Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich.
Vor Aufrufen unseres Zusatzpunktes 1 habe ich Ihnen
bekannt zu geben, dass die Fraktionen CDU/CSU und
Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt haben, dass die Kollegen Helmut Brandt und Wolfgang Bosbach als ordentliches Mitglied bzw. als stellvertretendes Mitglied des
Vermittlungsausschusses ausscheiden. Die bisher als
stellvertretendes Mitglied berufene Kollegin Britta
Haßelmann soll als neues ordentliches Mitglied bestimmt werden. Ihre Stellvertretung soll die Kollegin
Renate Künast übernehmen. Als neuer Stellvertreter des
Kollegen Volker Beck ist der Kollege Jürgen Trittin benannt worden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
auch deshalb besonders zu begrüßen, weil damit eine
lang schwebende Frage offensichtlich einvernehmlich
gelöst ist. Damit sind die Kollegen Britta Haßelmann als
ordentliches Mitglied und die Kollegen Renate Künast
und Jürgen Trittin als stellvertretende Mitglieder im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am
Donnerstag und Freitag dieser Woche zu erweitern.
Dieser Tagesordnungspunkt soll jetzt sofort als Erstes
aufgerufen werden. - Auch dazu darf ich Ihr Einverständnis feststellen. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 in
Brüssel
Zur Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat ist interfraktionell vereinbart, dass die Aussprache im Anschluss an die
Regierungserklärung eineinhalb Stunden betragen soll. Das ist einvernehmlich.
Dann darf ich hiermit das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin erteilen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise bestimmt seit mehr als
zwei Jahren die Agenda der Europäischen Räte. Dies gilt
auch für den morgen beginnenden Gipfel.
Weil ich die Erwartungen und Hoffnungen kenne, die
sich auch auf diesen Gipfel richten, wiederhole ich
gleich zu Beginn noch einmal, was nicht oft genug gesagt werden kann: Es gibt keine schnellen, und es gibt
keine einfachen Lösungen. Es gibt nicht die eine Zauberformel oder den einen Befreiungsschlag, mit dem die
Staatsschuldenkrise ein für alle Mal überwunden werden
kann. Nein, wenn es uns gelingen soll, die Krise dauerhaft zu überwinden, dann gibt es nur die Möglichkeit,
diese Herausforderungen als einen Prozess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen zu verstehen, der das
Problem im Übrigen an der Wurzel packt. Alles andere
ist von vornherein zum Scheitern verurteilt; bestenfalls
ist es Augenwischerei.
Unser Wegweiser aus der Krise kann deshalb unverändert einzig die schonungslose Analyse ihrer Ursachen
sein: Das ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Staaten, das sind grundlegende Fehler in der
Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion, und
das ist natürlich die massive Staatsverschuldung. Diese
Probleme sind hausgemacht, und diese hausgemachten
Probleme müssen wir lösen, ohne Wenn und Aber. Dazu
ist es unumgänglich, nichts zu versprechen, was wir
nicht halten können, und konsequent das umzusetzen,
was wir beschlossen haben.
({0})
Das Ergebnis eines solchen Handelns ist Verlässlichkeit, und Verlässlichkeit ist die Voraussetzung für Vertrauen. Dieses hohe Gut „Vertrauen“ ist seit Gründung der
Wirtschafts- und Währungsunion nur zu oft mit Füßen getreten worden. Um dieses Vertrauen wiederzugewinnen
oder überhaupt erst zu schaffen, hat die Bundesregierung
von Anfang an dafür gearbeitet, die Wirtschafts- und
Währungsunion stark und dauerhaft tragfähig zu machen.
Erstens. Wir arbeiten dafür, den Teufelskreis aus
Schuldenmachen und Regelverstößen zu durchbrechen
und einen Rechtsrahmen zu schaffen, der die Mitgliedstaaten der Euro-Zone dauerhaft zu soliden Staatsfinanzen verpflichtet. Dazu wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt. Der Fiskalvertrag wurde im März
dieses Jahres unterzeichnet. Übermorgen steht er hier
und im Bundesrat zur Abstimmung.
Zweitens. Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt, einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus zu schaffen, um zukünftige Gefahren für die Stabilität der Euro-Zone wirksam abwehren zu können. Auch
über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM,
der so bald wie möglich an die Stelle des temporären
Rettungsschirms treten soll, wird übermorgen im Bundestag und im Bundesrat abgestimmt.
Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ein. Die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, das ist die Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum. Diesem Ziel diente bereits der im März
letzten Jahres beschlossene Euro-Plus-Pakt, und diesem
Ziel dienten die Beratungen bei allen Europäischen Räten in diesem Jahr über die Frage, wie wir Wachstum
und vor allen Dingen Arbeitsplätze schaffen können,
ohne dass dies auf Pump geschieht.
Konsolidierung und nachhaltiges Wachstum bedingen
einander. Auf Dauer ist das eine nicht ohne das andere
zu haben.
({1})
Es ging und es geht also nicht um Sparen um des Sparens willen, sondern darum, Spielräume für eine nachhaltige Haushaltspolitik zurückzugewinnen, für eine
Haushaltspolitik, die nicht auf Kosten kommender Generationen gemacht wird. Darüber - das haben die intensiven und konstruktiven Gespräche der letzten Wochen
gezeigt - besteht inzwischen auch breiter und fraktionsübergreifender Konsens in diesem Hause. Dafür danke
ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deutschland gibt sowohl mit einer am Ergebnis orientierten Diskussionskultur als auch mit dem Inhalt der Beschlüsse, die wir vorhin im Kabinett verabschiedet haben und die wir am Freitag im Bundestag und im
Bundesrat beschließen werden, ein starkes Signal nach
innen wie nach außen.
({2})
Es ist ein Signal der Entschlossenheit und der Geschlossenheit, die europäische Staatsschuldenkrise zu überwinden, und zwar nachhaltig. Genau darum, um Nachhaltigkeit, hat es zu gehen, nicht um Strohfeuer.
Wenn wir morgen in Brüssel dem Fiskalvertrag einen
kraftvollen Pakt für Wachstum und Beschäftigung an die
Seite stellen, dann werden deshalb ganz oben auf der
Wachstumsagenda auch weiterhin die Strukturreformen
der Mitgliedstaaten für mehr Wettbewerbsfähigkeit stehen. Sie sind der Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum.
Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden. Erste
Erfolge sind in einer Reihe von Mitgliedstaaten zu verzeichnen. Dies gilt insbesondere für die Programmländer
Irland und Portugal, die eindrucksvoll bestätigen, wie
der Ansatz aus Konsolidierung und Strukturreformen,
flankiert durch solidarische europäische Unterstützung,
gelingen kann.
Italien hat mit Mario Monti den Weg hin zu soliden
öffentlichen Finanzen, Wachstum, Beschäftigung und
Wettbewerbsfähigkeit eingeschlagen. Spanien hat mit
Mariano Rajoy und seiner Regierung im letzten halben
Jahr wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Es ist
richtig, dass er für die Herausforderungen im Bankensektor, die im Übrigen auf Fehlentwicklungen im Immobilienbereich in den letzten 10 bis 15 Jahren beruhen,
jetzt auf die europäischen Hilfsinstrumente zurückgreift,
die ja genau für diesen Zweck geschaffen wurden.
Meine Damen und Herren, es steht völlig außer Zweifel: Alle Mitgliedstaaten, auch Deutschland, müssen ihre
Hausaufgaben machen, die ihnen die Europäische Kommission - zum ersten Mal im Übrigen im Rahmen des
neuen Stabilitätspakts - in ihren Länderberichten aufgegeben hat.
Dies werden wir beim Europäischen Rat zusammen
mit den Partnern noch einmal bekräftigen. Ich möchte
der Kommission ausdrücklich für die sehr ehrlichen und
sehr spezifischen Berichte danken. Auf dieser Grundlage
kann die gezielte europäische Unterstützung und Förderung nationaler Maßnahmen erfolgen.
Ein gutes Beispiel dafür, wie beides ineinandergreifen
kann, ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.
Ich werde auf dem Rat dafür eintreten, dass sich alle
Mitgliedstaaten verbindlich verpflichten, jedem Jugendlichen binnen weniger Monate nach Schulabschluss oder
Jobverlust ein hochwertiges Angebot für eine neue Arbeitsstelle, eine Aus- oder Weiterbildung oder ein Praktikum zu machen.
Zudem sollen befristete Einstellungszuschüsse aus
dem Europäischen Sozialfonds finanziert werden können. Damit sollen für Unternehmen Anreize gesetzt werden, Jugendliche auszubilden oder einzustellen.
({3})
Darüber hinaus sollten wir junge Menschen bei der
Arbeitsuche in anderen EU-Mitgliedstaaten unterstützen. „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ - so heißt die
Initiative des Europäischen Portals für berufliche Mobilität, die genau das leisten will und die wir erweitern und
finanziell aufstocken sollten. Die Bundesarbeitsministerin wird sich auf europäischer Ebene intensiv dafür einsetzen, dass wir neben dem Binnenmarkt auch mehr Mobilität auf den Arbeitsmärkten bekommen.
({4})
Außerdem werde ich mich beim Europäischen Rat
weiterhin dafür starkmachen, EU-Finanzmittel insgeBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
samt stärker zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit
und Wachstum einzusetzen.
Dazu gehört zum einen, noch nicht abgerufene Mittel
aus den europäischen Strukturfonds - das könnten noch
etwa 65 Milliarden Euro sein - rasch und gezielt für Investitionen einzusetzen, die ganz besonders Wachstum
und Beschäftigung fördern. Laut Kommission konnten
bis Mai bereits circa 7,3 Milliarden Euro für die Verbesserung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche und für einen verbesserten Zugang kleiner und mittlerer Unternehmen zu Finanzmitteln mobilisiert werden.
Die Kommission schätzt, dass davon mindestens
460 000 Jugendliche und 56 000 kleine und mittlere Unternehmen profitieren würden.
Um EU-Finanzmittel stärker zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum einzusetzen, gehört
zum anderen auch, das Eigenkapital der Europäischen
Investitionsbank um 10 Milliarden Euro aufzustocken.
Damit könnten, so die Europäische Kommission, in den
nächsten vier Jahren Kredite in Höhe von insgesamt
60 Milliarden Euro zusätzlich gewährt werden.
({5})
Schließlich gehört auch die Pilotphase zu der Projektanleiheninitiative dazu. Sie muss zügig begonnen werden. Wenn es geeignete Projekte gibt, können wir sie bis
2013 aufstocken. Mit einer Absicherung von 1 Milliarde
Euro aus dem EU-Haushalt könnten, so die Kommission, Investitionen in Höhe von bis zu 5 Milliarden Euro
mobilisiert werden.
Insgesamt geht es bei den von mir dargestellten Maßnahmen um 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union oder, anders gesagt, um etwa 130 Milliarden Euro, die wir zusätzlich in Wachstum investieren
können. Das ist ein starkes Signal.
Der Gedanke von Wachstum und Beschäftigung muss
uns darüber hinaus in den Verhandlungen über den
nächsten EU-Finanzrahmen leiten; denn auch auf europäischer Ebene müssen wir dazu kommen, Wege zu finden, wie begrenzte Ressourcen am sinnvollsten eingesetzt werden können. Dazu hat Deutschland zusammen
mit gleichgesinnten Mitgliedstaaten eine Debatte unter
der Überschrift „Better spending“ eingefordert. Ziel ist
es also, den EU-Haushalt 2014 bis 2020, der immerhin
ein Volumen von rund 1 000 Milliarden Euro haben
wird, eindeutig auf die Förderung von Wachstum und
Beschäftigung auszurichten.
Meine Damen und Herren, neben dem Pakt für
Wachstum und Beschäftigung wird ein weiterer Schwerpunkt des Europäischen Rates die Finanzstabilität im
Euro-Raum sein. Die Ratifikation des ESM-Vertrags in
den Euro-Staaten ist weit fortgeschritten. Die Situation
in Spanien zeigt, wie wichtig es ist, auch den Bankensektor verstärkt in den Blick zu nehmen und Ansteckungsgefahren zwischen Banken und Staatsfinanzen zu
verringern. Zu diesem Zweck brauchen wir eine glaubwürdige europäische Bankenaufsicht, die objektiv agiert
und auf nationale Belange keine Rücksicht nimmt.
Zumindest die systemrelevanten Banken sollten künftig einer verstärkten gemeinsamen Aufsicht unterliegen.
Hierzu müssen wir einen konkreten Fahrplan entwickeln
und bald die ersten Schritte gehen.
Die Verhandlungen über europäische Gesetzgebungsvorhaben, die bereits auf dem Tisch liegen, sollten beschleunigt werden. Diese betreffen die Sanierung und
die geordnete Abwicklung von Kreditinstituten und die
Verbesserung der nationalen Einlagensicherung zugunsten von Kleinanlegern und Sparern.
Die Bundesregierung wird sich darüber hinaus für
weitere Schritte der Finanzmarktregulierung einsetzen,
unter anderem zur Reduzierung der Systemrelevanz großer Finanzmarktakteure und zur Regulierung der Schattenbanken; das war auch Thema auf dem G-20-Gipfel in
Los Cabos.
Wir sind uns darüber hinaus fraktionsübergreifend einig, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer weiter
voranzutreiben. Ich freue mich, dass beim Finanzministerrat in der letzten Woche die nötige Zahl von mindestens neun Mitgliedstaaten erreicht wurde
({6})
- der Beifall gilt dem Finanzminister; ich bedanke mich
in seinem Namen -,
({7})
um für dieses Anliegen eine sogenannte verstärkte Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen. Heute haben wir
im Kabinett beschlossen, den dazu erforderlichen Antrag
zu stellen. Wir erwarten, dass die Europäische Kommission die erforderlichen Schritte einleitet, damit das europäische Gesetzgebungsverfahren möglichst bis Ende
dieses Jahres abgeschlossen werden kann. Uns leitet die
Überzeugung, dass der Finanzsektor einen angemessenen Anteil zur Bewältigung der Kosten der Finanzkrise
leisten muss. Die Finanztransaktionsteuer wird genau zu
diesem Zwecke erhoben werden.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt
des Rates wird die Entwicklung der Wirtschafts- und
Währungsunion sein. Die Staatsschuldenkrise zeigt uns
täglich, dass Fehlentwicklungen in einem Land der
Euro-Zone die Euro-Zone als Ganzes in Schwierigkeiten
bringen können. Sie zeigt uns auch, dass nationale Antworten nicht ausreichen, um die Stabilität des EuroRaums zu sichern. Länder eines gemeinsamen Währungsraums müssen fest entschlossen sein, gemeinsam
vereinbarte Regeln einzuhalten und darauf hinzuarbeiten, ihre jeweilige Wettbewerbsfähigkeit schrittweise anzugleichen, und zwar nicht am Mittelmaß ausgerichtet,
sondern an den jeweils Besten in Europa oder im weltweiten Maßstab.
({8})
Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt: Es geht dabei um etwas sehr, sehr Grundsätzli22224
ches. Wir leben in sehr entscheidenden Monaten für die
Zukunft Europas. In dieser Krise geht es um nicht mehr
und nicht weniger als um die Frage, ob wir auch in Zukunft in Europa in Wohlstand leben können - angesichts
eines sich weltweit völlig verändernden Wettbewerbs.
Die Schwellenländer sind motiviert. Wie wir diese Frage
im Zusammenhang mit der Lösung der Staatsschuldenkrise beantworten, davon hängt das Leben künftiger Generationen in ganz entscheidendem Maße ab.
({9})
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns anschauen,
was seit der Einführung des Euros geschehen ist. Die
Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten der Euro-Zone haben sich zum Teil über viele
Jahre vergrößert, und die Kriterien, die wir uns mit dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt selbst gegeben haben,
wurden immer wieder aufgeweicht. Es zeigte und zeigt
sich immer wieder, dass es bislang keinerlei Möglichkeiten in der Währungsunion gibt, durch Eingriffe in nationales Handeln die Einhaltung der selbst gesetzten Maßstäbe durchzusetzen. Das genau sind die Fehler, die bei
der Einführung des Euro gemacht wurden, weil die Wirtschafts- und Währungsunion nicht, wie ursprünglich geplant, mit einer politischen Union kombiniert wurde.
Das hat uns inzwischen weltweit viel Vertrauen gekostet,
Vertrauen von Investoren, die in europäische Staatsanleihen investieren sollten. Dieses Vertrauen muss jetzt
mühsam wiedergewonnen werden, und dies geht nur,
wenn wir die Versäumnisse der Vergangenheit beheben
und so die Nachhaltigkeit und Funktionsfähigkeit der
Währungsunion sichern. Die Wirtschafts- und Währungsunion muss eine Stabilitätsunion werden.
({10})
Wir werden beim Europäischen Rat einen Arbeitsplan
aufstellen und eine Arbeitsmethode entwickeln, wie wir
die Versäumnisse der Vergangenheit überwinden können. Ausgangspunkt unserer Diskussion wird ein Bericht
sein, den der Präsident des Rates zusammen mit dem
Präsidenten der Kommission, dem Vorsitzenden der
Euro-Gruppe und dem Präsidenten der Europäischen
Zentralbank den Staats- und Regierungschefs übersandt
hat. Dem Parlament liegt dieser Bericht vor.
Um es klar zu sagen: Ich teile die in diesem Bericht
niedergelegte Auffassung, dass vier Bausteine für eine
zukünftige Zusammenarbeit in einer stabilen Währungsunion wesentlich sind: erstens die integrierte Zusammenarbeit der systemrelevanten Finanzinstitute, zweitens eine integrierte Fiskalpolitik, drittens ein Rahmen
für eine integrierte Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik
und viertens die demokratische Legitimation einer solchen verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten
der Euro-Zone, was ja bekanntlich im Augenblick nur
17 von 27 sind.
Ich sage auch: Diese vier Bausteine gehören eng zusammen. Sie entfalten nur gemeinsam ihre Wirkung.
Aber ebenso klar sage ich: Ich widerspreche entschieden, dass im Bericht vorrangig der Vergemeinschaftung
das Wort geredet wird und erst an zweiter Stelle - und
das auch noch sehr unpräzise - mehr Kontrolle und einklagbare Verpflichtungen genannt werden.
({11})
Somit stehen Haftung und Kontrolle in diesem Bericht in
einem klaren Missverhältnis.
Damit, so fürchte ich, wird auf dem Rat insgesamt
wieder viel zu viel über alle möglichen Ideen für eine gemeinschaftliche Haftung und viel zu wenig über verbesserte Kontrollen und Strukturmaßnahmen gesprochen.
({12})
Ganz abgesehen davon, dass Instrumente wie EuroBonds, Euro-Bills, Schuldentilgungsfonds und vieles
mehr in Deutschland schon verfassungsrechtlich nicht
gehen, halte ich sie auch ökonomisch für falsch und kontraproduktiv.
({13})
Kontrolle und Haftung dürfen nicht in einem Missverhältnis zueinander stehen. Kontrolle und Haftung
müssen Hand in Hand gehen. Gemeinsame Haftung
kann erst dann stattfinden, wenn ausreichende Kontrolle
gesichert ist. Ich erinnere nur daran, dass weder Bund
und Länder in Deutschland noch Staaten wie Amerika
oder Kanada eine gesamtschuldnerische Haftung für ihre
aufgenommenen Anleihen kennen. Vielmehr brauchen
wir, um eine Stabilitätsunion zu entwickeln, mehr
Durchgriffsrechte der europäischen Ebene, wenn Haushaltsregeln verletzt werden. Dazu verabschieden wir als
ersten Schritt am Freitag den Fiskalpakt.
Ich habe es hier schon früher gesagt und wiederhole
es noch einmal: Ich hätte mir gewünscht, dass schon früher bei Nichteinhaltung des Stabilitätspakts ein Eingriff
in nationale Haushalte möglich ist. Auch brauchen wir
eine größere Verbindlichkeit in den Bereichen, die im
Euro-Plus-Pakt und in der Agenda 2020 angesprochen
sind, angefangen bei den schon oft versprochenen Ausgaben für Forschung und Innovation aller Mitgliedstaaten bis hin zu einer Angleichung der Lohnstückkosten.
Ich werde deshalb in Brüssel ausloten, ob andere Mitgliedstaaten bereit sind, einen solchen Weg inklusive
notwendiger Vertragsänderungen zu gehen.
Ich werde aber auch deutlich machen: Die Zeit
drängt. Die Welt wartet auf unsere Entscheidungen.
({14})
Die Welt will verstehen - ich habe das in Los Cabos immer wieder gemerkt -: Wohin geht diese Europäische
Union, insbesondere die Euro-Gruppe? Was ist die
Struktur, in der sie verlässlich arbeiten kann?
Dabei steht für mich im Übrigen außer Frage, dass es
zur Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit im EuroRaum über die bekannten Struktur- und Kohäsionsfonds
der 27 Mitgliedstaaten hinaus sicher auch unter den 17
noch stärkerer Mittel der Solidarität bedarf. Zum Beispiel könnte man sich vorstellen, dass Einnahmen aus
der Finanztransaktionsteuer genau dafür verwendet werden. Euro-Bonds oder, wie es im Bericht heißt, die EmisBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
sion gemeinsamer Schuldtitel halte ich jedoch für den
falschen Weg.
({15})
Es bedarf anderer Mechanismen, die an die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit streng gekoppelt sein
müssen.
Eine Währungsunion wird den Menschen in Europa
nur dann dienen, wenn wirklich alle Kräfte dafür eingesetzt werden, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Nur wenn wir die besten Produkte herstellen und die
besten Dienstleistungen anbieten, werden wir auch dauerhafte Arbeitsplätze für die Menschen schaffen können.
Davon bin ich zutiefst überzeugt.
({16})
Meine Damen und Herren, ich mache mir keine Illusionen. Ich erwarte in Brüssel kontroverse Diskussionen.
Einmal mehr werden sich dabei viele Augen auf
Deutschland richten. Doch ich wiederhole hier und heute
das, was ich in diesem Haus zuletzt am 14. Juni 2012 gesagt habe:
… Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und … Stabilitätsanker in Europa. …
Auch Deutschlands Stärke ist nicht unendlich; auch
Deutschlands Kräfte sind nicht unbegrenzt.
Auch Deutschlands Kräfte dürfen wir nicht überschätzen.
Wenn wir das beherzigen, dann können Deutschlands
Kräfte für unser Land und für Europa ihre volle Wirkung
entfalten.
({17})
Beherzigen wir das nicht, dann wäre alles, was wir planen, verabreden, umsetzen, am Ende nichts wert, weil
klar wäre, dass es Deutschland überforderte, und das
wiederum hätte unabsehbare Folgen für Deutschland
und Europa. Das werden wir nicht zulassen.
Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass wir der
Währungsunion ein stabiles Fundament geben. Die Fehler der Vergangenheit dürfen auf keinen Fall wiederholt
werden. Gleiche Zinssätze durch Euro-Bonds politisch
zu erzwingen, nachdem sie schon bei den Märkten nicht
gut gewirkt haben, das wäre die Wiederholung eines alten Fehlers und nicht die richtige Lehre aus den Erfahrungen.
({18})
Stattdessen werde ich mich auf dem Rat dafür einsetzen,
dass wir einen Zeitplan und eine Arbeitsmethode für die
aufgeworfenen Fragestellungen verabschieden. Dies
sollte angesichts der schwierigen Situation so anspruchsvoll wie glaubwürdig sein. Unsere Arbeiten müssen diejenigen überzeugen, die das Vertrauen in die Euro-Zone
verloren haben - nicht durch Augenwischerei und
Scheinlösungen, sondern indem wir die Ursachen der
Krise bekämpfen. Das meine ich, wenn ich von mehr
Europa spreche.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bin
überzeugt, dass mehr Europa, so verstanden, eine zwingende Voraussetzung ist, um unser europäisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zum Wohle unserer
Bürgerinnen und Bürger im globalen Wettbewerb auf
Dauer zu behaupten. Wir müssen uns jetzt aufmachen,
das nachzuholen, was vor 20 Jahren bei der Gründung
der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertrag
von Maastricht noch nicht möglich war: die Wirtschaftsund Währungsunion politisch zu vollenden. Dafür wird
die ganze Bundesregierung, dafür werde ich aus Überzeugung arbeiten, auch auf dem morgigen Europäischen
Rat. Ich lade Sie ein, dabei mitzutun.
Herzlichen Dank.
({19})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen
den nicht enden wollenden Beifall der Koalitionsfraktionen zu Protokoll.
({0})
- Ich bedanke mich für die Bestätigung meiner Protokollnotiz.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als Erstem
dem Kollegen Franz-Walter Steinmeier für die SPDFraktion das Wort.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, machen Sie sich ruhig Mut. Er könnte
in den nächsten Monaten nötig sein.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Regierungserklärungen in einer Woche, Sitzungen
und Sondersitzungen der Fraktionen, notwendige Zweidrittelmehrheiten, Sondersitzungen des Bundesrates,
möglicherweise weitere Sondersitzungen des Deutschen
Bundestages über den Sommer hinweg - Frau Merkel,
es geht in Europa eben nicht nur um Wachstumsraten,
sondern jeder spürt: Es geht in Europa ums Ganze. Diesem Ernst der Lage müssen Sie sich stellen und den Leuten in Deutschland reinen Wein einschenken. Das ist
Aufgabe einer Kanzlerin.
({1})
Ich habe Sie eben sagen hören, es gebe keinen wirklich zuverlässigen Weg aus der Krise. Vor sechs Monaten, am 14. Dezember 2011, haben Sie - das würde ich
Ihnen gerne in Erinnerung rufen - sich an dieses Pult gestellt und mit großem Stolz verkündet - ich zitiere -:
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten
Wochen die Weichen für dieses neue Europa gestellt, für ein Europa der Stabilität, der Solidarität
und des Vertrauens.
Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie das damals selbst
geglaubt haben. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Von
einem Europa der Stabilität, der Solidarität und des Vertrauens sind wir heute weiter entfernt denn je.
({2})
Das hat auch mit Ihnen und Ihrer Regierung zu tun,
Frau Merkel: mit der Mischung aus einer Fehldiagnose
von Krisenursachen und darauf gegründeter Schulmeisterei.
({3})
Sie waren bisher nicht Teil der Lösung, sondern Sie
waren und sind Teil des Problems. Das ist die ganze
Wahrheit.
({4})
Vielleicht haben Sie ja im Dezember letzten Jahres
wirklich geglaubt, dass der Scheitelpunkt der Krise bereits überschritten ist. Vielleicht dachten Sie damals
tatsächlich: Wenn wir den Fiskalpakt auf den Weg bringen und alle gemeinsam sparen, dann kehren in Europa
wieder Ruhe und Ordnung ein. - Das war damals blauäugig. Heute sind Sie durch die harte ökonomische Realität in Europa schlicht und einfach überholt worden.
Griechenland, Irland und Portugal sind unter dem Rettungsschirm. Spanien und Zypern klopfen an. Griechenland wartet wieder vor der Tür. Die Krise schlägt doch in
Wahrheit eine Schneise der Verwüstung durch ganz Europa, und es ist kein Ende in Sicht. Die Krise erreicht
auch uns.
Wir haben Ihnen nicht nur von diesem Pult aus, sondern immer wieder auch öffentlich gesagt: Konsolidierung ist ganz ohne Zweifel notwendig. Aber wir schaffen das nicht alleine durch Sparen. Wir müssen in
Europa auch für Wachstum sorgen. Das ist unsere eigene
deutsche Erfahrung. - Sie wollten das nicht hören. Aber
ich sage Ihnen: Ihre Politik ist gescheitert, meine Damen
und Herren.
({5})
Weil das so ist, hätten wir von der SPD es uns leicht
machen können.
({6})
- Ich würde an Ihrer Stelle nicht lachen.
({7})
Wir hätten es uns, wie gesagt, leicht machen und sagen
können: Eine Regierung, die uns nach der Vereinbarung
über den Fiskalpakt auf der europäischen Ebene zehn
Wochen lang nicht zu Gesprächen einlädt, sondern erst
das Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahl
abwartet,
({8})
eine Regierung, mit der wir seit über zwei Jahren zuverlässig die Erfahrung machen, dass sie zunächst alles
Mögliche verhindert, um es sechs oder acht Wochen später dann doch zu machen, hat kein Vertrauen und keine
Unterstützung verdient.
({9})
Viele unserer Abgeordneten haben gesagt: Lasst sie doch
zusehen, wie sie in der Regierung zurechtkommen. Das kann ich dem einen oder anderen nicht einmal verdenken.
({10})
- Es geht eben nicht um Sie; genau. Darum haben wir
nicht nach diesem verständlichen Reflex gehandelt, sondern sind einen schwereren Weg gegangen. Wir sind
- anders als die Linkspartei, die hier in einer solchen Situation fröhliche Zurufe macht ({11})
einen schweren Weg gegangen. Wir haben in harten
Verhandlungen Ton und Stoßrichtung der europäischen
Debatte verändert.
({12})
Die reine Austeritätspolitik ist vom Tisch. Konsolidierung und Wachstum, das ist der neue Zweiklang. Ihn
gäbe es nicht ohne Sozialdemokraten, auch nicht in diesem Parlament.
({13})
Ich sage noch einmal in Richtung der rechten Seite
dieses Parlaments: Ein Fiskalpakt allein, wie Sie ihn ursprünglich verhandelt haben, hätte in diesem Parlament
keine Chance auf eine Zweidrittelmehrheit. Machen Sie
sich das immer wieder klar!
({14})
Die ergänzenden Wachstumsimpulse, neue Instrumente
wie Projektanleihen, die Stärkung der Europäischen
Investitionsbank und auch das Sofortprogramm gegen
Jugendarbeitslosigkeit sowie die Transaktionsteuer
machen dieses Paket doch erst zustimmungsfähig.
({15})
Das waren unsere Forderungen, und wir haben uns damit
durchgesetzt. Deshalb danke ich allen in meiner Fraktion, die geholfen haben, das zu verhandeln.
({16})
Wir haben gestern in der Fraktionssitzung ausführlich
über das Verhandlungsergebnis diskutiert. Eine große
Mehrheit in meiner Fraktion steht hinter den erreichten
Vereinbarungen. Wenn der Europäische Rat diesem Verhandlungsergebnis folgt, dann werde ich meiner Fraktion am Freitag empfehlen können, dem Fiskalpakt und
dem ESM zuzustimmen.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Vielen in meiner
Fraktion fällt die Zustimmung zu diesem Gesetzgebungspaket nicht leicht, vor allen Dingen wegen der
nicht ganz leichten verfassungsrechtlichen Fragen, die
sich stellen. Wir haben diese verfassungsrechtlichen Fragen in mehreren Fraktionssitzungen hintereinander ausführlich miteinander diskutiert, und wir haben versucht,
so weit wie irgend möglich Antworten auf die Fragen zu
geben. Vielleicht haben wir nicht jeden überzeugt; aber
das ist eben auch eine Folge der Rechtskonstruktion für
diesen Fiskalpakt, die ja ursächlich auf die Vorschläge
dieser Regierung zurückgeht. Der Pakt ist nämlich als
ein völkerrechtlicher Vertrag neben und außerhalb des
europäischen Institutionensystems konzipiert, und das
führt uns eben ganz ohne Zweifel auf schwieriges juristisches Terrain.
Deshalb sage ich an dieser Stelle und mit Absicht
heute: Das muss eine absolute Ausnahme bleiben. Halten Sie sich in Zukunft an geltendes europäisches Recht!
Andernfalls entsteht ein Flickenteppich, mit dem wir in
Zukunft umzugehen nicht mehr in der Lage sind. Das ist
die schlichte Wahrheit.
({17})
- Herr Kauder, ich darf kurz zur Aufklärung beitragen: Die verstärkte Zusammenarbeit gehört zu den anerkannten europäischen Instrumentarien. Das ist nichts
Neues, sondern im europäischen Recht verankert.
({18})
Zweiter Appell. Frau Merkel, es kann nicht sein, dass
das Nachdenken über die Zukunft der Europäischen
Union und über die weitere Ausgestaltung der europäischen Integration allein Exekutivvertretern obliegt. Das
ist ein gefährlicher Weg für uns alle und durch den Deutschen Bundestag nicht hinzunehmen.
({19})
Deshalb ist mein Appell: Wenn Arbeitsgruppen beauftragt werden, müssen Vertreter der Parlamente hinzugezogen werden.
Der morgige Gipfel mag ein Zwischenschritt auf dem
Weg zur Lösung der Krise sein. Vielleicht ist er ein notwendiger Schritt, aber ich sage Ihnen voraus - und Sie
sehen es ja nicht anders -: Ein Ausweg aus der Krise
wird dort nicht gefunden. Die Turbulenzen auf den
Finanzmärkten werden nicht zu Ende sein. Das ist ja in
der Tat auch der Grund, weshalb Sie schon jetzt weiterreichende Beschlüsse für die Zukunft ankündigen.
Weil Sie eben die Verhandler und die Autoren solcher
Papiere auf der Brüsseler Ebene gelobt haben, sage ich
Ihnen: Auf den Brüsseler Fluren spricht sich etwas ganz
anderes herum. Da wird eine ganz andere Geschichte erzählt. Es wird nämlich gesagt: Statt Van Rompuy dabei
zu unterstützen, mutige Integrationsschritte nach vorne
zu gehen, hat Berlin im Vorfeld schon den Rotstift angesetzt, und über die Hälfte des Textes, den Van Rompuy
entworfen hat, ist dem schon zum Opfer gefallen.
({20})
Deshalb ist es etwas heuchlerisch, wenn Sie sagen, die
Reformkommission habe gute Arbeit geleistet. Das wird
hier bei anderer Gelegenheit, wenn wir die Texte kennen, noch zur Sprache kommen.
Heute und zum Schluss sage ich Ihnen: Unsere Erwartung an diese Regierung und an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist: Sorgen Sie dafür, dass das Verhandlungsergebnis verbindlich in die Ergebnisse des Europäischen
Rates eingehen wird. Nur dann wird die Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag zu erreichen
sein.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Beim bevorstehenden Europäischen Rat am 28./
29. Juni werden Entscheidungen getroffen, um das
wirtschaftliche Wachstum in Europa zu stimulieren.
Die Maßnahmen sind mit Blick auf die Südländer
der Europäischen Union richtig, um deren Abgleiten in eine Rezession zu verhindern oder abzumildern. Die Stärkung der Europäischen Investitionsbank, die Bündelung von Strukturfonds und die
diskutierten Projektanleihen werden aber das
grundlegende Problem nicht beheben: Die meisten
europäischen Volkswirtschaften sind international
nicht wettbewerbsfähig.
Die Konjunkturprogramme werden nur zeitlich
begrenzt helfen, jedoch keines der strukturellen
Probleme lösen. Die Bundeskanzlerin ist daher gut
beraten, auf dem Gipfel im Gegenzug auf weitere
Reformen in den Mitgliedstaaten zu bestehen.
Europa braucht eine mutige Reformagenda, um die
Haushalte zu konsolidieren, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und damit Arbeitsplätze zu schaffen.
({0})
Nachhaltiges Wachstum wird durch Strukturreformen erzielt.
Ich habe eigentlich erwartet, dass jetzt die SPD in
Jubelstürme ausbricht. Es rührt sich jedoch keine Hand.
Ich habe bisher ungekürzt und unverändert Ihren
Altkanzler Gerhard Schröder zitiert.
({1})
Ich hätte hier wohl den kompletten Text aus dem Handelsblatt vom letzten Freitag vortragen können, Sie hätten es nicht gemerkt.
({2})
Sie haben nicht einmal die Botschaft verstanden,
({3})
die volkswirtschaftliche nicht und die politische nicht.
({4})
Der Ratschlag an die Kanzlerin ist in Wahrheit ein Warnschuss an die eigenen Reihen: Der SPD würde gut zu
Gesicht stehen, nicht den Job der französischen Sozialisten zu machen. Das ist Schröders Warnschuss.
({5})
Müntefering hat vor ein paar Wochen den Anfang gemacht. Er fordert von der SPD-Führung quasi mehr
Schröder und weniger Hollande. Uns müssen Schröder
und Müntefering nicht von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit überzeugen. Wir sind Sachwalter in
Fortsetzung der Agendapolitik, von der sich Herr
Gabriel verabschiedet hat.
({6})
Die christlich-liberale Koalition drängt auf Strukturreformen. Wir mahnen es bei unseren Partnern an. Wir
haben viel durchgesetzt: Stichwort „Six-Pack“, Stichwort „Fiskalpakt“. Viele internationale Beobachter sagen: So viel deutsche soziale Marktwirtschaft war in der
EU noch nie.
({7})
Da klingt auch ein wenig alte Befürchtung mit. Das sollten wir nicht vergessen. Aber es wird von uns Führung
erwartet. Es ist gut und richtig, dass die deutsche Stabilitätskultur europäisiert wird. Jedes Wachstum braucht ein
Fundament. Schulden sind kein Fundament für eine gute
wirtschaftliche Entwicklung.
({8})
Fundamente sind Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität.
Herr Steinmeier hat zu Recht darauf hingewiesen: Die
Schuldenkrise ist eine Bewährungsprobe für unsere parlamentarische Demokratie in Deutschland. Im Moment
haben viele Menschen den Eindruck, Italiener, Spanier,
Franzosen wollen vor allem Deutsche anzapfen. Wir sollen für spanische Schrottimmobilien zahlen. Wir sollen
den Franzosen die Rente mit 60 finanzieren.
({9})
Wir sollen die Italiener im Allgemeinen finanzieren. Das
ist das Stimmungsbild vieler in Deutschland. Das muss
man einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Die Grünen führen eine ganz andere Debatte. Am
Wochenende konnte man das fast greifen: Sie sind in der
Europafrage tief gespalten.
({10})
Wir Liberale haben zu dieser Frage einen Mitgliederentscheid durchgeführt. Das war ein Kraftakt. Sie reden von
Basisdemokratie, trauen sich so etwas selber aber nicht
zu. Sie halten nur Sonntagsreden, wir haben es gemacht.
({11})
Die Grünen haben den Schuldentilgungsfonds, der ihr
Hauptanliegen war, in den Verhandlungen nicht durchsetzen können. Das schmerzt sie, aber jeder musste Kröten schlucken. In Deutschland und in Europa haben sich
alle politischen Kräfte bewegen müssen. Ihre Idee, alte
Schulden aus Griechenland, Spanien und Italien mit
deutschen Steuergeldern zu tilgen, ist der Bevölkerung
nicht vermittelbar, verfassungsrechtlich nicht konform
und nicht zulässig.
({12})
Ich verstehe nicht, weshalb die Grünen sich diese Idee
auf die Fahnen geschrieben haben. Sonst reden die Grünen von Nachhaltigkeit und Verursacherprinzip. Bei der
Vergemeinschaftung von Schulden ist davon nichts zu
hören. Mit einem Schuldensozialismus ist niemandem
gedient.
({13})
Das Gleiche gilt für die sogenannte Bankenunion, ein
schönes, aber gefährliches Wort. Wir haben noch eine einigermaßen funktionierende Einlagensicherung bei den
Sparkassen, den Genossenschaftsbanken und den privaten Banken. Wenn andere Mitgliedstaaten sich anstrengen wollen, auf unser Niveau zu kommen, ist das in Ordnung.
({14})
Bislang versteht man das in Europa unter Harmonisierung. Aber Harmonisierung kann nicht heißen, andere
für die eigenen Probleme zahlen zu lassen. Es ist nicht
vermittelbar, dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch
für die Schulden von Investmentbankern in anderen Ländern haften soll. Das geht nicht an.
({15})
Manchmal habe ich den Wunsch, dass unsere Partner
vielleicht mehr Fantasie in Hinsicht auf die Strukturreformen als bezüglich der Verteilung von Finanzgeld in
Europa verwenden sollten. Gerhard Schröder hat vollkommen recht: Man kann in den Süden Geld hineinschütten, aber mehr als ein kleines Strohfeuer wird man
damit nicht entfachen können. Die Mitgliedstaaten im
Süden müssen wirkliche Strukturreformen anpacken. Da
ist Schröder voll und ganz zuzustimmen.
({16})
Es geht um drei Dinge: erstens Wettbewerbsfähigkeit,
zweitens Wettbewerbsfähigkeit und drittens Wettbewerbsfähigkeit.
({17})
Wir Deutsche sind in hohem Maße solidarisch. Unsere
direkten und indirekten Haftungsrisiken belaufen sich
nach vielen Schätzungen auf die Größenordnung von
700 Milliarden Euro. Das ist zweimal die Größe des
Bundeshaushaltes. Uns kann keiner vorwerfen, wir seien
nicht solidarisch und wir würden nichts tun. Wir sind bereit, Spanien zu helfen. Auch Zypern erwartet von uns
Solidarität. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Strukturreformen in diesen Ländern sind unabdingbar.
Das gilt auch für unsere griechischen Freunde.
({18})
Weitere Unterstützung für Griechenland kann es nur
geben, wenn sich die Hellenen an die Vorgaben der
Troika halten. Von getroffenen Vereinbarungen darf man
nicht abrücken. Jetzt haben Van Rompuy, Barroso,
Draghi und Juncker Vorschläge für eine politische Union
gemacht. Ob darin die vier Muskeltiere die Zukunft Europas sehen, muss sich noch erweisen.
({19})
Nur, mehr Europa darf nicht weniger Demokratie bedeuten. Eine Eurokratur ist nicht unser Ziel. Europa
muss von den Bürgern getragen werden. Wir brauchen
ein verständliches Recht. Wir brauchen ein gutes Recht.
Wir müssen Defizite ausgleichen. Es ist nicht in Ordnung, dass Malta bei der Europäischen Zentralbank das
gleiche Stimmgewicht hat wie die Bundesrepublik
Deutschland. Es ist nicht in Ordnung, dass in Europa
nicht gilt: One man oder one woman, one vote. Auch das
muss sich ein Stück weit ändern, wenn Europa eine Erfolgsstory sein soll.
({20})
Aber entscheidend ist: Damit Europa eine Erfolgsstory wird, müssen wir es schaffen, die Herzen der Menschen zu erreichen. Davon sind wir noch ein Stück entfernt. Daran müssen wir alle arbeiten. Europa darf nicht
das Projekt von einigen politischen Eliten sein, sondern
es muss das Projekt der Menschen sein und in den Herzen der Menschen ankommen.
({21})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Griechenland ist im fünften Jahr der Rezession am wirtschaftlichen Abgrund, und der Bevölkerung droht Armut. Zypern stellt als fünftes Land einen
Antrag an den Rettungsschirm. Es ist nämlich von der
Krise in Griechenland mit betroffen.
Portugal und Irland sind ebenfalls in der Rezession,
und zwar dank der Spardiktate. Italien schlittert gerade
in eine schlimme Krise. Spanien ist ebenfalls in der Rezession, und es droht ein Kollaps der Banken. Deshalb
hat Spanien ebenfalls einen Antrag an den Rettungsschirm gestellt.
Aber gestern - das will ich Ihnen erzählen - war der
Konzernbetriebsratsvorsitzende von Iveco, einer Firma
in Ulm, bei mir. Er hat mir erzählt, dass diese Firma Lkw
nach Italien und Spanien verkauft. Da Italien und Spanien immer weniger Geld haben, werden dort immer weniger Lkw gekauft. Deshalb hat Iveco mitgeteilt, sie
müssten jetzt 670 Beschäftigte und 100 Azubis entlassen. Das ist ihr Plan.
Nun hat der Betriebsrat Folgendes erfahren: Iveco
will in seine Firma, die es in Spanien hat, investieren,
und die spanische Regierung hat zugesagt, dass sie dafür
500 Millionen Euro bekommen.
Jetzt müssen Sie den deutschen Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern Folgendes erklären: Wir zahlen Geld,
um den Rettungsschirm aufzustocken. Das sind Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger. Spanien sagt, es sei
pleite. Darum braucht Spanien dringend Geld. Aber
dann bezahlen sie 500 Millionen Euro, um hier 670 Arbeitsplätze und 100 Azubistellen abzubauen. Das ist
doch wohl nicht zu fassen.
({0})
Wir dürfen uns von den Unternehmen in Europa nicht
länger so vorführen und veralbern lassen.
({1})
80 Jahre nach der letzten großen Wirtschaftskrise wurden Lehren daraus nicht beherzigt.
Ich sage auch Ihnen, Herr Brüderle: Schulden lassen
sich weder mit Ausgabenkürzungen bei Renten, Gesundheit und Investitionen noch mit Lohnsenkungen und der
Erhöhung von Verbrauchsteuern à la Reichskanzler
Heinrich Brüning bekämpfen. Denn diese Politik beschleunigt den wirtschaftlichen Niedergang und erhöht
die Verschuldung.
({2})
EU-Kommissar Barnier hat gesagt, dass schon
4 500 Milliarden Euro für die Bankenrettung ausgegeben worden sind: eine unvorstellbare Summe. Deshalb
bleibe ich dabei: Ihr Begriff „Staatsschuldenkrise“ ist
falsch; es ist eine Bankenkrise. Die Staaten sind nur deshalb so hoch verschuldet, weil sie permanent die Banken
und Hedgefonds retten.
({3})
Aber es kommt noch eine neue Dimension der Krise
auf uns zu. Bis 2014 braucht Spanien 350 Milliarden
Euro und Italien 670 Milliarden Euro, nur um die alten
Schulden abzulösen. Woher soll das Geld kommen?
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Europäische Zentralbank zu 27 Prozent von den deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern bezahlt wird. Ich
bleibe bei meinem Beispiel - ich muss es wiederholen -:
Die Europäische Zentralbank hat den großen privaten
Banken in Europa 1 Billion Euro zur Verfügung gestellt:
als Darlehen für drei Jahre zu 1 Prozent Zinsen. Die
Staaten, die das Geld brauchen, bekommen es jetzt von
diesen Banken. Das heißt, wir vergeben an die großen
privaten Banken Staatsgeld zu 1 Prozent, und dann verlangen diese von Spanien und Italien 6 Prozent Zinsen
für das Geld, das sie ihnen geben.
Erklären Sie doch einmal der Bevölkerung, warum
wir nicht direkt ein Darlehen an Spanien oder Italien vergeben!
({4})
Warum müssen wir dazwischen noch die Großaktionäre
der privaten Banken reich machen, und zwar zulasten
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die die Differenz bezahlen müssen?
({5})
Die Mehrheit der anderen Staaten der Euro-Zone ist
zu einer Politik, wie sie von der Bundesregierung und
Frau Merkel vorgegeben wird, nicht mehr bereit: weder
die französische noch die italienische noch die spanische
Regierung.
Jetzt habe ich eine Frage an die Bundeskanzlerin und
an den Bundesfinanzminister. Es ist mir sehr ernst. Sie
wollen doch, dass der Fiskalvertrag in diesem Jahr in
Kraft tritt. Dann würde er ab 1. Januar 2013 gelten.
Wenn Sie das wollen, dann erklären Sie mir Folgendes:
Im Fiskalvertrag steht, dass die Schulden eines Staates
auf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt sind.
Unsere Schulden liegen heute bei 81,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dann müssen wir - das besagt der Vertrag - 20 Jahre lang pro Jahr 5 Prozent der überschießenden Verschuldung abbauen. Das wären zurzeit etwa
25 Milliarden Euro. Ferner regelt der Vertrag, dass die
Neuverschuldung nur bei 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen darf. Das wären zurzeit 12,5 Milliarden
Euro. Nun erklären Sie doch einmal, Herr Bundesfinanzminister Schäuble, weshalb Sie dann für 2013 den Entwurf eines Haushaltsplans mit einer Neuverschuldung
von 18,8 Milliarden Euro vorlegen. Glauben Sie nicht
daran, dass der Vertrag in Kraft tritt? Hoffen Sie auf einen Erfolg der Linken beim Bundesverfassungsgericht?
({6})
Oder wollen Sie ernsthaft, dass der Vertrag in Kraft tritt,
und gleich mit einer Vertragsverletzung beginnen? Die
Folgen wären dann übrigens verbindliche, von der EUKommission festzusetzende Sanktionen, die wir ebenfalls bezahlen müssten. Aber Deutschland kann doch
nicht den Vertrag in Kraft setzen wollen und sich gleich
von Beginn an mit einer Verletzung abfinden.
Meine zweite Frage. Wenn wir dann jährlich etwa
25 Milliarden Euro an Schulden abbauen müssen: Nichts
davon ist in Ihrem Haushaltsplan vorgesehen. Können
Sie der Bevölkerung einmal erklären, wie Sie die
25 Milliarden Euro eigentlich einsparen wollen? Was
wollen Sie denn kürzen: die Zuschläge zur Rente,
Hartz IV? Was haben Sie vor? Oder wollen Sie Steuern
erhöhen, vielleicht die Mehrwertsteuer? Ich finde, die
Bundesregierung ist verpflichtet, vor Beschlussfassung
am Freitag der Bevölkerung Auskunft zu geben, wie die
25 Milliarden Euro im nächsten Jahr eingespart werden
sollen.
({7})
Ich wundere mich - das sage ich ganz klar - über SPD
und Grüne, dass sie diese Frage noch nie gestellt haben.
Bevor Sie Ja zum Fiskalvertrag gesagt haben, hätten Sie
doch fragen müssen: Wo und wie wollt ihr im nächsten
Jahr die 25 Milliarden Euro einsparen? - Wir wissen es
nicht. Kein Mensch weiß es. Das geht überhaupt nicht.
Das ist ein Ja zu einer dunklen Zukunft ohne Auskunft.
({8})
Übrigens gibt der Multimilliardär und König der
Hedgefonds Soros dem Euro noch drei Monate
({9})
- den lieben Sie doch -, Christine Lagarde, die Chefin
des Internationalen Währungsfonds, weniger als drei
Monate. Wenn Griechenland aus dem Euro fällt, dann
- das sage ich Ihnen - wird auch Portugal herausfallen.
Dann ist der Euro bald tot. Das würde die deutsche Exportwirtschaft so schwer treffen, dass auch wir dann in
eine schwere Krise gerieten.
Nun sagen Sie, Herr Brüderle, dass Sie den Schuldensozialismus ablehnen.
({10})
Jetzt muss ich Ihnen einmal etwas über den Sozialismus
erklären. Passen Sie einmal auf!
({11})
- Doch, doch! - In Wirklichkeit haften wir längst für die
Schulden. Das sind unsere Steuergelder in der EZB. Sie
erzählen Unsinn. Es gibt schon längst eine Schuldenhaftung. Aber davon abgesehen werde ich Ihnen jetzt beweisen, dass Sie alle Sozialistinnen und Sozialisten sind,
auch wenn Sie das nicht wissen, egal ob Sie der FDP, der
Union, den Grünen oder der SPD angehören.
({12})
- Zu uns komme ich noch. - Sie alle sind Sozialistinnen
und Sozialisten. Wissen Sie auch, warum? Sozialismus
heißt, man will vergemeinschaften. Was Sie vergemeinschaften, sind die Schulden der Banken und Hedgefonds.
Diese Schulden dürfen immer alle Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler zahlen. Wir sind die Einzigen, die zugeben, Sozialistinnen und Sozialisten zu sein. Aber wir
wollen gerne die Banken vergesellschaften und damit
den Profit vergemeinschaften. Das ist der gravierende
Unterschied zwischen Ihren und unseren Sozialismusvorstellungen.
({13})
- Die Deutsche Bank hat gerade einen dicken Profit gemacht, nachdem Sie so viel Geld hineingesteckt haben.
Das stimmt gar nicht, was Sie da erzählen.
Was wir wirklich brauchen, wenn wir die Krise bewältigen wollen, ist natürlich eine einmalige Millionärsabgabe in ganz Europa.
({14})
- Sie wollen, dass die Reichen nie etwas bezahlen müssen. Sie kürzen das Elterngeld der Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger oder - besser gesagt - streichen
es. Führen Sie doch einmal eine Millionärsabgabe in Europa ein! Die haben von der Krise profitiert, nicht die anderen.
({15})
Dann brauchen wir selbstverständlich eine jährliche
Vermögensteuer in Deutschland. Darf ich Ihnen etwas
sagen? Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung in
Deutschland haben ein Geldvermögen von 3 Billionen
Euro. Unsere gesamten Staatsschulden belaufen sich auf
2 Billionen Euro. Selbst wenn wir das direkt miteinander
verrechneten, behielten die reichsten 10 Prozent noch
immer 1 Billion Euro. Das fordern wir gar nicht. Aber
dass die Betreffenden eine angemessene Steuer zahlen,
ist so etwas von selbstverständlich, dass ich mich wirklich wundere, wie sehr Sie sich dagegen wehren, nur
weil es sich hier um die Lobbyisten handelt, auf die Sie
Wert legen.
({16})
Ich sage Ihnen noch etwas. Zu Beginn der Krise gab
es 720 000 Vermögensmillionäre in Deutschland. Jetzt
gibt es 951 000. Deren Zahl nimmt also zu. Die Armut
wächst, und auch der Reichtum wächst. Keinen zusätzlichen Euro Steuern verlangen Sie von ihnen. Das ist so
ungerecht, dass Sie das nicht durchhalten werden.
Nun haben aber SPD und Grüne zwei Bedingungen
gestellt. Die eine Bedingung war die Einführung der Finanztransaktionsteuer, die zweite Bedingung war die
Forderung nach Maßnahmen zur Steigerung des Wachstums. Ich komme zunächst zur Finanztransaktionsteuer.
Wenn ich den Bundesfinanzminister richtig verstanden
habe, dann sagt er, dass die Einführung nicht vor 2014
stattfinden wird. Das geht noch langsamer als die Fertigstellung des neuen Flughafens von Berlin, stelle ich nur
fest.
Aber - jetzt kommt der eigentliche Punkt - das ist
doch gar keine Finanztransaktionsteuer, es ist höchstens
eine Börsenumsatzsteuer; denn nach den bisherigen Vorgaben fehlen zwei Dinge: der Derivatehandel und der
Hochfrequenzhandel.
({17})
Um das zu erklären: Dabei sitzt man an einem Computer
und schiebt die Millionen hin und her. Nun hat der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister ausgerechnet,
dass die kleine Börsenumsatzsteuer, wenn sie, so wie
von der EU-Kommission geplant, kommt, in Deutschland 2 Milliarden Euro einbringt. Wenn aber der Derivatehandel und der Hochfrequenzhandel hinzukämen, hätten wir Mehreinnahmen von 27 Milliarden Euro.
({18})
Warum lassen Sie sich denn mit 2 Milliarden Euro abspeisen, wenn es auch 27 Milliarden Euro sein können?
({19})
Zum Wachstumspaket sage ich Ihnen Folgendes: Es
geht um 130 Milliarden Euro; das hat die Bundeskanzlerin gerade gesagt. Es wird aber kein Euro zusätzlich bereitgestellt, sondern es werden die von der EU schon eingeplanten Gelder nur umgewidmet. Im Kern haben Sie
diesbezüglich nichts erreicht.
Ich sage Ihnen eines: Der Zerfall des Euro gefährdet
die europäische Integration. Wir brauchen einen völlig
neuen Ansatz mit einer Angleichung von Steuern, Löhnen und Sozialleistungen auf hohem Niveau, mit einer
Abkopplung von den privaten Finanzmärkten, mit einer
Rückkehr zum Primat der Politik, mit mehr Sozialstaat
statt seiner Demontage und mit mehr Demokratie.
Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Durch den Fiskalpakt gibt der Bundestag Befugnisse des Bundestages
ab, aber nicht etwa an das Europäische Parlament, sondern an die EU-Kommission und damit an Regierungen.
Schon das ist undemokratisch. Wir stehen vor einem
Scheideweg: entweder ein Europa mit strammem Sparkorsett, also unsozial, mit Fiskaldiktatur und weniger
Demokratie oder ein solidarisches Europa mit deutlich
mehr demokratischen Mitwirkungs- und Entscheidungsrechten der Bürgerinnen und Bürger. Am Freitag werden
Sie es entscheiden.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir stehen in diesen Tagen und Wochen vor wirklich
historischen Weichenstellungen in Europa. Wir werden
am Freitag den dauerhaften Europäischen Stabilisierungsmechanismus, den dauerhaften Rettungsschirm
ESM, und in Verbindung damit den Fiskalvertrag verabschieden. Wenn wir ein bisschen zurückdenken, dann
wird uns, glaube ich, schon deutlich, dass niemand von
uns zu Beginn dieser Diskussion gedacht hat, dass es gelingt, auf europäischer Ebene 25 Staaten dazu zu bewegen, in ihren nationalen Verfassungen Schuldenbremsen
zu verankern und sich damit nach dem Beispiel Deutschlands stabilitätskonform zu verhalten.
({0})
Es geht nicht nur um die Verankerung dieser Schuldenbremsen, sondern es sind damit auch die automatischen Sanktionen, die Möglichkeit, Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben, und vieles andere
mehr verbunden. Das trägt die Handschrift Deutschlands, die Handschrift unserer Bundeskanzlerin und unseres Finanzministers. Dafür danke ich herzlich.
({1})
Das ist die Grundlage für eine Stabilitätskultur in Europa. Ich weiß natürlich auch, dass solides Haushalten
alleine nicht alles ist; aber ohne solides Haushalten,
meine Damen und Herren, ist alles nichts. Denn das ist
die Grundlage für das Vertrauen der Finanzmärkte. Das
ist die Grundlage für ein dauerhaftes, nachhaltiges
Wachstum der Wirtschaft und für dauerhafte Stabilität.
Ohne solides Haushalten ist das alles nichts. Ohne solides Haushalten stellt man die Glaubwürdigkeit des eigenen Landes infrage und verspielt damit auch die Glaubwürdigkeit auf den Märkten mit all den Konsequenzen,
die wir kennen.
Herr Steinmeier, Sie sagen, das alles sei nicht erfolgreich gewesen. Ich möchte daran erinnern, dass Ihr „solides Haushalten“ oder, besser gesagt, Ihr nicht solides
Haushalten
({2})
während der Zeit, in der Sie Verantwortung hatten, die
Ursache dafür war, dass wir jetzt in Europa diese
Schwierigkeiten haben.
({3})
Sie haben nämlich die Kriterien, die einmal vereinbart
waren, nicht eingehalten und damit dafür gesorgt, dass
sich auch andere Länder leichtfertig verhalten haben.
Das war und ist eine nicht ganz unwesentliche Ursache
für die Schwierigkeiten, die wir heute haben.
({4})
Wir sagen, dass Solidarität nur in Verbindung mit Solidität gesehen werden kann. Deshalb haben wir uns bei
all den Rettungsaktionen in den vergangenen Monaten
immer an die Grundphilosophie gehalten: Unterstützung
ja, Hilfe ja, Solidarität ja - aber nur in Verbindung mit
Solidität, mit dem Einhalten der Bedingungen bzw. Auflagen, sparsam zu haushalten, und mit Strukturreformen,
um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das war
und ist die Grundphilosophie, die auch weiterhin trägt
und erfolgreich ist.
Schauen Sie zum Beispiel auf die Länder Irland und
Portugal. Da sehen Sie an der Haushaltssituation, der
wirtschaftlichen Entwicklung, der Entwicklung der
Lohnstückkosten und der Leistungsbilanzüberschüsse,
dass diese Philosophie erfolgreich und richtig ist. Wir
alle wissen, dass dies nicht von heute auf morgen geht,
dass sich die Erfolge nicht von heute auf morgen einstellen können. Der Weg aber ist richtig. Das, was bisher erreicht wurde, macht deutlich, dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
({5})
Meine Damen und Herren, wir wissen auch - das ist
übrigens keine neue Erkenntnis -, dass zu solidem Haushalten bzw. zu einem Konsolidierungskurs der öffentlichen Haushalte natürlich auch Wachstumsimpulse gehören. Das ist nichts Neues. Diese Erkenntnis ist übrigens
auch auf den vergangenen europäischen Gipfeltreffen
immer Thema gewesen, und sie wird zu guter Letzt bei
der Entscheidung des europäischen Gipfels morgen und
übermorgen mit berücksichtigt werden. Wir haben uns
darüber fraktionsübergreifend intensiv auseinandergesetzt.
Ich finde, es ist richtig, dass mit den Maßnahmen zur
Erhöhung des Kapitals der Europäischen Investitionsbank und mit den Maßnahmen bezüglich der Projektanleihen, aber auch mit denen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Stärkung der Strukturfonds
Akzente gesetzt werden. Mindestens genauso wichtig ist
aber das, was verhindert wurde. Es wurde nämlich eine
schuldenfinanzierte Ausgabenprogrammatik verhindert.
Es wurde verhindert, dass durch Schulden finanzierte
Ausgabenprogramme - andere wollten das - getätigt
werden.
({6})
Mindestens genauso wichtig ist die Erkenntnis, dass
die eigentlichen Wachstumsimpulse nicht aus kurzfristigen Programmen erwachsen, sondern von grundlegenden Strukturreformen am Arbeitsmarkt, in der Steuerpolitik, in der Sozialpolitik und im Verwaltungsbereich
herrühren. Dort werden die Grundlagen für nachhaltiges
und dauerhaftes Wachstum geschaffen. Deshalb darf dabei nicht nachgelassen werden.
({7})
Es gibt nach wie vor eine lebhafte Diskussion über
eine Vergemeinschaftung von Haftung und von Schulden. Eigentlich hatte man gedacht, das sei schon erledigt. Diese Diskussion wurde nicht zuletzt durch den
Bericht von Van Rompuy angefacht, den die Bundeskanzlerin angesprochen hat. Alles, was mit Euro-Bonds,
mit Euro-Bills, mit Schuldentilgungsfonds verbunden
ist, führt uns aber nicht weiter, sondern führt uns in eine
Sackgasse.
({8})
Wenn über die notwendige Angleichung der Zinssätze
- das ist ja meistens die Begründung dafür - diskutiert
wird, dann muss man sich meines Erachtens zunächst
einmal die Frage stellen: Warum sind die Zinssätze unterschiedlich? Sie sind doch deshalb unterschiedlich,
weil die Bonität in den Ländern unterschiedlich ist und
weil die Politik dort bei der Haushaltskonsolidierung,
der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit versagt hat.
Die Unterschiede sind die Konsequenzen aus einem
Fehlverhalten im politischen Handeln - und dies muss
korrigiert werden.
({9})
In dem Moment, wo man durch die Vergemeinschaftung von Schulden, durch die Angleichung der Zinssätze
diese Unterschiede nivelliert, nimmt man den Ländern
jeglichen Druck, sich haushaltspolitisch solide zu verhalten, Strukturen zu verändern, sich wieder wettbewerbsfähig aufzustellen, Reformen durchzuführen und
zu sparen. All dies ist aber dringend notwendig, um dauerhaft und langfristig Stabilität und Wachstum zu generieren.
({10})
Ganz abgesehen davon werden durch eine Vergemeinschaftung von Schulden - ich sage es einmal ganz
platt - deutsche Interessen verraten,
({11})
und zwar deshalb, weil dann wir, die deutschen Steuerzahler, höhere Zinsen bezahlen müssten, als wir sonst
bezahlen, und das konterkariert die Leistung dieses Landes, die Leistung der Menschen in diesem Land. Deshalb
werden wir aus diesen ökonomischen und politischen
Gründen bei einer Vergemeinschaftung von Schulden
nicht mitmachen.
({12})
Es gibt eine Diskussion über eine weitere Vertiefung
der Europäischen Union. Ich glaube, dass wir darüber
ernsthaft, ausgiebig und verantwortungsvoll diskutieren
müssen, weil wir alle Lehren aus der Krise der vergangenen Monate ziehen müssen. Das berührt auch die Frage:
Müssen wir Strukturen verändern? Was müssen wir verändern?
Ich sage Ja zu einer Vertiefung, die mehr Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutet. Ich
sage Ja zu verbindlichen Vorgaben. Ich sage aber auch Ja
zur Kontrolle der Einhaltung dieser Vorgaben. Ein ganz
wesentlicher Fehler der letzten Jahre war nämlich, dass
zwar Vorgaben gemacht und Vereinbarungen getroffen
wurden, dass diese aber nicht eingehalten wurden. Es
geht um die Einhaltung dieser Vorgaben, um ihre Kontrolle und die entsprechende Aufsicht, es geht um die
Verbindlichkeit dieser Vorgaben sowie um die notwendigen Konsequenzen daraus. Das ist die erste Aufgabe, die
wir zu erfüllen haben.
({13})
Ich sage Ja zur Verbesserung und Stärkung des Fundaments unseres europäischen Hauses.
Aber alles, was mit Vergemeinschaftung von Schulden, mit Vergemeinschaftung von Risiken, mit Vergemeinschaftung von Haftung zu tun hat, trägt nichts zur
Lösung der aktuellen Probleme bei; das muss klar sein.
Verantwortung für das eigene Handeln und damit auch
Haftung für das eigene Handeln müssen gegeben sein.
Es kann nicht sein, dass die deutschen Sparer mit ihren
Einlagen für das Fehlverhalten von Banken in anderen
Ländern haften müssen. Das werden wir nicht zulassen.
({14})
Auch der Bericht, der vorhin angesprochen wurde,
beinhaltet meines Erachtens ein Ungleichgewicht zwischen verbindlichen Vorgaben, zwischen Kontrolle und
Aufsicht auf der einen Seite und Vergemeinschaftung
von Haftung auf der anderen Seite. Meines Erachtens
müsste es umgekehrt sein: Der Schwerpunkt müsste im
Bereich der eigenen Verantwortung und im Bereich von
verbindlichen Vorgaben, Kontrolle und Aufsicht sein.
Noch etwas ist mir bei diesem Bericht aufgefallen,
meine Damen und Herren. Das ist die Frage: Müssen wir
zuerst bei Institutionen und Kompetenzverlagerungen
ansetzen? Ist das die erste Priorität?
({15})
Es wird großer Wert auf Kompetenzverlagerungen und
auf Institutionen gelegt. Meine Vision von Europa ist
nicht ein Europa der Institutionen, sondern ein Europa
der Menschen, ein Europa, in dem die demokratische
Legitimität erkennbar und immer auch Richtschnur unseres Handelns ist.
({16})
Dafür haben wir noch viel zu tun.
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Priska Hinz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kanzlerin fährt zum Gipfel und muss für diesen Gipfel
bei ihrer Politik eine Kurskorrektur vornehmen.
({0})
Der Weg der einseitigen Sparpolitik geht zu Ende. Zwei
Jahre Ideologie, dass nämlich Wettbewerbsfähigkeit nur
durch ein Spardiktat erreicht werden kann, gehen jetzt zu
Ende, und das ist richtig so. Wir haben dazu beigetragen,
dass dieser Weg endlich zu Ende geht.
({1})
Schulden sind nicht mit Schulden zu bekämpfen. Das
ist völlig klar.
({2})
Ich bin Haushälterin; deswegen weiß ich, wovon ich
spreche.
({3})
Strukturreformen und Haushaltsdisziplin sind notwendig, aber die Konsolidierung von Haushalten und Staaten, die in der Krise sind, muss auch mit gezielten Investitionen begleitet werden, weil Arbeitslosigkeit und
Unternehmenspleiten zu sozialen Verwerfungen und
nicht zu wirtschaftlicher Gesundung führen, meine
Damen und Herren.
({4})
Wir haben es in den Verhandlungen zum Fiskalvertrag geschafft, ein Investitionsprogramm durchzusetzen,
das schon lange auf der Tagesordnung hätte stehen müssen. Investitionen in nachhaltige Wachstumsbereiche, in
den Netzbereich können jetzt endlich stattfinden, und
das ist für die Krisenstaaten auch dringend notwendig,
weil Sparen allein nicht hilft.
({5})
Wir haben bei diesen Verhandlungen aber auch weitere Reformen durchgesetzt. So soll es im Wege der
verstärkten Zusammenarbeit endlich eine Finanztransaktionsteuer geben. Damit sollen jetzt Finanzprodukte
besteuert werden und Finanzjongleure und Spekulanten
endlich an den Kosten der Krise beteiligt werden.
Herr Gysi, wenn Sie den Fortgang der Verhandlungen
nicht richtig verfolgt haben
({6})
und hier mit einem alten Dokument auftauchen, dann tut
es mir leid.
({7})
Eigentlich müssten Sie diesem Verhandlungsergebnis
zustimmen können.
({8})
Es ist gut, dass der Teil der Koalition, der seit mindestens drei Jahren nur eine politische Botschaft kennt,
nämlich „Steuersenkung, Steuersenkung, Steuersenkung“, jetzt endlich eine Kehrtwende machen muss. Die
Kanzlerin hat offenbar begriffen, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und sich - gemeinsam mit uns über ihren Koalitionspartner hinwegsetzen muss.
({9})
An dieser Stelle danke ich den grünen Verhandlungsleuten - der Kollege der SPD hat denen aufseiten der SPD
seinen Dank ausgesprochen - dafür, dass sie dies durchgesetzt haben.
({10})
Langsam wird nun ein Rahmen um den Fiskalvertrag
gebaut, damit die Schlagseite der Krisenpolitik beseitigt
wird und das Ganze endlich wieder ins Lot gerät, meine
Damen und Herren.
({11})
Aber welche Entscheidung brauchen wir jetzt eigentlich
für Europa, neben den Anbauten an den Fiskalvertrag,
über die wir verhandelt haben? Frau Bundeskanzlerin,
wie viel Druck von der Opposition und anderen europäischen Staaten brauchen Sie eigentlich noch, um sich
endlich auf weitere notwendige Reformen einzulassen?
Den langen Beifall heute haben Sie doch nur bekommen,
weil Sie wieder mantraartig gesagt haben: Euro-Bonds,
Euro-Bills, gemeinschaftliche Anleihen wird es nicht geben.
({12})
Dann haben Sie heute Morgen auch noch Ihre Lebenszeit damit verknüpft. Ich frage Sie: Was ist das denn für
eine Art von Politik?
({13})
Frau Bundeskanzlerin, wir wünschen Ihnen ein sehr
langes Leben;
({14})
aber Sie sollten es wirklich nicht an die Einführung von
Euro-Bonds knüpfen.
Priska Hinz ({15})
({16})
Angesichts der Tatsache, dass Sie Ihre roten Linien oft
überschritten haben, wünschen wir Ihnen etwas Besseres
als das, was Sie sich anscheinend selber wünschen.
Schauen Sie sich doch jetzt den Vorschlag der sogenannten Big Four an, der auf dem Tisch liegt. Dazu gehört ein Altschuldentilgungsfonds, um den Zinsdruck zu
senken.
({17})
Das ist jetzt notwendig. Jetzt kommen Spanien und Zypern unter den Rettungsschirm, Italien wankt, und wir
brauchen einen Altschuldentilgungsfonds, um den Zinsdruck in diesen Staaten zu lindern.
({18})
Das sind noch keine gemeinsamen Anleihen wie EuroBonds. Vielmehr bürgen die Staaten für ihren Teil der
Schuldentilgung. Trotzdem müssen sie natürlich Strukturreformen vornehmen. Aber beides gehört zusammen,
und das müssen Sie bitte endlich einmal verstehen.
({19})
Sie müssen diese Kurskorrektur vornehmen.
Ein weiterer Vorschlag liegt auf dem Tisch: die sogenannte Bankenunion, die Sie nicht so nennen wollen, mit
Bankenrestrukturierungsregelungen und einer integrierten Aufsicht. Wir brauchen auch einen Schuldenpakt für
Europa, um einen Steuerwettbewerb zu verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wir wissen: Europa funktioniert nur mit Solidität und Solidarität; das ist auch Ihr Credo. Aber neben der Solidität, die wir am Freitag einführen, muss es auch endlich
die Solidarität geben. Deswegen werden wir Sie beim
Altschuldentilgungsfonds weiter treiben; wir werden
nicht nachlassen. Wir haben jetzt die Big Four an unserer
Seite, und Sie werden sehen: Wir werden Sie auch noch
zu dieser Kurskorrektur zwingen.
Danke schön.
({20})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Joachim Spatz
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Hinz, Ihre Rede sei Ihnen nachgesehen.
({0})
Wenn sie dazu dient, dass die Grünen am Freitag mit
überwältigender Mehrheit zustimmen, dann hat sie ihren
Zweck erfüllt.
Meine Damen und Herren, es ist schon bezeichnend,
dass diejenigen, die sonst immer die Grenzen des
Wachstums wie ein Mantra vor sich hertragen, jetzt die
Jünger nachhaltigen Wachstums sind.
({1})
Herzlich willkommen im Klub, meine Damen und Herren!
Europa - das wird immer wieder gesagt - ist der
Garant für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand
auf unserem Kontinent. Aber ich glaube, wir müssen
dieser Erkenntnis, die auf die Bürgerinnen und Bürger
wahrscheinlich keine besondere Anziehungskraft mehr
ausübt, weil sie schon zu selbstverständlich geworden
ist, auch noch hinzufügen, was die Zukunftsvision dieses
Europas ist. Da reicht ein Blick auf die Landkarte, um zu
sehen, dass jeder einzelne Mitgliedstaat - das gilt auch
für Deutschland, das in absehbarer Zeit nur noch 1 Prozent der Weltbevölkerung stellen wird - diese Stabilitäts-, Sicherheits- und Wohlstandsleistung nicht alleine
erbringen kann. Deshalb sind wir dazu verurteilt, gemeinsam Erfolg zu haben. Aber den gemeinsamen Erfolg erreichen wir sicher nicht mit falschen Rezepten.
Deshalb ist der Weg der Solidität, den die Bundesregierung gegangen ist und für den sie in Europa einsteht, in
Wirklichkeit ohne realistische Alternative. Ich bin der
Bundesregierung dankbar, dass sie auf den Dreiklang
von Wachstumsstimulation, Solidarität, die wir durch
den ESM gewähren, und Solidität, die wir allen anderen
abverlangen müssen, besteht. Dies ist der richtige Weg.
({2})
Meine Damen und Herren, ich hatte mir eigentlich
vorgenommen, heute keine Schärfe in die Debatte zu
bringen. Aber wenn derjenige, der beim Verletzen des alten Stabi-Pakts und bei der Aufnahme Griechenlands in
die Euro-Zone im Kanzleramt saß, heute auf die Kanzlerin zeigt und sie als Teil des Problems bezeichnet, dann
muss ich sagen: Es zeigen mindestens drei Finger auf ihn
zurück.
({3})
Es ist schon sehr mutig, hier die Bemühungen der
Bundesregierung im Hinblick auf den Dreiklang von
Wachstum, Solidarität und Solidität, den wir gegen
große Widerstände durchgesetzt haben, zu kritisieren. Es
ist schon sehr mutig, einen solchen Vorwurf zu machen,
wenn man dafür verantwortlich ist, dass der alte Stabilitätspakt gescheitert ist.
({4})
Wir werden noch viel Gelegenheit haben - die Kanzlerin hat die Ausrichtung des europäischen Haushaltes
angesprochen, der aktuell verhandelt wird -, diese
Schwerpunkte im Hinblick auf nachhaltiges Wachstum
zu unterstützen. Ich bin gespannt, wie mutig Deutsch22236
land vorangeht, bei gleichzeitiger Beschränkung der
Einnahmen in der Europäischen Union. Diese neuen,
mutigen Weichenstellungen führen zu einer größeren
Unterstützung für transnationale Netze in den Bereichen
Verkehr, Telekommunikation, Elektrizität und Energieversorgung sowie zu mehr Förderung für Forschung,
Wissenschaft und Bildung. Dies steht im Gegensatz zu
den alten Haushalten. Ich bin gespannt, wie entschieden
die Mitstreiter vorangehen. Wir sind auf jeden Fall an
der Seite derer, die das tun, und das alles, ohne dass
mehr Geld nach Europa fließt. Auch die europäische
Ebene muss zur Konsolidierung unserer Haushalte beitragen.
({5})
Es kann nicht funktionieren, wenn die Kommunen und
Bundesländer sich anstrengen müssen, aber auf der europäischen Ebene Wunschkonzert gespielt wird. Das wird
nicht funktionieren.
Es muss hier ein Stück weit die Quadratur des Kreises
gelingen: neue Prioritätensetzung in Richtung nachhaltiges Wachstum und mehr Beschäftigung bei gleichzeitiger Haushaltsdisziplin. Jeder ist aufgefordert, an dieser
Stelle mitzuhelfen. In dieser Woche werden wir unserer
historischen Verantwortung gerecht, an die wirklichen
Ursachen der Krise heranzugehen und dem Dreiklang
aus Solidarität, Solidität und Wachstumsstimulation
Geltung zu verschaffen, indem wir dem ESM und dem
Fiskalpakt zustimmen.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Joachim Poß.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Merkel, Sie haben vorhin beim Verlesen Ihrer Erklärung vergessen, an einigen Stellen hinzuzufügen: Copyright SPD und Grüne.
({0})
Viele Punkte, die Sie zum Thema Wachstum erwähnt
haben, gehen eindeutig auf die Vorschläge von uns zurück, die in den Gesprächen, die wir mit Ihnen geführt
haben, und im Schreiben unseres Fraktionsvorsitzenden
Steinmeier und der Fraktionsvorsitzenden der Grünen
Gegenstand waren. Für die deutsche Bevölkerung wäre
es hilfreich gewesen, wenn Sie deutlich gemacht hätten,
wie Sie sich auf uns zubewegt haben. Es ist doch so: Sie
bewegen sich und sind flexibel, und zwar immer dann,
wenn Sie unter Druck geraten, sehr geehrte Frau Merkel.
Offenkundig sind Sie jetzt unter Druck geraten. Das war
gut so, damit wir in Europa wie auch in Deutschland
nicht im Nirwana der Austerität landen.
({1})
Wir haben dafür gesorgt, dass wir eine realistische
Perspektive zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer bekommen haben, nachdem zweieinhalb Jahre in
dieser Frage von der schwarz-gelben Koalition nur
getrickst und getäuscht wurde. Jetzt gibt es endlich
Klarheit. Dies ist keine freiwillige Klarheit, sondern sie
entstand durch den Druck, den wir hier im Parlament
entfaltet haben. Das haben aber auch außerhalb des Parlaments viele kirchliche und andere Gruppen getan, die
sich gesellschaftlich engagiert haben und die man hier
nicht vergessen sollte.
({2})
In diesem Zusammenhang, Frau Merkel, wäre es vielleicht gut, wenn Sie unter anderem mit Ihrer guten Bekannten Frau Lagarde die Punkte erörtern würden, die
Sie bis jetzt immer noch tabuisieren. Es gibt neben Frau
Lagarde vom Internationalen Währungsfonds kaum einen anerkannten Ökonomen auf der Welt,
({3})
der nicht sagt: Wir brauchen in dieser Frage eine Lösung.
Das heißt doch nicht, dass man unbedingt irgendwelchen Vorschlägen folgen müsste. Das Ganze darf aber
nicht von vornherein tabuisiert werden. Man muss doch
darüber diskutieren können, was denn wirklich im deutschen Interesse und im Interesse der deutschen Arbeitsplätze liegt, und darüber, welche Lösungen dabei helfen,
unseren Standort zu stabilisieren.
Ich glaube, Sie bewegen sich unter dem Druck von
FDP und einigen anderen auf dem Holzpfad. Ihnen mangelt es an Mut, Frau Merkel. Anstatt die Dinge offensiv
anzupacken, ducken Sie sich weg, weil es im Zuge dieser Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland unangenehm werden kann.
({4})
Kollege Poß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Schlecht?
Ja, gerne.
({0})
Herr Kollege, Sie haben vorhin gesagt, mit dieser Regelung würde man das Nirwana der Austerität verlassen.
Können Sie bitte einmal erklären, in welcher Weise europaweit aufgelegte Kürzungsprogramme in Höhe von
600 oder 700 Milliarden Euro - aus meiner Sicht ist das
das Nirwana der Austerität - mit dem sogenannten
Wachstumspakt zusammenpassen, der sich in einer Größenordnung von 120 oder 130 Milliarden Euro bewegt?
Dieser Wachstumspakt an sich ist bereits kritikwürdig,
darauf will ich jetzt aber gar nicht eingehen.
Zweite Frage. In der Regelung zur Finanztransaktionsteuer steht die wunderbare Formulierung, es müsse „auf
die Realwirtschaft Rücksicht genommen werden“. Können Sie mir bitte erklären, wie eine Finanztransaktionsteuer funktionieren soll, die die Realwirtschaft nicht berührt? Das ist für mich in der Tat ein Mysterium.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich kann jetzt natürlich
nicht all Ihre Mysterien bearbeiten. Das wäre bei Ihnen
auch wirklich zeitraubend, wenn ich Ihre Äußerung richtig beurteile.
({0})
Ich gehe jedoch davon aus, dass wir das Ganze im
Rahmen der Gesetzgebungsarbeit im wahrsten Sinne des
Wortes bearbeiten werden. Ebenso haben wir gesagt,
dass wir auch auf andere Dinge Rücksicht nehmen. Vieles wird in puncto negativer Effekte der Finanztransaktionsteuer falsch in die Welt gesetzt, wie beispielsweise
im Zusammenhang mit den berühmten Riester-Sparern.
Übrigens hat Herr Gysi heute Morgen erwähnt, dass beispielsweise Derivate der vereinbarten Transaktionsteuer
gar nicht unterfallen würden. Das ist schlicht falsch. Ich
fordere Herrn Gysi auf, diese falsche Behauptung nicht
weiter zu verbreiten.
({1})
Wir haben die Derivate in unserem Text ausdrücklich erwähnt.
Zum zweiten Aspekt Ihrer Frage, Herr Kollege
Schlecht. Die Sache mit der Austerität ist doch offenkundig. Die Regierung, die wie Frau Merkel der Öffentlichkeit gegenüber bisher den Eindruck erweckt hat - jedenfalls hat die ganze Welt sie so verstanden; vielleicht
wurde sie in den letzten Wochen aber auch immer missverstanden, und alle anderen waren dumm -, dass sie
ausdrücklich und ausschließlich auf Haushaltskonsolidierung setzt, musste nun aufgrund der Gespräche mit
der Opposition eine Reihe beachtlicher Wachstumsinitiativen in ihr Papier aufnehmen. Das bedeutet eine Änderung der Philosophie.
({2})
Dazu haben wir aus der Opposition heraus beigetragen. Ich denke, dass die Grünen und auch die SPD allen
Anlass haben, das für den richtigen Weg zu halten. Wir
wollen nicht, dass durch überzogene Austeritätsprogramme in Europa das Wachstum beeinträchtigt wird, so
wie es passiert ist. Davon wollen wir weg; denn das ist
der falsche Weg.
({3})
Zur Finanztransaktionsteuer habe ich mich bereits geäußert. Es ist Ihnen offenbar entgangen, was ich dazu gesagt habe. Aber Sie können ja noch eine Frage nachsetzen. Ich glaube, dass die Bundeskanzlerin gut beraten
wäre, sich den Rat ihrer Freundin Lagarde zu Herzen zu
nehmen und mit ihr und anderen anerkannten Ökonomen
in der ganzen Welt eine wichtige Frage zu erörtern, die
es jetzt zu erörtern gilt: Wie kommen wir bei der Frage
der „alten“ Verschuldung zu einer Lösung, und wie können wir das mit dem Gedanken der Schuldentilgung verknüpfen? Ich bitte Sie herzlich, das Thema nicht von
vornherein von der Tagesordnung zu nehmen; denn damit würden Sie den Weg zu anderen Lösungen in der Europäischen Union und der Euro-Zone verbauen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Meister für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wenn der Kollege Steinmeier schon gegangen ist,
möchte ich ihm von dieser Stelle ein ganz herzliches
Dankeschön zurufen; denn er hat in dieser Woche, in der
wesentliche Entscheidungen zum Fiskalvertrag und zum
ESM anstehen, klar formuliert, dass auch die Opposition
zu ihrer europapolitischen Verantwortung steht und die
anstehenden Entscheidungen mittragen wird. Das ist ein
gutes Zeichen. Es zeigt, dass unser Parlament in einer so
wichtigen Frage handlungsfähig ist.
({0})
Lieber Herr Poß, Sie haben eben das Thema Wachstum
angesprochen. Ich beschäftige mich mit diesem Thema
schon seit 2004. Ich stelle fest, dass wir eine Diskussion
über Stabilität und Wachstum schon einmal geführt haben. Damals ging es um die Frage, ob der Stabilitätsvertrag von Maastricht nicht durch eine Wachstumskomponente hätte ergänzt werden müssen. Wir haben 2004
heftigst über diese Frage gestritten. Das Resultat war,
dass der Stabilitätsvertrag aufgeweicht wurde. Diese Aufweichung des Stabilitätsvertrages hat uns die Probleme
beschert, über die wir heute diskutieren. Wir sollten nicht
noch einmal denselben Fehler machen und unter dem
Stichwort „Wachstum“ über eine Aufweichung des Stabilitätsvertrages diskutieren.
({1})
Wir wollen Wachstum, aber nur auf dem Fundament einer klaren Stabilitätskultur.
({2})
Wir sollten mit der Legendenbildung aufhören, dass
wir erst seit heute, seit einigen Tagen oder Wochen über
das Thema Wachstum in Europa diskutieren. Ich erinnere daran: Für die Jahre 2000 bis 2010 wurde die Lissabon-Strategie vereinbart. Sie ist krachend gescheitert.
Europa sollte der dynamischste, wettbewerbsfähigste
und wachstumsstärkste Kontinent der Erde werden. Was
ist dabei herausgekommen? Nichts! Das Problem ist
nicht etwa, dass wir nicht über Wachstum diskutieren
oder wir uns nicht auf Maßnahmen verständigen, wie
Wachstum erzeugt werden soll. Das Problem ist, dass
wir mehr Verbindlichkeit in der Umsetzung brauchen.
Das, was wir verabreden, muss auch umgesetzt werden.
Wir wollen Wachstum, und jetzt geht es darum, zu organisieren, dass die Verantwortung, die wir tragen, auch
wahrgenommen wird.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle unserer Bundeskanzlerin
Danke sagen. Sie hat nicht nur betont, dass wir nachhaltiges Wachstum brauchen, sie hat auch unter dem Stichwort „Euro plus“ ausgeführt, dass wir Verfahren organisieren wollen, die gewährleisten, dass jeder seine
Verantwortung wahrnimmt. Wir in Deutschland wissen
aus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, Arbeitsmärkte flexibler zu gestalten, Sozialsysteme zu reformieren und
Steuersysteme zu verändern. Deshalb ist es wichtig, dass
wir für mehr Verbindlichkeit sorgen und nicht nur einfach nach Wachstum rufen.
Wir als Union gehören nicht zum Fanclub des Club of
Rome. Wir haben nie bezweifelt, dass wir unseren Wohlstand nur dann halten können, wenn wir auf dieser Welt
Wachstum organisieren. Ich wundere mich manchmal
über einzelne Redebeiträge. 30 bis 40 Jahre lang haben
wir gehört, dass wir kein Wachstum mehr brauchen. Nun
wird plötzlich so getan, als sei Wachstum die einzige Lösung für die großen Probleme, vor denen wir stehen.
({4})
Liebe Freunde, wir führen eine Diskussion vor dem
Hintergrund einer vergemeinschafteten Geldpolitik. Eine
Antwort darauf muss sein, dass wir in Europa mehr gemeinsame Verantwortung in der Fiskalpolitik übernehmen. Es ist aus meiner Sicht vernünftig, mit dieser Diskussion jetzt zu beginnen. Ein Diskussionsvorschlag
liegt vor. Nun kann über die richtige Agenda gesprochen
werden. Es geht um die Frage: Was muss in diesem Kontext getan werden?
Ich möchte mich dafür bedanken, dass auf der
Agenda „Mehr Demokratie für Europa“ steht. Als Parlamentarier sage ich: Das ist auch richtig so. Bisher haben
wir im Deutschen Bundestag bei allen zu ergreifenden
Maßnahmen versucht, Legitimation und Kontrolle im
Deutschen Bundestag zu verankern, aber das kann doch
auf Dauer nicht tragen. Deshalb müssen wir dringend
miteinander darüber sprechen, wie wir Legitimation und
Kontrolle in Europa verankern können. Ich wünsche dabei viel Erfolg; denn diejenigen, die das Thema auf die
Agenda gesetzt haben, sind keine Parlamentarier. Diese
Aufgabe muss im Interesse der Demokratie in Europa
angegangen werden.
({5})
Ein weiterer Punkt. Alle rufen: Mehr Europa, mehr
fiskalpolitische Union! - Ja, aber nun sind wir an einem
kritischen Punkt angelangt. Es reicht nicht, zu sagen:
Wir wollen mehr Europa. Vielmehr werden wir darüber
diskutieren müssen, wie dieses Europa aussehen soll.
({6})
An dieser Stelle halte ich einen konstruktiven Streit für
sinnvoll. Wir müssen tatsächlich darüber diskutieren,
wie dieses Europa aussehen soll.
Dazu sagen wir erstens: Da wir gesagt haben, dass wir
es uns in Zukunft aus ordnungspolitischen Gründen
nicht erlauben können, dass systemrelevante Banken
durch Steuergelder gerettet werden müssen, haben wir
vor gut einem Jahr in Deutschland das Restrukturierungsgesetz beschlossen. Zu dem Vorschlag, dieses deutsche Modell nach Europa zu exportieren, sage ich ausdrücklich: Ja, das ist ein vernünftiger Vorschlag. Diesen
Weg sollten wir so schnell wie möglich gemeinsam gehen.
Zweitens sagen wir - das haben wir im Zusammenhang mit der Hypo Real Estate gelernt -: Wir brauchen
mehr gemeinsame Aufsicht bei systemrelevanten Banken in Europa. Wir haben selbst erfahren, dass das ein
vernünftiger Vorschlag ist. Die Lernkurve der EBA, die
wir geschaffen haben, zeigt nach oben. Sie ist für die gesamte EU zuständig, nicht nur für die Euro-Zone. Deshalb ist aus meiner Sicht an dieser Stelle ein Hinweis auf
die Europäische Zentralbank vernünftig. Ich traue dieser
Instanz zu, eine vernünftige Finanzkontrolle in Europa
aufzubauen. Wir müssen allerdings ähnlich wie bei der
Bundesbank darauf achten, dass die geldpolitische Unabhängigkeit dieser Institution gewahrt bleibt. Wir dürfen
diesen neuen Auftrag nicht dazu nutzen, die geldpolitische Unabhängigkeit der Zentralbank infrage zu stellen.
Etwas ganz anderes ist es, wenn gefordert wird, die
Einlagensicherung zusammenzuführen. Wenn wir die
Einlagensicherung zusammenführen, dann ist das ein
Stück weit die Einführung der Umlagefinanzierung
durch die Hintertür, ohne dass die Kompetenzen in einer
Hand liegen. Lediglich die Haftung würde vergemeinschaftet. Deshalb bin ich der Meinung: An dieser Stelle
sollten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein klares Nein
formulieren. Keine gemeinsame Einlagensicherung!
({7})
Ich finde die Frage, über welche Banken wir eigentlich reden, sehr spannend. Darüber sollten wir einmal
diskutieren. Reden wir über die systemrelevanten Banken? Reden wir über die grenzüberschreitend tätigen
Banken? Reden wir über alle Banken? Reden wir über in
Schieflage geratene Banken? Ich glaube, auch diese
Frage müssen wir beantworten. Wir sollten vielleicht mit
dem Punkt „systemrelevant“ starten, weil das der wirklich gefährliche Aspekt ist. Dann müssen wir uns überlegen, ob man irgendeinen Mechanismus etablieren kann,
damit sich die europäische Aufsicht einschalten kann,
wenn an anderer Stelle ein Problem auftaucht; siehe Spanien. Das wäre vielleicht ein vernünftiger Vorschlag.
Ansonsten bin ich ein Anhänger des Subsidiaritätsgedankens. Nicht jede Sparkasse und nicht jede Volksbank
in Deutschland muss von einer zentralen europäischen
Aufsicht beaufsichtigt werden. Das kann auch der natioDr. Michael Meister
nale Aufseher in vernünftiger Weise tun, wenn er seine
Verantwortung wahrnimmt.
({8})
Der Frau Kollegin Hinz, die unsere Verantwortung im
Zusammenhang mit der Frage der gemeinsamen Haftung
angesprochen hat, möchte ich sagen: Ich persönlich halte
es am heutigen Tage für verantwortungslos, eine gemeinsame Haftung der europäischen Steuerbürger für
die Schulden aller Euro-Staaten einzufordern.
({9})
Auf dem Fundament, das wir heute haben, ist das verantwortungslos. Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen.
({10})
Wir lassen uns von Ihnen auch nicht in ein verantwortungsloses Handeln in dieser Frage treiben. Das wäre lediglich ein Anreiz, mehr zu konsumieren, weniger diszipliniert zu leben und in die falsche Richtung zu gehen.
Ich verdeutliche Ihnen das am deutschen Länderfinanzausgleich. Dort haben wir ein Transfersystem ohne
Anreize. Jetzt schauen Sie sich einmal die letzten
60 Jahre an: Nur ein Bundesland hat es geschafft, vom
Empfänger zum Zahler zu werden. Alle anderen haben
entweder den Status quo gehalten oder wurden vom Zahler zum Empfänger. Diese Geschichte zeigt, dass mit einem solchen System falsche Anreize gesetzt werden.
({11})
Ein solches System führt dazu, dass man sich in die
Hängematte legt und nichts tut. Was wir in Europa brauchen, sind mehr gemeinsame Anstrengungen. Wir brauchen das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen,
damit die Europäische Union, damit das Euro-Land vorankommt. Wir dürfen keine Anreize setzen, die dazu
führen, dass sich jeder ausruht und gleichzeitig auf den
Nachbarn schaut, hoffend, dass dieser im Zweifelsfall
hilft.
({12})
Zum Abschluss: Hier wird über Maßnahmen diskutiert. Aus meiner Sicht leidet die Debatte manchmal darunter, dass vergessen wird, dabei auf die Zeitschiene zu
verweisen. Es gibt einige Dinge, die man kurzfristig tun
kann, andere, die mittelfristig angelegt sind, und wieder
andere, die langfristig angelegt sind. Ich glaube, es wäre
sinnvoll, wenn man sich jenseits der Frage, was auf der
Agenda steht, darauf verständigt, in welchen Zeitabläufen die einzelnen Projekte angegangen und wie sie abgeschlossen werden sollen. Ich glaube, das, was wir erreichen müssen, ist nicht neues Recht in Europa - das ist
nur ein kleiner Teil des Ganzen -, was wir vor allem benötigen, ist das Vertrauen der Menschen in Europa. Auch
die Investoren jenseits Europas müssen darauf vertrauen
können, dass wir diese Regeln auch leben.
Ich möchte Herrn Poß an dieser Stelle sagen: Wir haben Anfang des vergangenen Jahrzehnts ein wirklich
schlechtes Beispiel gegeben. Wir haben eine Rechtsgemeinschaft in der EU, und wir als Deutsche haben als
Erste dazu aufgerufen, das Recht zu brechen.
({13})
Wenn wir das in dieser Weise leben, dann können wir
noch so oft neue Vereinbarungen treffen - solange wir
diese nicht verinnerlichen und leben, werden sie nicht
funktionieren. Deshalb kann ich nur appellieren: Es
reicht nicht, neue Vereinbarungen zu treffen, sondern wir
müssen das Vereinbarte auch selbst vorbildhaft vorleben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({14})
Der Kollege Manuel Sarrazin hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte versuchen, einen anderen Aspekt in die Debatte
einzubringen. Die Kanzlerin hat gerade von einer schonungslosen Analyse der Krise gesprochen. Ich finde es
bemerkenswert, Frau Bundeskanzlerin, dass in dieser
schonungslosen Analyse die Herausforderungen, die bezüglich nationaler und europäischer Demokratie vor uns
liegen, schlichtweg nicht vorgekommen sind. In der letzten Woche gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Im Feuilleton der FAZ trug ein Artikel zu dem
Thema folgende Überschrift: „Anatomie einer Hintergehung“. Nicht diejenigen in diesem Haus, die am lautesten schreien - also die Linkspartei -, und auch nicht diejenigen, die am dicksten mit Stabilität auftragen - also
die Koalition -, haben der Bundesregierung die Schranken aufgezeigt, sondern nur die Grünen haben sich gegen diese Hintergehung gewehrt, für die demokratischen
Rechte des Bundestages gekämpft, und wir haben diesen
Kampf gewonnen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, vor diesem Hintergrund hätte
ich zum einen erwartet, dass Sie darstellen, dass Sie uns
dankbar sind, dass wir mögliche verfassungsrechtliche
Probleme hinsichtlich der Rechte des Bundestages, die
der Fiskalvertrag hätte aufwerfen können, durch unsere
Klage abgebogen haben. Zum anderen hätte ich erwartet,
dass Sie jetzt endlich deutlich machen, dass sich in Europa etwas verändert und dass jetzt die Zeit ist, darüber
zu reden, wie wir diese Institutionen, die gerade an- und
zugebaut werden, in das europäische Haus eingliedern
und mit europäischer Demokratie in Verbindung bringen
können.
({1})
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie endlich für einen europäischen Konvent streiten und nicht nur fragen, ob
sein Ergebnis am Ende - wir kennen es noch nicht - per
Volksabstimmung oder anders legitimiert werden soll.
Ich erwarte, dass Sie endlich dafür einstehen, dass die
Debatte darüber, wie der nächste Integrationsschritt aussehen soll, öffentlich und transparent mit den Menschen,
mit den Sozialpartnern und mit der Zivilgesellschaft geführt wird.
({2})
In dieser Frage ist die Form sehr wichtig. Der Grundsatz parlamentarischer Öffentlichkeit, den das Verfassungsgericht zu einer der Grundlagen des Urteils gemacht hat, sollte uns auch bei dem Weg zu mehr Europa
anleiten. Deswegen möchte ich Sie sehr bitten: Sie wissen, dass wir die Integrationsschritte meistens unterstützen. Aber wir wollen nicht plump einen Blankoscheck
geben. Der europäischen Demokratie könnte nichts
Schlechteres passieren, als dass diese nächsten Integrationsschritte genauso aufs Tapet kommen wie der Fiskalvertrag. Wir müssen jetzt den Stil ändern, weg von den
Methoden Ihrer Politik der letzten zwei Jahre und zurück
zur Gemeinschaftsmethode und zur öffentlichen Debatte
von Anfang an über den nächsten Schritt. Dafür ist nur
ein europäischer Konvent mit vorgelagerter öffentlicher
Debatte geeignet.
({3})
Frau Kanzlerin, zu dieser Debatte über Euro-Bonds
und Haftung haben Sie angekündigt: Euro-Bonds wird
es nicht geben, solange ich lebe. Ich habe heute im Haushaltsausschuss der Einführung des ESM zugestimmt.
Auch in dessen Rahmen werden europäische Anleihen
emittiert. Da habe ich Angst um Ihre Gesundheit bekommen.
({4})
Sie haben vorhin die Projektanleihen von 1 Milliarde
Euro genannt. Da dachte ich schon - ich möchte Ihnen
persönlich wirklich nichts Böses -:
({5})
Kann ich da mitgehen, oder muss ich mir Sorgen machen?
({6})
- Kollege Fricke, wissen Sie, die Modelle von EuroBonds, die wir hier vertreten, sehen klar gemeinschaftliche Haftung vor,
({7})
aber sie sind mit so strengen Regeln durchsetzt, dass ich
verstehe, warum Sie dagegen sind; denn Sie wollen im
nationalen Haushalt mit Ihrem Gewurschtel weitermachen, siehe Betreuungsgeld.
({8})
Mir ist Folgendes aufgefallen: Ich bin 1982 geboren.
({9})
1998 war ich 16 Jahre alt. Ich dachte mir, wenn Helmut
noch einmal gewinnt, dann muss ich auswandern. Im Februar war ein Artikel von Helmut Kohl in der Bild-Zeitung. Ich muss sagen: Jeder Satz stimmte. Bei der Überschrift heute: „Keine Euro-Bonds, solange ich lebe“,
habe ich wieder an den Bild-Zeitungsartikel von Helmut
Kohl gedacht. Dort steht:
Meine Vision für Europa war und bleibt die Vision
der Gründerväter Europas: Es ist die Vision des geeinten Europas, das heißt eines immer engeren Miteinanders auf unserem Kontinent.
({10})
Dagegen stellen Sie die Aussage: „Keine Euro-Bonds,
solange ich lebe!“
Vielleicht ist das Problem der deutschen Europapolitik komplett beschrieben,
({11})
wenn man diese beiden Sätze nebeneinanderstellt.
Vielen Dank.
({12})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael
Stübgen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Rat tagt am Donnerstag und Freitag dieser Woche.
Wie fast alle Europäischen Räte in den vergangenen
zweieinhalb Jahren wird er sich im Schwerpunkt mit den
Fragen der Stabilisierung der Euro-Zone beschäftigen.
Aber es besteht auch das Vorhaben, Ideen für die Zukunft, wie die Europäische Union den Herausforderungen der Zukunft besser gewachsen sein kann, zu entwerfen und zu beschließen. Von den Big Four, den vier
Präsidenten, ist - das ist vorhin schon genannt worden die Losung ausgegeben worden: Wir brauchen mehr europäische Integration. Allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diejenigen, die im Moment
am lautesten nach mehr Integration rufen, am wenigsten
Interesse daran haben,
({0})
die Ursachen der Verschuldungskrise in ihren Ländern
an der Wurzel zu bekämpfen. Das ist menschlich nachvollziehbar.
({1})
Die Flucht nach vorn ist auf jeden Fall ein bequemer
Weg.
Eines muss dabei aber klar sein: Mit der Flucht nach
vorn bleiben die Probleme und deren Ursachen die gleichen. Das gilt für die Haushaltsdefizite, das gilt für die
Staatsverschuldung, das gilt vor allem für mangelnde
Wettbewerbsfähigkeit, und das gilt auch für zu geringes
Wachstum in vielen Euro-Ländern.
Ich will es noch deutlicher formulieren: Wer der Auffassung ist, dass man nur ausreichend Geld braucht, um
Wachstum zu generieren, dass man nur Schulden vergemeinschaften muss, um niedrigere Zinsen zu haben, dass
ein europäischer Schuldentilgungsfonds von der Rückzahlung der eigenen Schulden entbindet
({2})
und dass eine europäische Einlagensicherung irgendwie
alle Banken am Leben lässt, auch wenn sie kein Geschäftsmodell haben, das wettbewerbsfähig ist, auch
wenn sie Opfer ihrer eigenen Spekulationen geworden
sind, der begeht ökonomisch und politisch einen verhängnisvollen Fehler.
({3})
Am Dienstag haben wir im Bundestag die Vorschläge
der vier Präsidenten zugestellt bekommen. Trotz Anerkennung der Tatsache, dass die Definition der vier Bausteine durch die Präsidenten richtig ist, muss ich aber
feststellen, dass sich die Präsidenten mit ihren Vorschlägen leider weitgehend auf dem Holzweg befinden.
({4})
Ich will nur zwei Dinge ansprechen. Das erste ist der
sogenannte integrierte Finanzrahmen. Die Europäische
Union soll sich dafür einsetzen, eine wirkungsvolle europäische Bankenaufsicht mit Durchgriffsrechten umzusetzen - in der Tat absolut notwendig. Wir alle wissen,
dass die bisherigen Strukturen nicht funktionieren.
Gleichzeitig soll ein europäisches Einlagensicherungssystem geschaffen werden - mit dem Ergebnis, dass zum
Beispiel die Sparkassen in Deutschland für waghalsige
Finanzierungen ihrer spanischen Kollegen haften müssen, ohne sie verhindern zu können.
Zweitens möchte ich den sogenannten integrierten
Haushaltsrahmen ansprechen. Nach Auffassung der vier
Präsidenten soll eine gesamtschuldnerische Haftung eingeführt werden, ein sogenannter europäischer Schuldentilgungsfonds. Wir wissen mittlerweile, wie er ausgestattet werden muss: Die gesamtschuldnerische Haftung soll
einen Umfang von 2,3 Billionen Euro - ich sage es noch
einmal: 2 300 Milliarden Euro - haben.
({5})
Das Europäische Parlament ist in der vergangenen Woche noch einen Schritt weiter gegangen. Es forderte zusätzlich zu diesem europäischen Schuldentilgungsfonds
die Einführung von Stabilitätsanleihen in Höhe von
1 Prozent des Bruttonationalproduktes der EU 27. Das
macht im Finanzrahmen für die nächsten sieben Jahre
mehr als 1 Billion Euro aus.
Ich glaube, ich brauche hier nicht weiter zu vertiefen,
was es im Hinblick auf die Bonität Deutschlands bedeuten würde, wenn Deutschland innerhalb kurzer Zeit - zusätzlich zu allen Bürgschaften, die wir übernommen haben, und zusätzlich zu den Staatsschulden, die wir
haben - für einen Betrag von insgesamt mehr als 3 Billionen Euro gesamtschuldnerisch haften müsste.
({6})
Wir würden damit keine Probleme lösen. Wir würden
aber innerhalb kürzester Zeit Zinsen wie Spanien zahlen
müssen. Innerhalb kürzester Zeit wäre Deutschland dann
auch nicht mehr in der Lage, Ländern, die gerade
Schwierigkeiten haben, zu helfen.
({7})
Das ist das Problem in Bezug auf die konkreten Vorschläge der vier Präsidenten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa ist
nicht reif für die Visionen der Präsidenten. Wenn wir
noch einen Beleg dafür brauchen, dann müssen wir uns
nur anschauen, wie sich verschiedene Länder und verschiedene Regierungen der Euro-Zone in den letzten
Monaten aufgestellt haben. Wir wissen heute: Trotz des
Griechenland-I-Pakets, trotz des Griechenland-II-Pakets,
das über die EFSF finanziert wurde, und trotz einer massiven Schuldenentlastung in Höhe von über 100 Milliarden Euro hat Griechenland bis heute leider immer noch
nicht den Willen und den Mut aufgebracht, die unbedingt notwendigen strukturellen Reformen im Land in
ausreichendem Maße anzugehen.
Die Regierungen von Spanien und Zypern haben sich
in den letzten Wochen nahezu ausschließlich damit beschäftigt, für ihre Banken Geld aus den Sicherungsinstrumenten, dem ESM oder der EFSF, zu bekommen.
Gleichzeitig haben sie aber alles versucht - ihre gesamte
Energie haben sie hier hineingesteckt -, um dafür zu sorgen, dass damit möglichst keine Haftung und keine einzuhaltenden Konditionen verbunden sind. Der Ministerpräsident von Italien beschäftigt sich mehr damit, die
Einführung von Euro-Bonds einzufordern und durchzusetzen als damit, das strukturelle Defizit in seinem Land
zu bekämpfen.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
nicht reif für die Vergemeinschaftung von Schulden. Wir
dürfen nicht der Versuchung erliegen, den zweiten
Schritt vor dem ersten zu tun.
({9})
Um es mit einem Bild zu sagen: Wir müssen unser Fahrzeug erst reparieren, bevor wir auf die Autobahn fahren
können. Die Reparaturarbeiten sind hier im Bundestag in
vollem Gange.
({10})
Ich freue mich, dass wir am Freitag mit Zustimmung
von vier Fraktionen sehr wichtige Reparaturinstrumente
für Europa beschließen werden;
({11})
dann geht es um den ESM und seine Begleitgesetze und
um den Fiskalpakt. Darüber hinaus - auch das wird von
vier Fraktionen unterstützt - setzt sich Deutschland dafür ein, dass die Europäische Investitionsbank rekapitalisiert wird. Außerdem werden 10 Milliarden Euro für
Projektanleihen bereitgestellt - einige halten sie auch
schon für Euro-Bonds; wir nennen sie aber Projektanleihen, weil sie klar definiert sind -, und im Rahmen der
verstärkten Zusammenarbeit setzen wir uns für die Einführung einer Finanztransaktionsteuer ein. Ich glaube,
dies sind die richtigen Ansätze. Diese Ansätze sollte der
Europäische Rat in den nächsten beiden Tagen beraten.
Am Ende sollte er zu positiven Ergebnissen kommen,
damit Europa wieder gesunden kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich darf für den Teil meiner
Fraktion sprechen, der heute noch nicht so weit ist, zu
sagen: Wir stimmen am Freitag bei der Abstimmung
über ESM und Fiskalpakt mit Ja. - Unsere Bedenken
und Einwände beziehen sich auf den Aspekt von Demokratie und Verfassung und auf die Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa. Sie wurden bisher
leider weder in den Ausschüssen noch in dieser Plenardebatte wirklich entkräftet. Ich will deutlich machen:
Was unsere Bedenken betrifft, geht es nicht in erster Linie darum, ob einzelne Personen so oder so abstimmen.
Vielmehr gehen diese Bedenken quer durch alle Reihen.
Sie plagen uns alle.
Auch diejenigen, die heute noch nicht zustimmen
können, halten Solidarität in Europa und gemeinsames
Handeln für zwingend geboten. Auch diejenigen, die
noch nicht dabei sind, sind der Meinung, dass wir, die
Sozialdemokraten und die Grünen, mit dem Pakt für
Wachstum und Beschäftigung viel erreicht haben, um
die falsche Regierungspolitik zu korrigieren.
Wir haben die Finanztransaktionsteuer eingebracht,
für Wachstum geworben und über die Länder die Haushalte der Kommunen in den Blick genommen. Weder bei
der Bundesregierung noch bei der EU sehen wir aber ein
Abrücken von ihrer verheerenden Politik.
Die Arbeitslosigkeit erreicht tagtäglich neue Höchststände und Rekorde in Europa, das Wachstum bricht ein.
Das wird sich auch auf die Exporte Deutschlands und
auf die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen in
Deutschland auswirken. Wenn wir an unserer Südgrenze
erst einmal mexikanische Verhältnisse haben, dann wird
sich der Druck auf die Arbeits- und Sozialbedingungen
in Deutschland verschärfen. Als Antwort darauf hören
wir heute, dass die Dosis der gescheiterten Rezepte erhöht werden soll.
Frau Merkel tut so, als ginge es ums Sparen. In Wirklichkeit reißt ihre Politik aber immer größere Löcher,
weil das blinde Sparen die EU zu einer Rezessionsgemeinschaft macht. Hinsichtlich der Konsolidierung hebt
der Fiskalpakt eben ausdrücklich nicht auf Haushaltskonsolidierung ab, sondern nur auf die Beschränkung
der Ausgabenseite. Das kann man zum Beispiel in Art. 3
Abs. 1 des Fiskalpakts nachlesen. Deswegen wird die
ganze Situation durch diese Politik verschärft.
Frau Merkel tut so, als spreche Europa Deutsch. Das
hat jedenfalls Herr Kauder so gesagt. Was war denn unser Weg hier in der Bundesrepublik Deutschland aus der
Krise? Zusammen mit den Gewerkschaften und den Betriebsräten wurde Kurzarbeit auf der Basis gesicherter
Tarifautonomie vereinbart. Es gab zwei Konjunkturpakete in Höhe von insgesamt ungefähr 2 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts und einen Rettungsschirm, den
Sie jetzt wieder aufgelegt haben, von rund einem Viertel
des Bruttoinlandprodukts. Das hat Entschlossenheit gezeigt und dazu geführt, dass die Spekulation und die Arbeitslosigkeit bei uns nicht in die Höhe geschossen sind.
({0})
Das hat uns durch die Krise gebracht und Wachstum und
Beschäftigung gesichert.
Frau Merkel geht jetzt sogar so weit, hier Mindestlöhne zu fordern und die Tarifparteien zu höheren Lohnabschlüssen zu ermuntern. In der Europäischen Union
setzen Sie aber genau das Gegenteil von dem durch,
nämlich Lohnsenkungen allenthalben, Sozialabbau, ein
Aufbrechen des Flächentarifvertrags, den Abbau von
Arbeitnehmerrechten und massive Kürzungen von öffentlichen Investitionen. Das ist genau das Gegenteil von
dem, was uns hier den Erfolg gebracht hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung,
das ist die internationale Strategie des Neoliberalismus,
die Strategie der Zocker und Umverteiler.
({1})
Eine Vergemeinschaftung gibt es schon längst - nur eben
nicht bei der Haftung, sodass diejenigen, die das Geld
haben und die an der Krise verdient haben, herangezogen werden könnten, sondern eine Vergemeinschaftung
des Sozialabbaus. Die Lasten werden bei den Arbeitnehmern, bei den Rentnern und bei den Jugendlichen abgeladen. Sie bezahlen die Zeche gemeinschaftlich.
Deswegen fehlt uns der Aspekt der Einnahmeseite,
zum Beispiel die Bekämpfung der Kapitalflucht, wirksame Maßnahmen für Wachstum, die nicht durch die
verschärften Regeln des Fiskalpakts aufgezehrt werden,
und soziale Mindeststandards bei Löhnen und sozialen
Leistungen, damit es nicht zu dem kommt, was wir jetzt
in Griechenland so bitter erleben, dass nämlich die Menschen vor den Türen der Krankenhäuser und Apotheken
stehen und keine Behandlungen und Medikamente mehr
bekommen, weil Sie in die Regeln für Griechenland hineingeschrieben haben, dass die Gesundheitsausgaben
höchstens 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen
dürfen. Hier muss eine grundlegende Korrektur erfolgen!
Kollege Barthel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. - Die falschen Regeln, die Sie jetzt schon durchgesetzt haben,
dürfen nicht per Fiskalpakt völkerrechtlich in Beton gegossen und verewigt werden. Das können Sie in Ihren
Unterlagen selber nachlesen. Ich bin sehr gespannt, wie
Sie da einmal herauskommen wollen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die
Unionsfraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte wurde so oft von Krise
und Problemen gesprochen, dass ich zunächst einmal erwähnen möchte, welch ein Erfolgsmodell Europa nicht
nur an sich, sondern auch für die Menschen ist.
({0})
8 Prozent der Weltbevölkerung - so viele sind wir
nämlich in Europa - erwirtschaften 25 Prozent des BIPs.
50 Prozent der Sozialleistungen auf der ganzen Welt stehen den Menschen in Europa zur Verfügung. Dies ist ein
weltweites Erfolgsprojekt für die Menschen in Europa.
Das ist wichtig zu sagen.
({1})
Über dieses Erfolgsmodell diskutieren wir, weil es in
Europa unterschiedliche Entwicklungen gibt. Einige
Staaten haben das Problem einer besonders hohen
Staatsverschuldung und gleichzeitig einer besonders
hohen Arbeitslosigkeit. Beispielsweise hat Spanien eine
Arbeitslosenquote von 25 Prozent. Daneben gibt es Staaten wie zum Beispiel Deutschland, die eine vergleichsweise geringe Verschuldung und eine extrem geringe Arbeitslosigkeit - im Mai waren noch 2,86 Millionen
Menschen arbeitslos - haben. Das ist doch eindeutig ein
Hinweis darauf, dass eine solide Politik mit wenig
Schulden zu einer geringen Arbeitslosigkeit und eine unsolide Politik eben zu dem Gegenteil führt.
({2})
Ich habe heute die Rezepte gehört, mit denen man die
Sucht nach Geld - es ist ja eine süße Droge, Geld vom
Kreditmarkt aufzunehmen -, die Nöte, die es in einigen
Staaten Europas gibt, bekämpft. Das ist ja fast so, als
würde man - vorhin wurde ja gefordert, die Zinsen zu
senken -, weil Drogensüchtige Probleme haben, den
Kauf der Drogen zu finanzieren, nun eine Sammelbestellung aufgeben, um Rabatte auf die Gemeinschaftsbestellung zu bekommen. Diese Rezepte führen nicht dazu,
Drogensüchtige von ihrer Droge wegzubekommen.
({3})
Es muss auch anders gehen. Herr Barthel, Sie haben
vorhin darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft betroffen sind.
Sie reden hier immer sehr abstrakt von: „Wir müssen
helfen!“ Aber wir leisten uns doch keine Bundesdruckerei, die im Keller ganz eifrig Geld druckt. Weshalb sind
wir denn in dieser günstigen Lage? Vergleichen Sie doch
einmal die Entwicklung der Lohnstückkosten von 2000
bis 2012 in Deutschland. In Deutschland sind die Lohnstückkosten in diesen Jahren um durchschnittlich
0,7 Prozent gestiegen, während die Steigerung in Europa
in diesem Zeitraum bei durchschnittlich 1,7 Prozent lag.
Dadurch haben die deutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer den Wohlstand erwirtschaftet, von dem
wir heute alle gemeinsam profitieren, der Sicherheit für
die Zukunft bietet. Es sind die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland, mit deren erwirtschaftetem Geld Sie Gemeinschaftsanleihen finanzieren wollen.
Das müssen Sie denen auch beibringen. Diese Ehrlichkeit muss man Ihnen abverlangen können.
({4})
Wir müssen aber gar nicht so weit nach Europa gucken. Zu Beginn der Legislaturperiode im Jahre 2009
haben wir hier im Hause darüber diskutiert, wie wir mit
den finanziellen Rahmendaten klarkommen. Sie haben
uns vorgeworfen, als wir damals das Sparpaket aufgelegt
haben, wir würden Deutschlands Zukunft kaputtsparen.
Wir haben Ihnen schon damals gesagt, dass es darauf ankommt, durch intelligentes Sparen Wachstum zu schaffen und die Ausgaben zu begrenzen.
({5})
Den Erfolg sehen Sie heute an den Ergebnissen, die ich
Ihnen vorhin vorgetragen habe. Die politische Inkonsistenz, zum einen von einem „blöden“ Sparen zu sprechen
und zum anderen uns vorzuwerfen, wir würden nicht genug sparen, kann man sich nur leisten, wenn man in der
Opposition sitzt und hoffen kann, dass die Meinungsäußerungen nicht über zwei Jahre verfolgt werden. Dies
können und werden wir uns nicht leisten, weil wir eine
geradlinige Politik für die Menschen in Deutschland machen.
({6})
Klar ist: Es ist ein schwieriger Weg, den wir in
Deutschland einschlagen. Aber wenn wir die Entbehrungen, die wir den deutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern zugemutet haben, auch allen anderen in
Europa zumuten, dann wird sich dieser Weg lohnen.
Dann werden wir am Ende sehen, dass Stabilität und
Wachstum unverzichtbare Bedingungen für Wohlstand
sind. Ihn werden wir nur so sichern.
Die real existierenden Menschen in Deutschland
schauen auf unsere Bundeskanzlerin. Ich kann ihr von
diesem Pult nur zurufen: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, viel Erfolg auf dem Europäischen Rat morgen und
übermorgen. Dann werden wir am Freitag sehen, welche
Ergebnisse wir haben. Sie werden gut sein.
({7})
Danke schön.
({8})
Der Kollege Michael Roth hat nun für die SPD Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute im Laufe der Debatte war viel vom Sparen die
Rede: Sparen bei Sozialleistungen, Sparen bei den
Löhnen. Es gibt aber auch ein Sparprogramm für die Demokratie in Europa. Verantwortlich für dieses Sparprogramm sind diese Bundesregierung und diese Bundeskanzlerin.
({0})
Die Bundeskanzlerin hat mit der viel gepriesenen
Unionsmethode ein Europa der Regierungen, ein Europa
der Hinterzimmer zusammengebastelt. Sie hat das Europäische Parlament geschwächt. Sie hat die Gemeinschaftsinstitutionen geschwächt. Sie hat damit der parlamentarischen Demokratie in der Europäischen Union
einen Bärendienst erwiesen.
({1})
Sie hat abermals einen Verfassungsbruch vollzogen.
Spätestens seit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts wissen wir: Sie tritt nicht nur die Rechte
der parlamentarischen Institutionen in Brüssel mit Füßen, sondern sie ignoriert auch die parlamentarischen
Rechte des Deutschen Bundestages. Hier müssen wir
uns auflehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Deshalb glaube ich Ihnen auch nicht, Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung, dass Sie für ein demokratischeres und solidarischeres Europa eintreten. An den Taten wollen wir Sie
messen. Ihre Taten sind aber derart mickrig und unglaubwürdig, dass Sie darüber lieber schweigen sollten.
Was ist aber jetzt in dieser schwierigen Stunde zu tun?
Ich sehe im Wesentlichen zwei große Aufgaben für uns
gemeinsam: Erste Aufgabe. Wenn wir über neue Zuständigkeiten in Europa reden, sehe ich in den Augen vieler
Kolleginnen und Kollegen Angst und Unsicherheit. Wir
müssen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen: Mehr Europa ist kein Machtverlust für uns.
Wir gewinnen neue politische Handlungsfähigkeiten.
Wir gewinnen politische Gestaltungskraft in einer globalisierten Welt zurück, in der die Nationalstaaten alter
Prägung dies nicht mehr zu leisten vermögen.
({3})
Es geht also nicht um weniger Demokratie. Es geht um
mehr Handlungsfähigkeit.
Zweite Aufgabe. Lassen Sie uns endlich ein Europa
der Parlamente schaffen. Wir rennen doch den Urteilen
aus Karlsruhe immer nur hinterher. Warum nutzen wir
nicht endlich einmal diese Stunde und warten nicht darauf, was uns Gerichte mit auf den Weg geben? Warum
überlegen wir nicht: Wie können wir eine parlamentarische Demokratie in Europa zukunftsfest machen? Da eröffnet uns beispielsweise der Fiskalvertrag mit Art. 13
eine Option.
Wir dürfen uns nicht einbilden, dass parlamentarische
Demokratie nur vom Europäischen Parlament oder von
den nationalen Parlamenten jeweils alleine gesichert
werden kann. Wir brauchen eine neue Partnerschaft der
Parlamente in Europa. Wir müssen das gemeinsam erledigen, sonst schaffen wir das nicht. Insofern hoffe ich,
dass wir in Europa nicht nur eine Wirtschaftsregierung,
sondern auch ein Wirtschaftsparlament etablieren, das
die Entscheidungen der Regierungen und der Staats- und
Regierungschefs abzusichern versucht, auch im Dialog
mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Deshalb kämpft die deutsche Sozialdemokratie eben
nicht nur für ein Wachstumsprogramm für Beschäftigung; wir kämpfen auch für ein Wachstumsprogramm
für mehr Demokratie in Europa. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, kämpfen Sie alle mit!
Zum Schluss noch eine herzliche Bitte: Der Ton
macht die Musik. Vor dem Hintergrund, dass heute ein
Bundesverkehrsminister in der Presse erst einmal 1 Milliarde Euro mehr für die Verkehrsinfrastruktur fordert,
Michael Roth ({4})
statt den Griechen Geld hinterherzuwerfen, und Kolleginnen und Kollegen davon sprechen, dass Südeuropäer
in der Hängematte liegen, oder Abgeordnete und Bürgerinnen und Bürger in Europa als Drogensüchtige bezeichnen, bitte ich uns alle um Mäßigung. So werden wir
kein solidarisches Europa schaffen.
({5})
Insofern bitte ich Sie alle: Machen Sie es besser! Reden Sie verantwortungsbewusster, und bauen Sie keine
Feindbilder auf! Wir müssen Feindbilder überwinden.
Wir brauchen mehr Kooperation und Solidarität. Dazu
fordere ich Sie auf.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettsitzung mitgeteilt: 9. Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Beauftragte der Bundesregierung für Migration,
Flüchtlinge und Integration, Frau Dr. Maria Böhmer,
bitte.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Vormittag wurde der Bericht
der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in
Deutschland dem Bundeskabinett vorgelegt. Anschließend konnte ich ihn dem Bundestagspräsidenten übergeben. In guter Tradition wollen wir diesen Bericht im Plenum debattieren. Deshalb darf ich heute eine kleine
Einstimmung darauf geben.
Der Bericht hat eine Kernbotschaft: Die jungen Migrantinnen und Migranten, die Schülerinnen und Schüler, holen auf. Es hat sich im Berichtszeitraum vom
Frühjahr 2010 bis zum Frühjahr 2012 in der Integration
so viel bewegt wie noch nie zuvor. Das lässt sich anhand
von etlichen Daten nachvollziehen. Es lässt sich aber
auch daran nachvollziehen, dass wir durch wichtige gesetzliche Änderungen die Teilhabechancen verbessert
haben. Ich nenne dafür stellvertretend das Gesetz zur
Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen
und das Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche.
Zu den Bereichen, in denen wir mit großen gemeinsamen Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen
und vielen Partnern im gesellschaftlichen Bereich vorangekommen sind, gehören Sprache, Bildung, Ausbildung
und Arbeitsmarkt.
Wir wissen aber auch, dass Integration nicht statisch
ist. Integration verändert sich ständig. Wir stehen vor
neuen Herausforderungen. Wenn wir für diese Herausforderungen gut gerüstet sein wollen, dann müssen wir
von der nachholenden Integration zu einer vorausschauenden Integrationspolitik kommen.
In den vergangenen Jahren haben wir die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte aufholen müssen. Aus
den Fehlern der Vergangenheit haben wir Schlussfolgerungen gezogen. In den letzten sieben Jahren haben wir
mit Maßnahmen der nachholenden Integration gerade im
Bereich der Sprachförderung bei Kindern angesetzt. Ich
bin sehr froh, dass ich mit diesem Lagebericht zeigen
kann, dass wir fast überall in Deutschland flächendeckende Angebote zur Sprachförderung im Kindergarten
haben. Das wirkt sich auch im schulischen Bereich aus;
die schulischen Ergebnisse verbessern sich. Was den Anteil der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher angeht, zeichnet sich bei Kindern aus Zuwanderungsfamilien ein deutlicher Rückgang ab. Es gibt Verbesserungen
bei den mittleren Bildungsabschlüssen. Hier befinden
sich Kinder aus Zuwanderungsfamilien in etwa im
Gleichstand mit deutschen Kindern. Es gibt des Weiteren
eine klare Verbesserung bei denjenigen, die einen Hochschulabschluss oder einen Fachhochschulabschluss anstreben. Das sind positive Botschaften.
Ich will aber nicht unerwähnt lassen, dass der Abstand zwischen denjenigen, die aus Zuwanderungsfamilien kommen, und denjenigen, die aus urdeutschen Familien kommen, weiterhin gegeben ist. Das heißt, wir
dürfen nicht nachlassen. Aber wir wissen, dass wir den
richtigen Weg eingeschlagen haben. Deshalb wollen wir
alle Kräfte verstärkt anspannen. Dafür steht der Nationale Aktionsplan Integration, der unter Mitarbeit der Migranten selbst erarbeitet und im Januar gemeinsam von
Bund, Ländern, Kommunen und gesellschaftlichen
Gruppen verabschiedet wurde. Er enthält klare Zielvorstellungen und sieht überprüfbare Maßnahmen vor. Dieser Aktionsplan wird uns weiter voranbringen.
Ich will einen Punkt ansprechen, der mich immer wieder besonders umtreibt und der von entscheidender Bedeutung für die Teilhabechancen von Menschen in unserem Land ist: die Ausbildung bzw. die berufliche
Qualifizierung. Die Ausbildungsbeteiligungsquote ausländischer Jugendlicher liegt nach wie vor dramatisch
unter der deutscher Jugendlicher. Zwar ist die Ausbildungsbeteiligungsquote ausländischer Jugendlicher von
31,4 Prozent auf 33,5 Prozent im Jahr 2010 gestiegen.
Aber bei den deutschen Jugendlichen beträgt sie
65,4 Prozent. Angesichts der Arbeitsmarktsituation in
Deutschland wissen wir, dass man nur mit einem guten
Bildungsabschluss und einer guten beruflichen Qualifikation - ob eine Ausbildung im Rahmen des dualen Systems oder ein Hochschulabschluss - eine echte Chance
auf dem Arbeitsmarkt hat. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass Jugendliche aus Zuwanderungsfamilien
gut qualifiziert sind. Das ist Thema des Nationalen Ausbildungspaktes. Hier üben wir den Schulterschluss mit
Wirtschaft und Gewerkschaften. Das muss auch ein
Schwerpunktthema für die Zukunft sein.
Ich will diese kurze Einstimmung auf das Thema mit
dem Hinweis auf einen Ansatz schließen, den die Wirt22246
Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
schaft zunehmend verfolgt. Wir sind der Meinung: Vielfalt ist ein Gewinn. Das findet immer mehr Resonanz bei
den Unternehmen. Die Unternehmen erkennen: Wenn
sie international wettbewerbsfähig sein wollen, müssen
sie Diversity praktizieren und Menschen unterschiedlicher Herkunft als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen. Somit können sie im Exportbereich besser
punkten und sich im Inland eher neue Kundenkreise erschließen. Viele Unternehmen haben die Charta der
Vielfalt unterzeichnet. Mehr als 6,5 Millionen Menschen
sind von der Charta erfasst.
Dazu gehört auch die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes. Hier stellen wir die Weichen mit dem Nationalen Aktionsplan Integration. Wir haben die Kampagne „Meine Stadt. Mein Land. Meine Aufgabe.“
gestartet. Ich finde es richtungsweisend, dass das Bundesinnenministerium die Internetseite „wir sind bund“
geschaltet hat. Damit senden wir das klare Signal aus:
Ihr seid willkommen; wir wollen euch; die Türen stehen
offen; geht durch diese Türen. - Das heißt für mich, den
Paradigmenwechsel hin zu einer Willkommenskultur in
unserem Land zu vollziehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Herzlichen Dank. - Ich bitte nun, zunächst Fragen zu
dem Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet wurde.
Zur ersten Frage hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
Danke, Frau Böhmer. - Wir haben erst in der letzten
Woche im Innenausschuss darüber diskutiert. Uns Abgeordneten liegt der Lagebericht erst seit heute Morgen vor.
Das heißt, ich kann mich auf ihn nicht konkret beziehen.
Aber ich möchte darauf hinweisen, dass Menschen mit
Migrationshintergrund im Vergleich zu Deutschen überall - ob es nun um die Schulabbrecherquote, die Ausbildungssituation, Armut oder prekäre Beschäftigung geht doppelt so stark benachteiligt sind. Ich möchte mich besonders auf einen Bereich beziehen, den Sie ebenfalls angesprochen haben, nämlich die Integrationskurse. Ich
weiß, dass sich seit 2010 durch die Einsparungen die Situation bei den Integrationskursen verschlechtert hat. Das
betrifft zum Beispiel die Teilzeitkurse; aber auch die Zahl
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist um 20 Prozent
eingebrochen.
Sie haben die Fortschritte bei der Integration positiv
bewertet, sind aber an den Einsparungen mitbeteiligt gewesen. Meine Frage lautet: Was wollen Sie tun, um der
negativen Entwicklung etwas entgegenzusetzen?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Frau Kollegin Jelpke, zunächst möchte ich festhalten,
dass das dunkle Bild, das Sie malen, nicht der Wirklichkeit entspricht. Wir haben erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Das ist nicht nur eine Aussage der Bundesregierung; sondern auch der Wissenschaftler, die den
Zweiten Integrationsindikatorenbericht Anfang des Jahres präsentiert haben. Sie haben von maßgeblichen Fortschritten gesprochen, gerade im Bereich der Sprachförderung, der frühkindlichen Bildung, der Bildungssituation
insgesamt, aber auch der Ausbildung. Gleichwohl habe
ich hier gesagt, dass wir noch lange nicht zufrieden sein
können. Der Trend ist positiv. Die Aufholjagd - so nenne
ich es einmal - vollzieht sich momentan.
Sie sagen, die Einsparungen gingen zulasten der Ausländer. Wir hatten die große Sorge, dass sich die Wirtschafts- und Finanzkrise sehr negativ auf die Beschäftigung von Ausländern auswirken würde. Wir haben aber
einen Rückgang der Arbeitslosigkeit bei Ausländern von
über 200 000 Personen. Ich finde, das ist eine deutliche
Entwicklung, die sich sehen lassen kann. Die soll man
auch nicht schlechtreden, sondern man soll den Menschen Mut machen und zeigen, dass sie in diesem Land
vorankommen können.
Jetzt zu den Integrationskursen, die ich übrigens nicht
angesprochen habe. Ich greife aber dieses Thema natürlich gerne auf. Wir konnten gerade dem einmillionsten
Teilnahmeberechtigten gratulieren. Mehr als 500 000
Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben den Kurs mit
Erfolg besucht. Das sind Erfolgszahlen! Ich war immer
dankbar, dass dieses Hohe Haus, wenn es um die Finanzmittel für die Integrationskurse ging, die notwendigen
Mittel bereitgestellt hat. Mein Vertrauen ist bei keiner
Haushaltsberatung enttäuscht worden. Ich möchte allen
Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich dafür danken;
denn dies waren gute Investitionen. Ich bin mir sicher,
dass wir das auch in Zukunft gemeinsam so halten werden.
Bevor ich dem Kollegen Frieser für die nächste Frage
das Wort gebe, ein Hinweis sowohl an die Kolleginnen
und Kollegen als auch an Frau Böhmer: Wir haben uns
in den letzten Monaten neue Regeln für die Fragestunde
und die Regierungsbefragung gegeben. Um die Fragen
und Antworten auf jeweils eine Minute zu beschränken,
haben wir ein technisches Hilfsmittel geschaffen. Wenn
an den Anzeigetafeln die Farbe Rot aufleuchtet, dann ist
die Minute abgelaufen. Ich bitte alle, diesen Hinweis zu
beherzigen. Das gilt für die Fragenden, aber auch die
Antwortenden haben die Möglichkeit, die Zeit einzuhalten.
Kollege Frieser, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. - Ich hoffe,
dass der Inhalt der Fragen und auch der Antworten immer so simplifizierbar ist, dass er in den Zeitrahmen von
einer Minute passt.
Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Vorlage. - Dies ist ein wuchtig Ding, wie man in Deutschland sagt, mit sehr viel Inhalt. Ich danke Ihnen auch für
den Hinweis, dass die Tendenzen, die der IntegrationsMichael Frieser
indikatorenbericht angedeutet hat, bestätigt werden und
wir uns auf allen messbaren Feldern in die richtige Richtung bewegen. Alle Zahlen deuten in die richtige Richtung, wobei man anmerken muss, dass nicht alles in der
Integrationspolitik messbar ist.
Es gibt natürlich noch viele Fragen, die uns alle miteinander besorgen. Wir sehen immer noch, dass die Politik
Nachholbedarf hat, was die Ausbildungschancen von
Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land
betrifft. Wir sollten in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Meine Frage betrifft den Zugang zu den Ausbildungschancen. Inwieweit können wir in dieser Hinsicht
noch eine Schippe drauflegen? Welche Erfahrungen gibt
es in Bezug auf die Perspektive eines Berufsabschlusses
und die notwendige Einbeziehung der Eltern? Es geht
nämlich nicht nur um die Jugendlichen allein, sondern
auch um die Eltern.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ganz herzlichen Dank, Herr Kollege Frieser. - Ich
glaube, dass die Frage, wie wir Eltern einbeziehen können, von entscheidender Bedeutung ist. Wir haben gemerkt, dass vielen Eltern, die nach Deutschland gekommen sind, das deutsche Schulsystem von seiner Struktur
her fremd ist. Auch die Bedeutung der Schule und vor
allen Dingen der beruflichen Qualifikation ist ihnen
nicht vertraut. Deshalb ist es wichtig, dass die Elternarbeit in der Schule anders gestaltet wird. Ein Gedankenaustausch, den ich mit der Kultusministerkonferenz
hatte, zeigte, dass diese Botschaft in den Schulen angekommen ist.
Wir machen ein Zweites, um die Erfüllung dieser
Aufgabe zu unterstützen: Die Integrationskurse, von denen eben die Rede war, können jetzt verstärkt auch im
schulischen Bereich stattfinden, sodass Eltern ihre
Kenntnisse der deutschen Sprache verbessern, aber auch
Informationen über unser Schulsystem erhalten können.
Dieser Austausch ist für die Zukunft ganz entscheidend.
Ich darf noch hinzufügen, dass jetzt im Rahmen des
Nationalen Ausbildungspaktes Elternkonferenzen durchgeführt werden, die großen Zuspruch finden.
Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Sascha
Raabe.
Ich habe eine Frage an die Bundesregierung. - Minister Niebel war in Paraguay. - Wir sind jetzt bei „sonstigen Themen“, nicht?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Nein.
Noch nicht? - Ich hatte mich für „sonstige Themen“
angemeldet. Dann ist das ein Missverständnis.
({0})
Dann stellen wir das zurück. - Jetzt kommt die Kollegin Ewa Klamt von der CDU/CSU-Fraktion.
Danke, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin, Sie
haben die positive Entwicklung geschildert, die wir
- Gott sei Dank! - bei der frühkindlichen Bildung, aber
auch bei Bildungsabschlüssen erleben. Sie haben aber
auch gesagt, dass, wenn wir auf die Ausbildung schauen,
doch noch eine Diskrepanz besteht. Gibt es, weil sich
jetzt die Bildungsabschlüsse verbessert haben, da Hoffnung? Kann man das quantifizieren? Wir hatten ja bei
den ausländischen Jugendlichen eine sehr hohe Zahl von
Schulabbrechern. Können Sie sagen, um wie viel Prozent sich das verbessert hat? Denn das ließe die Hoffnung zu, dass immer mehr Jugendliche in Ausbildungsberufe kommen.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Wir haben Daten vorlegen können, aus denen hervorgeht, dass der Anteil ausländischer Jugendlicher, die die
Schule ohne Abschluss verlassen, deutlich zurückgegangen ist; und zwar um 39 Prozent. Bei den deutschen Jugendlichen sind es 38 Prozent. Es handelt sich also fast
um einen Gleichklang. Es gibt aber immer noch einen
Unterschied zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen. Ich fände es spannend, Zahlen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erhalten. Die können
wir aber nur bedingt erlangen; denn die Schulstatistiken
unterscheiden nur zwischen deutschen und ausländischen Schülerinnen und Schülern. Wenn wir erfassen
könnten, wie es bei Jugendlichen bzw. Schülern mit Migrationshintergrund aussieht, wären diese Daten - das
könnte ich mir vorstellen - wahrscheinlich noch wesentlich besser. Wir sehen nämlich, dass sich bei der zweiten
Generation der Migranten die Bildungsergebnisse deutlich verbessern.
Die nächste Frage stellt der Kollege Mehmet Kilic
von den Grünen.
Herr Vorsitzender, vielen Dank. - Sehr geehrte Frau
Staatsministerin, Bildung ist das Fundament aller gesellschaftlichen Entwicklungen. Deshalb legen wir gemeinsam - gerade auch im Hinblick auf Integration - großen
Wert auf Bildung. Daher frage ich: Trifft es zu, dass
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an
deutschen Schulen durchgängig - wegen des Migrationshintergrunds oder auch wegen des sozialen Hintergrunds - beim Zugang zum jeweils nächsthöheren Bil22248
dungsabschnitt benachteiligt werden? Wenn ja, stellt
dies aus Sicht der Bundesbeauftragten eine Form von
Diskriminierung dar? Wie wird diese Form der Benachteiligung in Ihrem Lagebericht thematisiert? Was tut die
Bundesregierung gegen diese Form der Diskriminierung?
Auch zur Einbürgerung habe ich eine Frage. Dabei
geht es um rechtliche und politische Integration, die eine
Brücke baut. Ist es zutreffend, dass die Einbürgerungszahl seit Ihrem Amtsantritt um 20 Prozent gesunken ist?
Wenn ja, was wollen Sie dagegen tun? Ich meine nicht
nur Appelle. Möchten Sie auch strukturell - beispielsweise im Hinblick auf die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit oder die Erleichterung der Einbürgerung - etwas
verbessern, damit sich mehr Migrantinnen und Migranten einbürgern lassen?
Vielen Dank.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Herr Präsident, das waren jetzt zwei Fragen. Soll ich
sie zusammen beantworten oder in zwei Teilen? Ich
frage das allein wegen des Zeitbudgets.
({0})
Ich gehe einmal davon aus, dass ich zur Beantwortung
der beiden Fragen jeweils eine Minute Zeit habe.
Benachteiligung von Kindern in der Schule: Ich kann
das so nicht nachvollziehen. Es gibt sicherlich immer
subjektive Eindrücke. Auch mir sind Einzelfälle bekannt, in denen Eltern zu mir kommen und sagen: Aber
mein Junge, mein Mädchen ist benachteiligt worden. Das wird dann auf die Zuwanderung der Eltern zurückgeführt. Wenn man nachfasst und mit der Schulleitung
oder den Lehrkräften spricht, stellt sich meistens ein sehr
differenziertes Bild heraus. Umso wichtiger ist es, unmittelbar mit den Eltern über die Elternarbeit Kontakt zu
haben, sie mitzunehmen, wenn es um Schule geht, ihnen
auch zu erklären, worauf es ankommt. Manches Mal haben wir den Eindruck, dass die Eltern, wenn keine schulischen Empfehlungen gegeben werden, sondern sie
selbst entscheiden können, viel zögerlicher sind, ihr
Kind auf eine weiterführende Schule zu schicken. Insofern stellt sich die Situation sogar umgekehrt dar. Aber
ich finde, wenn es Einzelfälle gibt, dann muss man jedem von ihnen nachgehen.
Das Zweite, was Sie angesprochen haben, ist die Einbürgerung. Lieber Herr Kilic, ich habe in diesem Lagebericht feststellen können, dass die Einbürgerungszahlen
wieder nach oben gegangen sind. Wir verzeichnen weit
über 100 000 Einbürgerungen. Dass die Zahlen schwanken, ist ganz normal. Wir hatten vor einiger Zeit einen
großen Einbürgerungsschub. Jetzt sind wir wieder auf
einem guten Niveau. Ich werbe immer auch für die Einbürgerung; denn ich meine: Wenn jemand einwandert,
dann soll er bitte die vollen Rechte und Pflichten erwerben. Wir müssen auch deutlich machen, dass es bei der
Einbürgerung, dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, mitnichten nur darum geht, dass man Visafreiheit
hat und einfach in ein anderes Land reisen kann. Vielmehr ist der große Pluspunkt der deutschen Staatsbürgerschaft: Man kann wählen, und man kann gewählt
werden.
Ich möchte Ihnen hier eines sagen: Ich bin nicht für
das kommunale Wahlrecht. Auch wenn Sie dieses
Thema jetzt nicht angesprochen haben, will ich es von
meiner Seite in dieser Deutlichkeit ansprechen, wie ich
es heute auch der Presse gegenüber getan habe. Ich
finde, man darf nicht auf halber Strecke stehen bleiben,
sondern man muss den Einwanderern die vollen staatsbürgerlichen Rechte geben, und das heißt die deutsche
Staatsbürgerschaft. Dafür werde ich mit großer Intensität
weiterhin werben.
({1})
Die nächste Frage hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit.
Verehrte Frau Staatsministerin, liebe Frau Kollegin
Böhmer, zunächst einmal Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlichen Dank für dieses umfangreiche, immerhin 728 Seiten lange Werk, das in der
Kürze der Zeit von mir nur punktuell hat zur Kenntnis
genommen werden können. Ich möchte jetzt eigentlich
gar nicht mit bohrenden Fragen in Sie dringen, sondern
möchte Sie bitten, noch zu zwei Punkten ergänzend etwas zu sagen.
Das eine sind die praktischen Probleme - vielleicht
sind es auch keine Probleme - im Zusammenhang mit
der Umsetzung der sogenannten Optionslösung bei den
18- bis 23-Jährigen. Vielleicht könnten Sie uns dazu
noch ein wenig sagen, auch dazu, was Sie zu tun planen.
Das Zweite ist die Frage der stichtagsunabhängigen
Bleiberechtsregelung für Jugendliche, die überwiegend
hier in Deutschland aufgewachsen sind. Da würde mich
interessieren, welche Erfahrungen und Zahlen Sie uns
hierzu liefern können und ob Sie mit mir der Auffassung
sind, dass wir über diese gesetzliche Neuregelung hinaus
weitere Maßnahmen brauchen, um zu einer stichtagsunabhängigen Altfallregelung zu kommen.
Danke sehr.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ganz herzlichen Dank. - Um mit dem letzten Punkt
zu beginnen: Ich glaube, es ist von allen hier als große
Anerkennung von Integrationsleistungen empfunden
und sehr unterstützt worden, dass wir im Hinblick auf
Jugendliche, die sich gut integriert haben, die in
Deutschland die Schule besucht haben und eine Ausbildung absolvieren, gesagt haben: Wir wollen ein von den
Eltern unabhängiges, stichtagsunabhängiges Bleiberecht schaffen. Ich finde, das ist ein Signal gerade gegenüber diesen Jugendlichen, aber auch gegenüber den Mitschülerinnen und Mitschülern, den Freunden, die damit
sehen: Integration und das Hier-Ankommen in Deutschland werden anerkannt.
Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
Ich wäre sehr erleichtert, wenn wir den nächsten
Schritt vollziehen könnten. Ich sehe mich einig mit einem Beschluss der Integrationsministerkonferenz. Die
Integrationsministerkonferenz hat sich für ein stichtagsunabhängiges Bleiberecht ausgesprochen. Ich habe
dies durchaus begrüßt.
Zu dem, was Sie zu dem Optionsverfahren angesprochen haben: Ein Punkt ist höchst erfreulich: Bei der Evaluierung des Optionsverfahrens haben wir feststellen
können, dass sich 98 Prozent derer, die optieren mussten,
für die Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft
entschieden haben. Ein besseres Ergebnis kann man sich
kaum vorstellen: Nur noch 2 Prozentpunkte fehlen uns
an 100 Prozent.
Aber ich sehe, dass größere Zahlen auf uns zukommen und Informationsbedarf besteht. Sie sehen: Ich habe
eine Informationsbroschüre in der Hand, die ich jetzt an
die Jugendlichen, aber auch an die Eltern verteilen lasse,
um über die Regelungen des Optionsrechts aufzuklären.
An manchen Stellen können wir sicherlich etwas vereinfachen, damit es leichter gelingt, die Bürokratie gemindert wird, die Entscheidung aber für Deutschland ausfällt.
({0})
Vielen Dank, Frau Staatsministerin, für diese ausführliche Antwort. - Das Fragerecht hat als Nächste die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
Frau Böhmer, ich möchte an die Frage zu den Integrationskursen anknüpfen, die ich vorhin gestellt habe. Sie
haben mir hier Schwarzmalerei vorgeworfen. Was ich
gesagt habe, wird aber beispielsweise von den Lehrkräften geteilt, die dort unterrichten. Soweit mir bekannt ist,
haben Sie sich früher einmal dafür eingesetzt, dass die
Lehrkräfte besser bezahlt werden. Ich frage: Was ist daraus geworden? Meinen Sie, dass es der Qualität von Integrationskursen dient, wenn Menschen unterrichten, die
auf Hartz-IV-Niveau bezahlt werden?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Frau Kollegin Jelpke, das ist völlig richtig: Wer gute
Arbeit leisten soll, soll auch gut honoriert werden. Es
geht uns um einen entsprechenden Qualitätsstandard bei
den Kursen. Sie wissen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prüfen wird, ob Dumpinglöhne gezahlt werden, und dass man danach die Berechtigung für
das Durchführen von Integrationskursen aussprechen
wird oder eben nicht. Schwarze Schafe dürfen die Bildungsmaßnahme „Integrationskurse“ dann nicht durchführen. Das halte ich auch für richtig.
Ich habe mit vielen Lehrkräften gesprochen. Es gibt
Kursträger - jetzt nenne ich einmal die Volkshochschulen -, die ordentlich bezahlen und bei denen ich davon
ausgehe, dass der Unterricht gut läuft. Das zeigen uns
auch die Ergebnisse. Aber wenn der eine oder andere die
Situation ausnutzt, muss man die Rote Karte zeigen.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Böhmer, eine
Nachfrage zu der Antwort zum Optionsmodell, die Sie
gerade gegeben haben. Sie haben gesagt, 98 Prozent derer, die sich zurückgemeldet hätten, hätten sich für die
deutsche Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Da würde
mich noch interessieren, wie viele sich nicht zurückgemeldet haben, weil denen, die sich dauerhaft nicht zurückmelden, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden wird. - Das wäre der erste Teil.
Der zweite Teil: In dem Zweiten Integrationsindikatorenbericht, den wir in der Sitzung des Innenausschusses
am 13. Juni miteinander diskutiert haben, war an zwei
Stellen die Rede davon, dass Forscher festgestellt haben:
Es reicht erwiesenermaßen aus, einen ausländisch klingenden Namen zu haben, um beim Übergang von der
Schule in die Ausbildung bei gleicher Qualifikation und
gleich guter Benotung gegenüber denen benachteiligt zu
werden, die einen deutsch klingenden Namen haben.
Wie wird das in dem Lagebericht aufgegriffen? Welche
Maßnahmen werden Sie dagegen ergreifen?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ich beginne mit der Evaluierung des Optionsverfahrens. „Rückmeldung“ hieß in dem Fall: Es ist keine Gesamtschau, sondern es ist die Zahl der Rückmeldungen
im Rahmen dieses Optionsverfahrens. Die Zahlen kann
ich Ihnen aber gerne geben - ich habe sie jetzt nicht präsent -; das ist kein Problem.
({0})
Ich weiß sehr wohl, dass wir ab 2018 eine etwas andere Situation haben werden. Dann wird eine viel größere Zahl von Jugendlichen vor der Frage stehen, ob sie
sich für die Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft entscheiden. Ich hoffe, sie tun es. Aber das wird
nicht ohne Information geschehen können. Es wird sich
um weit über 40 000 Jugendliche im Jahr handeln. Jetzt
sind es ungefähr 4 000 Jugendliche pro Jahr. Das macht
schon einen Unterschied.
Der Unterschied liegt auch darin begründet, dass jetzt
Jugendliche und junge Menschen optieren, bei denen
sich auch die Eltern dafür entschieden haben. Wir werden es zukünftig also mit einer etwas anders strukturierten Gruppe zu tun haben. Deshalb müssen wir uns jetzt
überlegen: Wie erreichen wir diese Jugendlichen? Das
zu beantworten, ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes,
sondern selbstverständlich auch der Länder. Hier merke
ich, dass die Länder bei der Information unterschiedlich
vorgehen. Aber ich glaube, es ist wichtig, sehr frühzeitig
zu informieren. Deshalb gibt es von unserer Seite eine
Beauftragte der Bundesregierung Dr. Maria Böhmer
Broschüre, in der wir die Regelungen in einfacher, klarer
Sprache erläutern. Ich habe aber die Vorstellung, dass
man die Beratung vor Ort verbessern und dort viel mehr
anbieten muss.
Zu Ihrer nächsten Frage: Benachteiligung von Jugendlichen bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle, vor
allen Dingen beim Erhalt eines Ausbildungsvertrags. Es
stimmt leider, dass es an dieser Stelle immer noch Diskriminierungsfälle gibt, obwohl wir das Problem gemeinsam
nach außen hin verdeutlicht haben. Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich die Antidiskriminierungsstelle
und viele andere, die in diesem Bereich engagiert sind.
Hier muss man ganz klar sagen, dass eine solche Diskriminierung nicht sein darf. Wir haben die rechtliche
Grundlage, um dagegen vorzugehen; aber Sie wissen genauso wie ich, dass manch einer zögert, seine Ansprüche
rechtlich geltend zu machen. Deshalb halte ich einen anderen Ansatz für zielführend: über Diversitystrategien,
über die Charta der Vielfalt, über den Nationalen Aktionsplan, bei dem wir die Unternehmen unmittelbar einbinden und sie dazu bewegen, diesen Jugendlichen eine
Chance zu geben.
Danke. - Jetzt haben wir wieder eine Frage des Kollegen Michael Frieser.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatsminister,
der Diskurs zum Thema Integrationskurse - die Sprache
ist eigentlich das wichtigste Element - gibt auch die Gelegenheit, nach den Erfahrungen mit vorintegrativen
Maßnahmen zu fragen. Es geht um unseren Ansatz, der
oftmals diskutiert und auch kritisiert wurde, zu fragen:
An welcher Stelle können wir damit rechnen, Effekte damit zu erzielen, dass Menschen bereits in ihrem Heimatland an die deutsche Sprache herangeführt werden? Gibt es Erkenntnisse, die auf einen Erfolg dieses Ansatzes hindeuten und zeigen, dass er in die richtige Richtung weist?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ich habe eben gesagt: Um für die Zukunft gerüstet zu
sein, brauchen wir einen Paradigmenwechsel, weg von
der nachholenden, hin zur vorausschauenden Integrationspolitik. Hier ist das Element der vorbereitenden Integration von entscheidender Bedeutung. Die Erfahrungen, die wir mit dem Spracherwerb im Herkunftsland
beim Ehegattennachzug sammeln konnten, sind sehr
positiv: Die Integration bei uns gelingt viel schneller und
besser. Als ich bei meinem letzten Aufenthalt in der Türkei einen Vorintegrationskurs besucht habe, der über das
Sprachangebot hinausging und auf freiwilliger Basis
stattfand - mit Unterstützung von Organisationen für
türkischstämmige Migranten hier in Deutschland -, habe
ich an den Reaktionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aber auch an den Erfahrungen der Lehrkräfte gemerkt: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind ganz
anders darauf eingestellt, nach Deutschland zu kommen.
Sie bereiten sich nicht nur sprachlich vor, sondern wissen dann auch etwas über unser Sozialsystem, unsere
Demokratie und unsere politische Verfasstheit. Das ist
eine ganz andere Ausgangssituation.
Eine weitere Frage der Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Böhmer, wir wissen seit zwei Jahren, seit dem
Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass das
Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig ist; die
Bundesregierung hat es in der Antwort auf eine Kleine
Anfrage zugegeben. Ich würde gerne wissen, was Sie in
diesen zwei Jahren getan haben, damit dieser Zustand
aufgehoben wird.
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Ich habe mich sehr intensiv mit dieser Frage befasst.
Ich bin der Meinung, dass die Leistungen hier nicht auf
dem Stand bleiben können, auf dem sie sind. Ich habe
mich an die Bundesarbeitsministerin gewandt. Wir haben es zudem in der Integrationsministerkonferenz nicht
nur einmal erörtert; auf Arbeitsebene geschieht das genauso. Ich bin der Meinung: Hier muss sich etwas ändern.
({0})
- Da müssen Sie die Bundesarbeitsministerin fragen.
Wie Sie wissen, warten wir jetzt auf die Entscheidung
des Gerichts.
Vielen Dank. - Jetzt kommt die wohl letzte Frage,
vom Kollegen Josef Winkler. - Herr Winkler, wollen Sie
fragen?
({0})
- Herr Kilic.
Vielen Dank, Herr Vorsitzender. - Sehr geehrte Frau
Staatsministerin, der diskriminierungsfreie Zugang zum
Arbeitsmarkt gehört zum Schutzbereich des Art. 2 unseres Grundgesetzes, der lautet: Die Individuen sollen sich
nach ihren Fähigkeiten entfalten können, und der Staat
schützt dieses Recht der Individuen. - Deshalb die
Frage: Ist es zutreffend, dass ausgerechnet höher qualifizierte Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt immer noch deutlich größere Probleme haben als
vergleichbare Personen ohne Migrationshintergrund?
Dies steht auf Seite 14 des Berichts. Wenn ja, stellt dies
aus Sicht der Beauftragten eine Form der Diskriminierung dar? Wie wird diese Form der Benachteiligung in
Ihrem Lagebericht thematisiert? Was tut die Bundesregierung gegen diese Form der Diskriminierung?
Dr. Maria Böhmer, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:
Wenn ich dieses Thema nicht für extrem wichtig gehalten hätte, dann hätten wir es nicht im Lagebericht aufgegriffen. Diskriminierung darf nicht sein. Darin sind
wir uns absolut einig. Deshalb muss man es thematisieren, muss es in den Blick rücken, und nicht nur in Einzelfällen, sondern generell. In unserem Land haben wir
dazu eine entsprechende Gesetzgebung. Wie ich bereits
sagte: Das eine ist, gegen Diskriminierung vorzugehen.
Dafür gibt es beim Bund eine Stelle. Frau Lüders und ich
sowie meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten
eng zusammen. Wir geben individuelle Unterstützung
und Ratschläge. Dies gilt auch für die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, Frau Lüders. Aber es ist auch
wichtig, den Unternehmen deutlich zu machen: Jemanden als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter mit einem Zuwanderungshintergrund zu gewinnen, bedeutet für ein Unternehmen einen enormen Pluspunkt. Das muss sich in den
Köpfen der Personalentscheider festsetzen. Sie müssen
aber auch entsprechend handeln. Das bedeutet, dass wir
Vorbilder brauchen. Die Mitglieder der Charta der Vielfalt und die vielen Menschen, die die Charta der Vielfalt
unterschrieben haben, gehen in dieser Frage voran. Ich
unterstütze das Projekt mit Preisen. Dies gilt auch für
den Ausbildungsbereich. Ich habe mich bewusst dem öffentlichen Dienst zugewandt, weil wir natürlich auch
dort die Chancen verbessern wollen. Ich sehe, dass wir
mit Strategien der Werbung und Aufklärung vorankommen können. Sich gegen Diskriminierung zu wehren und
Diversity voranzubringen - das sind die beiden Seiten
einer Medaille, die an dieser Stelle meines Erachtens erfolgversprechend sind. Dies zeigt auch die Resonanz in
der Öffentlichkeit.
Jetzt: Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen
Kabinettssitzung? - Herr Raabe, haben Sie sich hierzu
gemeldet? - Herr Raabe, bitte schön.
Danke, Herr Präsident, dass ich die Gelegenheit bekomme, nachdem unsere dringlichen Fragen zu dem
Komplex Paraguay mit dem Argument abgelehnt wurden, es gebe nicht genug öffentliches Interesse bzw. Aufmerksamkeit der Medien. Das verwundert sehr, weil uns
heute im Ausschuss die Kollegen der FDP gesagt haben,
dass Minister Niebel sogar persönlich in den Fraktionen
von CDU/CSU und FDP dazu Stellung genommen hat.
Zumindest dort scheint es also Thema gewesen zu sein.
Ich frage nach der Haltung der Bundesregierung in
diesem Fall, weil es dazu Uneinigkeit gibt. Der Entwicklungsminister ist nach dem putschartigen Amtswechsel
nach Paraguay gefahren und hat als erster Staatsgast die
Hand des neuen Präsidenten geschüttelt und ihm finanzielle Unterstützung zugesichert und damit den Anschein einer Anerkennung des neuen Präsidenten durch
Deutschland erweckt. Gleichzeitig haben alle anderen
lateinamerikanischen Staaten ihre Botschafter abgezogen. Der neue Präsident wurde vom Mercosur-Treffen
ausgeladen. In Lateinamerika herrscht Entsetzen über
die Lage in Paraguay. Der Minister aber sagt, er glaubt
und findet: Das ist alles rechtmäßig abgelaufen. - Einen
Tag später hat sich das Auswärtige Amt von dieser Peinlichkeit des Ministers Niebel distanziert, aber auch nicht
in eindeutigen Worten. Ich frage jetzt: Wie ist die Haltung der Bundesregierung zu diesem Vorgang in Paraguay? Finden Sie nicht auch, wenn man gute Regierungsführung und Demokratie einfordert, dann sollte
man einen solchen putschartigen Machtwechsel nicht
vorschnell unterstützen?
Frau Staatsministerin Pieper wird antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter,
die Meinung der Bundesregierung zu den Vorgängen in
Paraguay ist einheitlich; das will ich ausdrücklich betonen. Ich will auch noch einmal darauf hinweisen, dass
die Bundesregierung in dieser Woche mit ihren Partnern
in der Europäischen Union Informationen und Einschätzungen zur Situation in Paraguay austauschen wird.
Diese ist für uns besorgniserregend. Wir werden in der
Europäischen Union gemeinsam eine Bewertung der Ereignisse vornehmen und möglicherweise auch Konsequenzen zu ziehen haben.
In der Tat ist es so, dass das Parlament in Paraguay
Präsident Fernando Lugo mit großer Mehrheit seines
Amtes enthoben hat. Dies lässt die Verfassung zu. An
der Durchführung - das haben Sie bereits erwähnt - und
dem eingeschlagenen Verfahren haben die Nachbarstaaten, insbesondere Paraguays Partner im Mercosur wie
Argentinien, Brasilien und Uruguay, Kritik geübt. Dort
wird von einer Verweigerung rechtlichen Gehörs und in
diesem Zusammenhang von einem Bruch der demokratischen Ordnung gesprochen.
Auch die Hohe Vertreterin der Europäischen Union
für Außen- und Sicherheitspolitik Lady Ashton hat die
Entwicklung mit großer Sorge zur Kenntnis genommen
und in dem Zusammenhang zu Respekt vor dem demokratischen Volkswillen aufgerufen. Wir sind angesichts
dieser Ereignisse in der Tat besorgt.
Ich will aber noch einmal darauf hinweisen, dass der
Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Dirk
Niebel den Besuch in Paraguay am 23. Juni seit langem
geplant hatte. Er hat selbst zum Ausdruck gebracht, dass
er aus Paraguay lediglich den ersten Eindruck mitgenommen hat, dass der Amtswechsel nach den Regeln der
Verfassung abgelaufen sei.
Wir haben eine weitere Frage des Kollegen Niema
Movassat von den Linken.
Danke, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin Pieper
hat gerade die Reaktion von Catherine Ashton sowie die
der Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten auf den
Putsch in Paraguay dargestellt. Sie hat aber nicht gesagt,
ob sie die Kritik, die seitens der lateinamerikanischen
Staaten an diesem Putsch besteht, teilt. Wenn man diese
Kritik teilt: Wäre es dann nicht vernünftig gewesen, wie
die lateinamerikanischen Staaten zunächst die Botschafter zurückzubeordern und Konsultationen zu führen, bevor ein Minister der Bundesrepublik Deutschland nach
Paraguay reist und die Hand des Putschisten schüttelt?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Movassat, wie
die Kollegin Pieper gerade sagte: Minister Niebel hatte
die Reise lange geplant; ebenso war der Gesprächstermin mit dem damaligen Vizepräsidenten Franco vereinbart. Der Minister sah es für wichtig an, diesen vorgesehenen Besuch durchzuführen, weil es darum ging,
bereits begonnene Projekte der ländlichen Entwicklung,
der Armutsbekämpfung und auch der Bildung mit neuen
Zusagen in Höhe von etwa 8 Millionen Euro zu versehen. Dies ist für die Menschen vor Ort sehr wichtig.
Der Minister hat in dem Gespräch mit Herrn Franco
deutlich gemacht, dass er das Votum der jeweiligen Verfassungsorgane zur Kenntnis genommen hat. Es gab ja
ein breites Votum für das Amtsenthebungsverfahren. In
der Kritik stand wohl die Eile, mit der dieses Verfahren
durchgezogen wurde. Das hat Herr Bundesminister
Niebel in dem Gespräch mit Herrn Franco kritisiert. Er
hat auch angemahnt, dass die jetzt im Amt befindliche
Regierung alles tun müsse, um für Frieden und dafür zu
sorgen, dass die Verhältnisse geklärt werden. Das geht
aus seiner Pressemitteilung hervor.
Es war also ein sehr konstruktives Gespräch. Es ging
überhaupt nicht um die Anerkennung von Regierungen;
denn eine solche Anerkennung erfolgt nur gegenüber
Staaten. Wie gesagt: Es war ein sehr lange geplanter Besuch, der wichtig war gerade für die ärmsten Menschen
vor Ort.
Wir haben noch eine Frage der Kollegin Heike
Hänsel, ebenfalls von der Fraktion Die Linke.
Danke schön, Herr Präsident. - Meine Frage geht
auch zum Thema Herr Niebel in Paraguay: Kann sich die
Bundesregierung nicht vorstellen, dass das Ganze ein
außenpolitischer Affront ist? Dieses Bild ging um die
Welt: Herr Niebel schüttelt dem De-facto-Präsidenten
kurz nach einem Staatsstreich als erster europäischer
Staatsgast die Hand. Das war durchaus als Symbol zu
verstehen. Wir wissen ganz genau, welches Signal man
mit einem solchen Bild aussendet.
Meine Frage: Gab es eine Rücksprache mit dem
Auswärtigen Amt, bevor Minister Niebel den De-factoPräsidenten Franco getroffen hat, und was hat das Auswärtige Amt Herrn Niebel geraten, wie er sich verhalten
soll? Hat Herr Niebel versucht, ein Treffen mit dem abgesetzten Präsidenten Lugo zu arrangieren, um sich ein
Bild von der Lage machen zu können?
Sie sagen, dass Sie Mittel für die ländliche Entwicklung zur Verfügung stellen wollen. Wie schätzen Sie die
Situation ein, dass mit dem De-facto-Präsidenten Franco
wieder jene Kräfte an die Macht kommen, nämlich die
Großgrundbesitzer, die sich seit Jahren gegen Landreformen für die ländliche Entwicklung und gegen die Armut
in Paraguay stemmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, innerhalb der Bundesregierung gibt es
hier keinerlei Dissens. Vielmehr gab es einen ständigen
Austausch zwischen dem Außenministerium, dem BMZ
und Minister Niebel, und zwar auch schon vor dem
Termin.
Es ging nicht um Symbolpolitik. Es ging auch nicht
darum, uns als Deutsche zu Richtern in diesem Verfahren aufzuschwingen. Ich betone noch einmal: Es gab einen Termin, den Minister Niebel seinerzeit mit dem
Landwirtschaftsminister, der für wichtige laufende
Projekte zuständig war, vereinbart hatte. Er hat sich entschieden, diesen Besuch zu absolvieren, und hat intensive Gespräche geführt. Er hat keinesfalls irgendwelche
Entscheidungen vorweggenommen. Wie gesagt: In der
Pressemitteilung war von einem ersten Eindruck die
Rede. Die Entscheidungen im Abgeordnetenhaus und
auch im Senat - diese Entscheidungen sind mit großer
Mehrheit zustande gekommen - hat Herr Niebel zur
Kenntnis genommen. Das war der erste Eindruck. Alle
weiteren Entwicklungen müssen wir beobachten; das hat
Frau Staatsministerin Pieper eben ausgeführt. Wir werden uns als Bundesregierung auf EU-Ebene in Kürze im
Detail abstimmen.
Es gibt noch eine Frage des Kollegen Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Auch ich möchte noch
einmal nachfragen: War der Bundesminister des Auswärtigen vor dem Termin des Bundesministers Niebel
mit dem neu gewählten Staatspräsidenten in Paraguay
über diesen Termin informiert? Ja oder Nein?
Frau Staatsministerin Pieper, bitte.
Ich will klarstellen, dass dem Auswärtigen Amt die
Termine auch der Auslandsreisen der einzelnen Bundesminister bekannt sind. Wir stellen unsere Kapazitäten für
Auskünfte jederzeit zur Verfügung. Das gilt übrigens
nicht nur für die Regierung, sondern selbstverständlich
auch für den Deutschen Bundestag und seine Abgeordneten.
Darf ich dazu eine Nachfrage stellen?
Bitte.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Ich habe mir
schon fast gedacht, dass die Terminplanung bekannt ist.
Aber es hat sich doch eine Veränderung der dienstlichen
Position von Herrn Franco ergeben. Der ursprünglich in
der Terminliste vorgesehene Termin war, soweit ich
weiß, mit Herrn Vizepräsidenten Franco vereinbart; der
eigentliche Termin fand aber dann mit dem Präsidenten
Franco statt. Ich frage noch einmal: War der Bundesaußenminister - und nicht das Amt - darüber informiert,
dass der Termin stattfinden soll, obwohl eine Positionsveränderung von Vizepräsident zu Präsident stattgefunden hat?
Wir waren über die Reise von Bundesminister Niebel
informiert. Sie können davon ausgehen, dass der Bundesregierung bewusst ist, dass in dieser Region, insbesondere in Paraguay, viel in Bewegung ist und wir das
auch mit Sorge sehen. Dass wir - das hat Frau Kopp
schon gesagt - nicht mit Präsidenten, sondern mit einzelnen Staaten Kontakt haben, dürfte Ihnen bekannt sein.
Wir haben bereits das Doppelte der vorgesehenen Zeit
in Anspruch genommen. Deswegen muss ich die Regierungsbefragung jetzt beenden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/10051 Ich rufe die Fragen auf Drucksache 17/10051, die
mündlich beantwortet werden, in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser zur Verfügung.
Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Ute Vogt auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Vorkommen von
Formationswasser und Lösungszutritten im Endlager Konrad
im Hinblick auf mögliche Korrosionen der Atommüllfässer
und die dadurch verursachte Freisetzung von Radionukliden
in die Biosphäre, und wie soll ein weiterer Wasserzutritt, zum
Beispiel über die darüber liegenden Tonschichten, langfristig
verhindert werden?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin
Ute Vogt, das Vorkommen von Formationswässern im
Endlager Konrad wurde in Langzeitsicherheitsanalysen
des Endlagers selbstverständlich berücksichtigt. Hierbei
wurde angenommen, dass unmittelbar nach Verschluss
des Endlagers Konrad Formationswässer an die endgelagerten radioaktiven Abfälle gelangen und Radionuklide
aus den konditionierten Abfällen in die Formationswässer übertreten, sich zunächst im Bereich des Grubengebäudes ausbreiten und dann aus dem Bereich des Endlagers über die Geosphäre bis in die Biosphäre
transportiert werden. Eine Zerstörung der Abfallgebinde
wurde dabei unterstellt; von einer etwaigen Rückhaltewirkung der Abfallverpackungen bzw. Containerwandlungen für Radionuklide wurde kein Kredit genommen.
Die Langzeitsicherheitsanalysen zeigen, dass Einträge in
das oberflächennahe Grundwasser frühestens nach
300 000 Jahren auftreten können und dabei höchstens zu
einer zusätzlichen Strahlenexposition führen können, die
im Schwankungsbereich der natürlichen Strahlenexposition liegt.
Gibt es Nachfragen, Frau Vogt?
Ja.
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie richtig verstanden,
dass eine Korrosion dieser Behälter in Kauf genommen
wird bzw. zwangsläufige Folge ist, und können Sie uns
sagen, seit wann dieser Lösungsmittelzutritt und Wasserzutritt, über den jetzt auch öffentlich diskutiert worden
ist, der Bundesregierung bekannt ist?
Zum ersten Teil Ihrer Frage kann ich sagen, dass wir
bei der Langzeitsicherungsanalyse den Extremfall unterstellt haben. Das ist auch unsere Verpflichtung. Wir stellen Ihnen sehr gerne Informationen darüber zur Verfügung, wie das im Analyseverfahren ausgesehen hat.
Auf die zweite Frage kann ich Ihnen jetzt keine Antwort geben. Die Information, seit wann uns das bekannt
ist, reiche ich Ihnen nach. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Zurzeit werden etwa 16 Kubikmeter Wasser täglich
aufgefangen.
Weitere Nachfrage, Frau Vogt?
Ja. - Ich wüsste gerne, wo das Wasser entsorgt wird.
Das Wasser wird kontinuierlich überwacht und in
Wassertanks sowie in Pumpsümpfen unter Tage gesammelt. Einen Teil nutzen die Bergleute zur Staubbekämpfung und zur Fahrbahnpflege unter Tage. Der Rest wird
über Tage abgeleitet.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Vogt auf:
Hält die Bundesregierung weiterhin an der geplanten Inbetriebnahme des Endlagers Konrad ab 2019 fest, oder hält sie
weitere Untersuchungen im Hinblick auf einen möglichen
Wassereintritt und gegebenenfalls weitere Sicherungsmaßnahmen für erforderlich?
Wir halten weiter an der geplanten Inbetriebnahme
des Endlagers Konrad fest.
Zum zweiten Teil der Frage: Aufgrund der bereits als
abdeckend betrachteten Berücksichtigung des Vorkommens von Formationswässern sind weitere Betrachtungen bzw. Sicherungsmaßnahmen nicht erforderlich.
Eine Nachfrage, Frau Vogt?
Ja. - Frau Staatssekretärin, gehen Sie nach wie vor
davon aus, dass das Lager ab 2019 tatsächlich in Betrieb
gehen kann, und sind Sie der Meinung, dass es ausreichend groß ist, um den vorhandenen schwach- und mittelradioaktiven Müll aufzunehmen?
Ja und ja.
Danke schön. Ich habe keine weiteren Fragen.
Bitte schön, Frau Menzner.
Danke schön. - Ich habe an dieser Stelle noch eine
Nachfrage. Wie wir alle wissen, Frau Staatssekretärin,
befinden sich das Lager Asse und das geplante Lager
Schacht Konrad in enger räumlicher Nähe zueinander.
Die gleichen Bürgerinnen und Bürger, die von der Asse
betroffen sind, werden auch von Konrad betroffen sein.
Sie haben jetzt erfahren, dass es über Jahrzehnte mangelnde Transparenz bezüglich der Asse gegeben hat. Hat
das Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung und
die Handlungsoptionen der Bundesregierung?
Das hat keine Auswirkungen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es signifikante Unterschiede zwischen dem Endlager Konrad und der Asse
gibt. Die beiden Standorte - das wissen Sie, Frau
Menzner - weisen unterschiedliche Wirtsgesteine auf,
die bergbauliche Ausgangssituation ist unterschiedlich,
die geologischen und hydrogeologischen Gegebenheiten
sind unterschiedlich. Der entscheidende Unterschied
zwischen beiden ist - ich habe dies im Zusammenhang
mit der Frage bezüglich der Formationswässer eben ausgeführt -, dass für Konrad ein Langzeitsicherheitsnachweis vor Inbetriebnahme vorliegt, was bei der Asse definitiv nicht der Fall gewesen ist. Sie wissen, dass wir bei
Konrad sehr lange Verfahren hinter uns haben, auch im
Rahmen der Planfeststellung. Es gab gerichtliche Entscheidungen zu Konrad. Wir sind jetzt so weit, dass die
Genehmigungen dafür vorliegen.
Vielen Dank. - Die Fragen 5 und 6 des Kollegen
Marco Bülow sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen dann zur Frage 7 der Kollegin Cornelia
Behm:
Wird die Bundesregierung angesichts des enormen Handlungsbedarfs, den der Auenzustandsbericht des Bundesamtes
für Naturschutz ausweist, ein Auenschutzprogramm auflegen,
um die zu mehr als 80 Prozent zerstörten oder gefährdeten
Auen zu schützen, und welche Maßnahmen wird die Bundesregierung an den Brandenburger Bundeswasserstraßen ergreifen, um die Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie voranzutreiben?
Sehr geehrte Kollegin Behm, mit dem Auenzustandsbericht hat die Bundesregierung die Datengrundlage für
eine wirksame Auenentwicklung vorgelegt, für die alle
Gebietskörperschaften, vor allem die Länder und
Gemeinden als Flächeneigentümer und Träger der Planungshoheit, verantwortlich sind. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund,
Ländern und Gemeinden ist ein paralleles eigenständiges
Auenschutzprogramm nicht vorgesehen.
Die Bundesregierung fördert allerdings im Rahmen
des Bundesprogramms „Biologische Vielfalt“ Modellprojekte, mit denen die Auenentwicklung in Deutschland vorangetrieben werden soll. Zur Umsetzung der
Europäischen Wasserrahmenrichtlinie haben die Bundesländer Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenprogramme erarbeitet, die sich in der Umsetzung befinden.
Diese schließen - ich vermute, dies ist Ihr HauptinteParl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser
resse - die Bundeswasserstraßen in Brandenburg mit
ein.
Nachfrage, Frau Behm?
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Frage. - Ich muss sagen: Es war wirklich eine
große Leistung, diesen Auenzustandsbericht zu erstellen.
Man hat festgestellt, dass der Bund mit im Boot ist und
gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen zur Umsetzung formulieren muss. Bei diesem Thema kann man ja
nicht an Landesgrenzen haltmachen.
Da ein wesentliches Ziel im Zusammenhang mit dem
Auenschutzprogramm die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie bis 2015 ist, frage ich: Können Sie sagen,
wann genau das Ziel, die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie, erreicht wird? Welchen Stand der Umsetzung
haben wir in Bezug auf die Auen?
Wir haben Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Die Sachverständigen sollen sich den Zustand genau anschauen, und zwar auch im Hinblick auf die Wirksamkeit von Maßnahmen, die von den Bundesländern
umgesetzt wurden. Wir erwarten die Ergebnisse Ende
dieses Jahres. Wir haben sie zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht; aber wir werden Sie sehr zeitnah darüber unterrichten.
Weitere Nachfrage, Frau Behm?
Ja. - Im Fazit des Auenzustandsberichts wird darauf
hingewiesen, dass Bund und Länder gemeinsam ein Planungs- und Finanzierungsinstrument erarbeiten sollen.
Können Sie solch ein Instrument schon vorlegen? Gibt
es schon etwas, mit dem man sich ein einheitliches Bild
davon machen kann, wann die Defizite, die wir in Bezug
auf den Zustand der Auen an deutschen Flüssen haben,
aufgearbeitet sein werden?
Wir bereiten zurzeit die Fortschreibung des Auenzustandsberichtes vor. Wir hoffen, dass wir damit - zusammen mit dem Sachverständigengutachten - zum Jahresende fertig werden.
Vielen Dank.
Bitte schön, Frau Kurth.
Frau Staatssekretärin, meine Vorrednerin hat bereits
gesagt, dass der Auenzustandsbericht eine große Leistung war, dass wichtige Daten darin enthalten sind. Im
Ausblick wird klargemacht, dass dringender Handlungsbedarf besteht, und Sie haben eben gesagt, dass Sie an
der Fertigstellung der Fortschreibung arbeiten. Meine
Frage ist: Können wir von Ihnen mit dieser Fortschreibung eine Benennung der Schwerpunkträume erwarten,
bzw. wann können wir sie erwarten? Wir wollen sie ja
beispielhaft herausnehmen, um die notwendigen definierten Maßnahmen umzusetzen.
Zu den Beispielräumen kann ich Ihnen zum jetzigen
Zeitpunkt noch nichts sagen. Das werden wir zum Ende
des Jahres, wenn die Fortschreibung und die Sachverständigengutachten vorliegen, besprechen.
Aber Sie haben im Blick, dass die Schwerpunkträume
benannt werden müssen?
Ja.
({0})
Wir kommen jetzt zur Frage 8 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wie beurteilt die Bundesregierung rechtlich und politisch
den Vorstoß vom Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Philipp Rösler, zur Beschleunigung des Stromleitungsbaus an die Flora-Fauna-Habitat- und die VogelschutzRichtlinie ranzugehen, sowie den Vorschlag, „beim Durchqueren von Schutzgebieten einen Teil der EU-Regeln auf Zeit
außer Kraft setzen“ zu können, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Juni 2012?
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Miersch, die Bundesregierung betont, dass die Energiewende und der Netzausbau in Deutschland mit dem Ziel und dem rechtlichen
Rahmen, die Natur zu erhalten und zu schützen, vereinbar sind.
Die Natura-2000-Richtlinie - das sind die von Ihnen
erwähnte Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie und die Vogelschutzrichtlinie der Europäischen Union - sieht keine
generellen Ausnahmemöglichkeiten für bestimmte Vorhabetypen wie zum Beispiel den Netzausbau vor. Auch
für Vorhaben des Netzausbaus ist es obligatorisch, eine
Verträglichkeitsprüfung durchzuführen, soweit europäi22256
sche Schutzgebiete erheblich beeinträchtigt werden können. Ferner ist die Vereinbarkeit auch solcher Vorhaben
mit den artenschutzrechtlichen Schutz- und Ausnahmeregelungen zu prüfen.
Damit kommt allerdings dem Naturschutz kein absoluter Vorrang zu. Das europäische Naturschutzrecht sieht
Instrumente vor, um Naturschutz und Infrastrukturplanung miteinander zu verbinden. Sind Vorhaben mit erheblichen Beeinträchtigungen verbunden, können diese
bei vorliegenden zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses ausnahmsweise zugelassen
werden. Ausnahmegründe können die menschliche Gesundheit, die öffentliche Sicherheit und Gründe sozialer
und wirtschaftlicher Art sein. Dementsprechend enthält
das Netzausbaubeschleunigungsgesetz aus dem letzten
Jahr in § 1 die ausdrückliche Regelung, dass die Realisierung der Stromleitungen, die in den Geltungsbereich
dieses Gesetzes fallen, aus Gründen eines überragenden
öffentlichen Interesses erforderlich ist. Diese Ausnahmetatbestände lassen grundsätzlich einen Ausgleich der Belange der biologischen Vielfalt mit den Projektinteressen
zu.
Die praktische Anwendung der umweltrechtlichen
Regelungen führte in der Vergangenheit jedoch mitunter
zu Verzögerungen bei notwendigen Netzausbauvorhaben, insbesondere wenn naturschutzrechtliche Aspekte
nicht rechtzeitig im Verfahren berücksichtigt wurden.
Wir setzen uns dafür ein, dass in der praktischen Anwendung die Möglichkeiten der Natura-2000-Richtlinie zur
Lösung von Interessenkonflikten zwischen Netzausbau
und Naturschutz effektiv und pragmatisch genutzt und
ausgebaut werden.
Nachfrage, Kollege Miersch?
Frau Staatssekretärin, vielen Dank für die ausführliche Beantwortung meiner Frage. - Ich möchte noch
eine, möglicherweise auch eine zweite Nachfrage stellen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass die Bundesregierung in Brüssel keine Bestrebungen unternimmt, an
die Rechtsgrundlagen, die Herr Dr. Rösler in seinem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung genannt hat, heranzugehen?
Ich habe vorhin schon sehr ausführlich erläutert, dass
wir der Auffassung sind, dass wir uns in dem geltenden
Rechtsrahmen sehr gut bewegen können. Sie wissen,
dass das Bundesamt für Naturschutz bereits bei der Erarbeitung der Bundesnetzplanung, die gerade vorgestellt
wurde, mit im Boot gesessen hat und von Anfang an dabei gewesen ist, um auf Risiken im Bereich des Umweltund insbesondere des Naturschutzes hinzuweisen.
Eine weitere Nachfrage, Kollege Miersch?
Eine letzte Nachfrage: Wäre es zu viel verlangt, wenn
das Bundesumweltministerium dem Bundeswirtschaftsminister die Rechtslage erklärt, damit solche Interviews
zukünftig möglicherweise in einem sachlichen Zusammenhang abgefasst werden?
Das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesumweltministerium stehen, wie Sie wissen, in einem stetigen guten und konstruktiven Austausch über alle Fragen der Energiewende und des Netzausbaus.
({0})
Vielen Dank. Das musste ja noch einmal bestätigt
werden.
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Dirk Becker und
die Frage 11 des Kollegen Oliver Krischer werden
schriftlich beantwortet.
Nun rufe ich die Frage 12 der Kollegin Dr. Valerie
Wilms auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Nachhaltigkeitsgipfel Rio+20, und welche Schlussfolgerungen leitet sie daraus für das eigene Handeln ab?
Sehr geehrte Frau Dr. Wilms, ich werde mich bemühen, die Zeit einzuhalten. Ich sage das, weil Sie eine sehr
umfassende Frage gestellt haben, die zu abendfüllenden
Diskussionen führen könnte.
Aus Sicht der Bundesregierung sind in Rio durchaus
wichtige Weichenstellungen vorgenommen worden, auch
wenn bei weitem nicht alle Zielsetzungen der EU durchgesetzt werden konnten. Wir begrüßen, dass die Staatengemeinschaft in Rio erstmals anerkannt hat, dass die
Green Economy ein wichtiges Mittel zur Erreichung
nachhaltiger Entwicklung ist, und beschlossen hat, universell gültige Nachhaltigkeitsziele ausarbeiten zu lassen.
Bald 8 Milliarden Menschen werden nur dann ein menschenwürdiges Leben führen können, wenn der Übergang
zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise weltweit vorangetrieben und mit den kostbaren und endlichen Ressourcen des Planeten wesentlich sorgsamer umgegangen wird
als bisher.
Auch die Vereinten Nationen müssen für diese Herausforderungen wesentlich besser aufgestellt werden. Die
Bundesregierung begrüßt daher, dass in Rio beschlossen
wurde, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen
durch die Einführung der universellen Mitgliedschaft und
eine Verbesserung der Finanzierung zu stärken und aufzuwerten und die seit einiger Zeit ineffizient arbeitende
Nachhaltigkeitskommission der Vereinten Nationen
durch ein höherrangiges UN-Nachhaltigkeitsforum zu ersetzen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat darüber hinaus, unseren Anregungen folgend, in Rio angekündigt,
einen Special Representative for Future Generations einzusetzen. Damit wird diesem zentralen Politikfeld ein
Gesicht gegeben.
Es kommt jetzt darauf an, die Entscheidungen von
Rio mit Leben zu füllen. Wir werden uns an der Konkretisierung der Beschlüsse der Rio-Konferenz maßgeblich
beteiligen. Ein Kernbereich unserer nationalen Anstrengungen, was das Themenspektrum der Rio-Konferenz
betrifft, ist im Übrigen die Umsetzung der Beschlüsse
zur Energiewende.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin Wilms?
Ja; herzlichen Dank. - Ich habe zwei Nachfragen,
Frau Staatssekretärin.
Sie haben eben sehr schön beschrieben, was auch
Herr Altmaier in Rio betont hat. Er hat ja versucht, den
deutschen Begriff „Energiewende“ in den englischen
Sprachgebrauch einzuführen.
Ja. Er sprach von der „Energy-Wende“.
Sie haben auch geschildert, wie die Situation global
ist. Ich möchte ein bisschen präziser werden. Meine ganz
harte Frage lautet: Welche konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung, um nachhaltigkeitswidrige
Subventionen in Deutschland abzubauen? Ich denke
zum Beispiel an das Thema Dienstwagenbesteuerung.
Wann ist hier mit Vorschlägen der Bundesregierung zu
rechnen?
Das Thema Dienstwagenbesteuerung betrifft weniger
mich als vielmehr den Kollegen, der zu meiner Linken
sitzt
({0})
und der gleich sicherlich noch das eine oder andere dazu
sagen wird.
Ich nenne Ihnen im Hinblick auf das Thema Dienstwagenbesteuerung einen kleinen Aspekt, der aus unserer
Sicht wichtig ist: Wie Sie wissen, arbeiten wir gemeinsam
mit dem Verkehrsministerium daran, bei der Dienstwagenbesteuerung eine Änderung vorzunehmen, die gewährleistet, dass Elektrofahrzeuge einen anderen Stellenwert bekommen bzw. in anderem Umfang berücksichtigt
werden, als es bisher der Fall ist.
({1})
Das ist vielleicht nicht das, was Sie sich heute wünschen.
Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung, Frau
Dr. Wilms.
Ihre zweite Nachfrage. - Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Eben ging es mir um
nachhaltigkeitswidrige Subventionen. Jetzt frage ich Sie
nach dem Gegenteil: Welche konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung im Hinblick auf nachhaltigkeitsfördernde Maßnahmen? Was haben Sie sich hier
vorgenommen? Ich könnte mir da durchaus die eine oder
andere Maßnahme vorstellen.
Frau Dr. Wilms, entscheidend sind für uns alle Maßnahmen - sie stehen auch im Fokus unseres politischen
Handelns -, die dazu beitragen, die Energiewende zu bewältigen, und uns helfen, unsere Ziele zügig zu erreichen. Wie Sie wissen, haben wir uns vorgenommen, den
Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten
Stromversorgung bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen.
Das ist unser Ziel. Hierauf richten wir unser politisches
Handeln aus. Wenn wir das schaffen, haben wir einen
großen Schritt getan, um die CO2-Emissionen zu reduzieren.
Eine andere Frage ist, wie wir es schaffen, strengere
CO2-Minderungsziele auf europäischer Ebene zu erreichen. Darüber diskutieren wir im Umweltausschuss hinlänglich, und zwar zu Recht.
Mit diesen zwei Punkten konnte ich vielleicht deutlich machen, woran wir in Deutschland ganz konkret arbeiten, um ein Stück weit mehr Nachhaltigkeit zu schaffen.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Dr. Valerie Wilms
auf:
Was unternimmt die Bundesregierung, um weltweite,
messbare Nachhaltigkeitsziele zu implementieren, und ab
wann sollten diese Ziele ihrer Meinung nach gelten?
Wir haben uns verpflichtet und gesagt, dass wir den
Prozess der Ausarbeitung der Nachhaltigkeitsziele aktiv
mitgestalten wollen. Das hat Peter Altmaier schon mehr22258
fach betont. Ziel ist, dass diese Nachhaltigkeitsziele ab
dem Jahr 2015 gelten.
Ihre Nachfrage, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich versuche, dazu etwas Präziseres bei Ihnen herauszulocken: Wie wird die
Bundesregierung die kommende Generalversammlung
der Vereinten Nationen im September nutzen, um da
weiterzukommen und den Stein ins Rollen zu bringen?
Wie Sie wissen, nutzen wir alle Formen von Veranstaltungen und Versammlungen - sei es auf europäischer
Ebene, sei es auf globaler Ebene -, um die Nachhaltigkeitsthemen voranzubringen. Jetzt wird es in erster Linie
darum gehen, bei dem, was in Rio in den Bereichen
Energie, Wasser, Ressourceneffizienz, nachhaltige Landnutzung, Biodiversität und Meeresschutz vereinbart
wurde, voranzukommen, wobei wir im Laufe des Jahres
noch zwei weitere Konferenzen haben werden, nämlich
speziell zur biologischen Vielfalt und zu weiteren CO2Minderungen.
Weitere Nachfrage?
Ja, gerne. Herzlichen Dank. - Ich habe noch eine
Nachfrage. Schauen wir uns doch einmal die EU-Subventionspolitik an. Da gibt es so tolle Sachen wie künstliche Skipisten in Dänemark, auf Bornholm, und kaum
befahrene Straßen in Portugal, die durch die EU-Subventionspolitik gefördert werden. Was unternimmt die
Bundesregierung, um die EU-Subventionspolitik auf die
Nachhaltigkeitsziele auszurichten?
Zurzeit wird der EU-Haushalt neu verhandelt, wie Sie
wissen. Inwieweit das Teil der Diskussionen sein wird,
wird man in den nächsten Wochen sehen.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Waltraud Wolff
auf:
Wie steht die Bundesregierung zur stofflichen Verwertung
von Klärschlamm angesichts der Tatsache, dass das Umweltbundesamt in seiner Broschüre „Klärschlammentsorgung in
der Bundesrepublik Deutschland“ diese ablehnt, weil die Gefahr, dass Schadstoffe in den Nahrungskreislauf gelangen,
nicht ausgeschlossen werden kann?
Liebe Kollegin Waltraud Wolff! Das Umweltbundesamt spricht sich in der Broschüre zur Klärschlammverwertung dafür aus, sukzessive auf die landwirtschaftliche Klärschlammverwertung zu verzichten, Verfahren
zur Rückgewinnung von Phosphaten aus Abwasser und
Klärschlamm weiterzuentwickeln und diese Verfahren
innerhalb von 20 Jahren flächendeckend einzuführen.
Unbestritten ist derzeit, dass schadstoffarme kommunale Klärschlämme einen Beitrag zur Nährstoffversorgung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen leisten können.
Die Bundesregierung hält die Verwertung von Klärschlämmen zu Düngezwecken daher für vertretbar, sofern diese nur gering mit Schadstoffen belastet sind. In
diesem Sinne enthält das am 29. Februar 2012 durch das
Bundeskabinett beschlossene Deutsche Ressourceneffizienzprogramm unter anderem den Prüfauftrag - ich darf
zitieren -:
Die landwirtschaftliche und landbauliche Verwertung unbedenklicher Klärschlämme sollte weiter
genutzt und ausgebaut werden, da Phosphat so effektiv dem Kreislauf zugeführt werden kann.
Voraussetzung für eine geringe Schadstoffbelastung
kommunaler Klärschlämme ist die Einhaltung der qualitativen Anforderungen der Klärschlammverordnung. Im
Zuge der in Vorbereitung befindlichen Novelle zur Klärschlammverordnung werden unter Vorsorgeaspekten die
Anforderungen an die landwirtschaftliche Klärschlammverwertung nochmals verschärft.
Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin,
das Umweltbundesamt hat Bedenken geäußert, dass hier
Schadstoffe in die Nahrungsmittel gelangen können. Sie
und ich wissen, dass in der Landwirtschaft immer wieder
darum gerungen wird, dass Klärschlämme zur Düngung
auf die Felder ausgebracht werden. Deshalb meine
Nachfrage: Wer kontrolliert die Klärschlämme? Und wie
lautet die Definition von „unbedenklichen Klärschlämmen“?
Frau Kollegin, Sie haben völlig recht, wir diskutieren
schon seit geraumer Zeit über dieses Thema. Unsere Definition der unbedenklichen Klärschlämme habe ich Ihnen gerade mitgeteilt. Derzeit bereiten wir eine Novelle
der Klärschlammverordnung vor, die in Kürze in die Abstimmungsprozesse gehen soll. Da wird es eine Reihe
weiterer Präzisierungen geben.
Bitte schön.
Ich habe noch eine zweite Nachfrage. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass es zu möglichen Schadstoffen in Lebensmitteln kommt, dann stellt sich natürlich
die Frage: Wie wollen Sie in der Zeit, bis Ihre Novelle
greift - Sie haben vorhin von einem Zeitraum von
20 Jahren gesprochen, bis so etwas umgesetzt werden
kann -, garantieren, dass keine solche Schadstoffe in Lebensmitteln sind? Denn die Bundesregierung hat sich ja
Lebensmittelqualität in höchster Form auf die Fahnen
geschrieben.
Ich erwarte von denjenigen, die die Klärschlämme
nutzen, auf die Felder bringen, eine Kontrolle der Klärschlämme, auch was den Schadstoffgehalt angeht. Die in
der Klärschlammverordnung festgelegten Schadstoffund Kontrollmechanismen verhindern, dass Klärschlämme
mit hohen Belastungen auf die Felder ausgebracht werden.
Dann kommen wir zur Frage 15 der Kollegin
Waltraud Wolff, die sich mit der Rücknahme von Altarzneimitteln beschäftigt.
Welche Maßnahmen zur Rücknahme von Altarzneimitteln
wird die Bundesregierung ergreifen angesichts des vom Umweltbundesamt festgestellten Übergangs von Schadstoffen in
den Nahrungskreislauf, besonders durch neue Abbauprodukte
von Arzneimitteln?
Nach Auffassung der Bundesregierung sollten Altarzneimittel vorzugsweise über den Hausmüll und keinesfalls über die Toilette oder andere Abwasserpfade entsorgt werden. Bei der Entsorgung der Altarzneimittel ist,
wie ohnehin bei der Aufbewahrung von Arznei, darauf
zu achten, dass diese nicht in die Hände Unbefugter gelangen.
Für die Umwelt bestehen aus Sicht der Bundesregierung hinsichtlich der Entsorgung mit den Restabfällen
keine Bedenken, da Siedlungsabfälle seit dem 1. Juni
2005 nur noch nach thermischer oder mechanisch-biologischer Vorbehandlung abgelagert werden dürfen. Durch
diese Vorbehandlung werden die gegebenenfalls in Restabfällen enthaltenen Reaktionspotenziale zerstört oder
inaktiviert.
Auch auf Deponien bestehen durch Ablagerung von
Medikamentenresten im Blick auf das Grundwasser
keine Gefahren. Aufwändige Deponieabdichtungssysteme und Sickerwassererfassung sorgen dafür, dass
Schadstoffe aufgehalten werden, sollten sich diese trotz
der Vorbehandlungsmaßnahmen noch in den abgelagerten Abfällen befinden.
Eine Nachfrage?
Ja, Herr Präsident, eine Nachfrage. - Frau Staatssekretärin, wie kontrolliert die Bundesregierung an dieser Stelle Deponien? Wenn nicht über eine thermische
Behandlung eine Vernichtung erfolgt, dann kann ja das
Grundwasser betroffen sein. Bezüglich der Abdichtung
von Deponien gibt es ja immer wieder Skandale. Wie
können Sie die Kontrollen gewährleisten?
Ich habe ja vorhin gesagt, dass die Schritte, wie verfahren werden soll, verpflichtend sind. Wenn böser Wille
oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt, dann muss dies natürlich durch spezielle Kontrollen herausgefunden werden.
Das erfolgt dann auch entsprechend. Aber es besteht natürlich die Verpflichtung, so zu verfahren, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung der Frage 16 steht der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel zur Verfügung.
Ich rufe Frage 16 der Kollegin Marianne Schieder
auf:
Welches sind die nächsten Themen, die im Rahmen des
Bürgerdialogs Zukunftstechnologien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, BMBF, bearbeitet werden
sollen, und aus welchen Gründen findet nach Ende der Dialoge zur Hightechmedizin und zu Energietechnologien aktuell
kein Dialog statt?
Herr Präsident! Frau Kollegin Schieder, ab Sommer
2011 wurden mit Bezug auf aktuelle Themen zwei Bürgerdialoge, dieses Mal sogar parallel, durchgeführt. Der
nächste Bürgerdialog wird im Themenfeld des kommenden Wissenschaftsjahres beim Thema demografischer
Wandel angesiedelt sein und im Herbst 2012 beginnen.
Im Übrigen hat das BMBF im Februar 2012 mit der Initiative „ZukunftsWerkStadt“ eine weitere, auf den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zielende Maßnahme
gestartet.
Eine Nachfrage, Frau Schieder? - Nein.
Gut, dann kommen wir zu weiteren Fragen aus diesem Geschäftsbereich. Hier steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Helge Braun zur Beantwortung zur
Verfügung. Weil Herr Brase nicht anwesend ist, werden
die Fragen 17 und 18 gemäß unserer Geschäftsordnung
behandelt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Frage 19 des Kollegen Michael
Gerdes:
Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung in der
Ausgestaltung der gemeinsamen Förderinitiative von Bund
und Ländern zur Förderung der Lehrerausbildung sicherstellen, dass eine möglichst allen Lehramtstudierenden zugutekommende flächendeckende Verbesserung der Ausbildung erreicht wird?
Herr Präsident! Lieber Herr Kollege Gerdes, zu Ihrer
Frage ist zu sagen, dass die Bundesministerin einen hohen Wert auf die hervorragende Ausbildung von Lehrern
legt und deshalb in der Kultusministerkonferenz - die
wesentliche Verantwortung für die Ausbildung von Lehrern und für die Schulbildung liegt bei den Ländern eine solche Initiative vorgeschlagen hat.
Die Länder waren von dieser Initiative begeistert. Wir
haben jetzt einen Prozess organisiert, in dessen Rahmen
die Kultusministerkonferenz am 8. März ein Eckpunktepapier beschlossen hat, wie eine solche Initiative grob
aussehen könnte. Auf der Grundlage dieses Eckpunktepapiers ist jetzt eine Staatssekretärsarbeitsgruppe eingerichtet worden, die der GWK bis zum November 2012
den Entwurf einer Bund-Länder-Vereinbarung nach
Art. 91 b Grundgesetz vorlegen soll. Da diese Staatssekretärsarbeitsgruppe noch kein Ergebnis vorgelegt hat,
kann man über die Details, die alle noch in der Verhandlung sind, momentan wenig sagen.
Eine Nachfrage, bitte.
Ich gehe also recht in der Annahme: Die Verantwortung ist jetzt auf die Länder übertragen worden. Meine
Frage ist jetzt: Welche Rolle spielt der Bund noch? Sie
haben gerade gesagt, dass noch keine konkreten Ergebnisse der Arbeitsgruppe vorliegen. Werden Sie uns darüber zeitnah unterrichten?
Immer wenn wir neue Erkenntnisse haben, werde ich
Sie gerne darüber unterrichten, weil uns am Herzen liegt,
dass diese Initiative breit getragen wird. Sie haben die
Anhörung im Deutschen Bundestag zu diesem Thema
gehört und dabei gemerkt, dass alle, die in Deutschland
mit der Lehrerausbildung zu tun haben, diese von uns
gestartete Qualitätsoffensive befürworten und sagen:
Das darf jetzt nicht scheitern. - Der Bund arbeitet in dieser Staatssekretärsarbeitsgruppe mit den Ländern gemeinsam.
Im Hinblick auf Ihre Frage, wie wir für eine flächendeckende Verteilung sorgen wollen, haben in der Anhörung alle sehr deutlich gesagt: Hier muss ein wettbewerbliches Verfahren zum Tragen kommen. Das heißt,
es wird am Ende nichts nützen, wenn wir flächendeckend wie mit einer Gießkanne alle 120 Standorte bedienen, ohne dass profilierte Konzepte vorliegen. Das Gleiche gilt, wenn wir nicht alle fördern, sondern nur einen
kleinen Teil. Ich glaube, es sind sich alle einig, dass wir
einen erheblichen Anteil der Fachbereiche an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten fördern wollen. Es
wird eine Ausstrahlungswirkung dahin gehend geben,
dass wir mit diesen Best-Practice-Beispielen in der Lage
sind, die Qualität der Lehrerbildung in Deutschland insgesamt zu verbessern.
Weitere Nachfrage? - Nein. Dann kommen wir zur
nächsten Frage des Kollegen Gerdes. Die Fragen 17 und
18 des Kollegen Brase, der zwischenzeitlich in den Saal
gekommen ist, rufe ich anschließend auf.
Ich rufe Frage 20 des Kollegen Michael Gerdes auf:
An welcher Stelle hat die Bundesregierung in welcher
Höhe im Bundeshaushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung bisher Vorsorge getroffen, um die geplante gemeinsame
Förderinitiative von Bund und Ländern zur Förderung der
Lehrerausbildung auszufinanzieren?
Lieber Herr Kollege, wir haben darüber gesprochen,
welche Größenordnung für eine solche Initiative ungefähr sinnvoll sein könnte. Wir haben aber hinsichtlich
der Finanzierung weder über die Bund-Länder-Verteilung noch abschließend über die Anzahl der beteiligten
Hochschulen und die damit zusammenhängenden Summen gesprochen, sodass dieses Thema derzeit nicht etatreif ist. Sobald über die Finanzverteilung zwischen Bund
und Ländern ein Einvernehmen gefunden worden ist,
werden wir die Finanzierung für den Bundeshaushalt anmelden.
Nachfrage? - Nein, keine. Herr Staatssekretär, wenn
Sie nichts dagegen haben, rufe ich jetzt die Fragen des
Kollegen Brase auf.
Gerne.
Wir kommen jetzt zunächst zur Frage 17 des Kollegen Willi Brase:
Welche konzeptionellen Ziele verfolgt die Bundesregierung in den Gesprächen mit den Ländern in der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz über eine gemeinsame Förderinitiative zur Förderung der Lehrerausbildung auch im Hinblick auf
die Verstärkung der Praxisorientierung, der Eignung der Studienbewerberinnen und -bewerber, der Berücksichtigung der
Anforderungen einer inklusiven Bildung sowie der entsprechenden Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom
8. März 2012?
Ich verweise an dieser Stelle auch auf das, was ich
eben gesagt habe, nämlich dass eine Staatssekretärsarbeitsgruppe im Einvernehmen mit den Ländern jetzt das
Thema erarbeiten soll. Insofern stehen alle Überlegungen unter Vorbehalt.
Aber schon der Eckwertebeschluss der KMK sieht
vor, dass wir zum einen eine stärkere Einbindung der
Lehrerbildung in die Universitäten erreichen wollen. Wir
sind uns darüber einig, dass nicht nur gezielt entsprechende Fachbereiche, sondern Universitäten mit einem
Gesamtkonzept gefördert werden sollen, wodurch wir
eine verbesserte Verzahnung mit den Fachdidaktiken erreichen wollen.
Ziel der Initiative soll zum anderen sein, dass wir Probleme lösen, die im länderübergreifenden Bereich liegen, und zwar durch die verbesserte wechselseitige
Anerkennung der Lehrerausbildung und die Vereinheitlichung von Prinzipien und Curricula.
Nachfrage, Kollege Brase.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich bin leider etwas
zu spät gekommen. - Herr Staatssekretär, ist mit diesem
Vorhaben auch ein flächendeckender Ansatz verbunden,
sodass es nicht nur in Form von Einzelprojekten für einzelne Bundesländer erfolgt, sondern dass letztlich alle
16 Bundesländer etwas von der notwendigen Verbesserung der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer haben?
Lieber Herr Kollege Brase, am Ende wird das Konzept von der Arbeitsgruppe erarbeitet. Dem will ich
nicht vorgreifen, aber Ihre Sorge vielleicht schon dahin
gehend zerstreuen, dass wir uns heute schon relativ einig
darüber sind, dass dies eine große Initiative werden soll,
die in der Breite wirkt. Es geht also nicht nur darum,
drei, vier oder acht Standorte zu fördern. Dabei war vielleicht die anfängliche Bezeichnung Exzellenzinitiative,
die den Gedanken nahelegt, dass es sich vielleicht um
wenige Leuchttürme handelt, etwas irreführend.
Der Ansatz verfolgt vielmehr das Ziel, in der Breite
etwas für die Lehrerbildung in Deutschland zu erreichen.
Deshalb gehe ich davon aus, dass am Ende ein Drittel
der Hochschulen oder mehr - wir haben insgesamt
120 pädagogische Hochschulen oder Fachbereiche in
Deutschland - von einem solchen Programm profitiert
und dass wir damit auch eine gute Flächendeckung in
Deutschland erreichen können.
Weitere Nachfrage, Herr Brase? - Das ist nicht der
Fall.
Dann kommen wir zu Frage 18:
Durch welches Auswahlverfahren sollen nach der Vorstellung der Bundesregierung die Projekte bestimmt werden, die
durch die geplante gemeinsame Förderinitiative von Bund
und Ländern zur Förderung der Lehrerausbildung gefördert
werden sollen?
Auch darüber ist noch nicht befunden. Aber die Bundesregierung hat große Sympathie für das, was auch in
der Anhörung gefordert worden ist, nämlich dass eine
Expertenjury sich mit den Anträgen befasst, die von den
einzelnen Hochschulen erarbeitet werden, sodass wir
den Bottom-up-Ansatz haben, dass Hochschulen mit
konkreten Plänen und Initiativen für sich die Exzellenz
in der Lehrerbildung definieren und dann durch eine
fachliche Bewertung daraus die entsprechende Anzahl
erarbeitet wird.
Nachfrage, Herr Brase? - Nein. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär.
Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Swen Schulz, die
Frage 23 des Kollegen Oliver Kaczmarek, die Frage 24
des Kollegen Kai Gehring, die Fragen 25 und 26 des
Kollegen René Röspel und die Frage 27 des Kollegen
Klaus Hagemann sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Hier steht uns wiederum die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Beantwortung
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 28 des Kollegen Dr. Sascha Raabe
auf, die sich wiederum mit dem schon viel zitierten Teppich befasst:
Wie ist der Name des Teppichherstellers und wie der des
Händlers, bei dem Bundesminister Dirk Niebel den Teppich in
der deutschen Botschaft in Kabul erworben hat, und kann er
auch ohne offensichtlich nicht vorhandene Zertifikate und
Siegel definitiv ausschließen, dass der Teppich mit Kinderarbeit oder unter Verletzung internationaler Standards wie den
Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, hergestellt wurde?
Herr Präsident, herzlichen Dank. - Sehr geehrter Herr
Kollege Raabe, Sie sind im letzten Moment hereingehuscht und nicht auf dem Teppich angeflogen gekommen.
Ich antworte Ihnen auf Ihre Frage, dass es sich bei
diesem Kaufvorgang um einen ausschließlich privaten
Kauf des Bundesministers Dirk Niebel handelt. Die
Bundesregierung kann - das werden Sie sicherlich verstehen - keinen zwingenden parlamentarischen Auskunftsanspruch im Zusammenhang mit Ihrer Frage nach
den beiden Namen erkennen. Im Übrigen verweise ich
darauf, dass es hier um den Schutz der Persönlichkeit
und möglicherweise auch um Sicherheitsaspekte geht.
Auf den zweiten Teil Ihrer Frage antworte ich, dass
sich Bundesminister Dirk Niebel von der deutschen Botschaft in Kabul einen als vertrauenswürdig und zuverlässig bekannten Händler hat empfehlen lassen. Bundesminister Niebel und der Bundesregierung insgesamt
liegen keine Hinweise auf eine Verletzung von Sozialund Umweltstandards oder von ILO-Arbeitsnormen vor.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Raabe.
Frau Staatssekretärin, Ihre Eingangsbemerkung haben
Sie schon fast dadurch widerlegt, dass Sie in Ihrer Antwort auf den zweiten Teil meiner Frage gesagt haben,
dass der Teppich in der Botschaft ausgewählt wurde. Sie
sagten zuerst, es habe sich um einen privaten Kauf gehandelt. Wenn ich im Ausland einkaufe, dann gehe ich
normalerweise nicht zur deutschen Botschaft, lasse mir
dorthin 38 oder 40 Teppiche - ich glaube, um so viele
hat es sich gehandelt - bringen und auslegen und dann
den gekauften Teppich mit dem Bundesnachsendedienst
auf Staatskosten und mit einem Staatsflugzeug bringen.
Ich glaube, dass es sich um einen halboffiziellen Vorgang handelt hat, wenn ein Entwicklungsminister in einer deutschen Botschaft einen Teppich erwirbt und ihn
dann auf Staatskosten transportieren lässt.
Ich komme nun zu einer Nachfrage betreffend die
Kinderarbeit, die Sie bereits versucht haben zu beantworten. Es ist schon etwas anderes, ob eine Privatperson
oder der Entwicklungsminister, der auch für Entwicklungsprojekte zuständig ist, zum Beispiel für die Zertifizierung von Teppichen, dort einen Teppich kauft. Es gibt
das GoodWeave-Siegel - als Nachfolgesiegel des Rugmark-Siegels -, das mit Mitteln der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gefördert wird. Es gibt in Afghanistan einen großen Händler, der zertifiziert arbeitet. Ich
glaube, es wäre angebracht gewesen, wenn der Entwicklungsminister einen fair gehandelten und anständig hergestellten Teppich bei einem entsprechenden Händler
oder Hersteller gekauft hätte. Ich hätte mir gewünscht,
dass sich der Minister nicht auf die Worte irgendeines
Botschaftsmitarbeiters verlassen hätte, sondern auf ein
Zertifikat. Vor dem Hintergrund, dass wir solche Zertifikate fördern wollen, gibt der Minister den Bürgerinnen
und Bürgern ein schlechtes Vorbild, wenn er einkauft,
wie er gerade lustig ist, ohne daran zu denken, dass der
Teppich vielleicht unter ganz brutalen Arbeitsbedingungen hergestellt wurde. Kinderarbeit ist leider sehr oft untrennbar mit der Herstellung von Teppichen verbunden.
Kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Denn je kleiner die Knoten sind, desto besser können
es Kinder machen. Deswegen frage ich Sie noch einmal,
warum der Minister nicht bei dem besagten zertifizierten
Händler in Afghanistan eingekauft hat. Er müsste als
Entwicklungsminister doch wissen, dass es dort jemanden gibt, den wir unterstützen.
Herr Kollege Raabe, es ist so, dass der Minister, wenn
er unterwegs ist, auch einmal eine Besorgung machen
können muss. Den privaten Kauf eines Teppichs würde
man keinem Minister nach Abschluss seiner offiziellen
Reise verwehren wollen. Aber es ist einem Minister
nicht ohne Weiteres möglich, erst recht nicht in Afghanistan - wer vor Ort gewesen ist, weiß das -, einfach irgendwo einzukaufen. Das verbietet die Sicherheitslage.
Deshalb ist der Minister diesen ungewöhnlichen Weg
gegangen. Darüber haben wir, glaube ich, schon hinreichend diskutiert.
Die Bundesregierung weiß gar nicht, ob der Teppich
ein Siegel trägt oder nicht. Insofern führen wir hier eine
hypothetische Debatte. Es ist aber davon auszugehen,
dass sowohl beim Minister als auch in der deutschen
Botschaft ausreichend Sensibilität vorhanden ist, wenn
es um die Frage geht, was oder wen man empfehlen
kann.
Gehen Sie bitte davon aus, dass der Minister alles versucht hat, die erwähnten Standards anzulegen und nach
diesen Kriterien einzukaufen. Ich finde, aus Sicht der
Bundesregierung sollte es damit gut sein.
Eine weitere Nachfrage. Aber bitte keinen Kommentar, sondern eine Frage.
Kein Kommentar. - Ich habe nur die Bitte, dass Sie
den Minister fragen und mir die Antwort schriftlich geben; denn Sie sagten, die Bundesregierung wisse nicht,
ob der Teppich ein Siegel getragen habe.
Wir kommen zur Frage 29 des Kollegen Raabe:
Kann Bundesminister Dirk Niebel definitiv ausschließen,
dass es sich bei dem von ihm in Kabul gekauften Teppich um
afghanisches Kulturgut handelte, das nicht oder nur mit gesonderter Genehmigung hätte ausgeführt werden dürfen, und
bleibt er angesichts der gegenteiligen Darstellungen des Bundesnachrichtendienstes, BND, bei seiner Aussage, es habe vor
dem Transport keine Festlegungen zwischen dem BND und
dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, BMZ, dahin gehend gegeben, dass alle Formalitäten der Einfuhr des Teppichs unmittelbar durch das
BMZ zu regeln seien?
Ich antworte Ihnen auf Teil eins Ihrer Frage, dass
nach den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei dem
Teppich um afghanisches Kulturgut handelte. Deshalb
musste dieser auch nicht mit einer gesonderten Genehmigung ausgeführt werden. Was Teil zwei Ihrer Frage
betrifft: Der Bundesregierung liegen keine neuen Aussagen des Bundesministers vor.
Nachfrage?
Der zweite Teil meiner Frage bezieht sich sehr stark
darauf, wer für die Formalitäten bei der Einfuhr zuständig war. Das hat vor dem Hintergrund Bedeutung, dass
wir heute lesen konnten, dass die Staatsanwaltschaft
kein Strafverfahren einleiten möchte. Der Kollege
Döring hat neulich in der Aktuellen Stunde hier gesagt,
dass sich streng genommen nicht Minister Niebel der
Steuerhinterziehung strafbar gemacht habe, sondern der
Präsident des Bundesnachrichtendienstes, weil er den
Teppich transportiert habe. Ich fand es sehr dreist, dass
man das ausgerechnet dem armen Herr Schindler in die
Schuhe schieben möchte. Deshalb ist die Frage zu den
Absprachen schon wichtig.
Sie sagten, es gebe keine neuen Erkenntnisse. Wir
hatten letzten Freitag eine Gremiensitzung, in der Herr
Schindler anwesend war, Herr Minister Niebel aber
nicht. Jetzt ist er aus Brasilien zurück. Vielleicht hatten
Sie Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wer war denn
nach Ansicht des Ministers für die Entrichtung der Einfuhrumsatzsteuer zuständig, Herr Schindler oder er? Wer
war für die Zollformalitäten zuständig? Welche Absprachen gab es?
Herr Kollege Raabe, ich bin ständig in sehr intensivem Austausch mit dem Minister. Bei der Frage, die Sie
eben angesprochen haben, muss man zwischen der juristischen und der alltäglichen Auslegung unterscheiden.
Was die alltägliche Auslegung betrifft, also wer die Einfuhrumsatzsteuer bezahlen muss und wie es mit der Verzollung aussieht, hat der Minister ganz klar gesagt, dass
er es versäumt habe, diese Dinge in die Wege zu leiten.
Dafür hat er sich während der Aktuellen Stunde hier im
Deutschen Bundestag in aller Form entschuldigt. Ich
glaube, dass an der Stelle Klarheit geschaffen worden
ist.
Noch einmal: Dazu, dass es Absprachen über den
Transport zwischen Herrn Schindler und dem Minister
Niebel gegeben haben soll, sagt der Minister nach wie
vor, es habe keinerlei Kontaktaufnahme mit ihm im Vorfeld gegeben. Sie wissen, dass das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium am vergangenen Freitag
diese Fragen mit Herrn Schindler erörtert hat. Ich nehme
an, dass dies zur Zufriedenheit erörtert werden konnte
und alle Fragen beantwortet wurden. Mir jedenfalls ist
nichts anderes bekannt. Das zeigen auch die Presseverlautbarungen, die danach erfolgt sind.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat in der Tat heute
mitgeteilt, dass sie nach einer einwöchigen Prüfung von
Ermittlungen absieht. Sie hat mitgeteilt - ich zitiere das
ausdrücklich, um nicht neue Verwirrungen zu stiften -:
Die Vorprüfungen haben keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren
Straftat ergeben. § 152 Abs. 2 Strafprozessordnung. Ich finde, das ist auch eine wichtige Klarstellung. Im
Übrigen hat der Minister ganz klar gesagt, dass er niemandem irgendeine Schuld zuschiebt. Er hat gesagt, wie
er die Dinge sieht, und dem ist nichts hinzuzufügen.
Gibt es eine weitere Nachfrage?
Ja, es stimmt. Das war Herr Döring, der das getan hat,
und nicht der Minister. - Meine Nachfrage bezieht sich
auf den zitierten Einstellungsbescheid. Der Minister
hatte hier damals im Parlament gesagt, dass er die Steuer
nachträglich entrichten möchte. Es hört sich jetzt in dem
Zitat der Staatsanwaltschaft so ein bisschen an, als hätte
er das nicht nachträglich zu machen. Ich gehe aber davon aus, Frau Staatssekretärin, dass er das noch nachträglich versteuern muss.
Die Staatsanwaltschaft sagt, das sei kein Straftatbestand. Gedenkt die Bundesregierung für den Fall, dass
Normalbürger, die bis zu einer gewissen Bagatellgrenze
- das könnten ungefähr 1 000 Euro sein - Steuern hinterziehen, ein Gesetz zu erlassen, nach dem das kein
Straftatbestand ist? Werden aus dem, was die Staatsanwaltschaft sagt, Konsequenzen gezogen?
Sie sprechen von einer Straftat, die ich nicht erkennen
kann, Herr Kollege Raabe. Wir befinden uns jetzt, finde
ich, juristisch auf einem Feld, auf dem ich Sie bitte, in
aller Vorsicht zu sprechen.
Ich will noch einmal ausdrücklich betonen, dass der
Minister erklärt hat, dass er allem nachkommt, was nötig
ist. Meines Wissens hat er alle notwendigen Formalitäten eingeleitet bzw. erledigt, soweit es schon erledigt
sein kann. Ich glaube, wir müssen uns da keine Sorgen
machen. Die Bundesregierung hat meines Wissens keinerlei Gesetz in Vorbereitung, um irgendwelche Fälle
abzuwenden. Ich glaube, dazu besteht kein Anlass.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Ich rufe die Fragen 30 bis 32 - dabei handelt es sich um zwei Fragen der
Kollegin Karin Roth ({0}) von der SPD sowie um
eine Frage der Kollegin Dr. Bärbel Kofler von der SPD auf. Sie sollen schriftlich beantwortet werden.
Die Fragen 33 und 34 des Kollegen Bollmann, die aus
dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie kommen, werden gemäß der Geschäftsordnung behandelt, da der Kollege nicht anwesend ist.
Die Fragen 35 und 36 des Kollegen Frank Schwabe
sollen wiederum schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen dann zur Frage 37 des Abgeordneten
Dr. Matthias Miersch, der anwesend ist:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorstoß von Bundeswirtschaftsminister Dr. Philipp Rösler, den Rechtsweg
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
beim Leitungsausbau auf eine Instanz ({1}) zu verkürzen ({2})?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher zur Verfügung. Es geht um
die Verkürzung des Rechtsweges zur Beschleunigung
beim Stromleitungsbau. - Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Verehrter Herr Kollege Dr. Miersch, die Bundesregierung hat bereits in
dem Regierungsentwurf zum Gesetz zur Neuregelung
energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 26. Juli 2011
im Zusammenhang mit der Einführung des Verfahrens
zur Annahme des Bundesbedarfsplans gemäß § 12 e
Energiewirtschaftsgesetz in der diesbezüglichen Begründung auf die Möglichkeit einer erst- und letztinstanzlichen Rechtswegzuweisung für konkrete Höchstspannungsleitungen an das Bundesverwaltungsgericht
hingewiesen.
Die Rechtswegverkürzung ist eine wesentliche Möglichkeit, die Genehmigungsverfahren für Netzausbauprojekte zu beschleunigen. Eine vergleichbare Regelung
besteht bereits gemäß § 1 Abs. 3 des Gesetzes zum Ausbau von Energieleitungen, dem EnLAG, für die dort geregelten Prioritätenvorhaben. Das ist insofern nichts
Neues, sondern die konsequente Fortsetzung des bisherigen Verfahrens.
Eine Nachfrage, Herr Miersch?
Vielen Dank. - Plant die Bundesregierung, dann auch
in dieser Form entsprechende Kapazitäten beim Bundesverwaltungsgericht vorzusehen?
Herr Kollege Miersch, dafür gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Wir befinden uns - das wissen Sie - in einem schwierigen Prozess, was den Netzausbau betrifft.
Wir müssen jetzt jegliche Vorsorge treffen, und wir wollen das, von dem ich gerade sprach, jetzt umsetzen. Wir
gehen nicht davon aus, dass da größere Kapazitäten notwendig sind.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Sie wissen, wie teilweise vor Ort debattiert wird und
dass die Fragen der Transparenz, aber auch der mögli-
chen Überprüfbarkeit für viele Bürgerinnen und Bürger
sicherlich ein ganz wichtiges Signal des Vertrauens sein
können. Können Sie sich vorstellen, dass diese Ankündi-
gung des Bundeswirtschaftsministers eher das Gegenteil
- nämlich Misstrauen - bei den betroffenen Bevölke-
rungsgruppen hervorrufen wird?
Nein, das glaube ich überhaupt nicht; denn wir wer-
den das Bürgerbeteiligungsverfahren stärken. Das ist
völlig klar; das haben wir auch in allen Gesprächen ge-
sagt. Wir wollen die Bürger nicht ausschließen.
Aber, Herr Kollege Dr. Miersch, wir brauchen eine
Beschleunigung des Prozesses; denn der Netzausbau ist
unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir eines der
drei ganz zentralen Ziele, nämlich Energiesicherheit, er-
reichen können. Das sind wir den Bürgerinnen und Bür-
gern dieser Republik schuldig.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Hinsichtlich der
restlichen Fragen wird verfahren, wie in der Geschäfts-
ordnung vorgesehen, soweit die Fragesteller nicht anwe-
send sind.1)
Ich beende damit die Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung. Sie wird um 17.05 Uhr
zur Abhandlung der Aktuellen Stunde wiedereröffnet.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Wie vereinbart - es ist 17.05 Uhr -, rufe ich jetzt den
Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Forderung von SPD und Grünen zu Tempo 30
in Städten
Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Gero Storjohann.
Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Straßenverkehrs-Ordnung sollte Tempo 30
als neue zulässige Höchstgeschwindigkeit in Städ-
ten festgeschrieben werden.
So Sören Bartol, der verkehrspolitische Sprecher der
SPD, gegenüber der Welt am Sonntag. Seine Fraktions-
kollegin Kirstin Lühmann glaubt - so die Welt am Sonn-
tag im Artikel weiter -,
1) Das gilt für die Fragen 46, 79, 82, 83 und 88 bis 94.
dass Tempo 30 für gleichmäßig fließenden Verkehr
sorge, „der im Übrigen Aggressionen mindert und
Aufmerksamkeit steigert“.
({0})
Der Abgeordnete Hofreiter von den Grünen hat dem
gleich seinen Stempel aufgedrückt und das als „moderne
Verkehrspolitik“ bezeichnet.
({1})
Das war der Stand am Sonntag letzter Woche: Die
SPD will Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit. Doch scheinbar hatten die Verkehrspolitiker ihre
Ideen nicht mit der Fraktionsführung abgestimmt; denn
Fraktionschef Gabriel brauchte nur zwei Tage, um auf
Twitter festzustellen:
… solche Fragen sollten Bundespolitiker lieber den
Kommunalpolitikern überlassen. Die können das
besser beurteilen.
({2})
Gabriel hat weiter ausgeführt, er sei „viele Jahre Kommunalpolitiker“ gewesen, und deshalb sei er „sicher,
dass so etwas vor Ort besser entschieden werden kann
als zentral von Berlin aus.“ - Ich verstehe gar nicht, warum er unbedingt Bundespolitiker werden wollte.
({3})
War das nun eine Zurechtweisung oder eine Zustimmung von Herrn Gabriel?
({4})
- Der Kollege Hacker hat es gerade erkannt: Es ist eher
eine Zustimmung.
Auch Fraktionschef Steinmeier meldete sich zu Wort.
Er sagte gegenüber bild.de:
Es bleibt dabei, Tempo 30 kommt nur da, wo es die
Bürgerinnen und Bürger vor Ort für richtig halten.
({5})
Die SPD will kein generelles Tempo 30.
({6})
Jetzt haben wir noch den Verkehrsminister aus dem
Saarland. Heiko Maas führte aus:
Ein generelles Tempolimit innerorts auf 30 kann
keine Antwort sein, ein solcher Vorschlag findet
nicht meine Unterstützung … Deshalb kann ich mir
nicht vorstellen, dass ein solcher Vorschlag am
Ende im SPD-Wahlprogramm stehen wird.
Tja, liebe SPD, was gilt nun? Das sollten Sie uns
schon einmal genauer erklären. Deswegen findet heute
auch die Aktuelle Stunde statt. Können sich Bürger
wirklich darauf verlassen, dass eine Stimme für die SPD
bei der nächsten Wahl gleichzeitig eine Stimme für
Schneckentempo und Staugefahr ist?
({7})
Die Haltung der CDU/CSU ist hier verhältnismäßig
klar. Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer, heute
auch bei dieser Debatte dabei - wunderbar! -, hat gleich
gesagt, mit ihm sei Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit nicht zu machen. Da hat er die volle
Unterstützung der Koalition, insbesondere der CDU/
CSU.
({8})
Rot und Grün wollen also den Bürgerinnen und Bürgern das Autofahren verleiden; wir wollen eher Mobilität ermöglichen und nicht behindern.
({9})
Gerade die Arbeitnehmer haben einen Anspruch darauf,
dass sie ihren Arbeitsplatz in kurzer Zeit erreichen und
nicht behindert werden.
({10})
- Dann sind wir uns ja einmal einig; dann können Sie
das nachher alles klarstellen.
Dort, wo es sinnvoll ist, gibt es bereits Tempo-30Zonen, aus besonders gutem Grund vor Schulen und
Kindergärten und in reinen Wohnquartieren. Das ist
Stand der Technik und allgemein anerkannt. Die CDU/
CSU spricht sich aber für eine erhöhte Kontrolldichte
aus, gerade im innerörtlichen Bereich, wo die Unfälle
passieren. Wenn einige wenige die Geschwindigkeitsregeln nicht einhalten, müssen wir das Entsprechende
tun, um sie zu fassen. Die Kollegen von Rot und Grün
wissen ganz genau, dass Verkehrsregeln von Bürgerinnen und Bürgern dann besonders befolgt werden, wenn
sie nachvollziehbar sind. Wenn diese Regeln nicht nachvollziehbar sind, dann werden sie eher übertreten; und
dann sind die gefährdet, die glauben, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten.
({11})
Für die willkürliche Verlangsamung des Innenstadtverkehrs und für Schneckentempo auf dem Weg zur Arbeit
gibt es kein Verständnis in der Bevölkerung.
({12})
Sollte die SPD bei ihrer Idee, die Verpflichtung auf
30 km/h in allen Städten und Gemeinden in ihr Wahlprogramm zu schreiben, bleiben, dann - da bin ich mir
ziemlich sicher - wird es ein eindeutiges Votum der
Wähler in Deutschland geben.
({13})
Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist der
bereits erwähnte Kollege Sören Bartol. Bitte schön,
Kollege Sören Bartol.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir von der SPD wollen eine sachliche Diskussion darüber führen, wie wir Verkehrssicherheit erhöhen und wie wir unsere Straßen in den Innenstädten sicherer für Fußgänger, Radfahrer und auch für Autofahrer
selber machen. Leider geht dieses Anliegen schon zu
Beginn der Debatte in der Aufregung komplett unter, die
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union und der FDP, auch durch bewusste Missverständnisse noch geschürt wird.
({0})
Wir haben uns eingehend mit dem Thema Verkehrssicherheit beschäftigt, haben mit Experten der Unfallversicherer, der Deutschen Verkehrswacht und des Deutschen Verkehrssicherheitsrates gesprochen. Ein Ergebnis
dieser Gespräche war es, den Vorschlag zu prüfen - ich
betone noch einmal, damit auch Sie es verstehen: zu prüfen -,
({1})
ob auf dem nachgeordneten Straßennetz in geschlossenen Ortschaften die zulässige Höchstgeschwindigkeit
auf Tempo 30 gesenkt werden sollte. Bei dieser Prüfung
kann es sinnvollerweise nur um das nachgeordnete Straßennetz gehen, nicht um die Hauptverkehrsstraßen.
Außerdem haben wir uns sehr intensiv mit den Vorschlägen des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesverkehrsministeriums auseinandergesetzt, einem Gremium, das von Bundesminister Peter Ramsauer
eingesetzt wurde und damit eigentlich unverdächtig ist,
ein Think Tank der SPD zu sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bisher von
Ihnen - auch von Ihnen, Kollege Storjohann - kein einziges vorurteilsfreies Argument gehört. Sie verweigern
sich doch alle einer sachlichen Diskussion.
({2})
Sie schüren lediglich die Emotionen der Menschen, die
das Auto für das tägliche Leben, für den täglichen Bedarf brauchen.
Nehmen Sie bitte einmal folgende Fakten zur Kenntnis:
Erstens. In den allermeisten Städten und Gemeinden
ist Tempo 30 auf vielen Straßen längst Realität. In München gilt auf 80 Prozent der Straßen Tempo 30.
({3})
In Nürnberg gab es im Rahmen der Kampagne „Nürnberg steigt auf“ die Debatte um Tempo 30. In Bremen
betrifft es 70 Prozent aller Straßen. Der Aufwand für die
Beschilderung ist immens, den Flickenteppich von
Tempo-30-Zonen versteht niemand mehr.
Zweitens. Tausende Eltern von kleinen Kindern, ältere Menschen, aber auch Menschen mit Behinderungen
fordern in den Gemeinden eine Begrenzung der Geschwindigkeit für Autos: vor Schulen, vor Kindergärten,
vor Altenheimen. Gemeindevertreter aller Parteien - ich
betone: aller Parteien - wollen vor Ort das Tempo des
Verkehrs verringern, um am Ende Menschenleben zu
schützen.
({4})
Drittens. Zum ersten Mal seit 20 Jahren ist die Zahl
der Verkehrstoten im vergangenen Jahr wieder gestiegen. Auf unseren Straßen in Deutschland kamen 4 002
Menschen ums Leben. Das können wir doch in diesem
Haus nicht ignorieren. Ich finde: Jeder Tote ist an dieser
Stelle ein Toter zu viel. Das muss man einmal so deutlich
sagen.
({5})
Viertens. Der Bremsweg eines Autos mit 30 km/h ist
ungefähr um die Hälfte kürzer als der Bremsweg eines
Autos mit 50 km/h. Prallt ein Fahrzeug mit 50 km/h gegen einen Kinderwagen, dann ist das Kind tot, obwohl
der Fahrer es vielleicht noch bemerkt hat.
({6})
Fährt es nur 30 km/h, dann könnte es das vielleicht noch
überleben, weil man es geschafft hat, vorher zu bremsen.
Auch darüber sollte man nachdenken.
Mit Blick auf diese Fakten sind meine Forderungen,
sachlich und nüchtern gesprochen, sehr klar: Ich will
erstens, dass in unseren Städten und Gemeinden in Zukunft weniger Menschen im Straßenverkehr sterben.
Zweitens will ich eine einfache, verständliche Beschilderung in unseren Gemeinden und drittens, dass unsere
Vertreter in den Stadt- und Gemeinderäten ordentlich
entscheiden und den Verkehr vor Ort sicherer machen
können. Dazu brauchen sie vernünftige Instrumente, die
auch funktionieren.
Welcher Weg der beste sein kann, müssen wir Verkehrspolitiker sachlich diskutieren; diese Aufgabe haben
wir in unseren Fraktionen übernommen. Dieses Thema
darf man nicht populistisch aufladen
({7})
und am besten noch am Stammtisch diskutieren. Ich
wiederhole: Es gilt das, was Frank-Walter Steinmeier bereits gesagt hat - danke übrigens dem Kollegen
Storjohann, dass er so sauber zitiert hat -:
… Tempo 30 kommt nur da, wo es die Bürgerinnen
und Bürger vor Ort für richtig halten.
Und das gilt!
({8})
Danke.
({9})
Vielen Dank, Kollege Sören Bartol. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
FDP unsere Kollegin Petra Müller. Bitte schön, Frau
Kollegin Petra Müller.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verkehrssicherheit ist für uns alle ein wichtiges Thema.
Sie haben es richtig gesagt, Kollege Bartol: Verkehrssicherheit entscheidet über Menschenleben. Deswegen
sind wir uns in diesem Hause und auch im Ausschuss bei
entsprechenden Themen oftmals einig. Häufig werden
Anträge sogar fraktionsübergreifend verabschiedet.
({0})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenn Sie generell und dogmatisch Tempo 30 in
den Städten fordern,
({1})
unabhängig von örtlichen Gegebenheiten, als Bundesgesetz übergestülpt, entgegen jahrzehntelanger Praxis,
trotz Widerspruchs der Fachverbände ({2})
dann ist es mit dem Konsens vorbei. Tut mir leid.
Tempo 30 an sensiblen Stellen wie Kindergärten,
Schulen oder Wohngebieten wird heute so oft wie möglich angewendet, und zwar dort, wo es nötig ist.
({3})
Entschieden wird dort, wo darüber entschieden werden
sollte, nämlich in den Kommunen. Wenn Sie jetzt den
Flickenteppich beklagen, dann sage ich Ihnen: Dieser
Flickenteppich führt zur Aufmerksamkeit im Verkehr,
jawohl!
({4})
Die Entscheidung darüber, wo Tempo 30 angesagt ist,
gehört jedenfalls in die Kommunen.
({5})
Das hält die FDP für ein bewährtes System. Wir sehen
an dieser Stelle überhaupt keinen Handlungsbedarf und
auch keinen Regulierungsbedarf.
({6})
Was Sie wollen, ist teuer, bürokratisch, ist eine zentralistische Regelung, die ohne jeden Mehrwert ist. Das
machen wir nicht mit! Es wird uns nicht gelingen, einfach so den Verkehr in den Kommunen zu regeln. Außerdem würden sich die Kommunen massiv dagegen
wehren. Vorhin haben wir all die Zitate von den Kollegen in der SPD gehört, die in puncto Verkehrssicherheit
mit Ihnen nicht einer Meinung sind.
Die Akzeptanz von Regelungen ist für uns ein wichtiger Punkt. Ich sage Ihnen eines: Die Autofahrer würden
sich massiv dagegen wehren, wenn man ihnen eine solche Regelung überstülpte. Ein Autofahrer ist nämlich
immer nur dann ein guter Autofahrer, wenn er die Regel
akzeptiert und versteht. Darum geht es doch. In diesem
Zusammenhang ist das Stichwort Eigenverantwortung
zu nennen. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft
sagt: Autofahrer halten sich dann an Vorschriften, wenn
sie für sie nachvollziehbar sind.
({7})
Das stimmt, das ist richtig, und dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
({8})
Sie verbessern die Verkehrssicherheit nicht, wenn Sie
die Akzeptanz von Verkehrsregeln schwächen. Sie verbessern die Verkehrssicherheit nicht, wenn Sie den Verkehrsfluss hemmen. Sie verbessern die Verkehrssicherheit nicht, wenn Sie Staus fördern, die Verkehrswege
verlängern oder die Autofahrer behindern. So einfach ist
das. Das wollen wir in der Koalition nicht.
({9})
Kollegin Lühmann sagt, Tempo 30 würde Aggressionen mindern. Da muss ich Sie wirklich fragen, liebe Kollegin, ob Sie sich vorstellen, dass sämtliche deutschen
Straßen voller aggressiver Autofahrerinnen - das sage
ich ganz bewusst - und Autofahrer sind? Sie zeichnen
ein Bild von einem ständig wütenden, konstant aggressiv
rasenden Menschen. Das ist doch nicht die Realität auf
den deutschen Straßen.
({10})
Das ist doch nicht das Leben. Sie stellen die Bürger unter Generalverdacht. Wir von der Koalition hingegen haben Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb
werden wir Ihrem Vorhaben nicht zustimmen.
Ich werde den Satz, den Herr Gabriel auf Twitter veröffentlicht hat, nicht noch einmal zitieren, sonst wird er
noch zum Dauerbrenner in dieser Aktuellen Stunde.
Aber Herr Steinmeier hat sich zu diesem Thema geäußert, und übrigens auch Heiko Maas kann sich nicht vor22268
Petra Müller ({11})
stellen, eine solche Forderung zukünftig im Wahlprogramm der SPD unterzubringen.
({12})
Das kann ich nur unterschreiben, und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal das unterschreiben würde, was
Heiko Maas sagt. Der Städte- und Gemeindebund nennt
Ihre Vorschläge „Gängelung“ und „Bevormundung“. Alles richtig, alles gut.
Ich schlage Ihnen vor: Treffen Sie sich zu einer internen Besprechung am Runden Tisch. Unterhalten Sie sich
darüber, wie Sie sich Ihre künftige Verkehrspolitik vorstellen. Ich hätte nichts dagegen, die FDP würde das begrüßen; wir brauchten uns dann über dieses Thema nicht
mehr zu unterhalten.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die
Linke unser Kollege Herbert Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tempo 30 ist sicherer, leiser und sauberer. Was wollen
wir uns als Bewohnerinnen und Bewohnern von Städten
und Dörfern mehr wünschen? Darauf muss unser Umgang mit dem Verkehr abzielen. Wenn es ein Instrument
gibt, durch das diese drei Kriterien erfüllt werden können, nämlich sicherer, sauberer und leiser zu sein, dann
sollten wir es sofort nutzen.
({0})
Herr Storjohann, wir wissen, dass Sie in Ihrer Fraktion für das Thema Verkehrssicherheit verantwortlich
sind. Das Thema Verkehrssicherheit spielte bisher eine
sehr ungeordnete Rolle, was ich bedauere; denn
Tempo 30 spielt beim Thema Verkehrssicherheit eine
entscheidende Rolle.
Der Vorstoß der SPD und der Grünen deckt sich mit
dem Vorstoß der Linken, den wir schon vor längerer Zeit
gemacht haben. Wir wollen eben, dass die Lebensqualität in den Dörfern und Städten insgesamt besser wird.
Was kann da besser sein als die Reduzierung der Geschwindigkeit? Wir wissen doch selber: Wenn wir als
Fußgänger oder Radfahrer unterwegs sind, dann empfinden wir schnelle Autos als störend; denn wir sind sehr
unsicher, wenn wir hohen Geschwindigkeiten ausgesetzt
sind. Wir wissen aber auch, dass durchaus unterschiedliche Herzen in unserer Brust schlagen. Wären wir auf der
gleichen Strecke als Autofahrer unterwegs, würden wir
möglicherweise mit Ungeduld darauf warten, wieder
schneller fahren zu können.
Die eben genannten Zahlen belegen, dass Tempo-30Zonen in großen Städten weit verbreitet sind; denn gerade dort, wo Menschen auf engem Raum wohnen, wollen sie möglichst ruhig leben. Deshalb sind sie an ihre
kommunale Vertretung herangetreten, um anzufragen,
ob sich die Geschwindigkeit nicht reduzieren lässt.
Nun weiß ich als Kommunalpolitiker gut, wie unendlich schwierig es ist, Tempo-30-Zonen einzurichten.
Lassen Sie mich als konkretes Beispiel eine Schule in
Osterholz-Scharmbeck nennen, die an einer Kreisstraße
liegt. Es ist sehr schwierig, sich mit der Kreisverwaltung
ins Benehmen zu setzen, damit es dort zu einer Geschwindigkeitsbegrenzung kommt. In dieser Straße gibt
es zwar merkwürdige Baumaßnahmen, um zwanghaft
eine erhöhte Verkehrsaufmerksamkeit zu erzielen, aber
ich empfinde diese baulichen Maßnahmen als eher störend. Sie machen den Verkehr eher unsicherer als sicherer.
Wenn ich als Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger
weiß, dass in meiner Stadt Tempo 30 herrscht, dann kann
ich mich darauf einstellen, egal mit welchem Verkehrsträger ich unterwegs bin.
Wir können auch von einer höheren Sicherheit ausgehen, wenn die Differenz zwischen Fußgängern und Autos nicht mehr 45 Kilometer pro Stunde beträgt, sondern
nur noch 25 Kilometer pro Stunde. Es führt zu einem anderen Miteinander in den Städten und Dörfern, wenn es
uns gelingt, eine erhöhte Verkehrssicherheit durch Temporeduzierung zu erreichen.
Der Verkehr wird leiser werden. Verkehrsexperten haben ausgerechnet: Eine Reduzierung des Tempos von
50 km/h auf 30 km/h würde die Geräuschemission um
3 dB verringern. Die Zahl klingt niedrig, aber das
entspricht der Halbierung der akustischen Belastung
durch Verkehrslärm. Das ist nicht zu unterschätzen. Wir
wollen in den Städten neben der Sicherheit doch auch
mehr Lebensqualität. Wir sollten darum den entsprechenden Vorschlag, der hier von Grünen und SPD noch
einmal neu aufgegriffen worden ist, prüfen und ernst
nehmen.
Es ist doch nicht so, dass nun per Dekret vorgeschrieben werden soll, dass ab sofort flächendeckend innerorts
nur noch 30 Kilometer pro Stunde gefahren werden darf.
Das ist doch gar nicht Sinn und Zweck unserer Forderung. Unser Grundsatz lautet: Tempo 30 innerorts. Überall dort, wo wir feststellen, dass das Tempo zu gering ist,
weil wir es zum Beispiel mit Ausfallstraßen zu tun haben, dann darf natürlich schneller gefahren werden. Es
geht doch nicht darum, dass wir schnelle Straßen künstlich langsamer machen wollen, so wie wir im Moment
Straßen langsamer machen, wenn wir eine Tempo-30Zone einrichten.
Insbesondere mit Blick auf die Kommunalpolitik, die
hier schon erwähnt worden ist, kann ich nur sagen: Für
die Kommunen ist es teuer, umständlich und oft nur mit
großen Zeitverzögerungen möglich, eine Tempo-30Zone einzurichten. Auch der Städtetag hat diesbezüglich
leider hohe Hürden eingezogen.
Tempo 30 ist auch sauberer. Wir werden es dann
- dieser These stimme ich zu - mit einem flüssigeren
Verkehrsfluss zu tun haben. Dann wissen wir nämlich,
dass wir es mit großflächigen Tempo-30-Zonen zu tun
haben, und durch entsprechende Maßnahmen können
wir dafür sorgen, dass der Verkehr noch flüssiger läuft.
Was ist an dem jetzigen Modell schneller? Wir dürfen
zwar 50 km/h fahren, fahren laut Messungen in der Realität in Berlin aber nur 32 km/h im Durchschnitt. In
München sind es nur 27 km/h, die ich im Durchschnitt
fahre, obwohl ich 50 km/h fahren dürfte. Das hat mit
Stausituationen zu tun, die dadurch entstehen, dass der
Verkehr nicht flüssig läuft, weil man an Ampeln abbremsen und wieder beschleunigen muss.
Ich denke, um die Wohnqualität zu verbessern, müssen wir zu einer Temporeduzierung kommen. Das werden wir nicht per Dekret verordnen, sondern wir werden
darüber mit den Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren
haben; denn sie entscheiden letztendlich darüber, wie sicher und sauber die Stadt sein soll, in der sie leben.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Kollege Stephan Kühn. Bitte
schön, Kollege Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir fordern Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, weil dadurch
die Verkehrssicherheit verbessert und Lärm und Abgase
reduziert werden können.
Frau Kollegin Müller, wenn man sich anschaut, was
die Fachverbände dazu sagen, stellt man fest, dass sie
ziemlich geschlossen dafür sind. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat hat sich dafür ausgesprochen. Auch
Polizeivertreter und der Wissenschaftliche Beirat beim
BMVBS sagen uns: Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit
ist richtig.
({0})
Die Absenkung der Höchstgeschwindigkeit auf
Tempo 30 reduziert - das ist schon gesagt worden - den
Straßenlärm um 2 bis 3 Dezibel. Eine Verringerung um
3 Dezibel wird vom Menschen wie eine Halbierung der
Verkehrsmenge wahrgenommen. Dementsprechend können wir die Lebensqualität der Menschen in unseren
Städten durch eine Temporeduzierung verbessern, und
nebenbei verringern wir den Ausstoß an Luftschadstoffen.
Niedrigere Geschwindigkeiten innerhalb von Ortschaften verbessern die Situation für Fußgänger und
Radfahrer, insbesondere für Kinder, ältere Menschen
und Menschen mit Behinderungen. Es ist leider so, dass
Unfälle von Fußgängern und Radfahrern mit motorisierten Verkehrsteilnehmern bei 50 km/h sehr oft tödlich enden. Tempo 30 könnte Leben retten; das ist schon gesagt
worden. Im letzten Jahr sind im Stadtverkehr - das ist
die traurige Wirklichkeit - 1 200 Menschen gestorben.
Das ist eine Zunahme um 10 Prozent im Vergleich zum
Jahr 2010. Das sollte uns alles andere als zufriedenstellen. Wir sollten alles tun, um diese hohe Zahl getöteter
Verkehrsteilnehmer deutlich zu reduzieren.
({1})
In diesem Zusammenhang ist eine Langzeitstudie aus
London interessant. Sie kam zu dem Ergebnis, dass
durch die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 32 km/h die Zahl der geschwindigkeitsbedingten Unfälle um 42 Prozent gesenkt werden konnte. Der
stärkste Rückgang wurde bei den Unfällen mit Kindern
verzeichnet. Eine sehr interessante Studie!
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie von der Koalition
heute substanzielle Vorschläge einbringen, wie Sie die
Verkehrssicherheit in unseren Städten verbessern wollen.
Leider haben wir dazu gar nichts gehört.
({2})
Auch im Nationalen Verkehrssicherheitsprogramm finden wir außer Appellen und Kampagnen wenig.
Daran, dass Verkehrsminister Ramsauer Tempo 30
mit der Begründung ablehnt, dass er Mobilität ermöglichen und nicht verhindern will, wird deutlich, dass er unter Mobilität nur die Mobilität der Autofahrer versteht;
denn Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit würde diejenigen stärken, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs
sind. Fahrradfahrer könnten wieder sicherer auf den
Straßen unterwegs sein, weil sie vom Autofahrer früher
wahrgenommen und aufgrund dessen zum Beispiel nicht
mit einem zu geringen Abstand überholt würden.
Die Verlängerung der Fahrtzeit bei Einführung einer
Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 liegt im Sekundenbereich. Sie wissen alle, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit im Stadtverkehr bei ungefähr 20 km/h
liegt. Das ist die Realität.
Der Flickenteppich ist angesprochen worden. Aufgrund der jetzt gültigen Rechtslage haben wir im Hauptverkehrsnetz einen ständigen Wechsel zwischen
Tempo 30 und Tempo 50: 200 Meter Tempo 30, weil
dort eine Schule ist, dann wieder Tempo 50, und dann
kommt wieder eine Geschwindigkeitsbeschränkung aus
Gründen des Lärmschutzes.
Dieser Flickenteppich trägt nicht zu einer Verbesserung des Verkehrsflusses bei; im Gegenteil. Er lässt beispielweise auch nicht die Optimierung von Ampelschaltungen zu. Mit der Einführung von Tempo 30 als
Regelgeschwindigkeit könnten der beschriebene Wechsel vermieden und der Verkehrsfluss optimiert werden,
weil die Ampelschaltungen verbessert werden könnten.
Sie haben hier ein Schreckgespenst gezeichnet: Alle
Autofahrer wären zum Schleichen verdammt, weil auf
allen Straßen Tempo 30 gelten würde. Dies entbehrt jeglicher Grundlage. Wir haben klargemacht, dass es um
Regelgeschwindigkeit und nicht um Höchstgeschwindigkeit geht. Es geht also um eine Umkehr des RegelAusnahme-Verhältnisses. Die Beweislast wird umgekehrt: Heute muss das Vorschreiben von Tempo 30 be22270
gründet werden und das Vorschreiben von Tempo 50
nicht. Dies wollen wir ändern. Dadurch wäre es für die
Kommunen leichter, Tempo 30 anzuordnen. Das würde
Bürokratie abbauen.
({3})
Es würde übrigens auch dazu führen, dass die Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger transparenter
wären.
Es geht also nicht um die Verhinderung von Tempo 50,
sondern um die Ermöglichung von Tempo 30. Trotz alledem würde auf den meisten Hauptverkehrsstraßen weiterhin Tempo 50 gelten. Ich kann nur darum bitten, dass
wir die Diskussion versachlichen. Sie haben heute dazu
leider keinen Beitrag geleistet.
({4})
Vielen Dank, Kollege Stephan Kühn. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas
Scheuer. Bitte schön, Kollege Dr. Andreas Scheuer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Bartol, das war ja ein wirklich toller Versuch, uns davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie den Vorschlag, ein Tempolimit von 30 km/h in Städten einzuführen, gerade noch prüfen.
({0})
- Herr Kollege Kühn, die Prüfung hatte schon in der Zeit
von Rot-Grün im Jahr 2000 begonnen. - Herr Kollege
Bartol, Sie prüfen mittlerweile sehr lange; Herr Kühn hat
eine Steilvorlage geliefert. Damals war dieser Vorschlag
von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen vorgebracht worden, und er wurde dann von der Spitze der
SPD torpediert. Jetzt machen Sie diesen Vorschlag erneut.
({1})
Es ist eine alte Kamelle und nicht zeitgemäß. Die Argumente sind auch völlig an den Haaren herbeigezogen.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich klar sein,
dass die Union und die FDP für Freiheit und Eigenverantwortung stehen
({2})
und Rot-Grün und Linkspartei für Gängelung, Limitierung und Verbote.
({3})
Sie haben das Beispiel München erwähnt, wo auf
80 Prozent der Straßen Tempo 30 gilt. Dort lebt ein
SPD-Politiker als Oberbürgermeister vor, wie er die Bürgerinnen und Bürger gängelt.
({4})
Zum besseren Verkehrsfluss in München führt das definitiv nicht.
({5})
Wenn Sie die Städte als den Ort der meisten Unfälle
hervorheben, möchte ich auf unsere Berichte zur Verkehrssicherheit verweisen. Landstraßen sind sehr unfallträchtig, dort sind die meisten Verkehrstoten zu beklagen. Deswegen hat der Bundesminister eine „Aktion
Landstraße“ gestartet. Da wollen wir ansetzen. Ich danke
Bundesminister Ramsauer dafür, dass er den Haushaltstitel für die Verkehrssicherheit erhöht hat; der Titel ist
jetzt auf Rekordniveau. Damit sagen wir Ja zu einer verbesserten Verkehrssicherheit.
({6})
Wenn Sie, Herr Kollege Kühn, das nationale Verkehrssicherheitsprogramm zitieren, sage ich: Ja, wir haben jetzt eine politische Leitung im Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die sich inhaltlich und konzeptionell mit der Verkehrssicherheit beschäftigt. Es geht dabei um die Aktionsfelder Mensch,
Infrastruktur und Fahrzeugtechnik. Dort werden auch
sehr gute Vorschläge für den Stadtverkehr gemacht.
Lieber Kollege Bartol, die SPD muss ja sehr viel Vertrauen in ihre SPD-Kommunalpolitiker haben, wenn Sie
von oben dirigistisch festlegen wollen, dass nur noch
Tempo 30 in den Kommunen gelten soll.
({7})
Sie wollen Ihren Kommunalpolitikern befehlen, was sie
im Bereich Stadtverkehr tun sollen.
({8})
Ich glaube, das ist der falsche Weg.
({9})
Die Union schätzt die politische Eigenständigkeit der
Kommunalpolitiker. Diese können situationsbedingt entscheiden, wo sie Tempo 30 vorschreiben, zum Beispiel
vor Kindergärten, vor Spielplätzen und in beruhigten
Zonen in Wohngebieten. Sie können das bestens selbst
entscheiden. Dazu brauchen sie nicht den Deutschen
Bundestag.
({10})
Zu den Punkten Bürokratie oder finanzieller Aufwand
kann ich nur sagen: Wenn Sie zwischen den Hauptstraßen - rechtlich muss zunächst einmal definiert werden,
was Hauptstraßen sind - und den beruhigten Zonen, in
denen nach Ihrem Modell generell Tempo 30 gelten soll,
wechseln wollen, brauchen Sie neue Schilder und haben
einen entsprechenden Aufwand für die Umschilderung.
({11})
Solch ein Schild kostet ungefähr 300 Euro. Multiplizieren Sie das einmal!
Wir wollen einen anderen Weg gehen. Wir wollen die
Kommunen mit Aktionen gegen den Schilderwald motivieren, die Schilder herunterzunehmen und Regelungen
zu finden, die für die Bürgerinnen und Bürger transparenter sind. Dann ist es für die Verkehrsteilnehmer einfacher, nachzuvollziehen, welches Tempo sie fahren sollen. Außerdem werden durch die Entschilderung unserer
Innenstädte Kosten eingespart.
Wir gehen also einen ganz anderen Weg: Abbau des
Schilderwaldes, und die Kommunalpolitik soll selbst
entscheiden, wo eine Tempo-30-Zonen-Regelung gelten
soll.
Die SPD tut sich ja immer als die Kommunalpartei
hervor. Sie möchte suggerieren, dass die Bürgerinnen
und Bürger für die Tempo-30-Regelung sind. Ich nehme
etwas anderes wahr. Ich glaube, dass eine mangelnde
Akzeptanz durch die Verkehrsteilnehmer die Verkehrssicherheit in den Innenstädten sogar untergräbt, weil jeder für sich entscheidet, wie schnell er auf den Straßen
fährt. Ich glaube, dieser Vorstoß geht ins Leere. Die
SPD-Spitze hat schon in diese Richtung argumentiert.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin war heute
zum Thema Berliner Flughafen im Deutschen Bundestag. Er fährt - es sei ihm vergönnt, weil unsere politischen Mandatsträger für die Automobilindustrie eine
Werbebotschaft senden - ein großvolumiges Fahrzeug,
einen BMW 750 Li.
({12})
Reden und Handeln, meine Damen und Herren! 407 PS,
das ist der Beitrag des Regierenden Bürgermeisters für
den Vorschlag der Tempo-30-Zonen-Regelung.
({13})
Aus den Vorlagen, die Sie uns im BMVBS hinterlassen haben, haben wir viel herausstreichen müssen. Ich
glaube, aus der Debatte kommt heraus: Die Union und
die FDP wollen nicht Verkehre verhindern, sondern sie
wollen sie intelligent koordinieren. Dazu brauchen wir
die Kommunalpolitik, die immer fähig ist, vor Ort die
besten Lösungen für die Bürgerinnen und Bürger zu finden. Damit sagen die Kommunalpolitiker Ja zu ihrer eigenen Verantwortung.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächste Rednerin
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten Frau Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte
schön, Frau Kollegin Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Sehr verehrte Zuhörende! In meinem Wahlkreis in Celle
haben wir gerade eine Diskussion darüber, ob in einem
Straßenabschnitt in der Innenstadt Tempo 30 kommen
soll. Die Bürger und Bürgerinnen sind dafür. Die Kommune ist dafür. Jetzt gibt es eine Vorlage, die sich an
geltendem Recht orientiert. Wie sieht diese Straße dann
aus? Nach jetziger Rechtslage werden die ersten
500 Meter Tempo 30 nachts - aus Lärmschutzgründen sein. Die nächste Strecke wird Tempo 50 sein. Danach
wird - aus Verkehrssicherheitsgründen - eine Strecke
Tempo 30 tagsüber folgen. Liebe Herren und Damen,
wir sind uns wohl einig: So eine Situation ist sowohl für
die Anwohnenden als auch für die Verkehrsteilnehmenden absolut indiskutabel.
({0})
Ich wollte einmal genau wissen, wie die rechtlichen
Voraussetzungen aussehen, und habe ein Gutachten beim
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
in Auftrag gegeben. Das war nicht ganz einfach. Auch
das BMVBS hat sich schwergetan. So viel zu der Aussage: Das ist doch ganz einfach, die Kommunen können
das doch locker machen.
Wie sieht es denn nun aus? In der StraßenverkehrsOrdnung gibt es viele Möglichkeiten, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Ich habe unter anderem gefunden:
Tempo 30 kann angeordnet werden, um die Flüssigkeit
und Leichtigkeit des Verkehrs zu fördern.
({1})
Das heißt, der Gesetzgeber geht nicht von Staus und
Schneckentempo aus, sondern der Gesetzgeber geht davon aus, dass Tempo 30 die Flüssigkeit des Verkehrs sogar fördern kann. Ich denke, da können wir ihm zustimmen.
({2})
Aber: Wenn eine Kommune Tempo 30 einführen will,
muss sie viele andere Rechtsgebiete beachten, zum Beispiel die Bundes-Immissionsschutzverordnungen, die
Lärmminderungspläne der EU und die Luftreinhaltungspläne der EU. Ich will damit sagen: Das ist ein sehr komplexes Rechtsgebiet.
({3})
Das zeigen die vielen Urteile, in denen die Anordnung
von Tempo 30 durch Kommunen zurückgenommen
wurde.
Insbesondere bei höherklassifizierten Straßen gibt es
Probleme. Wer sieht, wie sich Kreisstraßen, Landesstraßen und Bundesstraßen teilweise durch enge Innenstädte
schlängeln, und wer erlebt, wie lange der Bau von
Ortsumgehungen dauert, der wird mir zustimmen: Unser
Ziel muss es sein, dafür zu sorgen, dass die Kommunen
schnell und frei entscheiden können: Wo kommt
Tempo 30 und wo nicht?
({4})
Auch im Aktionsplan „Verkehrssicherheit“ der EU
wird in Punkt 54 vorgeschlagen: In Wohngebieten und
auf einspurigen Straßen ohne Fahrradwege ist Tempo 30
vorzuschreiben. - Dem, meine Herren und Damen, haben sogar die Abgeordneten von Union und FDP im Europaparlament zugestimmt.
({5})
Aber so weit wollen wir von der SPD gar nicht gehen,
liebe Koalition.
In unserem Antrag zum Thema Verkehrssicherheit
heißt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf … zu prüfen, ob innerhalb geschlossener
Ortschaften - mit Ausnahme der Hauptverkehrsadern - die zulässige Höchstgeschwindigkeit
grundsätzlich auf Tempo 30 gesenkt wird.
Dieser Antrag wurde leider abgelehnt. Wer ihn lesen will
- er enthält nämlich noch viele andere gute Vorschläge -: Sie finden ihn auf Drucksache 17/5772.
({6})
Eines erstaunt mich - jetzt richte ich mich an die Abgeordneten der Koalition, die dem Verkehrsausschuss
angehören; wenn die Kollegen und Kolleginnen, die unserem Ausschuss nicht angehören, nicht jeden Antrag,
den wir dort behandeln, lesen, kann ich das verstehen -:
Weil wir im Verkehrsausschuss erst vor wenigen Monaten über den eben von mir zitierten Antrag diskutiert haben, wissen alle Ausschussmitglieder, was die SPD zum
Thema Tempo 30 fordert. Sie wissen auch, dass es sich
um einen Prüfauftrag handelt und dass es in unserem
Antrag heißt: „mit Ausnahme der Hauptverkehrsadern“.
Trotzdem verbreiten Sie weiter ein sinnentstellend verkürztes Zitat; das haben Sie auch heute Morgen getan.
({7})
Das, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist unanständig.
({8})
Zusammenfassend stelle ich fest: Wir wollen, dass die
Entscheidungsgewalt vor Ort ausgeübt wird. Die Situation stellt sich zurzeit allerdings schwierig dar. Es geht
um die Fragen: Wie können wir die Situation optimieren? Wie können wir die Regelungen entbürokratisieren? Wie können wir den Kommunen die Handlungskompetenz geben? Es gibt zwei Möglichkeiten:
Entweder belässt man die Regelgeschwindigkeit bei
50 km/h, vereinfacht aber die Ausnahmen, oder man
macht Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit; es ist sowieso einfacher, Ausnahmen nach oben vorzunehmen.
Vielleicht gibt es ja auch eine dritte Möglichkeit, über
die wir noch nicht diskutiert haben.
Wir als Bundestag haben die Verantwortung, im Interesse der Kommunen zu handeln und die Entscheidungskompetenz vor Ort zu stärken. Lassen Sie uns diese Aufgabe endlich ernst nehmen! Lassen Sie uns vorurteilsfrei
prüfen, welche Regelung die sinnvollste ist, und zwar für
die Menschen in den Kraftfahrzeugen und für die Menschen außerhalb der Kraftfahrzeuge.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Werner Simmling. Bitte schön, Kollege Werner
Simmling.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute geht es um das Thema
Tempo 30 in Städten. Lassen Sie mich mit einem Zitat
des Chefs der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer
Wendt, beginnen: Das ist „eine Schlafmützenregelung“,
sagte dieser zu den Vorschlägen rot-grüner Verkehrspolitiker, die Geschwindigkeit innerorts per Gesetz auf
30 km/h begrenzen zu wollen.
({0})
Eigentlich ist damit bereits alles gesagt.
Aber im Ernst: Der Vorschlag, mit dem uns unsere
Kollegen, der verkehrspolitische Sprecher der SPDFraktion, Sören Bartol, und der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages, Dr. Anton
Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen - er ist leider nicht
hier -, überraschten, hatte es in sich; denn dieser GeWerner Simmling
danke war wohl zumindest innerhalb der Fraktion der
SPD nicht abgestimmt.
({1})
- Ja. Ich habe Ihnen gut zugehört. - Der Aufschrei von
Sigmar Gabriel, von Frank-Walter Steinmeier und vom
Präsidenten des Deutschen Städtetages und Münchener
Oberbürgermeister, Christian Ude, um nur einige zu nennen, kam postwendend und war nicht zu überhören. Alle
drei erinnerten sich wohl sofort an den fatalen Fehlstart
unserer Kollegin Renate Künast als Bürgermeisterkandidatin in Berlin, die mit genau diesem Thema, Tempo 30,
in Berlin punkten wollte, damit die halbe Stadt verschreckte und krachend einbrach. Der Wahlsieg war verspielt.
({2})
Seit dem 1. September 1957, also seit bald 55 Jahren,
gilt Tempo 50 in den Städten. Dieses Tempolimit gilt
nicht nur für Autos - hier wird immer nur von Autos gesprochen -, sondern auch für Straßenbahnen und Busse.
In vielen Wohngebieten und vor Schulen, Kindergärten
und Kliniken gilt schon lange Tempo 30. Die Entscheidung, wo in Zukunft Tempo 30 zu gelten hat, sollte demnach dort gefällt werden, wo sie hingehört, nämlich in
den Kommunen und nicht im Bundestag.
({3})
- Ja, genau so ist es.
({4})
Uns ist es ein großes Anliegen, die Verkehrssicherheit
in Deutschland weiter zu erhöhen.
({5})
Die Erfolge der vergangenen 40 Jahre sind ermutigend.
Hatten wir 1970 noch 19 193 Getötete im Straßenverkehr zu beklagen, so ist die Zahl bis 2010 auf 3 648 Getötete zurückgegangen. Innerorts ist die Zahl der Getöteten von 8 494 auf 1 261 in 2008 zurückgegangen.
({6})
In beiden Straßenkategorien ist die Zahl der Verkehrstoten also um etwa 85 Prozent zurückgegangen - und das
bei einer gleichzeitigen Verdreifachung der Zahl der
Kraftfahrzeuge im genannten Zeitraum von rund 15 Millionen auf beinahe 50 Millionen.
({7})
- Mit einer kurzfristigen Betrachtung können Sie alles
begründen.
({8})
Trotz dieses Erfolgs ist die Anzahl der Getöteten im
Straßenverkehr
({9})
- hören Sie doch einmal zu - leider noch immer viel zu
hoch. Umso wichtiger ist es, dass wir mit unseren Maßnahmen dort ansetzen, wo wir die Verkehrssicherheit tatsächlich weiter erhöhen können, und keine Scheinmaßnahmen verfügen, die im Zweifel sogar - auch das
wurde schon gesagt - zu einer Verschlechterung der Verkehrssicherheit führen könnten, weil sie für die Verkehrsteilnehmer nicht nachzuvollziehen sind und damit
zum Übertreten reizen.
({10})
Die Ausweisung von großflächigen innerstädtischen
Fußgängerzonen, gut ausgebaute Gehwege, bessere und
übersichtlichere Straßen, mehr Radwege, aber auch eine
weitere Verbesserung der Kraftfahrzeugtechnik, zum
Beispiel durch weitere Fahrerassistenzsysteme, und
nicht zuletzt die Intensivierung der Verkehrsschulung
und ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein aller
Verkehrsteilnehmer sind die Stellschrauben, die eine
weitere Erhöhung der Verkehrssicherheit bewirken.
({11})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also dort
gemeinsam tätig werden und nicht im Boulevard mit
populistischer Regelungswut Menschen zu gängeln versuchen. Viele Umfragen auf regionaler Ebene haben gezeigt, dass die Bürger mit der derzeitigen Regelung sehr
zufrieden sind - das Beispiel Berlin zeigt es -, die sich
bereits über eine lange Zeit bewährt hat.
Die Entscheidung über Tempo 30 soll auch in Zukunft dort getroffen werden, wo sie hingehört, nämlich
auf regionaler Ebene; denn was vor Ort entschieden
wird, findet auch die Akzeptanz der Betroffenen. Dafür
braucht es keine gesetzliche Vorgabe vom Bund. Hier
haben die Kollegen Gabriel und Steinmeier ausnahmsweise einmal recht gehabt.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Kollege Werner Simmling. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön, Kollege
Hans-Joachim Hacker.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren,
die uns zuhören und zusehen! Was für eine Aufregung
und was für eine abstruse Argumentation aus der Koali22274
tion zu diesem Thema! Das ist nicht nachzuvollziehen.
Sie negieren völlig die Bedeutung der StraßenverkehrsOrdnung als Regelinstrumentarium, das wir auszugestalten haben.
Herr Bundesminister Ramsauer, die Bundesregierung
verfolgt mit ihrem Verkehrssicherheitskonzept ein ambitioniertes Ziel. Sie haben sich vorgenommen - darin
bekommen Sie in der Gesellschaft ja große Unterstützung -, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Über die Statistik ist hier bereits viel
gesagt worden. Das will ich nicht noch einmal wiederholen.
Es ist auch schon erwähnt worden, dass wir im letzten
Jahr trotz aller Maßnahmen - ich nenne auch die Ehrenamtler - wieder einen Anstieg zu verzeichnen hatten: auf
4 002 Getötete. Das sind genau 4 002 zu viel. Wir müssen schon die Frage stellen, wie wir darauf reagieren und
welche Maßnahmen wir einleiten, um das ambitionierte
Ziel, das hier alle vertreten, zu erreichen.
Es gibt im Straßenverkehr unterschiedliche Risikogruppen. Dazu zählen insbesondere Jugendliche von
18 bis 24 Jahren. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Risikobereiche.
Einer dieser Risikobereiche, der von vielen zum Teil
ausgeblendet wird, sind innerstädtische Verkehre. In
meinem Land Mecklenburg-Vorpommern haben sich im
Jahre 2011 mehr als die Hälfte, nämlich 59 Prozent, der
Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden und schwerwiegendem Sachschaden innerhalb von Ortschaften ereignet. 59 Prozent! Auf den Autobahnen sind es 7,5 Prozent.
Hier müssen wir ansetzen. Jemand, der hier angesetzt
hat, ist der Wissenschaftliche Beirat Ihres Ministeriums,
Herr Ramsauer. Dieser Beirat hat einen Katalog von
Maßnahmen vorgelegt. Eine Maßnahme ist die Einführung einer Regelgeschwindigkeit von 30 km/h. Ich
finde, das sollten Sie ernsthaft prüfen und nicht einfach
abtun.
Ich will deutlich sagen: Eine Regelgeschwindigkeit
von 30 km/h wäre doch kein Dogma, sondern nur die
Umkehrung der Regelgeschwindigkeitsregelung in der
Straßenverkehrs-Ordnung. Wo ist da das Problem, Frau
Müller? Es gibt doch gar kein Problem. Ich frage Sie:
Warum sollten wir, wenn uns 17 Professoren einen solchen Vorschlag vorlegen, diesen nicht ernsthaft prüfen,
Herr Ramsauer?
Was die Bewertung angeht, stehen wir, die Verkehrspolitiker von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, und die
17 Professoren nicht alleine da. Ich zitiere den Präsidenten des Deutschen Verkehrssicherheitsrat, Walter
Eichendorf. Er hat vor wenigen Tagen erklärt, dass
Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den Städten eine
sinnvolle Maßnahme wäre. Die Sicherheit der Radfahrer
und Fußgänger würde sich erheblich erhöhen, so der
DVR-Präsident.
Als ehrenamtliches Mitglied der Deutschen Verkehrswacht sage ich: Viele Ehrenamtler sehen das genauso.
Lieber Herr Storjohann, ich weiß, dass auch Sie Ehrenamtler in der Verkehrswacht sind. Fragen Sie doch einmal Ihre Ehrenamtler in Schleswig-Holstein, was die
dazu sagen.
({0})
Ich kenne deren Meinung. Ich lade Sie zu einer Diskussion nach Mecklenburg-Vorpommern ein. Da können Sie
sich von diesen guten Argumenten überzeugen.
Unverdächtig ist doch auch der Bundesvorsitzende
der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut. Dieser
erklärte kürzlich, am 18. Juni, in einem Interview mit der
Schweriner Volkszeitung:
Schon seit Jahren empfehlen uns Verkehrssicherheitsexperten, dass 30 als Höchstgeschwindigkeit die
Regel sein sollte und nicht 50. Viel spricht dafür. Wir
sollten diesen Vorschlag weiterverfolgen. … Nicht
angepasste Geschwindigkeit ist generell eine der
Hauptursachen von Unfällen. Geringere Geschwindigkeit bedeutet kürzere Bremswege, weniger Unfälle und damit mehr Verkehrssicherheit für alle.
Die seitens der Koalition hier vorgetragenen Zitate
haben Sie sich, glaube ich, vom Mond geholt, oder Sie
haben nur Halbzitate gebracht.
({1})
Die Zitate, die ich aufgeführt habe, können Sie nachlesen. Ich lege Ihnen ans Herz, das zu tun.
Ich möchte neben der Verkehrssicherheit noch einen
zweiten Bereich ansprechen, die Lärmbelästigung. In der
Stadt Ludwigslust in meinem Wahlkreis bemüht sich
eine Bürgerinitiative seit Monaten darum, die Lärmbelästigung zu reduzieren. Die Stadt wird von mehreren
Durchgangsstraßen durchzogen. Wegen der Regelung in
der Straßenverkehrs-Ordnung gibt es die Notwendigkeit,
dass jede einzelne Maßnahme im Detail begründet werden muss. Es fällt den dortigen Verkehrsbehörden
schwer, eine solche Begründung für eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h zu finden.
({2})
Von daher müssen wir hier die Rahmenbedingungen
schaffen. Ich spreche jetzt den Herrn Bundesbauminister
an: Herr Ramsauer, wir warten noch auf eine Lieferung
von Ihnen, nämlich die Baurechtsnovelle. Hiermit sind
Sie schon ein Dreivierteljahr im Verzug.
({3})
- Ja, ja, aber die sollte ja schon im vergangenen Jahr im
Plenum sein. Wir sind der Deutsche Bundestag und nicht
das Kabinett. - Darin wollen Sie doch die Innenstädte
stärken, Herr Ramsauer, mit unserem Zutun, Herr Götz.
Wäre nicht eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h ein
deutliches Zeichen für eine solche Innenstadtstärkung?
({4})
Bitte liefern Sie die Baurechtsnovelle. Wir diskutieren
dann über diese Frage.
Herr Kollege Hacker, als Verkehrspolitiker wissen Sie
das Signal Rot zu deuten.
({0})
Das Signal des Präsidenten kann ich sehr gut deuten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich appelliere
an die Koalition: Greifen Sie die Idee auf, diese Vorschläge ernsthaft zu prüfen. Ich glaube, wir haben einen
guten Grund, diese Fragen in den nächsten Wochen weiter zu diskutieren.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Vielen Dank, Kollege Hans-Joachim Hacker. Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. Bitte schön, Frau Kollegin Ludwig.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hacker, die Zitate Ihres Parteivorsitzenden müssen wir nicht vom Mond holen. Wenn Sie Ihren Vorsitzenden aber auf selbigen geschossen haben,
nehmen wir das hiermit zur Kenntnis. So viel dazu.
({0})
Wenn wir schon bei den Zitaten sind: Der Wissenschaftliche Beirat im nun von Peter Ramsauer geführten
Haus hat die generelle Empfehlung für Tempo-30-Zonen
schon unter dem Vorgänger Herrn Tiefensee ausgesprochen. Herr Tiefensee ist dann in eine intensive Prüfung
mit sich selbst und vermutlich auch mit Ihnen zu diesem
Thema gegangen. Das Ergebnis kennen wir, sonst hätten
Sie diese Forderung nicht mehr stellen müssen: keine
Übernahme der Empfehlung.
Jetzt nehmen wir für uns genauso wie Herr Tiefensee
in Anspruch, dass auch wir prüfen und auch wir zu einem anderen Ergebnis als der Wissenschaftliche Beirat
in seiner Empfehlung kommen. Darüber können wir uns
hier diskursartig austauschen. Damit habe ich kein Problem. Aber wenn man uns, nur weil wir zu einem anderen Ergebnis kommen - warum, sage ich gleich -, in dieser Sache unterstellt, wir hätten ein Problem mit der
Verkehrssicherheit, wir seien gegen Verkehrssicherheit
und wir wollten keine Maßnahmen zur Erhöhung der
Verkehrssicherheit einleiten, finde ich das der Sache, um
es einmal vorsichtig auszudrücken, nicht zuträglich;
denn wir haben in dieser Legislaturperiode unter Peter
Ramsauer mit der Arbeitsgruppe Verkehr sowohl der
FDP- wie auch der CDU/CSU-Fraktion eindrücklich das
Gegenteil bewiesen.
Zu den Themen Föderalismus und Subsidiarität und
die Frage, wer über Tempo-30-Zonen entscheidet, ist
viel gesagt worden. Das war sicherlich auch ein Grund,
warum sich Ihr Kollege, der früher Oberbürgermeister
war, gegen diese Empfehlung ausgesprochen hat; denn
er weiß genauso gut wie wir alle hier, dass vor Ort am
besten entschieden werden kann, auf welchen Straßen
die Signalwirkung - das meine ich jetzt wirklich ganz
ernst - einer Tempo-30-Zone dringend gebraucht wird.
Das sind tatsächlich die Straßen, die Sie, Frau Kollegin
Lühmann - da bin ich voll bei Ihnen -, beschrieben haben, also die Straßen, auf denen im Prinzip die gefährdeten Verkehrsteilnehmer unterwegs sind: kleine Kinder,
Schüler, Kindergartenkinder, ältere Herrschaften.
({1})
Das sind aber auch die Straßen, in denen wir vor Lärm
ganz besonders schützen wollen: Straßen in dichten
Wohngebieten, vor Krankenhäusern und Seniorenheimen.
An solchen Orten hat das Tempo-30-Schild eine
Signalwirkung; denn der Verkehrsteilnehmer merkt:
Achtung, hier muss ich entweder aufpassen oder ich
muss in dieser Gegend etwas leiser sein. - Diese Signalwirkung - sie ist mir sehr wichtig - würde durch eine
Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses komplett verloren gehen.
({2})
Aus diesem Grunde wollen wir diese Umkehrung nicht.
Nehmen Sie das einfach einmal als eines unserer Argumente an. Darüber können wir uns dann an anderer
Stelle gerne auseinandersetzen. Aber das ist zunächst
einmal unsere Meinung, und an der halten wir fest.
({3})
Ich glaube tatsächlich, dass über die Einrichtung einer
Tempo-30-Zone am besten vor Ort entschieden werden
kann, weil es - das ist meine persönliche Empfindung;
auch ich bin wie die meisten von uns kommunalpolitisch
tätig - funktioniert: Wenn man eine Tempo-30-Zone einrichten will, kann man das gut begründen, und man bekommt sie dann auch da, wo man sie will.
({4})
Alles andere spricht nur für die Regelgeschwindigkeit
von 50 km/h. Diese Regelgeschwindigkeit ist nicht per
se verkehrsgefährdend, weil nicht jeder Autofahrer
aggressiv ist und es darauf anlegt, irgendjemanden in
Gefahr zu bringen. Die meisten Autofahrer sind verantwortungsbewusst unterwegs und können ihre Geschwindigkeit einschätzen.
({5})
Da, wo es gefährlicher ist, fahren sie langsamer, weil wir
dort ein Tempo-30-Schild aufstellen.
({6})
So schwierig ist das nicht. Deswegen bleibe ich
schlicht und ergreifend dabei: Die Regelung ist so, wie
sie jetzt ist, gut. Sie hat sich bewährt. Ich werde jetzt
keine Zitate anführen, weder von Ihrer Seite noch von
unserer Seite. Die Kommunalpolitik hat in letzter Zeit
deutlich signalisiert, was sie von diesem Vorschlag hält,
nämlich nicht allzu viel. Deswegen wäre ich sehr froh,
wenn wir es bei der jetzigen Regelung belassen könnten.
Lassen Sie das die Kommunen entscheiden. Sie sind
am nächsten dran. Es macht wenig Sinn, hier den Bundesgesetzgeber zu bemühen.
({7})
- Sie können das sehr wohl; denn die Tatsache, dass es
zu der Einrichtung von Tempo-30-Zonen gekommen ist,
ist ein Beweis dafür, dass es funktioniert.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollegin Daniela Ludwig. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Peter
Götz. Bitte schön, Kollege Peter Götz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte nicht um die Frage, ob Tempo 30 sinnvoll ist
oder nicht. Es geht darum, wer die Entscheidung darüber
zu treffen hat:
({0})
ob wir hier in Berlin oder ob die Kommunen dies zu entscheiden haben.
({1})
Gegen Tempo-30-Zonen ist grundsätzlich nichts
einzuwenden, aber bitte nur dort, wo diese notwendig sind.
({2})
Dies sagte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, in einer Erklärung gegenüber
der Augsburger Allgemeinen, Herr Kollege Hacker. Die
Erfahrung zeige - so Rainer Wendt weiter -, dass Autofahrer sich an Verkehrsvorschriften hielten, wenn diese
für sie nachvollziehbar seien. Recht hat er. Genau deshalb lehnen wir die von Rot-Grün geplante bundesweite
Gängelung der Autofahrer ab.
Wir haben in Deutschland gut funktionierende
Tempo-30-Zonen in Wohngebieten.
({3})
Mit einem bundesweiten Tempo 30 schwächen Sie diese
massiv; denn Verkehr ist wie Wasser. Er sucht sich bei
genereller Geschwindigkeitsbegrenzung den kürzesten
Weg.
({4})
Ob das dann ein Beitrag zur Verkehrssicherheit wird,
Herr Kollege Bartol, wage ich zu bezweifeln.
({5})
Aber es gibt noch weitere Gründe, die gegen ein generelles Tempolimit in den Städten sprechen.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen in der Opposition wollen wir,
dass die Menschen vor Ort ihre Heimat selbst gestalten
können. Dazu gehören auf der einen Seite die notwendigen finanziellen Spielräume der Kommunen, die wir
gerade in dieser Legislaturperiode mit der Übernahme
der Kosten für die Grundsicherung im Alter, um nur ein
Beispiel zu nennen, erheblich verbessert haben. Dazu
gehört aber auch die kommunale Planungshoheit der
Städte und Gemeinden.
Die Verantwortlichen in den Kommunen wissen mit
Sicherheit besser, was für ihre Stadt gut ist und was
nicht. Sie setzen sich täglich mit den Bürgern auseinander und sollten deshalb selbst entscheiden können, wo
sie eine Tempo-30-Zone für richtig halten und wo nicht.
({7})
Wir als Kommunalpartei halten die sachgerechten
Entscheidungen, die an Ort und Stelle getroffen werden,
allemal für besser.
({8})
Gerade beim innerörtlichen Verkehr lässt sich das
sehr gut ablesen. Es gibt hervorragend funktionierende,
von den Kommunen eingeführte Tempo-30-Zonen. Wir
haben - das wurde vorhin bereits gesagt - Geschwindigkeitsbegrenzungen vor Schulen, Kindergärten und
Senioreneinrichtungen. In vielen Kommunen gibt es
Spielstraßen mit Tempo 7, also Schrittgeschwindigkeit,
sowie Fußgängerzonen, und das alles, ohne dass der
Deutsche Bundestag irgendwann damit befasst wurde.
Die ganze Palette der Verkehrsgestaltung ist ein wichtiger Bestandteil der kommunalen Planungshoheit, der in
kommunaler Verantwortung bestens aufgehoben ist.
({9})
Nicht hierhin, sondern dorthin gehört das Thema. Wir
nennen das Subsidiarität. Wir wollen, dass auf Bundesebene nur das geregelt wird, was vor Ort nicht eigenverantwortlich entschieden werden kann.
({10})
Wir halten zentralistische Vorgaben des Deutschen Bundestages für die Gestaltung unserer Städte für falsch.
({11})
Frau Lühmann, heute früh haben Sie im Unterausschuss Kommunalpolitik noch das Hohelied der kommunalen Selbstverwaltung gesungen. Aber dann, wenn es
konkret wird, hat man das Gefühl, dass genau das Gegenteil passiert. Ich betrachte dies als scheinheilig.
Die zusätzlichen sachlichen Gründe, die gegen eine
generelle Einführung von Tempo 30 sprechen,
({12})
wie die Verdrängung des Verkehrs in Wohngebiete, höhere Umweltbelastung durch zusätzliche Stopps bei
Rechts-vor-links-Verkehr oder die mit einer generellen
Regelung verbundene Scheinsicherheit für Radfahrer
und Fußgänger, wurden von den Vorrednern bereits angesprochen.
Lassen Sie deshalb im Sinne von Bürgernähe und
kommunaler Selbstverwaltung die Städte und Gemeinden selbst entscheiden, ob und wo sie in ihrem Stadtgebiet Tempo 30 gut finden und wo nicht. Verschonen
Sie die Menschen in unserem Land mit Ihren ideologisch
geprägten zentralistischen Verwirrspielchen und populistischen Forderungen!
Herzlichen Dank.
({13})
Vielen Dank, Kollege Peter Götz. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Volkmar Vogel.
Bitte schön, Kollege Volkmar Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen wir doch das ganze Geeiere, die Ausreden, die
Erklärungen und die Dementis der Kollegen von SPD
und Grünen einmal beiseite. Am Ende dieser Debatte
wird eines klar: Rot-Grün will nicht nur Tempo 130 auf
den Autobahnen. Rot-Grün will auch Tempo 30 in allen
Städten unseres Landes. Damit das hier ganz klar gesagt
wird: Für mich ist das ein Angriff auf die Mobilität in
unserem Land.
({0})
Es wird auch klar: Am liebsten würde Rot-Grün den
Individualverkehr ganz abschaffen, aber nicht nur das.
Es kommt noch dicker - Peter Götz hat es gerade ausführlich dargelegt -: Es wird die zentralistische Absicht
verfolgt, die Selbstbestimmung der Kommunen auch in
diesem Punkt einzuschränken.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die Städte sind doch heute keine mittelalterlichen
Bollwerke mehr, mit vier Stadttoren und von einer Stadtmauer umgeben. Moderne Städte von heute haben eine
Dienstleistungsfunktion für ihr Umland. Große Städte
haben eine Metropolfunktion auch überregional. Wenn
uns das bewusst ist, dann muss uns auch klar sein, dass
Städte nur dann eine Chance haben, wenn sie frequentiert werden können. Damit sie frequentiert werden können, brauchen wir zügig fließenden Verkehr und schnelle
Verbindungen. Da hilft uns Tempo 30 mit dem dann zu
erwartenden Schleichverkehr im gesamten Stadtgebiet
überhaupt nicht.
Das Thema Verkehrssicherheit berührt uns alle. Hier
macht es sich keiner von uns leicht. Die Ergebnisse
der letzten Jahre beweisen: Unsere Politik mit Gero
Storjohann als unserem verkehrspolitischen Sprecher ist
erfolgreich. Die Verkehrsstatistiken belegen das.
({2})
Ich möchte deutlich sagen: Das Problem, vor dem wir
in den Städten stehen, ist nicht Tempo 50, sondern es
sind diejenigen, die sich nicht an Tempo 50 halten und
durch die Städte rasen. Das bedarf hohen Kontrollaufwands sowie Aufklärung und Beratung der Verkehrsteilnehmer. Tempo 50 ist richtig. Aber es gibt durchaus
Zonen, in denen diese Geschwindigkeit gesenkt werden
muss - darauf haben meine Vorredner schon hingewiesen -: vor Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und
sozialen Einrichtungen.
({3})
Aber die Kommunen bestimmen selbst, wo Tempo-30Zonen eingerichtet werden sollen. Sie haben schon jetzt
die Instrumente dafür.
({4})
Aus unserer Sicht sind Tempo-30-Zonen in Wohnquartieren, wo es richtig und wichtig ist, den Verkehr zu
beruhigen, besonders geeignet.
Volkmar Vogel ({5})
Zur Umwelt. Wir alle sind Autofahrer. Was passiert
denn bei Tempo 30? Wir zuckeln hochtourig und im
Schleichgang durch die Stadt. Das führt am Ende dazu,
dass die Schadstoffbelastung nicht sinkt, sondern steigt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines darlegen:
Die Argumente von SPD und Grünen widersprechen
sich auch in sich. Wenn Sie behaupten, dass Tempo 30
die Städte leiser, sauberer und für die Menschen sicherer
macht, dann kann ich nicht verstehen, warum Sie, wenn
es um Entlastungsprojekte - auch im Schienenbereich geht, die dafür sorgen, dass der überregionale Schwerlastverkehr in den Städten verringert wird, Probleme sehen und der Meinung sind, dass wir keine Umgehungsstraßen brauchen.
Ich will es ganz deutlich sagen: Umgehungsstraßen
sind an erster Stelle für die Menschen gedacht.
({6})
Sie entlasten unsere Städte und sorgen für mehr Sicherheit, nicht nur auf der Umgehungsstraße selbst, sondern
auch in den Innenstädten, sowohl für Fußgänger und
Radfahrer als auch für andere Verkehrsteilnehmer. Sie
sorgen außerdem dafür, dass der Schadstoffausstoß in
vertretbaren Grenzen bleibt.
Wir, CDU/CSU und FDP, wollen Mobilität. Mobilität
ist ein wichtiger Wachstumsfaktor in unserem Land. Die
Bürger wollen und die Bürger müssen heutzutage mobil
sein. Unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass den Bürgern das möglich ist. Verkehrssicherheit, Ökologie und
Mobilität müssen keine Gegensätze sein. Die Kommunen gestalten in ihren Orten die notwendigen Regelungen dazu selbst. CDU, CSU und FDP sind die Bürgerparteien und die Kommunalparteien. Dabei bleibt es.
Danke.
({7})
Vielen Dank, Kollege Volkmar Vogel.
Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Patrick Schnieder.
Bitte schön, Kollege Patrick Schnieder.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die
Debatte heute im Rahmen der Aktuellen Stunde offenbart doch einige besondere Befindlichkeiten und nötigt
zu interessanten Feststellungen. Erstens. Ich bin erstaunt
darüber, mit welchem Aufwand Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, versuchen, aus einem
zunächst einmal ernstgemeinten Vorschlag jetzt nur noch
einen Prüfungsauftrag zu machen. Sie tun so, als ob man
das einfach einmal nebenbei überlegen und in die
Debatte werfen kann.
({0})
Sie, lieber Herr Bartol, zeihen uns des falschen
Verständnisses dessen, was Sie vorgeschlagen haben.
Zugleich ist Ihr Vorschlag eine Anklage gegen Ihren eigenen Parteivorsitzenden und Ihren eigenen Fraktionschef hier im Bundestag; denn sie haben das genauso wie
wir verstanden und Ihnen gesagt, dass das ein Vorschlag
ist, der nicht machbar ist. Das müssen Sie zur Kenntnis
nehmen.
({1})
Ich stelle zugleich sehr interessiert fest, dass es doch
eigentlich nicht darum geht, dass wir Tempo 30 dort anordnen, wo es die Sicherheit oder der Lärmschutz erfordern. Das können wir. Sie selbst haben die Zahlen
genannt. In einigen Städten, auch in Großstädten, ist auf
70 bis 80 Prozent der Verkehrswege Tempo 30 angeordnet. Interessant ist die Denke, die hier präsentiert wird.
Es geht nämlich um das Verständnis von Verkehrspolitik
und um das allgemeine Politikverständnis, das Sie mit
diesem Vorschlag an den Tag gelegt haben.
Zunächst einmal scheren Sie alles über einen Kamm.
Vollkommen undifferenziert soll überall zunächst einmal
Tempo 30 gelten. Wir wollen da, wo es möglich ist, flüssigen Verkehr garantieren. Wir wollen keine Schleichverkehre in den Städten. Wir wollen aber da, wo es die
Sicherheit gebietet, die Einrichtung von Tempo-30Zonen ermöglichen. Wenn Sie auf den Deutschen
Städte- und Gemeindebund gehört hätten, dann hätten
Sie festgestellt, dass wir gar nicht in der Lage sind,
Tempo 30 überall dort zu kontrollieren, wo Sie es gerne
anordnen würden. Der Kollege Volkmar Vogel hat zu
Recht gesagt, dass das tatsächlich gefahrene Tempo entscheidend ist, und nicht das, das angeordnet wird, aber
nicht durchgesetzt werden kann.
Zweitens. Sie offenbaren ein mittlerweile schon bekanntes Verständnis von Verkehrspolitik, vor allem was
Straßenverkehr und Individualverkehr angeht. Sie behindern, Sie verhindern, Sie erschweren und Sie verzögern
Projekte des Infrastrukturneubaus.
({2})
Sie wollen jetzt über eine solche Regelung Verkehre erschweren.
({3})
- Lieber Herr Bartol, überall dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren, in Nordrhein-Westfalen, in
Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz und jetzt auch
in Schleswig-Holstein, verhindern Sie Verkehrsinfrastrukturinvestitionen. Sie wollen Verkehre auf den
Straßen verhindern. Der Vorschlag, den Sie hier gemacht
haben, geht in dieselbe Richtung.
({4})
Deshalb hat der Verkehrsminister vollkommen recht:
Wir wollen Mobilität ermöglichen und Mobilität fördern Patrick Schnieder
in den Städten und überall da, wo wir flüssige Verkehre
wollen und brauchen.
Drittens. Auf Ihr Politikverständnis ist schon eingegangen worden. Ich möchte das zusammenfassen. Sie
stehen mit Ihrem Vorschlag für Zentralismus und Bevormundung. Wir wollen Subsidiarität. Wir wollen keine
Bestrafung oder Erziehungsmaßnahmen für Autofahrer,
sondern wir wollen, dass die Menschen vor Ort entscheiden, wie die Situation dort zu bewerten ist und welche
Schlüsse zu ziehen sind. Unsere Gemeinden vor Ort
wissen am besten, wo sie Tempo-30-Zonen einzurichten
haben und wo nicht.
({5})
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und den Grünen, mein Appell und meine Bitte:
Wenden Sie sich doch bitte Themen zu, bei denen wir
Mobilität und Verkehrspolitik voranbringen und nicht
Mobilität verhindern. Wenden Sie sich doch nicht den
Bremserthemen zu, sondern den Themen, mit denen wir
die Zukunft für unser Land gut gestalten können und die
uns voranbringen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Kollege Patrick Schnieder.
Damit sind wir nicht nur am Schluss unserer Aktuellen Stunde, sondern auch am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Juni 2012,
9 Uhr, ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist geschlossen.