung zu Ihrem Abstimmungsverhalten abgeben.
Ja, natürlich. Das ist eine Erklärung zur Abstimmung.
Das muss ich allerdings entscheiden, ob es das ist
oder nicht.
({0})
Herr Präsident, ich will erklären, warum ich heute wie
abstimme.
({0})
Na gut.
Ich fange damit an, dass ich sage: Beim letzten Mal,
als es um das Gesetz ging, habe ich nicht zugestimmt.
({0})
Jetzt geht es um die Änderung dieses Gesetzes. Ich kritisiere, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses ein in Teilen verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, und
appelliere an dieses Haus, in Zukunft vielleicht auch die
Bedenken einzelner Abgeordneter schon bei der Debatte
in den Ausschüssen, aber auch hier im Plenum ernst zu
nehmen.
Ich habe damals auch in meiner persönlichen Erklärung zur Abstimmung genau die Punkte, um die es heute
geht und um die es beim Bundesverfassungsgericht ging,
genannt. Ich bin deshalb auch nach Karlsruhe gefahren
und habe mir dort die Verhandlung angeschaut. Ich habe
auch versucht, bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts mitzureden.
({1})
Den vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgeschlagenen Änderungen sehe ich als einen positiven Schritt
an. Das Bundesverfassungsgericht hat ja geklärt, was
verfassungswidrig war, nämlich dieses Neunergremium,
das bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit ein sehr
weitgehendes Recht hier im Deutschen Bundestag bekommen hatte. Dass das nun korrigiert werden soll, ist
richtig und in Ordnung. Mir geht das aber nicht weit genug.
Ich habe mir natürlich genau überlegt: Wie soll ich
heute abstimmen? Ich kann nicht übersehen - das sage
ich auch zur Linken -, dass in das geltende Gesetz, das
nicht in Gänze aufgehoben worden ist, deutliche Verbesserungen aufgenommen werden sollen. Ich habe lange
geschwankt, um deutlich zu machen, dass ich immer
noch nicht zufrieden bin. Die Kollegin Hinz hat dazu einige wichtige Aspekte genannt. Ich werde aber trotzdem
zustimmen, weil ich sage: Es ist besser, dass das vorhandene schlechte Gesetz nun konkret verbessert wird und
die verfassungsrechtlichen Bedenken, die wir hatten und
die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, jedenfalls in Teilen aufgenommen werden, als das alte Gesetz
ohne diese Änderungen fortgelten zu lassen, wenn ich
Sie davon hätte überzeugen können, nicht zuzustimmen.
Ich frage vor diesem Hintergrund die Linke: Warum
stimmen nicht auch Sie zu? Sie sehen doch deutlich
- das haben Sie offenbar auch im Haushaltsausschuss
klargemacht - die Verbesserungen, die dieses Gesetz
bringt. Wenn aus einem schlechten Gesetz ein besseres
Gesetz wird, dann kann man eigentlich nicht dagegen
sein.
Deshalb werde ich heute zustimmen - trotz Bauchschmerzen. Ich appelliere aber an dieses Haus, die Verfassung in Zukunft ernster zu nehmen.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/9435, den Gesetzentwurf
auf der Drucksache 17/9145 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der
Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, angenommen.
Wir rufen nun die
dritte Beratung
und Schlussabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den gerade schon vorgetragenen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kampfkraft der Gewerkschaften stärken Anti-Streik-Paragraphen abschaffen
- Drucksache 17/9062 ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Gewerkschaft, die IG Metall, steht mitten in
einer Tarifrunde in der Metallindustrie. Die IG Metall
fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ - auch für Leiharbeitnehmer -,
({0})
den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten beim
Einsatz von Leiharbeit und die unbefristete Übernahme
aller Auszubildenden. Diese Forderungen sind richtig
und lösen Probleme, die von dieser Regierung nicht gelöst wurden.
Die Tarifverträge sind zum 31. März ausgelaufen. Eigentlich sollte in der vierwöchigen Friedenspflicht ein
neuer Tarifvertrag gefunden werden. In den letzten Verhandlungen kamen die Arbeitgeber mit einem Angebot
um die Ecke: Sie bieten 2,57 Prozent mehr Lohn für
zwölf Monate und - man höre - eine Arbeitszeitverlängerung.
({1})
Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten sollen künftig nach
dem Vorschlag der Arbeitgeber 40 Stunden pro Woche
arbeiten.
({2})
- Genau, um Gottes willen. - Das ist kein Angebot; das
ist eine Frechheit.
({3})
- Wissen Sie, derzeit arbeiten sie 35 Stunden, und künftig sollen sie 40 Stunden arbeiten. Das ist der Unterschied.
({4})
Würden Sie die Tarifverträge ein bisschen kennen und
sich daran erinnern, was die Forderungen und Bedingungen der IG Metall an dieser Stelle sind, dann wüssten Sie
das.
Ab nächster Woche wird die IG Metall versuchen, mit
Warnstreiks Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Wenn
das nicht klappt, sind Urabstimmung und Streik geboten.
({5})
Streik ist unsere schärfste Waffe. Dem Streik der Beschäftigten dürfen die Arbeitgeber Aussperrung entgegensetzen. So will es die Rechtsprechung.
({6})
Streikrecht ist aber ein demokratisches Grundrecht.
({7})
Aussperrung ist Richterrecht.
({8})
Mit einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber ihren
Beschäftigten Arbeit, Lohn und Zutritt zum Betrieb.
Die Gewerkschaft ist klipp und klar gegen jede Form
von Aussperrung. Im Tariflexikon der IG Metall heißt es
- ich zitiere -:
Aussperrung ist ein willkürliches Kampfmittel der
Arbeitgeber. Sie stellt das Streikrecht in Frage und
muss solidarisch bekämpft werden. Sie ist Unrecht
und gehört verboten.
({9})
Die Arbeitgeber hingegen können heiß und kalt aussperren.
Eine heiße Aussperrung betrifft Beschäftigte, die im
bestreikten Tarifgebiet in Betrieben arbeiten, die gerade
nicht zum Streik aufgerufen sind. Eine kalte Aussperrung bedeutet, dass auch Beschäftigte ausgesperrt werden, die im Zweifel gar nichts mit dem Streik zu tun haben. Sie dürfen als Streik- bzw. Aussperrungsfolge nicht
mehr arbeiten.
Wenn Beschäftigte infolgedessen keine Arbeit haben,
war das früher ein klassischer Fall von Kurzarbeit. Das
wurde 1986 mit dem Anti-Streik-Paragrafen abgeschafft.
Bei kalter Aussperrung stehen die Beschäftigten im Regen und bekommen nichts. Das ist ungerecht und unsozial.
({10})
Das treibt einen Keil zwischen Streikende und heiß Ausgesperrte und kalt Ausgesperrte.
Die Arbeitgeber ihrerseits bekamen durch den AntiStreik-Paragrafen ein zweites Kampfmittel in die Hand.
Sie können Hunderttausende Beschäftigte und ihre Familien ohne jegliche Unterstützung vor der Türe stehen
lassen.
({11})
Damit muss Schluss sein. Wenn die IG Metall im Mai in
einen Streik gehen sollte, dann darf es nicht sein, dass
die Arbeitgeber Beschäftigte willkürlich kalt aussperren
können.
({12})
Meine Damen und Herren, es ist und bleibt höchste
Zeit, dieses ungerechte und undemokratische Gesetz zu
kippen. Aussperrung gehört verboten.
({13})
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nächste Woche ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit.
({0})
Er ist Anlass für eine Bestandsaufnahme darüber, wie
sich die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns in Deutschland entwickelt. An diesem
1. Mai kann man seit langem wieder einmal feststellen:
Peter Weiß ({1})
Die Bilanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in unserem Land entwickelt sich bislang gut, und das
wird in diesem Jahr voraussichtlich auch so bleiben.
({2})
Nach Zeiten der Massenarbeitslosigkeit mit über
5 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 2005 ist die Arbeitslosenzahl Ende März dieses Jahres auf 3,028 Millionen zurückgegangen. Das bedeutet im Vergleich zum
Vorjahr einen Rückgang von 182 000; das stellt den
niedrigsten Märzwert seit 20 Jahren dar. Die Konjunkturdaten mit einem prognostizierten Wachstum um 0,7
bis 0,9 Prozent in diesem Jahr machen Hoffnung,
({3})
dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sind vor diesem Hintergrund zu einem, wie ich finde, guten und befriedigenden
Ergebnis gekommen. Es ist davon auszugehen, dass
auch die Tarifverhandlungen im Bereich der Metall- und
Elektroindustrie zu einem ähnlichen Ergebnis kommen
werden, übrigens ohne Mithilfe einer Bundestagsdebatte, allein durch das engagierte Verhandeln auf Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite.
({4})
Im Vorfeld des Maifeiertages steht nicht mehr so sehr
die Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund wie zu
Zeiten von Rot-Grün.
({5})
Vielmehr diskutieren wir lebhaft über gute Arbeit, bessere Bezahlung und die Notwendigkeit, mehr Fachkräfte
zu gewinnen. Ich finde, das ist ein Fortschritt, der sich
auch im 1.-Mai-Motto, das die Gewerkschaften ausgegeben haben, widerspiegelt: „Gute Arbeit für Europa - Gerechte Löhne, Soziale Sicherheit“.
({6})
Ich finde, dieses Motto können wir auch über unser Regierungshandeln schreiben. Das ist ein gutes 1.-MaiMotto, das unsere Unterstützung hat.
({7})
Ich finde es sehr verwunderlich, dass der Linken in einer solchen Situation nichts anderes zum 1. Mai einfällt,
als eine alte Klamotte aus der Kiste herauszuholen, die
kaum noch jemandem in Erinnerung ist.
({8})
Seit 26 Jahren gelten die derzeitigen Regelungen zum
Streikrecht. Ich gebe ehrlich zu, dass auch ich damals die
entsprechenden Änderungen für problematisch gehalten
habe. Aber nach 26 Jahren, in denen weder den Sozialdemokraten noch den Grünen - diese haben ja in letzter
Zeit auch regiert - noch der FDP noch uns eine Initiative
in den Sinn gekommen ist, die darauf abzielt, die bestehenden Regelungen zu ändern,
({9})
muss man sagen: Das Problem, das die Linken auftun,
ist eigentlich keines; denn wir können feststellen, dass
die Gewerkschaften unter den Bedingungen des gültigen
Streikrechts sehr wohl erfolgreiche Tarifpolitik in
Deutschland betreiben konnten, notfalls auch durch
Wahrnehmung dieses Rechts.
Ich empfinde das, was die Linke vorträgt, eigentlich
als einen Angriff auf die IG Metall.
({10})
Wenn eine Gewerkschaft erfolgreich gezeigt hat, dass sie
die Interessen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen kann, dann ist es die IG Metall, die übrigens die weltgrößte Einzelgewerkschaft ist. Deswegen
betrachte ich Ihre Aussage, Frau Krellmann, die IG Metall brauche die Hilfestellung der Linken in Form eines
Antrags zur Änderung von bestehenden Gesetzen, um
Tarifrunden erfolgreich zu bestehen, als einen Anschlag
auf das erfolgreiche Verhandeln der IG Metall. Die Gewerkschafter bekommen das auch ohne Änderungsantrag der Linken sehr gut hin.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist
doch nicht, wie viele Tage für ein Tarifergebnis gestreikt
worden ist, sondern entscheidend ist, welche Qualität der
Tarifvertrag hat, der unter dem geltenden rechtlichen
Rahmen erzielt wurde. Wenn die Ergebnisse stimmen
und wir zugleich in Europa zu den Ländern gehören, die
die wenigsten Ausfalltage durch Streiks haben, spricht
das doch letztlich für ein gutes Streikrecht und nicht für
ein schlechtes Streikrecht. Die daraus resultierenden
Standortvorteile der deutschen Wirtschaft sind nicht zu
unterschätzen, und sie wirken sich direkt positiv auf den
Arbeitsmarkt und zugunsten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer aus.
Herr Kollege Weiß, darf der Kollege Ernst eine Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Weiß, danke für die Möglichkeit, Ihnen eine
Frage stellen zu dürfen. Es wird wirklich eine Frage.
({0})
Erstens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsache, dass wir in der Bundesrepublik mit die wenigsten
Streiktage haben - nur der Vatikanstaat und die Schweiz
haben noch weniger -, etwas damit zu tun hat, dass die
Löhne in der Bundesrepublik Deutschland, gemessen an
unseren europäischen Partnern, prozentual in den letzten
Jahren deutlich gesunken sind?
({1})
Zweitens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsache, dass während des Streiks 1984 in der Metallindustrie in Hessen und in Baden-Württemberg die Regelung
zum Kurzarbeitergeld verändert wurde, was zur Folge
hatte, dass von kalter Aussperrung betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer plötzlich kein Kurzarbeitergeld mehr erhalten haben, maßgeblich die Stärke der
IG Metall geschwächt und damit das Ergebnis der Verhandlungen negativ beeinflusst hat? Können Sie sich das
vorstellen?
Die dritte Frage, die ich anschließen möchte, lautet:
Glauben Sie wirklich, dass die Tatsache, dass das Streikrecht unter Ihrer Regierung - Herr Blüm war damals
Minister - verändert wurde und für rechtens erklärt
wurde, was das Bundessozialgericht vorher moniert
hatte - das Vorgehen des damaligen Präsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, ist ja vom Bundessozialgericht für rechtswidrig erklärt worden -, ohne
Einfluss auf die Kampfkraft der Gewerkschaften geblieben ist? Ob Sie das glauben, möchte ich gerne von Ihnen
hören.
({2})
Verehrter Herr Kollege Ernst, ich finde, dass Sie
Rückschlüsse ziehen, die nicht zutreffen. Umgekehrt ist
es richtig.
({0})
Das Problem niedriger Entlohnung haben wir in all den
Bereichen, in denen wir leider keine Tarifbindung haben
oder nicht mehr haben, wo also gar nicht gestreikt wird,
weil keine Tarifverhandlungen stattfinden. Da liegt das
Problem.
({1})
In den Bereichen, wo wir starke Gewerkschaften haben, gerade im Metall- und Elektrobereich oder im Bereich der Chemie, haben wir in Deutschland beste
Löhne, die sich auch im internationalen Vergleich sehen
lassen können. Das zeigt: Meine Behauptung stimmt.
Dort, wo Tarifverhandlungen stattfinden und eine Tarifbindung vorhanden ist, wo die Bereitschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht, Tarifverträge zu unterschreiben, haben wir in Deutschland eine gute
Entlohnung. Unser Problem ist vielmehr, dass wir in vielen Bereichen eine zu geringe Tarifbindung haben. Deswegen wäre es eigentlich notwendig, Initiativen für
mehr Tarifbindung zu starten, statt eine Initiative zur
Änderung des Streikrechts.
({2})
- Herr Ernst, Sie wissen, dass letztendlich die entsprechenden Klagen, die bis vor die obersten Gerichte gingen, abgewiesen wurden und die Regelung von 1986 für
nicht rechtswidrig oder gar verfassungswidrig erklärt
wurde. Deshalb finde ich es müßig, dass Sie solche Fragen stellen.
Ich will zum Schluss zusammenfassen. Wenn man
sich die Geschichte unseres Landes und die Geschichte
der Tarifauseinandersetzungen anschaut, dann sieht man,
dass die Fakten für sich sprechen. Wir haben ein gutes
und funktionierendes Streikrecht. Das Streikrecht ist in
der Tat ein Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit dem sie ihre Interessen kraftvoll durchsetzen können.
({3})
Unionsgeführte Bundesregierungen sind und bleiben
der beste Garant dafür, dass wir in Deutschland ein faires
Streikrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie haben.
Wir wünschen denen, die verhandeln, viel Erfolg. Wir
sind uns als Politik, als Bundestag und - das darf ich
auch sagen - als die die Regierung tragende Koalition einig: Wir wollen an dem bewährten Streikrecht festhalten. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Wir glauben,
das ist der beste Weg zu guten Löhnen. Dazu braucht es
keine politische Einmischung.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Die Debatte erinnert sehr stark an
ähnliche Vorgänge in Studentenparlamenten, wie ich sie
früher gewohnt war. Dort lernt man, entweder am Thema
strikt vorbeizureden oder ein Thema taktisch zu missbrauchen.
({0})
Beides kann man dort von der Pike auf lernen. Im Bundestag sollte man vielleicht nicht so umfänglich davon
Gebrauch machen.
({1})
- Herr Kolb, was Sie bieten werden, kann ich Ihnen jetzt
schon sagen. Sie werden gleich bieten, dass das ganze
Elend der Republik, soweit es noch welches geben
sollte, auf Rot-Grün zurückzuführen ist.
({2})
Das ist Ihre Meisterarie, die Sie von morgens bis abends
singen. Sie stehen sogar nachts um drei auf, um sie zu
singen.
({3})
Insofern können Sie eigentlich sitzen bleiben und mir
Ihre Redezeit zur Verfügung stellen. Ich würde sie vermutlich etwas sinnvoller gebrauchen.
({4})
Herr Kollege Weiß, Sie haben im ersten Abschnitt Ihrer Rede die Grundregel jedes Studentenparlaments
meisterhaft befolgt, nämlich am Thema vorbeizureden.
Sie haben den Arbeitsmarkt über den grünen, roten und
gelben Klee gelobt. Sie haben gesagt, nicht mehr die
Sorge um den Arbeitsplatz stehe an diesem 1. Mai bei
den Menschen im Mittelpunkt, sondern möglicherweise
andere Sorgen.
Ich kann Ihnen sagen: Nicht nur in den Betrieben und
in vielen Unternehmungen, sondern auch an den Hochschulen ist die Sorge um den Arbeitsplatz die Hauptsorge.
Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich war am Montag
voriger Woche auf Einladung eines Kollegen an der Universität Mannheim und habe dort mit Studenten diskutiert. Das, was den Kern dieser Debatte ausmachte, war
die Sorge der Studentinnen und Studenten, dass sie nach
einem erfolgreichen Abschluss, wenn es gut geht, nur einen zeitlich befristeten Job bekommen, vielleicht für ein
oder zwei Jahre, dann vielleicht eine Verlängerung oder
auch nicht, und, wenn es schlecht geht, einen miserabel
bezahlten Praktikantenjob bekommen.
Das heißt, die Prekarisierung von Arbeit, instabile,
unsichere und ungeschützte Arbeit treibt die Menschen
wirklich um. Wie soll denn ein 30-jähriger junger Mann
oder eine 28-jährige junge Frau sich verantwortungsvoll
für Kinder entscheiden können, wenn sie nicht wissen,
ob sie in zwei Jahren das Kind noch angemessen kleiden
und ernähren können?
({5})
Sie können hier nicht sagen: Die Sorge um den Arbeitsplatz ist gewissermaßen aus dieser Republik vertrieben. Dem ist nicht so.
Richtig ist der Hinweis, dass wir einen Rückgang der
Arbeitslosigkeit haben. Das begrüßen wir; das ist auch
anzuerkennen. Im Übrigen sollte man sich die Statistiken aber einmal etwas näher angucken. Nicht ganz zufällig werden ja zwei Statistiken geführt, nämlich die Arbeitslosenstatistik, die sehr stark beschönigt, und die
Statistik der Unterbeschäftigung, die näher an den Realitäten ist als die erste.
Dann, Herr Kollege Weiß - das kann ich Ihnen auch
nicht so ganz ersparen -, wünschten Sie den Verhandelnden - ich nehme an: im Metallbereich - viel Erfolg. Wir
wünschen ausdrücklich der IG Metall viel Erfolg. Das ist
der Unterschied.
({6})
Es gibt einen handfesten Nachholbedarf der Arbeitnehmerschaft in Sachen Lohn. Wenn Sie sich die europäischen und die internationalen Statistiken anschauen,
stellen Sie fest: In keinem anderen Land hat es eine vergleichbar zurückhaltende - um es freundlich zu formulieren - Lohnentwicklung gegeben wie in Deutschland.
Wir haben über die letzten 10 oder 15 Jahre im Durchschnitt stagnierende Löhne.
({7})
Vielleicht sollten Sie mal wieder die Grundprinzipien
der sozialen Marktwirtschaft studieren. Dass ich auf
meine älteren Tage mal zum Fan von Ludwig Erhard
werden würde, hätte ich nie geglaubt. In dem Buch Wohlstand für Alle - der Titel heißt übrigens ausdrücklich
nicht „Wohlstand für wenige Reiche“, Herr Kollege
Kolb, sondern Wohlstand für Alle - steht bereits auf den
ersten Seiten, dass die jährliche Steigerung der Arbeitslöhne entsprechend der steigenden Arbeitsproduktivität
ein unabdingbarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft ist. Lieber Kollege Weiß, ich würde Ihnen dringendst empfehlen, neben Ihrer üblichen Lektüre gelegentlich mal wieder Ludwig Erhard zur Hand zu nehmen.
({8})
Was den Antrag der Linkspartei anbelangt, kommt
auch nicht so richtig Freude auf; denn mein Eindruck ist,
dass der Antrag nicht wirklich ernst gemeint ist. Das hat
jetzt nichts mit Ihrem Namen zu tun, Herr Kollege Ernst,
sondern das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Sie
mit diesem Antrag umgehen.
({9})
Der Antrag wurde ja nicht ins normale parlamentarische
Verfahren gebracht. Da hätte man darüber reden können,
ob sich seit 1986 Dinge so geändert haben, dass möglicherweise die Bewertung der Vorgänge etwas anders
ausfallen müsste, oder ob sie sich nicht geändert haben.
Diesen Weg wählen Sie ja nicht. Sie wollen keine gründliche Beratung im Ausschuss. Sie verzichten auf eine
Anhörung von Sachverständigen. Hier wird ein Schnellschuss abgefeuert, der den Eindruck nahelegt: Es handelt
sich um ein taktisches Manöver. Es geht in erster Linie
nicht um die Sache, sondern darum, irgendwo im Vorfeld des 1. Mai Punkte zu gewinnen.
({10})
- Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. - Deshalb wird es
Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Für diese taktischen Vorgänge habe ich wenig
Verständnis.
In der Sache haben wir keinen Grund, unsere Position
zu verändern. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man das
normale parlamentarische Verfahren angewandt hätte
und wir in Ruhe hätten beraten können, um dann eine
angemessene Bewertung der Vorgänge abgeben zu können. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Volksmund sagt: Alles neu macht der Mai.
({0})
Das mag im Großen und Ganzen gelten. Für die Anträge
der Linken gilt es jedenfalls nicht. Sie bleiben bei ihrer
Linie und bei ihrem alten Paradigma: Die Welt ist
schlecht, die Unternehmen und die Arbeitgeber sind
schlecht, und alles wird nur zulasten der Arbeitnehmer
gemacht.
({1})
Aber dieses Paradigma ist von der Realität unendlich
weit entfernt, Herr Kollege Ernst.
Ich habe mich wie der Kollege Schreiner gefragt - es
ist das Überraschende bei der heutigen Debatte, dass wir
da durchaus zum gleichen Ergebnis gekommen sind -:
Was soll dieser Antrag eigentlich? Ich habe mir einmal
die Mühe gemacht, die Zahlen zu den Streiks und Aussperrungen der letzten 60 Jahre heranzuziehen. Wenn
Sie in die Statistik schauen, werden Sie feststellen, dass
wir vor 1986 eine große Zahl aufgrund von Aussperrungen ausgefallener Arbeitstage hatten. Zur Zeit der Geltung des alten Rechts, das Sie wieder einführen wollen,
gab es also viele aufgrund von Aussperrungen ausgefallene Arbeitstage. Seitdem wurde nur noch marginal von
dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht. Deswegen ist auch die Frage des Kollegen Lindner berechtigt,
wann überhaupt das letzte Mal ausgesperrt worden ist.
({2})
- Das ist die Statistik; Statistisches Taschenbuch des
BMAS auf der Basis der Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Suchen Sie sich diese Statistik bitte heraus.
Dann werden Sie feststellen: Das Phänomen Aussperrung ist in Deutschland real praktisch nicht existent.
({3})
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Ja.
Bitte schön.
Herr Dr. Kolb, das ist doch jetzt wirklich nicht Ihr
Ernst. Sie bemängeln, wenn ich es richtig verstehe, dass
wir seit der Änderung des Streikrechts weniger Aussperrungstage haben.
({0})
- Okay; er stellt fest, dass wir weniger Aussperrungstage
haben. - Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass die Arbeitgeber doch bitte schön auch hätten aussperren können, obwohl gar nicht gestreikt wurde? Dann stellen Sie
jetzt doch etwas auf den Kopf. Darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen. Sie äußern sich dahin gehend, dass
Aussperrung als Angriffsaussperrung nicht mehr stattfindet. Das wäre aber nun wirklich das Letzte, was diese
Republik vernünftigerweise vertragen könnte. Deshalb
finde ich dieses Argument in der Debatte absolut abwegig.
Sie müssten darauf hinweisen, dass insbesondere in
der Metallindustrie - die IG Metall hat diese Änderung
des Streikrechts ganz besonders getroffen, weniger Verdi
oder andere Gewerkschaften, weil die Fernwirkung in
der Metallindustrie logischerweise höher ist als in anderen Bereichen - Folgendes gilt: Man darf zwar noch
streiken, tut es aber nicht, weil es für die Mitglieder problematisch wird. Ich will das mit einem Vergleich verdeutlichen: Wenn Sie den Menschen sagen, dass sie nach
wie vor von einem Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken
springen dürfen, dann können sie von dieser Möglichkeit
Gebrauch machen. Wenn Sie aber vorher das Wasser aus
dem Schwimmbecken herausgelassen haben, empfiehlt
es sich nicht, hinunterzuspringen. Genau diese Situation
besteht im Zusammenhang mit dem Streikrecht in der
Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Herr Kollege Ernst, da Sie umfassend gefragt haben,
darf ich umfassend antworten. Wenn Sie sich die Zahlen
noch einmal anschauen, werden Sie feststellen, dass die
Veränderungen im Streikgeschehen nicht so gravierend
sind.
({0})
- Das sind die gesamtwirtschaftlichen Zahlen.
({1})
Sie werden vielmehr feststellen, dass das Streikgeschehen im Verlauf der Jahre doch ziemlich gleich geblieben
ist - wenngleich wir feststellen können, dass wir in den
letzten Jahren doch relativ wenige Streiks in Deutschland hatten, was vielleicht auch mit der Wirtschafts- und
Finanzkrise zu tun hat. Über lange Zeiträume gesehen ist
meine Aussage aber richtig. Vor 1986 hatten wir viele
Streiks und viele Aussperrungen. Nach 1986 hatten wir
weiterhin viele Streiks, aber keine Aussperrungen.
Ich versuche ja nur, Ihren Ansatz zu verstehen. Wenn
das, was Sie offensichtlich umtreibt, richtig wäre,
müsste man doch sagen: Nachdem 1986 das Recht geändert worden war - aus Ihrer Sicht zulasten der Gewerkschaften -, haben die Gewerkschaften irgendwann
einmal versucht, zu streiken, und sind dann von flächenhafter Aussperrung der Arbeitgeber getroffen worden.
Weil sie sich das nicht leisten konnten, sind sie zurückgeschreckt und haben es fortan nicht mehr probiert.
Dies spiegelt sich aber nicht in den Statistiken wider.
Mit der Ersetzung des § 116 AFG durch den jetzigen
§ 160 SGB III ist erreicht worden, dass die Spieße wieder gleich lang sind. Ich finde, dass wir eine ausgewogene Verteilung der Kampfkraft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland vorfinden. Diese
ausgewogene Verteilung hat zu entsprechenden Ergebnissen geführt.
Ich möchte Ihnen noch ein Zweites sagen. Vorhin gab
es einen Zwischenruf, dass wir so niedrige Löhne haben,
weil die Gewerkschaften so selten streiken. Es müsste
doch eigentlich umgekehrt sein: Wenn wir niedrige
Löhne haben, dann müssten die Gewerkschaften doch
oft streiken. Aber offensichtlich gibt es bei uns Gewerkschaften, die Gott sei Dank wissen, was gesamtwirtschaftlich geboten ist, und die sich in den letzten Jahren
mit ihren Forderungen am Bereich des Möglichen orientiert haben.
({2})
- Herr Ernst, versprochen, ich schicke Ihnen die Zahlen
ins Büro. Schauen Sie sich diese in Ruhe an. Wenn der
1. Mai vorbei ist und Sie in sich gehen, werden Sie feststellen, dass das, was ich gesagt habe, gar nicht so verkehrt ist. Ihre Ansätze kann man nur schwer nachvollziehen.
Ich will darauf hinweisen, dass im alten wie im neuen
Recht, also sowohl in § 116 AFG als auch in § 160
SGB III, der Kernsatz stand:
Durch die Leistung von Arbeitslosengeld darf nicht
in Arbeitskämpfe eingegriffen werden.
Dazu gehört auch die Leistung von Kurzarbeitergeld.
({3})
Das ist ein wichtiger Punkt. Der Staat darf die Unternehmen nicht subventionieren, wenn sie zum Beispiel infolge wirtschaftlicher Probleme Umsatzeinbußen erleiden oder wenn sie bestreikt werden. Aber der Staat darf
auch nicht mit Mitteln der Beitragszahler - das war damals die Diskussion - Unterstützung für streikende Arbeitnehmer leisten. Im Kern geht es um die Neutralitätspflicht des Staates in Auseinandersetzungen zwischen
Tarifpartnern.
Hier muss ich mich wiederholen: Im aktuell geltenden Recht ist es in vorbildlicher Weise gelungen, diese
Neutralität zu gewährleisten. Praktisch geschieht dies
auf der Basis von Richterrecht; auch das hat die Kollegin
Krellmann kritisiert. Das ist einfach Ausfluss der Tatsache, dass wir im Bereich des Tarifvertragsrechts auf
eine Normierung im Gesetz - unabhängig davon, wer in
diesem Land regiert hat - weitgehend verzichtet haben.
In Einzelfallentscheidungen zeigte sich, was geht und
was nicht geht.
Wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Ich glaube,
dass die Arbeitnehmer in Deutschland - in der Debatte
ist der wichtige Aspekt Arbeitsplatzsicherheit genannt
worden - gerade in dieser schwierigen Zeit, gerade auch
im internationalen Vergleich sagen können: Wir haben
eine stabile Wirtschaftsordnung und stabile Unternehmen in Deutschland. - Das kommt gerade den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute.
({4})
- Bei guter Bezahlung. Danke für den Zwischenruf. Ich
will gerne noch ausführen: Es gibt eine gute Bezahlung,
weil wir gute Gewerkschaften haben.
Einen anderen Aspekt will ich noch nennen: Gott sei
Dank ist es so, dass entgegen vielen Unkenrufen die prekäre Beschäftigung in Deutschland nicht der Normalfall
ist. Der Normalfall ist immer noch ein Vollzeitarbeitsverhältnis mit einer guten Absicherung und einer guten
Entlohnung durch Tarifverträge. 60 Prozent der Arbeitnehmer sind direkt tarifgebunden, 20 Prozent sind durch
Bezugnahme auf Tarifverträge tarifgebunden; das sind
insgesamt 80 Prozent, also vier Fünftel der Arbeitnehmer.
Das zeigt: Unser System ist gut. Den Handlungsbedarf, den Sie in Ihrem Antrag mühsam zu konstruieren
versuchen, gibt es nicht. Die schon lange zurückliegende
Änderung des § 116 AFG hat nicht annähernd die Folgen gezeigt, die Sie hier beschreiben. Aussperrungen
sind aus anderen Gründen aus dem Rahmen des Arbeitskampfes herausgefallen. Die Gewerkschaften und die
Arbeitgeber führen ihre Verhandlungen anders, aber immer zum Wohle unserer Volkswirtschaft. Ich hoffe, das
bleibt auch so.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es waren die Streiks um die 35-Stunden-Woche, die zum Antistreikparagrafen geführt haben,
und es war Norbert Blüm, der das gegen den erbitterten
Widerstand der Gewerkschaften durchgedrückt hat. Der
damalige schwarz-gelbe Angriff auf die Streikfähigkeit
war heftig und hat insbesondere die IG Metall und die
IG BCE getroffen. Aber das Vorhaben ist missglückt.
Die Gewerkschaften haben sich auf die neue Situation
eingestellt, und sie sind heute noch immer hervorragend
organisiert. Dieser Leistung gebührt unsere Anerkennung und unser Respekt.
({0})
Heute aber kommt die Linke und zaubert diese Vergangenheit aus dem Hut. Ich bin wahrlich viel mit den
Gewerkschaften im Gespräch. Ich kann jedoch keinen
aktuellen Anlass ausmachen, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen, es sei denn, man möchte während
der laufenden Tarifrunde und vor dem 1. Mai einen symbolischen Antrag stellen.
({1})
Das wird aber - das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen - diesem ernsten Thema nicht gerecht.
({2})
Für uns Grüne ist die Tarifautonomie ein hohes Gut.
Die Tarifautonomie funktioniert natürlich nur dann,
wenn ein Gleichgewicht der Kampfmittel gegeben ist. In
diesem Sinne ist die damalige Änderung natürlich unzureichend; denn mit der kalten Aussperrung - eben ohne
Kurzarbeitergeld - wurde die Arbeitgeberseite zulasten
der Gewerkschaften gestärkt. Herr Kolb, es stimmt einfach nicht, dass - so wie Sie es ausgedrückt haben - die
Spieße gleich lang sind. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht den § 146 SGB III als „gerade noch verfassungsgemäß“ bezeichnet. Es hat zwar nicht die Rote,
aber doch die Gelbe Karte gezogen.
Heute fordert die Linke einfach nur die Wiedereinführung der alten Regelung. Wenn wir aber Chancengleichheit, Kampfparität und auch Neutralitätspflicht der Bundesagentur für Arbeit herstellen wollen, dann müssen
wir angesichts unserer verflochtenen Wirtschaft die mittelbare Streikbetroffenheit sowie die kalte Aussperrung
beurteilen und definieren. Es müssen also Kriterien entwickelt werden, die auch zeitgemäß sind.
Eine solche Auseinandersetzung ist in der Tat nicht
einfach. Sie müsste im parlamentarischen Verfahren ausführlich mit den Sozialpartnern, das heißt mit den Gewerkschaften und mit der Wirtschaft, geführt werden.
Diese spannende Diskussion soll jedoch nach dem Willen der Linken nicht stattfinden, da wir heute sofort abstimmen werden. Ich sagte es schon einmal: Das wird
diesem komplexen Thema nicht gerecht.
({3})
Der Antistreikparagraf und die veränderten Kräfteverhältnisse waren für die Gewerkschaften selbstverständlich eine große Herausforderung. Insbesondere die
IG Metall musste ihre Streikstrategie verändern und zunehmend die immer stärkeren Verflechtungen, die langen Lieferketten und eventuelle Fernwirkungen beim
Arbeitskampf beachten. Und doch haben gerade die
IG Metall und die IG BCE stets gute Lohnabschlüsse erzielt,
({4})
aber, Herr Kolb, sie haben in den letzten zehn Jahren den
verteilungsneutralen Spielraum oft nicht ausschöpfen
können.
Jetzt stellt sich die Frage: Liegt das ausschließlich am
Antistreikparagrafen, oder gibt es auch andere Gründe?
Die Antworten auf diese Fragen sind notwendig, wenn
man die Gewerkschaften stärken will. Auch diese inhaltliche Diskussion können wir wegen der anstehenden Sofortabstimmung nicht führen. Wieder muss ich sagen:
Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus.
Mein Fazit lautet: Für dieses Thema wäre ein normales parlamentarisches Verfahren mit Anhörung angemessen gewesen. Das Thema ist komplex und übrigens auch
hochspannend, zumal der Antistreikparagraf damals gesellschaftlich extrem umstritten war und die Gemüter bewegt hat. Sie, die Linke, machen aus all dem leider nur
ein Spektakel. Deshalb werden auch wir Grünen uns enthalten. Wir wollen bei diesem Spiel nämlich nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Frau Krellmann, ich habe mit
dem Weltbild der Linken immer wieder meine Schwierigkeiten. Sie haben in Ihrer Eingangsrede ausgeführt:
Streikrecht ja, Aussperrungsrecht nein. Das heißt, bei Ihnen geht Arbeitskampf so: Der eine kämpft mit Waffen,
der andere ist unbewaffnet. Wenn das ernsthaft Ihr Weltbild sein soll, liebe Frau Krellmann, dann zeigt das, wie
weit Sie von einem fairen Arbeitskampf entfernt sind.
({0})
Frau Krellmann und Herr Birkwald, Sie können es
nicht wissen, aber von Herrn Ernst hätte ich erwartet,
dass er es weiß: Am 8. März 2006, also in der letzten
Wahlperiode, hatte die Linke, ebenfalls im Vorfeld des
1. Mai, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Dritten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/856,
eingebracht, wobei der Inhalt absolut gleich mit dem des
heute diskutierten Antrags ist.
({1})
Und täglich grüßt das Murmeltier, sage ich da nur, Herr
Ernst. Letztendlich kommt nichts dabei herum, wenn Sie
spätestens alle sechs Jahre die alte Soße aufwärmen, nur
um als Gewerkschafter ein Thema für eine Auseinandersetzung vor dem 1. Mai zu haben.
Aus fachlicher Sicht, lieber Herr Ernst, besteht ebenfalls keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutralitätspflicht der Bundesagentur im Arbeitskampf zu verändern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1995 die
geltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt; Entscheidung vom 4. Juli 1995, Aktenzeichen 1 BvF 2/86;
vielleicht möchten Sie das nachlesen. Das Gericht hat
dabei gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur
Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich
zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten,
die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch
die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können.
Dafür gibt es keinerlei Hinweise.
Die immer wiederkehrende Diskussion um den sogenannten Streikparagrafen - ich verweise auf Ihren heutigen Antrag - hat Züge einer ideologischen Debatte;
nichts anderes ist das, was Sie heute hier aufführen. Die
tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986
hingegen zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt
wird. In der in erster Linie betroffenen Metall- und Elektroindustrie - Frau Krellmann, jetzt müssen Sie tapfer
sein - beklagen regelmäßig die Arbeitgeber, dass die Tarifergebnisse tendenziell zu ihren Lasten gehen. Herr
Schreiner, Sie sind der Auffassung, es sei zu wenig Lohn
ausgehandelt worden. Auch in der Metallindustrie besteht durchaus die Tendenz, die in den letzten Jahren gemäßigte Lohnzurückhaltung zumindest zum größten Teil
aufzugeben.
Pünktlich zum 1. Mai - ich habe es bereits ausgeführt
- präsentieren Sie uns einen Antrag, mit dem Sie von der
Bundesregierung fordern, lieber Herr Ernst, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 SGB III den
Wortlaut des früheren § 116 Arbeitsförderungsgesetz in
der Fassung von 1969 erhält. Die 1986 von der unionsgeführten Bundesregierung beschlossene Änderung des
§ 116 AFG ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld dann an, wenn streik- und aussperrungsbedingte Produktionsausfälle dazu beitragen, dass in einem
nicht umkämpften Betrieb die Arbeit ebenfalls ruhen
muss. Die Ansprüche der Versicherten ruhen also, wenn
und soweit durch die Gewährung von Leistungen der Arbeitsförderung in den Arbeitskampf eingegriffen würde.
Das ist unser Verständnis von Parität, von Ausgewogenheit, von Waffengleichheit im Arbeitskampf.
Der Leistungsanspruch ist im Grundsatz ausgeschlossen, wenn die Arbeitnehmer erwarten dürfen, am Ergebnis des Arbeitskampfes zu partizipieren. All dies hätte
Ihnen bei Durchsicht der gesetzlichen Bestimmungen
durchaus auffallen können. Hierdurch sollen gerade das
Gleichgewicht der in einem Arbeitskampf wirkenden
Kräfte nicht gestört und die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien in dieser Auseinandersetzung gewahrt
werden. Die Regelung des § 160 SGB III, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist kein weiteres
Kampfmittel der Arbeitgeber zur Beschneidung der
Streikmöglichkeiten der Gewerkschaften, wie Sie es
gerne darstellen, sondern sie sichert vielmehr die Neutralität des Staates und der Bundesagentur für Arbeit bei
Arbeitskämpfen und folgt somit dem Gebot aus Art. 9
Abs. 3 Grundgesetz.
Lieber Kollege Ottmar Schreiner, in diesem Fall teile
ich Ihre Auffassung - sonst sind wir nicht immer einer
Meinung -, dass der heute zur Abstimmung stehende
Antrag, der inhaltlich gar nicht beraten werden soll,
letztendlich nur dazu dient, ein Buhei um den 1. Mai zu
machen. Lieber Klaus Ernst, es wird Sie nicht überraschen, dass wir diesen Antrag ablehnen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Nachhauseweg.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9062 ({0}) mit
dem Titel „Kampfkraft der Gewerkschaften stärken Anti-Streik-Paragraphen abschaffen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten
- Drucksache 17/9389 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jörg
van Essen für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs zur
Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Die Überschrift ist schon Programm: Es soll
eine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten sein.
Wenn ich mir die drei Elemente des Gesetzentwurfs
anschaue, habe ich das Gefühl, dass das Element der
Vorbewährung in der juristischen Diskussion weitgehend unkritisch betrachtet wird. Wir haben da sehr unterschiedliche Handhabungen durch Jugendgerichte. Bei
diesem Instrument, zu dem es bisher keine rechtliche
Regelung im Jugendgerichtsgesetz gibt - es wird manchmal zur Abschreckung angewandt, manchmal anders -,
ist es, wie wir wissen, wichtig, klare Leitlinien und Bestimmungen zu haben. Ich denke, dass das mit diesem
Vorschlag erreicht wird: Es wird klargemacht, wo die
Vorbewährung, von der die Jugendgerichte jetzt schon
Gebrauch machen, angewandt werden kann und wo das
nicht zulässig ist.
Der zweite Punkt ist dann schon strittiger: die Frage
der Anhebung der Höchststrafe bei Straftaten von Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Anhebung ist
immer wieder gefordert worden, auch - das muss man
sagen - von Gerichten. Insbesondere wenn bestialische
Mordtaten begangen worden sind, haben die Gerichte
gesagt, dass die bisherige Höchststrafe im Jugendrecht,
nämlich eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, der Schuld
nicht angemessen ist.
Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorschlagen, einen sehr vernünftigen Mittelweg gehen:
({0})
Wir heben die Freiheitsstrafe für die Jugendlichen nicht
an; entsprechende Forderungen hat es auch gegeben.
Das heißt, bei Jugendlichen bleibt es bei der bisherigen
Höchststrafe von zehn Jahren. Dass das richtig ist, können Sie folgender Überlegung entnehmen: Unser jetzt
geltendes Jugendrecht stammt aus den 20er-Jahren. Damals galt in Deutschland noch die Todesstrafe, und trotzdem hat sich der Gesetzgeber damals für eine Höchststrafe bei Jugendlichen von 10 Jahren ausgesprochen; er
hat sie für angemessen gehalten. Wenn das schon unter
den damaligen Umständen richtig und vernünftig war,
dann gilt das heute sicherlich auch.
Was die Heranwachsenden anbelangt, wenden die
Gerichte, wie wir wissen, in vielen Fällen, in denen sie
sich nicht sicher sind, wie ein junger Mensch einzustufen ist - bei Heranwachsenden kann man je nach der
Entwicklung entweder Jugendrecht oder Erwachsenenrecht anwenden -, das Jugendrecht an. Ich halte auch das
für richtig. Aber wenn das Jugendrecht angewendet
wird, dann - darauf haben Kammern hingewiesen reicht der mögliche Strafausspruch von 10 Jahren Freiheitsentzug bei besonders schweren Taten oft nicht aus.
Hier räumen wir jetzt die Möglichkeit ein, bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe zu verhängen.
Das wird im Übrigen nach meiner Auffassung nicht
dazu führen, dass wir jetzt ganz viele Urteilssprüche mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren haben werden,
sondern es wird dazu führen, dass die Gerichte die bisherige Höchststrafe von 10 Jahren tatsächlich einmal verhängen. Bisher sehen wir, dass die Strafaussprüche in
ganz vielen Fällen erheblich unter der aktuellen Höchstgrenze von 10 Jahren Freiheitsstrafe bleiben. Insofern
sind wir hinter den Forderungen zurückgeblieben, die
zum Teil in der Öffentlichkeit und auch von Länderseite
erhoben worden sind. Ich glaube, dass das, wie gesagt,
ein sehr vernünftiger Vorschlag ist.
Was insbesondere in der interessierten Öffentlichkeit
den meisten Widerspruch hervorgerufen hat, ist der
Warnschussarrest. Das wundert mich wirklich sehr; denn
wir verlassen nicht die pädagogische Ausrichtung des
Jugendrechts. Es bleibt bei der bisherigen und, wie ich
finde, bewährten pädagogischen Ausrichtung des Jugendrechts.
Dass sie richtig, gut und vernünftig ist, sehen wir an
folgendem Umstand: Ein ganz großer Teil der Jugendlichen, die vor Gericht stehen, stehen nur ein einziges Mal
vor Gericht, danach nie wieder. Das zeigt: Was von den
Jugendrichtern als Maßnahme ausgesprochen wird, verfehlt seine Wirkung offensichtlich nicht. Das spricht im
Übrigen auch für unsere Jugend; das zeigt nämlich, dass
sie lernfähig ist. Wenn jemand einmal einen Fehler gemacht hat, dann nimmt er es sich zu Herzen und begeht
den Fehler nicht ein zweites Mal.
Ein Problem sind die Intensivtäter; mit ihnen müssen
wir uns befassen. Es hilft nicht, zu betonen, dass die
Zahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist;
denn es wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre.
Wir haben nämlich immer weniger junge Menschen, und
wenn wir weniger junge Menschen haben - wir wissen
das -, dann geschehen natürlich auch weniger Straftaten.
({1})
Dieses Argument kann man also wirklich nicht anführen. Ich bin immer wieder überrascht, dass es Juraprofessoren gibt, die das an den Beginn ihrer Ausführungen
zum Warnschussarrest stellen. Natürlich ist es so, dass
wir weniger Jugendliche haben und damit - Gott sei
Dank - weniger Straftaten. Aber die Zahl der Intensivstraftäter bleibt weiterhin hoch. Deshalb müssen wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir mit ihnen umgehen.
Ich bin in meiner Anfangszeit als Staatsanwalt in einer Gruppe gewesen, in der wir schwierige Entscheidungen mit den Jugendlichen selbst besprochen haben. Ich
habe bei dieser Gelegenheit immer wieder den Vorwurf
gehört, sie hätten es lieber gehabt, wenn man ihnen früher einen Warnschuss verpasst hätte; so wurde das zum
Teil ausgedrückt. Das macht die Verantwortung deutlich,
die wir haben. Unser Vorschlag zum Warnschussarrest
beinhaltet nicht den Zwang, irgendetwas zu tun. Vielmehr ist es so: Zu der Klaviatur, auf der der Jugendrichter spielen kann, um eine pädagogisch angemessene
Maßnahme zu ergreifen, fügen wir eine Taste hinzu.
Nichts anderes tun wir.
Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, daher
komme ich zu meiner letzten Bemerkung. Auch die Länder tragen Verantwortung. Das ganze Vorhaben macht
nur Sinn, wenn der Arrest pädagogisch vernünftig vollzogen werden kann und wenn es nicht zu lange dauert,
bis jemand den Arrest antreten kann. In diesem Bereich
gibt es erhebliche Fehlentwicklungen. Ich hoffe, dass die
Jugendrichter von dieser zusätzlichen Taste nur dann
Gebrauch machen, wenn die Länder die Voraussetzungen für den Arrest erheblich verbessern. Die tatsächlichen Voraussetzungen können nur von den Ländern geschaffen werden - sie haben den Warnschussarrest
immer wieder gefordert -, wir können nur die rechtlichen Voraussetzungen schaffen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugendkriminalität lässt sich nicht mit dem Warnschuss bekämpfen.“
({0})
Ein kluger Satz, aber er stammt leider nicht von mir,
sondern von unserer derzeitigen Bundesjustizministerin.
Gesagt hat sie ihn im Jahr 2008. Damals war sie noch
nicht Bundesjustizministerin, sie saß noch in der Opposition und wusste anscheinend noch, was in der Rechtspolitik richtig und falsch ist.
Noch ein paar Sätze gefällig? Am 24. September
2009, also drei Tage vor der letzten Bundestagswahl,
wurde die damalige Oppositionsabgeordnete Frau
Leutheusser-Schnarrenberger von einem Bürger über
abgeordnetenwatch.de gefragt, was sie von einer Heraufsetzung der Höchststrafe für Jugendliche und Heranwachsende hält.
({1})
Die Antwort:
Die FDP lehnt eine Verschärfung des Strafmaßes
entschieden ab. Ein Strafrahmen im Gesetzbuch hat
keine abschreckende Wirkung.
({2})
Einige Tage zuvor, nämlich am 16. September, führte
Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunk
zur gleichen Thematik aus - ich darf noch einmal zitieren -:
Wir halten auch nicht wirklich viel davon, … jetzt
wieder über eine schon lange im Raum stehende
Verschärfung von Strafrahmen nachzudenken, denn
das ist nicht das eigentliche Problem. Es können
heute schon hohe Strafen verhängt werden und die
schrecken dumme Menschen nicht ab.
Was wir heute debattieren, ist ein dummer Gesetzentwurf. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die Bundesjustizministerin und die FDP wieder einmal eingeknickt
sind, sonst könnten wir uns nämlich die heutige Debatte
ersparen.
({3})
Diese Debatte und insbesondere der vorliegende Gesetzentwurf sind vollkommen unnötig; denn sie weisen
in die falsche Richtung. Die Heraufsetzung der Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre ist reine Augenwischerei. Sie
zielt in der Praxis nur auf Tötungsdelikte ab. Die sind
aber in den vergangenen Jahren um 30 Prozent zurückgegangen.
({4})
Im Übrigen werden jedes Jahr nur 90 Jugendliche und
Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die
zwischen 5 und 10 Jahren liegt. 0,09 Prozent der Jugendlichen und Heranwachsenden werden also verurteilt. Nur
eine Handvoll hiervon - nämlich circa 6 bis 7 pro Jahr erhalten die Höchststrafe von 10 Jahren. Darauf zielt
aber Ihr Gesetzentwurf. Sie machen in diesem Fall ein
Gesetz für sechs bis sieben Heranwachsende. Das ist
doch keine effektive Bekämpfung der Jugendkriminalität, sondern nur der blanke Aktionismus.
({5})
Auch der Warnschussarrest, Herr van Essen, ist nun
wirklich nichts Neues. Die Idee gibt es schon seit über
zehn Jahren. Übrigens wurde diese Idee in der Fachwelt
schon damals einhellig abgelehnt: vom Richterbund, von
den Jugendrichtern, von der Polizeigewerkschaft, von
den Strafverteidigern, von den Bewährungshelfern und
eben auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Die
gehört heute aber nicht mehr zu den Kritikern, was diesen Gesetzentwurf aber nicht wirklich besser macht. All
die Argumente, die seit Jahren gegen den Warnschussarrest angeführt werden, gelten unvermindert fort. Der Jugendarrest, den wir schon heute haben und der bis zu
vier Wochen dauern kann, ist das wohl wirkungsloseste
Instrument, das wir überhaupt im Jugendstrafrecht kennen.
({6})
Fast 70 Prozent der Jugendlichen - damit muss man sich
einmal beschäftigen, Herr van Essen - werden nämlich
nach der Verbüßung eines Arrests wieder straffällig.
Denn hier gilt eine alte Binsenweisheit: Wer Jugendliche
für ein paar Wochen mit Kriminellen zusammensperrt,
produziert keine rechtschaffenen Bürger, sondern fördert
nur kriminelle Karrieren.
({7})
Viele Jugendliche kommen da doch erst so richtig mit einem Milieu in Kontakt, das ihre Läuterung überhaupt
nicht fördert. Sehen Sie sich die Zahlen an: Viele Jugendliche werden im Knast nicht abgeschreckt, sondern
erst richtig angesteckt.
Dass man hier nach außen hin auf Härte setzt, mag
auf den ersten Blick populär erscheinen; aber Herr van
Essen, Sie müssten es eigentlich wissen: Beim Jugendstrafrecht geht es nicht um Milde oder Härte, sondern
um Wirksamkeit. Und da hat der Warnschussarrest überhaupt nichts zu bieten. Das, was Sie hier wollen, ist kein
Warnschuss, sondern ein Rohrkrepierer. So bekämpft
man kriminelle Karrieren nicht.
({8})
Stattdessen ist es wichtig, dass wir das Risiko des Erwischtwerdens hochhalten. Wichtig ist, dass die Strafe
der Tat auf dem Fuße folgt. Was nutzt es eigentlich,
wenn jemand ein Jahr nach seiner Tat in irgendeinen
Warnschussarrest einrückt? Wir müssen durch ganz
klare und konsequente Interventionsmaßnahmen an das
verfestigte Problemverhalten einiger krimineller Jugendlicher heran. Das ist vielleicht weniger cool und auch anstrengender als ein paar Tage Stubenarrest, aber es lohnt
sich. Über solche Modelle sollten Sie nachdenken; aber
Sie zeigen in der Rechtspolitik nicht klare Kante, sondern nur dicke Lippe.
Auf unsere Unterstützung werden Sie dabei verzichten müssen.
Danke.
({0})
Herr Kollege, bleiben Sie noch einen Moment stehen.
Sie können Ihre Redezeit verlängern, wenn Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kauder erlauben - eine
Nachfrage in diesem Fall.
Ja, das mache ich.
Also, bitte schön.
Herr Kollege, können Sie mir bitte erklären, wie ein
Warnschussarrest eine kriminelle Karriere fördern kann?
Sitzen in der Arrestanstalt die Schwerkriminellen oder
die, die auch einen Warnschussarrest verbüßen?
Nein, aber da sitzen Jugendliche, die meist schon einiges an Kriminalitätserfahrung haben.
({0})
Es ist so, dass jemand, der zu einer Freiheitsstrafe auf
Bewährung verurteilt wird, schon einiges hinter sich hat.
Der hatte übrigens auch schon seinen Warnschuss; er hat
ihn nur überhört. Deshalb frage ich mich, was da ein
zweiter Warnschuss soll, Herr Kauder.
({1})
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Lischka, die Bundesjustizministerin
mag es möglicherweise bedauern, dass die FDP nicht
nur aus ihr besteht, sondern eben auch aus vielen anderen Kolleginnen und Kollegen
({0})
und dass bei uns in der Regierungskoalition die Welt
bunter ist als in der SPD. Jedenfalls haben wir innerhalb
der Koalition in den letzten Wochen sehr fruchtbare Diskussionen geführt. Insbesondere haben wir uns darüber
auf Berichterstatterebene mehrfach mit dem Herrn Kollegen van Essen, der gerade gesprochen hat, unterhalten.
Ich kann nur sagen: Über das Ziel waren wir uns recht
einig.
({1})
Ich finde, es ist ein sehr einfacher Weg, hier einzelne
Personen herauszugreifen.
({2})
Ich glaube, auch die SPD besteht aus mehr Personen und
nicht nur aus Ihnen. Aber vielleicht sehen Sie ja auch das
anders.
Interessant ist, dass Sie die Wirkung eines Instruments, das es noch gar nicht gibt, schon kennen.
({3})
Sie haben sehr deutlich gesagt, was das Ergebnis der
Einführung des Warnschussarrests sein wird. Ich bin da
interessierter und offener. Wenn wir das Instrument haben, werden wir es irgendwann bewerten können und sicherlich auch bewerten müssen. Die dafür notwendige
Zeit sollten wir uns aber nehmen.
Es wirkt geradezu wie ein unglaublicher Zufall, dass
vor einigen Tagen im Fernsehen des Westdeutschen
Rundfunks eine Talkshow zum Thema „Berufe und Berufung“ ausgestrahlt wurde. Darin kam ein pensionierter
Polizeibeamter zu Wort, der zu seiner Berufung zum
Polizeibeamten sinngemäß erklärte, er sei zur Polizei gekommen, weil er selbst als Jugendlicher einmal im Arrest gesessen habe.
Die Geschichte, die er dazu erzählte, war diese: Er sei
wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht
verurteilt worden.
({4})
- Herr Kollege Montag, es ist ja schön, dass Sie versuchen wollen, mich zu verstehen. Hören Sie aber am besten zu. Dann mag das auch gelingen.
({5})
Er sagte, er sei wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht verurteilt worden, eine Geldstrafe zu
zahlen. Damit sei seine Mutter nicht einverstanden gewesen. Sie habe beim Richter vorgesprochen und ihn gefragt, ob das nicht in einem Arrest münden könne. Dieser habe der Bitte entsprochen, und nach ein paar Tagen
habe er sich gesagt: Da will ich nie mehr hin. - Statt einer Karriere als Krimineller wurde er also Kriminaler.
({6})
Das ist eine beinahe unglaubliche Geschichte, die einen schmunzeln lässt, selbst den Kollegen Montag. Vor
mehr als 50 Jahren war es offensichtlich einfacher möglich, mit mütterlichen Bitten vor Gericht durchzudringen.
({7})
Nun hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahrzehnten richtigerweise weiterentwickelt. Es ist gut, dass
der Erziehungsgedanke ganz deutlich im Vordergrund
steht. - Warum sind Sie jetzt so still, Herr Montag?
({8})
Es ist gut, dass mit Freiheitsentziehung im Jugendstrafrecht eher restriktiv umgegangen wird. Aber wir
müssen auch sehen, dass wir es mit unterschiedlichsten
Täterpersönlichkeiten zu tun haben und sich die Persönlichkeitsstrukturen der jugendlichen Täter mit der Zeit
ebenfalls gewandelt haben. Zunehmende Aggressivität
und Brutalität sind ein Ausdruck davon, und das ist kein
quantitatives Merkmal.
Wir wollen deshalb die bestehenden jugendstrafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten ergänzen. Damit reagieren wir auf eine Entwicklung, die sich bei immer mehr
jugendlichen Tätern beobachten lässt. Eine Bewährung
wird oftmals als Freispruch zweiter Klasse empfunden.
Spürbare Konsequenzen sind mit einer Verurteilung
nicht verbunden. Ja, mancher Täter sieht sich sogar bestätigt und erlangt Anerkennung bei seinen Freunden,
die vor dem Gerichtssaal warten. Damit sendet der
Rechtsstaat aber völlig falsche Signale an die Jugendlichen und ihr Umfeld. Es kann nicht sein, dass kriminelle
oder gar gewalttätige Jugendliche mit ihren Straftaten
auch noch prahlen können.
Dem wollen wir durch die ergänzende Möglichkeit
des sogenannten Warnschussarrests begegnen. Wir geben damit den Jugendgerichten eine weitere Sanktionsmöglichkeit bei kriminellen Jugendlichen an die Hand.
Damit schaffen wir eine weitere erzieherisch wirkende
Maßnahme im Jugendstrafrecht.
Ich bin mir sicher, dass die Jugendgerichte mit dieser
neuen Möglichkeit sehr verantwortungsvoll und zielgenau umgehen werden. In der Regel kennt der Jugendrichter seine - ich sage es einmal salopp - Pappenheimer
und deren Umfeld sehr genau. Sie können gut einschätzen, ob vorherige Verwarnungen einen jungen Menschen
nicht erreicht haben. Bevor ein jugendlicher Straftäter
für mehrere Monate in die Haft geht - auch das sieht das
Jugendstrafrecht vor -, sind maximal vier Wochen Arrest sicherlich ein effektives Mittel, um dem jungen
Menschen die Konsequenzen seines Handelns vor Augen zu führen. Die Geschichte des Polizisten ist dafür
ein Beispiel.
Klar ist, dass dieses Mittel allerdings nur Sinn macht,
wenn der Warnschuss tatsächlich rasch zum Tragen
kommt. Nur dann kann das Instrument seine Wirkung
entfalten. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine klare zeitliche Begrenzung vorgesehen, in welcher Zeit der Warnschussarrest angetreten sein muss. Klar ist auch, dass
sich die Jugendstrafvollzugseinrichtungen auf den Warnschussarrest erst noch einstellen müssen. Das wird eine
ganze Reihe von Veränderungen mit sich bringen; das
steht außer Frage. Aufgrund der Länderzuständigkeit
sind die Bundesländer für den Vollzug zuständig; auch
sie müssen sich sicherlich noch darauf einrichten. Aber
ich bin sicher, dass dies den Landesjustizbehörden gelingen wird und sie einen guten und sinnvollen Weg finden
werden, den Warnschussarrest praktisch und erfolgreich
mit Leben zu füllen.
Natürlich wird es uns mit dem Instrument des Warnschussarrests nicht gelingen, alle jugendlichen Straftäter
passgenau zu erreichen. Aber mit jedem Einzelnen, den
wir vor einer weiteren kriminellen Karriere bewahren
und dem wir eine Perspektive für die Zukunft geben, gehen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Das lohnt
sich; das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist mal wieder so weit: Die Debatte über die Verschärfung des Jugendstrafrechts ist nicht neu, zuletzt haben
wir hier 2008 darüber debattiert. Geändert hat sich an
den Grundlagen allerdings nichts.
Zum sogenannten Warnschussarrest - leider hat mir
Herr Lischka schon all die entsprechenden Zitate von
Frau Leutheusser-Schnarrenberger geklaut -:
({0})
Selbst in der Problemschilderung zum vorliegenden Gesetzentwurf wird beschrieben - ich zitiere einmal -: „…
wird seit längerem immer wieder die … Möglichkeit zur
Verhängung eines Jugendarrests … gefordert.“ Ja, es
wird immer wieder gefordert, aber dort steht nicht, wer
das fordert. Die am Jugendstrafverfahren Beteiligten,
also Verteidiger, Rechtspfleger, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshelfer, Jugendstaatsanwälte und -richter, fordern das jedenfalls nicht.
({1})
Die Lösung des Problems besteht auch nicht in höheren
Strafen oder im Warnschussarrest. Darüber besteht doch
unter allen Fachleuten Einigkeit.
Zum Warnschussarrest in Verbindung mit der Jugendstrafe - ich habe es schon einmal gesagt -: Es gibt Erziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel, zum Beispiel
Rasenmähen, Einkaufshilfe, gemeinnützige Arbeit, Geldauflagen, das Verbot des Zutritts zu bestimmten Gaststätten oder des Kontakts zu bestimmten Personen. Das
Spektrum ist groß. All diese Maßnahmen sind kombinierbar, auch mit Zuchtmitteln, auch mit dem Arrest.
Wenn das alles nicht mehr wirkt, wenn das alles nicht
mehr ausreicht, um auf den Jugendlichen einzuwirken,
dann kommt die Jugendstrafe. Jetzt soll also die Jugendstrafe mit einer Maßnahme kombiniert werden, die eigentlich nicht mehr ausreicht.
({2})
Das kann kein Mensch nachvollziehen. Jedenfalls ist es
nicht logisch, juristisch auch nicht; dies ist ja meist identisch.
Im Übrigen sind Arrest und Jugendstrafen nach wie
vor die Maßnahmen, bei denen es die höchsten Rückfallquoten gibt. Diese liegen bei 60 bis 70 Prozent.
({3})
- Genau, Herr van Essen. Jetzt sollen aber zwei Maßnahmen, die schlecht sind, kombiniert werden, damit etwas
Besseres dabei herauskommt. Großartig!
({4})
Ich dachte, Sie waren Oberstaatsanwalt.
({5})
- Das wollen wir nicht vertiefen. - Die Idee, zwei
schlechte Maßnahmen zu kombinieren, damit etwas Gutes dabei herauskommt, kann - ich versuche, höflich zu
bleiben - nur einem schlichten Gemüt entspringen.
({6})
Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Ausgleich, Trainingskurse und Antiaggressionskurse fehlen
die Mittel und das Personal. Auch das ist schon angesprochen worden: Es bringt doch nichts, wenn man einen Arrest verhängt, und diese Strafe erst nach einem
Jahr angetreten wird. Es muss in Personal investiert werden. Mittel müssen investiert werden, damit Maßnahmen
überhaupt umgesetzt werden können. Man muss hier
präventiv tätig werden und nicht mit Strafen drohen.
({7})
Die Anhebung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre
ist auch nicht sinnstiftend. Aber na gut, wann kommt
hier schon einmal etwas Sinnstiftendes? Die Verhängung
der Höchststrafe von 10 Jahren ist bei weniger als
0,1 Prozent der zu Jugendstrafe Verurteilten erfolgt.
Dazu hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Spiegel
2008 gesagt - dies wurde noch nicht zitiert -: Das bedingt überhaupt keinen Änderungsbedarf. - Da hat sie
recht; diese Äußerung gilt nach wie vor.
({8})
Insoweit freue ich mich - wie auch schon zuvor - auf
die Beratungen im Rechtsausschuss. Dort sitzen vernünftige Kollegen. Ich bin gespannt, wann dieser Gesetzentwurf auf den berühmt-berüchtigten guten Weg
der Regierung gebracht wird, auf dem er dann im Nirwana verschwindet, wie schon so viele Male zuvor. Und
mit was? Mit Recht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur
Verschlechterung des Jugendstrafrechts.
({0})
Ich kann nur wiederholen, was die Kollegen vor mir
schon gesagt haben: Praktisch alle namhaften Kriminologen in Deutschland lehnen den Warnschussarrest ab.
Praktisch alle Jugendstrafrechtler lehnen ihn ab, von
Professor Ostendorf über Professor Kreuzer bis hin zu
Professor Pfeiffer. Praktisch alle Bewährungshelfer lehnen ihn ab.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Deutsche Richterbund, die größte Organisation der Richter
und Staatsanwälte, lehnt Ihre Vorschläge ab. Der Deutsche Anwaltverein lehnt sie ab. Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen lehnt
sie ab.
({1})
Die Gewerkschaft der Polizei lehnt sie ab. Lieber Kollege Geis, auch die Katholische Bundes-Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe, Ihre Herz-Jesu-Sozialisten,
lehnt sie ab.
({2})
Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Unter denen, die sich mit
den Problemen ernsthaft beschäftigen, gibt es niemanden, der für Ihren Gesetzentwurf streitet.
({3})
Mein größter Vorwurf im Zusammenhang mit diesem
Gesetzentwurf richtet sich an das Bundesjustizministerium. Seit 10, 15 Jahren führen wir eine Debatte über
diese Vorschläge, und es findet eine angeregte und umfangreiche wissenschaftliche Diskussion darüber statt.
Aber nichts davon wird in dem Gesetzentwurf referiert.
Nichts, absolut nichts, nicht eine einzige Fundstelle!
({4})
Dafür gibt es gute Gründe: Sie wollen die Kritik nicht
hören.
({5})
Neben einigen wenigen Fundstellen - eine gewisse Frau
Werwigk-Hertneck und eine Frau Müller-Piepenkötter,
die sich bisher nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern
als Exlandesjustizministerinnen hervorgetan haben gibt es nur eine Fundstelle von Belang: Herrn Professor
Verrel. Seine Stellungnahme habe ich mir genau durchgelesen. Sie ist für Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, verheerend. Sie interpretieren sie zwar zu
Ihren Gunsten. Aber als Erstes schreibt Verrel: Die Anhebung der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Mord für Heranwachsende ist ein riesiger Fehler. - Er lehnt das vollständig ab.
Das ist im Übrigen auch denklogisch falsch. Wenn
Sie Heranwachsende wie Jugendliche behandeln - Stichwort „Reifeverzögerungen“ - und einem 18-jährigen
Mörder 15 Jahre geben können wollen, warum dann
nicht auch einem 17-jährigen Mörder, der ja auch ein Jugendlicher ist?
({6})
Das ist absolut unlogisch, was Sie da sagen. Auch Verrel
lehnt das ab.
Was schreibt Verrel zum Warnschussarrest? Ein präventiver Effekt des Arrests ist nicht nachweisbar, obwohl sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten um eine
Evaluation bemüht. Die Rückfallzahlen sprechen eher
dagegen.
Der Warnschussarrest ist keine rasche Reaktion. Ein
Gericht braucht zur Absetzung eines Urteils mindestens
einen Monat, wenn keine Rechtsmittel eingelegt werden,
also im besten Fall. Meine Fraktion hat gestern ein Fachgespräch zu diesem Problem durchgeführt. Wir haben
Praktiker, Staatsanwälte und Richter, die auf dem Gebiet
des Jugendstrafrechts tätig sind, eingeladen und sie gebeten, uns zu informieren. Sie haben uns gesagt: Egal ob
in Süd- oder Norddeutschland, man braucht mindestens
drei, vier Monate, bis man überhaupt einen Platz in einer
Arrestanstalt bekommt. - Bremen hat seit neuestem
überhaupt keine Arrestanstalten mehr.
({7})
Aber Sie schicken einen Gesetzentwurf in den Gesetzgebungsprozess, in dem Sie sagen: Wenn der Arrest nicht
spätestens drei Monate nach der Verurteilung angetreten
wird,
({8})
dann kann er nicht mehr angetreten werden. - Das, was
Sie uns hier vorgelegt haben, ist der organisierte Unsinn.
({9})
Verell, Ihr Kronzeuge, sagt unterm Strich: Die Zielgruppe, die überhaupt infrage kommt, ist so klein und
die Gefahr der Ausdehnung der Maßnahme über diese
Zielgruppe hinaus so groß, dass er davon abrät, den
Warnschussarrest einzuführen. Er plädiert dafür, die anderen Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu fördern.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deswegen werde ich jetzt meinen letzten Satz zitieren. Es ist ein Zitat der Gewerkschaft der Polizei. Die
Gewerkschaft der Polizei hat zu diesem Gesetzentwurf
gesagt:
Der Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ist
nicht mehr als ein bisschen politische Spachtelmasse. Damit kann der … zunehmend breiter werdende Riss zwischen Union und FDP jedenfalls
nicht repariert werden.
Hier hat die Gewerkschaft der Polizei recht.
({0})
Das Wort hat Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich beschränke mich auf die beiden Themen, die
hier sehr strittig sind, nämlich auf die Vorrats - ({0})
- Nein, nein, das war eine Freud’sche Fehlleistung. - Es
geht um den Warnschussarrest und die Erhöhung des
Höchstmaßes der Jugendstrafe.
Die Diskussion über diese Dinge existiert schon sehr
lange. Wir haben diese Diskussion schon in der ersten
Hälfte der 90er-Jahre geführt. Wir, die Unionsfraktion,
haben dies schon damals gefordert. Als wir damals das
Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschiedet haben,
haben wir auch darüber verhandelt. Das durchzusetzen,
war aber nicht möglich. Wir haben diese Forderung dann
weiterhin erhoben. Die Länder, die ja die Praxis zu verantworten haben, haben uns entsprechende Vorschläge
gemacht und entsprechende Gesetzesanträge gestellt, die
alle bislang nicht zum Erfolg geführt haben.
Nun haben wir diesen Erfolg. Wir sind uns einig, und
wir wollen den Warnschussarrest und die Erhöhung der
Jugendstrafe einführen.
({1})
- Sie natürlich nicht, aber die Koalition ist sich einig.
Darauf hat Herr Lischka ja angespielt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass der Warnschussarrest eine wichtige Erweiterung
des Instrumentariums ist, das einem Richter zur Verfügung stehen sollte. Reden Sie mit Jugendrichtern!
({3})
Noch heute Morgen habe ich mit einem Jugendrichter telefoniert und die Sache mit ihm besprochen. Es war ein
junger Jugendrichter. Er sagte: Ich brauche die Möglichkeit einer solchen Reaktion auf jugendliche Straftäter.
({4})
Warum? Es ist doch eigentlich ganz greifbar, warum.
Das ist unsere Überlegung:
Erstens. Wenn Sie einen Jugendlichen verteidigen,
der zu einer Jugendstrafe, aber nicht zu einem Arrest
verurteilt wird, dann können Sie als Verteidiger erleben
- Sie sind, so wie ich, noch im Geschäft; wir gehen auch
noch vor Gericht -, dass er hinausgeht und sagt: Das ist
ein Freispruch zweiter Klasse. Sein Verteidiger freut sich
darüber, und seine Eltern und seine Freundin, die dabei
sind, freuen sich natürlich auch darüber. Der Mann
kommt nicht hinter Schloss und Riegel. Einen solchen
„Freispruch“ zweiter Klasse steuern die Jugendlichen
an, und sie lachen dann.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wunderlich?
Ja, bitte, wenn es schnell geht.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich gebe mir Mühe.
Sie sprachen gerade im Zusammenhang mit der Jugendstrafe von der Notwendigkeit eines solchen Arrests.
Stimmen Sie mir zu, dass die Vollstreckung der Jugendstrafe nur unter der Voraussetzung zur Bewährung ausgesetzt wird, dass der Richter bzw. das Gericht davon
überzeugt ist, dass dem Jugendlichen die Verurteilung
als solche schon zur Warnung ausreicht
({0})
und er künftig auch ohne den Vollzug oder die Vollstreckung der Strafe einen rechtschaffenen Lebenswandel
führen wird?
Natürlich.
Das ist die Voraussetzung zur Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe. Jetzt sagt man aber: Ich gehe
zwar davon aus, dass er keinen Vollzug braucht, aber ein
bisschen Vollzug ist vielleicht doch nötig. - Ist das nicht
in sich widersprüchlich?
Nein.
Wird da § 16 a JGG bzw. der ergänzende Absatz nicht
nur eingeführt, um das ein bisschen zu kaschieren?
Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Frage beantworten. Die Jugendstrafe ist eine ganz andere Maßnahme als
der Jugendarrest.
({0})
Das wissen Sie und ich. Deswegen können Sie nicht beides in den gleichen Topf werfen.
({1})
Das ist der Unterschied. Das ist meine Antwort.
Zweitens. Ein weiterer Grund für den Jugendarrest ist
folgender: Wenn zum Beispiel ein Täter wegen schädlicher Neigungen zu einer Jugendstrafe verurteilt wird
- aber auf Bewährung -, dann geht er als freier Mann
aus dem Gerichtssaal. Gegenüber einem anderen wird
ein Zuchtmittel ausgesprochen, weil keine schädlichen
Neigungen festgestellt werden, weil er sich also im
Sinne des Strafrechts nicht so schwer schuldig gemacht
hat. Der bekommt Jugendarrest und damit Freiheitsentzug. Der andere aber geht letztlich ohne Strafe aus dem
Gerichtssaal. Diesen Widerspruch verstehen die Jugendlichen nicht.
({2})
Drittens. Ich möchte noch Folgendes anführen: Es ist
vielleicht gar nicht schlecht, wenn ein solcher Jugendlicher auch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, aus
seiner gewohnten Umgebung genommen wird, Herr
Wunderlich.
({3})
- Nein,
({4})
ich bin wieder bei meiner eigentlichen Rede. - Oft ist es
so: Ein Jugendlicher kommt vor Gericht, weil er in seiner Umgebung mit anderen Jugendlichen zusammen ist,
die das Gesetzbuch und das Strafrecht nicht so ernst nehmen und deswegen straffällig werden. Es ist nicht
schlecht, wenn ein Jugendlicher einmal aus einer solchen Umgebung für kurze Zeit von seinen Kameraden
abgesondert wird und vielleicht mithilfe seines Bewährungshelfers dazu kommt, darüber nachzudenken, wohin
dies weiter führen würde. Deswegen, so meinen wir, ist
der Warnschussarrest die richtige Maßnahme.
Ein anderer Punkt ist die Erhöhung des Höchstmaßes
der Jugendstrafe; Herr van Essen hat darauf schon hingewiesen. Wir unterscheiden hier zwischen Jugendlichen
und Heranwachsenden. Für die Heranwachsenden sehen
wir die Erhöhung des Höchstmaßes vor. Das geltende
Höchstmaß für Jugendliche sind eigentlich 5 Jahre,
wenn es sich nicht um Verbrechen handelt. Wenn es sich
um Verbrechen handelt, sind es 10 Jahre. Für Heranwachsende gibt es dieses Höchstmaß von 5 Jahren nicht,
sondern da ist von vornherein ein Höchstmaß von
10 Jahren angesetzt. Hier gibt es keine Unterscheidung.
Nun wollen wir Folgendes: Wir wollen das Höchstmaß der Strafbarkeit von 10 auf 15 Jahre anheben. Das
ist eine alte Forderung - so darf ich sagen - meiner Fraktion und auch einiger Bundesländer bzw. des Bundesrates. Nun sind wir uns in dieser Frage einig geworden,
hier den entscheidenden Schritt zu tun.
Warum? Weil ich glaube, dass der Richter die Möglichkeit haben muss, entsprechend zu reagieren, wenn es
sich um eine Straftat wie Mord handelt. Genau das nehmen wir in den Fokus. Es geht hier nicht um andere
Straftaten, obwohl man darüber streiten kann, ob man
das nicht auch hier tun sollte. Andere Straftaten, die
beim Erwachsenenstrafrecht ebenfalls mit „lebenslänglich“ bestraft werden können, nehmen wir heraus. Wir
nehmen nur die schwerste Straftat, die jemand begehen
kann, nämlich einen anderen Menschen zu ermorden.
Ihm sagen wir: Du musst unter Umständen, wenn du Heranwachsender bist, mit einer Strafe von 15 Jahren rechnen.
Ich nenne ein Beispiel: In einer Jugendbande ist der
Haupttäter ein Heranwachsender, der Mitläufer, der sich
genauso strafbar gemacht hat, ist über 21 Jahre alt. Letzterer bekommt wegen eines Mordes „lebenslänglich“,
der andere 10 Jahre.
Ich meine, das ist nicht gerecht. Hier muss ein Gleichklang hergestellt werden. Das ist unser Anliegen. Deshalb glaube ich, dass wir mit unserem Gesetzentwurf
richtigliegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich
kann meinen geschätzten Kollegen Vorrednern Lischka,
Montag und vor allen Dingen Wunderlich nur recht geben: Der Warnschussarrest als Zugabe, Herr van Essen,
zur Bewährungsstrafe für Jugendliche ist aus meiner
Sicht wirklich der falsche Weg. Man hat so ein bisschen
den Verdacht, dass das Symbolpolitik ist, dass man hier
symbolisch etwas aussagen will.
Wenn man jugendlichen Straftätern oder Intensivtätern einen Warnschuss geben will, dann muss man - das
sagen nach meinen Erkenntnissen alle Praktiker - Folgendes machen: eine schnelle Verurteilung. Das ist das
eigentliche Problem.
({0})
Herr Wunderlich ist - das wurde eben angesprochen 12 Jahre Jugendrichter gewesen und hat langjährige Erfahrung. Er hat gerade das Instrumentarium, das einem
Jugendrichter zur Verfügung steht, anhand von Beispielen dargestellt. Das Jugendstrafrecht ist nämlich sehr
breit angelegt.
In meinen Gesprächen mit Jugendstaatsanwaltschaften wurde mir gesagt: Es gilt das alte Sprichwort: „Die
Strafe muss auf dem Fuße folgen“. Wenn man den WarnDr. Edgar Franke
schussarrest einführen würde, würde auch dieser - da
müssen Sie mir recht geben, Herr van Essen - erst nach
dem Urteil erfolgen.
({1})
Das heißt, der Warnschuss käme erst dann, wenn das Urteil ergangen ist. Insofern würde der Warnschuss wegen
dieses zeitlichen Ablaufs aus meiner Sicht nichts bringen.
Praktiker sehen ein großes Problem darin, dass die
Justiz lange braucht, um Urteile zu fällen und dass die
Arrestzellen voll sind, sodass die betroffenen Jugendlichen gar nicht einziehen können und man keine Möglichkeiten hat, Strafen zu vollziehen. Das ist ein rein
praktisches Problem. Aus meiner Sicht muss man vor allen Dingen bei diesem Punkt ansetzen.
Ein weiterer Punkt ist die Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. Herr
Geis hat dazu Ausführungen gemacht. Ich glaube, die
Heraufsetzung der Höchststrafe würde nichts bringen.
Das muss man ganz klar sagen.
Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, herauszufinden,
welche Studien es in diesem Bereich gibt. Sie haben
nichts gefunden. Herr Montag hat das auch gesagt. Es
gibt in der Fachöffentlichkeit niemanden, der sagt: Das
bringt etwas.
({2})
Herr Lischka hat von sieben Fällen pro Jahr gesprochen.
Ich habe in dem Bereich auch nichts gefunden:
({3})
In den Entscheidungsgründen hat kein Gericht ausgeführt, dass die Strafe zu gering sei.
Insofern ist der Gesetzentwurf vielleicht mehr als
Symbolpolitik: Es ist vielleicht sogar ein Wahlkampfthema, und es ist ein Thema für den Boulevard und die
Öffentlichkeit.
({4})
Der Gesetzentwurf ist aber, glaube ich, nicht zur Verbesserung der Sicherheit der Bevölkerung geeignet. Im Gegenteil, der Volksmund sagt: Wer in den Knast kommt,
kommt krimineller heraus, als er hineingegangen ist.
In diesem Sinne sollte man, glaube ich, diesen Gesetzentwurf ablehnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens Schutz der Menschen vor Straßen- und
Schienenlärm nachdrücklich verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
- Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652,
17/9257 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin in der interessanten Rolle, als Ausschussvorsitzender berichten zu dürfen, warum der Verkehrsausschuss die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen
und SPD nicht fristgerecht behandelt hat. Es geht bei
diesen Anträgen um das wichtige Thema Bahnlärm.
Wir haben diese Anträge mehrmals auf die Tagesordnung gesetzt, so unter anderem in der 49. Sitzung am
21. September 2011 - das ist also schon relativ lange
her -, dann wieder am 26. Oktober und zuletzt am 9. November. Die Beratung der Anträge ist auf Wunsch der
geschäftsführenden Mehrheit immer wieder vertagt worden.
({0})
So weit sozusagen der Bericht. Wir haben die Anträge
immer wieder aufgesetzt. Aber die Beratungen darüber
wurden immer wieder vertagt.
Worum geht es in den Anträgen? Sowohl in den SPDAnträgen als auch im Antrag der Grünen geht es um einen besseren Schutz der Menschen vor Bahnlärm. Es
geht insbesondere darum, das Lärmprivileg „Schienenbonus“ abzuschaffen. Worum handelt es sich beim
Lärmprivileg „Schienenbonus“? Es handelt sich letztendlich um einen Malus für die Betroffenen. Dieses Privileg bedeutet, dass Züge um 5 dB - das macht einen
erheblichen Unterschied aus; denn es handelt sich um
eine logarithmische Skala - lauter sein dürfen als andere
Verkehrsträger. Das hat zur Folge, dass die Menschen
stark belastet sind. Das ist allerdings auch für uns von
großer verkehrspolitischer Bedeutung; denn die Belastung hat an manchen Strecken solche Ausmaße angenommen, dass die Menschen massiv protestieren, in
manchen Regionen überparteilich. Es gibt zum Beispiel
an der Rheinschiene Regionen, in denen sich Vertreter
aller Parteien massiv gegen die Lärmbelästigung vor Ort
wenden. Wir müssen daher dringend etwas tun.
({1})
Warum kommt es nicht zur abschließenden Beratung
über die Anträge? Der Grund ist ganz einfach - diese
Bewertung nehme ich nicht als Ausschussvorsitzender,
sondern als Abgeordneter der Grünen vor -: Die Koalitionsfraktionen wollen die Anträge von SPD und Grünen
nicht ablehnen, weil sie den Protest vor Ort fürchten. Sie
können aber auch keine eigenen Vorlagen einbringen,
weil sie sich untereinander nicht einigen können, wie mit
diesem schwierigen Problem umgegangen werden soll.
Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Bei den Koalitionsfraktionen gibt es einen ganzen Strauß an Themen, über die sie sich nicht einigen können. Manche
Themen sind prominenter, andere Themen weniger prominent in den Medien vertreten. Bahnlärm ist in den Medien lediglich regional prominent vertreten. Ich sage als
Grüner: Einigen Sie sich - das wäre positiv - im Sinne
der Menschen auf eine vernünftige Reduktion des Bahnlärms! Dann könnten wir die Beratungen über dieses
Thema im Ausschuss endlich zum Abschluss bringen.
({2})
Wenn Sie sich aber schon nicht einigen können, dann
sollten Sie wenigstens die Traute haben, die Anträge abzulehnen.
({3})
Dann können wir die Beratungen über diesen Tagesordnungspunkt abschließen. Dann muss dieses Thema nicht
immer wieder aufscheinen. Dann hätten wir alle Klarheit, und dann wüssten auch die Betroffenen vor Ort,
woran sie sind.
({4})
Ich bitte Sie, sich zu einigen. Das ist positiv für die
betroffenen Menschen. Wenn Sie sich aber nicht einigen
können, dann lassen Sie uns die Sache zum Abschluss
bringen. Dann wissen die Menschen wenigstens, woran
sie sind.
Danke.
({5})
Das Wort hat nun Steffen Bilger für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Lärm ist derzeit in der politischen Debatte in der
Tat nicht zu überhören. Ob an Flughäfen, bei der Straße
oder der Schiene, landauf, landab wird bei vielen Infrastrukturprojekten gestritten und diskutiert. Auf der einen
Seite stehen die Bedürfnisse der Anwohner, für die wir
alle großes Verständnis haben. Auf der anderen Seite
steht unser Interesse, Mobilität zu ermöglichen, eine
funktionsfähige Infrastruktur zu haben und nicht zuletzt
unseren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft und zum
Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.
Hier müssen wir zu einem ausgewogenen Ausgleich
kommen.
({0})
- Dazu komme ich noch.
Heute diskutieren wir gleich über drei Anträge, die
sich alle in erster Linie mit dem Thema Schienenlärm
befassen. Ich habe für viele Forderungen in diesen Anträgen durchaus Sympathie.
({1})
Lärm ist wahrlich eine Plage. Sicherlich steigt heutzutage auch die Sensibilität der Bevölkerung für solche Belastungen und dadurch begründete Gesundheitsgefahren
an. Daher ist das richtig, was in den Oppositionsanträgen
zum Lärm an sich steht. Es ist vollkommen unstrittig,
dass wir Anwohner vor Lärm schützen müssen und es
unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lärm möglichst erst gar nicht entsteht, sondern schon an der Quelle
bekämpft wird.
({2})
In den Debatten über den SPD-Antrag zum Mittelrheintal und den Koalitionsantrag zur Rheintalbahn haben wir deutlich gemacht, wie sehr wir als Unionsfraktion die Bedürfnisse der lärmgeplagten Bevölkerung zu
unserem Anliegen gemacht haben. Wir stehen zu unserem Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Mehr Schutz vor
Lärm! - Besonders das gerade von Toni Hofreiter angesprochene Lärmprivileg der Schiene, das dazu führt,
dass an Schienenstrecken mehr Lärm geduldet wird als
an anderen Stellen, ist nicht mehr vertretbar und muss
daher abgeschafft werden.
({3})
Die Abschaffung des sogenannten Schienenbonus ist
erklärte Sache der christlich-liberalen Koalition. Dazu
bekennen wir uns mit Nachdruck, so auch heute und in
der Zukunft bei den weiteren Beratungen im Verkehrsausschuss. Wir sind die erste Regierungskoalition, die
sich darauf verständigt hat, den Schienenbonus abzuschaffen,
({4})
und damit nun ernst macht.
({5})
Wie sich alle Abgeordneten, die schon unter früheren
Regierungskonstellationen hier mitgearbeitet haben und
die es nicht so weit gebracht haben, dieses Thema anzupacken - manche haben sich das noch nicht einmal vorgenommen -, denken können, war es nicht ganz einfach,
bei der Abstimmung zwischen den verschiedenen beteiligten Politikern voranzukommen. Aber am Ende zählt
das Ergebnis. Diese Woche, meine Damen und Herren
von der Opposition, wurde die Ressortabstimmung zur
Abschaffung des Schienenbonus förmlich eingeleitet.
({6})
- Jetzt hätte ich von der Opposition mehr Anerkennung
und Applaus erwartet.
Zugegeben, auch wir hätten nichts dagegen gehabt,
wenn es etwas schneller zu Ergebnissen gekommen
wäre.
({7})
Nicht zuletzt hatten wir mit den Stimmen der Union und
der FDP bereits vor einem Jahr, im März, in Zusammenhang mit dem Thema Rheintalbahn im Deutschen Bundestag die Forderung nach Abschaffung des Schienenbonus bekräftigt und die Bundesregierung aufgefordert, die
dafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Wir stehen
zu unserem Wort und nehmen die Bundesregierung in
die Pflicht, den Entwurf zur Änderung des betreffenden
Gesetzes und der dazugehörigen Verordnung vorzulegen.
({8})
Der Schienenbonus wird abgeschafft. Das ist erst einmal eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland. Wir halten Wort. Gerne können wir in einer der
nächsten Verkehrsausschusssitzungen ins Detail gehen
und über einen eigenen Antrag unserer Fraktion beraten.
({9})
- Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Ressortabstimmung bereits eingeleitet ist. Hätten Sie es hinbekommen, als Sie noch an der Regierung waren, dann
brauchten Sie jetzt nicht so große Reden zu schwingen.
({10})
Wenn aber der Schienenbonus abgeschafft ist, dann
heißt das nicht, dass alle Schienenlärmprobleme beseitigt wären; denn die Abschaffung des Schienenbonus betrifft die Zukunft. Für bestehende oder bereits im Bau
befindliche sowie planfestgestellte Schienenstrecken
brauchen wir andere Lösungen. Wichtig ist dabei, dass
wir im gesamten Schienennetz durch unterschiedliche
Maßnahmen die Lärmemissionen nachhaltig reduzieren.
Innovative Maßnahmen am Fahrweg, andere Bremssysteme, verbesserter Lärmschutz durch bauliche Maßnahmen und auch Vereinbarungen über ein - das wird auch
im Antrag der Grünen gefordert - lärmabhängiges Trassenpreissystem - das alles sind Beispiele für weitere
Möglichkeiten der Lärmreduktion, die ein Lärmprivileg
der Schiene endgültig unnötig machen.
Das große und bedeutende Projekt Rheintalbahn, über
das wir schon mehrfach im Deutschen Bundestag diskutiert haben, ist zudem ein gutes Beispiel für andere Möglichkeiten der Politik. Da haben sich alle Beteiligten Kommunen, Land, Bund, Bürgerinitiativen und Deutsche
Bahn - zusammengesetzt und sind zu Lösungen gekommen. In diesem konkreten Fall gab es Zugeständnisse sowohl des Landes als auch des Bundes, vertreten durch den
Staatssekretär Scheuerle, die es unnötig machen, auf die
Abschaffung des Schienenbonus zu warten. Es wird vielmehr durch Vereinbarungen erreicht, dass Lärmschutz
durch andere Maßnahmen umgesetzt wird, ohne dass wir
die Abschaffung des Schienenbonus hier im Bundestag
beschließen müssten. Dabei muss uns Politikern klar sein,
dass es nicht ausreicht, immer nur nach dem Bund zu rufen; vielmehr müssen sich alle Beteiligten in die Pflicht
nehmen lassen.
Sie haben in Ihren Anträgen aber auch andere Themen angesprochen. Im SPD-Antrag zum Infrastrukturkonsens werden aus unserer Sicht in erster Linie Maßnahmen aus dem nationalen Verkehrslärmschutzpaket II
aufgegriffen, die ohnehin realisiert werden oder in anderem Zusammenhang bereits geprüft werden. Auch hier
hätte sicher manches schneller und weiter gehen können.
Allerdings dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nicht
vergessen, dass es immer um Geld geht.
({11})
Das fehlt an allen Ecken und Enden für die Infrastruktur.
Dieses Geld müssen wir erst einmal zur Verfügung stellen können.
Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Es tut sich etwas.
({12})
Wir machen viel für mehr Schutz vor dem Schienenlärm.
Ergänzend zu dem, was wir in Deutschland beschließen
können, wäre es bei einem mittlerweile kontinenteübergreifenden Schienenverkehr sicherlich sinnvoll, wenn
wir auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Lösungen
kommen könnten und die EU mittelfristig nur noch leise
Güterzüge in Europa zulassen würde. Auch hier sollten
wir und die Bundesregierung aktiv bleiben. Ich freue
mich auf weitere Fortschritte, die wir gemeinsam erreichen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere im Mittelrheintal! Herr Kollege Bilger, ich weiß nicht, ob ich
mich über Ihre Rede aufregen soll
({0})
oder einfach nur Mitleid haben soll mit Ihnen, die Sie
auf dieser Seite des Hauses sitzen.
({1})
Ich werde versuchen, im Laufe meiner Rede eine Antwort zu geben.
Um das Groteske an der Situation deutlich zu machen, will ich noch einmal die Gemeinsamkeiten feststellen, die hier im ganzen Hause - vielleicht bis auf den
Teil der Bundesregierung - bestehen. Wir stellen fest,
dass Millionen von Menschen durch Lärm von Straße,
Schiene und Luftverkehr beeinträchtigt sind. Hunderttausende sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie erleben in der Nacht Güterzüge, die mit über 100 Dezibel
an ihren Häusern vorbeifahren. Das ist wie ein Presslufthammer hier vor dem Rednerpult, vor den Reihen der
Koalition. Hunderttausende von Menschen erwarten von
uns eine Lösung. Auch die Volkswirtschaft wird im Umfang von über 10 Milliarden Euro im Jahr geschädigt.
Wir sind uns hier im Hause darüber einig, dass wir
den Schienenbonus abschaffen wollen, dass wir lärmabhängige Trassenpreise brauchen,
({2})
dass eine ganze Reihe von wirksamen Baumaßnahmen,
die wir mit dem Projekt „Leiser Rhein“ oder dem Konjunkturprogramm eingeleitet haben, umgesetzt werden
müssen. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir die
Güterverkehrswagen umrüsten wollen. Diese gemeinsame Position vertreten wir auch vor Ort. Ich sehe hier
den Kollegen Michael Hartmann, der das Mittelrheintal
aus eigenem Erleben und eigenem Hören sehr gut kennt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch mehr
Gemeinsamkeiten. Im rheinland-pfälzischen Landtag
der letzten Wahlperiode und auch der neuen Wahlperiode wurden einstimmige Beschlüsse gefasst, also mit
der Union, mit der FDP, in denen all das vom Bund gefordert wird.
({3})
Jetzt ist die spannende Frage: Warum geht es nicht
voran, lieber Kollege Bilger? Weil wir hier die Koalition
der Verweigerung und der Vertagung haben! Sie kriegen
es nicht auf die Reihe. Jetzt ist Schluss mit lustig! Der
Kollege Hofreiter hat ja schon erwähnt: Es gibt sehr
viele Themen - von der Vorratsdatenspeicherung bis hin
zum Betreuungsgeld -, bei denen Sie keine Problemlösung finden.
({4})
Für die Frage, um die es hier geht, die die Menschen betrifft, hätten wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Ich sage Ihnen, wo das Problem sitzt: hier auf der Regierungsbank, vielleicht noch etwas um die Ecke. Herr Kollege Bilger, ich darf zitieren, was Kanzleramtsminister
Pofalla gesagt hat. Ich zitiere die Rheinische Post vom
21. April dieses Jahres:
Die Bundesregierung wird nicht am Schienenbonus
rütteln.
({5})
Ein weiteres Zitat:
In dieser Legislaturperiode werden wir den Schienenbonus nicht anpacken.
({6})
Das sagt Ihr Kanzleramtsminister. Und was sagt die
Koalition?
({7})
Haben Sie in diesen Reihen hier überhaupt noch etwas
zu sagen? Ich denke, bei Ihnen muss etwas passieren.
({8})
Sie können nicht weiterhin versuchen, das Problem auszusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Ich weiß,
dass wir ab September 2013 das Problem anpacken werden.
({9})
Aber schöner wäre es natürlich für die Menschen, wenn
wir die gemeinsame Position hier vorher beschließen
könnten und Sie sich nicht hinter der Entscheidung Ihrer
Regierung und Ihrer Haushälter verstecken würden.
Wenn ich Ihre Reihen hier sehe, frage ich mich, wo die
Kolleginnen und Kollegen von der Union sind, die im
Mittelrheintal immer so tun, als wären sie die großen
Macher in Sachen Schienenlärm.
({10})
Wo sind die Kollegen Granold, Bleser und der General
Schnieder, der Generalsekretär Schnieder? - Aber jeder
hat so seine Prioritäten.
({11})
Herr Kollege Bilger, Sie haben die Kosten angesprochen. Vielleicht werden Sie sich in Ihren Reihen auch
einmal darüber einig, um welche Kosten es geht. Der
Bundesminister sagt: Jedes Dezibel beim Schienenbonus
kostet mich 1 Milliarde Euro. Ihr Kanzleramtsminister
spricht in der Rheinischen Post von 15 Milliarden Euro.
Vielleicht können Sie innerhalb der Bundesregierung
einmal eine Abstimmung herbeiführen.
Ich sage Ihnen etwas zum Thema Geld. Es war für Sie
in den ersten Tagen der Koalition doch kein Problem,
den Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen
herabzusetzen
({12})
und 1 Milliarde Euro jedes Jahr zum Hotelfenster hinauszuwerfen, wo wir doch die Hotelfenster im Mittelrheintal schließen müssen, weil es zu laut ist.
({13})
Herr Kollege Döring, es ist intellektuell unwürdig,
dass Sie zwar in Ihren Reihen anerkannt haben,
({14})
dass es eine falsche Entscheidung war, aber nicht genug
Mumm in den Knochen haben, um diesen Fehler zu korrigieren.
({15})
Ich sage Ihnen: Die Sache mit der Mehrwertsteuer
kriegen Sie bei jeder Rede von mir auf den Tisch gelegt bis zum Ende der Wahlperiode.
({16})
Es gibt eine zweite Geldquelle, die man anzapfen
könnte. Sie hätten auch unsere Zustimmung, Herr Bundesminister, wenn Sie die Zwangsdividende der DB AG
vielleicht auch dafür verwenden würden, dem Unternehmen beim Umrüsten zu helfen.
({17})
Es gibt klare Forderungen der SPD. Wir würden Sie
auch jederzeit hier im Deutschen Bundestag dabei unterstützen, das Umrüsten der Güterwagen jetzt und nicht
erst dann vorzunehmen,
({18})
wenn die LL-Sohle in zwei oder drei Jahren zugelassen
ist. Das würde 10 Dezibel bringen - eine Verminderung
des Lärms um die Hälfte.
({19})
Sie haben von uns eine klare Zustimmung zur Abschaffung des Schienenbonus.
Als letzten Punkt will ich noch die Alternativtrasse
Mittelrheintal ansprechen.
({20})
Herr Bundesminister, Sie haben auf der Verkehrsministerkonferenz Äußerungen gegenüber dem rheinlandpfälzischen Verkehrsminister gemacht,
({21})
die über die Presse unterschiedlich weitergegeben sind.
Aber vielleicht kann der Kollege Holmeier, der gleich
für die CSU sprechen wird, noch erklären:
({22})
Sind Sie nun dafür, dass eine solche alternative Trasse
im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans geprüft wird,
oder nicht? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht den
Lärm bei den Menschen reduzieren? Geben Sie darauf
eine Antwort.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Zuschauer! Liebe Kollegen Dr. Hofreiter und
Herzog! Sie kennen alle die Sprichwörter „Gut Ding will
Weile haben“ und „Rom wurde auch nicht an einem Tag
erbaut“.
({0})
Wie vorhin schon festgestellt wurde, hat dieses
schwierige Thema ja weder ein SPD-Verkehrsminister
- das waren immerhin elf Jahre - noch ein grüner Umweltminister - sieben Jahre - in Angriff genommen.
({1})
Insofern sollten Sie, meine ich, auch 2013 keine Chance
mehr haben, dieses Thema noch einmal aufzugreifen;
denn dann ist es schon erledigt.
Die christlich-liberale Koalition ist sich längst einig
- das wissen Sie auch -, den Schienenbonus von
5 dB schrittweise zu reduzieren - mit dem Ziel, ihn
in dieser Legislaturperiode ganz abzuschaffen. Das haben wir so in unserem Koalitionsvertrag festgelegt.
({2})
Wir haben inzwischen Schritte unternommen. Das wissen Sie auch. Wir haben im Deutschen Bundestag den
Auftrag an die Bundesregierung gegeben, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzubereiten.
Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir schon
weiter wären - das Thema ist aber, wie gesagt, sehr
schwierig - und heute einen entsprechenden Entwurf
hier vorliegen hätten. Manchmal sind die Dinge aber so,
wie sie sind. Und auch in einer schwarz-gelben Bundesregierung kann es vorkommen, dass die Mühlen einer
Ministerialbürokratie langsam - vielleicht etwas sehr
langsam - mahlen.
({3})
Aber noch einmal, damit hier keine Zweifel aufkommen: Für die Koalition bleibt die Abschaffung des
Schienenbonus in dieser Legislaturperiode eines ihrer
zentralen verkehrspolitischen Anliegen.
({4})
Unser Ziel ist, dass alle Planfeststellungsverfahren ab
2016 ohne die einseitige und nicht mehr tragfähige Bevorteilung der Schiene geplant werden. Was wir aber
nicht wollen, ist, in bestehende Planfeststellungsverfahren einzugreifen.
({5})
Deshalb wollen wir die gesetzgeberisch deutliche Linie
2016. Nur so gibt es Klarheit und Planungssicherheit für
alle Seiten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch generell Folgendes anmerken: Wir müssen den Lärmschutz
an der Schiene verbessern; denn nur so erhalten wir die
für den dringend benötigten Infrastrukturausbau notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung.
({6})
Wir brauchen die Schiene als modernen, leistungsfähigen und umweltschonenden Verkehrsträger. Ich kann
die Menschen gut verstehen, die das Mehraufkommen
von Verkehr auf der Schiene und den damit in Zusammenhang stehenden Lärm in ihren Wohnungen und Häusern nicht mehr hinnehmen wollen. Um diese Balance
und Akzeptanz zu erhalten, ist die Abschaffung des
Schienenbonus unerlässlich.
({7})
Der Schienenbonus ist angesichts der hohen Zuwächse beim Schienengüterverkehr und neuerer Erkenntnisse heute nicht mehr gerechtfertigt.
({8})
Von mancher Stelle hört man, dass die Abschaffung
des Schienenbonus zu teuer sei und Schienenprojekte
durch Umplanungen verzögert würden. Das ist nicht
richtig; denn laufende Planfeststellungsverfahren, wie
bereits gesagt, sind nicht betroffen. Umplanungen sind
daher auch nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass alle
ab dem Jahr 2016 neu geplanten Projekte durch mehr
und bessere Lärmschutzmaßnahmen teurer werden.
({9})
Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, dass wir wegen
der Abschaffung des Schienenbonus eine höhere Haushaltslinie benötigen.
Wir müssen uns immer vor Augen halten: Wenn der
Schienenbonus bestehen bleibt und wir Anwohnern von
zukünftigen Bahnstrecken keinen angemessenen Lärmschutz bieten können, dann werden wir bald gar nicht
mehr bauen können.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wilms?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie reden hier so vollmundig, als ob das Gesetz bis zum Ende der Wahlperiode schon in Kraft treten könnte. Sehen Sie sich einmal
an, wie viel Zeit wir noch bis 2013 haben. Dann reden
Sie davon, dass der Schienenbonus stufenweise abgeschafft werden soll.
Vollständig, sagte ich.
Sie haben aber vorher „stufenweise“ gesagt. Sie widersprechen sich.
Nein, nein, stufenweise und vollständig in dieser Legislatur.
Das passt nicht zusammen. Liefern Sie endlich!
Sie werden sich wundern, was wir in der verbleibenden Zeit noch alles leisten können.
({0})
Beim Lärmschutz an Bahnlinien handelt es sich nicht
nur um eine Einzelmaßnahme. Die Abschaffung des
Schienenbonus ergänzt die Gesamtkonzeption des Bundes zur Lärmbekämpfung im Schienenverkehr. Wesentlicher Inhalt ist die Lärmreduzierung an der Schallquelle.
Dies wird insbesondere durch die von der Bundesregierung bereits angestoßenen Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems und durch die Umrüstung
von Güterwagen auf die lärmarme K-Sohle, genannt die
Flüsterbremse, erreicht. Allein diese Maßnahme - ich
glaube, Herr Herzog sagte es - führt zu einer Reduzierung des Lärms um 10 dB und damit zu einer Halbierung des subjektiven Lärmempfindens.
({1})
- Sehen Sie.
Mit einem Zitat von Goethe - Sie sehen, ich will auch
kritisch sein -, gerichtet an die Regierungsbank, will ich
enden: Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns
endlich Taten sehen!
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor
25 Jahren hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen
die damalige CDU-FDP-Bundesregierung umfassend
über die schädliche Wirkung von Lärm unterrichtet. Inzwischen ist die Kernbotschaft vielfach bestätigt worden: Lärm macht krank - vor allem, wenn er den Nachtschlaf stört.
Schallpegel von mehr als 60 Dezibel am Tag und
50 Dezibel in der Nacht müssen als gesundheitliche Bedrohung angesehen werden. Das heißt für unsere Bevölkerung: Fast ein Drittel ist Tag und Nacht von Straßenlärm bedroht. Beim Schienenlärm sind es tagsüber rund
9 Prozent und nachts über 20 Prozent.
Wenn Sie im Rheintal unterwegs sind, dann können
Sie es körperlich spüren, wie der höllische Krach alles
kaputt machen kann. Die Güterzüge, die mitten durch
die Ortschaften fahren, werden immer mehr. Sie fahren
vor allem in der Nacht. Sie werden immer schneller und
immer schwerer beladen. Oft sind die Waggons alt und
die Gleise ungepflegt. 110 Dezibel - der Kollege Herzog
hat es gerade geschildert - sind keine Seltenheit. Das
entspricht dem Lärm von Kettensägen und Presslufthammern. Dass der Gesetzgeber, also die Mehrheit in diesem
Parlament, dieser Art von fahrlässiger Körperverletzung
nicht Einhalt gebietet, ist ein Skandal.
({0})
Es ist doch verrückt, dass die Straßenbahnen und Personenzüge inzwischen ziemlich leise fahren, weil die öffentlichen Auftraggeber darauf Wert legen. Aber dort,
wo private Unternehmen, vor allem große Konzerne,
ihre Produkte zwischen den Standorten in ganz Europa
transportieren, um mehr Gewinn zu machen, bleibt es
laut,
({1})
ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist nicht akzeptabel.
({2})
Es fehlt nicht an konkreten Möglichkeiten, wie man die
Anwohnerinnen und Anwohner entlasten kann, wie man
eine moderne Güterbahn mit Ausbauperspektive schaffen und dabei noch die Volkswirtschaft von unnötigen,
auf Lärm zurückzuführende Krankheitskosten entlasten
kann.
Wir haben bereits vor einem Jahr einen 14 Punkte
umfassenden Antrag eingebracht. SPD und Bündnis 90/
Die Grünen reichen schon seit längerem Anträge mit
sehr guten Vorschlägen ein,
({3})
und es gibt sehr kompetente Forderungen seitens der
Bürgerinitiativen. Nur von der Regierungskoalition
kommt fast gar nichts.
Sie stellen jetzt die lärmabhängigen Trassenpreise in
den Mittelpunkt und wollen die Sache damit im Grunde
dem Markt überlassen. Aber der Markt wird es nicht
richten, jedenfalls nicht vor dem Sankt-NimmerleinsTag.
({4})
Es geht hier um die Gesundheit und Lebensqualität von
rund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Für die
muss der soziale Staat, muss eine gute Regierung und
muss dieses Parlament Verantwortung übernehmen, und
zwar jetzt.
({5})
Sorgen Sie dafür, dass die Graugussbremsen als
schlimmste Lärmquelle verboten werden, so wie es die
Schweiz vormacht.
({6})
Investieren Sie in besseren Bahnverkehr. Nicht nur an
neuen, sondern auch an den bestehenden Strecken
braucht es Lärmschutz. Schaffen Sie schließlich den unsinnigen Schienenbonus ab; lasten Sie alle gesellschaftlichen Kosten den Verursachern an, beim Straßen- und
Flugverkehr genauso wie bei den Güterzügen.
({7})
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Leidig, wenn es nach Ihnen gehen würde, dann
würden wir alle in Deutschland wieder zu Fuß gehen,
und niemand hätte mehr ein Fahrzeug.
({0})
- Das wäre Ihnen recht. - Zunächst möchte ich allen ein
herzliches Dankeschön dafür sagen, dass wir im Grunde
alle der gleichen Meinung sind: Verkehrslärm ist für die
Menschen ein großes Problem und eine Belastung. Darin
sind wir uns einig. Damit bin ich mit meiner Freude aber
leider schon am Ende.
Sehr verehrte Oppositionskollegen, Sie machen mit
den hier zur Debatte stehenden Anträge zwar viel Lärm,
nennenswerte Lösungsansätze oder gar Vorschläge zur
Finanzierung einzelner Forderungen kann ich in den Anträgen bedauerlicherweise aber nicht finden.
({1})
Stattdessen greifen Sie vielfach nur Maßnahmen aus
dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II auf, die bereits realisiert sind oder die sich noch in der Prüfung befinden, und satteln noch einmal drauf.
Zunächst möchte ich an dieser Stelle einmal Folgendes klarstellen: Wenn wir über Lärmbelastung der Menschen sprechen, dann ist es aus meiner Sicht und aus der
Sicht der christlich-liberalen Koalition vollkommen
egal, von welchem Verkehrsträger der Lärm ausgeht.
Ihre Oppositionsanträge widmen sich ausschließlich
dem Straßen- und dem Schienenverkehrslärm. Ich sage
aber ganz klar, und dazu stehen wir als Koalition: Unsere
Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, Belastungen durch
Verkehrslärm jeglicher Art so gering wie möglich zu halten. Genau das tun wir.
Das bereits erwähnte Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthält erstmals klare Vorgaben, in welchem
konkreten Maß die Belastungen durch Verkehrslärm gemindert werden sollen.
({2})
- Was hat denn der Tiefensee gemacht? Nichts hat er
gemacht.
({3})
In diesem Konzept ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020
den Flugverkehrslärm um 20 Prozent zu verringern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Willsch?
Gerne, ja.
({0})
Lieber Herr Kollege Holmeier, durch den Zwischenruf des Kollegen Herzog bin ich angeregt, Ihnen eine
Frage zu stellen. Da geht einem wirklich die Hutschnur
hoch. Mein Wahlkreis ist der Rheingau, wo jeden Tag
250 schwere Güterzüge durchdonnern. Seit 1998, seitdem ich in diesem Parlament bin, beschäftige ich mich
mit diesem Thema. Jedes Jahr gab es bei euch einen anderen Verkehrsminister. Ich habe selten eine Antwort
von dem Verkehrsminister bekommen, an den ich geschrieben habe.
({0})
Weil hier die Haushälter beschimpft werden, möchte
ich sagen: Wir haben in 2008 für den Haushalt 2009
durchgesetzt, dass eine Umrüstung des rollenden Gerätes aus den Haushaltsmitteln möglich ist. Dann hat
Tiefensee geschlafen und das Notifizierungsverfahren
nicht vorangetrieben. In 2010 ist der Bescheid endlich
übergeben worden. Damit kann die Bahn umrüsten. Das
muss auch endlich geschehen. Dabei muss die Bahn ein
bisschen schneller werden. Meine Frage ist, ob Sie dem
zustimmen. Das, was wir politisch ermöglicht haben,
muss die Bahn nun endlich umsetzen.
Es ist nicht akzeptabel, dass in Assmannshausen in
meinem Wahlkreis jeden Tag Güterwaggons mit einer
Lautstärke von bis zu 103 Dezibel vorbeifahren und die
Schranke in Rüdesheim am Tag acht bis zehn Stunden
heruntergelassen ist. So kann es nicht gehen.
({1})
Wir wissen, die Koalition kümmert sich um dieses
Thema. Wir wollen den Fluglärm um 20 Prozent reduzieren und den Schienenlärm um 50 Prozent. Damit ist
natürlich die Umrüstung der Wägen verbunden. Wir
können heute nur deutsche Wägen umrüsten. Angesichts
dessen wäre es vielleicht sinnvoll, ein europäisches Förderprogramm zu schaffen, damit die Wägen in den Ländern der Europäischen Union umgerüstet werden können. - Vielen Dank, Herr Kollege.
Herr Kollege, die Kollegin Wilms möchte eine Zwischenfrage stellen.
Leider kann ich sie nicht beantworten. Wenn Sie meinen Flieger stoppen können, dann lasse ich auch diese
Frage zu.
Das erklärt Ihre Antwort.
Hinzu kommen im Koalitionsvertrag beschriebene
Maßnahmen wie die Einführung einer lärmabhängigen
Trassenpreisgestaltung bei der Bahn und die Änderung
des Fluglärmschutzgesetzes, damit Anwohner an Militärflughäfen gleiche Ansprüche auf Erstattung von
Lärmschutzkosten haben wie die Anwohner von Verkehrsflughäfen. Sie sehen: Uns geht es um die Menschen, die von Verkehrslärm betroffen sind, ungeachtet
der Lärmquelle. Denn den Menschen ist es egal, woher
der Lärm kommt.
Mit Blick auf die lärmabhängigen Trassenpreise will
ich noch einmal betonen, dass wir es waren, die dieses
Thema aktiv angegangen sind. Bereits in unserem Antrag zur Rheintalbahn vom Frühjahr letzten Jahres haben
wir die Bundesregierung aufgefordert, hierzu eine entsprechende Regelung zu treffen. Unser Verkehrsminister
Peter Ramsauer hat angekündigt, das Trassenpreissystem noch heuer zum Fahrplanwechsel 2012/2013 einzuführen. Wir halten keine Sonntagsreden, wir handeln,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition.
In dem eben erwähnten Antrag vom vergangenen Jahr
haben wir im Übrigen auch die Bundesregierung dazu
aufgefordert, den Schienenbonus abzuschaffen. Trotz
vieler Probleme bei diesem Thema - das wurde bereits
einige Male angesprochen -, gerade was den Transitverkehr auf der Schiene betrifft, ist unter CSU-Verkehrsminister Ramsauer Bewegung in diese Sache gekommen.
Die Bundesregierung hat jetzt die Ressortabstimmung
zur Änderung der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen eingeleitet, um den Schienenbonus tatsächlich abzuschaffen. Hier zeigt sich also wieder: Wir handeln. Die
Vorgängerregierungen mit SPD-Verkehrsministern haben zehn Jahre lang nichts zustande gebracht.
Wir kümmern uns natürlich auch um die Menschen
im Mittelrheintal, zu dem Sie extra einen Antrag eingebracht haben. Auch hier finde ich erstaunlich, dass Sie
bis Herbst 2009 über zehn Jahre lang Zeit hatten, sich
unter sozialdemokratischer Regentschaft im Bundesverkehrsministerium um das Mittelrheintal zu kümmern.
Nichts ist passiert.
Da musste erst ein CSU-Minister in das Haus einziehen, um festzustellen, dass für den gesamten Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse/Rhein/Main-Rhein/Neckar-Karlsruhe geeignete verkehrliche Konzeptionen
fehlen. Kaum ist dies geschehen, springen Sie auf den
Zug auf und machen Lärm. Auf Initiative von Verkehrsminister Dr. Ramsauer wurde nun eine entsprechende
Studie für den Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse ausgeschrieben.
({0})
Die dabei zu ermittelnden Optimierungsmaßnahmen sollen nach den Plänen des Ministers noch im Vorfeld des
Bundesverkehrswegeplans 2015 angegangen werden.
({1})
Hierbei werden sicher auch alternative Streckenführungen für den Güterverkehr geprüft werden.
Was die Forderung nach kurz- und mittelfristigen
Maßnahmen angeht, so weise ich nur auf das Pilotprojekt „Leiser Rhein“ hin, mit dem das Verkehrsministerium die Umrüstung von bis zu 5 000 Güterwägen auf
lärmarme Bremssohlen fördert. Zudem hat auch die
Bahn angekündigt - hören Sie gut zu! -, mithilfe eines
sogenannten Lärmbeauftragten einen Ansprechpartner
für alle Fragen zu Lärmbelästigungen, Lärmbelastungen
und Lärmschutz an Schienenwegen zu schaffen. Damit
können Aufgaben und Kompetenzen besser gebündelt
und Probleme einfacher angegangen werden.
Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition packt an. Sie tut
tatsächlich etwas für den Schutz der Menschen vor
Verkehrslärm. Die vorliegenden Oppositionsanträge machen hingegen viel Lärm um nichts.
Danke. Schönes Wochenende!
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Valerie Wilms.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Holmeier, jetzt
werden Sie vielleicht doch noch Ihren Flieger verpassen.
Aber kommen wir schnell zur Sache: Ich sehe beim besten Willen nicht, dass Sie da auf irgendeine Art und
Weise in Gang gekommen sind. Schauen Sie sich doch
einmal an, was dort bislang läuft. Die Trassenpreiskonstruktion - das lärmabhängige Trassenpreissystem, das
Sie jetzt einführen wollen - funktioniert doch gar nicht.
Sie setzen bei der LL-Sohle auf ein System, das nicht zugelassen ist. Niemand weiß, ob es überhaupt jemals zugelassen wird. Das, was funktioniert, was in der Schweiz
vorhanden ist, können Sie mit dem lärmabhängigen
Trassenpreissystem als Anreiz gar nicht finanzieren.
Sie machen hier also wirklich viel Lärm um nichts.
({0})
Sie haben uns eben etwas über Fluglärm erzählt. Der
steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Also tun Sie jetzt
wirklich einmal Butter bei die Fische und schaffen Sie
endlich den Schienenbonus ab. Denn das wäre etwas,
das bei jedem neuen Projekt sofort wirksam würde, weil
dann der Vorteil der Bahn - Stichwort 5 dB - endlich
wegfällt.
({1})
Kollege, wollen Sie reagieren? - Bitte schön.
Wir sind jetzt dabei, den Schienenbonus abzuschaffen, und bringen es auf den Weg. Die Vorgängerregierungen hatten Zeit: Die SPD hat zehn Jahre lang einen
Verkehrsminister gestellt; passiert ist nichts. Die rotgrüne Regierung hatte Zeit; passiert ist nichts. Wir werden es auf den Weg bringen; wir werden ab Herbst die
lärmabhängigen Trassenpreise haben. Ich glaube, das ist
ein guter und richtiger Weg; das wird ein erfolgreicher
Weg sein.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 38:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen
für junge Menschen in Deutschland
- Drucksache 17/9397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Das haben folgende Kolleginnen und Kollegen getan: Ingrid Fischbach, Stefan
Schwartze, Florian Bernschneider, Diana Golze, Ekin
Deligöz, Peter Tauber, Sönke Rix.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9397 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Mai 2012, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.