Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch
eine Wahl zum Stiftungsrat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung durchführen. Der Beauftragte
der Bundesregierung für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das vom Auswärtigen Amt benannte stellvertretende Mitglied Jutta Frasch ausgeschieden ist und
Herr Andreas Meitzner als Nachfolger vorgeschlagen
wird. Nach § 19 des entsprechenden Gesetzes müssen
auch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestätigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesem
Vorschlag einverstanden sind. - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist Herr Meitzner damit als stellvertretendes Mitglied gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Finanzielle Belastungen der Geringverdienerhaushalte durch die von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Ökostromsubventionen
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,
Dr. Martin Neumann ({2}), Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das deutsche Berufsbildungssytem - Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel
- Drucksache 17/10986 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 40
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({4}), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NS-Vergangenheit von Bundesministerien und
Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen - Erinnerungsarbeit koordinieren
- Drucksache 17/10068 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({5})-
Ausschuss für Kultur und Medien -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfeträger
- Drucksache 17/10863 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer,
Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 23808
Präsident Dr. Norbert Lammert
sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,
Patrick Kurth ({7}), Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die
Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten
staatlichen Institutionen in Bezug auf die NSVergangenheit durch besseren Aktenzugang
unterstützen und Bestandsaufnahmen zur
Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen
- Drucksache 17/11001 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({8})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Patientenrechte wirksam verbessern
- Drucksache 17/11008 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({9})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente verbessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten
- Drucksache 17/11010 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 41
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/10756 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({11})
- Drucksache 17/11035 Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerDr. Rolf MützenichMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({12})
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Portugal unterstützen und Parlamentsrechte
wahren
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/11009 -
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Integrität parlamentarischer Entscheidungen
durch mehr Transparenz und klare Regeln ge-
währleisten - Nebentätigkeiten, Karenzzeit für
Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung
und Parteiengesetz
ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen ({13})
- Drucksache 17/9852 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14})
- Drucksache 17/11053 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Ingo Egloff
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern
- Drucksachen 17/9956, 17/11053 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Ingo Egloff
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16}) zu dem Antrag der Fraktio-
nen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Presse-Grosso gesetzlich verankern
- Drucksachen 17/8923, 17/9989 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({17}) zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen
- Drucksachen 17/9155, 17/11058 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhard Grindel-
Martin Dörmann-
Burkhardt Müller-Sönksen-
Kathrin Senger-Schäfer-
Tabea Rößner
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({18}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien
sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhard Grindel-
Martin Dörmann-
Burkhardt Müller-Sönksen-
Kathrin Senger-Schäfer-
Tabea Rößner
ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Impulse für die Förderung des Radverkehrs setzen - Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 überarbeiten
- Drucksache 17/11000 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Radverkehrsplan 2020 - Den Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln
- Drucksache 17/10681 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Gemeinsam die Modernisierung Russlands
voranbringen - Rückschläge überwinden Neue Impulse für die Partnerschaft setzen
- Drucksache 17/11005 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({21})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 37 und
41 d abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesordnung.
Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 28. Juni 2012 ({22}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
- Drucksache 17/10000 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({24})Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der am 27. September 2012 ({25}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({26}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und
anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes
- Drucksache 17/10308 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({27})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Der am 28. September 2012 ({28}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({29}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes
- Drucksache 17/10572 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({30})Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Der am 27. September 2012 ({31}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({32}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10754 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({33})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der am 27. September 2012 ({34}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Innenausschuss ({35}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die
Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({36}) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro-Raums
- Drucksache 17/10759 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({37})Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Der am 27. September 2012 ({38}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsausschuss ({39}) zusätzlich gemäß § 96 der
Geschäftsordnung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
- Drucksache 17/10773 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({40})Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der am 27. September 2012 ({41}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsausschuss ({42}) nun nicht mehr zur Mitberatung,
jedoch zusätzlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({43})Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Einwände höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 18./19. Oktober
2012 in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung Eindreiviertelstunden vorgesehen. - Auch dazu
darf ich Ihr Einvernehmen feststellen. Dann ist das so
beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({44})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Inmitten der schwersten
Krise seit Verabschiedung der Römischen Verträge vor
55 Jahren, inmitten der größten Bewährungsprobe, die
wir Europäer seither zu bestehen hatten, genau in dieser
Zeit wird am letzten Freitag in der Hauptstadt eines
europäischen Landes, das selbst kein Mitglied der Europäischen Union ist, einer der bedeutendsten Preise der
Welt an die Europäische Union vergeben.
Wenig, wie ich finde, macht die Dramatik der gegenwärtigen Lage Europas mit einem Schlag so deutlich wie
die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die
Europäische Union.
({0})
Wenig zwingt uns so sehr, uns die Größe der Aufgabe
unserer politischen Generation bewusst zu machen, wie
diese Entscheidung in Oslo am letzten Freitag. Ich finde,
dies ist eine wunderbare Entscheidung,
({1})
und zwar deshalb, weil das Nobelpreiskomitee den Friedensnobelpreis gerade nicht in den Jahren europäischer
Triumphe und Glücksmomente - zum Beispiel 1990
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs oder 2004 nach
der Osterweiterung der Europäischen Union -, sondern
jetzt verliehen hat.
In der Zeit der Krise ist diese Entscheidung weit mehr
als nur eine Würdigung. Sie ist weit mehr als eine Erinnerung an den Ausgangspunkt der europäischen Einigungsidee nach Jahrhunderten des Mordens und
Sterbens auf europäischen Schlachtfeldern. Diese Entscheidung ist so bedeutend, weil sie genau jetzt kommt.
Denn damit ist sie als Mahnung zu verstehen. Mehr
noch, sie ist Ansporn und Verpflichtung, und zwar für
uns alle in Europa, das Wichtige vom Unwichtigen zu
trennen und den Kern der Bewährungsprobe, in der wir
uns ja nun sichtbarerweise befinden, immer wieder zu
sehen.
Dieser Kern unserer Bewährungsprobe kann in einem
einfachen Satz ausgedrückt werden: Der Euro, um dessen Stärke wir mit vielen Instrumenten und Maßnahmen
gerade ringen, ist weit mehr als eine Währung,
({2})
der Euro steht symbolhaft für die wirtschaftliche, soziale
und politische Einigung Europas - mit großer Wirkung
weit über Europa hinaus.
Das ist der Grund, warum die Überwindung der Krise
im Euro-Raum seit nunmehr bald drei Jahren die Agenda
aller G-8-Treffen, aller G-20-Treffen und fast aller Europäischen Räte der Staats- und Regierungschefs bestimmt. Wir haben seit Anfang 2010 allein zehn Räte gehabt. Auch heute und morgen, beim elften Europäischen
Rat der Staats- und Regierungschefs, wird das nicht anders sein.
Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Die Probleme, mit denen wir uns beschäftigen, die Probleme,
mit denen wir zu kämpfen haben, sind nicht über Nacht
entstanden. Deshalb können sie auch nicht über Nacht
gelöst werden. Sie sind auf eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, sie sind auf die Überschuldung einzelner
Mitgliedstaaten
({3})
sowie auch auf Gründungsfehler des Euro zurückzuführen.
Wir begeben uns bei der Lösung dieser Probleme auf
Neuland. Es gab und es gibt nicht die Lösung, den einen
Befreiungsschlag, womit die Krise auf einen Schlag aus
der Welt geschafft worden wäre. Auch der Gipfel heute
und morgen wird nicht der letzte sein, der sich mit der
Überwindung der Krise im Euro-Raum befasst. Es werden weitere folgen; denn die Stärkung des Euro ist ein
Prozess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen.
Manches ist bereits geschafft. In diesen drei Jahren der
Krise haben wir im Übrigen weit mehr geschafft als in
vielen Jahren vorher in Europa.
Wir können die Konturen einer Stabilitätsunion bereits deutlich erkennen.
({4})
Viele Mitgliedstaaten unterziehen sich harten Reformen
und Anpassungsprogrammen, um ihre spezifischen Probleme - das sind Staats- und Auslandsverschuldung,
Bankenkrisen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit - in den
Griff zu bekommen.
Dies gilt auch für Griechenland. Davon konnte ich
mich bei meinem Besuch in Athen in der letzten Woche
persönlich überzeugen. Der griechische Ministerpräsident Samaras wird uns auf dem Rat einen Zwischenbericht über den Stand seiner Verhandlungen mit der
Troika geben.
Es besteht überhaupt kein Zweifel: Die Lage in Griechenland ist alles andere als einfach. Vieles geht zu langsam. Maßnahmen, die längst hätten umgesetzt werden
müssen, sind immer noch in Arbeit. Die Rezession ist
weit stärker als erwartet. Strukturelle Veränderungen
werden oftmals nur im Schneckentempo durchgeführt.
Die Verwaltung arbeitet an vielen Stellen unzureichend,
und Betrug und Korruption sind immer noch nicht vollständig eingedämmt.
({5})
Ich kann gut verstehen, warum die große Mehrheit
der griechischen Bürger wütend darauf reagiert, dass
wohlhabende Griechen ihren Beitrag zur Lösung der
Probleme ihres Landes nicht leisten wollen. Angesichts
dessen ist es menschlich absolut nachvollziehbar, warum
sich so viele Griechen schwer damit tun, einzusehen,
dass die größte Zahl der Probleme zu Hause entstanden
ist und deshalb auch nur zu Hause gelöst werden kann.
({6})
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur die
eine Seite der Medaille. Ich habe bei meinem Besuch
auch die andere Seite der Medaille gesehen. In Athen, in
der griechischen Regierung, bei vielen in Wirtschaft und
Gesellschaft erlebe ich einen ernsten Willen zur Veränderung, den Willen, die eigenen Hausaufgaben zu machen, um so das Land in eine bessere Zukunft zu führen
und Mitglied des Euro-Raums bleiben zu können.
Ich möchte exemplarisch unseren Kollegen HansJoachim Fuchtel nennen, der als deutscher Verantwortlicher für die Deutsch-Griechische Versammlung zusammen mit vielen Griechen und vielen Deutschen einen unermüdlichen Beitrag leistet,
({7})
um das Gemeinwesen auch von unten wieder aufzubauen. Das ist der Weg, den wir natürlich parallel gehen
müssen. Ich möchte deshalb Danke sagen. Er heißt in
Griechenland - das hat er mir gesagt - „Fuchtelos“.
({8})
Ich finde, das ist ein schöner Name für seine Arbeit.
({9})
Meine Damen und Herren, weil es so ist - wir kennen
die eine Seite der Medaille, und wir kennen die andere
Seite der Medaille -, kann und werde ich dem Bericht
der Troika hier und heute nicht vorgreifen. Aber ich wiederhole, was ich bereits an anderer Stelle, beim Besuch
des griechischen Ministerpräsidenten genauso wie bei
meinem Besuch in Athen, gesagt habe: Ich wünsche mir,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt. Ich wünsche
mir das nicht nur, weil Griechenland unser Freund und
Partner in der Europäischen Union wie auch in der
NATO ist, sondern auch, weil dies immer noch, trotz aller Schwierigkeiten, im Interesse Griechenlands selbst
wie auch der Euro-Zone und der Europäischen Union als
Ganzes ist. Das ist die Haltung, mit der ich, mit der die
Bundesregierung, mit der wir den Bericht der Troika abwarten sollten; wir sollten nicht vorher richten, sondern
uns die Ergebnisse anschauen.
({10})
Griechenland muss die verabredeten Maßnahmen, zu
denen das Land sich verpflichtet hat, einhalten. In meinen Gesprächen mit Ministerpräsident Samaras in Athen
und erneut gestern am Rande des EVP-Gipfels in Bukarest habe ich den ernsthaften Willen gespürt, das zu
schaffen und damit den Verpflichtungen nachzukommen. Sobald der Troika-Bericht vorliegt, werden die
Entscheidungen über eine Auszahlung der nächsten
Tranche hier im Deutschen Bundestag zu treffen sein,
nirgendwo anders, und das werden wir gemeinsam diskutieren.
Auf dem Rat wird uns auch der spanische Ministerpräsident Rajoy über die Situation in seinem Land unterrichten. Der Bericht über die Rekapitalisierung der Banken - das haben wir verfolgt - liegt inzwischen vor. Ob
und inwieweit Spanien darüber hinaus Hilfe aus dem
ESM benötigt, ist allein - ich habe das in allen Gesprächen mit dem spanischen Ministerpräsidenten immer
wieder deutlich gemacht - die Entscheidung Spaniens.
Die Bedingungen für Hilfsanträge sind durch die Richtlinien des ESM völlig klar vorgegeben; sie sind inzwischen auch vom Deutschen Bundestag verabschiedet
worden.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass den Menschen in Spanien, in Griechenland und in den anderen
betroffenen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abverlangt wird. Die sehr harten Reformmaßnahmen bedeuten
natürlich viele Einschnitte für viele Bürgerinnen und
Bürger in diesen Ländern. Aber wir sehen auch, dass es
Ergebnisse gibt: In Irland, in Portugal, in Spanien, aber
eben auch in Griechenland sind die Lohnstückkosten
deutlich gesunken. Dies ist ein wichtiger Faktor für die
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Wir sehen das
im Übrigen auch bei allen Ländern an der Industrieproduktion, die zum Teil wieder zu wachsen beginnt. Defizite in den Leistungsbilanzen gehen zurück, auch Defizite im Haushalt. Man kann sagen, dass sich diese
Länder in vielen Faktoren in die richtige Richtung bewegen. Aber dieser Reformweg ist natürlich noch lange
nicht beendet, und er muss weiter gegangen werden. Das
heißt, wir können sagen: Es ist ein Anfang gemacht. Wir
dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Weil
nachhaltige Konsolidierung und Wachstum einander bedingen, deshalb muss beides gleichermaßen verfolgt
werden.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal sagen: Natürlich wissen wir, dass wieder Wachstum entstehen soll.
Natürlich wissen wir, dass Wachstum kein Selbstzweck
ist, sondern dass es um Beschäftigung in diesen Ländern
geht.
({11})
Natürlich wissen wir, dass rund 50 Prozent der jungen
Menschen in Spanien, in Griechenland und auch in anderen Ländern - das ist ein sehr hoher Prozentsatz heute arbeitslos sind. Aber wir wissen doch aus eigener
Erfahrung, dass nur durch Reformen am Arbeitsmarkt,
durch Strukturreformen und solide Haushalte überhaupt
wieder Beschäftigung entstehen kann. Das ist doch kein
Mysterium. Wachstum entsteht aus unternehmerischer
Tätigkeit, unternehmerische Tätigkeit entsteht aus der
notwendigen Flexibilität, und das müssen wir in Europa
wieder schaffen, meine Damen und Herren. Da liegt der
Schlüssel.
({12})
Deshalb haben wir ja auch, parallel zu all den Programmen, die für die Länder ausgearbeitet wurden, und
zu all den Vorschlägen, die die Europäische Kommission
gemacht hat, den Pakt für Wachstum und Beschäftigung
in der Europäischen Union erarbeitet. Deshalb haben wir
uns ja auch in diesem Hause nach langer Diskussion gemeinsam darauf geeinigt, dass dieser Pakt für Wachstum
und Beschäftigung neben dem Fiskalpakt ein wichtiger
Schritt ist, um die Probleme der Europäischen Union zu
lösen.
Ich sage auch: Trotz aller Gegensätze, die wir hier in
diesem Hause haben: An den entscheidenden Stellen haben wir uns immer wieder zusammengerauft. Ich möchte
Danke dafür sagen, dass das möglich ist,
({13})
und das nicht, weil die Gegensätze dabei vertuscht werden sollen - das ist doch gar nicht der Gegenstand -,
sondern weil die große Mehrheit dieses Hauses glücklicherweise solche Gegensätze für die Sache Europas zurückstellt und sagt: Was für Europa gut ist, das machen
wir gemeinsam.
({14})
Meine Damen und Herren, die Konturen einer Stabilitätsunion zeichnen sich aber auch deshalb ab, weil wir
inzwischen dauerhafte Instrumente der KrisenbewältiBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
gung haben. Schon vor gut zwei Jahren hat sich die
christlich-liberale Koalition dafür eingesetzt,
({15})
einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus zu
schaffen. Wir haben gewusst, dass 2013 die EFSF ausläuft, und wir haben uns deshalb rechtzeitig - denn wir
wussten, dass dabei schwierige rechtliche Fragen zu klären sind - für einen solchen dauerhaften Rettungsschirm
eingesetzt.
({16})
Jetzt kann ich sagen: Wir haben ihn heute. Er ist verabschiedet. Er ist ein dauerhaftes Instrument zur Bewältigung der Krise. Ich möchte einmal zwei Jahre zurückdenken. Wenn wir damals gefragt hätten: „Wer in
Europa ist denn jetzt dafür?“, dann hätte man gesagt:
Das ist nie zu schaffen.
Nur weil Deutschland an vielen Stellen vorangegangen ist,
({17})
sind wir heute in Europa dort, wo wir sind, nämlich dass
wir zum Beispiel ein dauerhaftes Krisenbewältigungsinstrument haben.
({18})
Wir haben noch etwas von Anfang an gesagt - und
das ist der Maßstab unseres Handelns -: Solidarität auf
der einen Seite im Rahmen des ESM geht Hand in Hand
mit Bedingungen und Auflagen für die jeweiligen Mitgliedstaaten. Unter dieser Voraussetzung haben wir stets
solidarisch gehandelt und werden das auch in Zukunft
tun.
Von besonderer Bedeutung für eine zukünftige Stabilitätsunion ist jedoch ohne Zweifel die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben ihn im vergangenen Jahr so ausgestattet, dass Fehlentwicklungen
in einzelnen Mitgliedstaaten in Zukunft nicht mehr die
Stabilität des Euro als Ganzes gefährden werden. Sie
kennen das - in Anführungsstrichen, sehr volksnah ausgedrückt - als „Six-Pack“.
Aber das reicht natürlich noch nicht, um die notwendige Verbindlichkeit und damit auch neue Glaubwürdigkeit zu schaffen. Meine Damen und Herren, es geht ja im
Kern immer wieder um Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit. Denn im Kern ist die europäische Staatsschuldenkrise eine Vertrauenskrise, eine Vertrauenskrise des
Euro.
Deshalb haben wir neben dem ESM auch den Fiskalvertrag beschlossen. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat,
eine Schuldenbremse einzuführen, und die Einführung
dieser Schuldenbremse kann dann vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden. Zehn Mitgliedstaaten haben
diesen Fiskalvertrag bereits ratifiziert - vor wenigen Tagen auch Frankreich -, und ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass Anfang 2013 dieser Fiskalvertrag in Kraft
treten kann. Im Übrigen wird es dann so sein, dass nur
derjenige, der diesen Fiskalvertrag ratifiziert hat, auch
Hilfen aus dem ESM bekommen kann. Da zeigt sich die
Verbindung dieser beiden Maßnahmen.
({19})
Wir haben also Instrumente zur Krisenbewältigung.
Wir haben Reformen in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt.
Aber, meine Damen und Herren, damit sind die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion insgesamt noch längst nicht beseitigt. Wir brauchen mehr. Deshalb haben uns auf dem letzten Rat im Juni die
Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen
Kommission, der Euro-Gruppe und der Europäischen
Zentralbank Vorschläge für die Fortentwicklung der
Wirtschafts-und Währungsunion vorgelegt, und inzwischen haben genau dazu mit den Mitgliedstaaten Konsultationen stattgefunden.
Uns leitet dabei ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen beschließen - und das im Dezember -, wie wir die Währungsunion weiterentwickeln wollen. Ich sage: Diese
Weiterentwicklung ist unverzichtbar, und sie ist Voraussetzung dafür, Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Zusammenhang mit der Währungsunion zurückzugewinnen. Ich sage: Nur so können wir die Vertrauenskrise
überwinden.
Heute und morgen, beim Europäischen Rat, wird es
nicht darum gehen, konkrete Entscheidungen zu treffen,
sondern es muss darum gehen, die Weichen für Dezember zu stellen, Grundlagen für die Entscheidungen zu
schaffen, die richtigen Fragen zu stellen und Arbeitsaufträge zu verteilen, wie wir diese Fragen bis zum Dezember lösen können.
Dabei ist für mich klar: Die erneuerte Wirtschafts- und
Währungsunion soll von vier starken Säulen getragen
werden: erstens von mehr gemeinsamer Finanzmarktpolitik, zweitens von mehr gemeinsamer Fiskalpolitik,
drittens von mehr gemeinsamer Wirtschaftspolitik und
viertens von einer gestärkten demokratischen Legitimation und Kontrolle.
Zum ersten Punkt: mehr gemeinsame Finanzmarktpolitik. Die weltweite Finanzkrise hat uns dramatisch
vor Augen geführt, dass ein unzureichend regulierter
Bankenmarkt ganze Staaten an den Rand des Abgrunds
führen kann. Um so etwas für die Zukunft zu verhindern,
ist eine starke Finanzmarktregulierung sowohl bei uns zu
Hause als auch in Europa als auch weltweit notwendig.
({20})
Wir sind in Europa hier schon Schritt für Schritt vorangekommen, um die notwendigen Regelungen zu finden.
Dies ist für mich heute nicht der Ort, um darüber zu
sprechen. Aber außerordentlich erfreulich ist - das ist
ein Fortschritt gegenüber Juni -, dass sich endlich elf
Staaten bereit erklärt haben, die Finanzmarkttransaktionsteuer einzuführen,
({21})
und das ist eine gute Nachricht, meine Damen und Herren; denn viele hier in diesem Hause haben ja dafür gekämpft.
({22})
Für mehr gemeinsame Finanzmarktpolitik brauchen
wir allerdings auch eine gemeinsame Bankenaufsicht,
die effizient und unabhängiger von den nationalen Einflüssen ist. Dabei soll die Europäische Zentralbank eine
zentrale Rolle spielen. Die Europäische Kommission hat
uns zu dieser Bankenaufsicht im September einen Vorschlag vorgelegt. Er wird nun beraten. Wir setzen uns
dafür ein, die Arbeiten auf dieser Grundlage zügig voranzutreiben. Das ist vor allen Dingen auch eine Aufgabe der Finanzminister. Allerdings sage ich an dieser
Stelle: Qualität muss vor Schnelligkeit gehen; denn
wenn wir zum Schluss etwas haben, das wieder nicht
besser ist als alle schon bestehenden Aufsichtsgremien,
dann können wir uns die Arbeit sparen. Darauf werden
wir in den Beratungen dringen.
({23})
Wir haben vereinbart, dass die Vorschläge der Kommission bis Ende des Jahres geprüft werden sollen. Die
Finanzminister arbeiten, wie ich schon sagte, mit Hochdruck. Dann muss sich das Europäische Parlament mit
dem Entwurf befassen. Der Präsident des Europäischen
Parlaments hat selbst gesagt: Das Europäische Parlament
wird es in diesem Jahr nicht mehr schaffen, dazu abschließende Beschlüsse zu fassen.
Ich sage Ihnen nur: Es gibt eine Vielzahl komplizierter rechtlicher Fragen. Damit mache ich das Thema nicht
schwieriger, als es ist. Fragen Sie einmal Länder, die
nicht zur Euro-Zone gehören, die aber gemeinsam mit
Ländern, die zur Euro-Zone gehören, Banken haben, wie
bei einer Verantwortlichkeit der EZB die Bankenaufsicht
geregelt werden soll. Fragen Sie bitte, wie man die geldpolitische Verantwortung der EZB genau trennt von der
Aufsichtsverantwortung. Diese Fragen müssen gut gelöst werden. Deutschland wird sich dort mit allem Elan
einbringen; das ist nicht unser Problem. Aber das Ergebnis muss so sein, dass die Glaubwürdigkeit dadurch verbessert wird und wir hinterher nicht noch schlechter dastehen als heute.
({24})
Die Einrichtung eines wirksamen Aufsichtsmechanismus ist dann die Voraussetzung für eine spätere Entscheidung über eine direkte Bankenrekapitalisierung
durch den ESM. Ich will es hier ganz deutlich sagen: Der
bloße Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für eine
Bankenaufsicht reicht nicht aus, sondern diese Bankenaufsicht muss arbeitsfähig sein, sie muss effektiv handeln können. Denn hier reden wir darüber, dass der ESM
eines Tages Banken rekapitalisiert in Ländern, in die wir
dann eingreifen müssen
({25})
und wozu wir Beschlüsse fassen müssen. Das ist der
Punkt. Deshalb ist das eine komplizierte, aber leistbare
Aufgabe, der wir uns mit ganzem Elan verschreiben.
Meine Damen und Herren, damit kommen wir zur
zweiten Säule einer erneuerten Wirtschafts- und Währungsunion: Das ist mehr gemeinsame Fiskalpolitik. Bei
der Stärkung der Haushaltsdisziplin sind wir zuletzt mit
dem Fiskalvertrag durchaus ein gutes Stück vorangekommen. Aber wir sind der Meinung - das sage ich für
die ganze Bundesregierung -: Wir könnten hier sehr gut
ein Stück weiter gehen, indem wir der europäischen
Ebene echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalen
Haushalten gewähren, dort, wo die vereinbarten Grenzwerte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht eingehalten werden. Ich weiß: Die Bereitschaft hierzu zeigen
viele Mitgliedstaaten noch nicht. Aber ich sage auch: leider.
Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns weiter
dafür starkmachen werden. Genau in dem Moment, in
dem wir einen solchen Mechanismus hätten, dass ein
Haushalt für ungültig erklärt werden könnte und dies
auch vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden
könnte, wären wir an dem Punkt, dass wir natürlich in
der Kommission jemanden brauchen, der dazu die Autorität hat und dies tun kann. Das wäre in diesem Fall der
Währungskommissar. Ich bin schon verwundert: Kaum
hat jemand einen fortschrittlichen Vorschlag gemacht,
eine Idee gegeben, wie wir mehr Verbindlichkeit, mehr
Glaubwürdigkeit bekommen können, kommt sofort das
Geschrei: Das geht nicht, Deutschland ist isoliert, wir
werden das nie schaffen. So bauen wir kein glaubwürdiges Europa. Wir sollten nicht alle Vorschläge sofort vom
Tisch wischen.
({26})
Statt dass wir uns überlegen, wie wir mehr Verbindlichkeit und mehr Glaubwürdigkeit bekommen können,
erleben wir eine permanente Diskussion, wie wir mehr
gemeinsame Haftung für Staatsschulden bekommen
können. Auch der Zwischenbericht der vier Präsidenten
enthält diese Elemente wieder. Ich sage: Ich halte das für
einen ökonomischen Irrweg.
({27})
Denn wir setzen so nicht die richtigen Anreize, um uns
in die richtige Richtung zu entwickeln.
Jetzt überlegen wir einfach einmal: Wo läge eigentlich die demokratische Legitimation, wenn wir uns für
eine gemeinsame Haftung in Europa entscheiden würden? Der wesentliche Kern der Haushaltsverantwortung
- das wird auf lange Zeit so bleiben - sind die Budgets
der nationalen Staaten.
({28})
Solange das so ist, müsste beispielsweise die französische Nationalversammlung über die deutsche Staatsverschuldung mitbestimmen, ebenso wie der Bundestag
über die französische, die italienische oder die spanische.
({29})
Schon dieses Beispiel zeigt doch, dass es faktisch unmöglich ist, in diesem Bereich als Erstes die Haftung zu
vergemeinschaften und weiter nationale Budgets zu haben. Das wird nicht funktionieren. Das ist nicht die Statik, die wir brauchen. Deshalb lehnen wir das ab.
({30})
Wir brauchen aber - das ist die dritte Säule - mehr gemeinsame Wirtschaftspolitik. Der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors hat bereits 1989, als es um die
Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion ging,
einen Bericht vorgelegt. Darin heißt es sehr weitsichtig
- ich zitiere -:
Eine gemeinsame Währung erfordert ein hohes
Maß an Übereinstimmung in den Wirtschaftspolitiken sowie einer Reihe anderer Politikfelder, vor allem in der Fiskalpolitik.
Die europäische Staatsschuldenkrise um den Euro zeigt,
wie scharfsichtig und richtig die Analyse Jacques Delors’
war.
Die Krise zeigt uns, dass Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten tatsächlich den gesamten Euro in
Bedrängnis bringen können. Deshalb müssen wir uns
ganz im Sinne von Jacques Delors jetzt um die Politikfelder kümmern, in denen wir ein hohes Maß an Übereinstimmung brauchen. Diese Felder sollten wir bis zum
Dezember identifizieren, um dann zu sagen: Wenn wir
hier nicht mehr Übereinstimmung bekommen, dann werden wir auch in Zukunft ein Problem haben.
Wo wird denn eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung notwendig sein? Sie wird ganz wesentlich
dort notwendig sein, wo Kernbereiche nationaler Souveränität berührt sind: in der Arbeitsmarktpolitik, in der
Steuerpolitik, also in vielen Fragen, die in der nationalen
Diskussion hochsensibel sind. Zu glauben, die einzige
Antwort darauf sei, alle diese Politikfelder jetzt vergemeinschaften zu müssen - das wäre die klassische europäische Integrationslogik -, das, glaube ich, führt uns in
die Irre.
({31})
Natürlich können wir über Mindeststandards bei Steuern reden; wir reden darüber seit 10, 15 Jahren. Dazu
kann ich nur sagen: Wenn wir so vorgehen, dann werden
wir nicht den Euro retten, dann werden wir nicht die Stabilität unserer gesamten Kooperation verbessern, sondern dann werden wir mit einigen Ländern noch in Jahren und Jahrzehnten darüber reden, wie wir es denn nun
halten.
Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor. Wir
brauchen Lösungen, die einen sinnvollen Ausgleich herstellen zwischen notwendigen Eingriffsrechten der europäischen Ebene, um Fehlverhalten und Regelverstöße
immer wieder zu korrigieren, und dem Selbstbestimmungsrecht und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente. Wir brauchen auch Lösungen,
die zu verbindlichen und durchsetzbaren Reformverpflichtungen der Mitgliedstaaten führen, ohne dass nationale Kompetenzen, das Subsidiaritätsprinzip oder demokratische Verfahren untergraben werden.
Deshalb stellen wir uns vor, dass die Mitgliedstaaten
zu diesem Zweck verbindliche Reformvereinbarungen
mit der europäischen Ebene schließen, denen dann die
jeweiligen nationalen Parlamente zustimmen. Dann ist
sozusagen die demokratische Legitimierung gegeben,
dass ein Nationalstaat sich verpflichtet, bestimmte Dinge
umzusetzen. Um dann allen Mitgliedstaaten auch die
Möglichkeit zu geben, zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit wirklich in der Lage zu sein, diese Verpflichtungen umzusetzen, schlage ich vor, dass wir ein
neues Element der Solidarität einführen, einen Fonds,
aus dem zeitlich befristet projektbezogen, also nicht unbestimmt, sondern ganz projektbezogen Gelder in Anspruch genommen werden können.
({32})
Denn nicht alle Länder werden gleichzeitig ihre Haushaltskonsolidierung und die notwendigen Investitionen
in Zukunftsaufgaben schaffen.
({33})
Ich sage: Ja, wir brauchen Solidarität. Aber wir brauchen eine Form der Solidarität, die uns auch wirklich zu
dem führt, was wir brauchen, nämlich mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten.
({34})
Meine Damen und Herren, wir haben doch gesehen,
dass nicht konditionierte Finanzzahlungen, wie sie bei
den Strukturfonds, wie sie bei den Kohäsionsfonds viel
zu sehr vorgekommen sind, nicht nur nicht geholfen haben, sondern in den Ländern zum Teil Fehlentwicklungen weiter unterstützt haben. Daraus müssen wir die
richtigen Lehren ziehen.
({35})
Deshalb ist gemeinsame Haftung die falsche Antwort.
Wir brauchen vielmehr eine dezidierte Solidarität.
({36})
Ich will ganz deutlich sagen, dass ein solcher Fonds
zum Beispiel gespeist werden könnte von den Einnahmen aus der Finanztransaktionsteuer.
({37})
- Natürlich! - Das würde vielleicht sogar dazu führen,
dass noch mehr Euro-Mitgliedstaaten eine Finanztransaktionsteuer einführen.
({38})
Meine Damen und Herren, darüber, wie die Gelder
ausgegeben werden, wird natürlich auf der Grundlage
der mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Verträge die
Kommission zusammen mit dem Rat und dem Europäischen Parlament - das ist doch ganz klar - wachen, wie
das auch bei anderen Zahlungen im europäischen Rahmen der Fall ist.
Dies soll kein Closed Shop sein - das haben wir
schon nicht beim Fiskalvertrag gemacht -, sondern wir
sagen ausdrücklich: Alle Länder, die vielleicht morgen
oder übermorgen im Euro sein wollen, können sich an
diesem Fonds beteiligen, wenn sie gleichzeitig bereit
sind, mit der Kommission bindende Vereinbarungen abzuschließen über die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
Des Weiteren geht es viertens um die Frage der demokratischen Legitimation, die von allergrößer Bedeutung
ist. Ich habe mehrmals gesagt, dass wir zur Bewältigung
dieser Krise mehr Zusammenarbeit in Europa brauchen,
also mehr statt weniger Europa. Aus meiner Sicht führt
der Weg zu einer erneuerten Wirtschafts- und Währungsunion, einer Stabilitätsunion, die diesen Namen auch
verdient, in einigen Bereichen ganz eindeutig zu einer
Stärkung der Rolle der Kommission, des Rates und des
Europäischen Parlaments und auch des Europäischen
Gerichtshofs.
Dies ist im Übrigen auch sehr wichtig für den Zusammenhalt der Europäischen Union; denn von den 27 Mitgliedstaaten sind 17 im Euro. Immer wieder kommt die
Frage: Wollt ihr einen Teil ausschließen? Wollt ihr eine
Zweiklassengesellschaft? Ich sage: Nein, das wollen wir
nicht. Aber wenn ein Teil in der verstärkten Zusammenarbeit - und so etwas ist ja der Euro - spezielle Probleme
hat, dann können wir doch nicht sagen: Diese Probleme
lösen wir nicht, weil noch nicht alle dabei sind. - Aus
diesem Grund muss es also mehr demokratische Legitimation und Kontrolle geben, und dieses muss Hand in
Hand mit mehr Integration gehen.
Jede Entscheidung - das ist das Prinzip - muss auf
der Ebene legitimiert und kontrolliert werden, auf der sie
getroffen wird. Das heißt, dort, wo die europäische
Ebene gestärkt wird, muss auch das Europäische Parlament gestärkt werden. Wo im Kern nationale Kompetenzen betroffen werden, kann die demokratische Legitimation nur über die Parlamente der nationalen Staaten
gehen, das heißt, dann müssen wir dort entscheiden.
Jetzt noch ein Wort zu der Frage: Wie ist das denn,
wenn Entscheidungen auf europäischer Ebene zu treffen
sind, die nur den Euro-Raum betreffen? Da habe ich in
vielen Gesprächen mit Parlamentariern des Europaparlaments nicht gehört: Man darf nicht darüber nachdenken,
ob dann vielleicht nur die Parlamentarier aus den EuroLändern abstimmen. - Es gibt eine ganze Menge von interessanten Ideen, wie man Ausschüsse gründen oder bestimmte Sitzungen durchführen kann, um zu gewährleisten, dass nicht diejenigen, die gar nicht Mitglieder des
Euro-Raums sind, über Dinge entscheiden, die nur den
Euro-Raum betreffen. Darüber müssen wir diskutieren.
Da kann man doch nicht immer von Anfang an sagen:
Das geht nicht. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft.
- So kommt Europa nicht weiter. Wir werden uns dieser
Diskussion stellen, meine Damen und Herren.
({39})
Ziel des heute beginnenden Europäischen Rates ist es
also, den weiteren Prozess so zu strukturieren, dass wir
im Dezember dieses Jahres ein Gesamtpaket zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion beschließen können, inklusive eines klaren Zeitplans. Das
gilt für die Euro-Zone; aber selbstverständlich sind, wie
beim Fiskalvertrag, alle eingeladen. Beim Fiskalvertrag
machen 25 Mitgliedstaaten mit, obwohl nur 17 im Euro
sind.
Die nachhaltige Stabilisierung und Fortentwicklung
der Wirtschafts- und Währungsunion ist die zentrale
politische Herausforderung unserer Zeit, und sie ist entscheidend für die Zukunft der Europäischen Union insgesamt. Deshalb möchte ich allen, die mit dazu beitragen
und Vorschläge machen, die uns voranbringen, ganz
herzlich danken: neben Wolfgang Schäuble ganz besonders Guido Westerwelle,
({40})
der sich mit einer Reihe von Außenministern über genau
diese Fragen Gedanken gemacht hat.
({41})
- Sie murren, weil Ihnen das alles nicht passt. Ich sage
Ihnen nur: Mit dem Hinweis darauf, was alles nicht geht,
und mit den falschen Methoden der Vergangenheit werden wir Europa nicht voranbringen. Wir bringen Europa
nur voran, indem wir aus den Fehlern, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, lernen. Nur so bringen wir
Europa nach vorne.
({42})
Ohne Zweifel: Die Schritte, die wir jetzt gehen müssen, um dieses Ziel zu erreichen, werden zu einer neuen
Qualität in der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in
der Euro-Zone und darüber hinaus führen. Diese neue
Qualität ist nach unserer Auffassung zwingend notwendig. Allerdings - auch das will ich hier ganz offen ansprechen - wäre es ganz fatal - das spüre ich an einigen
Stellen schon -, wenn die von mir grundsätzlich begrüßte Ankündigung der Europäischen Zentralbank, bei
klaren Konditionen unbegrenzt am Sekundärmarkt zu intervenieren, jetzt dazu führen würde, dass die politischen
Anstrengungen in Richtung einer stärkeren Wirtschaftsund Währungsunion aus genau diesen Gründen nachlassen. Das wäre genau die falsche Antwort.
({43})
Es darf bei allen Instrumenten, die wir zur Eindämmung der Krise brauchen und die uns zur Verfügung steBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
hen, niemals übersehen werden, dass am Ende nicht die
Krisenmaßnahmen die Lösung bringen, sondern nur eine
verbindliche politische Architektur. Nur so werden wir
einen dauerhaft stabilen Euro bekommen. Dies muss
über den Weg der Erneuerung der Wirtschafts- und Währungsunion erzielt werden. Nur dann kann das gelingen,
was seit Beginn der Krise unser Ziel ist:
({44})
Dann kann Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als
es in die Krise hineingegangen ist, und dann wird Europa auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Worum geht es bei dieser europäischen Vertrauenskrise denn eigentlich? Es geht darum, eine stabile,
zukunftsfähige Architektur zu bauen. Aber eigentlich
geht es um die Frage, ob sich Europa mit seinen Werten
und Interessen im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts behaupten kann; das heißt auch, ob Europa seinen
Wohlstand, seinen Lebensstandard und seine Art, zu leben, erhalten kann.
({45})
Meine Damen und Herren, dies führt mich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: zu der überragenden Bedeutung, die die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union für uns in Europa
hat. Ja, es geht immer auch darum, niemals zu vergessen,
dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedensidee war, die Idee, dass die Völker Europas nie wieder
Krieg gegeneinander führen, was sie über Jahrhunderte
getan haben, mit unglaublichem Blutvergießen und dem
Opfer vieler Menschenleben. Aber für die heute Jungen,
die Europa nur als Hort des Friedens kennen und glücklicherweise noch nie einen Krieg erlebt haben, geht es darum, ob wir in der Lage sind, den Nachweis zu erbringen, dass wir aufbauend auf dem, was wir geerbt haben,
eine gute Zukunft gestalten können. Die gute Zukunft ist
doch ganz konkret: Können wir für die jungen Menschen
in Europa wieder Arbeitsplätze schaffen? Können wir sicherstellen, dass der Wohlstand auch für die Zukunft gesichert ist? Können wir sicherstellen, dass Menschen auf
ein gutes Gesundheitssystem und auf eine gute Alterssicherung vertrauen können? Das alles sind doch die
Dinge, die Europa auszeichnen.
In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung der Römischen Verträge - ich habe es am Anfang schon gesagt zum 55. Mal. Als wir den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge hier in Berlin gefeiert
haben, haben wir an diese Anfangszeiten zurückgedacht.
Das war das Jahr, in dem Deutschland die europäische
Präsidentschaft innehatte.
Zu Beginn dieser Präsidentschaft 2007 habe ich im
Europäischen Parlament in Straßburg gesprochen. Damals habe ich in meiner Rede im Europäischen Parlament in Straßburg schon einmal die Frage gestellt: Wie
werden denn eigentlich Regionen weltweit erfolgreich?
Ich habe mich damals auf den amerikanischen Wissenschaftler Richard Florida bezogen, der sagt: Am erfolgreichsten entwickeln sich Regionen dann, wenn drei
Faktoren zusammenkommen: Technologie, Talente und
Toleranz. - Ich glaube, genau diese drei Dinge machen
die europäische Stärke aus: Talente, Technologie und
Toleranz. Denn es sind natürlich immer die Menschen,
die wissenschaftlich-technischen Fortschritt möglich
machen.
({46})
Es ist die Innovation, von der Europa lebt. Anders
werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Es
sind der wirtschaftliche und soziale Fortschritt und der
soziale Ausgleich, für den Europa wie keine andere Region auf dieser Erde steht. Das ist das, was wir das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nennen. Es sind die
Kraft der Toleranz, die Kraft der Rechtsstaatlichkeit, die
Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen zu ertragen und
Widersprüche auszugleichen, und der Wille, Pressefreiheit und Religionsfreiheit zu ermöglichen, in einem
Wort: „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“, die
Europa seit mehr als sechs Jahrzehnten tragen.
Die Toleranz - davon bin ich ganz überzeugt - befähigt uns, aus Europas unveränderter Vielfalt von Sprachen und Kulturen, aber mit heute ganz gemeinsamen
Werten, das Beste zu machen. Diesen Werten und Zielen
zu dienen und sie im Alltag zu leben, uns also in diesem
Sinne des Preises von Alfred Nobel würdig zu erweisen,
ist jede Mühe und Anstrengung wert.
({47})
Das wird auch der Geist sein, in dem wir heute und
morgen in Brüssel beraten werden, wo doch jeder vorher
sagt: Die Vielfalt ist so groß, Europa ist zerstritten, die
werden keinen Millimeter vorankommen. Ich sage Ihnen: Wir werden vorankommen, und zwar genau in dem
von mir beschriebenen Sinn, weil die Werte, die uns einen, Werte und Ziele sind, mit denen Europa auch im
weltweiten Wettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehen
kann, weil wir uns alle, alle Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union, aller 27 Mitgliedstaaten, dem
Geist verpflichtet fühlen und weil wir die gemeinsamen
Werte auch wirklich teilen.
Wir wissen, dass wir in Europa in Freiheit leben. Wir
wissen, dass wir in Europa Demokratie haben. Wir wissen, dass man in Europa auch demonstrieren kann, wenn
einer den anderen besucht. Wir wissen aber auch: Dafür
geht keiner ins Gefängnis, wenn er nicht gerade gewalttätig geworden ist. Das eint uns; dafür werden wir arbeiten. Menschlich und erfolgreich wollen wir sein, in Frieden und Freiheit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({48})
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ebenso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, freuen wir Sozialdemokraten uns über die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. In einer Zeit, in
der viele Europäer in der Tat an Europa zweifeln, in
einer Zeit, in der viele den Wert Europas nur noch an den
Zinssätzen an den internationalen Finanzmärkten bemessen, erinnert uns das Nobelpreiskomitee in Oslo daran,
dass Europa weit mehr ist als ein Wechselbalg der
Ratingagenturen.
({0})
Wir müssen dem Nobelpreiskomitee, wie ich glaube,
dankbar sein, dass es uns und auch der Welt einen Fingerzeig darauf gegeben hat, warum Europa nach dem
dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 Erbfeindschaften und einen mörderischen Nationalismus überwand,
aber auch, wofür es in Zukunft immer gebraucht wird.
Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirtschaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigens
einen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eine
außerordentliche Mitverantwortung für das Wohlergehen
Europas.
({1})
Denn es waren unsere westlichen Nachbarn und sehr
weitsichtige Staatsmänner, die uns schon wenige Jahre
nach dem Krieg trotz schrecklicher Erfahrungen, trotz
unsäglicher Verbrechen einluden, an dieser europäischen
Einigung teilzuhaben. Es waren übrigens auch unsere
europäischen Nachbarn, die sich über die deutsche Wiedervereinigung freuten, obwohl sie mit einem starken
Deutschland in der zentraleuropäischen Geografie über
Jahrhunderte sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Sie hatten uns von den Montan-Verträgen zu Beginn
der 50er-Jahre über die EWG, Römische Verträge 1957,
die EG bis zur Europäischen Union inzwischen als gute,
verlässliche und vor allen Dingen hilfsbereite Europäer
kennengelernt. Und dabei sollte es bleiben.
({2})
Neben allem, worüber wir heute diskutieren und
sicherlich auch streiten werden, dürfen wir nicht vergessen, worum es in Wahrheit bei diesem einmaligen Projekt Europa geht: um dauerhaften Frieden, um dauerhafte Freiheit, um dauerhafte Demokratie für alle
Menschen auf unserem Kontinent. Gerade weil - wie der
französische Philosoph André Glucksmann sagt - Demokratien dazu neigen, die tragische Dimension ihrer
Geschichte gelegentlich zu ignorieren oder zu vergessen,
und gerade weil sich die Bürger in der anhaltenden Krisendebatte mit all ihren Fachbegriffen, in all ihrer Komplexität zunehmend orientierungslos und überfordert
fühlen, dürfen wir Politiker den Fehler nicht fortsetzen,
dieses Europa nur auf eine Währungsunion, nur auf ein
Zentralbanksystem, nur auf einen gemeinsamen Markt,
nur auf eine intergouvernementale Veranstaltung von
25 Männern und zwei Frauen zu reduzieren.
({3})
Es geht in der Tat um die Behauptung des Zivilisationsprojektes „Europa“. Der Historiker Heinrich August
Winkler redet über das normative Projekt des Westens
unter Einschluss Nordamerikas in einer Welt dynamischer Veränderungen mit neu aufstrebenden Ländern und
Kontinenten. Verliert Europa aber seine Wirkungsmacht
durch Uneinigkeit und Renationalisierung - und sei es
auch noch so fahrlässig -, werden wir auch die Attraktivität dieses Zivilisationsprojektes nicht behaupten können.
Ja, Frau Bundeskanzlerin, was Europa zu bieten hat,
ist einmalig in der Welt: Gewaltenteilung, Achtung der
Menschenrechte, Minderheitenschutz, Sozialstaatlichkeit, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, die Trennung von Staat
und Kirche - das Erbe der Aufklärung. Aber diese Rede
und diese Beschreibung Europas, die hätten Sie schon
vor zwei Jahren geben müssen.
({4})
Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehr
einer Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomische
wurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Beiträgen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert.
Kein Rettungsschirm und keine gemeinschaftliche Anstrengung sind deshalb zu groß, um dieses Europa für
500 Millionen Menschen, ihre Kinder und ihre Kindeskinder zu bewahren. Kleinmut würde dem nicht gerecht.
({5})
Deutschlands Zukunft ist Europa. In diese Zukunft
werden wir investieren müssen, genauso wie wir in die
deutsche Wiedervereinigung investiert haben. Das endlich den Bürgern unseres Landes zu sagen, Frau Bundeskanzlerin, und zu erklären, das ist Ihre Pflicht.
({6})
Deutschland wird mit Blick auf Griechenland im Konzert weiterer europäischer Länder weitere Verpflichtungen übernehmen müssen. Sagen Sie das endlich den
Menschen!
({7})
In der Welt des 21. Jahrhunderts braucht Europa eine
gemeinsame Stimme; denn es wird so sein, dass weder
der chinesische noch der indische Staatspräsident und
nicht einmal der US-amerikanische Präsident 27 europäische Staats- und Regierungschefs anrufen wird, um
sich bei Ihnen nach der europäischen Auffassung in zentralen Fragen wie Krieg und Frieden, Finanzarchitektur,
Weltklima, Menschenrechte zu erkundigen. Will sagen:
Entweder wir haben eine Stimme, oder wir haben keine
Stimme.
({8})
Genau diese Gemeinsamkeit steht aber auf dem Spiel;
denn es ist offensichtlich, dass Europa an einer Weggabelung steht. Für die Europäische Währungsunion
drückt sich das in einem nach wie vor pendelnden Konflikt zwischen einer gemeinsamen Währung einerseits
und nationalen souveränen Rechten und Parlamentarisierung auf der anderen Seite aus. Diesen Konflikt haben
wir bisher nicht aufgelöst. Entweder wir gehen den Weg
zurück in einen losen Staatenverbund mit einem gemeinsamen Markt, in dem jeder für sich selbst verantwortlich
ist, gegebenenfalls auch abstürzt, oder wir gehen den
Weg einer weiteren europäischen Einigung und der Parlamentarisierung. Das ist exakt die Grundsatzfrage, die
wir zu erörtern haben.
({9})
So schwer es auch sein wird: Wir dürfen nicht zulassen, dass aus diesem in 60 Jahren gebauten europäischen
Haus einzelne Steine wieder herausgebrochen werden.
Dies gilt auch dann, wenn einzelne Staaten Fehler und
Versäumnisse zu verantworten haben wie Griechenland
und wenn sie mit die Ursache für eine Krise ihrer eigenen Volkswirtschaft sind. Ist erst einmal der erste Stein
aus diesem Gebäude herausgebrochen, dann werden
weitere folgen. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war es
ein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben,
dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monatelang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Griechenland in der Europäischen Währungsunion betrieben
hat.
({10})
Sie haben nicht eingegriffen. Sie haben sich nicht bekannt. Sie haben laviert. Sie haben Herrn Dobrindt gewähren lassen, der gesagt hat: „Ich sehe Griechenland
2013 außerhalb der Euro-Zone.“ Sie haben Herrn Söder
gewähren lassen, der an Griechenland sogar ein Exempel statuieren wollte. Sie haben Herrn Rösler gewähren
lassen, der darauf hinwies, dass für ihn ein Austritt Griechenlands längst seinen Schrecken verloren habe. Sie
haben Herrn Brüderle gewähren lassen, der einer Zeitung wörtlich gesagt hat, dass der Bitte Griechenlands,
noch einmal zwei Jahre Zeit zu erhalten, nachdem es
seine Verträge nicht erfüllt hat, nicht stattgegeben werden sollte. Sie haben auch dem FDP-Generalsekretär
Döring nicht widersprochen, der die Folgen einer möglichen griechischen Staatspleite für beherrschbar hielt.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zwei Wochen
den früheren CDU-Vorsitzenden und ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl geehrt. Ehre, wem Ehre gebührt. Ich sage Ihnen: Weder Helmut Kohl noch einer
Ihrer Vorgänger hätte zugelassen, einen europäischen
Nachbarn derart für innenpolitische Händel zu missbrauchen.
({11})
Dieses Doppelspiel haben Sie uns und der deutschen
Öffentlichkeit sehr lange vorgespielt. Sie wollen die
Euro-Skeptiker in Ihrer eigenen Koalition und in Ihrem
politischen Anhang nicht verprellen. Sie wollen einerseits auf einer Stimmungswoge surfen, die sich maßgeblich aus dem Ressentiment gegen eine deutsche Zahlmeisterrolle speist. Aber Sie wollen andererseits
natürlich niemals in diese Woge eintauchen, weil Sie
darüber Ihre Stimme und Ihre Reputation in Brüssel einbüßen würden.
({12})
Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem so
lange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitäten
so stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen. Das
galt für den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB im
Mai 2010. Das galt für den permanenten Rettungsschirm
ESM, den es nach einer Wette von Herrn Schäuble
eigentlich nie hätte geben sollen. Das galt für das
Draghi-Konzept des notfalls ungebremsten Aufkaufs
von Staatsanleihen. Das gilt für die Direktkapitalisierung
von Banken durch den ESM unter der Voraussetzung
einer Bankenunion, mit der Sie entgegen einem Beschluss des deutschen Haushaltsausschusses einen massiven Systemwechsel vornehmen. Das gilt demnächst
wahrscheinlich auch für eine Fristverlängerung zur Erfüllung der Sparauflagen für Griechenland, die Christine
Lagarde, Managing Director des IMF, gefordert hat.
Dies würde aber konsequenterweise zu einem dritten
Hilfspaket für Griechenland oder einer Aufstockung des
zweiten Hilfspaketes führen - und damit zu einer Befassung des Deutschen Bundestages.
({13})
Aber nun auf einmal - sehr genau registriert in der
letzten Woche; o Wunder! - gibt es eine 180-Grad-Wendung: Kein Wort mehr von dem Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone. Stattdessen erklärt Bundesfinanzminister Schäuble in Singapur zur Frage eines
möglichen Austritts aus der Euro-Zone: „There will be
no Staatsbankrott“.
({14})
Selbst Herr Brüderle säuselt, dass er eine zeitliche Entkoppelung für Athen zur Erfüllung der Reformauflagen
nicht mehr ausschließt. In einem luziden Anfall räumt er
ein, dass ein Aufschub auch Geld kostet.
({15})
Alle Achtung! Ja, aber um Himmels Willen, Frau Bundeskanzlerin, warum haben Sie denn ein solches Bekenntnis zum Verbleib von Griechenland nicht im
Sommer 2010 abgegeben?
({16})
Wo war Ihr zweites Fukushima, das Sie zu einer solchen
180-Grad-Wende in Europa und unter den Baum der
Erkenntnis von Herrn Schäuble gebracht hat?
({17})
Das Phänomen der Verspätung ist auch in Ihrem heutigen Beitrag deutlich geworden. Sie reden hier plötzlich
von einem zweiten Jacques-Delors-Plan - so als ob das
besonders originell ist. Sie sind nicht originell, Sie hinken hinterher. Meine Fraktion hat von einem solchen
Plan schon vor zwei Jahren von diesem Pult aus gesprochen.
({18})
Das Porzellan, meine Damen und Herren, das inzwischen zerschlagen wurde, bleibt zerschlagen, und dieses
zerbrochene Porzellan in Europa ist gestörtes Vertrauen.
Sie haben übrigens auch zu häufig mit der ökonomischen Macht Deutschlands gedroht oder zumindest drohen lassen.
({19})
In Frankreich fallen deshalb Worte vom industriellen
Imperialismus der Deutschen. Manche Stimme erhebt
sich, die fragt, ob wir wieder einen neuen Sonderweg gehen. Selten war Deutschland in Europa so isoliert wie
heute.
({20})
- Dann hören Sie sich genau um in den Hauptstädten
Europas. Wir werden jedenfalls noch lange nach Ihrer
Amtszeit spüren, Frau Bundeskanzlerin, welches Porzellan dort zerschlagen worden ist.
({21})
- Werden Sie nicht nervös. Das war auch von Ihnen eine
ganz luzide Einlassung, ein Hinweis auf meine Honorarverträge. Damit habe ich gar nicht gerechnet.
({22})
Und was höre ich aus den Beratungen heute beim Präsidenten mit Blick auf Ihr Zustimmungsverhalten zu einer
Verschärfung der Transparenzrichtlinie?
({23})
Vor allem, meine Damen und Herren, sind die Ergebnisse Ihrer Politik völlig anders als von der Bundesregierung vorhergesagt. Sie sagen tagaus, tagein und landauf,
landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führen
wollen. Schauen wir uns die Realität an: Die
Jugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländern
ist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größer
als 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als
50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen von
Europa und Demokratie, wenn sie sich so von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen fühlen?
({24})
Die Krise in den Südländern der Europäischen Union
bewegt zunehmend Menschen, ihr Land zu verlassen.
Die ökonomischen Perspektiven für die Euro-Zone sind
für das nächste Jahr alles andere als gut. Viele Länder
werden in einer Rezession landen, und auch in Deutschland hat die goldene Zeit von 2010, 2011, 2012 erkennbar
und absehbar ein Ende. Es wird die Frage auftauchen, ob
Sie nicht gegebenenfalls auch die Kurzarbeitergeld-Regelung wieder reaktivieren müssen, wie das die Gewerkschaften längst fordern, mit Blick darauf, dass insbesondere Maschinenbau und Automobilbau wieder eine
Situation erleben, die dies erfordert.
({25})
Es bleibt die Erkenntnis, Frau Bundeskanzlerin, dass
ohne Wachstum kein dauerhafter Schuldenabbau möglich ist.
({26})
Nur an Ihnen ist diese Erkenntnis lange vorbeigegangen.
Ich sehe eine erste Revision, auch nachdem ich Ihre
Rede beim Deutschen Arbeitgebertag vor zwei Tagen
gelesen habe. Aber wir sind inzwischen weiter. Selbst
der IMF, der nicht im Verdacht orthodoxer sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik steht, hat in seinem Wirtschaftsausblick festgestellt, dass die Sparprogramme
inzwischen negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistungen der Länder haben.
({27})
Das Ergebnis dieser Politik ist, dass die Krise über die
Währungsfrage hinaus in den letzten Jahren keineswegs
kleiner geworden ist; sie ist größer geworden. Ihre Stabilitätsunion ist letztendlich nichts anderes als eine Fata
Morgana, die Luftspiegelung einer Scheinstabilität.
Allein Deutschland haftet inzwischen summa summarum für 100 Milliarden Euro über die Rettungsschirme.
Wenn ich die möglichen Belastungen der Deutschen
Bundesbank hinzuzähle, ist das noch sehr viel mehr.
Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit - ich
bin mir nicht sicher, ob Sie noch zu Korrekturen bereit
sind - eine große Fehleinschätzung zugrunde. Diese
Fehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zu
halten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war,
nämlich eine Verschuldungskrise.
({28})
Der ursächliche Einfluss der Finanz- und Bankenkrise
- übrigens mit der Folge von Verschuldungen von Staaten, weil sie zur Stabilisierung der Banken und für Konjunkturprogramme Geld aufnehmen mussten - und vor
allen Dingen auch die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die strukturellen Disparitäten innerhalb der Europäischen Währungsunion und Europäischen Union
kamen in Ihrer Analyse nicht vor. Sie wurden ausgeblendet.
({29})
Aus einer einseitigen Krisenanalyse folgt dann auch logischerweise eine einseitige Therapie: Sparen, Sparen,
Sparen.
Um zu ermessen, wie groß die ökonomische Torheit
ist, die in der simplen Gleichung „Stabilität durch Sparen“ liegt, sollten wir gemeinsam einen Ausflug in die
deutsche Geschichte machen. Denn die Brüning‘sche
Sparpolitik Anfang der 1930er-Jahre,
({30})
die genau dieser Logik folgte, hat eines garantiert nicht
gebracht, nämlich Stabilität und Prosperität.
({31})
Not zerstört Demokratie. Hunger frisst gesellschaftliche Stabilität, meine Damen und Herren. Das gilt auch
heute in den Ländern, die davon betroffen sind.
({32})
In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frieden. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhängig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängig
von der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Stabilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Ländern inzwischen längst in einer Unwucht.
Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meine
Damen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einer
gesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das Land
und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich
dem Wohl des Gemeinwesens und dem „Wohlstand für
Alle“ verpflichtet fühlt. Lautete so nicht ein Bestseller
Ihres Ahnherrn und wichtigen Impulsgebers für das System der sozialen Marktwirtschaft? Wir wollen darüber
reden, wie wir das wiederherstellen können. Wir haben
das in Deutschland schon einmal geschafft, und darum
geht es auch jetzt.
Es gilt für Deutschland wie für Europa: Wir müssen
in unserem Land und auf unserem Kontinent wieder eine
neue soziale Balance schaffen. Solange wir in Europa
nicht in der Lage sind, den Menschen wieder Hoffnung
zu geben, dass Anstrengungen und Fleiß sich lohnen,
dass es gerecht zugeht, dass niemand aus der Verantwortung für das Gemeinwohl entlassen wird, dass all denjenigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen,
und ihnen die Würde des Lebens durch Solidarleistungen gewährleistet wird, so lange kommt Europa nicht
wieder auf die Beine.
({33})
Im Kern geht es darum, die bewährten Mechanismen
und den bewährten Ausgleich der sozialen Marktwirtschaft, die Deutschland stark gemacht hat, auf Europa zu
übertragen. Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar:
Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja,
dazu sind auch Sparanstrengungen, Konsolidierung und
Strukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dass
dies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulse
für Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es in
Europa gerecht zugeht.
({34})
Vordringlich ist zweierlei: eine wirksame Bankenund Finanzmarktregulierung und, ja, in der Tat auch eine
Bankenunion, zu der dann allerdings auch ein Bankenfonds zur Rekapitalisierung von Banken gehört, der
nicht von den Steuerzahlern finanziert wird, sondern von
den Banken.
({35})
Zweitens gehört dazu ein echter Wachstums- und Beschäftigungspakt für Europa. Hier darf man daran erinnern, dass es zwei Jahre und 25 Gipfel gebraucht hat, um
Sie, Frau Bundeskanzlerin, und konservativ-liberale
Kräfte in Europa davon zu überzeugen, dass ein solcher
Wachstums- und Beschäftigungspakt benötigt wird.
({36})
Der Punkt ist, dass nach dem Beschluss vom Juni
2012 wenig getan worden ist. Das denke ich mir nicht
aus, sondern, wie der Brief des Ratspräsidenten Van
Rompuy vom 8. Oktober über die konkrete Einlösung
der Ankündigungen dieses Beschäftigungs- und Wachstumspaktes ausweist, ist bisher sehr wenig - um nicht zu
sagen: gar nichts - geschehen. Wir erwarten, dass der
Europäische Rat dies jetzt korrigiert und die Dinge auch
mit Blick auf die Tätigkeit der Europäischen Investitionsbank ans Laufen bringt.
({37})
Besonders gern schaut die Bundesregierung weg,
wenn es um die eigenen Hausarbeiten der Bundesrepublik Deutschland geht. Vorsichtig formuliert: Es gibt von
dieser Bundesregierung keine Vorreiterrolle beim Schuldenabbau in Europa.
({38})
Bei null Zinsen für deutsche Staatsanleihen, bei sprudelnden Steuerquellen, bei entlastenden Effekten auf
dem Arbeitsmarkt müsste es doch möglich sein, die
Schuldenbremse des Grundgesetzes deutlich vor 2016
einzuhalten und diese Vorreiterrolle in Europa zu dokumentieren.
Im Übrigen: Wenn wir davon reden, dass die länderspezifischen Empfehlungen, die von der Kommission
gegeben werden, umgesetzt werden sollen, dann sehen
wir: Es ist Deutschland auch hier nicht der Vorreiter und
das Vorbild; denn in diesen länderspezifischen Empfehlungen steht zum Beispiel drin: kein Betreuungsgeld.
({39})
Da steht explizit drin: Verzicht auf das unsägliche Betreuungsgeld. Es steht explizit drin: keine Steuersenkungen. Und es steht explizit drin: die Einführung eines
Mindestlohns in Deutschland.
({40})
Die Frage ist: Wie wollen Sie denn andere Länder zur
Befolgung der länderspezifischen Empfehlungen veranlassen, wenn Sie selber die auf uns bezogenen länderspezifischen Empfehlungen gar nicht umsetzen und ignorieren? Das stärkt ja nicht gerade die Glaubwürdigkeit, und
das stärkt auch nicht Ihre Reputation und die Stimme,
die Sie in diesem europäischen Konzert haben.
Für mich ist der Maßstab, wie wir als Sozialdemokraten jetzt und im Weiteren die Vorschläge der VanRompuy-Gruppe diskutieren, ziemlich einfach. Es geht
um vier Fragen:
Erstens: Wer zahlt für das vorgeschlagene Euro-Zonen-Budget, wer haftet dafür?
({41})
Sind es zusätzliche Mittel, oder sind es Mittel, die ohnehin in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen werden? Gibt es, bezogen auf die Verwendung dieser Mittel,
eine demokratische Kontrolle?
Zweitens: Führen die Vorschläge nicht einfach nur zu
mehr Europa, sondern auch zu einem besseren Europa,
weil es eine bessere Bankenaufsicht und eine bessere
Bankenabsicherung gibt, weil es eine besser verzahnte
Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, weil es eben auch
neue Möglichkeiten für ein antizyklisches Verhalten
gibt? Oder verlieren sich die Vorschläge in der langen
Reihe von diversen Initiativen wie der Europa-2020Strategie, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Semester, dem Two-Pack, dem Six-Pack, dem Pakt für
Wachstum und Beschäftigung, dem Fiskalpakt? Ich
meine: Wer blickt da noch durch, und wer betreibt eigentlich eine Wirkungsanalyse all dieser Initiativen?
({42})
Drittens: Führen diese Vorschläge zu einem Mehr an
Demokratie, weil sie das Europäische Parlament einbinden und stärken, oder schreiben sie den Trend zu einer
„Vergipfelung“ der europäischen Politik fort?
Viertens: Wird Europa zwischen den 17 Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion und den 10 weiteren Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auseinandergetrieben, oder schaffen wir eine positive Dynamik
für ein handlungsfähiges Europa, das trotz gewisser Binnendifferenzierung weiterhin zusammensteht und zusammenhält?
Auf alle diese Fragen habe ich heute von Ihnen noch
keine Antworten bekommen, aber zu diesen Fragen werden wir nachhaken und nacharbeiten müssen, Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie die Zustimmung meiner Fraktion
zu wahrscheinlich notwendigen weiteren Rettungspaketen bekommen wollen.
War Europa nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg zuallererst eine Friedensgemeinschaft und zugleich
in den Zeiten des Kalten Krieges vor allen Dingen ein
Raum für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand,
so sind seit 1989 die Aufgaben noch einmal gewachsen.
Die Erweiterung der Europäischen Union war die erste
Herausforderung, die von Europa als neues, als ungeteiltes Ganzes nach dem Wunder von 1989/90 gemeistert
wurde.
Die aktuelle Herausforderung ist die anhaltende
Krise, die eben nicht nur eine Krise unserer Währung ist.
Wir merken, dass diese Krise mehr als Geld kosten
könnte, nämlich Legitimation durch die Bürgerinnen
und Bürger. Wer die Einigung unseres Kontinentes in die
Zukunft fortentwickeln will, der braucht eine neue Begründung, und diese Begründung kann, wie Sie richtig
sagen - ich stimme dem zu -, nicht mehr allein die Bezugnahme auf den Krieg zwischen 1914 und 1945 sein.
Das versteht vielleicht meine Generation, die noch in
Trümmergrundstücken großgeworden ist; aber schon unsere Kinder verstehen es nicht mehr. Europa muss sich
neu konstituieren und neu erklären.
Ob Klimawandel, Migration, Bevölkerungswachstum, Rohstoffversorgung, Nahrungsmittelversorgung,
demografischer Wandel oder auch soziale Spaltungstendenzen - auf all diese globalen Herausforderungen mit
ihren teilweise dramatischen Konsequenzen für jede und
für jeden von uns, genau dafür kann Europa Antworten
liefern.
({43})
Dieses Europa, meine Damen und Herren, muss aber
ein Europa mit einem inneren Gleichgewicht und damit
ein sozial gerechtes Europa der Chancen für alle sein.
Nur ein solches Europa ist stark und attraktiv genug, alle
Mitgliedstaaten und den dort lebenden und arbeitenden
Menschen Freiheit, Frieden, Schutz, soziale Ordnung,
Sicherheit und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nur
wenn uns das gelingt, ein solches Europa in den Blick zu
nehmen, wird die Erfahrung der Regierenden wieder in
Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Regierten zu
bringen sein. Es ist also an Ihnen zuerst, Frau Bundeskanzlerin, und an Ihrer Regierung, aber auch an uns allen
hier im Hause, dass wir diesen Weg konsequent und
konzentriert fortsetzen. Ihre Politik der letzten zwei
Jahre und auch Ihre heutige Rede sind dem nicht gerecht
geworden.
Vielen Dank.
({44})
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Rainer
Brüderle das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den
letzten Wochen wurde viel über Nebentätigkeiten gesprochen. Ich wollte dazu eigentlich nichts mehr sagen.
({0})
Es wurde von vielen Seiten vieles erklärt. Nicht alles hat
zum Ansehen von uns Parlamentariern beigetragen.
Aber nach Ihrer Rede muss ich doch eines betonen,
Herr Kollege Steinbrück: Bundeskanzler ist keine Nebentätigkeit; das ist die schwierigste Aufgabe, die deutsche Politik zu vergeben hat.
({1})
Heute sind Sie größtenteils den Beweis schuldig geblieben, sich der Größe der Aufgabe bewusst zu sein.
({2})
Steinbrück weiß es besser - aber immer erst hinterher;
so ist es bei ihm.
({3})
Die Lehman-Pleite war für Sie ein amerikanisches Problem ohne Auswirkungen auf Deutschland. Kurze Zeit
später haben Sie erklärt:
Dass die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich
mitgeschüttelt wird, ist kein Wunder.
Hypo Real Estate, IKB, WestLB: Bei jeder großen Bankenpleite der letzten Jahre hatten Sie irgendwie Ihre Finger drin.
({4})
Man ist versucht, zu sagen: Holt bloß nicht den
Steinbrück rein, sonst geht ihr pleite.
({5})
Kürzlich haben Sie in der Welt am Sonntag vor Inflation
durch die Anleihenkäufe der EZB gewarnt. Da haben Sie
ökonomisch recht; ich unterstütze das. Aber vor einem
Jahr haben Sie erklärt - ich zitiere wörtlich -: Allerdings
zeigen die Fed der USA und die Bank of England, dass
in Krisenzeiten genau dies - gemeint ist die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse - die Rolle von Notenbanken ist. - Das ist das komplette Gegenteil von dem, was
Sie heute behaupten.
({6})
So wollten Sie die Inflationsmaschine anwerfen.
Was gilt denn nun? Wollen Sie die Bazooka für die
EZB, oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie Zinssozialismus durch Euro-Bonds, oder wollen Sie das nicht?
Wo bleibt Ihr Plan für Deutschland, für Europa?
Bei Steuererhöhungen liefern Sie sich einen Wettlauf
mit den Grünen. Auch da frage ich Sie: Was wollen Sie
denn nun? Wollen Sie wie der sozialistische Präsident in
Frankreich den Wachstumseinbruch durch Ihre Steuererhöhungen auch noch verschärfen? 30 Milliarden Euro
Steuererhöhungen will die SPD. Das ist mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
({7})
Die Bundesregierung und die Forschungsinstitute sagen
für 2013 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus.
Will die SPD, wollen Sie, Herr Steinbrück, die deutsche
Wirtschaft in eine Rezession führen?
({8})
Herr Trittin hat am Wochenende ein wahres Enteignungsprogramm für breite Teile der Bevölkerung angekündigt. Die Vermögensteuerpläne von Trittin treffen
Millionen und nicht Millionäre. Das ist ein Anschlag auf
das Eigentum. Er will das auch noch rückwirkend machen. Da wird der demokratische Rechtsstaat einfach außer Kraft gesetzt. Hier kommen die alten Reflexe des
Kommunistischen Bundes Westdeutschland bei ihm
wieder hoch.
({9})
Diese Woche trat Herr Trittin bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände in feinem Zwirn
auf; aber darunter trägt er immer noch das Mao-Jäckchen, das ist einfach seine Einstellung.
({10})
Die christlich-liberale Koalition widmet sich den großen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa stehen; das hat die Bundeskanzlerin heute sehr
deutlich gemacht. Die Europäische Union steht mitten in
der schwersten Bewährungsprobe ihrer Geschichte.
Ökonomen sagen: Die Euro-Zone ist kein optimaler
Währungsraum, zwei Dinge fehlen: die volle Mobilität
auf dem Arbeitsmarkt und die politische Union. Die
mangelnde Mobilität der Arbeitskräfte ändert sich gerade, wenn auch unter dramatischen Vorzeichen, in Südeuropa. Wer Europa als Ganzes sehen will, wird verstehen, dass Europa einen gemeinsamen Arbeitsmarkt
braucht. Deshalb ist zu begrüßen, wenn gut ausgebildete
Spanier oder Griechen einen Arbeitsplatz in Deutschland
suchen. Das ist ein Schritt der Integration und ein Schritt
zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum.
Die größere Herausforderung ist die politische Union.
Als der Euro eingeführt wurde, war es vor allem wegen
der Bedenken Frankreichs nicht möglich, damals eine
politische Union zu erreichen. Deshalb haben Helmut
Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel den Stabilitätspakt durchgesetzt. Das stabilitätspolitische Erbe,
das europapolitische Erbe von Helmut Kohl und HansDietrich Genscher wurde von Rot-Grün verspielt.
({11})
Ich verkenne nicht, was Gerhard Schröder im Inland
geleistet hat, die Agenda 2010. Das war eine große
Kraftanstrengung. Sie wird von den Liberalen meistens
mehr gewürdigt als von der Sozialdemokratie.
Aber Gerhard Schröder hat Europa nicht weiterentwickelt, sondern zurückentwickelt. Er hat einen Rückschritt gemacht. Er hat ein Stück Renationalisierung mit
auf den Weg gebracht. Gerhard Schröder sprach von
dem Euro als der „kränkelnden Frühgeburt“ - wörtlich.
Er hat seine Prophezeiung offensichtlich selbst erfüllen
wollen und gemeinsam mit Frankreich den Stabilitätspakt beerdigt. Er hat Griechenland in die Europäische
Union aufgenommen, obwohl es nicht die Voraussetzungen für den Euro hatte. Ihre eklatanten Fehler, Ihre
Scherben, die Sie hinterlassen haben, müssen wir heute
wegräumen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
({12})
Ratspräsident Van Rompuy hat mit anderen Vorschläge für eine politische Union gemacht. Es ist ein mutiger Entwurf, auch wenn wir Liberale nicht alles teilen,
was dort aufgeschrieben wurde. Den Ansatz eines Europa der mehreren Geschwindigkeiten finde ich aber gut.
Alle sind eingeladen, mitzugehen. Wer aber nicht mitgehen will, soll diejenigen, die vorangehen wollen, nicht
aufhalten dürfen. Darum geht es. „A plusieurs vitesses“
fordert jetzt der französische Präsident. Europapolitisch
ist er in der Realität angekommen. Ich bin optimistisch,
dass er das finanzpolitisch auch noch hinbekommt.
Wir wollen, dass Europa erfolgreich ist. Dazu kann
ein Euro-Zonen-Budget sinnvoll sein. Exogene Schocks
können einzelne Länder der Währungsunion treffen.
Zum Auffangen solcher Schocks haben wir kein Instrument. Aber man muss die Bedingungen eines solchen Instruments auch klar definieren. Erstens. Es darf keine
Steighilfe für einen europäischen Finanzminister sein.
Zweitens. Es darf nicht der Einstieg in Euro-Bonds sein.
Und drittens. Es darf nicht der Anlass zur Einführung einer EU-Steuer sein.
Die Idee von Europa darf nicht darauf reduziert werden, lediglich immer mehr Geld nach Brüssel zu überweisen. Wenn überhaupt, kann es dabei nur um eine Umschichtung bestehender Mittel gehen.
Nach der Präsidentschaftswahl in den USA erscheint
der nächste Troika-Bericht. Er muss ernst genommen
werden. Ich bin sehr gespannt, was der Kollege
Steinbrück dazu erklären wird; denn auch zum Thema
Griechenland hat er alles im Angebot: Früher hat er eine
Insolvenz gefordert. Dann hat er vor diesem Schritt gewarnt. Vor der Sommerpause war er gegen ein drittes
Griechenland-Paket. Heute ist er dafür.
({13})
Wie bei allen Reformen und großen Veränderungen wird
man meines Erachtens allenfalls in der Zeitachse über
kleine Zugeständnisse an die griechische Regierung reden können. Zeit kostet Geld. Das ist richtig. Eine Finanzierung von Reformpausen wird es nicht geben dürfen.
Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist eine klare
Linie dieser Koalition.
({14})
Aber man darf sich nichts vormachen. Selbst wenn
Griechenland freiwillig zur Drachme zurückkehren
würde, bedeutet das kein Ende der Finanzhilfen. Griechenland bleibt Mitglied der EU mit allen Pflichten und
Rechten, auch dem Recht auf Solidarität. Vor allem eines
weiß keiner: Wie ist es mit der Ansteckungsgefahr Griechenlands? Es gibt die Kettentheorie, die besagt: Das
Auswechseln des schwächsten Glieds stärkt den Rest. Es
gibt die Dominotheorie: Wenn der Schwächste fällt, fallen die anderen hinterher. Beide Szenarien sind denkbar.
Beides sind Theorien, aber wir müssen in der Praxis Entscheidungen treffen. Dabei helfen uns die Theorien
nicht. Sie nehmen uns die Entscheidung nicht ab. Für die
FDP ist der Weg der Entscheidung klar: Zuerst muss
Griechenland seine Hausaufgaben machen, dann muss
Griechenland die Klassenarbeit, sprich die Bewertung
durch die Troika, bestehen. Danach wird über die Versetzung entschieden. Ein Fass ohne Boden darf es nicht geben.
({15})
Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat
- darauf sind wir alle ein Stück weit stolz - den Friedensnobelpreis bekommen. Das ist das erfolgreichste
Friedensprojekt der Geschichte. Jetzt geht aber die Diskussion los: Wer holt den Preis ab?
({16})
Das zeigt: Europa hat noch immer nicht die eine Telefonnummer, wie es Kissinger einmal ausgedrückt hat.
Aber wir machen gerade Fortschritte. Wir brauchen
klare Strukturen. Europa muss von den Bürgern getragen
werden. Es braucht verständiges Recht. Das Recht muss
eingehalten werden, das in Europa geschaffen und vereinbart wird. Wir haben Defizite. Ich nenne als Beispiel
die Stimmenverhältnisse bei der Europäischen Zentralbank. Dort ist Malta formal genauso stark wie Deutschland. Das bildet weder die Wirtschaftskraft noch die Bevölkerungszahl noch das Risiko ab, das Deutschland
gegebenenfalls zu tragen hätte. Auch bei den Wahlen
zum Europaparlament zählt eine deutsche Stimme weniger als andere. Ein bürokratischer Superstaat ohne demokratische Kontrolle ist falsch. Europa muss das Prinzip „One woman, one vote - one man, one vote“
erfüllen. Das ist Demokratie, die ihren Namen voll verdient. Wir brauchen diese weitere Demokratisierung Europas.
({17})
Europa muss von einem Gefühl getragen werden. Europa muss erlebt und gelebt werden. Europa muss ein
Stück Faszination bieten. Mit immer mehr Zentralisierung und größerer Bürokratie erreichen wir das nicht.
Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen, sonst
bleibt Europa ein Projekt der Eliten. Europa muss in seinen Möglichkeiten erweitert werden, das aber solide und
stabil.
Da darf man nicht mit Illusionen oder kurzfristigen
Effekten operieren. Ebenso verfehlt ist die Vorstellung
der SPD, die die deutschen Exporte wieder drosseln will.
50 Prozent unserer Exporte gehen an unsere europäischen Nachbarn. Weshalb wollen die Sozialdemokraten
den Arbeitnehmern die Aufträge für Exporte in die europäischen Nachbarländer nehmen? Sie sollten einmal die
Realität anpacken, und Herr Steinbrück sollte sich darüber klar werden, was er wirklich will, und nicht jedem
etwas bieten, wie es gerade passt.
({18})
Steinbrück kann alles, nur nichts ist klar.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Heute hat der Bundestagswahlkampf offiziell hier
im Bundestag begonnen. Das ist schon ein bisschen
merkwürdig; denn es gibt noch gar kein Wahlrecht etc.
({0})
Aber das lasse ich alles mal dahingestellt sein.
Es wird für Sie schwer werden, Frau Bundeskanzlerin, und auch für Sie, Herr Steinbrück, sich als Alternativen zu präsentieren. Alle Europabeschlüsse haben Sie
zusammen gefasst.
({1})
Die Deregulierung der Finanzmärkte haben Sie unter der
Regierung von Frau Merkel gemeinsam betrieben. Die
prekäre Beschäftigung haben Sie in Deutschland in großem Ausmaß eingeführt. Wo soll sich denn da eine wirkliche, knallharte Alternative abzeichnen, die wir meines
Erachtens brauchen?
({2})
Viele haben sich hier zum Friedensnobelpreis für die
EU geäußert. Lassen Sie mich dazu etwas sagen: Die
Europäische Union hat es tatsächlich erreicht, dass
60 Jahre lang Frieden zwischen den Mitgliedsländern
herrschte. Das ist in Anbetracht der europäischen Geschichte gar nicht hoch genug zu bewerten. Ich stelle
fest, dass man in Asien, Afrika und Lateinamerika regionale Zusammenschlüsse wie die EU als erstrebenswert
ansieht.
Aber es gibt auch eine andere Seite der EU.
Erstens bin ich sowieso dagegen, dass Institutionen
ausgezeichnet werden. Dahinter stecken immer Menschen. Ich bin dafür, dass einzelne Menschen ausgezeichnet werden, die sich wirklich für den Frieden engagieren.
({3})
Zweitens sind die EU-Länder einschließlich Deutschland an einer Vielzahl von Kriegen beteiligt. Die EULänder sind äußerst hoch aufgerüstet und besonders
stark beim Export von Kriegswaffen, auch Deutschland.
Die EU strebt ferner ein eigenes Militär an, um endlich
auch an Kriegen außerhalb der EU teilnehmen zu können. Dafür verdient man alles Mögliche, aber keinen
Friedensnobelpreis.
({4})
Kommen wir nun aber zur Euro-Krise und damit auch
zu Griechenland. Ich muss feststellen: Die Bundesregierung beginnt, in einigen Fragen zaghaft und vorsichtig
den Linken zu folgen.
({5})
- Ja, Moment. Was Sie jetzt zum Teil zu Europa sagen,
ist das, was wir schon vor Jahren gesagt haben. Darf ich
den Mindestlohn als weiteres Beispiel anführen? Als Sie
noch dagegen waren, haben wir ihn schon längst vorgeschlagen. Da waren auch noch die Grünen und die meisten Gewerkschaften dagegen. Wir waren die Ersten, die
ihn gefordert haben. Heute klingt es in Deutschland so,
als seien alle dafür.
({6})
Darf ich daran erinnern, dass Sie alle für die Einführung der Praxisgebühr waren? Die Einzigen, die sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen haben, waren wir.
Jetzt reden Sie alle dagegen.
({7})
Auch bei der Finanztransaktionsteuer haben wir einiges
erlebt; darauf komme ich noch zurück.
Durch eine falsche Politik der EU und auch der Bundesregierung sind unerträgliche Verhältnisse in Griechenland, Portugal, Italien und Spanien entstanden. Der
Druck wird immer größer, Griechenland nicht abzubauen, sondern endlich aufzubauen.
Selbst der Internationale Währungsfonds beginnt jetzt
selbstkritisch festzustellen, dass die harten Kürzungsmaßnahmen zulasten der Beschäftigten, zulasten des
Mittelstandes und zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Rentnerinnen und Rentner nicht
nur übertrieben waren, sondern die Krise massiv verschärft haben. Der Währungsfonds stellt die Kürzungsprogramme also generell infrage. Das ist ein miserables
Zeugnis für die Bundesregierung, die immer darauf bestanden hat.
({8})
Die jetzige griechische Regierung macht aber alle Kürzungen mit. Das Einzige, worum sie bittet, ist, dass sie
für die Reformen zwei Jahre mehr Zeit bekommt.
Herr Brüderle, es bleibt dabei: Es gab ein klares Nein
von Ihnen; es gab ein klares Nein der Bundesregierung.
Aber jetzt werden Merkel, Schäuble und Brüderle weich.
Warum? Mit dieser Frage hat sich auch Herr Steinbrück
beschäftigt; aber ich finde, er hat sie nicht vollständig
beantwortet. Ich komme noch darauf zurück.
In Griechenland betragen die Kürzungen der Löhne
und Gehälter in der Privatwirtschaft und der Renten jetzt
20 Prozent. Es gibt 30 Prozent weniger Steuereinnahmen. Das ist ein unvorstellbarer Rückgang, und er resultiert übrigens auch aus der Lohn- und Rentenkürzung.
Deshalb gibt es auch eine höhere Verschuldung. Die
Wirtschaftsleistung selbst ist um 20 Prozent zurückgegangen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent. Das europäische Geld einschließlich des deutschen
Geldes wird auf diese Art und Weise in den Sand gesetzt. So kann Griechenland ja gar nicht zurückzahlen.
Ich behaupte: Das, was Sie hier angerichtet haben, ist
eine schwere Untreue zum Nachteil der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland.
({9})
Es müssen immer diejenigen die Kosten der Krise tragen, die sie nicht verursacht haben. Warum haben die
Bundesregierung, der Internationale Währungsfonds, die
EU-Kommission und die Europäische Zentralbank bisher nie gefordert, dass diejenigen, die die Krise verursacht und an ihr verdient haben, endlich auch die Kosten
tragen? Nun gibt es einen Zwischenbericht der drei Einrichtungen, und plötzlich werden Forderungen nach der
Belastung der stärkeren Schultern laut - spät, aber es beginnt.
Den öffentlichen Schulden - das will ich Ihnen sagen
- stehen immer auch Vermögen gegenüber. Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele: In Griechenland gibt es 300 Milliarden Euro Schulden und ein Privatvermögen von
540 Milliarden Euro, und zwar nur bei den 2 000 reichsten Familien, nicht etwa in der gesamten Bevölkerung.
In Portugal gibt es 190 Milliarden Euro Schulden und
553 Milliarden Euro privates Vermögen. Bei uns gibt es
2,1 Billionen Euro Schulden und 1,9 Billionen Euro Vermögen nur bei den reichsten 0,6 Prozent der Bevölkerung, und die FDP schreit immer auf, wenn sie nur einen
halben Euro mehr bezahlen sollen. Das ist wirklich nicht
mehr nachvollziehbar.
({10})
Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer. Aber die Devise der Bundesregierung ist und
bleibt eine Umverteilung von unten nach oben, nie in
umgekehrter Richtung.
Herr Kollege Gysi, einen Augenblick, bitte. - Darf
ich darum bitten, dass wir auf der Regierungsbank
({0})
zumindest die Sicht auf den Redner wiederherstellen,
wenn schon nicht die allgemeine Aufmerksamkeit sichergestellt werden kann.
Wissen Sie, Frau Bundeskanzlerin, wenn zu Ihrer
Rede eine Aussprache stattfindet, sollte man ab und zu
auch einmal hinhören und nicht eine solche Arroganz an
den Tag legen.
({0})
Wenn sich nun aber etwas verändert - ganz vorsichtig -,
dann liegt das in erster Linie an den Protesten in Griechenland, auch in Spanien und in Portugal. Die Bevölkerungen dort erzwingen eine Änderung der jeweiligen Regierungspolitik, niemand anderes.
({1})
Nachdem es so viel Kritik von Ihnen gab, sage ich: Ja,
unser Parteivorsitzender Bernd Riexinger hat in Griechenland für soziale Gerechtigkeit mit demonstriert.
({2})
Darüber regen Sie sich auf. Wir wollen doch mehr Europa. Sagen Sie einmal: Darf ein Deutscher nicht in
Griechenland demonstrieren? Darf Ihrer Meinung nach
ein Grieche nicht in Deutschland demonstrieren? - Wo
leben wir hier eigentlich? Das ist doch eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Ich sage auch etwas zu den Hakenkreuzen, die dort
gezeigt wurden. Wir lehnen das genauso ab wie Sie.
Aber Sie müssen verstehen: Die Griechen verbinden Hakenkreuze gar nicht mit den KZs und diesen Verbrechen,
sondern nur mit der Besatzungszeit. Trotzdem ist es völlig falsch.
({4})
Herr Schäuble begeht jetzt den Fehler, zu sagen: Griechenland bekommt ein Sperrkonto, damit das Geld ganz
sicher nur an Banken, Versicherungen und Hedgefonds
geht. - Kein einziger Euro soll für Investitionen eingesetzt werden. Das ist doch eine Bevormundung. Lassen
Sie das sein!
Die Hakenkreuzfahnen sind trotzdem falsch.
Deutschland ist nicht faschistisch und die Kanzlerin erst
recht nicht. Das sehen wir genauso; das sagen wir auch
den Griechen. Die Vertreter der mit uns befreundeten
griechischen Partei tragen diese Fahnen auch nicht. Aber
das Demonstrieren für soziale Gerechtigkeit in Griechenland ist mehr als berechtigt und dringend nötig.
({5})
Jetzt nenne ich Ihnen den Grund für Ihre veränderte
Politik; Herr Steinbrück, Sie haben diesen Grund nicht
genannt. Frau Merkel war doch in China. Ich werde Ihnen etwas erzählen. Es gibt diese veränderte Haltung
nämlich auch wegen China. China möchte nicht nur den
Dollar als Weltwährung, sondern auch den Euro, damit
es ein bisschen spielen und anders auf dem Finanzmarkt
eingreifen kann.
({6})
Deshalb hat China europäische Staatsanleihen aufgekauft. Das Handelsblatt hat geschrieben - nicht ich,
liebe Frau Künast -, dass es sich dabei um ein Viertel aller Euro-Anleihen handelt, einschließlich der deutschen.
Nun waren Sie in China, Frau Bundeskanzlerin. Da
hat Ihnen der Ministerpräsident gesagt, dass China nicht
will, dass Griechenland aus dem Euro ausscheidet; denn
China geht davon aus, dass das den Euro zerstört. Er hat
Sie ein kleines bisschen genötigt und soll Ihnen gesagt
haben: Wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet,
wird China alle Euro-Staatsanleihen auf den Markt werfen. - Dann hätten wir die nächste Krise. Ich sage Ihnen
auch, warum. Wenn so viele Euro-Staatsanleihen auf den
Markt geworfen werden, sind sie natürlich nichts mehr
wert. Dann ziehen sich die Investoren zurück, und es
kommt zu einer schweren Währungskrise. Deshalb fuhr
Frau Merkel danach nach Griechenland und sagte: Ihr
müsst bleiben. - Ich wundere mich, Frau Bundeskanzlerin - ich muss das einmal sagen -: Sie hören viel zu wenig auf uns, die demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten.
({7})
Aber auf die chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten hören Sie. Das ist schon merkwürdig. Herr
Brüderle, Sie sollten einmal darüber nachdenken, wer
hier das Mao-Jäckchen trägt.
({8})
Auf jeden Fall haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie,
Herr Steinbrück, und wir recht: Griechenland darf nicht
aus dem Euro gedrängt werden. Die Bertelsmann-Stiftung hat jetzt festgestellt: Wenn das passiert, erleben wir
eine Rezession der Weltwirtschaft und anschließend heftige globale soziale Spannungen. - Wenn Sie nicht dafür
sind, dann hören Sie mit diesem Gerede auf. Ich sage
deshalb noch einmal: An Griechenland darf kein Exempel statuiert werden, wie das der weltberühmte bayerische Ökonom Markus Söder forderte. Das geht völlig
daneben, wenn ich einmal darauf hinweisen darf.
({9})
Was braucht Griechenland? Griechenland braucht einen Stopp der bisherigen Kürzungspolitik. Das sagt auch
die SPD. Aber, liebe SPD, dann können Sie hier nicht jedem Europabeschluss, der genau diese Kürzungspolitik
unterstreicht, zustimmen. Das ist nicht aufrichtig.
({10})
Wir brauchen endlich einen Marshallplan und Investitionen. Dann - und nur dann - bekommen wir auch unser
Geld zurück. Es müsste direkte Konjunkturkredite und
einen direkten Kauf von Staatsanleihen durch die EZB
geben; es darf keinen Umweg über die privaten Banken
geben; die müssen wir dabei nicht reich machen. Das ist
durch die Verträge verboten - ich weiß das -, und deshalb müssen die Verträge geändert werden. Wir brauchen einen weiteren Schuldenschnitt der Banken. Die
haben sich schon dumm und dämlich verdient; mehr
muss nicht sein. Wir brauchen endlich eine Heranziehung der Vermögenden in der EU, auch wenn das Vermögen im Ausland liegt.
Ich nenne immer drei Stichworte: Steuergerechtigkeit
brauchen wir. Steuerhinterziehung muss bekämpft werden. Steuerflucht muss verhindert werden. - Zur Verhinderung von Steuerflucht - die Vermögenden ziehen immer so gerne auf die Seychellen, nach Liechtenstein und
was weiß ich wohin - gibt es einen einfachen Weg: Wir
müssen in Deutschland und in ganz Europa lediglich
US-Recht einführen und die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft binden.
({11})
Dann können sie wohnen, wo sie wollen, und sie können
ihr Vermögen hinbringen, wohin sie wollen; aber dann
bleiben die Deutschen hier steuerpflichtig, und die griechischen Vermögenden bleiben in Griechenland steuerpflichtig. Warum führen wir das nicht ein? Ich habe darauf noch keine vernünftige Antwort von Ihnen gehört.
({12})
Darüber hinaus muss es in Griechenland zu einer Halbierung der Rüstungsausgaben kommen.
({13})
Nun komme ich zur Finanztransaktionsteuer. Es gibt
jetzt elf Euro-Länder, die sie einführen wollen. Das ist
ein Erfolg der Antiglobalisierungsbewegung und auch
ein Erfolg der Linken.
({14})
Sie, Herr Steinbrück, haben im Haushaltsausschuss gesagt, dass die Finanztransaktionsteuer eine sozialistische
Spinnerei sei.
({15})
- Ja, das liegt schon ein bisschen zurück. - Jetzt gibt es
nur zwei Möglichkeiten, Herr Steinbrück: Entweder sind
auch Sie ein sozialistischer Spinner, oder die Antiglobalisierungsbewegung und die Linken hatten schon damals
recht. - Äußern Sie sich doch einmal zu diesen beiden
Varianten!
({16})
Bei der Umsetzung darf es aber keine Verwässerung
geben. Die Bundesregierung hat in ihrem Antrag an die
EU-Kommission nämlich darauf verzichtet, die Steuer
auch beim Devisenhandel anzuwenden. Aber genau das
hatten Union, FDP, SPD und Grüne anders vereinbart,
und ohne den Devisenhandel ist die Steuer natürlich weniger als die Hälfte wert.
Auch in Deutschland führt die Krise zu immer mehr
Verliererinnen und Verlierern. Dazu zählen Millionen
von Bürgerinnen und Bürgern, die private Lebensversicherungen abgeschlossen haben oder Riester-Verträge
besitzen. Auch die betriebliche Altersvorsorge ist be23828
droht; denn sämtliche Renditeversprechungen werden
Schritt für Schritt hinfällig.
Es gibt auch eine Krise der Realwirtschaft. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert ein Wirtschaftswachstum in China von 8,2 Prozent, in den USA von
2,1 Prozent und in der Euro-Zone von minus 0,4 Prozent. Damit wird die Euro-Krise zur größten Sorgenquelle der Weltwirtschaft. Lange Zeit haben viele geglaubt: Deutschland trifft das nicht. Aber das ändert sich.
Durch die Kürzungsdiktate, durch die Senkung der
Kaufkraft in den südeuropäischen Ländern gehen jetzt
auch unsere Exporte zurück, und zwar immer deutlicher.
Ich nenne nur folgende Beispiele: Die Quote der Exporte
nach Portugal ist um 14,3 Prozent gesunken; die Quote
der Exporte nach Spanien ist um 9,4 Prozent gesunken;
die Quote der Exporte nach Griechenland ist um 9,2 Prozent gesunken. Nun schildere ich Ihnen noch den Absatzeinbruch bei der deutschen Automobilindustrie.
Nein, Herr Gysi, das schildern Sie jetzt bitte nicht, jedenfalls nicht in dem Umfang, den Sie offenkundig geplant hatten.
Das ist sehr schade. Dann sage ich Ihnen nur: Es waren 11 Prozent; damit Sie es wissen, Herr Bundestagspräsident.
Ich hätte das natürlich ohnehin gewusst.
Zum Schluss sage ich Ihnen: Sie müssen Ihre Politik
in Europa ändern. Wenn Sie wollen, dass es mehr Europa gibt, müssen Sie Europa auch für die Jugend attraktiver machen. Dafür gibt es eine Bedingung: Die Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden, und
mit einer gerechten Umverteilung von oben nach unten
muss begonnen werden. Anders werden Sie diese Krise
niemals meistern.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Volker Kauder.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Präzision
und Klarheit beschrieben, was im europäischen Reformprozess auf uns zukommt.
({0})
Wir haben einige Fragen und Anmerkungen, aber - Frau
Bundeskanzlerin, das sollen Sie auch für die Beratungen
heute Abend und morgen wissen - die Richtung stimmt.
Wir stehen hinter Ihrer Politik in Europa.
({1})
Herr Steinbrück, dass Sie das eine oder andere heute
zum ersten Mal von der Bundeskanzlerin gehört haben,
verwundert uns nicht. Seien Sie in Zukunft öfter an einem Donnerstag im Plenum! Dann wissen Sie, was die
Bundesregierung meint und worauf es wirklich ankommt.
({2})
Ich empfehle Ihnen auch dringend, keine falsche Spur
zu legen, sondern die Dinge so zu sagen, wie sie wirklich
sind. Auf das Wort eines Bundeskanzlers muss Verlass
sein. Dahin gehend sind auch die Worte eines Kanzlerkandidaten zu überprüfen. Wir wurden gerade informiert
- wir wussten das aber schon -, dass Ihre Aussagen zu
den Empfehlungen der Europäischen Kommission zum
Reformprogramm in Deutschland nicht zutreffend sind.
Dort steht in keinem einzigen Satz etwas über das Betreuungsgeld. Darin steht etwas über die Ganztagsbetreuung.
Eine solche unzulässige Interpretation von Empfehlungen, die im Amtsblatt veröffentlicht wurden, ist unzulässig, Herr Steinbrück.
({3})
In den Empfehlungen steht etwas, was vermutlich
auch Sie, Herr Steinbrück, richtig finden. Sie haben
nicht darauf hingewiesen, dass in diesen Empfehlungen
steht, dass die Abgaben- und Steuerlast für Geringverdienende in Deutschland zu hoch ist, und Deutschland
ermahnt wird, genau dies zu ändern. Dazu könnten Sie
beitragen, indem Sie im Bundesrat endlich Ihre Blockadehaltung aufgeben.
({4})
Herr Kollege Steinbrück, da in den europäischen Empfehlungen für Deutschland von einer zu hohen Abgabenlast die Rede ist, wollen wir jetzt die Beiträge zur Rentenversicherung reduzieren. Aber da machen Sie nicht
mit. Dort, wo die Empfehlungen klar aufzeigen, was zu
tun ist, verweigern Sie sich, weil Sie glauben, dass Sie
dies den Linken in Ihrer Partei nicht zumuten können.
Das ist die eigentliche Position.
({5})
Herr Kollege Steinbrück, Sie müssen sich die Frage
gefallen lassen, was noch gilt. Auf das Wort eines Kanzlers und auch auf das eines Kanzlerkandidaten muss Verlass sein. Sie haben heute hier davon gesprochen, dass
wir Wachstum brauchen. Richtig! Wir haben in Europa
ein Wachstumspaket aufgelegt und in diesem Zusammenhang klare Positionen formuliert. Im Übrigen war
schon im Vertrag von Lissabon ein Wachstumspaket vorgesehen. Wenn sich alle an das gehalten hätten, was daVolker Kauder
mals in Lissabon vereinbart worden ist - wir haben uns
daran gehalten -, wären wir schon ein gewaltiges Stück
weiter.
Jetzt komme ich zum Thema. Wer wirklich Wachstum
will, Herr Kollege Steinbrück, der kann doch nicht in
Deutschland das Wachstum abwürgen. Genau das würde
geschehen, wenn Ihre Vermögensabgabe oder Vermögensteuer eingeführt würde. Genau dadurch würde das
Wachstum gebremst. Jetzt sage ich Ihnen einmal, was
Kollege Steinbrück hier vor einiger Zeit richtigerweise
gesagt hat. Er hat gesagt, eine Vermögensteuer sei deshalb falsch, weil sie im Ertrag zu wenig bringe und weil
die Probleme in der Abgrenzung zu unseren Familienbetrieben zu groß seien.
({6})
- Er sagt jetzt auch noch, dass das stimmt. - Wenn Sie
bestätigen, dass es stimmt, dass eine Vermögensteuer für
unsere Betriebe schädlich ist: Wie können Sie sich dann
hier hinstellen und erzählen, dass Sie eine Vermögensabgabe, eine Vermögensteuer wollen?
({7})
Ich habe weder vom Kollegen Trittin noch von Ihnen
bisher eine verfassungsgemäße Lösung für dieses Problem gesehen.
({8})
- Nein, nein, Herr Trittin. - Ich kann nur sagen: Wer
Wachstum will, darf nicht denjenigen Geld wegnehmen,
die es brauchen, um zu investieren, damit Wachstum in
unserem Land entsteht.
({9})
Deshalb sind Sie auf der völlig falschen Fährte.
Ich halte fest: Wenn Sie die Empfehlungen für
Deutschland wirklich umsetzen wollen, dann müssen Sie
jetzt im Bundesrat ganz schnell den Steuervorhaben zustimmen und zustimmen, dass wir die Beiträge zur Rentenversicherung senken. An diesen beiden Punkten werden wir Sie messen. Daran werden wir sehen, ob Sie
tatsächlich bereit sind, in Europa das Notwendige zu tun.
({10})
Herr Kollege Steinbrück, wir brauchen gerade von Ihnen keine Belehrungen
({11})
zum Umgang in Europa. Wie Sie sich hinsichtlich der
Schweiz verhalten haben, das ist kein Beispiel für den
Umgang in Europa. Herr Kollege Steinbrück, das ist
wahrhaftig kein Beispiel.
({12})
Ich rate Ihnen, nicht mit einer solchen Arroganz aufzutreten.
({13})
- Herr Steinbrück, ich kenne Sie aus den Zeiten der Großen Koalition gut. Da habe ich vieles an Ihnen geschätzt.
Aber Sie zeigen jetzt wieder etwas, das ich damals schon
erlebt habe: eine persönliche Dünnhäutigkeit. Sie sind
sehr gut im Austeilen; aber Sie müssen auch im Einstecken gut werden. Herr Kollege, merken Sie sich das.
({14})
Wir stehen vor entscheidenden Veränderungen in Europa. Wir wissen, dass wir mehr Europa brauchen. Wir
wissen, dass eine intensive Diskussion darüber stattfindet. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Diskussionen als Vielstimmigkeit zu beklagen, kann als Ergebnis nur haben, dass wir gar nicht mehr darüber reden,
wie es weitergehen soll. Wenn wir als nationales Parlament die Aufgabe haben, die Entwicklung Europas mitzugestalten, dann muss auch darüber diskutiert werden.
Ich kann nur sagen: Ich habe mich heute Morgen sehr
gewundert. Zu keinem einzigen wesentlichen Punkt kam
eine Antwort auf die Fragen, die sich gerade in der Diskussion befinden; wohl aber gab es einen geradezu flehenden Ruf von Ihnen, Herr Kollege Steinbrück, man
möge möglichst viel Geld nach Griechenland schicken.
Sie hätten sagen müssen: Wir müssen in Griechenland
dafür werben, dass die notwendigen Reformen durchgeführt werden. - Nur das hilft dem Land, nicht aber solche Sprüche, wir müssten auf jeden Fall mehr Geld geben.
({15})
Wir sind uns der Solidarität bewusst. Aber ohne Gegenleistung kann es keine Leistung geben. Diesen Satz habe
ich von Ihnen nicht gehört.
({16})
Deswegen glaube ich, dass Sie kein guter Vertreter deutscher und europäischer Interessen sein können.
Wenn wir Europa wettbewerbsfähig machen wollen,
müssen alle mitmachen. Das gilt für alle in Europa.
Auch wir haben, wie ich vorhin an zwei Beispielen gezeigt habe, Bedarf, noch etwas zu verändern. Aber wir
müssen klar und deutlich im Interesse vor allem der jungen Generation sagen: Es müssen Strukturen geschaffen
werden, die Arbeitsplätze ermöglichen. - Spanien ist
beispielsweise auf einem guten Weg, ein duales Ausbildungssystem auf den Weg zu bringen. Portugal ist beispielsweise dabei, entsprechende Strukturveränderungen
vorzunehmen. Wer glaubt, den Menschen immer nur mit
mehr Geld helfen zu können,
({17})
der wird merken, dass genau das Gegenteil eintritt; denn
an Geld hat es in Griechenland bisher nicht gemangelt,
sondern an dem Willen, etwas zu verändern. Das muss
nun vorangebracht werden.
({18})
Frau Bundeskanzlerin, ich bin Ihnen dankbar dafür,
dass Sie das Augenmerk auch auf ein Thema gelenkt haben, das für uns im Parlament von besonderer Wichtigkeit ist; ich habe das schon das letzte Mal angesprochen.
Ein Mehr an Europa kann nicht ein Mehr an Europa von
Bürokratie, Kommissionen und vielem anderem bedeuten, sondern ein Mehr an Europa muss ein Mehr an demokratischer Legitimation bedeuten.
({19})
Deswegen werden wir in der Koalition einer Übertragung von neuen Kompetenzen nur nachgeben können,
wenn wir wissen, welche Kompetenzen, die aus der nationalen parlamentarischen Kontrolle übertragen werden, in eine neue parlamentarische Kontrolle hineinkommen.
({20})
Mehr Räten ohne parlamentarische Legitimation werden
wir nicht zustimmen können.
({21})
Dies ist ein zentraler Punkt für uns; darüber müssen wir
als Parlament intensiv diskutieren.
Ich bin auch ganz klar der Meinung, dass wir für eine
dauerhafte Lösung in Europa - und damit, Herr Trittin,
zu Ihrem Zwischenruf von vorhin - nicht das als Maßstab nehmen können, was in einer Krise notwendig ist.
Deswegen kann nicht eine Schuldenunion, eine Altschuldenunion und die Einführung von Euro-Bonds
Maßstab sein.
({22})
Vielmehr muss klar und deutlich sein, dass jeder so
lange Verantwortung für seine nationale Politik trägt, bis
wir eine gemeinsame Aufsicht, eine Bankenaufsicht,
eine Haushaltsaufsicht haben. Sie reden einer Vergemeinschaftung von Schulden und Geldanleihen das Wort
und nehmen damit den Druck heraus, die notwendigen
Regelungen zu treffen, die Voraussetzung dafür sein
könnten, über so etwas überhaupt erst nachzudenken.
({23})
Ich kann nur sagen, Herr Kollege Steinbrück, nicht
weil ich der Koalition angehöre, der auch die Bundeskanzlerin und der Vizekanzler angehören, sondern weil
es sich heute Morgen wieder einmal gezeigt hat: Wir
können froh und dankbar sein, dass diese Koalition in
dieser schwierigen Zeit unser Land regiert und Angela
Merkel die Interessen unseres Landes in Europa vertritt.
({24})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Kauder, lassen Sie mich am Anfang eine
halbe Minute dafür verwenden, Sie darauf hinzuweisen,
wie die europäischen Empfehlungen zur deutschen
Haushaltspolitik lauteten. Ja, das Wort Betreuungsgeld
wird nicht ausdrücklich erwähnt,
({0})
vielleicht deshalb nicht, weil man auf europäischer
Ebene gar nicht so schlecht und so kurios denken kann,
({1})
dass man wirklich glaubt, in Deutschland würde so etwas eingeführt.
({2})
Aber, meine Damen und Herren, in den Empfehlungen
steht, dass Deutschland aufgefordert ist, eine Ganztagsbetreuung einzurichten bzw. Ganztagsschulen für die
Kinder des Landes zu bauen;
({3})
das hält man auf europäischer Ebene in wirtschaftlicher
und sozialer Hinsicht nämlich für richtig. Sie können
Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen gerne als absolutes Gegenstück zum Betreuungsgeld verstehen.
({4})
Was Sie nicht erwähnt haben, Herr Kauder - daran
zeigt sich Ihr Hang zur Vollständigkeit -: In den Empfehlungen steht auch, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen werden muss, um die Kinder in diesem Land
zu finanzieren.
({5})
Herr Kollege Steinbrück, das hatten Sie ganz vergessen,
zu erwähnen. Woran lag das? Wir werden es sehen.
Nun zur Regierungserklärung der Kanzlerin. Frau
Merkel, es hat mir nicht gereicht, dass Sie hier und heute
den Friedensnobelpreis für die EU erwähnt und lediglich
gesagt haben, wie schön dieser Schatz in unserer Hand
ist. Eine Bemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht
verkneifen: Auf der einen Seite erleben wir, dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommt, und
wir sehen, welchen Schatz wir in der Hand halten. In der
gleichen Woche werden auf der anderen Seite Sinti und
Roma, die in Serbien und Mazedonien in Bretterbuden
gehaust haben und den Winter fürchteten, als sie nach
Deutschland kommen, bezichtigt, Asylmissbrauch zu
betreiben. Meine Damen und Herren, das ist eines Friedensnobelpreisträgers nicht würdig. Das hat mir nicht
gereicht.
({6})
Mir hat auch nicht gereicht, was Sie aus der gegenwärtigen Verschnaufpause, bedingt durch den Anleihenkauf der EZB, gemacht haben. Sie haben lange zugelassen, Frau Merkel - auch wenn Sie gerade etwas anderes
gesagt haben -, dass es in der Europapolitik und in der
Griechenland-Politik Deutschlands zu einer Art Söderisierung kam. Das ist, glaube ich, so ziemlich das
Schlimmste, was man erleben kann:
({7})
die Stammtischadler, die in Kneipen über den Stammtischen im Luftraum kreisen und nicht daran denken,
was für Deutschland und Europa gut ist. Auch an dieser
Stelle kamen Sie zu spät, Frau Merkel.
({8})
Sie kamen zu spät - das kann ich Ihnen nicht ersparen -,
obwohl Sie hier und heute gesagt haben, Deutschland sei
in vielen Bereichen vorangegangen. Sie redeten über den
Delors-Plan. Ja, über den hätten wir vor zweieinhalb
Jahren reden können. Wo ist Deutschland da vorangegangen? Sie redeten über den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir hätten ihn gerne schon im letzten
Herbst verabschiedet. Aber Sie haben sich nicht dürfen
getraut, weil Ihre Truppe offensichtlich nicht mitgemacht hätte.
Wenn wir über Euro-Bonds und eine wirklich gemeinschaftliche Haftung reden, sagen Sie: „Das wollen
wir nicht“, um am Ende, wenn auch immer spät, doch
umzufallen. Ein Beispiel dafür sind die EZB-Anleihen.
In welchem Umfang haftet Deutschland? Wir haften für
27 Prozent. Was ist denn das? Ein anderes Beispiel ist
die Diskussion über eine extra Finanzkapazität für den
Euro-Raum. Das alles sind Themen, bei denen wir erstens sehen, dass Sie wieder zu spät dran sind, und bei denen wir zweitens sehen, dass Sie am Ende doch umfallen.
Es war mir auch zu wenig, dass es in Ihrer heutigen
Rede nur um das Paket ging.
({9})
Sie haben heute keine wirkliche Perspektive aufgezeigt
und keine Reformen vorgeschlagen. Ich muss Ihnen
auch sagen: Sie haben heute nicht die ganze Wahrheit
gesagt.
({10})
An dieser Stelle müssen wir kurz über Griechenland
reden. Schäuble hat ja am Sonntag letzter Woche in
Singapur gesagt: „… there will be no Staatsbankrott in
Greece“. Das kommt auch zweieinhalb Jahre zu spät.
({11})
Was kommt jetzt? Jetzt kommt die Idee eines Sperrkontos, auf das die Gelder für die Griechen eingezahlt
werden sollen. Was ist das nun wieder, Frau Merkel?
Das ist eine Art Alibi dafür, dass erst die Schulden getilgt werden. Dahinter steckt, dass in Griechenland die
Notenpresse angeworfen wird, um seine Probleme vor
Ort zu lösen. Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Merkel: Sagen Sie doch die ganze Wahrheit! Das ist wieder eine
krude Idee, weil Sie sich nicht trauen, zu sagen: „Es wird
in diesem Hause ein drittes Griechenland-Paket geben“;
denn Sie trauen sich nie, die ganze Wahrheit zu sagen.
({12})
Herrn Kauder möchte ich bezüglich Griechenland sagen: Es tut mir wirklich weh, dass Sie an dieser Stelle
Richtung Griechenland schlicht und einfach rufen: Es
mangelt am Willen, zu verändern. Damit stehen Sie übrigens im Dissens zu Ihrer Kanzlerin, die ja gerade gesagt
hat, sie habe erfahren, in Griechenland wolle man doch
etwas ändern.
({13})
Herr Kauder, was mich daran ärgert, ist, dass Sie hier
als konservativer Europäer stehen, der von der Ehe ja
vielleicht etwas verstehen sollte. Oder? Zu der Ehe heißt
es: in guten wie in schlechten Zeiten.
({14})
Ich kann nur sagen: Das heißt es auch in der Europäischen Union. In guten wie in schlechten Zeiten!
({15})
Deshalb darf man heute nicht einfach nur kritisieren,
sondern muss in diesen Zeiten den 50 Prozent arbeitslosen Jugendlichen in Griechenland sagen: Ja, wir kümmern uns darum, dass ihr eine Perspektive bekommt. Darüber habe ich nur wenig gehört.
({16})
Ich habe eigentlich nichts über das europäische Investitionsprogramm gehört, das wir hier im Juli verabschiedet haben, als wir uns wegen Spanien getroffen haben.
Wo ist denn dieses europäische Investitionsprogramm?
Wo wird es denn eigentlich umgesetzt? Wo ist das Geld?
({17})
Sie reden hier über Wachstum. Wir haben zu dem entsprechenden Zeitpunkt doch gesagt, wofür wir Gelder
investieren wollen, damit sich zum Beispiel Griechenland, aber nicht nur Griechenland, modernisieren und
wirtschaftlich entwickeln kann: den Schienenverkehr,
den öffentlichen Verkehr, die Energie. Wo ist dieses Programm? Sie sagen: Deutschland geht voran. Ich sage
Ihnen: Deutschland hat nicht einmal die Hausaufgaben
gemacht, die wir hier im Deutschen Bundestag vereinbart haben.
({18})
- So ist es.
Nun zu den Vorschlägen, die im Detail gemacht worden sind. Schauen wir uns einmal die Vorschläge von
Van Rompuy bzw. der vier Präsidenten an. Sie sind ja
auch im Auftrag der Bundeskanzlerin auf den Weg gebracht worden. Was wollen wir denn jetzt eigentlich?
Van Rompuy oder Schäuble? Es ist schon eine gewisse
Chuzpe, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts der vier Präsidenten zu sagen: Nun schlagen wir
wieder einmal das Gegenteil vor. - Das ist das typische
von Merkel und Schwarz-Gelb in Europa angerichtete
Chaos.
Im Bericht von Van Rompuy bzw. der vier Präsidenten werden einige Punkte angesprochen: der Schuldentilgungsfonds, die Bankenaufsicht, eine bessere Überwachung der nationalen Haushalte usw. Sie sind am Ende
aber doch wieder nur Skeptiker. Ich will das einmal an
den vier Punkten deutlich machen, die ja nicht Sie erfunden haben, sondern im Bericht der Präsidenten stehen:
Erstens. Die gemeinsame Finanzmarktpolitik. Sie
wollen jetzt auch eine Finanzmarktaufsicht bis Ende des
Jahres. Ich kann das ja nur begrüßen, weil Sie bisher alle
immer nur mit Samthandschuhen angefasst haben.
Eine effiziente Regulierung wollen wir jetzt aber auch
sehen. Das heißt, wir brauchen eine europäische Abwicklungseinheit oder eine europäische Einlagensicherung. Sie, Frau Merkel, haben an dieser Stelle am Ende
aber doch wieder nur Andeutungen gemacht.
Zweitens. Die gemeinsame Fiskalpolitik. Wir sprechen uns für mehr Haushaltsdisziplin aus. Ja, aber die
vier Präsidenten - darauf gehen Sie am Ende nicht ein reden über die mögliche Einführung eines Altschuldentilgungsfonds. Schon wieder verweisen sie darauf, dass
ein Altschuldentilgungsfonds nötig ist, allein schon, um
den Zinsdruck für die betroffenen Mitgliedstaaten zu
verringern. Das würde der Fonds ermöglichen. Was haben Sie zur Zinsdrucksenkung angeboten, Frau Merkel?
Bis zum Augenblick eigentlich gar nichts!
Drittens. Die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Ihren
Reden, Frau Merkel, folgen nie Taten. Bislang hat sich
die Bundesregierung eben nicht wirklich für eine Harmonisierung der Steuerpolitik oder gegen Steuerdumping eingesetzt.
Wo ist Ihre Arbeitsmarktpolitik? Deutschland war
bisher kein Vorkämpfer für eine europäische Regelung.
Gegen die Jugendarbeitslosigkeit - ich habe es schon gesagt - haben Sie auch kein konkretes Programm. Das
sind Sie heute schuldig geblieben.
Am Ende wollen Sie sogar eher noch den europäischen Haushalt kürzen, aus dem man solche Programme
finanzieren könnte. An dieser Stelle, Frau Merkel, sind
Sie nicht glaubwürdig. Sie reden zwar immer für das
Soziale, aber trotzdem wollen Sie den europäischen
Haushalt kürzen, sodass Sie das Soziale dann eben nicht
mehr finanzieren können.
({19})
Zu dem vierten Aspekt, der stärkeren demokratischen
Legitimation, die Van Rompuy und andere vorschlagen,
kann man ja sagen: Deutschland steht dafür - im wahrsten Sinne des Wortes -, die europäischen Institutionen zu
schwächen.
Nun zu einigen Ihrer Detailvorschläge, die wilden
und unabgestimmten Vorschläge von Herrn Schäuble,
die Sie heute auch wieder benannt haben. Gucken wir
uns das einmal an. Da soll jetzt ein Mann in Brüssel den
Daumen heben oder senken
({20})
über den Haushaltsplan eines demokratisch gewählten
Parlaments. Meine Damen und Herren, wir wollen mehr
Haushaltsdisziplin und durchaus ein Stück Aufsicht an
dieser Stelle. Aber was schlagen Sie faktisch vor, weil
Sie eben nicht weitergehen? Sie schlagen doch faktisch
einen Supermann, einen Superkommissar vor: Der ist
dann sozusagen Erster in einer Kommission. Das spaltet
die Europäische Kommission, weil es Kommissare unterschiedlichster - ({21})
- Bei Ihnen kann ich mir sofort vorstellen, dass es eine
Frau wird, Frau Piltz. Machen Sie erst einmal die Quote
in Aufsichtsräten, bevor Sie einen solchen Zwischenruf
machen!
({22})
Ihr Vorschlag ist ein Superkommissar als Erster unter
Gleichen in einer Kommission. Und wer sucht den dann
aus, meine Damen und Herren?
({23})
Im Gemauschel, im Hinterzimmer die Regierungen wieder, meine Damen und Herren. Dann hätten Sie doch
mindestens an dieser Stelle sagen müssen, wie Sie sich
das vorstellen. Ein ausgemauschelter Kommissar, bei
dem das Parlament den Gesamtblock wählt, ist doch
nicht demokratischer. Dann hätten Sie an dieser Stelle
sagen müssen: Diese Person wird durch das Europäische
Parlament eigenständig gewählt und könnte auch abgewählt werden. Das wäre das Mindeste; aber das trauen
Sie sich wieder nicht, weil es dann aus dem Hinterzimmer raus und rein ins Europäische Parlament geht, meine
Damen und Herren.
({24})
Alle Ihre Vorschläge sind meines Erachtens viel zu eng
geworden. Am Ende muss ich sagen: Was ich mir gewünscht hätte
({25})
- ich komme gleich zur Mitgliederbefragung, Herr
Kauder -, wäre, bei Ihren Worten am Ende über die
Kraft Europas, darüber, dass Europa mehr als Währungs-, Geld- und Haushaltspolitik ist, wenn wirklich
klar gesagt würde: Wir wollen ein ökologisches und
soziales Europa.
Sie haben über Talente und Technologien geredet.
Dann sagen Sie es doch wirklich: Ein Europa, das mit
seinen Nachbarn gut zusammenlebt, das nicht auf Kosten anderer Menschen irgendwo auf der Welt lebt, das
nicht auf Kosten der Jugend lebt, meine Damen und Herren. Dieses Europa - das haben Sie verpasst, Frau
Merkel - braucht jetzt dringend jenseits des Dickichts
der aktuellen Verhandlungen einen europäischen Konvent unter Beteiligung
Frau Kollegin.
- mein letzter Satz - der Sozialpartner, unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, und dann kommen wir raus
aus den internen Zirkeln und machen einen Volksentscheid, an dem die gesamte europäische
Frau Kollegin.
- Bevölkerung beteiligt wird. Das hätte eine Perspektive heute sein können.
({0})
Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig, ich bin auch der Meinung,
Europa ist mehr als der Euro. Das haben wir nicht nur
heute mehrfach betont, sondern das wird in jeder dieser
Debatten, in denen wir über den Euro und über Europa
reden, von uns immer wieder betont - und nicht nur in
diesem Hause.
Wenn jemand das noch nicht verstanden hat und nicht
gehört hat, wie der Herr Steinbrück das vorhin zum Ausdruck gebracht hat, dann, finde ich, muss die Frage
schon erlaubt sein: Wo war er denn dann,
({0})
als dies immer wieder zum Ausdruck gebracht und diskutiert wurde?
({1})
Trotzdem, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
sollten wir uns heute schon auch noch einmal mit der
Frage befassen: Wo stehen wir bei der Debatte über die
Vertiefung bei der Wirtschafts- und Währungsunion?
Was haben wir erreicht? Haben wir etwas erreicht?
Da können wir mit Fug und Recht heute sagen: Wir
sind in den letzten Monaten ein großes Stück vorangekommen!
({2})
Der Europäische Stabilitätsmechanismus arbeitet bereits, der Fiskalvertrag kann in Kraft treten, er wurde von
uns beschlossen. Die Finanzmarktsteuer wird kommen.
Auch das haben wir in den letzten Monaten erreicht,
nicht wegen des Geschreis der Opposition, sondern wegen der Hartnäckigkeit und des hohen und großen Verhandlungsgeschicks unseres Finanzministers. Dafür
danke ich ihm herzlich.
({3})
Auch die Situation in den Krisenländern ist besser geworden. Wir sehen dort rückläufige Handelsbilanzdefizite. Wir sehen, dass dort die Lohnstückkosten sinken,
und damit sind diese Länder auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit. Einige Krisenländer haben sich in den
vergangenen Wochen zu erträglichen Konditionen am
Kapitalmarkt refinanzieren können.
Bei all den noch vorhandenen Problemen, die normalerweise mit jeder Umstrukturierung einer Wirtschaft
verbunden sind, sind dies Erfolge, die man nicht einfach
auf die Seite schieben soll, sondern diese Erfolge machen deutlich: Der Weg ist richtig. Der Stabilitätskurs ist
richtig. Vor allem Auflagen in Verbindung mit den Hilfen sind richtig, aber eben Auflagen und Hilfen gemeinsam.
({4})
In einem schwierigen internationalen Umfeld ist auch
Deutschland auf einem guten wirtschaftlichen Weg. Wir
haben eine weiterhin stabile positive wirtschaftliche Entwicklung. Wenn wir das machen würden, was uns vonseiten der Sozialdemokraten immer wieder empfohlen
wird, nämlich Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Vermögensteuer, der Einkommensteuer, dann hätten wir diese
Chance verspielt, dann wären wir nicht mehr Wachstumslokomotive in Europa, wie wir es jetzt sind.
({5})
Herr Steinbrück hat vorhin gesagt: Wir haben euch
gezeigt, wie es geht. Schauen wir doch einmal: Was haben Sie uns denn gezeigt? Sie haben uns gezeigt, wie
Fehler gemacht werden. Sie haben uns durch das Aufweichen der Stabilitätskriterien in Ihrer Regierungszeit
gezeigt, wohin das führen kann: dass sich nämlich niemand mehr in Europa an die Stabilitätskriterien gehalten
hat, weil Sie das Signal dazu gegeben haben, sich nicht
daran zu halten.
Was haben Sie uns denn noch gezeigt? Sie haben uns
gezeigt, wie man nach seiner Regierungszeit 5 Millionen
Arbeitslose hinterlässt. 5 Millionen Menschen ohne Beschäftigung in einer Zeit, in der es keine Krise gegeben
hat! Auf solche Rezepte können wir verzichten.
({6})
Nun gibt es eine aktuelle Diskussion über die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich
finde das richtig. Es ist notwendig, die Lehren aus der
Krise zu ziehen, die Defizite, deren Folgen wir in den
vergangenen Jahren erleben mussten, zu beseitigen. Da
gibt es meines Erachtens zwei Ziele, die bei all den Maßnahmen, die zurzeit diskutiert werden, immer im Blick
behalten werden müssen. Das Erste ist das Ziel einer
Stabilitätsunion in Europa. Das Zweite ist das Ziel der
Wettbewerbsunion in Europa. Beide Ziele müssen gleichermaßen verfolgt werden.
({7})
Diesen Zielen müssen die entsprechenden Maßnahmen,
die heute diskutiert werden, die im Rat diskutiert werden
und die in den nächsten Monaten in ganz Europa diskutiert werden, gerecht werden.
Ein Vorschlag ist die Einrichtung einer europäischen
Bankenaufsicht. Sie ist notwendig. Sie ist richtig. Aber
bei dem Punkt einer gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht sind noch viele Fragen zu klären: Wie viele
Banken sollen beaufsichtigt werden? Auch hier, finde
ich, gilt das Subsidiaritätsprinzip. Es brauchen nicht
Tausende von Banken durch die europäische Bankenaufsicht beaufsichtigt zu werden, sondern nur die systemrelevanten, die grenzüberschreitenden.
Eine anderer Punkt ist: Wenn diese Aufsicht bei der
EZB angesiedelt sein soll, muss es eine strikte Trennung
zwischen Geldpolitik und Aufsichtstätigkeit geben.
Nicht zuletzt muss auch klar sein: Eine direkte Bankenrekapitalisierung durch den ESM kann es nur dann geben, wenn diese europäische Bankenaufsicht nicht nur
etabliert ist, nicht nur auf dem Papier steht, nicht nur
vertraglich abgesichert ist, sondern wenn sie wirklich
arbeitsfähig ist, wenn sie handlungsfähig ist, wenn sie
effektiv arbeiten kann. Erst dann kann es diese direkte
Rekapitalisierung geben,
({8})
und auch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer
nur mit Auflagen und Bedingungen. Es darf auch hier
keinen Blankoscheck geben. Darauf muss geachtet werden.
Eine ganz zentrale Frage ist: Wie schaffen wir es
denn, dass wir wirklich die vereinbarten Stabilitätskriterien einhalten? Es war in den vergangenen Jahren ein
ganz großes Defizit, dass von den vereinbarten Kriterien
abgewichen wurde. Da muss man sich fragen: Ist das alles wirklich abgesichert? Reichen die jetzigen Instrumente? Reichen die jetzigen Kompetenzen? Diese Frage
ist, finde ich, durchaus berechtigt. Bei der Beantwortung
müssen wir sehr darauf achten, hier die richtigen Antworten zu geben und nicht über das Ziel hinauszuschießen.
Sinn und Zweck kann nur die wirklich verbindliche
Einhaltung der Stabilitätskriterien sein. Der Stabilitätsrahmen muss die Grenzen dafür setzen; aber die Maßnahmen müssen auch wirklich dazu geeignet sein, Stabilität zu erreichen. Da kann es sein, dass Kompetenzen
auf eine andere Ebene übertragen werden. Sie dürfen
aber nur dann übertragen werden, wenn wirklich sichergestellt ist, dass die Stabilitätskriterien damit besser und
verbindlicher eingehalten werden, als das bisher der Fall
war. Vor diesem Hintergrund ist das alles zu prüfen.
({9})
Es gibt natürlich - das ist mir ein ganz besonders
wichtiges Anliegen - noch eine Frage. Ich dachte eigentlich, diese sei mittlerweile durch die vielen Diskussionen
bei uns und auch in Europa auf die Seite gelegt. In dem
Bericht aber, der heute diskutiert wird, ist wieder die
Rede von gemeinschaftlicher Haftung. Meine Damen
und Herren, das war und ist auch heute noch nicht das
richtige Mittel, um die Probleme zu lösen, und zwar deshalb nicht, weil dann jeder Druck von den Krisenländern, die die Hilfen nur mit Bedingungen und Auflagen
bekommen, weggenommen wird. Es wird dann von den
Ländern, die ihre Reformen durchführen müssen, um
wettbewerbsfähig zu werden, jeder Druck genommen.
Weiter wird damit Druck von den Krisenländern genommen, ihre Haushalte zu konsolidieren. Es muss das wesentliche Ziel unserer Arbeit sein, für Stabilität und für
Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen. Das kann nur in den
einzelnen Ländern geschehen. Diesen Druck wegzunehmen, wäre fatal und würde dem Ziel widersprechen.
({10})
Meine Damen und Herren, ich begrüße, dass die Diskussion intensiv geführt wird. Ich weiß auch die Anliegen
Deutschlands bei der Bundeskanzlerin in guten Händen.
Frau Bundeskanzlerin, ich möchte mich ausdrücklich für
Ihre Standfestigkeit bei der Verhinderung von gemeinschaftlicher Haftung bedanken, für die immer wiederkehrende Mahnung nach Stabilität in jedem europäischen
Land, aber auch für die Mahnung in Richtung Wettbewerbsfähigkeit in jedem europäischen Land; denn davon
leben wir insgesamt.
Europa ist mehr als derEuro, aber der Euro ist ein
wichtiger Teil dieses Europas. In den letzten Monaten
haben wir gesehen, dass wir gerade in dieser Krise auch
ein Stück mehr zusammengewachsen sind. Das, was
noch vor einigen Jahren nicht so selbstverständlich war,
nämlich ein Stabilitätsbewusstsein
Frau Kollegin!
- ich bin gleich fertig -, ist in allen Herzen der europapolitisch Verantwortlichen spürbar geworden. Darauf
müssen wir aufbauen.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Kauder hat vorhin meinem Kollegen Steinbrück
vorgeworfen, er habe bei dem Hinweis darauf, dass die
Europäische Kommission Deutschland kritisiert und aufgefordert habe, die Finger vom Betreuungsgeld zu lassen, die Europäische Kommission falsch zitiert, und ihm
vorgeworfen, hier nicht die Wahrheit gesagt zu haben.
Ich will das gerne klarstellen, weil Herr Kauder unrecht
hat. Ich weiß nicht, Herr Kauder, ob es an der Übersetzung liegt oder woran auch immer. Ich lese es Ihnen einfach vor, und ich finde, damit sollten wir dann diese
Auseinandersetzung beenden.
({0})
- Ja, gut. - Ich unterstelle jetzt einmal, dass Sie Englisch
verstehen. Deswegen lese ich es einfach vor. Die Kommission hat in ihren länderspezifischen Empfehlungen
zu Deutschland in der vom Rat gebilligten Version vom
6. Juli 2012 ausgeführt:
The low full-time participation of women in the labour force is a concern.
Dann heißt es dort wörtlich:
Fiscal disincentives for second earners and the lack
of full-time childcare facilities and all-day schools
hinder female labour market participation.
„Fiscal disincentives for second earners“ heißt: finanzielle Fehlanreize für Zweitverdiener. In Deutschland
gibt es nur einen finanziellen Fehlanreiz für Zweitverdiener, den wir aktuell debattieren,
({1})
und das ist Ihre wirklich schwierige Idee, ein Betreuungsgeld einzuführen, um Leute bzw. Frauen daran zu
hindern, arbeiten zu gehen.
({2})
Das hat die Europäische Union kritisiert. Auf diesen Beschluss vom 6. Juli 2012 hat der Kollege Steinbrück zu
Recht hingewiesen.
({3})
Ihre Unterstellung, er habe hier die Unwahrheit gesagt,
ist falsch.
Ich finde die Tatsache, dass die Frau Bundeskanzlerin
in der Empfehlung dem Rat zugestimmt hat, in Ordnung.
Sie hat offensichtlich dieser Empfehlung der Kommission zugestimmt. Ich finde, es gibt ausreichend Gründe,
die auch in Ihrer eigenen Fraktion vorgetragen werden,
von diesem Unfug die Finger zu lassen. Warum ausgerechnet Sie das noch öffentlich verteidigen, ist mir, ehrlich gesagt, schleierhaft.
({4})
Der Kollege Kauder zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Gabriel, zunächst einmal finde ich es
bemerkenswert gerade aus Ihrem Munde und aus Richtung der SPD, dass der sogenannte Zweitverdiener immer automatisch eine Frau sein soll, wie Sie es gesagt
haben.
({0})
Das finde ich ausgesprochen bemerkenswert.
({1})
Jetzt zum Text. Wir sind uns einig, dass hier im Deutschen Bundestag bei der Beratung von Vorlagen der
deutsche Text verwendet wird.
({2})
Denn noch immer ist die Sprache im deutschen Parlament Deutsch.
Jetzt will ich Ihnen vorlesen, was dort steht, damit das
klar ist:
… die fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdiener
abschafft und die Zahl der Ganztagskindertagesstätten und -schulen erhöht.
({3})
Jetzt kann ich nur sagen: Wenn ein Kanzlerkandidat unter
fiskalischen Fehlanreizen für Zweitverdiener ausschließlich das Betreuungsgeld versteht, dann ist er sowieso fehl
am Platz. Das ist eine unglaubliche Interpretation.
({4})
Herr Steinbrück hat gesagt, dass das Betreuungsgeld
kritisiert wird. Das steht nicht drin. Ich rate dringend für
die Zukunft, sich präzise an das zu halten, was kommt.
Zitate müssen stimmen. Bei Ihnen haben sie nicht gestimmt, Herr Kollege.
({5})
Der Kollege Hermann Otto Solms hat das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, wir sind Ihnen
sehr dankbar, dass Sie die Weiterentwicklung von Europa heute in so klarer und präziser Form geschildert und
an die Grundprinzipien erinnert haben, auf deren Basis
wir Europa weiterentwickeln wollen.
({0})
Dazu gehört insbesondere die demokratische Legitimation der zuständigen Institutionen und Körperschaften.
In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
dass das Bundesverfassungsgericht uns erst vor kurzem
daran erinnert und angemahnt hat, dass über die Haushaltsmittel bzw. die Steuermittel in Deutschland der
Bundestag alleine zu entscheiden hat.
({1})
Wenn jetzt die Finanztransaktionsteuer in die Diskussion eingeführt wird, mit der ein europäischer Fonds
möglicherweise finanziert werden soll, dann will ich daran erinnern, dass dies aus unserer Sicht auf keinen Fall
ein Einstieg in eine Europasteuer ist. Das kommt überhaupt nicht infrage.
({2})
Das Geld der Finanztransaktionsteuer steht dem Haushalt zur Verfügung, und der Deutsche Bundestag entscheidet darüber, wie dieses Geld eingesetzt wird. Wenn
die Mittel des Strukturfonds und Kohäsionsfonds in Europa, die teilweise nicht sehr gut eingesetzt worden sind,
neu ausgerichtet werden und in vernünftige Projekte eingeführt werden, dann ist das eine gute Idee.
Die Finanztransaktionsteuer im Übrigen - daran will
ich auch erinnern - ist an bestimmte Bedingungen gebunden, denen wir, die Fraktionen, alle zugestimmt haben.
Sie soll nämlich nicht die Kleinsparer und die Altersversorgung der Riester-Rentner belasten, sie soll auch nicht
die Finanzierung des deutschen Mittelstandes belasten,
und sie soll den deutschen Finanzplatz im Wettbewerb
mit internationalen Finanzplätzen nicht zurücksetzen.
Dann bin ich gespannt, wie der Inhalt dieser Steuer aussehen wird.
Im Übrigen haben Sie daran erinnert, dass die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft gelten sollen, dass
mehr Wettbewerb in Europa organisiert werden muss,
dass das Prinzip der Subsidiarität endlich auch stärker
berücksichtigt werden muss, dass Hilfen gewährt werden, die aber strikt an Konditionen gebunden sind. Es
muss bei dieser Konditionalität bleiben.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass auch die FDP niemals den Austritt von Griechenland gefordert hat.
({3})
Was wir gefordert haben, ist, dass Griechenland die von
ihm selbst zugesagten Bedingungen auch erfüllt; denn
wenn es das nicht tut, geraten wir selbst in Glaubwürdigkeitskonflikte gegenüber unseren Steuerzahlern in
Deutschland.
({4})
Wir stellen Milliarden für Griechenland zur Verfügung;
aber wir wollen, dass das Geld auch vernünftig eingesetzt wird und dazu führt, dass die Wirtschafts- und Leistungskraft von Griechenland in Zukunft gestärkt wird,
und dass das Geld nicht zweckentfremdet eingesetzt
wird.
Schließlich gilt das Prinzip des Verbots der Haftungsvermischung. Es muss das Grundprinzip unserer Rechtsordnung gelten, dass jeder für sein Handeln verantwortlich ist und zur Verantwortung gezogen werden kann.
Dies gilt für den einzelnen Bürger genauso wie für den
Staat und die Staaten. Deswegen kann es keine EuroBonds oder andere Formen der Haftungsvermischung
geben.
({5})
Herr Kollege Steinbrück, Sie haben ja neulich in einer
Pressekonferenz einen großen Aufschlag zur Regulierung der Finanzmärkte gemacht. Die Zielsetzung ist in
Ordnung; damit sind wir völlig einverstanden. Ich habe
mir die einzelnen Vorschläge angeschaut und habe festgestellt, dass etwa 80 Prozent dieser Vorschläge bereits
realisiert sind
({6})
oder sich auf dem Weg der Realisierung befinden und
dass dann als origineller Vorschlag nur noch die Frage
des Trennbankensystems übrig bleibt. Dies ist, wie Sie ja
auch selbst wissen, in der Fachwelt höchst umstritten.
Ich will gar kein Urteil darüber fällen; aber das ist jedenfalls ein sehr umstrittener Vorschlag. Damit werden Sie
keine großen Punkte machen können. Für uns ist jedenfalls wichtig, dass es auch in Deutschland handlungsfähige, funktionsfähige Banken geben muss, die den deutschen Mittelstand bei einer Internationalisierung auch im
Ausland begleiten können.
({7})
Das ist die Aufgabe der Banken, und diese Zielsetzung
darf in keinem Fall eingeschränkt werden.
Die Bankenunion und die Aufsicht der Banken in Europa sind richtig. Aber sie muss so organisiert werden,
dass sie auch funktioniert. Jeder in diesem Hause weiß:
Eine neue Bankenaufsicht aufzubauen, geht nicht von
heute auf morgen. Da brauchen Sie viel Sachverstand
und qualifizierte Menschen; das dauert Jahre. Deswegen,
meine ich, sollte die Aufsicht so organisiert werden, dass
sie mit den nationalen Aufsichten eng zusammenarbeitet
und dass die europäische Bankenaufsicht im Zweifelsfall
eben den einzelnen Konfliktfall an sich ziehen kann,
aber nicht generell für alle Banken zuständig ist. Das
kann man auch nicht daran bemessen, ob eine Bank systemrelevant ist oder nicht. Wenn Sie an die spanischen
Sparkassen denken, werden Sie feststellen, dass sie genauso Gegenstand der Überprüfung der europäischen
Bankenaufsicht sein können wie eben Großbanken, die
tatsächlich systemrelevant sind. Das muss man dann im
Einzelfall entscheiden können.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion setzt
sich entschieden dafür ein, in Europa voranzukommen
und ein gemeinschaftliches Europa weiterzuentwickeln,
aber grundsätzlich auf der Basis der demokratischen Legitimation. Da gibt es noch erhebliche Defizite, die zu
beseitigen sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Norbert Barthle hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir befinden uns jetzt im Vorfeld des Europäischen Rates wieder in der Situation, uns ernsthaft mit dem Thema
Europa auseinandersetzen zu müssen. Nach wie vor
müssen wir einerseits kurzfristige Stabilisierungsmaßnahmen ergreifen - ich denke an Griechenland, ich
denke an Spanien -, andererseits aber auch grundsätzliche, weitreichende Weichenstellungen für die Zukunft
der Europäischen Union und der Euro-Zone vornehmen.
Lassen Sie mich deshalb drei kurze Anmerkungen machen.
Erstens. Es ist gerade in diesen aufgeregten Zeiten
immer gut, sich zu vergewissern, was unsere Grundpositionen sind. Sie lauten für mich eindeutig: Alle Mitgliedstaaten sind aufgefordert, solide zu wirtschaften und ihre
Volkswirtschaft wettbewerbsfähig aufzustellen.
Wir brauchen ein vernünftig reguliertes Finanzsystem, um Exzesse in jede Richtung vermeiden zu können.
Unsere Banken sind Voraussetzung für funktionsfähige
Märkte, sind der Schmierstoff für eine wachsende Wirtschaft, für wettbewerbsfähige Staaten. Daran darf man
nicht rütteln. Deshalb appelliere ich vor allem an die Opposition, von eventuellen Überlegungen, einen AntiBanken-Wahlkampf zu führen, Abstand zu nehmen. Wer
das macht, schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern
auch dem europäischen Gedanken.
({0})
Die Politik hat mit dem ESM und mit dem Fiskalvertrag grundsätzliche Bausteine für die Stabilitätsarchitektur in Europa geschaffen. Wir sind mit der Finanzmarktregulierung schon ein ganzes Stück vorangekommen.
Deshalb kann man feststellen, dass diese Koalition, die
Koalition aus CDU, CSU und FDP, der Motor für die
Stabilisierung Europas ist. Daran soll auch künftig nicht
gerüttelt werden, dabei soll es auch bleiben. Das hat uns,
nebenbei gesagt, auch der Weltwährungsfonds in Tokio
bestätigt, der von „significant progress“,
({1})
von signifikanten Fortschritten in Europa - ich habe
wörtlich zitiert -, gesprochen hat.
Signifikante Fortschritte sind erzielt worden, und das
war das Ergebnis der Arbeit dieser Koalition, meine Damen und Herren. Da brauchen wir auch keine Ratschläge
von der Opposition, die hier mit der Attitüde - Herr Kollege Steinbrück, erlauben Sie mir diese Anmerkung - eines etwas arrogant wirkenden Besserwissers vorgetragen
werden;
({2})
denn wer nur darstellt, was man in der Vergangenheit
vielleicht hätte besser machen können, anstatt zu sagen,
wohin man in Zukunft gehen muss, der verfehlt eigentlich sein Ziel.
({3})
Wenn Sie sich als ehemaliger Finanzminister hier hinstellen und sagen, eigentlich müssten wir doch unsere
Ziele, was die Konsolidierung anbelangt, viel schneller
erreichen, dann rate ich Ihnen: Wenden Sie sich an Ihre
eigenen Haushälter. Ich bin gespannt auf die Einsparvorschläge. Bei der Infrastruktur und den Investitionen können wir nicht weiter sparen. Wo es noch Spielräume
gäbe, das wäre im sozialen Bereich. Da bin ich einmal
gespannt auf Ihre Vorschläge.
({4})
Zweitens. Wir brauchen für die Zukunft Europas weitere Korrekturen an den Fundamenten unserer Währungsunion. Dazu trägt der jetzige Rat mit Sicherheit bei,
vor allem dann bis Ende des Jahres. Unsere Positionen
sind ganz klipp und klar: keine systematische Vergemeinschaftung von Schulden, keine Euro-Bonds, keine
Altschuldentilgungsfonds.
SPD und Grüne klatschen immer Beifall, wenn sie
den Begriff Altschuldentilgungsfonds hören.
({5})
Die Position muss klar sein: Ein Altschuldentilgungsfonds darf niemals dazu führen, dass man den Ländern,
die ohnehin über eine überhöhte Verschuldung klagen,
die Möglichkeit eröffnet, erneut Schulden aufzunehmen.
Das wäre der falsche Weg; er führt in die Irre. Deshalb
sind wir an dieser Stelle sehr zurückhaltend.
({6})
Wir sind der Meinung: Die Euro-Zone muss handlungsfähig bleiben. Deshalb darf es auch nicht sein, dass
einige wenige Staaten dauerhaft wichtige Projekte, die
zur Stabilität beitragen, blockieren können. Deswegen
braucht es neue Regelungen. Man hat immer wieder den
Eindruck: Auf den Gipfeln vereinbart man donnerstags
und freitags gute Beschlüsse, schließt man gute Verträge,
aber kaum ist der eine oder andere montags zu Hause,
dann überlegt er, wie er um die Regeln herumkommt.
Das ist in der Vergangenheit unter Rot-Grün mit den
Maastricht-Kriterien passiert. So etwas darf es in Zukunft nicht mehr geben. Auch dafür müssen wir Vorkehrungen treffen.
Wenn es dann noch gelingt, für entsprechende Kontrollmechanismen eine stärkere demokratische Legitimation einzubauen, dann kommen wir tatsächlich weiter.
Dabei kommen wir sehr schnell zur Frage der nationalen
Haushalte und zum Budgetrecht des Bundestages.
Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Europäischen Semester beschlossen, dass Haushalte bereits
im Entwurfsstadium nach Brüssel gemeldet werden. Das
ist gut und richtig, und das haben wir alle beklatscht. Es
entsteht jedoch die Frage: Was geschieht dann? Werden
die Haushalte nur zur Kenntnis genommen, oder gibt es
tatsächlich jemanden, der die Gelbe oder die Rote Karte
ziehen kann, wenn ein nationaler Haushalt aus dem Ruder läuft und Korrekturnotwendigkeiten entdeckt werden? Eine solche Person müssen wir auf europäischer
Ebene demokratisch legitimieren, damit sie die Gelbe
oder die Rote Karte ziehen und sagen kann: Freunde, ihr
müsst noch einmal darüber nachdenken, ob ihr auf dem
richtigen Weg seid.
({7})
Mehr Europa heißt an mancher Stelle auch: mehr Kontrolle, aber eben demokratisch legitimierte Kontrolle.
Drittens. Lassen Sie mich ein kurzes Wort zur Bankenunion sagen. Unsere Bundeskanzlerin hat recht,
wenn sie sagt: Zuerst braucht es eine funktionierende
Aufsicht; dann kann man über alles Weitere reden. Eine
Übernahme von Haftung kann nicht zuvor erfolgen, sondern erst dann, wenn es eine funktionierende Aufsicht
gibt. Deshalb genügt es nicht, sozusagen auf der Überholspur irgendwelche Strukturen aufs Papier zu schreiben. Aufsichtsstrukturen müssen auch installiert werden,
damit man entsprechende Vorkehrungen treffen kann.
Bei Fehlentwicklungen muss eingegriffen werden können. Wir brauchen europaweit so etwas wie eine Restrukturierungsmöglichkeit, um bei Fehlentwicklungen
eingreifen zu können, vor allem bei den großen, systemrelevanten Banken.
Wir wollen allerdings nicht, dass national, regional
oder gar lokal tätige Institute in diese Haftung einbezogen werden. Uns geht es um grenzüberschreitend tätige
Großbanken, um systemrelevante Banken. „Too big to
fail“ muss der Vergangenheit angehören. Dazu braucht
es entsprechende Vorkehrungen.
Ich freue mich, dass unsere Bundesregierung, allen
voran unsere Bundeskanzlerin, in der Vergangenheit in
all diesen Fragen immer mit großer Standhaftigkeit und
mit großer Beharrlichkeit verhandelt hat. Das war erfolgreich, und das wird auch in Zukunft erfolgreich bleiben. Ich wünsche unserer Bundeskanzlerin für die anstehenden Verhandlungen dieselbe Standhaftigkeit und
Beharrlichkeit.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in den letzten fünf Jahren drei Krisen erlebt:
erst die Bankenkrise 2007, die Finanzkrise, 2009 die
Wirtschaftskrise und Anfang 2010 den Beginn der
Staatsschuldenkrise. Die meisten wissen gar nicht, dass
wir, diese Koalition, erst seit drei Jahren an der Regierung sind. Wir hätten diese Probleme heute nicht, wenn
nicht Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends die
rot-grüne Koalition den Stabilitätspakt gebrochen hätte.
({0})
Herr Steinbrück hat in seiner Rede intensiv über Finanzmarktregulierung gesprochen. Wir haben in diesen
drei Jahren über zwanzig Maßnahmen der Finanzmarktregulierung durchgeführt. Das Wichtigste war: mehr Eigenkapital, insbesondere bei großen Banken. Heute
Nachmittag diskutieren wir über die Widerstandskraft
der Banken in Deutschland und in Europa, insbesondere
über die Themen Eigenkapital und Liquidität. Parallel
dazu diskutieren wir über die Regulierung von Hedgefonds. Parallel dazu diskutieren wir über eine Regulierung außerbörslich gehandelter Derivate.
Wir in Deutschland sind die Ersten, die ein Restrukturierungsgesetz verabschiedet haben - mit einer Bankenabgabe.
({1})
Wir sind die Ersten mit einer Regulierung des Hochgeschwindigkeitshandels. Wir sind die Ersten mit dem VerKlaus-Peter Flosbach
bot der sogenannten ungedeckten Leerverkäufe, der Spekulationsgeschäfte. Wir sind auch die Ersten mit einer
neuen Regelung der Honorarberatung. Wir haben den
Anlegerschutz verbessert.
Wir diskutieren auch über die europäische Aufsicht
über Banken, Versicherungen und Wertpapiere, die wir
auch inzwischen umgesetzt haben. Auch das Thema
Schattenbanken ist aktuell in der Beratung. Ebenso ist
der Vorschlag von Liikanen - Stichwort: Eigenhandel
der Banken bzw. Trennbanken - in der Debatte. Herr
Steinbrück, Sie haben über dieses Thema gesprochen.
Ich mache Ihnen keinen Vorwurf; denn Sie haben nicht
mit uns über diese Themen diskutiert. Ich habe von Ihnen mehrere Reden aus dem Jahr 2009 nachgelesen. Sie
haben immer über Ihre Bemühungen gesprochen, erst
auf der internationalen und der europäischen Ebene und
erst dann auf deutscher Ebene etwas umzusetzen. Herr
Steinbrück, wir haben uns nicht bemüht, wir haben umgesetzt. Diese Regierung mit Kanzlerin Merkel und mit
Finanzminister Schäuble hat in den letzten drei Jahren
Maßnahmen umgesetzt.
({2})
Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem Europäischen Rat. Es wird über eine einheitliche Bankenaufsicht diskutiert. Wir sprechen von der Bankenunion.
Kann die Aufsicht verbessert werden? Ich bin der Meinung: Ja, die Bankenaufsicht kann verbessert werden.
Das bisherige System der Regulierungsbehörde, der
EBA - so heißt sie -, in Verbindung mit den nationalen
Behörden ist meines Erachtens nicht ausreichend. Ich
denke, eine europäische Aufsicht einzurichten, die bei
systemrelevanten Banken durchgreift, die international
tätig sind, ist genau der richtige Weg. In der Startphase
sind hier natürlich die nationalen Aufsichtsbehörden gefordert. Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz.
Es kann aber nicht sein, dass alle Banken einer europäischen Aufsicht unterstehen. Es gibt das Prinzip der
Subsidiarität - Frau Hasselfeldt hat es gerade noch einmal deutlich dargestellt -, das besagt: Was vor Ort geregelt werden kann, muss auch vor Ort geregelt werden.
Deswegen kann ich nicht akzeptieren, dass zum Beispiel
Volksbanken, die vor Ort tätig sind, der Aufsicht von Europa unterstehen.
({3})
Nein, überall dort, wo es systemische Risiken gibt,
muss es selbstverständlich eine europäische Aufsicht geben, ansonsten ist die Aufsicht vor Ort zu regeln.
({4})
Die Rolle der europäischen Aufsicht soll die Europäische Zentralbank übernehmen. Das ist natürlich eine
neue Rolle für die Europäische Zentralbank; denn sie ist
bisher ausschließlich für die Finanzmarktstabilität zuständig. In Zukunft soll sie auch eine Aufsichtsrolle
übernehmen, und zwar neben der Geldversorgung. Nach
wie vor ist sie für die Banken zuständig. Hier gibt es natürlich einen Konflikt. Deswegen erwarten wir, dass eine
klare Trennung vorgenommen wird und dass, was die
Aufsicht angeht, eine demokratische Kontrolle gewährleistet ist.
Es wird viel davon gesprochen, dass schon zum 1. Januar die Bankenunion realisiert werden sollte. Nicht nur
wir, sondern auch die Wissenschaft haben größte Zweifel daran. Wer marktunabhängig ist, weiß, dass das im
Grunde nicht umsetzbar ist; denn es sind nur noch zwei
Monate bis zum Jahresende. Wir können eine gemeinsame Bankenaufsicht nur dann akzeptieren, wenn eine
spürbare Verbesserung gewährleistet ist, wenn die Zuständigkeiten geklärt sind und auch das Verhältnis von
Europäischer Zentralbank zu den nationalen Aufsichtsbehörden und den europäischen Behörden geklärt ist.
Es gibt den Vorwurf, dass viele dies schnell umsetzen
wollen, um möglicherweise ohne Konditionen an Gelder
aus dem ESM zu kommen. Deswegen fordere ich die
Bundeskanzlerin auf, bei den Verhandlungen mit den
Präsidenten der verschiedenen europäischen Institutionen deutlich zu machen, dass wir erst dann eine Abgabe
von Souveränitätsrechten akzeptieren werden, wenn die
Funktionsfähigkeit der europäischen Aufsicht gegeben
ist.
Auf europäischer Ebene wird bei dem Thema Bankenunion auch über das Restrukturierungsgesetz gesprochen. Wir halten das für den richtigen Weg. Banken, die
in eine Schieflage geraten, müssen saniert werden, sie
müssen aber auch gegebenenfalls restrukturiert oder
auch abgewickelt werden können. Wir müssen in dieser
Phase aufpassen, dass wir nicht Entscheidungen auf die
europäische Ebene verlagern, ohne dass vorher die nationale Verantwortung dafür geprüft wurde. Wir erwarten, dass jede Bank, die in Zukunft auf europäischer
Ebene geprüft wird, zunächst einen Stresstest durchläuft.
Es muss deutlich gemacht werden, dass die Verantwortung für die Banken zuerst auf nationaler Ebene wahrgenommen werden muss, damit nicht einige Länder ihre
Verantwortung auf Europa abschieben, um von Zahlungen befreit zu sein.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir akzeptieren keine gemeinsame Einlagensicherung.
Wir haben in Deutschland ein bewährtes System mit den
verschiedenen Säulen. Das hat sich bewährt. Wir sollten
nicht zerstören, was sich bisher bewährt hat.
({5})
Ich kann nur sagen: Diese Regierung steht für Stabilität. Diese Regierung steht zu Europa. Deswegen wünsche ich unserer Kanzlerin viel Erfolg beim anstehenden
Gipfel.
Vielen Dank.
({6})
Michael Stübgen hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit bald drei
Jahren beschäftigen wir uns in diesem Bundestag regelmäßig mit der Euro-Finanzierungskrise; ich glaube, so
formuliert man es am besten. Von Anfang an haben nicht
nur die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen,
sondern im Wesentlichen vier Fraktionen in diesem
Haus immer einen doppelten Ansatz versucht.
Zunächst war und ist es notwendig, dass wir direkt
mit den entsprechenden Rettungsschirmen auf die Krise
reagieren und Hilfsprogramme durchführen. Daran arbeiten wir seit zweieinhalb Jahren. Wir haben mit Inkrafttreten des Europäischen Stabilitätsmechanismus
jetzt auch ein effizientes, effektives System geschaffen.
Nach meiner Einschätzung sind die flankierenden
Maßnahmen, die die Europäische Zentralbank unabhängig, von sich aus für bestimmte Instrumente vorsieht, der
richtige Ansatz, um jetzt in der Krise schnell auf
schlechte Entwicklungen an den Finanzmärkten und auf
Entwicklungen im Zusammenhang mit der Euro-Staatenfinanzierung reagieren zu können.
Allerdings haben wir uns auch von Anfang an mit
dem Thema beschäftigt, dass die Ursache dieser Krise,
in der wir versuchen, kurzfristig das Schlimmste zu verhindern, auch in Fehlkonstruktionen der Europäischen
Union und der europäischen Strukturen liegt.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns damit beschäftigen. Schon vor anderthalb Jahren haben wir mit dem
Euro-Plus-Pakt auf Fehlkonstruktionen der Europäischen Union reagieren wollen. Das sogenannte Six-Pack
- die Kanzlerin hat darauf hingewiesen -, die Schärfung
der Kontrolle der Fiskalpolitik, aber auch der Wirtschaftspolitik der Euro-Länder, ist ein wichtiger Bestandteil für einen langfristigen Umbau.
Wir alle wissen, dass die Europäische Union an verschiedenen Punkten noch weiter umstrukturiert werden
muss. Hierüber wird der Europäische Rat heute Abend
und morgen in einer Art Zwischenetappe diskutieren, jedoch noch nicht zu Endergebnissen kommen.
Nach meiner Einschätzung ist das angestrebte Ziel
der vier Präsidenten, die sogenannte Vier-Säulen-Struktur, der richtige Ansatz. Die vier Präsidenten haben festgestellt: Wir brauchen eine gemeinsame europäische
Bankenkontrolle, wir brauchen eine europäische Fiskalkontrolle, wir brauchen eine stärkere Verzahnung der
europäischen Wirtschaftspolitik für mehr Wettbewerb
und Wachstum, und wir brauchen für die neuen Instrumente und Kompetenzübertragungen an die Europäische
Union eine ausreichende demokratische Kontrolle und
Legitimierung.
Zu einem dieser Punkte liegen uns mittlerweile konkrete Vorschläge der Europäischen Kommission, und
zwar zur sogenannten europäischen Bankenkontrolle,
sowie zwei Verordnungsvorschläge, einer zum Kontrollgremium und einer zur Umstrukturierung der EBA, vor.
Hierzu will ich einige Punkte nennen.
Ein grundsätzliches Problem besteht darin - das kann
man in dem vorgeschlagenen Text leider nicht genau
nachlesen -, als welches Instrument die Europäische
Kommission die gemeinsame Bankenaufsicht sieht. Sie
sieht diese gemeinsame Bankenaufsicht eben nicht als
eine langfristige, nachhaltige Orientierung zu mehr Kontrolle der Bankenpolitiken in der Europäischen Union,
sondern als kurzfristiges zusätzliches Kriseninstrument.
Das erkennt man auch, wenn man sich den Verordnungsvorschlag anschaut. Dieser ist sehr kurz und knapp
gefasst, geht in keinem einzigen Punkt ins Detail, soll
am besten ganz schnell verabschiedet werden und am
1. Januar 2013 in Kraft treten. Wenn wir einmal annehmen, das würde funktionieren, dann wären wir spätestens Mitte 2013 in der Lage, durch den ESM - kleine
Änderungen sind notwendig, so die Vorstellung der
Kommission -, eine direkte Bankenrekapitalisierung
vorzunehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser von
der Europäischen Kommission vorgestellte Weg ist ein
Holzweg. Ich kann zwar verstehen, dass krisengeschüttelte Euro-Länder natürlich überlegen, möglicherweise
über diesen Umweg Rettungsmittel zu erhalten, wenn sie
notleidend sind, ohne sich mit der lästigen Troika auseinandersetzen zu müssen. Verstehen kann ich das, es
wäre aber trotzdem der falsche Weg.
Wenn wir auf diese Weise in die Situation kommen
würden, die Kontrolle und die Konditionalität der europäischen Hilfen aufzugeben, dann beraubten wir uns der
Sicherheit, dass die Gelder, die wir als Bürgschaften zur
Verfügung stellen, auch zurückgezahlt werden. Das wäre
ein falscher Weg.
({0})
Kollege Flosbach hat es angesprochen: Der Ansatz
der Europäischen Kommission ist ein sehr zentraler, man
kann auch sagen: zentralistischer. Nach Vorstellung der
Europäischen Kommission soll die EZB in Kombination
mit der EBA alle europäischen Banken am besten auf
Anhieb kontrollieren, weit über 6 000. Abgesehen davon, wieweit das überhaupt möglich ist, was für ein Heer
von Kontrolleuren man brauchte, um das umzusetzen,
und wie lange es dauern würde, bis es effizient funktionieren kann, ist hier über eine wichtige Frage zu
entscheiden. Nach unseren Erfahrungen mit der europäischen Finanzierungskrise wissen wir, dass die systemischen Banken starke Auslöser großer Krisen sind. Systemische Banken - das wissen wir - sind durch nationale
Kontrollbehörden nicht ausreichend zu kontrollieren.
Also ist es wichtig, dass wir zu einer europäischen Kontrolle kommen, wobei sich aber die Europäische Zentralbank in erster Linie auf die systemischen Banken konzentriert.
Allerdings muss ich einen Zusatz machen: Die Europäische Kommission liegt in einem Punkt richtig. Wir
wissen aus der europäischen Verschuldungskrise und aus
den Erfahrungen gerade mit der Immobilienblase in Spanien, dass es nicht nur die systemischen Banken sein
müssen, die eine falsche Politik, eine geradezu abenteuerliche Kreditvergabepolitik betreiben, sondern es können - wie in Spanien über viele Jahre - auch andere sein.
Insofern wissen wir: Es wird nicht ausreichen, dass eine
europäische Kontrolle vor kleinen und Regionalbanken
absolut haltmacht. Deswegen unterstütze ich den Vorschlag der Bundesregierung, in einem solchen Fall zu einem Einstiegsrecht der oberen Behörde zu kommen,
welches klar definiert ist und nur dann wahrgenommen
werden kann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt,
dass die nationalen Kontrollen versagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte
diesen Kommissionsvorschlag für eine gute Arbeitsgrundlage. Ich denke aber, dass wir noch sehr intensiv an
den Detailfragen arbeiten müssen. Wenn wir dies hinbekommen, dann werden wir zu einer funktionierenden
europäischen Bankenkontrolle kommen. Das wird nach
meiner Einschätzung aber frühestens übernächstes Jahr
sein und nicht schon Anfang nächsten Jahres.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD, den Sie auf Druck-
sache 17/11003 finden. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Zuge-
stimmt hat die einbringende Fraktion. Abgelehnt wurde
er von CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Linke
und Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d so-
wie den Zusatzpunkt 2 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung
- Drucksache 17/10116 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen - Ausbildung für alle garantieren
- Drucksache 17/10856 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen Ausbildung
ermöglichen
- Drucksache 17/9586 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2012
- Drucksache 17/9700 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht ({4}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin
Neumann ({5}), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das deutsche Berufsbildungssystem - Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel
- Drucksache 17/10986 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Willi Brase
hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Ausbildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben wie immer einen
gelungenen und guten Berufsbildungsbericht, der die
Situation anhand von Zahlen verdeutlicht. Wenn wir
gleich hören werden, dass alles wunderbar ist, dass wir
sehr viele Ausbildungsplätze haben, aber angeblich nicht
genügend Auszubildende, nicht genügend Jugendliche,
die ausbildungsreif sind, so verweise ich auf die BIBB23842
Studie, die feststellt: Das, was wir derzeit zahlenmäßig
am Ausbildungsmarkt erleben, ist auch ein Produkt der
demografischen Entwicklung und weniger ein Produkt
der Regierungspolitik von Rot-Grün.
({0})
Wir haben derzeit 50 Prozent der jungen Leute in
dualer Ausbildung, 20 Prozent in schulisch-beruflicher
Ausbildung nach Landesrecht und 30 Prozent im Übergangssystem. Wir von der SPD sind der Meinung, dass
das, was derzeitig im Übergangssystem abläuft, nicht
mehr ertragbar ist und die Aktivitäten, die im Nationalen
Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in
Deutschland beschlossen wurden, ungenügend, teilweise
sogar gar nicht umgesetzt wurden. Es ist zu kritisieren,
dass sich die Bundesregierung im Pakt zwar verpflichtet
hat, ihren Wust an Maßnahmen im Übergangssystem ein
Stück weit zu durchforsten, dass aber als Ergebnis herausgekommen ist: Wir können nichts ändern, aber wir
wollen das zukünftig bei neuen Maßnahmen ein bisschen berücksichtigen. - Das ist absolut mangelhaft. Wir
wissen, dass die Vielfalt der Maßnahmen im Übergangssystem zu groß und daher nicht hilfreich ist.
({1})
Da verweise ich doch gerne auf neun Bundesländer,
die 2009 die Initiative „Übergang mit System“ gestartet
haben. Die Bertelsmann-Stiftung - keine Kaderschmiede
der SPD - hat diesen Prozess begleitet und festgestellt:
Wenn wir dieses Übergangssystem mit der Vielfalt an
Aktivitäten auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundesebene und teilweise EU-finanziert weiterführen, werden wir auch noch 2025 230 000 junge Leute mehrjährig
in diesem Übergangssystem vorfinden. Das ist verkehrt
und falsch. Wir müssen schauen, dass wir von diesem
System wegkommen.
({2})
Sie, die Vertreter der Bertelsmann-Stiftung, haben weiter überlegt: Wie können wir unsere Forderung „Kein Abschluss ohne Anschluss“ auf den Weg bringen? - Sie sagen: Würden wir sozusagen eine Ausbildungsgarantie für
die jungen Leute aussprechen, dann könnten wir nicht nur
real Geld sparen - das Übergangssystem kostet mittlerweile 6 Milliarden Euro jährlich und ist insofern höchst
ineffizient -, sondern langfristig auch 150 000 oder
160 000 junge Menschen direkt und besser qualifizieren
und in Ausbildung bringen.
Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auffordern, diesen Prozess zu unterstützen, damit die Vielfalt der Maßnahmen in diesem System endlich verringert
wird. Es ist völlig falsch, meine Damen und Herren.
({3})
Wenn wir von Ausbildungsgarantie sprechen, dann
sagen wir als SPD: Ja, wir wollen das machen, was diese
neun Bundesländer ein Stück weit - übrigens werden
alle farbenmäßig völlig unterschiedlich regiert - auf den
Weg bringen wollen. Wir wollen, dass das duale System
weiter ausgebaut wird. Ich sagte eingangs, dass sich
50 Prozent der Auszubildenden im dualen System befinden. Dieser Anteil müsste gesteigert werden. Schließlich
gibt es immer noch genügend Betriebe, die zwar die
Ausbildungsfähigkeit besitzen, aber nicht ausbilden. Insofern erwarten wir auch vom Nationalen Pakt Initiativen, damit mehr Betriebe dazu gebracht werden, sich an
der dualen Ausbildung zu beteiligen. Das geht nicht mit
Schönwetterreden. Da muss man teilweise auch Druck
machen.
({4})
Also, diese Ausbildungsgarantie ist machbar. Wenn
diese im dualen System allerdings nicht unterzubringen
ist, dann sind wir für eine staatlich finanzierte Ausbildungsunterstützung. Das kann im vollzeitschulischen
Bereich sein. Das kann bei den ÜBSen sein. Das kann
bei den Berufsbildungszentren sein, und das kann auf
der Grundlage BBiG, Handwerksordnung oder möglicherweise auch Landesrecht geschehen. Das ist für die
jungen Menschen allemal besser, als ein, zwei oder drei
Jahre im Übergangssystem zu verweilen.
({5})
Wenn das nicht reicht, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen, dann müssen wir uns um die kümmern, die
tatsächlich Probleme haben und möglicherweise noch
nicht die nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen besitzen, um in Ausbildung zu gehen. Da erachte ich die Einführung einer „Einstiegsqualifizierung Plus“ als weiteres
Segment der Abqualifizierung oder der weiteren Austarierung als völlig falsch. Es reicht völlig aus, die Einstiegsqualifizierung zu nehmen und diese Einstiegsqualifizierung nur bei den Jugendlichen, die diese benötigen,
und nicht bei den sogenannten Marktbenachteiligten vorauszusetzen. Das ist der falsche Weg.
Wenn die Wirtschaft wirklich im Sinne von Fachkräfteentwicklung Leute braucht, dann muss man den Weg
gehen, dass man auch den Marktbenachteiligten hilft.
Zur Not müssen wir auch die Hürden der Einstiegsqualifizierung erhöhen, aber wir sollten nicht „Einstiegsqualifizierung Plus“ einführen. Das ist der falsche Weg.
({6})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, weil dieser
zunehmend eine Rolle spielt. Das ist die Qualität und die
Qualitätsentwicklung in der beruflichen Bildung. Wenn
es richtig ist, Frau Ministerin, dass der Nationale Pakt
für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs diesen Punkt
als wesentlichen Aspekt enthält, dann darf man auch einmal nachfragen, was wir mit den 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss
machen. Ich meine diejenigen, die weder eine duale Berufsausbildung noch eine Ausbildung nach Landesrecht
noch eine Assistentenausbildung oder einen Hochschulabschluss haben. Was machen wir mit denen? Wie packen wir die an? Das sind 1,5 Millionen. In der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen sind es sogar 2 Millionen.
Das heißt, wir haben eine Menge Leute, die nicht qualifiziert sind. Wir brauchen endlich konzeptionelle Vorschläge, wie wir diesen Menschen über das SGB III oder
das SGB II - eventuell benötigen wir dafür Steuermittel eine Chance geben können.
Wir wissen alle: Wer nicht qualifiziert ist, geht in den
Niedriglohnbereich. Ich spare mir jetzt einen Debattenbeitrag dazu. Im Niedriglohnbereich verdient er aber
nicht viel, und im Alter muss er Grundsicherung bekommen. Das ist doch „linke Tasche - rechte Tasche“. Das
bringt doch nichts. Legen Sie ein gutes Konzept vor, wie
wir diese hohe Zahl von 1,5 Millionen Menschen ein
Stück weit verringern können.
({7})
Die DGB-Jugend befragt alljährlich - auch dieses
Jahr wieder - die an der dualen Ausbildung Beteiligten,
vor allen Dingen die Auszubildenden, wie sie die Qualität ihrer Ausbildung einschätzen. Es verwundert die
Fachleute nicht, dass dabei herauskam, dass der Bereich
Hotel und Gaststätten allergrößte Probleme hat. Gleichzeitig diskutieren wir - ich bin auch Mitglied im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - über die Weiterentwicklung des Tourismus.
Dazu sage ich: In diesem Bereich müssen schnell Maßnahmen ergriffen werden. Die Abbrecherquote ist hoch.
Zwischen 40 und 50 Prozent der Ausbildungsverträge
werden aufgelöst. Zwischen 20 und 25 Prozent der Ausbildungsplätze sind unbesetzt.
Ich will darauf hinweisen - damit will ich nicht Werbung machen, sondern verdeutlichen, dass manches, was
wir hier beschlossen haben, durchaus Sinn hatte -, dass
sich im Kammerbezirk meines Wahlkreises Siegen-Wittgenstein Vertreter der Gewerkschaften, der Kammer und
der Betriebe zusammengesetzt haben, um die Frage zu
klären, wie man diese schwierige Situation verändern
kann. Ich sage nichts zu dem Prüfungsergebnis; denn das
wäre schon fast peinlich.
Die Frage ist: Wie können wir diese Situation ändern?
Im Jahr 2005 haben wir mit der Reform des BBiG den
örtlichen Berufsbildungsausschüssen mehr Aufgaben
gegeben und sie beauftragt, sich um die Qualität zu kümmern. Ich kann nur jeder und jedem empfehlen, vor Ort
zu schauen, wie es um die Qualität bestellt ist. Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte. Manchmal müssen
sich auch die Kammern bewegen. Manchmal müssen sie
auf Unternehmen zugehen und Druck machen, damit die
Ausbildung besser wird. Schauen Sie sich den Ausbildungsreport 2012 der DGB-Jugend an. Darin steckt eine
Aufforderung, darüber zu diskutieren, wie wir die Qualität im Bereich der beruflichen Bildung verbessern können. Wenn die Fachkräftediskussion einen Sinn haben
soll, dann müssen wir bei der Qualität ansetzen. Dann
dürfen Überstunden, schlechte Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen usw. usf. nicht auf der Tagesordnung
stehen. Dann muss die duale Ausbildung auch ein hohes
Maß an Qualität aufweisen. Dann ist sie vertretbar, und
dann lässt sie sich auch im Ausland gut verkaufen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die berufliche
Bildung, die duale Ausbildung erfahren international
derzeit eine Zustimmung und Akzeptanz wie nie zuvor.
Das hat zwei Gründe: Der eine ist die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten, und zwar nicht nur in europäischen Ländern. In vielen Regionen der Welt besteht die
Gefahr, dass ein akademisches Proletariat entsteht. Der
zweite Grund hängt mit der Frage zusammen, wie es angesichts des raschen technologischen Wandels und der
raschen Entwicklung des Selbstverständnisses und der
Anforderungen der Unternehmen gelingen kann, die
richtigen Fachkräfte zu bekommen.
Angesichts dessen sagen Kollegen aus Europa, aus
Südamerika, aus Indien, aus China und vielen anderen
Ländern: Wir wollen diese starke Seite des Bildungssystems in den deutschsprachigen Ländern einführen. Deshalb werden wir eine europäische Berufsbildungskonferenz in Berlin durchführen. Wir wollen uns nicht nur mit
der Frage beschäftigen, wer aus anderen Ländern kurzfristig nach Deutschland kommen kann, um hier ausgebildet zu werden, sondern wir wollen uns auch mit der
Frage beschäftigen, wie die Bildungssysteme und Lernkulturen in anderen Ländern durch die Zusammenarbeit
verschiedener Akteure und mithilfe eines großen Einsatzes der Unternehmen weiterentwickelt werden können.
Es stimmt, was im BIBB-Bericht steht, also im Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung: Die jetzige
Entwicklung hat mit der demografischen Veränderung
zu tun.
Lieber Herr Brase, Sie haben recht, wenn Sie sagen,
dass die guten Zahlen nicht nur das Ergebnis rot-grüner
Regierungspolitik sind; da stimme ich Ihnen sofort zu.
Das Ergebnis nur unserer Regierungspolitik sind sie aber
auch nicht. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün ist ausschlaggebend. Aber unterschätzen wir nicht das, was
diese Bundesregierung seit 2005 gerade im Blick auf
benachteiligte Jugendliche, gerade im Blick auf die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung auf den Weg gebracht hat. Ohne kluge Politik entwickelt sich Berufsbildungspolitik nicht weiter.
({0})
Damit komme ich zu den Fakten. Die Zahl der Ausbildungsverträge hat sich bundesweit um 10 000 erhöht.
Entsprechend ist die Zahl derer, die unversorgt sind, deutlich zurückgegangen. Verglichen mit 2010 gibt es einen
Rückgang um 10 000 bzw. 5,7 Prozent. In dieser Gruppe
sind jetzt noch rund 174 000. Das ist die Gruppe, die Sie
unter anderem angesprochen haben, um die wir uns besonders kümmern. Man muss allerdings auch sagen: Allein in den letzten vier Jahren ist diese Gruppe um
100 000 zurückgegangen. Der Rückgang um 100 000 im
Übergangssystem ist nicht Konsequenz der demografischen Entwicklung, sondern Konsequenz zahlreicher
Maßnahmen mit vielen Akteuren. Dazu gehört unter anderem der Ausbildungspakt der Bundesregierung.
({1})
Die Zahl der Eintritte in das Übergangssystem ist um
8 Prozent gesunken. Auch das ist interessant, Herr
Brase: Die Zahl derer, die in das Übergangssystem gekommen sind, ist seit 2005 um knapp 30 Prozent gesunken. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich. Wir haben eine
Verbindung von richtigen Maßnahmen.
Dies gilt übrigens auch beim Einstieg. Ich halte die
Initiative „EQ Plus“, die im Rahmen des Paktes vereinbart worden ist, für nicht so schlecht. Wir müssen immer
wieder über Maßnahmen nachdenken, mit deren Hilfe
die, die sich schwertun, den Einstieg schaffen, nicht, um
dann niedriger qualifiziert zu werden, sondern um erfolgreich den Einstieg zu schaffen und über die zweijährige in die dreijährige Ausbildung zu kommen. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass die richtigen Maßnahmen, die
richtigen Weichenstellungen und die demografische Entwicklung zu einem deutlichen Abbau des Übergangsbereichs in den nächsten Jahren führen können.
({2})
Schließlich noch etwas zur Gruppe der Ungelernten;
auch diese hat Herr Brase angesprochen. Ich nenne jetzt
einmal die Altersgruppe 20 bis 24 als Beispiel.
({3})
Man kann nicht einfach warten, bis sie irgendwo eine
Chance bekommen. Deshalb erinnere ich an die Förderinitiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“. Da wird übrigens deutlich, dass gerade im Bereich der Nachqualifizierung die Möglichkeiten, Module
anzubieten, eine hohe Bedeutung haben. Das gilt für den
Weiterbildungsbereich, aber auch für den Nachqualifizierungsbereich. Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“ des BMBF zeigt gute Quoten; auch in dieser
Gruppe gibt es einen Rückgang.
Die Bundesagentur für Arbeit rechnet bis zum Jahr
2025 mit einem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen
um 6,5 Millionen. Natürlich sind diese Prognosen über
unsere Bevölkerungsentwicklung ein ganz wesentlicher
Grund dafür, dass wir sagen: Wir müssen erreichen, dass
die Unternehmen in unserem Land Fachkräfte bekommen. Aber ich füge hinzu: Für mich sind die Zukunftschancen der jungen Generation nach wie vor die allererste Motivation in der Berufsbildungspolitik. Das muss
Markenzeichen unserer Politik sein, und das ist Markenzeichen unserer Politik. Wir müssen Sorge dafür tragen,
dass junge Leute in Deutschland Zukunftsperspektiven
haben. Die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, müssen auch in einen Prozess der internationalen Weiterentwicklung der Bildungssysteme einfließen.
({4})
Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es
zusätzlichen Reformbedarf. Die Stichworte hier sind:
Ausbildung in der Fläche, Berufsgruppen. Wer berufliche Schulen und Ausbildungsbetriebe besucht, der weiß,
dass es für die Ausbildungsbetriebe wichtig ist, dass die
Ausbildung in der Nähe des Betriebes stattfindet. Aber
bei immer mehr klassischen Berufsbildern müssen die
jungen Leute viele Kilometer fahren, um überhaupt noch
beschult zu werden. Deshalb werden wir den Prozess der
Bildung von Berufsgruppen im Zuge der Neuordnung
von Berufsbildern deutlich voranbringen. Wir werden
Sorge dafür tragen, dass attraktive Bildungs- und Berufsperspektiven damit verbunden sind.
Berufsfamilie oder Berufsgruppe - wie man es nennt,
ist mir egal - heißt auch: Jetzt haben wir die Chance,
dass bei Neuordnungen, bei Weiterentwicklungen noch
stärker definiert wird: Welchen Grundbestand an Kompetenzen haben wie viele Berufe? Nehmen Sie etwa den
Bäcker, den Konditor oder den Speiseeismeister. Was ist
das gemeinsame Fundament? Wie kann eine Berufsfamilie aussehen? Was sind Module für Spezialisierung?
Das beinhaltet auch neue, zusätzliche Perspektiven,
weil der, der das eine Modul belegt hat, in der Lage ist
und die Möglichkeit hat, im Laufe seines Berufslebens
weitere Module hinzuzunehmen. Die Debatte über Modularisierung werden wir also ganz anders führen als vor
einigen Jahren. Da bestand die Gefahr, dass junge Leute
bei Modularisierung zu früh abspringen und nicht eine
wirklich qualifizierende Ausbildung erhalten. Heute ist
der Begriff „Modularisierung“ auch bei den Sozialpartnern sehr viel mehr mit Weiterentwicklungsperspektiven
verbunden. Damit müssen wir zügig vorangehen.
({5})
Schließlich war ein ganz wichtiger Punkt - das merke
ich überall, vor allem im Handwerk, aber auch bei den
Industrie- und Handelskammern -: Die Gleichsetzung
des Technikers und des Meisters mit dem Bachelor ist im
deutschen Qualifikationsrahmen ein unglaublich wichtiges Symbol gewesen. Die symbolische Wirkung ist noch
viel höher als das, was damit an Philosophie der Berufsbildungspolitik tatsächlich verbunden ist.
Das Gleiche gilt für das Anerkennungsgesetz. Auch
hier gibt es viele positive Nachrichten darüber, wie sich
die Kammern vor Ort darum kümmern, dass die Anerkennungsverfahren sowie die konkreten Prozesse positiv
ablaufen. Angesichts dessen sage ich:
Erstens. Die Demografie wird uns vor weiteren Reformbedarf stellen. Ob man sie jetzt positiv oder negativ
empfindet, ist ganz egal. Tatsache ist: Unsere Unternehmen bieten mittlerweile Ausbildungsstellen an, die nicht
besetzt werden. Das macht ihnen Sorge, weil sie früher
ihre Auszubildenden übernommen haben. Nun fragen
sie uns, wie es noch besser gelingen kann, dass sie genügend Fachkräfte bekommen.
Zweitens. Diejenigen, die im Übergangssystem sind,
brauchen viele verschiedene Wege, um die Kompetenzen zu erhalten, die ihnen einen guten Einstieg in die berufliche Bildung ermöglichen.
Drittens. Wir werden bei der Neuordnung nicht mehr
immer mehr Spezialisierung zulassen dürfen. 360 Ausbildungsberufe sind - dies kann man sagen - ein Zeichen
für unsere sehr ausdifferenzierte Landschaft. Aber es
dürfen nicht mehr werden, und es muss in der großen
Gruppe der 360 Ausbildungsberufe Strukturen geben,
die zu deutlich mehr Berufsgruppen oder Berufsfamilien
führen.
Insofern mein Votum: Lassen Sie uns jetzt nicht über
solch alte Klamotten wie Ausbildungsgarantie oder Umlagefinanzierung reden. Vielmehr setzen wir auf das freiwillige hochverantwortliche Engagement unserer Unternehmen. Ich möchte die Unternehmen jetzt dafür
gewinnen, sich eben auch in Spanien, in Portugal, in der
Slowakei, in Indien, wo Anfang November darüber beraten wird, und anderswo dafür zu engagieren. Das hilft
unseren jungen Leuten mehr. Deren Zukunftschancen
müssen das erste Ziel sein, das uns leitet, wenn wir über
Berufsbildungspolitik sprechen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Schavan,
über genau diese alten Klamotten wie Ausbildungsgarantie müssen wir in Anbetracht der Probleme heute sehr
wohl noch reden. Aber darauf werde ich später noch zurückkommen.
({0})
Unsere Regierungsfraktionen sagen immer: Die Ausbildungsplatzchancen steigen. Es gibt mehr unbesetzte
Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Das größte
Problem ist, 30 000 freie Ausbildungsstellen zu besetzen. - Aber das hat nichts mit der Realität zu tun.
Der Berufsbildungsbericht 2012 besagt, dass von den
bei der Bundesagentur für Arbeit rund 540 000 gemeldeten Ausbildungsbewerberinnen und -bewerbern nur gut
die Hälfte einen Ausbildungsplatz bekommen hat. Bei
über 100 000 jungen Menschen weiß diese Agentur, wo
sie verblieben sind. Aber sie haben keinen Ausbildungsplatz erhalten. Von fast 86 000 Bewerberinnen und Bewerbern weiß man nicht, was aus ihnen geworden ist.
Aber auch sie haben keinen Ausbildungsplatz erhalten.
Wir halten also fest: Sie zählen fast 200 000 junge Menschen in Ihrer Statistik als „vermittelt“, obwohl sie gar
keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
({1})
Das ist doch nichts anderes als schnöde Trickserei. So etwas lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({2})
Das heißt also, insgesamt befinden sich weit über
200 000 junge Menschen im Übergangssystem. 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren
haben keine Ausbildung. Rechnen wir die Menschen bis
34 Jahre hinzu, sind es sogar 2,2 Millionen. Die Linke,
Frau Schavan, bleibt dabei: Setzen Sie das Recht auf
Ausbildung um und führen Sie endlich die Ausbildungsumlage ein!
({3})
Das zweite Problem. Trotz des Ausbildungspakts
bilden nur noch 22,5 Prozent der Betriebe aus. Der
Grund - so die Arbeitgeber -: Nur gut die Hälfte der Betriebe darf noch ausbilden, und kleine Betriebe können
ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. - 2003, meine
Damen und Herren, wurde die Pflicht, eine Ausbildereignungsprüfung vorzuweisen, aufgehoben, um zu ermöglichen, dass auch Betriebe ohne Ausbilderin oder
Ausbilder ausbilden. Es wurden aber fast keine neuen
Ausbildungsplätze eingerichtet. Sechs Jahre später
wurde die Ausbildereignungsprüfung deshalb wieder
eingeführt.
Was also hindert die Betriebe tatsächlich daran, auszubilden? Arbeitgeber in kleinen Betrieben sagen mir:
Der Druck ist sehr groß. Jeder Auftrag muss schnell und
fachgerecht ausgeführt werden. Es gibt keine Ausbilder,
oder man hat keine Zeit, um den Lehrlingen alles zu erklären und die Erklärungen zu wiederholen. Generell
brächten die Azubis zu wenig Praxiserfahrung mit. - Wir
Linke sagen: Kleine Betriebe müssen unterstützt werden, wenn sie eine Ausbildungsbefähigung erwerben
wollen. Sie sollen gefördert werden, wenn sie erstmals
einen Ausbildungsplatz schaffen oder einen zusätzlichen
Ausbildungsplatz einrichten. Auch die Ausbildung im
Verbund wollen wir fördern.
({4})
Ich selbst bilde im Bundestag eine Auszubildende
aus. Sicher: Man muss sich darauf einstellen, und man
muss sich umstellen. Allerdings eröffnet man einem jungen Menschen Zukunftschancen. Deshalb, meine Damen
und Herren, lohnt sich Ausbildung. Als Lehrerin für
23 Ausbildungsberufe weiß ich, wie wichtig eine kontinuierliche Anbindung an den Betrieb ist.
An dieser Stelle wende ich mich den Grünen zu: Mit
Ihrem Konzept DualPlus propagieren Sie immer noch
die flächendeckende Modularisierung der Ausbildung.
Sie sehen den Vorteil darin, dass Betriebe nicht mehr die
gesamte Ausbildungsverantwortung übernehmen müssen, sondern nur noch einzelne Ausbildungsbausteine
anbieten. Das ist Unsinn. Denn junge Menschen, insbesondere Menschen mit Unterstützungsbedarf, brauchen kein Modulhopping, sondern einen verlässlichen
Betrieb, in dem sie handlungsorientiert lernen und kontinuierlich die Berufsbildungsreife erwerben.
({5})
Dritter Punkt - nun zu Ihnen, Frau Schavan -: Sie erzählen uns häufig von Bildungsketten, Berufsorientierung und Einstiegsbegleitung. Dann behaupten Sie, dass
der demografische Wandel die Ausbildungsprobleme
von ganz allein lösen wird.
({6})
Auch das ist Unsinn.
({7})
Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt klipp und
klar: Die Beschäftigungschancen von Menschen ohne
Berufsabschluss werden sich durch die demografische
Entwicklung nicht verbessern. - Eine der wichtigsten
Aufgaben ist doch heute, für die 1,5 Millionen jungen
Menschen ohne Berufsabschluss Perspektiven zu schaffen. Dies gilt allerdings auch im Hinblick auf die
Menschen im Übergangssystem und alle Menschen ohne
Berufsabschluss.
Vierter Punkt - nun zur Einstiegsqualifizierung -: Gedacht war sie, um jungen Menschen mit eingeschränkten
Vermittlungsperspektiven über die Praxis im Betrieb einen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Die Arbeitgeber erhalten dafür monatlich 216 Euro und einen Zuschuss zur
Sozialversicherung. Die Praxis zeigt aber, dass nicht nur
sogenannte benachteiligte junge Menschen eine Einstiegsqualifizierung erhalten haben, sondern zur Hälfte
auch junge Menschen mit mittlerem Schulabschluss und
Abitur. Von all diesen jungen Menschen haben direkt
nach der Maßnahme aber nur 44 Prozent einen Ausbildungsplatz erhalten. Ich frage Sie: Welche dieser jungen
Menschen - die ohne Schulabschluss oder die mit
Hauptschulabschluss oder die mit mittlerer Reife oder
die mit Abitur? - haben die Ausbildungsstellen wohl besetzt?
Fest steht jedenfalls, dass der begleitende Berufsschulunterricht, der ja keine Pflicht ist, meist nicht in
Anspruch genommen wird. Es gibt häufig kein Zertifikat, also keinen Nachweis über die erworbenen Qualifikationen.
Bei all diesen Mängeln verstehe ich nicht, warum die
SPD die Einstiegsqualifizierung als zentrales Instrument
im Übergangsbereich festschreiben will.
Dennoch finde ich: Dieses Instrument kann viele Vorteile bieten, wenn es richtig ausgestaltet wird. Ich sage
Ihnen: Wer eine Einstiegsqualifizierung erwirbt, der
muss auch einen Ausbildungsplatz bekommen. Die
Grundregel lautet für uns: Alle Maßnahmen müssen individuell auf die einzelnen Menschen abgestimmt werden und verlässlich in Ausbildung führen.
({8})
Fünfter Punkt. Warum können bestimmte Ausbildungsplätze nicht besetzt werden? Das liegt zum einen
an den regionalen Ungleichgewichten. Während beispielsweise in Bayern und an der Ostseeküste in verschiedenen Berufen Auszubildende gesucht werden, gibt
es in Herford oder auch in meiner Heimatstadt Bremen
mehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze.
({9})
Zum anderen gibt es große Unterschiede zwischen den
einzelnen Branchen.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht davon aus,
dass für Büroberufe auch noch im Jahre 2030 ein ausreichendes Fachkräfteangebot zur Verfügung stehen wird.
Ganz anders sieht es im Hotel- und Gaststättenbereich
aus. So kommen in der Gastronomie heute nur 37 Bewerberinnen und Bewerber auf 100 Ausbildungsstellen.
Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe in
Bremen haben mir in Gesprächen und bei meiner Befragung folgende Gründe genannt: Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten, schlechte Vermittlung der
Ausbildungsinhalte, regelmäßig Arbeit nach der Berufsschule, kaum Freizeit, geringe Vergütung und geringe
Wertschätzung ihrer Person.
Angesichts dessen fordern wir als Linke: Die duale
Ausbildung muss attraktiv bleiben. Eine hohe Qualität,
eine gute Vergütung, Übernahmegarantie mit guten
Tarifen und Aufstiegsperspektiven, das schafft klare Perspektiven für all diese jungen Menschen.
(Beifall bei der LINKEN - Dr. Thomas Feist
({10}): Recht auf Aufstieg, das ist doch
Planwirtschaft!
Sechster Punkt. Fachkräftesicherung durch die Integration von jungen Menschen ohne Berufsausbildung.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schätzt
die Wirksamkeit, unterschiedliche Gruppen als Fachkräfte zu mobilisieren, folgendermaßen ein: Große
Chancen werden darin gesehen, die Arbeitszeiten von
erwerbstätigen Frauen auszuweiten und Ältere länger in
Arbeit zu halten. Mittel- und langfristig wird es aber
auch sehr wirksam sein, nichterwerbstätige Mütter zu integrieren und die Bildungsangebote sowie die Angebote
zur Betreuung von Kindern auszubauen. Im Gegensatz
dazu stuft das Ministerium die Wirksamkeit der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und der Aktivierung von Langzeitarbeitslosen dafür, diese Menschen
als Fachkräfte zu mobilisieren, als gering ein. Auch
langfristig wird es kaum wirksam sein, Frauen für die
MINT-Berufe zu interessieren. Die geringste Wirksamkeit hat die Integration von mehr Jugendlichen in die Berufsausbildung. Junge Menschen ohne Berufsausbildung
müssen sich also wieder ganz hinten in der Schlange anstellen. Das ist nicht verantwortbar.
({11})
Siebter Punkt. Ganz schlechte Perspektiven haben bei
Ihrer Politik Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und Frauen. Der Anteil aller mit
Frauen abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt gerade noch bei 40 Prozent. Menschen mit Behinderung
und Menschen mit Migrationshintergrund werden bei
der Vergabe von Ausbildungsstellen oft gar nicht berücksichtigt. Nur jeder dritte Mensch mit Migrationshintergrund erhält heute einen Ausbildungsplatz - und das
bei gleichen Interessen und gleichen Abschlüssen. Das
ist nicht nur zu verurteilen, sondern das haben Sie auch
abzustellen.
({12})
Achter Punkt. Das große Konzept dieser Regierung
heißt seit 2010: Nationaler Pakt für Ausbildung und
Fachkräftenachwuchs in Deutschland. Doch hier tut sich
noch immer nichts Wesentliches. Es reicht eben nicht,
mit den Arbeitgebern Absichtserklärungen auf einem
Stück Papier abzugeben, sondern es muss endlich verbindlich für alle Menschen ohne Berufsausbildung gehandelt werden.
({13})
Frau Ministerin Schavan, Sie schwadronieren
({14})
über das duale System in Europa, in der ganzen Welt.
Garantieren Sie endlich hier allen Menschen eine gute
Ausbildung! Dann wird man Ihnen auch wieder glauben.
Vielen Dank.
({15})
Heiner Kamp hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegin Alpers,
ich glaube, Sie haben heute über vieles geredet, aber
nicht über die Situation am Ausbildungsmarkt,
({0})
die sehr erfreulich ist und die in der Tat mit Herausforderungen verbunden ist, denen wir auch begegnen werden.
Ich werde Ihnen dies jetzt erläutern. Ich empfehle Ihnen,
gut zuzuhören.
({1})
„Never touch a running system“: Wenn ein Motor
rund läuft, empfiehlt es sich eben nicht, an den Kolben
herumzuwerkeln; sonst entsteht Pfusch. Diesen klugen
Rat aus Betrieb und Werkstätte sollten sich Pädagogen,
Sozialwissenschaftler und Lehrer auf den Oppositionsbänken hinter die Ohren schreiben.
({2})
Bezwingen Sie doch einmal Ihren Drang, die Finger in
das gut geölte Räderwerk unseres Berufsbildungssystems zu stecken. Sie ersparen dadurch unserem Land den
erwartbaren Pfusch und Murks und sich einige Tränen
der Reue.
Der deutsche Motor läuft rund. Die internationalen
Delegationen strömen ins Land, sie wollen „Training
made in Germany“ sehen, wollen erfahren, was es heißt,
wenn Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe partnerschaftlich kooperieren.
Ausbildungsplatzabgabe, Ausbildungsplatzgarantie
und das grüne DualPlus-Murks-Modell interessieren die
Besucher aus Spanien, Italien, China und Südamerika
dagegen nicht im Ansatz. Wen wundert’s!
({3})
Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2012 ansehen, so haben wir allen Grund zur Freude. Das haben die
meisten eingesehen, auch die auf der Oppositionsbank.
Auch in diesem Berichtsjahr hat sich die Situation am
Ausbildungsmarkt wiederum weiter verbessert. Die
Schulabgängerzahlen gehen zurück. Die Zahl der Bewerber ist um 2,5 Prozent zurückgegangen. Trotzdem ist
die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge
um 1,8 Prozent gestiegen.
Ganz besonders freue ich mich darüber, dass die Zahl
der betrieblichen Ausbildungsverträge um mehr als
20 000 angestiegen ist. Denn eine betriebliche Ausbildung genießt für uns gegenüber außerbetrieblichen
Modellen ganz klare Priorität. Über diese Entwicklung
können junge Menschen in Deutschland zu Recht jubeln.
({4})
Erfreulich ist auch, dass die Anstrengungen zur Senkung der Zahl der Altbewerber nach Jahren endlich gefruchtet haben. Ihre Zahl ist merklich gesunken. Wir
sind auf dem richtigen Weg.
Liebe Frau Alpers, der Ausbildungspakt trägt
Früchte. Unser Dank gilt neben den Sozialpartnern, neben den Kammern, neben den Verbänden auch unserem
Bundeswirtschaftsminister Rösler, der die Weichen für
die Neuausrichtung des Paktes mehr als erfolgreich gestellt hat.
({5})
Nicht Ausbildungsplätze wie zu Zeiten von Rot-Grün,
sondern junge Auszubildende werden heute gesucht.
Wer heute einen Ausbildungsplatz sucht, hat so gute
Karten wie schon lange nicht mehr.
Die große Stärke unserer dualen Berufsausbildung ist
doch die Nähe zur betrieblichen Praxis. Sie sichert einerseits eine bedarfsgerechte und praxisnahe Ausbildung,
andererseits gewährleistet sie hohe Quoten der Übernahme in Beschäftigung. Eine Ausbildung ist und bleibt
die beste Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und
Integration in den Arbeitsmarkt.
Wir, Deutschland, sind in der Krise gerade deswegen
so erfolgreich, weil unser System der beruflichen Ausbildung uns innovationsfähiger macht als unsere Nachbarn, denen die Brücke zwischen Berufsschule und
Betrieb fehlt. Darum ist das Handwerk in Deutschland
so stark. Deswegen sind unsere mittelständischen Betriebe so innovativ. Das ist nichts Neues. Doch da meine
Worte die Zweifel im Oppositionslager eventuell nicht
ganz werden ausräumen können,
({6})
möchte ich auf den Innovationsindikator der DeutscheTelekom-Stiftung und des BDI verweisen, der in der
nächsten Woche vorgestellt wird.
({7})
In der oberen Hälfte des Innovationsrankings finden sich
vor allem Länder, die vorwiegend - wen wundert’s! dual ausbilden. Das ist ein Beleg dafür, dass die Durchakademisierung unserer Bevölkerung nicht zwingend
zum Glück und zum Wohle der Nation führt. Man blicke
nur auf Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von
über 20 Prozent.
Mit 8,1 Prozent verzeichnete Deutschland im August
2012 die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
({8})
Es hat sich ausgezahlt, dass wir nicht, wie von so vielen Visionären verlangt, die Axt an unser System der
Berufsausbildung gelegt haben. Wir sind gut damit gefahren, dass wir von den so vollmundig geforderten Experimenten abgesehen haben und die Forderung nach
Auflagen, nach Zwangsmaßnahmen für Ausbildungsbetriebe abwehren konnten. Nicht zuletzt deswegen bilden
sich vor den Türen des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung und unseres bundeseigenen Berufsbildungs-Think-Tanks BIBB lange Schlangen. Das erfolgreiche deutsche Berufsbildungssystem wird zunehmend
ein Exportschlager. Da ist es ein richtiger Schritt, wenn
wir beim BIBB eine Zentralstelle für internationale Zusammenarbeit einrichten. Durch seine bereits bestehenden internationalen Kooperationen ist es für diese Aufgabe mehr als gut gerüstet.
Auf einem Berufsbildungsgipfel in Berlin werden wir
bald gemeinsam mit mehreren unserer europäischen
Partner über eine Modernisierung der beruflichen Bildung in Europa beraten. Ergebnis soll ein konkreter
Fahrplan sein. Es gilt, unseren Nachbarn und Freunden
zu helfen, die eigenen Bildungssysteme zu impfen und
diese für spätere Krisen weniger anfällig zu machen. Es
ist doch ein großer Erfolg, wenn zum Beispiel Indien auf
Anregung aus Deutschland nun die Zusammenarbeit von
Berufsschulzentren und Wirtschaft zulässt: ein erster
Schritt in Richtung Dualität, ein wichtiger Schritt für das
Bildungssystem der größten Demokratie auf unserem
Globus.
({9})
Bei allem Erfolg der beruflichen Bildung in Deutschland und der weiter verbesserten Lage am Ausbildungsmarkt dürfen wir aber auch die Augen nicht vor den
Herausforderungen verschließen, die noch vor uns liegen.
Zwei sind auch in diesem Berichtsjahr wieder deutlich
geworden: Erstens. In einigen Regionen und Branchen
haben Unternehmen zunehmend Probleme, passende Bewerber zu finden. Zweitens. Auch fällt es - natürlich gerade den leistungsschwächeren Jugendlichen nach wie
vor noch schwer, einen Einstieg in die Ausbildung zu
finden.
Die Initiative „Bildungsketten“ und der Ausbildungspakt sind die richtigen Antworten auf diese zwei Aspekte. Mit ihnen helfen wir leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern auf die Beine. Wir unterstützen
sie und Betriebe dabei, ein echtes Ausbildungsverhältnis
einzugehen. Keine Maßnahme, kein Übergangssystem,
kein Tun-als-ob: Nichts ist so gut wie echte betriebliche
Ausbildung.
({10})
Genau deswegen nehmen wir 75 Millionen Euro in die
Hand, um diese echten Ausbildungsplätze zu unterstützen; Hilfe zur Selbsthilfe und keine Dauerschleifen der
Beschäftigungstherapie.
Ganz anders die Opposition. Da will die SPD tatsächlich der unter Volldampf stehenden Maschine Ausbildung die Zahnräder austauschen. Trotz Ausbildungsplatzüberschuss wird nun eine Ausbildungsplatzgarantie
gefordert. Was kommt als Nächstes?
({11})
Strafen für Ausbildungsbetriebe, weil sie keine Auszubildenden finden? Lässt Herr Steinbrück die Kavallerie
schon aufsitzen?
Die Grünen üben sich dagegen wieder einmal in
Zwangsbeglückung. Sie präsentieren mit ihrem Wundermodell DualPlus die Minusnummer schlechthin. Im Gespräch mit Sozialpartnern und Kammervertretern ernte
ich stets Stirnrunzeln, Unverständnis, ja manchmal auch
ein Schmunzeln, wenn DualPlus zur Sprache kommt.
({12})
Bislang ist mir noch nie ein Sachverständiger oder Experte untergekommen, der diese windigen Projekte auch
nur im Ansatz für praktikabel und umsetzbar gehalten
hätte. Kurzum: Wir brauchen keine Zwangsabgaben,
keine Strafen für Ausbildungsbetriebe, kein schulisches
Ergänzungsmodell. Wir brauchen eine vernünftige berufliche Bildung.
Kurzum: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Lassen Sie mich ganz kurz noch auf unsere Maßnahmen und Vorschläge eingehen; dann bin ich auch schon
fertig.
Nein, Herr Kollege. Sie sind jetzt schon über eine
Minute über Ihre Redezeit.
Ist es schon eine Minute?
({0})
Ja. Das müssen Sie vielleicht in den weiteren Beratungen ausführen.
Schade. - Sie können das in unserem Antrag gerne
nachlesen.
({0})
Er ist umfassend, er ist nicht ideologiegeführt. Unsere
Vorschläge sind sachgerecht und vor allem praktikabel.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Kai
Gehring für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch der siebte Berufsbildungsbericht unter Ministerin
Schavan bilanziert, dass Berufsbildung nicht zu den Herzensanliegen dieser Koalition zählt.
({0})
Auf großer Bühne und überall in Europa lobt die
Ministerin zwar seit Jahren die duale Ausbildung. Angesichts dramatischer Jugendarbeitslosigkeitsquoten in anderen Ländern ist das Interesse dort auch groß. Bei der
konkreten Berufsbildungspolitik hierzulande hakt es
aber. Noch immer hat die Koalition kein Konzept vorgelegt, um gemeinsam mit Ländern, Kommunen und der
Bundesagentur für Arbeit das Dickicht der Übergangsangebote zwischen Schule und Ausbildung zu lichten.
({1})
Auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Kleine Anfrage haben wir vergeblich danach gesucht,
und noch immer verweist die Koalition lieber auf immer
neue Projekte, als das ganze System endlich geschlossen
und entschlossen zukunftsfähig zu machen. Angesichts
des steigenden Fachkräftemangels ist das zu wenig.
({2})
Bezeichnend ist auch, dass der Berufsbildungsbericht
erst ein halbes Jahr nach seiner Beratung im Kabinett
und ein halbes Jahr vor der Vorlage des nächsten Berichtes im Parlament beraten wird - und nicht etwa auf Regierungsinitiative, sondern weil die Opposition kluge
Anträge zur Reform der beruflichen Bildung vorgelegt
hat.
Für die Schulabgängerinnen und -abgänger ist es kein
gutes Zeichen, dass Schwarz-Gelb auch 2013 weiter
ausschließlich auf eine gute Konjunktur, den eher unergiebigen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft und den
demografisch sinkenden Anteil von Ausbildungsplatzsuchenden setzt. Das ist kein Konzept für die notwendige
Modernisierung des Berufsbildungssystems, das ist Aussitzen.
({3})
Für uns als Grüne-Fraktion ist gute Ausbildung der
Schlüssel zu Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Wir
wollen die Betriebe mit mehr potenziellen Fachkräften
zusammenbringen, und wir wollen für alle Jugendlichen
das Recht auf eine anerkannte qualifizierende Ausbildung verwirklichen, egal ob ohne oder mit Einwanderungsgeschichte, ob leistungsstark oder schulmüde, ob
gehandicapt oder nicht. Es kommt darauf an, jeden und
jede bis zum Berufsabschluss mitzunehmen. Dafür müssen sich alle - Sozialpartner, Gesellschaft und Politik viel stärker ins Zeug legen. Wir dürfen niemanden zurücklassen.
({4})
Natürlich stimmt es auch uns sehr optimistisch, dass
sich der Ausbildungsmarkt leicht entspannt. Das ist aber
kein Grund zur Entwarnung und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es rund 175 000 Altbewerber gibt, die
sich seit mehr als einem Jahr um einen Ausbildungsplatz
bemühen, dass auch 2011 fast 300 000 Neuzugänge in
unwirksamen Maßnahmen des Übergangssektors geparkt wurden und dass die Chancen auf einen Ausbildungsplatz ungerecht verteilt sind und viel zu viele
Jugendliche durchs Raster fallen.
Daher frage ich Sie, Frau Ministerin Schavan: Was
tun Sie für die 2,2 Millionen bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss, die sich weder in einer Maßnahme noch
in Ausbildung befinden? Der DGB nennt diese Gruppe
zu Recht „Generation abgehängt“, da ihr prekäre Arbeitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit drohen. Für diese
Gruppe stehen viel zu wenig Qualifizierungsangebote
bereit. Das muss sich ändern. Die Spaltung des Ausbildungsmarktes in Chancenreiche und Chancenarme muss
beendet werden.
({5})
Der Weg der Koalition, sich nur auf die Paktpartner
zu verlassen, bringt zu wenig; denn sie haben ihr Ziel,
die Zahl der Ausbildungsabbrüche zu verringern, klar
verfehlt. Die Vertragslösungsquote ist sogar auf 23 Prozent gestiegen. Ein Teil der Abbrüche ist auf schlechte
Arbeitsbedingungen zurückzuführen, bis hin zu Fällen
von Ausnutzung. Das heißt, wir müssen die Qualität der
Ausbildung weiter stärken.
Der übergroßen Mehrheit der Ausbildungsbetriebe in
unserem Land gebührt die Anerkennung des gesamten
Hauses. Sie leisten wahnsinnig viel für die Perspektiven
der jungen Generation und die Chancen unserer Wirtschaft. Wir beobachten aber aufmerksam und mit Sorge,
dass der Anteil der Ausbildungsbetriebe rückläufig ist.
Hier fordern wir eine Trendumkehr. Wir brauchen wieder mehr Betriebe, die ausbilden, und wir brauchen mehr
mutige Betriebe, die auch Jugendlichen mit schlechten
Zeugnissen eine Chance geben.
({6})
Genau hier setzt unser Konzept DualPlus an. DualPlus garantiert individuelle Förderung, bringt Betriebe
und Bewerber zusammen und fügt sich in die unterschiedlichen Gegebenheiten der Bundesländer ein. DualPlus gestaltet diesen ineffizienten Übergangsdschungel
zu einer echten Eingangsphase der beruflichen Ausbildung für alle Jugendlichen um; denn alle ausbildungsinteressierten Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz
bekommen haben, erhalten ein Angebot. Nach dem dualen Prinzip durchlaufen sie einen Teil ihrer Ausbildung
in der Berufsschule und einen Teil im Betrieb. Dabei erreichen sie auch Zwischenziele, weil die Ausbildung in
einzeln zertifizierten und bundesweit anerkannten Ausbildungsbausteinen unter Wahrung des Berufsprinzips
absolvierbar ist.
Überbetriebliche Ausbildungsstätten - das ist neu unterstützen Jugendliche zusätzlich. Hier können sie ihre
Stärken ausbauen und Schwächen ausbügeln, zum Beispiel mit gezielter Sprachförderung. Diese Unterstützungsstruktur entlastet ausbildende Betriebe; auch
kleinste und spezialisierte können sich beteiligen. DualPlus ist gut anschlussfähig bei Reformkonzepten von
Bundesländern, die ihr Übergangssystem längst neu
strukturieren, sei es in Hamburg oder Nordrhein-Westfalen. Deshalb schlagen wir DualPlus zur bundesweiten
Umsetzung vor.
({7})
Politik und Tarifpartner sind in der Pflicht, gute und
verlässliche Ausbildung für alle Jugendlichen zu garantieren. Das gelingt nicht durch Warten auf Konjunktur
und demografischen Wandel, liebe Koalition. Jugendliche brauchen Ausbildung statt Aussitzen. Packen Sie
es endlich an!
({8})
Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Verehrtes Präsidium!
DualPlus wird nach dem, was wir in unseren Gesprächen
mit dem Handwerk gehört haben, vom Handwerk massiv abgelehnt, weil es als Abkehr vom dualen System gesehen wird.
({0})
Aber darüber können Sie mit dem Handwerk gerne weiter diskutieren.
({1})
Wir werden das aufmerksam verfolgen.
Interessant war gestern unser gemeinsames Fachgespräch im Bildungsausschuss über grenzüberschreitende
Ausbildungskooperationen. Dabei ist eindeutig festgestellt worden, dass die duale Ausbildung in Deutschland,
Österreich und der Schweiz mittlerweile weltweit Vorbild geworden ist als ein Instrument, mit dem die Krise
überwunden und jungen Menschen Handlungskompetenz vermittelt werden kann. Viele Länder überlegen
mittlerweile, dieses System zu übernehmen.
({2})
Wir Deutschen haben mit 7,9 Prozent die geringste
Jugendarbeitslosigkeit nach der Krise innerhalb der
Europäischen Union. Der Durchschnitt der Jugendarbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen in der Europäischen
Union liegt bei 22,6 Prozent; die Spitzen der Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Spanien liegen bei
über 50 Prozent.
Lernen in der Praxis für die Praxis hat eine hohe Integrationskraft in Bezug auf die Arbeitswelt. Wissen ist
wichtig. Das Wissen auch anwenden zu können - das,
was in der dualen Ausbildung mit der Handlungskompetenz vermittelt wird -, ist aber am Ende entscheidend.
({3})
Spanien und Griechenland wollen Formen der dualen
Ausbildung entwickeln. Auch Themen wie Solartechnik,
effizientes Bauen und deutsche Handwerkskultur sind
eng mit der dualen Ausbildung verknüpft. Das ist eine
Voraussetzung, die wir in Deutschland haben und die andere Volkswirtschaften entwickeln wollen, um wirtschaftliche Potenziale in ihren Ländern zu schaffen, und
damit auch ein Teilelement, um die Überwindung der
Krise in diesen Staaten voranzutreiben.
Ein solcher europäischer Bildungsraum braucht auch
Mobilität, und Mobilität braucht so etwas wie Angebote
zum Jugendwohnen. Es war eine ganz wichtige Entscheidung der christlich-liberalen Koalition, dass die
550 Jugendwohnheime für Jugendliche in der Ausbildung, die wir in Deutschland haben, wieder Investitionsförderung bekommen. Damit bieten wir wieder pädagogische Begleitung und eine Unterkunftsmöglichkeit, und
es kann entsprechender Förderunterricht organisiert werden, wenn Mobilität von Hunderttausenden junger Menschen im Rahmen der Ausbildung notwendig und sinnvoll ist.
({4})
Wir sollten dankbar sein, dass bei uns in Deutschland
über die duale Ausbildung 30 Milliarden Euro jährlich
von der Wirtschaft für Ausbildungsvergütungen, Ausbildungswerkstätten und Ausbilder, die freigestellt werden,
zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, 70 Prozent der
gesamten dualen Ausbildungskosten finanziert bei uns
die Wirtschaft. Es ist kaum denkbar, dass diese Finanzierungslast von den öffentlichen Haushalten alleine getragen werden könnte. Das ist der Ansatz, die Wirtschaft
mit ins Boot zu holen - auch bei der Finanzierung, der
Qualitätssicherung und der Bereitstellung entsprechender Ausbildungsplätze.
({5})
Ein wichtiger Erfolg der Bundesregierung der letzten
Jahre ist, dass die Zahl der sogenannten Altbewerber - das
heißt derjenigen, die vor mehr als zwölf Monaten aus der
Schule entlassen wurden und einen Ausbildungsplatz suchen - von 380 000 auf immerhin 175 000 abgebaut
worden ist.
({6})
Der Trend, diese Gruppe mit einer Ausbildung zu versorgen, geht massiv weiter. Es zeigt sich auch eine Bildungsrendite der dualen Ausbildung im Hinblick darauf,
wo die Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Bei den Akademikern liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei etwa
3,2 Prozent. In der Gruppe derer, die eine Weiterbildungsqualifikation im dualen System erworben haben
wie Meister und Techniker, liegt die Arbeitslosigkeit
derzeit bei 2,7 Prozent. Das heißt, die Bildungsrendite
und letztendlich auch der Schutz vor Arbeitslosigkeit
sind in der dualen Ausbildung in den Weiterbildungsmöglichkeiten am stärksten, noch stärker als in der akademischen Qualifizierung. Auch das muss man hier und
heute klar und deutlich sagen.
({7})
Wir - gerade unsere Ministerin Frau Schavan - haben
mit den Bildungsketten einen systematischen Übergang
von der Schule in den Beruf geschaffen. Wir haben damit auch erreicht, dass ein Stück weit das Übergangssystem geglättet und auch besser aufeinander abgestimmt
worden ist. Wir sagen, dass wir eine frühzeitige Berufsorientierung brauchen, beispielsweise nicht erst drei Monate vor der Schulentlassung, sondern drei Jahre vorher
mit einer Potenzialanalyse. Darauf aufbauend durchlaufen
die Jugendlichen dann in überbetrieblichen Werkstätten,
beim Handwerk oder in anderen Bereichen verschiedene
Berufsfelder wie Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwaltung, Gartenbau, um dort zu schauen, in welchem Berufsfeld sie noch in der Schule betriebliche Praktika absolvieren und ihre Berufsorientierung entsprechend
zielgerichtet organisieren können. Auch dies ist ein Instrument gewesen, um die Schulabbrecherquote durch
mehr Motivation, durch frühzeitige und bessere Berufsorientierung von fast 10 Prozent auf 5,5 Prozent abzusenken.
({8})
Das bedeutet 30 000 bis 40 000 weniger Schulabbrecher
aufgrund einer neuen Perspektive durch eine organisierte, vernünftige Berufsorientierung. Es gibt eine Perspektive nach dem Abschluss: kein Abschluss in der
Schule ohne weiteren Anschluss.
Wir brauchen weiterhin auch Instrumente im Bereich
der Behinderten. In diesem Bereich liegt die Beschäftigungsquote bei nur 0,9 Prozent. Das ist zu wenig. Ich erlebe in meiner Region am Niederrhein, wie mit einer Initiative der Lebenshilfe oder der Initiative „Kindertraum“
Behinderte sehr wohl in der Lage sind, beispielsweise
Gartenarbeiten durchzuführen, in Jugendzentren im Küchendienst zu arbeiten oder auch in einem Museum alte
Gebäude zu restaurieren. Das alles dauert länger, man
braucht mehr Zeit. Aber ich denke, bei bestimmten Aktivitäten kann man ihnen diese Zeit auch einräumen.
Gemeinsam mit dem Berufsbildungsinstitut wollen
wir klären, dass aus den Berufsbildern heraus Bausteine
entwickelt werden, die einfache Arbeiten darstellen, mit
denen Teilqualifikationen vermittelt werden können, sodass man den Behinderten eine Chance gibt, integriert in
Unternehmen und außerhalb der betreuten Werkstätten
eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Da müssen wir
Potenziale nutzen und auch diese Potenziale stärker mit
in die Arbeitswelt hineinbringen.
({9})
Eine gute Information: Bei unserer gestrigen Anhörung im Ausschuss haben die Kammern zu dem Gesetz
zur Anerkennung der Kompetenzen gesagt, dass sich
von den 300 000 Menschen - diese Zahl hatten wir geschätzt -, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, die bei uns leben und eine Qualifizierung
haben und diese Qualifizierung bei den Kammern anerkannt bekommen wollen, bereits 170 000 bei den Kammern gemeldet hätten, und dies in den wenigen Wochen,
seitdem das Anerkennungsgesetz, das wir verabschiedet
haben, in Kraft getreten ist. Auch dies zeigt: Wir nutzen
und schöpfen Potenziale in unserer Wirtschaft. Das Potenzial unserer Wirtschaft ist der Mensch, und der
Schlüssel zur Hebung dieses Potenzials ist die Bildung.
Da haben wir die beste Bildungsministerin in Deutschland seit 1949 mit Annette Schavan.
({10})
Oliver Kaczmarek hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zu Beginn eine grundsätzliche Anmerkung machen und auch auf den Redebeitrag der Ministerin zurückkommen. Wenn wir über die grundsätzlichen Herausforderungen reden, dann müssen wir doch zwei
Dinge sehen: Das eine ist, dass wir jungen Menschen
durch eine qualifizierte Ausbildung Teilhabe gewähren.
Das andere ist, dass wir natürlich der Herausforderung
des Fachkräftemangels begegnen müssen. Da geht es
nämlich um nicht weniger als um die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit Deutschlands und um nicht weniger
als den Wohlstand, von dem wir alle leben. Vor diesem
Hintergrund und auch, wenn ich mir die Prognosen im
Berufsbildungsbericht zur Entwicklung der Abgängerzahlen ansehe, komme ich zu der Erkenntnis: Wir brau23852
chen jeden jungen Menschen, der jetzt in der Schule ist,
der jetzt keine Beschäftigung hat, der jetzt keine Ausbildung gefunden hat, egal woher er kommt, was seine Eltern verdienen, wo er geboren worden ist. Das ist alles
egal, wir brauchen jeden. Deswegen ist es kein alter Hut,
zu sagen: Das Recht auf Ausbildung ist wichtig. Vielmehr ist es gesellschaftlich und auch wirtschaftlich, ökonomisch, dringend geboten, dass wir jedem eine faire
Chance auf Ausbildung anbieten.
({0})
Weil die grundsätzliche Betrachtungsweise der SPDFraktion durch den Kollegen Brase schon vorgetragen
worden ist, möchte ich zwei Anmerkungen zu Themen
machen, die uns besonders wichtig erscheinen.
Wenn ich sage, jeder wird gebraucht, dann meine ich
auch die 65 000 Schülerinnen und Schüler, die in jedem
Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Rund die
Hälfte von ihnen kommt von Förderschulen. Wir brauchen auch sie.
Ebenso brauchen wir - Herr Schummer hat das gerade ebenfalls angesprochen - die Menschen mit Behinderung, aber auch in einer qualifizierten Ausbildung;
denn nicht alle Behinderten sind nur für Hilfstätigkeiten
geeignet. Vielmehr müssen wir durch unsere Förderung,
durch unser Schulsystem dafür sorgen, dass sie auch
Schulabschlüsse machen können. Viel zu viele sind in
Förderschulen, machen dort einen Abschluss und sind
dann mit dem Abschluss einer Förderschule stigmatisiert. Schwerbehinderte können eben auch einen Beitrag
zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und ebenso einen
Beitrag zur Bekämpfung des Facharbeitermangels leisten.
({1})
Deswegen dürfen wir sie eben nicht am Rande stehen
lassen, sondern müssen eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Strategie entwickeln.
Ich will dazu nur drei kurze Punkte nennen:
Erstens. Wir müssen Menschen mit Behinderung
frühzeitig, intensiv und handlungsorientiert auf ihre spätere Berufstätigkeit vorbereiten; dazu braucht es eine
konsequente Berufsorientierung. In diesem Zusammenhang ist das, was die Bundesregierung in der „Initiative
Inklusion“ in diesem einen Punkt vorgelegt hat, vollkommen richtig und durchaus zu begrüßen.
({2})
Das ist sicherlich notwendig. Aber es ist nicht hinreichend. Es sind natürlich weitere Schritte notwendig, die
auch die Situation von Menschen mit Behinderung auf
dem Arbeitsmarkt substanziell verändern.
Zweitens. Wir können auf Werkstätten für Menschen
mit Behinderung nicht verzichten. Aber wir müssen auf
ihre Kompetenz aufbauen, insbesondere im Hinblick auf
ihre Berufsorientierungskompetenz. Wir müssen gemeinsam mit ihnen Wege entwickeln, damit Menschen
aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt oder in öffentliche Beschäftigung hinein vermittelt werden können. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Signal auch
an die Werkstätten, wenn wir mit ihnen gemeinsam an
einer neuen Rolle arbeiten.
({3})
Drittens. Ich bin der Meinung, dass die Bundesagentur für Arbeit einen besonderen Auftrag hat - er ist auch
gesetzlich definiert -, nämlich den Auftrag der Berufsorientierung und der Berufseinstiegsbegleitung. Dem
muss sie auch nachkommen können.
Ich weise darauf hin: Die Bundesregierung hat sich
im Ausbildungspakt zu dem Versprechen verpflichtet,
sich für eine bessere Integration von Jugendlichen mit
Behinderung in die betriebliche Ausbildung einzusetzen.
Dazu will sie prüfen - ich lese das einmal vor -, „ob und
inwieweit auch in diesem Bereich arbeitsmarktpolitische
Instrumente angepasst werden müssen“.
Das ist ja erst einmal gut. Die Wahrheit sieht aber anders aus. Allein im Bundeshaushaltsentwurf für das
nächste Jahr, den wir im Moment noch im Bundestag debattieren, sollen 6,5 Milliarden Euro bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik eingespart werden. Wer aber benachteiligten jungen Menschen eine Chance geben will,
durch eine qualifizierte Berufsausbildung in die Erwerbsarbeit zu finden, der darf die Bundesagentur für
Arbeit und ihr Instrumentarium, der darf die Arbeitsmarktpolitik eben nicht zur Spardose für das Sparpaket
machen.
({4})
Wenn Sie dies machen würden, würden Sie diejenigen im Stich lassen, die jetzt noch nicht von der Entwicklung am Ausbildungsmarkt profitieren konnten und
die ohne Hilfe keinen Anschluss am Arbeitsmarkt finden. Wir haben dazu einen Antrag gestellt; das werden
wir an anderer Stelle noch debattieren.
Das zweite Thema, das ich kurz ansprechen möchte:
Am Ende der Ausbildung - ich habe das im letzten Jahr
bei der Debatte zum Berufsbildungsbericht bereits angesprochen - haben immer mehr junge Menschen keine
gesicherte Perspektive auf Übernahme in eine unbefristete Beschäftigung. Wer den DGB-Ausbildungsreport
liest, stellt fest, dass weniger als die Hälfte der jungen
Menschen, die sich im letzten Ausbildungsjahr befinden,
eine Perspektive auf Übernahme im Betrieb haben. Von
dieser Teilmenge hat wiederum nur gut ein Drittel Aussicht auf eine unbefristete Übernahme.
Wenn aber selbst der Abschluss einer qualifizierten
Berufsausbildung für junge Menschen keine gesicherte
Erwerbsperspektive bedeutet, wenn das nicht ausreicht,
wie sollen junge Menschen dann die Zuversicht gewinnen, sich für die Gesellschaft einzusetzen, Familie zu
gründen, am Wohlstand mitzuwirken? Deswegen sagen
wir: Zur guten Ausbildung gehört im Regelfall auch die
Übernahme in eine unbefristete Beschäftigung.
({5})
Ich möchte das auch vor dem Hintergrund des Fachgesprächs, das wir gestern im Ausschuss hatten, noch
einmal kurz spiegeln. Ich halte das nämlich für einen
zentralen Punkt, wenn wir über die Attraktivität der Ausbildung im dualen System sprechen. Es werden sich
auch zukünftig nur dann junge Menschen mit guten
Schulabschlüssen dafür entscheiden, eine duale Ausbildung zu beginnen, wenn sie eine gesicherte Perspektive
haben, wenn sie davon ausgehen können, dass es ihnen
einen Job bringt, der einigermaßen sicher ist, nicht aber,
wenn sie damit rechnen müssen, dass nach der Ausbildung alles wieder vorbei ist. Deswegen ist das ein ganz
wichtiger Punkt.
({6})
Es liegt auf der Hand: Wer das Problem in den Griff
bekommen will, der muss die prekäre Beschäftigung in
den Griff bekommen. Das ist gerade aus Sicht der jungen Arbeitnehmer wichtig. Das heißt aus unserer Sicht
erstens, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft
werden muss. Wer in einem Betrieb gelernt hat, der muss
sich nicht mehr einarbeiten. Deswegen gibt es auch keinen Grund, ihn nur befristet einzustellen. Deswegen sind
wir für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
({7})
Zweitens geht es darum, die Leih- und Zeitarbeit auf
ihren ursprünglichen Zweck zurückzuführen und insgesamt zu begrenzen.
Drittens muss das auch in Bezug auf die Minijobs geschehen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
hat hierzu eine gute Initiative in den Bundesrat eingebracht,
({8})
bei der es darum geht, eine Höchststundenzahl für Minijobs einzuführen.
({9})
Dabei geht es insgesamt um die Frage: Wie können
wir die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass der Weg
junger Menschen im Anschluss an ihre Ausbildung vorgeprägt ist und in Richtung prekäre Beschäftigung führt?
Damit komme ich zum Schluss. Was wir jetzt bei der
Integration junger Menschen in Erwerbsarbeit, in den
ersten Arbeitsmarkt, verpassen, können wir vor dem
Hintergrund des Fachkräftemangels und der wirtschaftlichen Entwicklung womöglich nicht mehr aufholen. Das
würden wir teuer bezahlen müssen. Deshalb sage ich:
Verzichten können wir auf keinen Einzigen. Da sehe ich
bei der Arbeit der Regierung noch ein bisschen Nachholbedarf.
({10})
Patrick Meinhardt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Bei einer Debatte über berufliche Bildung
im nationalen und internationalen Zusammenhang ist es
sinnvoll, einmal einen Blick in die internationale Community zu werfen. Vor nicht einmal 48 Stunden ist der
Weltbildungsbericht von der UNESCO vorgestellt worden. Ausdrücklich gelobt wird dabei das deutsche Modell der dualen Ausbildung mit Berufsschule auf der einen und praktischer Arbeit im Betrieb auf der anderen
Seite. Diese besondere Form der Berufsvorbereitung ist
der Grund für die in der Bundesrepublik Deutschland
vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosenquote und
damit einer der wichtigsten Punkte, dass man hier nicht
von einer verlorenen Generation sprechen muss.
({0})
So weit die UNESCO, so weit der Weltbildungsbericht.
Diese Perspektive sollte man im Zusammenhang mit der
Debatte, die wir hier führen, einmal hervorheben.
Zum Zweiten. Es ist von mehreren Rednern angesprochen worden; aber es ist wichtig, dies immer wieder
deutlich hervorzuheben: Es gibt keine Leistung nur irgendeiner Bundesregierung, es gibt keine Leistung nur
irgendeiner Landesregierung - es gibt eine Leistung, die
von der gesamten Wirtschaft und den Ausbildungsbetrieben erbracht worden ist. Wenn ich sehe, dass gerade in
diesen schwierigen Zeiten das Handwerk, der Mittelstand
im Bereich der Ausbildungsangebote so stark engagiert
ist, dass am Schluss 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen und 11 000 Jugendlichen,
die einen Ausbildungsplatz suchen, 30 000 offene Ausbildungsplätze gegenüberstehen, kann ich nur ganz deutlich sagen: Gott sei Dank gibt die Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, gibt der Mittelstand in der
Bundesrepublik Deutschland jungen Menschen gerade
in der Krise eine Chance. Das ist ein gutes und positives
Zeichen.
({1})
Flankierende Maßnahmen, die die Bundespolitik aktiv einbringen kann, gibt es eine ganze Reihe, und die
Regierung setzt ja auch an vielen Punkten an. Das Programm „Bildungsketten“ ist angesprochen worden. Ich
greife bewusst die Maßnahme der Bildungslotsen heraus, eine gemeinsame Aktivität von Bundeswirtschaftsministerium, Bundesarbeitsministerium und Bundesbildungsministerium. Dadurch haben wir in der Summe
2 000 Bildungslotsen gewonnen, die junge Menschen
beim Übergang von der Schule in den Beruf an die Hand
nehmen, ihnen Orientierung geben, ihnen helfen, in eine
Ausbildung zu kommen, in einen Beruf zu kommen.
Wer vor Ort in den Schulen, in den Betrieben ist, wird
feststellen können: Dort, wo Bildungslotsen aktiv sind,
wo Bildungslotsen junge Menschen begleiten, bekommen die jungen Menschen eine hervorragende Möglichkeit, ihre eigene Ausbildungsorientierung zu finden.
Deswegen ist das Programm „Bildungsketten“ gerade in
dieser Krisensituation so wichtig.
({2})
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir wissen, dass es
gerade für kleine und mittlere Unternehmen nicht ganz
einfach ist, eigenständig Ausbildungsplätze anzubieten.
Umso wichtiger ist es, dass Ausbildungsverbünde, überbetriebliche Ausbildungsformen schlagkräftig ausgestattet werden. Es ist ein gutes und richtiges Zeichen, dass
sich die Regierungsfraktionen und die Regierung wieder
dazu durchgerungen haben, die überbetrieblichen Berufsbildungsstätten auf dem hohen Niveau von 40 Millionen Euro weiterhin zu fördern und sogar so viel Flexibilisierung einzubauen, dass wir gerade in diesen Zeiten
noch mehr Dynamik herausbekommen. Jede überbetriebliche Berufsbildungsstätte, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, ist eine zusätzliche Chance für
junge Menschen.
({3})
Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sagen - gerade gestern haben wir im Ausschuss darüber
gesprochen -: Das Programm „Maßnahmen zur Verbesserung der Berufsorientierung“ läuft Gott sei Dank gut,
es läuft sogar sehr gut. Es läuft so gut, dass wir jetzt
noch einmal 10 Millionen Euro, das heißt 15 Prozent,
draufsatteln, weil wir bei den jungen Menschen, bei denen die größte Gefahr besteht, dass sie eine Ausbildung
frühzeitig abbrechen, gegensteuern wollen. Dort wollen
wir ansetzen. Es ist in diesen Zeiten die richtige Antwort, die Mittel für das Maßnahmenpaket „Berufsorientierungsprogramm“ zu erhöhen, um den Weg junger
Menschen mit vorbereiten zu können.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Einstiegsqualifizierung ist vielfach angesprochen worden.
Dieses Instrument halten wir als FDP für ein sehr gutes
Instrument. Wir müssen aber den Rahmen dafür noch
weiter verbreitern. Im Bereich der Einstiegsqualifizierung haben wir 40 000 Plätze in der Bundesrepublik
Deutschland. Im Augenblick sind leider nicht all diese
40 000 Plätze besetzt. Da müssen wir ansetzen; denn die
Einstiegsqualifizierung führt dazu, dass 70 Prozent derjenigen, die sie durchlaufen und die momentan keine
Chance auf eine Ausbildung hätten, am Ende dieses
Jahres in eine Ausbildung kommen. Diese Einstiegsqualifizierung gibt es seit ungefähr fünf Jahren. Das bedeutet, dass über 100 000 Jugendliche in dieser Zeit über die
Einstiegsqualifizierung zusätzlich die Chance bekommen haben, den Weg in die Ausbildung zu schaffen.
Deswegen müssen wir die Einstiegsqualifizierung
stärken und daraus ein weiteres wichtiges Instrument
machen. Das ist ein wichtiges politisches Zeichen, das in
dieser Diskussion zum Ausdruck kommen muss.
({5})
Ich habe mich gewundert, wie wenige das Thema
Altbewerber in dieser Debatte angesprochen haben. Ich
erinnere mich noch daran, dass vor drei Jahren immer
davon gesprochen wurde, dass es ein Skandal sei, dass
wir 300 000 Altbewerberinnen und Altbewerber haben.
Wir haben innerhalb von drei Jahren die Zahl der Altbewerberinnen und Altbewerber auf 174 000 reduziert.
Das war eine intensive Anstrengung, von der man sagen
kann: Es ist gut, wenn diese Akzente gesetzt werden.
Deswegen muss dies an dieser Stelle eine vollumfängliche Anerkennung finden. Jede Reduzierung bei der Anzahl der Altbewerber ist ein gesellschaftspolitischer
Schritt in die richtige Richtung.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein letzter Punkt: Im Hinblick auf
die Flexibilisierung im Ausbildungsbereich halte ich es
für ausgesprochen spannend, sich die Situation bei den
zwei- und dreijährigen Ausbildungsberufen anzuschauen.
Wir haben bewusst gesagt: Wir brauchen niedrigschwelligere Angebote. Wir haben momentan 560 000 Ausbildungsplätze in der dualen Ausbildung, 50 000 Plätze in
der zweijährigen Ausbildung.
({7})
Jetzt wird es spannend: Von den Auszubildenden in einer
zweijährigen Ausbildung haben 60 Prozent einen Hauptschulabschluss. Bei den gesamten dualen Ausbildungsberufen sind es nur 33 Prozent. Wir haben mit den zweijährigen Ausbildungen genau das geschaffen, was wir
brauchen: ein niedrigschwelliges Angebot für all die jungen Menschen, die einen Hauptschulabschluss haben
und eine Ausbildung machen wollen.
({8})
Deswegen ist der Weg über die Einstiegsqualifizierung, die zweijährige Ausbildung, die dreijährige Ausbildung und die dreieinhalbjährige Ausbildung richtig.
Damit schaffen wir eine Perspektive für junge Menschen
aus allen Bereichen des Bildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland.
({9})
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. - Die
Debatte macht eines deutlich: Wichtig ist, dass die duale
Ausbildung ein wirkliches Rückgrat in der Gestaltung
der Bundesrepublik Deutschland ist. Um es anders zu
formulieren: Die Garantieerklärung von Politik und
Wirtschaft für die Perspektiven der Jugendlichen in der
Bundesrepublik Deutschland ist die duale Ausbildung.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Meinhardt, es ist doch nicht so, dass irgendeine Fraktion
in diesem Hause das duale System auch nur ansatzweise
infrage stellen würde. Alle hier sind für das duale
System.
({0})
Wir weisen nur darauf hin, Herr Meinhardt, dass es
offensichtlich so ist, dass ein nicht unerheblicher Teil
junger Menschen von diesem dualen System nicht profitiert. Die Zahlen sind hier schon genannt worden:
2,2 Millionen junge Menschen sind weder in Ausbildung
noch in Arbeit. Fast 300 000 befinden sich immer noch
in diesem perspektivlosen Übergangssystem. Anders als
Frau Schavan es heute gesagt hat, gehen die Experten im
Berufsbildungsbericht davon aus, dass circa 230 000
junge Leute noch sehr lange in diesem Übergangssystem
bleiben werden.
Herr Meinhardt, das ist das Problem, um das wir uns
heute kümmern müssen.
({1})
Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Prognose, dieses Problem werde durch die Konjunktur,
durch den demografischen Wandel oder durch den Fachkräftemangel gelöst, nicht zutrifft.
({2})
Deswegen müssen wir etwas tun. Das Problem wird
sich nicht von selber lösen. Es ist unsere Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass wirklich alle jungen Menschen eine berufliche Perspektive erhalten.
({3})
Sie können nicht darüber hinwegreden, dass insbesondere jungen Leuten mit Förderbedarf, den sogenannten
Marktbenachteiligten, der Zugang zum dualen System
immer noch versperrt ist.
Ganz besonders skandalös - darüber hat heute überhaupt noch niemand geredet - ist die Ausbildungsquote
bei den Migrantinnen und Migranten.
({4})
Sie liegt bei beschämenden 33,5 Prozent; bei den Deutschen ist sie mit 65 Prozent etwa doppelt so hoch. Diese
jungen Leute werden abgehängt, und um sie müssen wir
uns kümmern.
({5})
Das haben sie nicht nur verdient und darauf haben sie
nicht nur einen Anspruch, sondern das Ganze ist auch
vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels zu sehen.
Das Gleiche gilt vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung; das will ich an dieser Stelle noch
einmal sagen. Schon derzeit ist es so, dass eine kleinere
Kohorte junger Leute eine große Kohorte älterer Menschen ernähren muss. Wenn dann aber von diesen jungen
Leuten fast ein Fünftel nicht nur nicht auf dem Erwerbsarbeitsmarkt aktiv werden kann, sondern auch noch ein
Leben lang alimentiert werden muss, dann überfordert
das jede Volkswirtschaft. Deswegen müssen wir etwas
tun.
({6})
Dass das machbar ist, zeigt das Beispiel der Bertelsmann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung ist wahrlich
keine grüne Kaderschmiede, aber sie hat gemeinsam mit
der Bundesagentur für Arbeit und acht Bundesländern
den Versuch unternommen, diesen Übergangsdschungel
zu ordnen, und hat daraus, wie sie es nennt, „Übergänge
mit System“ entwickelt.
Dieser Vorschlag liegt sehr dicht an unserem Vorschlag des DualPlus.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der CDU/CSU?
Ja, bitte.
Sehr verehrte Frau Kollegin, ich habe es schon in einigen Redebeiträgen gehört - ob es nun vom Kollegen
Brase war oder vom Kollegen Gehring -, und auch Sie
haben es noch einmal erwähnt: die Perspektivlosigkeit
von jungen Leuten im Übergangssystem und dessen
Ineffektivität.
Nicht nur deshalb, weil ich selbst zwei Jahre als Ausbilder für sogenannte lernbehinderte und benachteiligte
junge Leute gearbeitet habe, halte ich Ihre Aussage für
eine sehr starke Unterstellung. Wie meinen Sie es, wenn
Sie sagen, dass das Übergangssystem völlig perspektivlos oder ineffektiv sei? Hierzu hätte ich gerne eine Auskunft von Ihnen. - Vielen Dank.
({0})
Es gibt inzwischen diverse wissenschaftliche Evaluierungen über das Übergangssystem, und sie alle kommen
zu dem Ergebnis - um es einmal salopp auszudrücken -:
Das Übergangssystem ist teuer, es kostet fast 6 Milliarden Euro im Jahr, und es ist schlecht, weil es die Jugendlichen nicht stärker an die Ausbildungsreife heranführt,
sondern sie im Wesentlichen frustriert.
Die jungen Leute im Übergangssystem sind nicht selten weniger ausbildungsreif, als sie es zuvor waren.
Deswegen können wir dies nicht länger akzeptieren. Wir
brauchen eine Alternative. Unsere Alternative heißt
DualPlus. - Ich danke Ihnen.
({0})
DualPlus ist übrigens keine Erfindung vom grünen
Tisch, sondern das gibt es bereits in Österreich - nur mit
einem etwas anderen Namen -, und wird es dort sehr erfolgreich eingesetzt.
Ich will es noch einmal sagen: Das Ganze rechnet
sich in dreifacher Hinsicht. Es rechnet sich für die
Jugendlichen, weil sie einen guten Start in Arbeit und
Ausbildung bekommen. Es rechnet sich für die Betriebe,
weil sie gute Fachkräfte erhalten. Und - das ist ebenfalls
erheblich - es rechnet sich für die öffentliche Hand, weil
alle Investitionen in Ausbildung zu 100 Prozent zu einer
Rendite führen.
Meine Damen und Herren, es ist doch wirklich nicht
schwer: Ausbildungsgarantie statt Warteschleife - das
bringt Perspektiven statt Frust. Das erreichen wir mit
DualPlus.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Botschaft durchzieht die Debatte wie ein
roter Faden: Die duale Ausbildung in Deutschland ist ein
Erfolgsmodell. Dank der dualen Ausbildung haben wir
die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sie
ist der Grund dafür, dass im vergangenen Jahr über
570 000 Jugendliche eine Berufsausbildung beginnen
konnten, mehr als in den Jahren zuvor. Sie sichert den
Fachkräftenachwuchs unserer Betriebe, und das auf hohem Niveau. Unsere dual ausgebildeten Fachkräfte sind
international anerkannt und können mit so manchem
akademischen Abschluss konkurrieren.
({0})
Sie ist das Modell, für das sich viele andere europäischen Länder interessieren. Darauf können wir zu Recht
stolz sein.
({1})
Gerade weil wir von diesem Modell so begeistert sind
und zu Recht so stolz darauf sind, möchte ich heute einen kritischen Punkt ansprechen. In den vergangenen
Monaten treibt die Mitglieder meiner Fraktion ein
Thema um, das uns sehr große Sorgen macht und das in
meinen Augen in eine solche Debatte gehört; ich wundere mich, dass es bisher noch niemand angesprochen
hat. Es geht um die Änderungsvorschläge der Europäischen Kommission zur Berufsanerkennungsrichtlinie.
Da Sie schon jetzt genervt gucken, liebe Kollegen der
SPD, weiß ich nicht, ob Sie die Dimension dieses
Themas für unser Land wirklich erkannt haben.
Worum geht es? Die Kommission will, dass Abschlüsse in Europa leichter anerkannt werden und Ausbildungen europaweit vergleichbar gestaltet werden. Das
soll die Mobilität in Europa erhöhen. Ich sage deutlich:
Das begrüßen wir; das ist ein gutes Ziel. Aber im Richtlinienentwurf der Kommission gibt es auch eine ganze
Menge Vorschläge, die alle Alarmglocken zum Läuten
bringen müssen, Vorschläge, die nämlich mit dem deutschen System der dualen Ausbildung nicht oder nur
schwer vereinbar sind, so etwa die Vorschläge zum partiellen Zugang, zu Änderungen bei den Niveaustufen, zu
gemeinsamen Ausbildungsgrundsätzen und zur Einführung eines europäischen Berufsausweises. All diese Einzelregelungen müssen sehr präzise ausgestaltet werden.
Wir müssen sehr genau darauf achten, dass sie so ausgestaltet werden, dass sie die Mobilität erhöhen und Transparenz schaffen, ohne auf der anderen Seite die Qualität
zu gefährden. Zurzeit gibt es an diesen Vorschlägen noch
viel Kritik. Wir plädieren da entschieden für Veränderungen.
({2})
Auf besonders großes Entsetzen stoßen die Pläne der
Kommission, die Mindestschulzeit für eine Ausbildung
in den Pflegeberufen auf zwölf Jahre zu erhöhen. Das
würde bedeuten, dass 45 Prozent der Krankenpfleger
und Krankenpflegerinnen und 85 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger in Deutschland derzeit von
der Ausbildung ausgeschlossen würden, weil sie nur die
mittlere Reife haben und damit keine zwölfjährige
Schulzeit vorweisen können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein Desaster
für die deutsche Pflegelandschaft. Dadurch würde die
Qualität keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Die Erschwerung des Zugangs würde den Fachkräftemangel im
Pflegebereich und damit die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich erhöhen. Wir haben
im Pflegebereich eine hohe Fachkraftquote. Wir haben
hervorragend ausgebildetes Fachpersonal. Deshalb wenden wir uns entschieden gegen die Pläne der Kommission, die Zugangsvoraussetzungen zu erhöhen und eine
Schulausbildung von zwölf Jahren vorauszusetzen.
({4})
Liebe Kollegen, wir sind da in guter Gesellschaft: Die
Mehrheit der betroffenen Verbände - die Allianz reicht
von der Deutschen Krankenhausgesellschaft über die
IHK bis hin zu Verdi und Caritas - wendet sich gegen
die Pläne der Kommission. Wir kämpfen gemeinsam dafür, dass es die Voraussetzung einer zwölfjährigen
Schulzeit nicht geben wird. Ich bin froh, dass auch in
diesem Haus eigentlich Einigkeit darüber besteht. Wir
hatten dazu vor drei Wochen vonseiten des Wirtschaftsausschusses einen Entschließungsantrag eingebracht,
und alle Kollegen von SPD und Grünen haben die deutsche Position unterstützt und ebenfalls gesagt, die VoNadine Schön ({5})
raussetzung einer Schulbildung von zwölf Jahren sei
eine Katastrophe.
Deswegen hat es mich überrascht und entsetzt, liebe
Kollegen der SPD - da komme ich wieder zu Ihnen -,
dass es in den Reihen der SPD auf EU-Ebene Parlamentarier gibt, die diese deutsche Position nicht vertreten.
Offensichtlich werben SPD-Parlamentarier in Brüssel
für die Vorschläge der Kommission
({6})
und schwächen damit deutlich die Verhandlungsposition
unseres Landes.
({7})
- Ich kann Ihnen gerne die Namen nennen. Ich wollte es
an dieser Stelle vermeiden, aber sprechen Sie einmal mit
Ihren Kolleginnen Weiler, Gebhardt und Sippel, die sich
nämlich ganz anders äußern, als Sie das tun.
({8})
Sie kämpfen hier im Deutschen Bundestag entschieden für die duale Ausbildung, aber Ihre Kolleginnen in
Brüssel tun das Gegenteil. Deshalb will ich an Sie appellieren: Werben Sie auch bei Ihren Parteifreunden auf europäischer Ebene für die duale Ausbildung. Wir müssen
hier an einem Strang ziehen. Wir müssen hier mit einer
Stimme sprechen.
({9})
Wir wollen unser duales System erhalten, und dafür
müssen wir gemeinsam kämpfen, damit wir auch in den
nächsten Jahren die Fortschritte unseres dualen Systems
anhand des Berufsbildungsberichtes und anhand dieser
Debatten verfolgen können.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich will zwei Dinge vorweg klarstellen:
Erstens. Niemand greift das duale System in Deutschland an.
({0})
Wir wollen das duale System in Deutschland bewahren.
({1})
Uns geht es aber um die Menschen, die im dualen System nicht unterkommen. Zu diesen Menschen habe ich
in der heutigen Debatte von der Regierungskoalition
noch nichts gehört.
({2})
Zweitens freuen wir uns alle darüber, dass Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union hat. 8 Prozent sind ein tolles Ergebnis.
({3})
- Ja, da können Sie ruhig applaudieren; aber ich weiß
nicht, ob Ihnen mein nächster Satz genauso gut gefällt.
({4})
Leider hat es nichts mit Ihrer Politik zu tun,
({5})
dass wir bei 8 Prozent liegen.
({6})
Dass es nichts mit Ihrer Politik zu tun hat, liegt daran,
dass Sie sich zurücklehnen. Sie lehnen sich in einer Zeit,
in der wir gute Arbeitsmarktzahlen haben, zurück und
sagen: Na ja, was wollen wir da denn tun? Die Zahlen
sehen doch ganz gut aus.
({7})
Mir geht es aber darum, dass in Deutschland kein einziger Jugendlicher verloren gehen darf.
({8})
In Deutschland müssen wir uns Sorgen machen um die
77 000 Jugendlichen, die letztes Jahr keinen Ausbildungsvertrag bekommen haben,
({9})
und um die 86 000 Jugendlichen, die sich gar nicht mehr
bewerben, weil sie aufgrund der Verfahren frustriert
sind. Insgesamt hat letztes Jahr fast jeder dritte Jugendliche keinen Ausbildungsvertrag bekommen, obwohl er
einen wollte.
({10})
Das sind die Zahlen, die mich beunruhigen.
({11})
Deshalb geht es darum, dass keiner von ihnen verloren
gehen darf.
Wir finden in Deutschland die Situation vor - auch
das ist heute noch nicht klar geworden -, dass der Ausbildungsmarkt gespalten ist. Der Ausbildungsmarkt ist
gespalten, weil es in den Betrieben einen Wettbewerb
um die besten Köpfe gibt. Jeder kann dazu Geschichten
aus seinem Wahlkreis erzählen. Ich kann gerne die Situation in Pforzheim und im Enzkreis darstellen, woher ich
komme. Da haben alle Jugendlichen, die ein gutes Zeugnis, einen guten Abschluss haben, überhaupt kein Problem, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aber viele
Schülerinnen und Schüler beispielsweise der Bohrainschule in Pforzheim, einer Förderschule, erlangen nicht
einmal den Hauptschulabschluss und bekommen diesen
auch nicht nach einem BVJ oder dem Besuch einer
BVE. Angesichts dessen kann ich mich doch nicht hier
hinstellen und sagen: In Deutschland ist alles in Ordnung.
({12})
Denn diese Jugendlichen haben ein Recht auf eine Ausbildung in dieser Republik, und nichts anderes sagt unser
Antrag.
({13})
Ich habe gesagt, Sie lehnen sich zurück und denken
gar nicht darüber nach, was mit den anderen 8 Prozent
der Jugendlichen los ist.
({14})
- Jetzt lassen Sie mich doch ausreden.
({15})
Sie reden hier die ganze Zeit von Programmen und
Progrämmchen, die Sie neu aufgelegt haben. Ich gestehe
Ihnen sogar zu, dass Sie das gemacht haben; ich bin
schließlich Arbeits- und Sozialpolitikerin. Gleichzeitig
kürzen Sie jedoch während Ihrer Regierungszeit 7,5 Milliarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
({16})
Das ist das Geld, das für eine aktive Arbeitsförderung
der Jugendlichen nicht zur Verfügung steht. Deshalb
können sie keine Ausbildung machen.
({17})
- Herr Schummer, da können Sie so laut schreien, wie
Sie wollen. Das stimmt einfach. Lassen Sie sich an Ihren
Zahlen messen und nicht an Ihrer Lautstärke, liebe Kollegen von der CDU/CSU.
Es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren, wie
wir den Jugendlichen, die heute durch das Netz fallen,
helfen können, einen Ausbildungsplatz zu finden. Auf
diese Frage habe ich von Ihnen keine Antwort gehört.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich eine Initiative
aus dem Bundesland Hamburg positiv hervorheben. In
Hamburg wurden Jugendberufsagenturen gegründet,
Häuser, in denen Jugendlichen geholfen wird, in Ausbildung zu kommen. In diesen Häusern wird die gesamte
Arbeit mit jungen Menschen koordiniert, und zwar nicht
nur die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit, nicht nur
die Arbeit der Jobcenter, sondern auch die der Jugendhilfe, also der kommunalen Hilfe. Das ist ein vielversprechender Ansatz, weil dadurch die Angebote, die die
jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den
Beruf brauchen, gebündelt werden. Gab es entsprechende Initiativen Ihrer Regierung? Fehlanzeige! Sie haben drei Ministerien - Bildung, Arbeit und Familie -,
die die Programme, die sie auflegen, überhaupt nicht koordinieren. Sie sorgen dadurch zusätzlich für Unübersichtlichkeit.
Zum Schluss kommend will ich noch einmal betonen,
was uns die Bertelsmann-Stiftung mit auf den Weg gegeben hat: Eine Ausbildungsgarantie ist in der Bundesrepublik Deutschland solide zu finanzieren. Jeder Jugendliche soll eine Ausbildungsgarantie bekommen. Wir
wollen darüber hinaus, dass es in Deutschland ein Sofortprogramm für die 1,5 Millionen jungen Menschen
gibt, die zwischen 20 und 29 Jahre alt sind, keine Ausbildung haben, aber im Berufsleben stehen. Diesbezüglich werden wir Sie mit unseren Vorschlägen konfrontieren; denn von Ihnen kommt dazu nichts.
Es geht darum, auch in Zukunft den Fachkräftebedarf
decken zu können. Es geht darum, dass der Mittelstand
ausbildet; das ist auch für den Mittelstand in BadenWürttemberg wichtig. Keiner darf verloren gehen. Jeder
hat das Recht auf Ausbildung.
({18})
Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor kurzem habe ich einen schönen Begriff gehört: Bildung à la Merkel. So nennen die Spanier das deutsche
System der beruflichen Bildung. Nicht nur dort, sondern
in ganz Europa wird unser System bewundert.
({0})
Das hat einen ganz speziellen Grund: Bei der Jugendarbeitslosigkeit lagen wir im August in Deutschland bei
8,1 Prozent. Das ist spitze in Europa. Der Durchschnitt
liegt bei 22,7 Prozent. Spanien erreichte traurige
52,9 Prozent. Dass wir bei diesem Wert, der wie kaum
ein anderer die Zukunftsperspektiven junger Menschen
ausdrückt, so gut sind, hat seinen Grund auch im System
der beruflichen Bildung. Das liegt natürlich auch an der
wirtschaftlichen Lage und an der demografischen Entwicklung, aber eben auch an dem System der beruflichen Bildung.
In Madrid gibt es eine Modellschule, in der nach deutschem Vorbild ausgebildet wird. Rund 1 400 Absolventen haben diese Schule bisher durchlaufen. Der Schulleiter wird auf Spiegel Online mit den Worten zitiert: Mir
ist kein einziger arbeitsloser Schüler bekannt.
Ich weiß, dass keiner von Ihnen das System der beruflichen Bildung, das System der dualen Ausbildung infrage stellt. Das heißt aber nicht, dass wir unser System
nicht noch weiter verbessern können. Dabei dürfen wir
aber nicht den Fehler machen, unsere Stärken zu schwächen.
({1})
Die zentrale Stärke unseres Systems ist, dass die Betriebe in genau den Bereichen ausbilden, in denen sie zukünftig einen Fachkräftebedarf erwarten.
({2})
Es wird nicht am Markt vorbei ausgebildet. Deswegen
erteilen wir Ansätzen, bei denen die Entscheidung, in
welchen Berufen in welcher Zahl ausgebildet wird, auf
den Staat oder auf Einzelne übertragen wird, eine Absage. Wir wollen nicht, dass der Staat oder Einzelne das
entscheiden. Wir wollen, dass das weiterhin auf dem
Markt entschieden wird; denn das hat bisher sehr gut
funktioniert.
({3})
Der Staat muss die jungen Menschen dabei unterstützen, aus dem bestehenden Angebot am Markt den für sie
richtigen Ausbildungsplatz zu finden. Da müssen wir
besser werden. Es ist heute schon mehrmals gesagt worden: Eine Abbrecherquote von 23 Prozent ist nicht akzeptabel, auch wenn viele von diesen 23 Prozent nahtlos
eine andere Beschäftigung finden. Dass sie ihren Ausbildungsvertrag auflösen, kostet auf allen Seiten unnötig
Zeit und Energie.
Die Bundesregierung hat sich dieses Themas im Rahmen des Ausbildungspakts angenommen. Die Verbesserung der Berufsorientierung ist Teil unseres Antrags.
Ebenso fordern wir in unserem Antrag eine bessere Vorbereitung von Jugendlichen, die sich - warum auch immer - schwertun, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ich
kann Ihnen nur zustimmen: Keiner darf verloren gehen.
Es gibt eine ganze Reihe von Programmen - sie sind
heute schon mehrfach genannt worden, beispielsweise
die Einstiegsqualifizierung -, mit denen die Bundesregierung im Rahmen des Ausbildungspakts gemeinsam
mit der Wirtschaft versucht und Möglichkeiten bietet,
den Jugendlichen im Übergangsbereich zu helfen. Die
Einstiegsqualifizierung ist eine Art gefördertes Praktikum von mindestens sechs bis maximal zwölf Monaten.
44 Prozent der Geförderten werden direkt vom Betrieb
übernommen. Immerhin 69 Prozent der Geförderten haben innerhalb eines halben Jahres nach der Förderung einen Ausbildungsplatz.
Es geht bei der Zukunft des dualen Ausbildungssystems aber nicht nur darum, die Schwachen zu integrieren, sondern wir müssen auch darauf achten, dass die
Starken der beruflichen Bildung nicht den Rücken kehren. Wenn 55 Prozent eines Altersjahrgangs mit einem
Hochschulstudium beginnen, ist das erfreulich. Aber das
darf nicht zu einer Überakademisierung führen. In Spanien nennt man das Titulitis. In keinem anderen Land arbeiten so viele Universitätsabsolventen in einem Job, für
den sie überqualifiziert sind.
Wir dürfen jetzt aber nicht den Fehler machen, berufliche Ausbildung und akademische Ausbildung gegeneinander auszuspielen. Beides ist gleichwertig. Das zeigt
auch die Einstufung im Qualifikationsrahmen. Bildung à
la Merkel ist, wenn beides verbunden wird. Ich nenne als
Beispiel die dualen Studiengänge. Das sind Studiengänge, die eine Lehre mit einem Bachelorstudium verbinden. Ich komme aus einer Familie, die seit Jahrzehnten im Handwerk ausbildet. Ich habe die Erfahrung
gemacht, dass die Jugendlichen, die Lehre und Studium
verbinden, die besonders Leistungsfähigen und die besonders Leistungswilligen sind. Das sind die Fachkräfte,
die wir in unserer Wirtschaft auch in Zukunft brauchen
können und brauchen werden.
Trotz der steigenden Zahl der dualen Ausbildungsgänge sind diese immer noch zu wenig bekannt bzw.
werden zu wenig geschätzt, zum Teil auch bei den Unternehmen. Genauso zu wenig bekannt, insbesondere bei
den Eltern, ist die Möglichkeit, mit einem beruflichen
Bildungsabschluss, zum Beispiel einem Meister, auf
eine Fachhochschule und von dort aus mit einem Bachelor zur Universität zu gehen.
({4})
In Bayern ist das Motto im Bildungswesen: Kein Abschluss ohne Anschluss.
({5})
Wenn das gelebt und von allen Seiten akzeptiert wird,
dann ist mir um die Zukunft unseres beruflichen Bildungswesens nicht bange.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Axel Knoerig für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die duale Berufsausbildung ist seit langem ein einzigartiges Aushängeschild für unser Land.
({0})
Dieses erfolgreiche Modell betrieblicher und schulischer
Ausbildung genießt einen hohen Stellenwert, nicht nur
im Inland, sondern auch im Ausland. Das Interesse unse23860
rer Nachbarländer an der dualen Berufsausbildung hat
zugenommen. Darauf hat das Bundesministerium für
Bildung und Forschung reagiert. So wurde im September dieses Jahres eine zentrale Anlaufstelle für internationale Bildungskooperationen eingerichtet.
In dem dualen Ausbildungssystem sehen viele europäische Nachbarstaaten ein gutes Vorbild, um die Jugendarbeitslosigkeit im eigenen Land zu reduzieren.
Zwischen Deutschland und Spanien wurde im Juli 2012
eine Kooperation im Bereich der Berufsausbildung beschlossen. Zur Information: In Spanien ist - die Quote
beträgt 46 Prozent; das ist eine traurige Zahl - fast die
Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos. Deutschland hat dagegen mit 7,9 Prozent die niedrigste Quote in ganz
Europa.
An dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und
Herren, lassen Sie uns in die Vergangenheit schauen. Im
Jahre 2005, nach sieben Jahren Rot-Grün, betrug die
Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland beträchtliche
15 Prozent, Frau Mast.
({1})
Ich denke, dieser Zahlenvergleich bedarf keiner weiteren
Kommentierung, Herr Brase. Diese Zahlen sprechen
deutlich für den Erfolg von Schwarz-Gelb.
({2})
Dieser Erfolg der dualen Berufsausbildung in
Deutschland basiert auf mehreren Vorteilen:
Erstens. Die Ausbildung ist praxisnah.
Zweitens. Vor allem die mittelständischen Betriebe
bilden branchennah und mit Heimatbezug aus.
Drittens. Das Ausbildungssystem entspricht dem Bedarf an Fachkräften.
Viertens. Die Berufsprofile bei den einzelnen Branchen werden immer aktuell dem Arbeitsmarkt angepasst.
Das ist ganz wichtig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union
garantiert dieses Modell und sichert es für die Zukunft.
({3})
Die Entwicklung - und das sehen wir auf dem Arbeitsmarkt - hat dazu geführt, dass sich die Ausbildungssituation für junge Menschen weiter verbessert hat. Bundesweit sind 2011 rund 570 000 Ausbildungsverträge
geschlossen worden. Das sind 1,8 Prozent mehr als
2010.
({4})
Nun haben die Grünen wieder einmal ihren Evergreen
aufgelegt
({5})
und das System DualPlus in die Beratung eingebracht.
Sie wollen ja neben Berufsschule und Betrieb eine dritte
Säule in der Ausbildung etablieren. Sie fordern einen zusätzlichen Ausbildungsteil, der von den Betrieben getragen wird. Wir als Union sagen ganz klar: Das ist wirtschaftsfern. Wir halten an dem Erfolgsmodell der dualen
Berufsausbildung fest.
({6})
Ihr System DualPlus, auch wenn es ein Evergreen ist,
steht lediglich für mehr Bürokratie sowie für eine stärkere Regulierung unserer Wirtschaft. Das wollen wir unseren Betrieben in Deutschland nicht zumuten. Wir setzen auf Freiwilligkeit; denn Freiwilligkeit ist der
Schlüssel zum wahren Erfolg.
Deswegen konzentrieren wir uns vielmehr auf den
Übergang von der Schule zur Ausbildung. Wir haben insoweit heute bereits mehrmals zwei Lösungen vorgetragen. Doch diese sind so gut, dass ich sie gerne noch einmal an zwei Beispielen erwähnen möchte:
Erstens. Wir haben den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs verlängert.
({7})
Jugendliche, die schwer vermittelbar sind, können so
leichter in die betriebliche Ausbildung einsteigen.
Zweitens. Um die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren, gibt es das Programm - Sie, Herr Kollege Kamp,
haben es hervorragend dargestellt - „Bildungsketten bis
zum Ausbildungsabschluss“. Das Bildungs- und Forschungsministerium hat hierfür rund 360 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt.
Zu diesem Programm gehören auch die sogenannten
Ausbildungslotsen. Das sind Mentoren, die praxisnah
aus ihrem Beruf und mit ihrer Ausbildungserfahrung die
Jugendlichen bei ihrer Berufsorientierung unterstützen.
Ich habe das auch in meinem Wahlkreis Diepholz/Nienburg in Niedersachsen erlebt. Dort wurde das Projekt
„Ausbildungslotsen“ erfolgreich an zwei Schulen gestartet. An einer Oberschule in Sulingen und an der Kooperativen Gesamtschule Stuhr-Brinkum wird es für Schüler
ab der 8. Klasse angeboten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte
fest: Wir als christlich-liberale Koalition garantieren das
duale Ausbildungssystem zum Wohle aller Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz anstreben, sowie für
alle Betriebe, die den Fachkräftenachwuchs in unserem
Land sichern.
Hierfür danken wir besonders unseren mittelständischen Betrieben, den Handwerksmeistern, den Innungen
sowie den Berufsschulen. Ich halte zum Schluss fest:
Wir haben hierzulande ein vorbildliches Ausbildungssystem, auf das wir stolz sein können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10116, 17/10856, 17/9586, 17/9700
und 17/10986 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 h sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
40 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte
nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder
im Nachlassverfahren
- Drucksache 17/9427 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2013 ({1})
- Drucksache 17/10915 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})-
Finanzausschuss -
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember
2009 zwischen Kanada und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ({3})
- Drucksache 17/10917 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})-
Ausschuss für Tourismus
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze
- Drucksache 17/10961 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({6}), Marianne Schieder
({7}), Frank Hofmann ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konsum kristalliner Methamphetamine durch
Prävention eindämmen - Neue synthetische
Drogen europaweit effizienter bekämpfen
- Drucksache 17/10646 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({9})-
Innenausschuss -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({10}), Johannes Selle,
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein,
Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für
die Nachwelt bewahren und im digitalen Zeitalter zugänglich machen
- Drucksache 17/11006 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({11})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rehabilitierung und Entschädigung der verfolgten Lesben und Schwulen in beiden deutschen Staaten
- Drucksache 17/10841 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({12})-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung zur Bewahrung des deutschen
Filmerbes endlich sicherstellen
- Drucksache 17/11007 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({13})-
Haushaltsausschuss
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({14}), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NS-Vergangenheit von Bundesministerien und
Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen - Erinnerungsarbeit koordinieren
- Drucksache 17/10068 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({15})-
Ausschuss für Kultur und Medien -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfeträger
- Drucksache 17/10863 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,
Patrick Kurth ({17}), Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die
Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten
staatlichen Institutionen in Bezug auf die NSVergangenheit durch besseren Aktenzugang
unterstützen und Bestandsaufnahmen zur
Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen
- Drucksache 17/11001 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({18})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Patientenrechte wirksam verbessern
- Drucksache 17/11008 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({19})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente verbessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten
- Drucksache 17/11010 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis c, 41 e
bis l sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 41 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Martin Dörmann, Gerold Reichenbach,
Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes ({21})
- Drucksache 17/8454 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22})
- Drucksache 17/8814 Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/8814, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/8454 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 41 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates
zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens
({23}) für die Agentur der Europäischen
Union für Grundrechte
- Drucksache 17/10760 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24})
- Drucksache 17/11062 Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffDr. Eva HöglMarco BuschmannRaju SharmaIngrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11062, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10760 anVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Freihandelsabkommen
vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits
- Drucksache 17/10758 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({25})
- Drucksache 17/11054 Berichterstattung:Abgeordnete Ulla Lötzer
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/10758 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({26})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Aufstellung des Programms für Umwelt- und
Klimapolitik ({27})
KOM({28}) 874 endg.; Ratsdok. 18627/11
- Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196 Berichterstattung:Abgeordnete Josef GöppelFrank SchwabeAngelika BrunkhorstSabine StüberUndine Kurth ({29})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10196, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 41 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 473 zu Petitionen
- Drucksache 17/10834 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 473 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 474 zu Petitionen
- Drucksache 17/10835 Wer stimmt dafür? - Enthaltungen? - Gegenstimmen? - Auch die Sammelübersicht 474 ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 475 zu Petitionen
- Drucksache 17/10836 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 475 ist gegen die Stimmen der Grünen von den übrigen Fraktionen des Hauses
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 476 zu Petitionen
- Drucksache 17/10837 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 476 ist gegen die Stimmen der Linken von den anderen Fraktionen des Hauses
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 477 zu Petitionen
- Drucksache 17/10838 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 477 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Grünen und der Linken angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 41 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 478 zu Petitionen
- Drucksache 17/10839 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 478 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 479 zu Petitionen
- Drucksache 17/10840 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 479 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/10756 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({37})
- Drucksache 17/11035 Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerDr. Rolf MützenichMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({38})
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11035, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10756 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Portugal unterstützen und Parlamentsrechte
wahren
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/11009 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Integrität parlamentarischer Entscheidungen
durch mehr Transparenz und klare Regeln gewährleisten - Nebentätigkeiten, Karenzzeit für
Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung
und Parteiengesetz
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nirgendwo fallen Reden und Handeln bei dieser Koalition
so auseinander wie beim Thema „Nebentätigkeiten und
Transparenz für Abgeordnete“.
({0})
In der letzten Woche haben Sie auf einmal Gefallen an
mehr Transparenz gefunden. Seit heute wissen wir: Das
gilt nur, wenn es um den Kollegen Steinbrück geht.
({1})
Wenn es mir keinen Ordnungsruf eintragen würde, Herr
Präsident, dann würde ich das Verhalten der Koalition
glatt als Heuchelei bezeichnen.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu
den Transparenzrichtlinien des Bundestages gesagt:
Wähler müssen
Zugang zu den Informationen haben, die für ihre
Entscheidung von Bedeutung sein können. … Die
parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz …
ist nicht möglich …
Volker Beck ({3})
Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten der Abgeordneten sind für die Öffentlichkeit offensichtlich von erheblichem Interesse.
… Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, von
wem - und in welcher Größenordnung - seine Vertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen.
Diese Worte des Verfassungsgerichts sollten Sie sich
hinter die Ohren schreiben.
({4})
Es geht nicht um Sozialneid. Ehrlich verdientes Geld
ist ehrlich verdientes Geld.
({5})
Transparenz schützt aber die Integrität und Legitimität
parlamentarischer Entscheidungen. Die Menschen müssen wissen, dass wir, die wir hier handeln und entscheiden, im Sinne unseres Wählerauftrages unterwegs sind
und unsere Entscheidungen nach bestem Wissen und
Gewissen für das Wohl der Bevölkerung treffen und dass
diese Entscheidungen nicht nach den subjektiven wirtschaftlichen Interessen der Abgeordneten oder ihrer
Auftraggeber, mit denen sie wirtschaftliche Verbindungen haben, getroffen werden.
({6})
Meine Damen und Herren von der christlich-liberalen
Koalition, Sie fürchten mehr Transparenz wie der Teufel
das Weihwasser.
({7})
Das haben Sie am 30. Juni 2005 bewiesen, als wir die
geltende Transparenzregelung eingeführt haben. Das
Plenarprotokoll vermerkt dazu: „Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition“ - das war damals Rot-Grün - „bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
der FDP angenommen.“
Kein Abgeordneter der Koalition wollte 2005 mehr
Transparenz bei der Nebenbeschäftigung von Abgeordneten. Heute haben Sie wieder so gehandelt. In der
Rechtsstellungskommission haben Sie bewiesen, dass
Sie keinen Schritt weiter sind. Sie waren nicht zu einem
Beschluss bereit, obwohl wir Ihnen sogar zwei Alternativen angeboten haben,
({8})
nämlich einmal Veröffentlichung der Nebentätigkeit auf
Heller und Pfennig
(Michael Grosse-Brömer ({9}): Habt
ihr doch bekämpft!
- Sie waren ja auch zu keinem Grundsatzbeschluss in
diesem Sinne bereit, Herr Grosse-Brömer.
({10})
Die Alternative waren wenigstens zehn zusätzliche
Transparenzstufen bei der Veröffentlichung. Im Widerspruch zur Geschäftsordnung hat Herr Solms darauf
bestanden, über die Anträge noch nicht einmal abzustimmen.
Das zeigt doch: Bei Steinbrück fordern Sie die
brutalstmögliche Transparenz, und in der Rechtsstellungskommission kneifen Sie. Das ist so ein bisschen
Spiel nach „good cop, bad cop“.
({11})
Das ist Heuchelei, und das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({12})
Die Generalsekretäre der Koalition haben Sie letzte
Woche von der Kette gelassen. Dobrindt und Döring
haben gegen Steinbrück gehetzt. Was haben sie nicht
alles gefordert? „Er täte gut daran, volle Transparenz
walten zu lassen und zu sagen, wie viel Geld er von der
Finanzindustrie bekommen habe,“ forderte Herr
Dobrindt. Weiter sagt er: „Einfach sagen, in welcher
Höhe“ - hört, hört! - „er in den letzten Jahren aus der
Finanzindustrie Gelder erhalten hat.“ Dann kann sich jeder Gedanken darüber machen, ob hier Abhängigkeiten
entstanden sind.
({13})
Ja, richtig. Dann machen wir das aber für alle und nicht
nur für den Kollegen Steinbrück.
({14})
Herr Grosse-Brömer, bei Ihnen geht der Riss ja mittendurch. Auch Sie machen „good cop, bad cop“. Außerhalb der Rechtsstellungskommission machen Sie den
„bösen Polizisten“, und in der Rechtsstellungskommission sagen Sie: Wir müssen alle ein bisschen nachdenklicher werden. Das schadet uns allen.
({15})
- Ja, ich zitiere Sie, Herr Kollege: Wer als Bankenschreck auftritt, von dem will der Bürger wissen, was er
von den so Kritisierten ganz konkret bekommen hat.
({16})
- Ja, das wollen wir wissen, aber wir wollen es dann
auch von allen wissen, auch von Herrn Döring, auch von
Herrn Glos. Wir wollen keine Abgeordneten erster oder
zweiter Klasse schaffen.
({17})
Ihr Angebot heute Morgen, man könne durchaus über
weitere Stufen bei der Transparenz reden,
({18})
Volker Beck ({19})
ist ja wohl wirklich ein schlechter Witz. Wir reden seit
drei Jahren in der Rechtsstellungskommission bei Kaffee
und Croissant darüber,
({20})
wie wir zu weiterer Transparenz kommen. - Ohne
Ergebnis! So auch am heutigen Tag. Bewegt hat sich
einfach gar nichts.
Meine Damen und Herren, die Transparenz bei den
Nebenbeschäftigungen ist eine Sache. Aber bei Transparenz geht es natürlich um mehr. Wir Grünen fordern eine
umfangreiche Transparenzinitiative, die auch beinhaltet,
die Korruption, also Abgeordnetenbestechung, zu bestrafen. Es kann nicht sein, dass Deutschland neben
Österreich das einzige Land in Europa ist,
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- das die UN-Konvention gegen Korruption nicht
verabschiedet hat.
Ein wichtiger Punkt - die anderen wird mein Kollege
Konstantin von Notz dann ausführen können - ist die
Karenzzeit bei ausgeschiedenen Regierungsmitgliedern.
({0})
Warum ist es in der EU-Kommission selbstverständlich,
dass ein Kommissar, der ausscheidet, sich seine Anschlussverwendung genehmigen lassen muss
Herr Kollege.
- um es mit den Worten von Herr Rösler zu sagen -,
und bei uns geht das nicht? Da müssen wir uns an den
europäischen Standard anpassen.
({0})
Das Wort hat nun Michael Grosse-Brömer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Machen wir uns nichts vor, diese Aktuelle
Stunde verdanken wir nicht unwirksamen Transparenzregeln, sondern der Sorge von Rot-Grün, dass Peer
Steinbrück mit seinen Vortragsreisen weiterhin in der
Diskussion bleibt.
({0})
Dabei zeigt gerade die Causa Steinbrück, dass wir Regeln zur Transparenz haben, die funktionieren.
({1})
Innerhalb kürzester Zeit waren in sämtlichen Zeitungen
die zehn besten Nebenverdiener veröffentlicht. - Herr
Beck, Sie haben doch gerade Ihren letzten Schwung hier
am Pult gelassen. Nun bleiben Sie doch ein bisschen
locker.
({2})
- Ich finde das absolut spannend, aber Sie müssen auch
bei diesem Thema lernen, ein bisschen ruhiger zu werden.
({3})
Die Causa Steinbrück besteht doch auch darin,
({4})
dass er sich freundlicherweise freiwillig zur Offenlegung
bereit erklärt hat, möglicherweise deshalb, weil er sich
vom normalen Abgeordneten dadurch unterscheidet,
dass er Kanzlerkandidat Ihrer Partei geworden ist.
({5})
Er hat sich dazu freiwillig bereit erklärt und gesagt: Ich
lege gerne alles auf den Tisch.
({6})
- Ich habe das nicht gefordert. Sie haben in der Ihnen eigenen Art, als Sie mich zitierten, die Hälfte weggelassen.
({7})
Ich habe nämlich gesagt: Wenn denn jemand freiwillig
sagt: „Ich offenbare alles“, dann muss er es auch tun.
Diese Forderung habe ich aufgestellt. Das können Sie
gerne noch einmal nachlesen.
({8})
Ich finde, die bisherigen Transparenzregeln geben
auch die Möglichkeit, nachzufragen. Genau so ist es
richtig. Ich bin mit Ihnen der Auffassung: Jeder Bürger
muss wissen: „Gibt es irgendwelche wirtschaftlichen
Interessen, die einen Abgeordneten in irgendeinem Zusammenhang in seinem Mandat beeinträchtigen?“
({9})
- Das ist nicht neu. Herr Kollege Lange, und Sie, Herr
Kollege Beck, wissen genau, dass ich das nicht nur
heute, sondern schon in der letzten Woche permanent erzählt habe.
({10})
Deswegen will ich jetzt diese Heuchelei nicht bewerten,
die sich darin zeigt, dass heute so getan wird, als würden
wir hier völlig neue Vorschläge machen,
({11})
die wir im Übrigen schon beim letzten Mal gemacht
haben, als wir die Sitzung vertagen mussten, weil die
SPD-Kollegen nicht da waren.
({12})
Ich finde, die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Interesse an der Offenlegung der Einkünfte von Abgeordneten; gar keine Frage. Das ist unstreitig. Das war im
Übrigen auch immer in unserer Fraktion unstreitig.
({13})
Es muss erkennbar sein, ob ein Abgeordneter bei der
Mandatsausübung wirtschaftlich frei ist und im Auftrag
seiner Wählerinnen und Wähler handelt. Mögliche Abhängigkeitsverhältnisse müssen klar benannt werden.
Die Frage ist nur: Welchen Weg wählen wir, um genau
dieses Ziel zu erreichen?
Wir unterstützen die Forderung nach mehr Transparenz und auch die Verschärfung der bisherigen Regeln.
Das haben wir mehrfach gesagt, nicht zuletzt in der
Rechtsstellungskommission. Deswegen wäre es sinnvoll, Herr Kollege Beck, wenn Sie endlich aufhörten,
uns Blockade vorzuwerfen. Sie waren jedes Mal dabei,
wenn wir unsere Angebote gemacht haben.
({14})
Wir haben immer gesagt: Wir sind bereit, mehrere Stufen einzurichten. Das hat mit Blockade überhaupt nichts
zu tun.
({15})
Ich will Ihnen Folgendes sagen: Unserer Meinung
nach hat sich das Stufenmodell bewährt. Einkünfte werden pauschaliert und nach Herkunft angezeigt. Diese
Meinung hatten auch SPD und Grüne eine recht lange
Zeit. Ich zitiere einmal, was Sie gesagt haben, als Sie
beim letzten Mal den Gesetzentwurf befürwortet haben,
der dazu beigetragen hat, diese Transparenzregeln einzuführen. Damals waren Sie folgender Auffassung, und
zwar SPD und Grüne: Nach einem Gutachten für die
Rechtsstellungskommission von Professor Hans Meyer
tragen wir dem Ausgleich der widerstreitenden Positionen der verfassungsrechtlichen Stellung des Abgeordneten, auch soweit er Grundrechtsträger ist, Rechnung. Achtung:
So sei das vorgeschlagene Stufenmodell bei der
Veröffentlichung von Einkünften gerade in der
Abwägung zwischen den Grundrechten des Abgeordneten einerseits und dem berechtigten Interesse
der Öffentlichkeit auf Offenlegung von Einkünften
andererseits gewählt worden.
({16})
Dies gilt gerade deshalb, weil dieses Stufenmodell der
passende Ausgleich zwischen dem notwendigen freien
Mandat, verfassungsrechtlich garantiert, und der notwendigen Information der Bürger ist, ob es und, wenn ja,
in welchem Umfang wirtschaftliche Interessen gibt, die
offenzulegen sind.
In diesem Zusammenhang halte ich deshalb auch die
Forderung nach Offenlegung auf Heller und Pfennig für
falsch. Wo ist der Mehrwert, wenn alles auf Heller und
Pfennig offenbart werden muss, im Vergleich zu diesem
Stufenmodell, bei dem pauschaliert wird? Im Übrigen
wird dem Bundestagspräsidenten alles ganz konkret angezeigt, aber für die Öffentlichkeit wird das pauschaliert
dargelegt. Den Mehrwert bei der Transparenz sehe ich
nicht. Den hat mir bislang keiner erklärt, auch heute
Morgen nicht in der Rechtsstellungskommission.
Wenn dieses Instrument der Offenlegung auf Heller
und Pfennig keinen Mehrwert hat, dann muss man sich
die Frage stellen: Ist es denn im Vergleich zum Stufenmodell geeignet, mehr Transparenz zu schaffen? Wenn
es nicht geeignet ist, mehr Transparenz zu schaffen, dann
erlaube ich mir allerdings, an die Auffassung des
Bundesverfassungsgerichtes zu erinnern, dessen Richter
damals bei der Bewertung der Transparenzregeln sehr
uneinig, nämlich mit 4 : 4, abgestimmt haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat geschrieben: Der
Schutz der Privatsphäre gilt auch für Abgeordnete.
Das bedeutet, dass sich eine Offenlegung nur rechtfertigt, soweit es … Informationen sind, die auch
tatsächlich dazu geeignet sind, auf die Gefahr von
Interessenverknüpfungen und Abhängigkeiten des
Abgeordneten hinzuweisen.
Wir wollen uns an der Verschärfung der Transparenzregeln beteiligen, und wir sind - wie wir jetzt schon
mehre Wochen lang betonen - bereit, mehrere Stufen
einzurichten. Infolgedessen sind wir auch die Fraktion,
die dazu beiträgt, dass Abhängigkeitsverhältnisse in der
Öffentlichkeit deutlich werden,
({17})
nicht nur bei einem Kanzlerkandidaten, sondern bei
allen Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den
wenigen wirklich frustrierenden Erfahrungen als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gehört meine
Mitarbeit in der Kommission des Ältestenrates für die
Rechtsstellung der Abgeordneten.
({0})
Seit zwei Jahren debattieren wir jetzt intensiv aufgrund
verschiedener Vorlagen und bemühen uns, die Transparenzvorschriften für Abgeordnete zu erweitern. Nichts
ist in dieser Zeit passiert. Nichts hat sich bewegt. Es geht
immer nach der Methode „Verschleppen, verzögern, verhindern“.
({1})
Das änderte sich aber schlagartig vor zwei Wochen.
Als Peer Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, sprangen
die drei Generalsekretäre der Koalitionsparteien gleichzeitig auf die Bühne und forderten umfassende Transparenz von Steinbrück. Er solle alle Nebeneinkünfte auf
Euro und Cent offenlegen. Für einen ganz kurzen
Moment hatten die Generalsekretäre vergessen, was vorher passiert war, nämlich dass Union und FDP bei allen
Abstimmungen über die Erweiterung von Transparenzstufen im Bundestag oder in den Ausschüssen immer
dagegen gestimmt haben.
({2})
Deshalb stelle ich fest: Wer für sich selbst Transparenz
verhindert, aber von anderen Transparenz fordert, der ist
ein Pharisäer und ein scheinheiliger Zeitgenosse, Herr
Döring.
({3})
Ganz besonders peinlich wird es, wenn einer wie Sie,
der auch noch der Nebentätigkeit als Vorstand einer
Haustierversicherung nachgeht und selber nicht über
seine Einkünfte aus dieser Tätigkeit nach Euro und Cent
Rechenschaft ablegt,
({4})
Peer Steinbrück angeht und sogar sagt, der habe nicht
das Gen des ehrbaren Kaufmanns. Das war eine massive
Beleidigung von Peer Steinbrück. Ich warte immer noch,
dass Sie sich dafür entschuldigen.
({5})
Mein lieber Herr Döring, wie aber konnten Sie so vergesslich sein? Wie konnten Sie glauben, dass wir den
Ball, den Sie uns da zugespielt haben, nicht mit großer
Freude nach vorne spielen - und nicht nur mit Schadenfreude. Wir wären doch schlechte Politiker, wenn wir
diese Gelegenheit nicht nutzen würden, jetzt auch in der
Sache voranzukommen. Und wir müssen in der Sache
vorankommen, meine Damen und Herren. Die Zeit ist
reif für neue Transparenzvorschriften im Deutschen
Bundestag.
({6})
Wir wollen die Offenlegung auf Euro und Cent von allen
Nebeneinkünften.
Jetzt heißt es natürlich ganz kleinlaut bei meinem
Kollegen Grosse-Brömer,
({7})
das sei mit dem freien Mandat nicht vereinbar: Wir wollen nicht den gläsernen Bürger. - Auch wir wollen nicht
den gläsernen Bürger, aber wir wollen den transparenten
Abgeordneten.
({8})
Wenn Sie nicht wissen, was der Unterschied ist, kann ich
Ihnen das gerne anhand unserer Verfassung erklären.
Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem
Gewissen unterworfen. Das ist eine herausgehobene
Stellung der Abgeordneten. Aus der dürfen Sie nicht nur
Rechte, sondern aus der müssen Sie auch Verpflichtungen ableiten, meine Damen und Herren.
({9})
Sie haben ein sehr gesundes Verhältnis zu den Rechten,
aber offenbar ein gestörtes Verhältnis zu den Verpflichtungen.
Wir wollen keine Neiddebatte über Nebeneinkünfte
von Abgeordneten, ganz im Gegenteil.
({10})
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn einzelne Kollegen
versuchen, über Nebentätigkeiten ihre berufliche
Qualifikation zu erhalten oder auch den Kontakt zum
Wirtschaftsleben darüber aufrechtzuerhalten. Im Mittelpunkt muss aber die Unabhängigkeit des Abgeordneten
stehen, meine Damen und Herren.
({11})
Die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können,
ob sich Abgeordnete von Dritten abhängig gemacht haben. Mögliche Interessenkollisionen, mögliche
Interessenverflechtungen müssen erkennbar, müssen kritisierbar, müssen diskutierbar werden. Das ist der Sinn
der Transparenzvorschriften; das ist der Sinn des TransThomas Oppermann
parenzgebotes. Es geht darum, das Vertrauen der Bürger
in die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu stärken.
Wenn Sie nicht das Misstrauen, sondern das Vertrauen
stärken wollen, dann hilft nur eins: Offenlegung aller
Nebeneinkünfte auf Euro und Cent.
({12})
Von der Union sind es über 100 Kollegen und Kolleginnen und von der FDP über 40, die einer vergüteten
Nebentätigkeit nachgehen.
({13})
Ich rufe den Kollegen zu: Stehen Sie zu Ihrer Nebentätigkeit! Schämen Sie sich nicht dafür, dass Sie mit ehrlicher Arbeit Geld verdienen! Aber ich finde, was man
ehrlich verdient hat, das kann man auch sagen.
({14})
Deshalb: Gehen Sie mit uns den nächsten Schritt, und
verändern Sie mit uns die Nebentätigkeitsvorschriften!
Sorgen Sie mit uns für volle Transparenz!
Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung machen, Herr Präsident. Ich habe nämlich noch eine weitere
Bitte an die Koalition: Klären Sie endlich Ihr gestörtes
Verhältnis zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung!
({15})
Wenn Sie das länger hier im Deutschen Bundestag blockieren, blamieren Sie den Deutschen Bundestag bis auf
die Knochen. Der Bundestag darf nicht das einzige Parlament und Deutschland nicht die einzige parlamentarische Demokratie auf der Welt sein, wo Abgeordnetenbestechung auch in Zukunft straffrei möglich ist. Bewegen
Sie sich bei dem Thema! Kommen Sie endlich in die
Schuhe!
({16})
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe als Mitglied des Präsidiums des Bundestages das Vergnügen oder auch manchmal die Last,
die Rechtsstellungskommission zu leiten. In dieser
Funktion und mit entsprechendem Auftrag versuche ich,
in der Frage der Transparenz der Einkünfte der Abgeordneten - ob das Nebeneinkünfte sind, ist schon eine Zweifelsfrage - eine Verbesserung zu erzielen.
Wir wollen mal bei den Fakten bleiben: Erstens. Die
jetzige Regelung mit den drei Stufen ist, wie eben gerade
von Herrn Beck bestätigt wurde, nicht von uns, sondern
von Rot-Grün eingeführt worden.
({0})
Sie wird nun von Ihnen genauso wie von uns als unzureichend angesehen.
({1})
Aber Sie sollten auch bestätigen, dass Sie Ihre Meinung
auch erst einmal neu entwickeln mussten.
({2})
- Jetzt bin ich dran. - Zweitens. Wir haben in der
Rechtsstellungskommission einen Vorschlag in der Diskussion - wenn ich mich recht erinnere, seit über einem
Jahr - zu einer Zehn-Stufen-Regelung bis zu
150 000 Euro. Es ist überhaupt nicht wahr, dass nicht darüber diskutiert worden ist.
({3})
Wir haben auf einer realen Grundlage diskutiert und
sind bis jetzt nicht zu einer Einigung gekommen. So sind
die Fakten.
({4})
Vor 14 Tagen, als die Rechtsstellungskommission das
erste Mal nach der Sommerpause getagt hat, war die Koalitionsseite bereit, über eine weitergehende Stufenregelung zu reden. Leider waren die Kollegen der SPD verhindert. Ich sage das nicht vorwurfsvoll. Es ist einfach
ein Faktum. Deswegen konnten wir nicht darüber sprechen. Die Causa Steinbrück ist erst danach hochgekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die SPD voll entschlossen, über eine Stufenregelung zu reden und nicht
die Berichterstattung auf Heller und Pfennig einzufordern.
({5})
Das heißt, der Sachzusammenhang mit der Causa
Steinbrück ist deutlich erkennbar.
({6})
Wir sind auch jetzt bereit, über eine weitgehende Stufenregelung zu reden.
({7})
Das geht natürlich nicht mit einem Termin, der nur
40 Minuten dauert wie heute Morgen. Dafür muss man
sich etwas mehr Zeit nehmen.
({8})
- Entschuldigung, wenn man eine gemeinsame Lösung
erzielen will, muss man darüber reden. Es geht eben
nicht so, wie es der Kollege Beck getan hat, indem er
eine Tischvorlage einbringt und verlangt, dass wir sofort
darüber abstimmen,
({9})
bevor irgendjemand Gelegenheit hatte, sich diese Tischvorlage anzuschauen. Das geht nicht.
({10})
- Herr Kollege Beck, das hätte doch die Lösungsfindung
nur erschwert und nicht erleichtert. Jetzt sollte man das
alles einmal ein bisschen herunterhängen;
({11})
denn diese ganze Diskussion schadet dem ganzen Haus
und allen Fraktionen hier im Hause.
({12})
Ich bin es nun endlich leid. Diese laufenden Schuldzuweisungen hin und her führen dazu - ({13})
- Ich nehme niemanden aus.
({14})
Ich habe mit dem Kollegen Döring schon unter vier Augen über das Problem gesprochen,
({15})
und ich hoffe, dass das andere auch getan haben im Hinblick auf Kollegen in ihren Fraktionen.
Ich bitte jetzt nur die Kollegen aus der Rechtsstellungskommission, sich für die nächste Woche etwas
mehr Zeit zu nehmen; denn ich bin überzeugt davon,
dass wir in der nächsten Woche die Chance haben, zu einem Ergebnis zu kommen. Das muss unser Interesse
sein, damit diese leidige Diskussion endlich beendet
wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es
Regeln gibt, dann sollte man sie einhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn es Regeln sind, die man selber
aufgestellt hat. Darüber sollten wir heute sachlich debattieren.
Mit Peer Steinbrück lohnt sich eine politische Auseinandersetzung. Dafür gibt es gute Gründe, und diese
Auseinandersetzung sollten wir auch führen. An die geltenden Transparenzregelungen hat er sich aber nach
dem, was wir wissen, offenbar gehalten. Das Problem ist
bloß, dass die geltenden Transparenzregelungen nicht
das halten, was sie dem Namen nach versprechen.
({0})
Nun regen sich alle über Peer Steinbrücks Nebentätigkeiten auf: die Union und die FDP. Den Grünen ist das
sogar eine Aktuelle Stunde wert. Was mich wundert, ist,
dass die Genossinnen und Genossen von der SPD sich
nicht aufregen; denn da wird jemand als MdB bezahlt,
leistet aber nicht.
({1})
Statt den Ruhm der Sozialdemokratie in Facharbeitskreisen und in den Ausschüssen zu mehren, mehrt Peer
Steinbrück seinen eigenen Ruhm und seine eigene Ehre
und bekommt dafür Honorare wie Jerry Lewis zu seinen
besten Zeiten in Caesar’s Palace.
({2})
Wenn ich Sozialdemokrat wäre und vielleicht in Mettmann etwas bewegen wollte, dann würde ich mich wirklich aufregen.
Aber es regen sich ganz andere auf, zum Beispiel der
Kollege Dobrindt. Der wird immerhin dafür bezahlt,
dass er sich aufregt:
({3})
von der Allianz, von BMW, von der bayerischen Metallindustrie, die allesamt kräftig der CSU spenden.
({4})
Außerdem meldet sich Patrick Döring zu Wort, ausgerechnet Patrick Döring, der selber zu den Top Ten der
Nebenverdiener gehört.
({5})
- Die Honorare bekommt er allerdings nicht für Vorträge; sie wären vermutlich auch intellektuell wenig
inspirierend.
({6})
- Unterirdisch?
({7})
Ausgerechnet Union und FDP melden sich zu Wort,
also die Fraktionen, die an anderer Stelle mit fadenscheinigen Begründungen verhindern, dass endlich die UNKonvention gegen Korruption ratifiziert wird und dass
die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption
umgesetzt werden. Ich finde, das ist selbst für einen vorgezogenen Wahlkampfstart ziemlich platt.
({8})
Die Rechtslage in diesem Fall ist klar; aber sie ist unzureichend.
({9})
- Natürlich war ich gestern in der Anhörung; ich habe
auch einiges gesagt.
({10})
- Ich kann Ihnen ein bisschen was aus der Anhörung erzählen. Die Anhörung, die wir gestern zum Thema Abgeordnetenbestechung gehabt haben, hat nämlich ergeben, dass man, wenn man es will, entweder über die
Vorschläge, die die Oppositionsfraktionen, nämlich
Linke, SPD und Grüne, zu einer Verschärfung der Abgeordnetenbestechung gemacht haben, weiterkommt, um
die Voraussetzung für die Ratifizierung der UN-Konvention zu schaffen,
({11})
oder dass man es anders machen kann. Dazu haben
selbst die von Ihnen benannten Sachverständigen Vorschläge gemacht. Letztlich scheitert es nur daran, dass
Sie nicht wollen. Das ist fadenscheinig, und daran müssen wir jetzt endlich einmal herangehen.
({12})
Bei den Transparenzregelungen ist die Rechtslage
völlig klar; aber sie ist unzureichend. Formal - das habe
ich schon gesagt - hat sich Peer Steinbrück vermutlich
richtig verhalten. Dass wir dennoch diese Diskussion
hier haben, zeigt, dass die Regelungen weiterentwickelt
werden müssen. Wir brauchen neue Transparenzrichtlinien. Im Prinzip sollte jede Nebentätigkeit angezeigt
werden, und zwar mit Nennung des Auftraggebers und
der Höhe des Honorars. Die Linke wird hier mit gutem
Beispiel vorangehen. Wir werden, sofern nicht im Ausnahmefall Rechte Dritter dem entgegenstehen, Nebentätigkeiten und daraus erzielte Einkünfte unter www.linksfraktion.de bzw. auf den Webseiten der Abgeordneten
öffentlich machen.
({13})
- Alles.
Wir wollen keine Neiddebatten führen, und es geht
auch nicht um Neid. Ich missgönne Herrn Döring seine
Honorare ebenso wenig wie Herrn Steinbrück. Es hat
aber etwas mit Aufrichtigkeit, mit Offenheit und Ehrlichkeit denjenigen gegenüber zu tun, die unsere Diäten
finanzieren. Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen,
wer unter Umständen von wem profitiert.
({14})
Von mehr Transparenz profitieren wir Abgeordneten
alle; denn das erspart uns, dass wir einem Generalverdacht ausgesetzt werden, und es erspart uns auch, dass
wir wie hier in der Aktuellen Stunde einer Diskussion
über die Nebentätigkeiten von Peer Steinbrück ausgesetzt werden.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Seit der SPD-Kanzlerkandidat wegen seiner Vortragshonorare in die Schlagzeilen geraten ist, überbieten sich
SPD und Grüne geradezu mit Vorstößen zu Neuregelungen zur Transparenz.
({0})
Der Tagesspiegel hat dies in seiner gestrigen Ausgabe
eine „Verlegenheitsoffensive“ genannt, und genau das ist
der treffende Ausdruck.
({1})
Ich meine, wir sollten zu einer vernünftigen und sachlichen Debatte zurückkehren, wie sie dem Thema angemessen ist.
({2})
Worum geht es denn eigentlich, verehrte Kolleginnen
und Kollegen? Sollen Neidgefühle bedient werden, oder
soll sinnvolle Transparenz geschaffen werden? Transparenz, so sagt unser Bundestagspräsident - ich kann ihm
da nur beipflichten -, ist kein Selbstzweck, und er weist
in einem Interview vor wenigen Tagen zu Recht auf die
Auffälligkeit hin - ich zitiere -, „mit welcher Selbstverständlichkeit man von politischen Mandatsträgern eine
Transparenz erwartet, die man sich für den Rest der Gesellschaft ausdrücklich verbittet.“ Bemerkenswert!
Es kann doch nicht angehen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, Abgeordnete zu zwingen, Dinge von sich
preiszugeben, die zur Privatsphäre gehören, auf die jeder
Mensch ein Recht hat, auch Abgeordnete.
({3})
Worum es gehen muss, ist, Interessenkollisionen aufzuzeigen, Abhängigkeiten offenzulegen und beispielsweise aufzuzeigen, ob die politische Tätigkeit vermarktet wird und etwa auch, ob die Mandatsausübung im
Mittelpunkt steht. Das sind die Fragen, um die es bei der
Forderung nach mehr Transparenz gehen muss. Auf Antworten darauf haben die Bürger ein Recht und einen Anspruch.
({4})
Diesen Zielen, wie ich sie gerade genannt habe, müssen Verhaltensregeln dienen. Verhaltensregeln müssen
also danach beurteilt werden, ob sie insoweit aussagekräftig und damit zielführend sind.
Nun meinen SPD und Grüne seit einiger Zeit, dass die
von ihnen selbst - Herr Kollege Solms hat noch einmal
darauf hingewiesen; manche hier haben es anscheinend
vergessen - im Jahr 2005 geschaffene Drei-Stufen-Regelung diesen Maßstäben nicht genügt. Wir von der Union
sind offen für eine Änderung. Wir diskutieren in der Tat
in der Rechtsstellungskommission seit längerem darüber. Wir haben seit langem die Bereitschaft zu einer
Neuregelung mit deutlich mehr und höheren Stufen
signalisiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und höhere
Stufen bringen in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei
Vortragshonoraren, tatsächlich einen weiteren Erkenntnisgewinn; denn hier weichen Brutto- und Nettozufluss
kaum oder gar nicht voneinander ab. Daran aber, dass
aus der Höhe der Nebeneinkünfte allein immer auch Erkenntnisse über Abhängigkeiten, über Interessenkollisionen gewonnen werden können, sind Zweifel angebracht. Außerdem bleibt ein Grundfehler der Regelung
von 2005 von Rot-Grün, nämlich das Brutto-Zuflussprinzip.
({5})
Wegen dieses Prinzips sind die Angaben in vielen Fällen
nämlich nicht aussagekräftig.
Gleichwohl, ich sage es noch einmal: Die Union bzw.
die Koalition ist für eine neue Stufenregelung bereit.
Aber wir sollten uns in diesem Zusammenhang auch Gedanken über eine klare Differenzierung zwischen Einkünften einerseits machen, die aus dem erlernten und
meist auch vor der Parlamentszeit bereits ausgeübten
Beruf erzielt werden, und Nebenverdiensten andererseits, die - ich zitiere noch einmal den Tagesspiegel von
gestern - „erkennbar nicht ‚berufsspezifisch‘ sind, sondern mehr oder weniger offenkundige Folge der politischen Tätigkeit“; ich sage es im Klartext: wo es um die
Vermarktung von Amt oder Mandat geht.
Leider wird - einer der Grundfehler dieser Regelung
von 2005 - alles pauschal als Nebeneinkünfte bezeichnet
und den gleichen Regelungen unterworfen.
({6})
Da halte ich es für durchaus verständlich, dass manche Kollegen, die etwa Handwerker, Gewerbetreibende
oder Rechtsanwälte sind, sich ungerecht behandelt fühlen und dass viele, die sich eine Kandidatur zum Deutschen Bundestag überlegen, dadurch abgeschreckt werden.
({7})
Wir brauchen aber Abgeordnete, verehrter Herr Kollege
Beck, die noch ihren Beruf ausüben; das sage ich gerade
an die Adresse Ihrer Fraktion.
({8})
Gerade ein während des Mandats ausgeübter Beruf stützt
die politische Unabhängigkeit des Abgeordneten und ist
damit im Interesse des Parlamentarismus.
({9})
Deshalb dürfen wir jetzt nicht das Kind mit dem Bade
ausschütten. Wir sind für Transparenz, wenn sie kein
Selbstzweck ist, sondern zielführend.
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Sehr
verehrte Damen und Herren! Wenn wir in dieser Aktuellen Stunde über mehr Transparenz reden, dann ist das
kein Selbstzweck, sondern es geht darum: Wie schaffen
wir es, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr
Vertrauen in Politik und in Politiker haben? Dazu gehört
auch die Frage: Wie können wir endlich die UN-Konvention zur Korruptionsbekämpfung in diesem Land
umsetzen? Das ist bereits seit 2003 ein Anliegen. Wir
haben es bis heute nicht erreicht, einen Straftatbestand
der Abgeordnetenbestechung zu schaffen.
In dieser Woche gab es in dieser Frage endlich Bewegung. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was
erzählen. So hat uns Herr Siegfried Kauder, CDU, Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, berichtet, wie es auf seiner Reise letzte Woche in
Afrika war. In Afrika ist er darauf angesprochen worden,
wie es denn mit Korruption ist - nicht etwa in Afrika,
nein, in Deutschland -, warum wir denn in Deutschland
nicht mehr für die Bekämpfung von Korruption tun.
({0})
- Dann müssen Sie das vielleicht mit ihm klären, Herr
van Essen. Zumindest den Journalisten gegenüber hat er
erklärt, dass das bei ihm zu einem Umdenken geführt hat
und er jetzt darüber nachdenkt, wie man so etwas in
Deutschland regeln könne.
({1})
Da kann ich Ihnen sagen, Herr Kauder: Sie hätten
nicht erst nach Afrika fahren müssen. Sie hätten, jenseits
von Afrika,
({2})
schon vor vielen Jahren - beispielsweise von Organisationen wie Transparency International - hören können,
wie wichtig es ist, dass die Regeln dieser Antikorruptionskonvention in Deutschland umgesetzt werden. Sie
hätten, jenseits von Afrika, einfach nur zuhören müssen,
wie Grüne, Linke, SPD mit zahlreichen Gesetzesinitiativen versucht haben, einen Weg zu finden, Abgeordnetenbestechung gesetzlich zu fassen. Sie hätten, jenseits
von Afrika, einfach nur zuhören müssen, wie Bundestagspräsident Lammert oder auch Herr Waigel dringend
dazu aufgerufen haben, endlich Regeln zur Bekämpfung
von Abgeordnetenbestechung in diesem Land zu finden.
Sie hätten, jenseits von Afrika, diesen Sommer einfach
nur zuhören müssen, wie ein Großteil der deutschen
Wirtschaft uns allen ins Stammbuch geschrieben hat:
Macht endlich etwas! Es ist uns peinlich, dass wir im
Ausland darauf angesprochen werden, dass ausgerechnet
in Deutschland kein Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung bekannt ist. - Wir stehen damit in einer
Reihe mit Staaten, in deren Gesellschaft wir uns sonst
nicht so sehr wohlfühlen: Syrien, Saudi-Arabien und,
und, und. Jenseits von Afrika wäre das alles möglich gewesen.
Aber Sie mussten erst diese Reise machen. Gut, jetzt
haben Sie diesen Erkenntnisgewinn. Sie sagen: Wir machen uns darüber Gedanken. - Herr Kauder und meine
Damen und Herren von der Koalition, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, wenn wieder nur warme
Worte kommen, wir werden genau beobachten, ob den
Worten Taten folgen. Zu sagen: „Wir überlegen jetzt
mal. Das ist aber sehr schwer, und ob wir das noch in
dieser Legislaturperiode schaffen …“, ist, glaube ich,
kein angemessener Umgang mit dem Thema.
Das ist vergleichbar mit den Stellungnahmen, die wir
hier zur Frage der Transparenz bei Nebeneinkünften bekommen. Auch bei diesem Thema kommt erst jetzt Bewegung in die Diskussion. Seit Jahren diskutieren wir
darüber, ob die Regeln ausreichen. Es geht nicht, dass
man immer wieder vertröstet, immer wieder Erklärungen abgibt, aber trotzdem glaubt, dass das zu mehr Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik und in
Politiker führt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die
Nebeneinkünfte offenlegen, dass wir zeigen: Wir haben
keinen Dreck am Stecken. Deswegen zeigen wir offen,
von wem wir wofür bezahlt werden. Darum geht es; es
geht hier nicht um eine Neiddiskussion oder darum, einen gläsernen Abgeordneten zu schaffen. Vielmehr muss
deutlich werden: Wer bekommt von wem Geld wofür?
({3})
Dann kann sich der Bürger Gedanken darüber machen,
ob er sich von diesem Abgeordneten vertreten fühlt.
Dazu reicht es aber nicht aus, zu sagen: Wir machen nur
ein paar Stufen.
({4})
Selbstverständlich muss es möglich sein, weiterhin als
Anwalt, als Arzt, als Vortragsreisender, als Tierversicherer zu arbeiten. Aber der Bürger muss wissen: Von wem
bekommt der Abgeordnete Geld wofür? Deswegen kann
ich Ihnen nur dringend zurufen: Hören Sie auf mit dieser
Verschleppungstaktik! Das schadet uns allen und bringt
uns alle in eine Situation, die mit Vertrauen bestimmt
nichts zu tun hat. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten
folgen!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
empfehle uns allen, ein Stück abzurüsten. Es ist schon
mehrfach in der Debatte gesagt worden: Es nützt niemandem, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen.
({0})
Ich stelle fest: Der Kollege Steinbrück hat seine Nebentätigkeiten ordnungsgemäß angemeldet,
({1})
aber er muss sich natürlich den Fragen stellen. Wenn
man so vielen Nebentätigkeiten nachgegangen ist und
Reden gehalten hat, wenn man eines der höchsten Ämter
in diesem Lande anstrebt und im Bundestag nur ganz
wenig geredet hat,
({2})
dann muss man sich Fragen gefallen lassen und darf
nicht so dünnhäutig reagieren, wie wir das heute in der
Debatte erlebt haben.
({3})
Trotzdem: Ich glaube, dass wir auch gut beraten sind,
zu sehen, dass es in den Fraktionen unterschiedliche Interessen gibt. Die SPD-Fraktion ist die Fraktion mit dem
höchsten Anteil an Gewerkschaftsfunktionären. Das kritisiere ich nicht.
({4})
Ich finde, dass Arbeitnehmervertreter ganz selbstverständlich auch im Bundestag anwesend sein müssen, damit sie die Interessen der Arbeitnehmer vertreten können. Der Bundestag lebt davon, dass wir solche
Interessenvertretungen, auch einseitige Interessenvertretungen, haben. In der Fraktion der Grünen gibt es den
höchsten Anteil der Berufslosen, den höchsten Anteil
der Lehrer. Die haben wiederum andere Interessen. Der
Kollege Beck beispielsweise versucht, seitdem er im
Bundestag ist, uns nahezubringen, dass die, die keinen
Beruf haben, am unabhängigsten sind.
({5})
Ich versuche, hier das Gegenteil zu vermitteln, nämlich:
Derjenige, der einen Beruf hat, ist am unabhängigsten.
Herr Beck, es gibt niemanden in diesem Parlament, der
abhängiger von Politik ist als Sie. Was sollen Sie denn
ohne Berufsabschluss sonst machen?
({6})
Deswegen werbe ich dafür, dass wir ein breites Parlament mit vielen Berufen sind. Für mich gehört dazu,
dass sich meine Fraktion dadurch auszeichnet - darüber
bin ich froh -, dass wir den höchsten Anteil an Handwerksmeistern und Selbstständigen haben. Denn auch
die gehören in den Bundestag.
({7})
Das Interesse von Selbstständigen und Handwerkern
ist ein anderes als von denen, die, wie ich, als Beamte,
als Lehrer, als Gewerkschaftsfunktionäre jederzeit wieder in ihren Beruf zurückkehren können. Die durchschnittliche Dauer der Zugehörigkeit eines Abgeordneten zum Bundestag beträgt zwei Perioden, acht Jahre.
Ein Bäckermeister - in unserer Fraktion ist gerade einer
nachgerückt - kann seine Bäckerei nicht schließen und
nach acht Jahren wieder öffnen, um als Bäcker wieder
Fuß zu fassen. Deshalb ist es sinnvoll, dass er seinen Beruf weiter fortführt. Das macht ihn unabhängig. Er kann
jederzeit wieder in seinen Beruf zurückkehren.
Deshalb: Alle Regeln, die wir schaffen, klopfen wir
daraufhin ab, ob sie so beschaffen sind, dass dem Bundestag auch Selbstständige weiterhin angehören können,
ohne dass sie ihre Selbstständigkeit, ihren Beruf gefährden. Das gilt beispielsweise auch für viele freie Berufe,
bei denen ebenfalls Verschwiegenheitspflichten zu beachten sind.
Meine zweite Bemerkung betrifft den Korruptionstatbestand. Ich erinnere mich noch sehr genau: Als die
Bundesregierung die UN-Konvention unterzeichnen
wollte, haben alle damals vertretenen Fraktionen - die
Linke war nicht dabei, aber Herr Beck war schon dabei die Bundesregierung gebeten, sie nicht zu unterzeichnen,
({8})
weil in der Formulierung kein Unterschied gemacht wird
zwischen Beamten und Abgeordneten.
({9})
Als Abgeordneter habe ich nach Art. 38 des Grundgesetzes das Recht auf die freie Ausübung des Mandats.
({10})
Das bedeutet natürlich auch, dass man Pflichten hat. Der
Kollege Oppermann hat sie ausgeführt. Ich finde es ausgesprochen richtig, dass Sie das getan haben. Aber der
Abgeordnete ist frei. Ich bin es als Beamter nicht. Deshalb lege ich als Beamter auch einen Diensteid ab. Ein
Abgeordneter tut es nicht. Deshalb muss es unterschiedliche Regeln dafür geben.
({11})
Wenn man die gestrige Anhörung von Anfang an mit
verfolgt hat - der Kollege Sharma war dabei; Sie, Frau
Lambrecht, glaube ich, auch -, dann wurde einem klar:
Es war ein klarer Verriss dessen, was Sie vorgetragen haben.
({12})
Diejenigen, die hier den Eindruck erwecken wollen,
die Oppositionsfraktionen hätten Vorschläge gemacht,
die den Anforderungen der Verfassung genügen, der
lügt.
({13})
Denn das Gegenteil ist der Fall: Diese Vorschläge beinhalten entweder eklatante Verstöße gegen den Art. 103
des Grundgesetzes oder eklatante Verstöße gegen den
Art. 38.
Dieser Verriss wäre noch deutlicher geworden, wenn
zwei Sachverständige, die leider nicht anwesend sein
konnten, ihre Auffassung vorgetragen hätten; so lagen
die Stellungnahmen nur schriftlich vor. Wir wissen, dass
sie genau die gleiche Kritik geäußert hätten. Von all denen, die wohlfeil sagen: „Da muss sich was tun“, erwarte
ich, dass sie gesetzes- und vor allen Dingen verfassungskonforme Vorschläge machen. Solche Vorschläge habe
ich bisher nicht gesehen.
Ich hätte meinen Beruf als Oberstaatsanwalt verfehlt,
wenn ich Korruption unterstützen wollte. Das will ich
natürlich nicht, aber ich möchte Regeln, die den Anforderungen der Verfassung genügen. Das haben wir bisher
nicht gesehen. Nur daran und nicht an unserem schlechten Willen ist das Ganze gescheitert.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Kollege van Essen, Ihr Seitenhieb gegen die Berufslosen zeigt, wie hart an den Kern bei Ihnen diese
Diskussion gehen muss, wenn Sie nicht anerkennen,
welchen großen gesellschaftlichen Beitrag auch der Kollege Volker Beck geleistet hat in dem, was er beruflich
getan hat. Das ist unterirdisch, das finde ich nicht okay.
({0})
Das führt uns auch weg von der Debatte. Herr GrosseBrömer und auch der Kollege Götzer haben auf den
„gläsernen Bürger“ Bezug genommen. Darum geht es
doch genau nicht. Allerdings würde ich mir diesen Appell gegen den gläsernen Bürger von Ihnen auch bei der
Vorratsdatenspeicherung und beim Datenschutz wünschen.
({1})
Dort hört man dieses Argument jedoch seltener. Hier
geht es allein darum, dass die Bürgerinnen und Bürger
Transparenz darüber erlangen, was Abgeordnete in der
Zeit, in der sie Diäten erhalten, nebenher verdienen. Um
diese Transparenz geht es, und nicht um den gläsernen
Bürger.
Wir verhandeln unter diesem Tagesordnungspunkt
viele gute Themen. Eine transparentere Regelung der
Nebeneinkünfte - das ist hier schon viel besprochen
worden - ist überfällig. Die Einführung der Genehmigungspflicht für eine Berufstätigkeit von ausscheidenden
Regierungsmitgliedern - überfällig. Die Novellierung
des Parteiengesetzes - überfällig. Die Bekämpfung der
Abgeordnetenbestechung und die Ratifizierung des
Übereinkommens der VN - auch das ist angesprochen
worden - sind überfällig, und es ist peinlich, dass das
noch nicht geschehen ist.
Ein verpflichtendes Lobbyistenregister - hierüber haben wir in dieser Legislaturperiode bereits gestritten - ist
ebenso überfällig.
({2})
Sie verhindern an allen Ecken und Enden, dass diese
Dinge umgesetzt werden.
({3})
Ich möchte gerne aus dieser Selbstbespiegelungsnummer herauskommen und deutlich machen, worüber wir
hier eigentlich reden: Es geht nicht um ein selbstreferenzielles Thema, das sich nur um Abgeordnete dreht. Die
Themen Transparenz und Bürgernähe sind kein grünes
Hirngespinst, das man mal eben aus der Kiste holt, sondern das sind die großen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit.
Wenn Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern in Ihrem
Wahlkreis sprechen, wenn Sie Umfragen lesen, dann erkennen Sie: Das ist ein ganz zentrales Thema unserer
Zeit, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
({4})
Diese Bundesregierung vertrödelt die Entwicklung
der Transparenz in noch ganz anderen Bereichen. Auch
im Bereich Open Data - das sei angemerkt - sind wir ein
Transparenzentwicklungsland. Sie wehren sich auch mit
Händen und Füßen dagegen, dass Bürgerinnen und Bürger das Recht darauf bekommen, von Ministerien und
Verwaltungen proaktiv informiert zu werden. Das ist wie
bei der Abgeordnetenbestechung: Dieses Recht zu verweigern, ist nicht konservativ oder liberal, sondern es ist
angestaubt und hinterwäldlerisch.
({5})
Ihre jahrelange Verhinderungs-, Hinhalte- und Verzögerungstaktik in diesem Bereich ist meiner Ansicht nach
letztlich nur Ausdruck eines noch nicht ganz überwundenen preußischen Obrigkeitsverständnisses.
({6})
- Ja, das wusste ich; das ist besonders bitter für die CSU.
Im 21. Jahrhundert hat das in unserer Demokratie
nichts mehr zu suchen.
({7})
Unklare Nebenverdienstregelungen, Amtsverschwiegenheit, Geheimniskrämerei - damit ist im 21. Jahrhundert
kein Staat mehr zu machen. Deswegen brauchen wir ein
neues Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen und
Bürgern.
({8})
Das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auf
Zugang zu staatlichen Informationen ist die Basis für informierte Mitbestimmung in einer modernen Demokratie. Deshalb haben wir hier vor einigen Wochen einen
eigenen Gesetzesentwurf zum Informationszugangsgrundrecht eingebracht. Wenn Sie auch kein Grundrecht
wollen, so müssen Sie doch zumindest zustimmen, dass
die Regelungen zur Informationsfreiheit insgesamt dringend einer Reform bedürfen.
({9})
Nur ein Beispiel dafür: Bisher können sich Verwaltungen und Unternehmen viel zu oft mit Verweis auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse herausstehlen und
Auskünfte verweigern, selbst bei der Deutschen Bahn
und bei Public-private-Partnerships, bei denen es um die
Verwendung von Steuermilliarden geht. Das alles hat in
der Bevölkerung keine Akzeptanz mehr, ebenso die bestehenden Regelungen zu Nebenverdiensten. Deswegen
geht es so nicht weiter.
({10})
Die Aufregung hier in der Debatte, aber auch in der
Diskussion um Herrn Steinbrück ist groß. Das öffentliche Interesse ist groß, ebenso der Reformdruck. Wir
brauchen mehr Transparenz, stärkere Informationsrechte
und eine gesetzliche Open-Data-Verpflichtung. Dafür
muss man aber Transparenz politisch wirklich wollen,
nicht nur halbherzig, nicht nur so ein bisschen, nicht nur
wochenweise, wenn es um gegnerische Kanzlerkandidaturen geht. Fangen wir endlich damit an! Wenn wir die
heute hier diskutierten Punkte umgesetzt haben, dann
müssen viele andere Schritte folgen.
Ganz herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich
weiß nicht, wie oft sich das Parlament bereits mit dieser
Frage beschäftigt hat. Es ist jedenfalls ein wiederholtes
Mal der Fall. Die Überschrift, die die antragstellende
Fraktion hier gewählt hat, ist allerdings - darauf werde
ich gleich noch eingehen - für mich etwas verräterisch.
Wenn man die Debatte über Nebeneinkünfte von Abgeordneten, Karenzzeiten, Abgeordnetenbestechung und
die entsprechenden Regelungen im Parteiengesetz in einem Tagesordnungspunkt zusammenfasst, dann hat das
schon den Geschmack, dass man das eine mit dem anderen verweben will, obwohl es unmittelbar überhaupt
nichts miteinander zu tun hat.
({0})
Es ist schon mehrfach zur Sprache gekommen - jeder
weiß es; man braucht es nicht auszusprechen -: Der
Grund für die Aufregung, die hier künstlich erzeugt
wurde und aufrechterhalten werden soll, liegt allein in
den Presseveröffentlichungen und der darauf folgenden
öffentlichen Diskussion über die hohen Nebeneinkünfte
des Kollegen Steinbrück. Das schmeckt der Opposition
nicht, die sonst gerne den Eindruck erweckt, Nebeneinkünfte in dieser Größenordnung gäbe es nur bei den
Politikern der Koalition.
({1})
Deshalb wird nun in einem hektischen Aktionismus versucht, sich gegenseitig mit vermeintlich besseren Regelungsvorschlägen zu übertreffen.
({2})
Kommen wir zu den Nebeneinkünften. 2005 wurde
- das ist hier schon erwähnt worden - die heutige Regelung von Rot-Grün eingeführt. Nach unserer Auffassung
hat sie sich im Wesentlichen bewährt. Das beweist im
Grunde genommen die Veröffentlichung der Einkünfte
von Herrn Steinbrück; er hat sie angegeben. Ich habe gar
nichts gegen diese Einkünfte; eigentlich hatte keiner
Einwände dagegen.
({3})
Aber die Diskussion kam nun einmal auf. In der Öffentlichkeit wird von einem Kanzlerkandidaten - zu Recht
oder zu Unrecht; darüber kann man lange diskutieren mehr erwartet, als er bislang geliefert hat. Warten wir es
in aller Ruhe ab! Er hat weitere Angaben angekündigt.
({4})
Die Art der Einkünfte ist doch durchaus unterschiedlich - der Kollege Götzer hat das eben zu Recht gesagt -:
Führt ein Abgeordneter eine Tätigkeit fort, die er bereits
zuvor ausgeübt hat oder innehatte, oder aber - das ist ein
großer Unterschied - beruhen die zusätzlichen Einkünfte
auf einer früheren Zugehörigkeit zur Regierung oder
zum Parlament? Das ist ein qualitativer Unterschied, den
man sicherlich beachten muss. Im letzten Fall muss man
natürlich fragen, wofür, von wem und wie viel er dafür
bekommt.
Jedenfalls müssen wir - darauf lege ich Wert - bei allen Regelungen darauf achten, dass die Grenzen des
freien Mandats beachtet werden. Dazu gehört insbesondere auch, dass der Schutz von Berufsgeheimnisträgern
wie Anwälten, Ärzten, Steuerberatern und anderen gewahrt bleiben muss. Wir müssen darauf achten, dass das
Parlament - auch das ist eben zu Recht betont worden;
ich danke Herrn van Essen, dass er das so deutlich gemacht hat - für Unternehmer, Handwerker und Freiberufler offen und attraktiv bleibt und nicht nur für diejenigen, die ohne Probleme später wieder in ihren Beruf
zurückkehren können, beispielsweise Beamte oder Gewerkschafter.
Wir sollten uns insgesamt davor hüten, bei der Diskussion verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu
tun haben - damit komme ich auf den Beginn meiner
Ausführungen zurück -, zu vermengen. Wer etwa die
Frage der Nebentätigkeiten mit der Problematik der Karenzzeit für Regierungsmitglieder oder auch der Abgeordnetenbestechung vermischt, will offensichtlich bewusst den Eindruck erwecken, dass Nebentätigkeiten per
se etwas Negatives sind oder gar ein Zusammenhang mit
diesen Themen besteht. Ich halte das, offen gesagt, für
fatal. Wir alle schaden uns mit einer auf diese Art geführten Diskussion selbst.
({5})
Man gewinnt schon den Eindruck, dass die jetzt in der
Opposition befindlichen Fraktionen wohlfeile Vorschläge zu dem Thema machen, weil nicht die Gefahr
besteht, dass diese Vorschläge tatsächlich umgesetzt
werden. Das gilt insbesondere für das Thema der Abgeordnetenbestechung. Wir haben gestern im Rahmen der
Sachverständigenanhörung deutlich vernommen, dass
sämtliche vorgelegten Vorschläge der Opposition so
nicht umsetzbar sind.
({6})
Insofern halte ich es für sehr problematisch, heute hieraus Vorwürfe zu entwickeln. Aber es kommt noch dicker. Sie hatten während Ihrer Regierungszeit anderthalb
Jahre Zeit, die UN-Konvention umzusetzen, und für die
Umsetzung des Europaratsabkommens standen Ihnen
sogar sechs Jahre zur Verfügung.
Ich möchte zum Schluss ein Zitat des früheren rechtspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, des Kollegen
Joachim Stünker, bringen. Er hat in einer Debatte am
25. September 2008 - das kann man im Plenarprotokoll
der 179. Sitzung auf Seite 19 144 nachlesen; so viel wird
hier geredet - gesagt:
Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir
durften sie
- gemeint waren die Vorschläge nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen
blockiert haben.
({7})
… Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck
zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging.
So viel zur Tätigkeit von Rot-Grün.
Besten Dank.
({8})
Das Wort hat nun Christian Lange für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 17. Juni 2005 durfte ich für die SPD-Fraktion den Änderungsantrag zum Abgeordnetengesetz und
damit die Transparenzvorschriften, über die wir heute
sprechen, einbringen. Damals, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren Sie dagegen. Deshalb bitte ich Sie dringend: Erwecken Sie nicht
den Eindruck, als ob Sie für noch mehr Transparenz, für
noch mehr Stufen geworben hätten. Das Gegenteil ist
und war der Fall.
({0})
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie seit der PeerSteinbrück-Diskussion Ihre Position geändert haben.
({1})
Seit wenigen Tagen vertreten Sie plötzlich die Auffassung, dass Sie dieses Stufenmodell, das Sie seit Beginn
dieser Wahlperiode vor drei Jahren erbittert bekämpft
haben, toll finden.
({2})
Ich nehme es zur Kenntnis; aber das ist eine Änderung
Ihrer Position. Die Redlichkeit gebietet es, dies auch so
zu sagen.
({3})
Es ist wichtig, ein Zweites festzuhalten. Wenn wir für
Transparenz werben, dann muss eines klar sein: Transparenz muss für alle gelten. Was für den Abgeordneten
Steinbrück gilt, das muss auch für den Abgeordneten
Riesenhuber, für den Abgeordneten Glos und für den
Abgeordneten Döring gelten. Erklären Sie bitte im Deutschen Bundestag, warum es für diese nicht gelten soll!
Erklären Sie bitte, warum für den einen Extraregeln gelten sollen, für diese Personen aber nicht.
({4})
Für die Juristen unter uns - ich sehe, dass der Kollege
Grosse-Brömer schon gegangen ist ({5})
- ja, da gehen wir alle noch hin -, will ich Folgendes
doch noch einmal sagen: Tun Sie bitte nicht so, als ob
Christian Lange ({6})
das Bundesverfassungsgericht sich gegen Transparenzregeln ausgesprochen hätte. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich will hier einmal die Gründe nennen, die zur Rechtskraft der vorhandenen Regelung und zu mehr Transparenz geführt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat
nicht nur gesagt: „Der Wähler muss wissen, wen er
wählt“. Es hat auch gesagt: Es entspricht damit einem
Grundanliegen demokratischer Willensbildung, Abgeordnete zu verpflichten, Angaben über Tätigkeiten neben dem Mandat zu machen, die auf Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten hindeuten
können. Weiter heißt es:
Das Interesse des Abgeordneten, Informationen aus
dieser Sphäre vertraulich behandelt zu sehen, ist gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Erkennbarkeit möglicher Interessenverknüpfungen …
grundsätzlich nachrangig.
Es ist „nachrangig“. Deshalb sind die Transparenzvorschriften verfassungskonform. Deshalb unterstützt das
Bundesverfassungsgericht die Vorschläge der SPD-Fraktion, endlich alles auf Heller und Cent offenzulegen.
({7})
Das Bundesverfassungsgericht geht sogar noch einen
Schritt weiter. Wenn wir weiterlesen - das sage ich den
Kolleginnen und Kollegen, die ein Interesse an dem
Thema haben -, stellen wir fest, dass darin sogar etwas
über uns steht. Darin steht:
Auch Mit-Abgeordnete haben ein legitimes Interesse, zu wissen, welchen Interessenverbindungen
ihre Kollegen unterliegen, weil dies für die Einschätzung, nach welcher Richtung hin deren Argumente besonders wachsamer Prüfung bedürfen, von
Bedeutung sein kann.
Es ist also nicht nur für die Wählerinnen und Wähler,
sondern auch für uns von Bedeutung, diese Abhängigkeiten zu erkennen. Deshalb ist die Zeit reif für eine Offenlegung nach Heller und Cent.
({8})
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, und insbesondere Herrn van Essen noch etwas zum Thema Selbstständige sagen. Ja, Sie haben recht: Wir haben hier zu
wenig Selbstständige. Wir brauchen mehr Selbstständige.
({9})
Da bin ich ganz bei Ihnen. Leute wie ich, die Landesbeamte sind, die aus einem Ministerium kommen, haben es
da besser. Eines ist aber auch klar: Niemand fordert ein
Verbot von Nebentätigkeiten, wie wir es in anderen Ländern haben. Niemand! Wir sind immer der Auffassung
gewesen, dass wir das in dieser Wahlperiode für die
nächste Wahlperiode beschließen müssen, damit die
Kandidaten sich darauf vorbereiten und einstellen können. Das war immer Konsens in diesem Hause, und das
ist auch die Position der SPD.
Eines steht auch fest: Wenn es dazu kommt und jemand nicht bereit ist, die Nachrangigkeit seines wirtschaftlichen Eigeninteresses anzuerkennen, dann hat er
noch andere Möglichkeiten.
({10})
Zum Beispiel könnte sein Betrieb treuhänderisch weitergeführt werden usw. Es ist aber wichtig, dass wir das
jetzt beschließen, damit das für die nächste Wahlperiode
gelten kann.
Ein Letztes: Ich bitte Sie wirklich, jetzt den Weg dafür frei zu machen, dass die Einkünfte aus Nebentätigkeiten auf Euro und Cent offengelegt werden. Ich bitte
Sie wirklich, den Weg frei zu machen für die Korruptionsbekämpfung. Die SPD-Fraktion hat einen Antrag
zur Änderung von § 108 e Strafgesetzbuch eingebracht.
Ich bitte Sie wirklich, den Weg frei zu machen für ein
verbindliches Lobbyregister. Auch hierzu haben wir einen Antrag eingebracht. Auch dies ist bislang aufgrund
Ihrer Blockade gescheitert. Ich bitte Sie schließlich auch
darum, den Weg frei zu machen für eine Regelung für
Externe in den Bundesministerien. Viermal zu blockieren ist wirklich zu viel des „Guten“. Ändern Sie Ihre
Position, nicht nur im Lichte der Kandidatur von Peer
Steinbrück, sondern zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger. Transparenz ist angesagt. Deshalb bitte ich um
Zustimmung und Unterstützung für die Anträge der
SPD.
Herzlichen Dank.
({11})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ansgar
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
könnte auf den ersten Blick fast ein wenig verwundern,
dass sich bei diesem Gemischtwarenladen von Themen
der Aktuellen Stunde vonseiten der Opposition hauptsächlich Kolleginnen und Kollegen zur Abgeordnetenbestechung geäußert haben, die, abgesehen vom Kollegen Sharma, gestern nicht oder nicht die ganze Zeit bei
der diesbezüglichen Anhörung dabei gewesen sind.
({0})
Und wer dann die ganze Zeit dabei gewesen ist und
wer einen Gesamteindruck von der Veranstaltung bekommen hat, der hätte heute hier sicherlich nicht so geredet.
({1})
Das Thema ist entschieden komplizierter, als es auf
den ersten Blick aussieht. Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, in der neben offensichtlichen
Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in
der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte ofAnsgar Heveling
fenkundig geworden sind. - Dies hat unser Bundestagspräsident Norbert Lammert vor einiger Zeit zu diesem
Thema gesagt.
Von differenzierten Sachverhalten ist in dieser Aktuellen Stunde allerdings nicht viel zu merken. Man sieht
schon an der thematischen Gestaltung: Alles wird in einen Topf geworfen, und daraus wird ein Süppchen gekocht. Ob daraus Kost wird, die den Bürgerinnen und
Bürgern schmeckt, sei dahingestellt.
Wenn wir wirklich etwas für die Integrität parlamentarischer Entscheidungen tun wollen, hilft eine Aktuelle
Stunde sicherlich nicht weiter. Der gestrigen Anhörung
zum Thema Abgeordnetenbestechung wäre sicherlich
die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen gewesen wie
der heutigen Aktuellen Stunde. Die Anhörung war jedenfalls eine wirkliche Lehrstunde dafür, wie mühsam
und schwierig es ist, abstrakte Ziele in konkret handhabbare Vorschriften umzusetzen. Mein Fazit der gestrigen
Anhörung ist, dass da noch eine ganze Menge Arbeit vor
uns liegt. Wer gesehen hat, wie sehr schon die Sachverständigen bei jedem Punkt mit sich gerungen haben, dem
ist klar, welch diffizile Aufgabe auf uns Abgeordnete zukommt, wenn wir eine sachgerechte Regelung beim
Thema Abgeordnetenbestechung treffen wollen.
({2})
Insofern, glaube ich, sollte man besser einmal innehalten und das gegenseitige Überbieten darin, wer nun
kein Interesse an einer Regelung habe und aus welchen
Gründen, einen kurzen Moment einstellen. Es wäre natürlich auch für mich ein Leichtes, aufzuzählen, wer
wann einmal was regeln wollte und warum er dann an
wem gescheitert ist. Das ist alles kein Problem. Dafür
braucht man nur einmal in die Stenografischen Berichte
dieses Parlaments zu schauen. Wenn man ein bisschen
blättert, wird man ganz schnell fündig, auch bei den
Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses.
({3})
Mein persönliches Highlight ist das Bekenntnis eines
ehemaligen Kollegen von der SPD aus dem Jahr 2008
- Kollege Brandt hat das eben ausführlich zitiert -, der
hier freimütig erklärte, man habe das alles schon 2005
regeln wollen, aber dann habe es Koalitionsprobleme gegeben. Dem Koalitionspartner Beck sei der Regelungsvorschlag zu weit gegangen, dem Koalitionspartner
Ströbele aber nicht weit genug. Man findet also schnell
Beispiele; aber ich glaube, das führt uns nicht weiter.
Wichtig ist - das ist gar keine Frage -, dass wir erst
einmal aus dem Dilemma herauskommen, ratifizierte
Abkommen noch nicht ausreichend umgesetzt zu haben.
({4})
Das ist auf die Sache bezogen ein formaler Kritikpunkt.
({5})
- Hören Sie zu, was ich noch sage; dann lachen Sie vielleicht nicht mehr. Dazu gleich mehr.
({6})
Es ist gleichzeitig der wesentliche Punkt in der internationalen Diskussion. Aber die Umsetzung einer entsprechenden Konvention besagt zunächst einmal nicht viel.
Deutschland und Japan, die beide die Konvention unterzeichnet, aber noch nicht umgesetzt haben, liegen
gemeinsam auf Platz 14 des internationalen Korruptionsindexes von Transparency International - vor den
Umsetzungsstaaten Großbritannien auf Platz 16 und
Frankreich auf Platz 25 und weit vor den Umsetzungsstaaten Paraguay, Libyen und Venezuela. Das zeigt ganz
eindeutig, dass es nicht auf die Buchstaben eines Gesetzes ankommt, sondern darauf, wie eine Gesellschaft mit
diesem Thema umgeht.
({7})
Wie dem auch sei; die Tatsache, dass wir die von uns ratifizierten Konventionen noch nicht umgesetzt haben, ist
und bleibt ein Zustand, der auf Dauer nicht hinnehmbar
ist. - Jetzt können Sie sich wieder beruhigt zurücklehnen.
({8})
Die Bereitschaft zur Regelung ist ohne Frage gegeben. Aber die gestrige Anhörung hat ganz deutlich gezeigt: Es ist ausgesprochen schwierig, einen tragfähigen
Ansatzpunkt zu finden. Gerade die Sprachlosigkeit, das
minutenlange Schweigen des Sachverständigen von
Transparency International - wer gestern anwesend war,
hat es erlebt - war beispielgebend, und zwar nicht im
positiven Sinne.
({9})
Das Ganze ist so zu regeln, dass die Mitglieder von Organen zweier Gewalten, nämlich Legislative und Exekutive, Parlament und Räte, von den Regelungen umfasst
sind.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Aus meiner Sicht sollten wir daher erst einmal sehr
offen und sehr genau über das nachdenken, was uns die
Sachverständigen gestern gesagt haben. Entscheidend
aber ist und bleibt, dass es eines gesellschaftlichen Klimas der Transparenz bedarf, eines Klimas, das dafür
sorgt, dass korruptive Verhaltensweisen ans Licht gezerrt
werden. Denn damit wird Korruption in all ihren Formen
am besten der Boden entzogen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das tue ich jetzt.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/…/EU über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und
die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und
Wertpapierfirmen und zur Anpassung des
Aufsichtsrechts an die Verordnung ({0})
Nr. …/2012 über die Aufsichtsanforderungen
an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen
({1})
- Drucksache 17/10974 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({2})Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk.
({3})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
den im Dezember 2010 veröffentlichten Empfehlungen
des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht wurde eine
neue Grundordnung für die Banken weltweit geschaffen.
Diese „Basel III“ genannten Empfehlungen sind eine der
wichtigsten Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise,
und sie dienen dem Zweck, Banken in Zukunft krisenfester zu machen; denn eines haben wir in der Krise gelernt: Banken, die mit zu wenig Eigenkapital ausgestattet
sind und zu stark über ihre Eigenkapitalquote hinausgehende Risikogeschäfte eingehen, können nationale und
internationale Finanzsysteme in große Erschütterung
versetzen. Die Umsetzung von Basel III ist ein Herzstück der Reformen auf dem Finanzmarkt; denn ein
nachhaltig funktionierendes Bankensystem braucht nicht
nur qualitativ hochwertiges Eigenkapital, sondern muss
auch über hinreichend Eigenmittel verfügen.
Im Rahmen der G 20 hat sich Deutschland, haben
sich die Europäer verpflichtet, Basel III als zentrales
Element der Bankenregulierung jetzt umzusetzen. Auch
auf internationaler Ebene - und das ist für die Bundesregierung ganz entscheidend - ist die Umsetzung vorangekommen. So haben die USA im Juni 2012 ihre Vorschläge zur Umsetzung zur Konsultation gestellt und
wollen mit der Implementierung am 1. Januar 2013 beginnen. Auch Japan will mit der Umsetzung ab Ende des
ersten Quartals 2013 beginnen und die Arbeiten an den
nationalen Regulierungsvorschriften weitgehend beenden.
Auf EU-Ebene haben die Finanzminister am 15. Mai
dieses Jahres die Vorschläge zur Umsetzung von Basel III mittels einer EU-Verordnung und einer Richtlinie
gebilligt. Auf europäischer Ebene unterstützt die Bundesregierung mit Nachdruck einen schnellen Abschluss
der Verhandlungen zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission noch in diesem Jahr. Bundesfinanzminister Schäuble hat in den letzten Wochen mit
vielen Mitgliedstaaten, mit der Kommission und auch
mit den maßgeblichen Persönlichkeiten im Europäischen
Parlament gesprochen; denn ein Aufschub der Umsetzung von Basel III dient der Sache nicht, vor allem weil
die Wirkung dieser Regulierung über die unmittelbar betroffenen Banken hinausgeht und Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt betrifft. Daher haben wir auch in
Deutschland das nationale Gesetzgebungsverfahren
frühzeitig eingeleitet. Natürlich müssen wir jetzt auf den
Ausgang der Trilog-Verhandlungen warten. Aber wir
wollten in Deutschland alles tun, um unsere Entschlossenheit zu bekunden, Basel III so zeitgerecht und so früh
wie möglich umzusetzen.
Mit der neuen EU-Verordnung wird die Harmonisierung des EU-Bankenaufsichtsrechts weiter gestärkt. Alle
Mitgliedstaaten müssen dieselben Vorschriften anwenden und dürfen nur in ausdrücklich zugelassenen Fällen
abweichen. Dies ist ein besonderer Baustein für eine
kommende einheitliche europäische Aufsichtsstruktur.
Das Gesetzespaket enthält zahlreiche neue Sicherheitsstandards und gibt der deutschen Bankenaufsicht
neue und verschärfte Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten an die Hand. Die neuen Regelungen schützen Allgemeinheit und Steuerzahler besser vor dem Risiko, bei
Ausfällen im Bankensektor in Haftung genommen zu
werden.
Ein Teil der Umsetzung von Basel III erfolgt mittels
einer unmittelbar in Deutschland geltenden EU-Verordnung. In dieser Verordnung werden unter anderem strengere Mindesteigenkapitalanforderungen an Banken,
insbesondere eine deutliche Erhöhung des harten Kernkapitals, festgelegt, eine Verschuldungsobergrenze ab
2018 nach einer entsprechenden Beobachtungsphase
eingeführt und zwei neue Liquiditätskennziffern zur Abdeckung der Liquidität für 30 Tage und zur Abdeckung
der Liquidität bis zu einem Jahr vorgesehen.
Im Kern verlangt Basel III von den Banken qualitativ
besseres und quantitativ umfangreicheres Eigenkapital.
Hier bestanden in der Vergangenheit Defizite, die für
Unsicherheiten und Misstrauen hinsichtlich der Haftungseigenschaft der Kapitalinstrumente gesorgt haben.
Nicht zuletzt deshalb mussten in Schieflage geratene
Banken vom Staat und damit vom Steuerzahler gestützt
werden. Vor diesem Hintergrund war es sehr wichtig, in
diesem Sektor grundsätzlich und grundlegend tätig zu
werden.
Mit den Änderungen des Kreditwesengesetzes vollziehen wir folgende Veränderungen: Es wird eine VerParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
besserung der Transparenz der Bankgeschäfte und eine
umfangreichere Offenlegung von Millionenkrediten gegenüber den Aufsichtsbehörden geben. Es werden die
Anforderungen an die Art und Weise, wie eine Bank zu
führen ist, erhöht. Es wird in Abhängigkeit von der
Größe der Bank zur Einrichtung zusätzlicher Ausschüsse
kommen, um weitere interne Kontroll- und Beratungsmöglichkeiten zu schaffen. Wir werden eine Verschärfung der Sanktionsmaßnahmen durch Erhöhung des
Bußgeldrahmens bekommen; damit wird grundsätzlich
auch ermöglicht, die durch Verstöße gegen das Bankenaufsichtsrecht erzielten Gewinne abzuschöpfen. Schließlich werden neue Kapitalpuffer eingeführt, die unabhängig voneinander festgesetzt werden und zu einer
Erhöhung des harten Kernkapitals führen.
Für uns als Bundesregierung war sowohl bei den Verhandlungen im Basler Ausschuss, die BaFin und Bundesbank geführt haben, als auch bei der Umsetzung auf
europäischer Ebene entscheidend, die bewährte Infrastruktur der deutschen Bankenlandschaft zu sichern.
Deshalb haben wir sowohl bei den Verhandlungen als
auch bei der Umsetzung von Basel III sehr darauf geachtet, Lösungen zu finden, die unserem Wirtschaftssystem
und seinen Finanzierungsbedürfnissen angepasst sind
und den vielfältigen Merkmalen des bewährten DreiSäulen-Systems des deutschen Bankensektors gerecht
werden.
Im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht wurde eine
prinzipienbezogene Ausgestaltung der qualitativen Anforderungen an das Eigenkapital im Sinne des Grundsatzes „Qualität des Eigenkapitals geht vor dessen rechtlicher Form“ geschaffen. Das hat bei der Umsetzung in
zahlreichen Mitgliedstaaten, die anders strukturierte
Bankensysteme haben, Widerstand hervorgerufen. Aber
wir haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass die regulatorischen Rahmenbedingungen für Banken in der
Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer eingetragenen Genossenschaft oder einer öffentlichen Anstalt wie
einer Sparkasse in diesem zentralen Punkt gleichwertig
ausgestaltet werden. Das heißt, eine Genossenschaftsbank kann die Genossenschaftsanteile ebenso ihrem harten Kernkapital zurechnen wie etwa eine Sparkasse die
Einlagen stiller Gesellschafter.
In den Ratsverhandlungen zur Umsetzung von Basel III hat die Bundesregierung zudem eine Klausel
durchgesetzt, die auch den nicht als Konzern organisierten Finanzverbünden eine günstige Berechnung ihres
Eigenkapitals im Hinblick auf ihre Finanzbeteiligungen
erlaubt. Das Eigenkapital steht den Verbundinstituten
zur Ausreichung von Krediten im Aktivgeschäft weiter
zur Verfügung. Auch in Zukunft werden so Genossenschaftsbanken und Sparkassen in Deutschland ihre zentrale Rolle im Privatkundengeschäft und ebenso bei der
Finanzierung der Wirtschaftsunternehmen umfassend
und letztlich besser als zuvor erfüllen können.
Seitens der Bundesregierung wollen wir alles dafür
tun, diesen großen Regulierungsschritt weiter im Gleichklang mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
voranzubringen. Sie können sich darauf verlassen, dass
die Bundesregierung alles tun wird, um die schwierigen
Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und
Europäischem Parlament zügig zu einem Abschluss zu
bringen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Basel III ist ein dringend notwendiges Regelwerk zur Stabilisierung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weil
der Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eine
verbesserte Ausgestaltung der Banken mit Eigenkapital
dringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanzsystems insgesamt zu verbessern. Eigenkapital stabilisiert, mehr Eigenkapital bedeutet aber auch weniger
Geld für riskante und spekulative Geschäfte.
Basel II, das Vorläufermodell, hatte die Weichen in
die falsche Richtung gestellt. Danach ist es de facto zu
einer geringeren Eigenkapitalunterlegung gekommen, da
die Regelung es den Banken erlaubt hat, Risiken mit eigenen Modellen zu bewerten und zu gewichten und die
Risikobewertungen auf Ratingagenturen zu verlagern.
Der Verlauf der Finanzmarktkrise hat gezeigt: Dies war
ein falscher Weg. Das musste korrigiert werden.
({0})
Die G 20 hatte deshalb schon 2009 in London und
Pittsburgh gefordert, durch die Erhöhung der Quantität
und der Qualität des Eigenkapitals bei verbesserter internationaler Vergleichbarkeit der Eigenmittel die Liquidität des Bankensystems weltweit zu stärken und damit die
Widerstandskraft des Systems gegen Krisen zu verbessern. Kernpunkte waren höhere Eigenkapitalanforderungen mit einem Zuschlag für systemrelevante Banken,
neue Definitionen zur Qualität des Eigenkapitals und
eine nicht risikobasierte Schuldenobergrenze, im Englischen: Leverage Ratio. Diese Leverage Ratio soll allerdings noch nicht verbindlich sein. Wir hoffen aber, dass
sie in absehbarer Zeit endlich verbindlich eingeführt
wird. Kapitalpuffer sollen eingeführt werden, damit die
Banken auch in schwierigen Situationen über ausreichend Liquidität verfügen.
Eigentlich hätten wir hier heute über einen Gesetzentwurf zur Umsetzung von Basel III diskutieren sollen.
Das steht ja auf der Tagesordnung, und wir haben auch
ein dickes Paket von 184 Seiten Gesetzestext auf den
Pulten liegen. Eine ganze Reihe bestehender Gesetze
wird geändert: Pfandbriefgesetz, Kreditwesengesetz bis
hin zum Gesetz über die Landwirtschaftliche Rentenbank, worüber ich mich schon gewundert habe. So weit,
so gut. Wer aber in den Gesetzentwurf hineinschaut,
stellt fest: An den wirklich wichtigen Punkten finden Sie
genau dieses, nämlich Punkte und keine Inhalte.
({1})
Das Werk sollte eigentlich am 1. Januar 2013 in Kraft
treten. Es ist aber nicht fertig. Die Bundesregierung hat
bei den Verhandlungen in Brüssel bisher nicht vermocht,
ein Ergebnis zu erzielen.
({2})
- Herr Flosbach, das ist eine Tatsache, entschuldigen
Sie. Oder wie soll man es nennen, wenn die eigene Zielsetzung nicht erreicht wird?
Es gibt eine Reihe von strittigen Punkten in diesem
sogenannten Trilog auf europäischer Ebene. Alle Beteiligten bemühen sich, zu einem Ergebnis zu kommen,
aber eine ganze Reihe sehr wichtiger Fragen ist noch offen. Dabei geht es zum Beispiel um die Liquiditätssicherung, die Eigenkapitaldefinition oder die Managergehälter. Das sind für uns zentrale Punkte, die geregelt werden
müssen. Erst dann können wir die Qualität dessen, was
letztendlich in Kraft treten soll, auch wirklich bewerten.
Wir können über die Umsetzung von Basel III heute
gar nicht substanziell debattieren, weil wir nur eine Verpackung, aber noch keinen Inhalt vorliegen haben.
({3})
Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregierung: Tun Sie
in der Öffentlichkeit doch bitte nicht so, als würden bereits jetzt strengere Eigenkapitalregeln umgesetzt. Das
ist nicht der Fall.
({4})
Auf den Ärger mit den Briten will ich gar nicht eingehen. Eine interessante Frage hinterher wird sein: Schaffen wir es wirklich, einheitliche Regeln umzusetzen?
Die Briten sind ja bereits jetzt dabei, sich hier herauszustehlen, nachdem sie das Ganze erst erhöhen wollten.
Jetzt wollen sie deutlich unterhalb der Kriterien bleiben.
Das ist wirklich schwierig.
Ich glaube, wir müssen aber auch über die Frage diskutieren: Reicht Basel III eigentlich aus? - Wenn man
sich wissenschaftliche Studien anschaut, dann stellt man
fest: Es gibt eine ganze Reihe solcher Studien, die sagen:
Basel III ist zu lasch. Es bändigt die Banken nicht wirklich.
Ich darf hier einmal Herrn Adair Turner zitieren, der
sagt:
Um das Finanzsystem wirklich sicher zu machen,
müssten die Eigenkapitalauflagen für Banken deutlich schärfer sein als Basel III.
Immerhin ist er Chef der britischen Finanzmarktaufsicht, ein ausgewiesener Experte, kein Vertreter irgendeiner Occupy-Bewegung.
Auch andere Wissenschaftler haben sich dieser Überlegung angeschlossen. Sie sagen, bei einer Eigenkapitalquote von 16 bis 20 Prozent würde die Wahrscheinlichkeit neuer Finanzkrisen deutlich sinken.
Wir wissen auf der anderen Seite, dass sich die Banken aber vehement dagegen wehren, höhere Eigenkapitalanteile zu unterlegen. Die große Frage ist: Kommt es
dann wirklich dazu, dass die Zahl der Kredite, die vergeben werden können, dann deutlich geringer wird? Wird
es zu einer Kreditklemme kommen? Wie sind die Auswirkungen auf die Realwirtschaft?
Man wird das im Moment sicherlich nur ansatzweise
beurteilen können. Es gibt sehr seriöse Schätzungen, die
sagen, die Auswirkungen deutlich höherer Eigenkapitalunterlegungen sind begrenzt. Also, zum Beispiel hat die
Bank für internationalen Zahlungsausgleich einmal gesagt: Eine Verdoppelung der Basel-III-Quote würde das
Wachstum um ungefähr 0,7 Prozent bremsen. Das wäre
dann natürlich ein relativ überschaubarer Preis für ein sicheres Finanzsystem.
Ich sage nicht, dass wir das fordern, ich sage nur, man
muss es sehr genau beurteilen, evaluieren und wissenschaftlich begleiten.
Wir wären schon froh, wenn es gelänge, Basel III im
vereinbarten Zeitplan umzusetzen und eine vernünftige
Eigenkapitalunterlegung zu schaffen.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, nun den Worten auch Taten folgen zu lassen. Wir werden dann über
die entsprechenden Details reden. Wir können nur hoffen, dass es sehr bald gelingt, auch wirklich Fakten zu
schaffen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beginnen heute die Beratungen über ein ganz
zentrales Gesetzesvorhaben in der Regulierung der
Finanzmärkte. Gemeinsam mit dem Bankenrestrukturierungsgesetz wird es meiner Auffassung nach das Fundament einer neuen Sicherheitsarchitektur darstellen.
In der Tat ist es ein ungewöhnliches Verfahren, Herr
Kollege Zöllmer, wenn man mit den Beratungen beginnt, bevor die eigentliche Richtlinie in Brüssel fertig
ist. Das ist völlig richtig.
Heute früh hat Ihr Kanzlerkandidat gesagt, man soll
den europäischen Partnern nicht immer gleich mit der
Kavallerie drohen, wenn aus deutscher Sicht irgendetwas nicht richtig läuft.
({0})
- Also, den europäischen; die Schweiz gehört ja nicht
dazu.
Insofern wundert es mich jetzt schon, dass Sie der
Auffassung sind, dass hier am deutschen Wesen dann
auch die Welt bzw. die europäische Welt genesen soll.
Tatsache ist, es hakt in Brüssel, aber - der Staatssekretär Koschyk hat das schon sehr richtig gesagt - wir
sind bereit, das umzusetzen. Insofern finde ich es auch
richtig und gut, dass die Bundesregierung jetzt mit den
Beratungen beginnt, um auch einen kleinen Hinweis
nach Brüssel zu geben, dass man dort vielleicht das eine
oder andere Problem etwas schneller löst.
Worum geht es? Es gibt zwei grundlegende Probleme
für jedes Unternehmen, in Schwierigkeiten zu kommen.
Das eine ist eine Überschuldung, das andere ist ein Liquiditätsengpass. Beide Probleme haben wir im Rahmen
der Finanzkrise bei Banken gesehen. Beide Probleme
sind eben bei Banken aufgrund der Verflechtungen und
auch der Wichtigkeit für die Realwirtschaft nicht so
ohne Weiteres zu lösen.
Diese beiden Probleme werden mit dem Basel-IIIVorhaben oder CRD-IV-Vorhaben in den Griff zu bekommen sein. Es wird eine risikoadäquate Eigenkapitalunterlegung geben. Es gibt eine neue Definition dessen,
was überhaupt Eigenkapital ist, welche Qualität das haben sollte. Auch hier herzlichen Dank an die Bundesregierung, dass die deutschen Besonderheiten entsprechend berücksichtigt werden. Die sind gelöst.
Darüber hinaus werden weitere Risiken, die es geben
kann, geregelt, beispielsweise das Gegenparteiausfallrisiko, das Risiko, das sich aus der Unternehmensführung einer Bank ergeben kann. Glücklicherweise ist das
alles so angelegt, dass wir über den Umsetzungsweg in
Form einer Verordnung zumindest in Europa auf ein „level playing field“ kommen. Aber ich erinnere noch einmal an den Entschließungsantrag, den dieses Haus im
letzten Jahr zu diesem Thema mit großer Mehrheit beschlossen hat. Wichtig ist, dass diese Regeln auf allen relevanten Finanzmärkten dieser Welt umgesetzt werden.
Die Abhängigkeit von Ratingagenturen wird durch
das Vorhaben reduziert werden. Es wird eine Stärkung
des internen Ratings geben, sodass wir dann insgesamt
zu einer guten Aufstellung kommen: auf der einen Seite
die CRD-IV-Maßnahmen, die präventiv wirken, auf der
anderen Seite das Bankenrestrukturierungsgesetz, das
dann, sollte es zu Problemen kommen, eine geordnete
Abwicklung ermöglicht.
Mit dem im Bankenrestrukturierungsgesetz vorgesehenen „living will“ werden sich Kreditinstitute so organisieren müssen, dass sie problematische Teile relativ
schnell herauslösen können. Das ist im Prinzip eine Art
Trennbankensystem, das da entsteht. Diese Regelungen
in Kombination mit der Einlagensicherung werden dann
die Sparer schützen und unser Finanzsystem stabilisieren.
Der Binnenmarktkommissar Barnier hat bei der Vorstellung des Richtlinienentwurfs gesagt:
Die Finanzkrise hat viele Familien und Unternehmen in Europa hart getroffen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es noch einmal zu einer solchen Krise
kommen kann und unser Wohlstand durch einige
wenige Finanzmarktakteure aufs Spiel gesetzt wird.
Das ist richtig. Da ist schon viel erreicht worden, um
Vorsorge zu treffen. Es ist auch noch einiges offen. Aber
es ist ein großes Verdienst dieser Bundesregierung, dass
wir schon extrem weit gekommen sind.
Das nutzt uns aber nichts, wenn die Regulierung am
Ende dafür sorgt, dass die Finanzbranche nicht mehr in
der Lage ist, ihrer Aufgabe vernünftig nachzukommen,
nämlich die Realwirtschaft zu finanzieren; denn um den
von Herrn Barnier angesprochenen Wohlstand zu erreichen, brauchen wir Wachstum. Das Wachstum muss
finanziert werden. Die kumulativen Wirkungen der Regelungen, die wir schon jetzt haben - es kommen noch
weitere -, bereiten möglicherweise doch die eine oder
andere Sorge, dass es hier zu Problemen kommt.
Im Handwerk gibt es einen Spruch, der da lautet:
Nach Fest kommt Ab. - Auch das muss beachtet werden.
Insofern freue ich mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke
unser Kollege Dr. Axel Troost. Bitte schön, Kollege
Dr. Axel Troost.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Beratung hat schon eine gewisse Komik. Das ist
schon deutlich geworden, sowohl durch die Rede von
Staatssekretär Koschyk als auch vom Kollegen Zöllmer
von der SPD. Wir beraten hier einen Gesetzentwurf.
Aber die dazugehörige Richtlinie und Verordnung der
EU liegen nicht vor. Insofern haben wir hier in der Tat
eine Hülle und keinen Inhalt, über den man wirklich
konkret streiten könnte.
({0})
Warum dieser unreife Gesetzentwurf? Sie wollen damit besondere deutsche Termintreue beweisen. In Pittsburgh ist 2009 beschlossen worden, dass das Basel-IIIAbkommen bis Ende 2012 vorliegen soll. In Pittsburgh
ist aber auch beschlossen worden, dass sich bis dahin
alle zu den UN-Millenniumszielen und zu der Entwicklungshilfequote bekennen sollen. Dabei haben Sie bisher
keine solche Termintreue zeigen können.
({1})
Jetzt aber zum Basel-III-Abkommen selber. Wir sind
uns in drei wesentlichen Punkten in der Tat einig: Erstens. Das Basel-III-Abkommen ist nur ein Element einer
umfassenden Finanzmarktregulierung. Zweitens. Höheres und besseres Eigenkapital ist für Banken sinnvoll,
weil Banken damit widerstandsfähiger sind. Drittens.
Bank ist nicht gleich Bank. Das Basel-III-Abkommen
darf nicht dazu führen, dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken auf der Strecke bleiben. Das würde das
Finanzsystem nicht sicherer, sondern nur noch wackeliger machen.
({2})
Doch über dieses Grundsätzliche hinaus gibt es aus
unserer Sicht allen Anlass, zu meckern. Die Reform geht
grundsätzlich in die richtige Richtung. Sie wird der Tiefe
der Krise und dem bestehenden Veränderungsbedarf
aber nicht gerecht. Insbesondere differenziert die Novelle ungenügend zwischen auf der einen Seite den Banken, die im internationalen Kapitalmarkt das große Rad
drehen, und auf der anderen Seite den Tausenden kleinen
Banken, welche hauptsächlich Spareinlagen verwalten
und private Haushalte sowie kleine und mittelständische
Unternehmen mit Krediten versorgen. Es sind aber die
wenigen großen Banken vom Schlage einer Deutschen
Bank oder einer Commerzbank, die uns Kopfschmerzen
bereiten, und nicht die vielen kleinen Sparkassen und
Genossenschaftsbanken. Außerdem wird das Problem
der Schattenbanken überhaupt nicht angegangen, sondern bleibt völlig außen vor. Außer vagen Absichtserklärungen haben Sie zu diesem Bereich bisher rein gar
nichts geliefert.
Doch bleiben wir bei den Banken im Engeren. Die
systemrelevanten Banken sollen einen Eigenkapitalzuschlag von 1 bis 3,5 Prozent bekommen. Insgesamt liegt
deren Eigenkapitalquote damit im historischen Vergleich
aber immer noch relativ niedrig. Staaten wie die
Schweiz und Schweden wollen im nationalen Alleingang deutlich höheres Eigenkapital verlangen.
Laut Finance Watch, einer Organisation, die den Kapitalmarkt schon genau beobachtet, hätte in der jüngsten
Krise - das ist eben auch angesprochen worden - eine
Eigenkapitaldecke von ungefähr 16 Prozent die meisten
Verluste einzelner Banken absorbiert. Bei 24 Prozent
- so deren Berechnung - hätten beinahe alle Verluste in
sämtlichen Bankenkrisen seit 1988 absorbiert werden
können.
Wir liegen aber mit den Entwürfen und den Gedanken
bisher weit darunter. Gerade große Banken müssen aber
gezwungen werden, entsprechend mehr Eigenkapital
vorzuhalten. Doch Sie lehnen entsprechende Zuschläge
in großem Umfang für systemrelevante Banken ab. Basel III ist daher wesentlich zu zaghaft. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Finanzprodukte, Institute und
Geschäftsmodelle entwickelt. Dafür gab es immer den
Applaus, weil die Märkte das entwickelt haben. Dann
hat man gesagt: Wir wollen eine Art Selbstregulierung
haben. Diese Selbstregulierung ist nach wie vor auch die
Logik von Basel III. Sie drehen sie nur etwas zurück.
Seit Basel II können Banken nämlich ihr eigenes Risikomanagement anwenden. Es ist eben die Frage, ob das
ausreichend und sicher ist. In Zeiten, in denen alles gut
gelaufen ist, gab es hohe Boni und Gewinne. Als es dann
schlecht lief, mussten die Steuerzahler und die Staaten in
die Bresche springen. Wir sagen daher: Die Höhe des Eigenkapitals zu bestimmen, ist Aufgabe der Aufsicht und
nicht Aufgabe der Bank selbst oder privater Agenturen.
({3})
Deshalb fordern wir, keine mit internen Modellen berechneten Risikogewichte zu akzeptieren. Wir fordern
auch, sämtliche Passagen aus dem Gesetz herauszunehmen, in denen externe Ratings zugrunde gelegt werden.
Wir fordern eine Aufsicht auf Augenhöhe bei den Banken und mit den Banken. Wir müssen uns trauen, den
Banken in der Tat Vorgaben zu machen, die eine ausreichende Eigenkapitalvorsorge bedeuten und den internationalen großen Banken, die am großen Rad drehen, so
viel Rückhalt geben, dass sie im Falle einer Auseinanderentwicklung bzw. einer Krise Auffanglösungen aus
dem Eigenkapital haben und nicht die Staaten zu Rettungsaktionen herangezogen werden.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Axel Troost. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist es bemerkenswert, dass das Regelwerk auf europäischer Ebene noch nicht fertig ist und wir hier trotzdem schon eine Vorlage haben. Ich finde, es ist aber eigentlich sinnvoll, dass wir versuchen, so zügig wie
möglich an die Umsetzung zu gehen und den Prozess zu
beginnen.
Wenn man über die Verhandlungen in Brüssel redet,
muss man, finde ich, aber einmal sagen, was da eigentlich die Verhandlungsposition ist und wer da auf welcher
Seite steht. Darüber habe ich noch nicht viel gehört. Der
erste Punkt sind die Liquiditätsregeln. Aus dem Rat, dem
Vertreter der Regierungen, wird verhindert, dass ein festes Datum festgelegt wird. Das Parlament will hier ein
festes Datum für die Einführung festlegen. Ich glaube,
das ist auch sinnvoll.
({0})
- Sie können nachher gerne Ihre Ausführungen machen
und das darlegen.
({1})
- Ich habe nicht widersprochen. An dieser Stelle ist es
vielleicht ausnahmsweise einmal nicht die Bundesregierung. Das können Sie nachher gerne ausführen. Sonst
melden Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage, wenn Sie
das genauer haben wollen.
Der zweite Punkt sind die Bonuszahlungen. Viele
Menschen haben sich zu Recht darüber empört, dass
Millionenboni dazu geführt haben, dass Banken große
Risiken eingehen und nachher genau die Leute, die Boni
kassiert haben, nicht die Verantwortung übernehmen,
wenn es schiefgeht.
Unsere grüne Position im Europäischen Parlament ist,
dass wir die Bonuszahlungen so tief drücken, dass sie
nicht höher sind als das Fixgehalt - höchstens eins zu
eins. Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen diese
Position aufweichen. Ich glaube, es ist im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger und eines stabilen Finanzmarktes, dass wir zu Regelungen für niedrigere Bonuszahlungen kommen und die Fehlentwicklungen in der Vergangenheit endlich korrigieren.
({2})
Dann geht es um die Aufschläge für systemische Banken. Dabei muss man sagen: Es ist notwendig, dass wir
für große Banken einen zusätzlichen Kapitalpuffer aufbauen, der mit zusätzlicher Größe ansteigt. Es ist nämlich so, dass seit Ausbruch der Finanzkrise viele Institute
noch größer geworden sind und damit die Gefahr bei einem Zusammenbruch noch gewachsen ist. Deswegen
sind wir Grünen für eine Größenbremse für Banken, die
sicherstellt, dass Größe sich nicht lohnt, sondern teuer
wird, und wollen auch im Europäischen Parlament
durchsetzen, dass es Aufschläge gibt, die auf europäischer Ebene gemeinsam etabliert werden.
({3})
Es geht auch darum, dass die europäische Bankenaufsicht festlegen kann, wie die Qualität des Kapitals aussehen soll. Auch hier stehen wieder die nationalen Regierungen im Rat auf der Bremse. Wir diskutieren über eine
europäische Bankenaufsicht, und gleichzeitig wird noch
dabei gebremst, gemeinsame europäische Standards über
die bereits bestehende europäische Bankenaufsicht
durchzusetzen. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir
hier einen Schritt vorankommen.
Ich will noch zu einem weiteren Punkt kommen, der
wichtig ist: Was leistet eigentlich Basel III in Bezug auf
die Eigenkapitalausstattung? Das ist der zentrale Kern
der neuen Regulierung. Wir können sehen, dass man immer noch bei dem alten Modell bleibt.
Ich nehme das Beispiel Deutsche Bank: Bilanz
2,2 Billionen Euro. 56 Milliarden Euro sind regulatives
Eigenkapital. Trotzdem heißt es: Die Kapitalquote beträgt 9,5 Prozent. Das klingt erst einmal viel und hört
sich nach Stabilität an. Aber wenn man die zwei genannten Größen zueinander ins Verhältnis setzt, kommt man
auf eine Relation von 2,5 Prozent. Dann sieht man den
Unterschied in der Frage, ob man es den Banken wie bisher erlaubt, ihre Bilanz kleinzurechnen und damit eine
größere Kapitalquote auszuweisen, als vorhanden ist,
oder ob wir ein stabileres System mit einer Schuldenbremse für Banken schaffen, indem wir wirklich fragen:
Wie ist das Verhältnis von Eigenkapital zur gesamten Bilanzsumme?
Dabei müssen wir eines sehen: Auch fünf Jahre nach
Ausbruch der Finanzkrise wird in Deutschland einer
Bank wie der Deutschen Bank eine Eigenkapitalausstattung von nur 2,5 Prozent erlaubt. Dieselbe Bank würde
einem mittelständischen Unternehmen, das nur 2,5 Prozent Eigenkapital hat, nie einen Kredit geben. Dazu sagen
wir Grünen zusammen mit vielen wissenschaftlichen Institutionen: Es braucht definitiv eine Untergrenze, eine
Schuldenbremse für Banken. Wir wollen ein Eigenkapital von 5 Prozent als Minimum vorschreiben, wie es in
Kanada bereits der Fall ist, wo wir unter anderem bei einer Reise des Finanzausschusses gelernt haben, dass
auch deswegen die kanadischen Banken von der Krise
nicht so stark getroffen worden sind wie die deutschen
Banken.
Dabei ist ein Punkt sehr wichtig. Dass die deutsche
Bundesregierung - in dem Fall war es wirklich die deutsche Bundesregierung, und dazu müssen auch die Koalitionsfraktionen stehen - in Basel, vertreten durch die
Bundesbank, und in Brüssel darauf gedrängt hat, dass
die Leverage Ratio, also die ungewichtete Eigenkapitaluntergrenze, nicht festgeschrieben wird, sondern wir erst
noch fünf Jahre beobachten, halte ich für falsch. Da
stand die Bundesregierung auf der falschen Seite. Denn
wir müssen es endlich schaffen, Stabilität sicherzustellen. Es ist viel zu gefährlich, Banken mit so wenig Eigenkapital zuzulassen.
({4})
Wir haben jetzt einen großen Gesetzentwurf mit sehr
vielen einzelnen Punkten vor uns. Sie sind schon genannt worden: Es geht um Anpassungen bei der Rentenbank - das halten wir für sinnvoll -, es geht darum, das
in vielen einzelnen Punkten anzupassen.
Dann haben wir die Möglichkeit, nationale Wahlrechte auszuüben. Da gilt es jetzt wieder, genau hinzuschauen, was uns eigentlich die Koalition hier vorschlägt. Das ist im Kern unsere Aufgabe als Deutscher
Bundestag: zu entscheiden, welche dieser Wahlrechte
wir wie ausüben. Wir stellen fest, dass bei entscheidenden Punkten, bei denen der nationale Gesetzgeber das
umsetzen kann - zum Beispiel bei der Frage der Risikogewichtung bei Immobilienkrediten -, die Bundesregierung uns vorschlägt, diese Wahlrechte nicht zu nutzen
und damit aufsichtsrechtlich bei uns nicht so stark aufgestellt zu sein, wie wir es sein könnten. Angesichts der
Entwicklung, dass wir an manchen Stellen gerade in
Deutschland im Immobiliensektor eine beginnende
Blase haben, halten wir es für falsch, an dieser Stelle die
Wahlrechte nicht auszunutzen. Vielmehr müssten wir
auch national entsprechend dort vorsorgen, wo uns das
europäische Recht die Möglichkeit dazu gibt.
Es gibt also Bedarf, nachzusteuern: zum einen beim
Thema Leverage Ratio, also beim Thema Schuldenbremse für Banken. Wir wollen eine stabile Eigenkapitaluntergrenze. Zum anderen müssen wir dafür sorgen,
dass die nationalen Wahlrechte so ausgeübt werden, dass
der deutsche Finanzmarkt stabil ist. Denn eines muss
man in Deutschland zur Kenntnis nehmen - die internationalen Vergleiche sind sehr eindeutig -: Im internationalen Vergleich - ich zitiere den Global Financial Stability Report des Internationalen Währungsfonds vom
Oktober 2012, also ganz aktuell - sind die deutschen
Banken diejenigen mit der schwächsten Eigenkapitalausstattung. Das heißt, wir haben hier noch richtig was
zu tun.
Danke.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Klaus-Peter
Flosbach.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind im fünften Jahr der Banken- und Finanzenkrise. Jeder Presseartikel, jedes Buch, jeder Wissenschaftler, der
über die Krise spricht, wird über das Eigenkapital von
Banken sprechen. Überall wird dargelegt, die erste Erkenntnis aus dieser Krise sei gewesen, dass die Banken
mehr Eigenkapital haben müssen. Dies setzt sich in allen
Bereichen durch, und deswegen unterscheiden wir uns
auch in dieser Grundsatzfrage nicht. Die Risiken werden
gemindert, je mehr Eigenkapital da ist. Auch viele unserer Diskussionen über Trennbanken, über Fragen der Insolvenz oder über Einlagensicherung relativieren sich, je
mehr Eigenkapital im Bankensystem vorhanden ist.
Weil das so eine zentrale und wichtige Frage ist, stellen wir uns als Regierungspartei natürlich auch die
Frage, warum sich der Kanzlerkandidat der SPD, der in
einem Papier von 5 plus 25 Seiten dargelegt hat, wie er
das alles regulieren würde, nicht dazu bequemt, doch
einmal in dieses Parlament zu kommen, um mit den
Finanzpolitikern über diese zentrale Frage zu diskutieren.
({0})
Das mag auch daran liegen, dass in seiner Stellungnahme von diesen insgesamt 30 Seiten sich überhaupt
nur eine einzige Seite mit diesem Thema beschäftigt hat,
das allgemein als die zentrale Sache der Finanzmarktregulierung anerkannt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es um
die Umsetzung der europäischen Richtlinie. Es ist ein
Rahmenwerk zur Stärkung der Widerstandskraft der
Banken, auch bekannt geworden unter dem Thema Basel III, weil es eben in Basel einen Ausschuss gibt, der
aus Notenbankern und Vertretern von Aufsichtsbehörden
besteht und im Grunde die Standards für die Finanzmarktstabilität festlegt.
Es ist von den Kollegen angesprochen worden, dass
wir bereits jetzt beginnen. Wir haben seit dem 22. August einen Kabinettsentwurf vorliegen, obwohl die Entscheidung auf der europäischen Ebene in der Tat noch
nicht gefallen ist.
Wir waren letzte Woche mit einigen Kollegen im
französischen Parlament und haben dort einen Unterschied in der Finanzdiskussion festgestellt. Wir haben
nämlich einen anderen parlamentarischen Prozess als die
Franzosen, die das möglicherweise in ganz kurzer Zeit
verabschieden, während wir uns sehr intensiv über
Monate mit diesem Thema beschäftigen. Ich halte es für
richtig, dass wir das machen, auch wenn noch nicht jedes
Detail geklärt ist.
Auf der europäischen Ebene gibt es noch ein Vermittlungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament,
der Europäischen Kommission und dem Europäischen
Rat, bekannt als das Trilogverfahren. Nach meinen Erkenntnissen wird sich das noch einige Monate hinziehen.
Ich glaube nicht, dass wir den 1. Januar halten können.
Die Ziele sind aber dennoch festgelegt worden, wobei es
sich hier um folgende Fragen handelt: Wie schaffen wir
eine größere Widerstandskraft? Wie sieht es mit Risikomanagement aus, und wie sieht es mit Transparenzsystemen aus?
Zentral ist aber auf jeden Fall, dass deutlich gemacht
wird: Wir brauchen mehr Eigenkapital im Bankensystem, sowohl von der Qualität als auch von der Quantität
her. Die normalen Banken müssen bis zum Jahre 2019,
also Zug um Zug, diese Vorgabe auch hier in Deutschland umsetzen. Das ist für die eine oder andere Bank
aber nicht ganz einfach, weil die Banken neben der Beschaffung von zusätzlichem Eigenkapital auch noch die
Bankenabgabe zu tragen haben. Zudem sind wir auf dem
Weg zur Finanztransaktionsteuer. Es ist also mit weiteren Belastungen zu rechnen.
Bei dem Treffen der G 20 in Cannes ist deutlich geworden: Je größer eine Bank ist, desto mehr Eigenkapital muss vorgehalten werden. Deswegen kann ich hier
nicht den Eindruck bestätigen, dass die großen Banken
kein erhöhtes Eigenkapital vorlegen müssten. Gerade in
Cannes ist noch einmal eine Erhöhung um 2,5 Prozentpunkte vorgenommen worden. Wir haben mehr oder weniger positiv auch die sogenannten Stresstests in Europa
begleitet, die EBA-Stresstests, deren Ergebnis war, dass
13 deutschen Banken gesagt wurde, sie müssten deutlich
mehr Eigenkapital schon bis zum 30. Juni des Jahres
2012 vorhalten. Hier ging es allein um eine Summe von
13 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass die großen Banken
natürlich deutlich mehr Eigenkapital vorhalten müssen.
Wir haben hier heute morgen auch schon über die
Bankenunion gesprochen. Da geht es um die Frage, ob
die Europäische Zentralbank eine neue Aufsichtsposition übernehmen soll. Meines Erachtens ist es bei dieser
Diskussion über Basel III oder CRD IV einfach wichtig,
dass wir auch in den nächsten Monaten darauf achten,
dass wir die Regulierung angemessen, proportional umsetzen. Das heißt, kleine Banken dürfen nicht so kontrolliert werden wie große Banken. Was die Sparkassen und
die Volksbanken angeht, sollte deutlich werden, dass
hier proportional kontrolliert und beaufsichtigt wird,
aber nicht das Gleiche wie bei den großen Banken gemacht wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nun einmal in Europa unterschiedliche Bankensysteme. Für uns
war es sehr wichtig, dass auch bei der Definition des
Eigenkapitals auf die Rechtsformneutralität geachtet
wurde. Rechtsformneutral heißt, dass die sogenannten
stillen Einlagen unserer Sparkassen oder die Genossenschaftsanteile der Genossenschaftsbanken als hartes
Kapital akzeptiert werden.
Wir diskutieren über die Liquidität und haben in der
Krise erfahren, dass gerade die Liquidität bei den Banken ein ganz großes Problem gewesen ist. Auch hier gibt
es noch Fragen, zum Beispiel wie Liquidität definiert
wird.
Als sehr problematisch sehe ich den Ansatz an, den
Herr Schick gerade angesprochen hat; wir werden ihn
diskutieren. Auch Herr Steinbrück hat das in seinem
Papier vorgelegt. Es geht darum, dass möglicherweise
Privatanleger, die ein Haus bauen, nicht nur 20 Prozent
Eigenkapital vorweisen müssen, sondern Immobilien
möglicherweise nur bis zu 60 Prozent finanziert werden
können, dass also ein höheres Eigenkapital vorhanden
sein muss. Ich vermute, das würde manchem die Möglichkeit nehmen, ein Haus zu bauen. Die Erfahrung, die
wir mit dem Hypothekensystem hier in Deutschland gesammelt haben, ist meines Erachtens sehr gut. Wir ermöglichen auch Beziehern kleinerer Einkommen, eine
Immobilie zu erwerben. Ich möchte an diesem System
nicht rütteln.
({1})
Es gibt auch Kritik am jetzigen Verfahren, nämlich
dass es eine Verordnung gegeben hat. Wir haben auch
die Möglichkeit, einen Teil über eine Richtline umzusetzen. Wir haben nationale Einflussmöglichkeiten, insbesondere was die Aufsicht angeht. Das betrifft die Kontrolle vor Ort, aber auch die Abhängigkeit von externen
Ratings oder die Sanktionierung bei Verstößen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Trilog, das Abstimmungsverfahren, läuft. Auch wir fordern, dass Mittelstandskredite anders unterlegt werden, dass also die
Möglichkeit zur Finanzierung unserer Realwirtschaft,
insbesondere unserer mittelständischen Wirtschaft, entsprechend berücksichtigt wird. Auch werden wir prüfen
müssen, ob die Bewertung von Beteiligungen so angemessen ist. Aber ich denke nach wie vor: Es ist und
bleibt das Kernthema.
Ein letzter Satz noch einmal zu Steinbrück: In den
25 Seiten seiner Vorlage hat er auf eines überhaupt nicht
hingewiesen, was möglicherweise für uns auch Gegenstand einer Diskussion sein wird, nämlich auf die Eigenkapitalunterlegung für Staatsanleihen. Mit diesem
Thema müssen wir uns in den nächsten Jahren beschäftigen. Das ist das zentrale Problem der jetzigen Staatsschuldenkrise. Dass dieses Thema von Herrn Steinbrück
überhaupt nicht angesprochen worden ist, zeigt doch
nur, dass er sich die Möglichkeiten einer höheren Staatsverschuldung auch in Zukunft nicht nehmen lassen will.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Flosbach.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Dr. Carsten
Sieling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
fühle mich heute der größten Herausforderung meiner
Parlamentarierzeit unterworfen.
({0})
Das liegt vor allem daran, dass wir heute einen Gesetzentwurf beraten, der - mehrere vor mir haben es gesagt noch gar keine Grundlage hat.
({1})
Es gibt einen Kabinettsbeschluss vom 22. August; aber
den wollen wir ja noch verändern. In Wirklichkeit hat
dieses Gesetz noch überhaupt keine Grundlage.
({2})
Auch Sie sagen, dass Sie es anders machen wollen. Wir
stehen hier und müssen über einen schwebenden Vorgang reden. Das ist nahezu eine artistische Übung. Ich
nenne das ein virtuelles Gesetz - und das zu einer so
wichtigen Frage. Ich hätte erwartet, dass Sie - Kollege
Flosbach hat einige Punkte angesprochen - etwas klarer
sagen, was die Bundesregierung denn wirklich an harten
Verhandlungspunkten einbringen will. Das brauchen wir.
Der Vorgang ist zu ernst. Es muss eine ernsthafte Regulierung in diesem Land, aber auch auf der europäischen
Ebene geben.
({3})
Ich sage mit Blick auf die Verhandlungsposition der
Bundesregierung: Wir müssen in viel stärkerem Maße,
als das im Rahmen von Basel III ursprünglich vorgesehen war, nicht nur in Deutschland, sondern auch im internationalen Raum die Besonderheiten der Bankaktivitäten gewichten und unterstreichen.
Ich will, damit Sie nicht auf dumme Ideen kommen,
in dieser Debatte noch einmal sagen, was wir Sozialdemokraten uns vorstellen. Wenn Sie sich einmal die Mühe
machen würden, sich das Papier von Peer Steinbrück genau anzuschauen, würden Sie sehen, dass die dort vorgeschlagene Regulierung durchgreift und richtig ist. Da
reichen die lockeren Leistungspunkte, die Sie hier vorlegen, bei weitem nicht hin; da müssen Sie schon mehr auf
den Tisch legen.
Bei diesem Mehr geht es insbesondere um das Verhältnis von Risiken und Haftung. Das ist ein wesentliches Grundprinzip. Da bedarf es einer größeren Anstren23888
gung und klarer Veränderungen. Bisher ist überlegt
worden, dass unterschiedliche Risiken auch unterschiedlich behandelt werden sollen. Das muss ein Grundakzent
sein.
Der wichtigste Aspekt ist in diesem Zusammenhang,
dass wir bei den Eigenkapitalregeln, aber auch bei den
Liquiditätsregeln - inklusive der Leverage Ratio, der
Verschuldungsgrenze - die Größe der Institute ins Auge
fassen müssen; ich komme gleich noch einmal darauf zu
sprechen. Ich will an dieser Stelle sagen: Die 2,5 Prozentpunkte, um die die Anforderungen noch einmal erhöht worden sind, reichen uns nicht. Das ist nicht genug,
um den Sektor sicher zu machen.
({4})
Wir werden uns aber auch das Geschäftsverhalten genauer anschauen müssen. Nicht umsonst kommen wir zu
dem Vorschlag eines Trennbankensystems, also einer
Trennung der Aktivitäten. Wir halten das gerade in Verbindung zu den realwirtschaftlichen Notwendigkeiten
für bedeutend. Dass mit Mittelstandskrediten anders umgegangen werden muss als mit spekulativen Geschäften
oder mit Eigenhandel von Banken, ist klar. Das sind unterschiedliche Risiken, und die sind unterschiedlich zu
behandeln.
({5})
Damit sind wir bei den unterschiedlichen Instituten.
Wir wissen: Die, die mit ihrem Kreditgeschäft die gewerbliche Wirtschaft, die Industrie, ja wirtschaftliche
Aktivitäten im Land überhaupt unterstützen, sind in
überdurchschnittlichem Maße Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Trotz aller Bemühungen der Großbanken muss man eigentlich sagen: Großbanken sind
wirtschaftspolitische Blindgänger. Ich finde, das muss
man auch entsprechend gewichten.
Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
die Auswirkung auf die Kommunalfinanzierung. Das hat
mit den Volksbanken und den Sparkassen zu tun. Wir
Sozialdemokraten machen uns große Sorgen, dass es im
Zusammenhang mit der Leverage Ratio, der Verschuldungsgrenze, zu unterschiedlichen Herangehensweisen
kommt. Das, was ich gerade differenziert ausgeführt
habe, gilt auch dort.
Kollege Schick hat das Europäische Parlament angesprochen. Ich finde, nicht alle Ebenen des Vorschlags
des Europäischen Parlaments sind umfänglich betont.
Das Europäische Parlament hat einen Vorschlag mit drei
Stufen gemacht. Die erste Stufe heißt: Banken, die immer noch meinen, Spekulationsgeschäfte betreiben zu
müssen, müssen eine Leverage Ratio von 5 Prozent erfüllen. Normale Risiken werden mit 3 Prozent und das
risikoarme, margenschwache Geschäft wird mit einer
Obergrenze von 1,5 Prozent belastet. Ich finde diesen
Vorschlag richtig. Wir sollten das, was dazu im Europäischen Parlament angedacht wird, in die Debatte aufnehmen. Das zu diesem Punkt.
({6})
- Herr Kollege, Sie werden gleich noch die Gelegenheit
haben, hier zu reden. Es wäre schön, wenn Sie darlegen
würden, was durch den Eigenhandel passiert ist, wie sich
viele Sektoren entwickelt haben und wie wir dort eingreifen und begrenzen müssen. Ich sage Ihnen an dieser
Stelle - hierzu möchte ich, Herr Kollege Wissing, ein
klares Wort von Ihnen hören -: Die Boni müssen deutlich reduziert werden. Ich bin sehr dafür, dass die flexiblen Bestandteile, also Prämien und Ähnliches, Anreize,
die auch in die falsche Richtung führen können, nicht
höher sein dürfen als die festen Bestandteile. Ich will
auch sagen: Es muss auch eine steuerliche Begrenzung
der Absetzbarkeit von Boni geben. Das ist jedenfalls unsere Position als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss etwas sagen, weil ich
ahne, was jetzt kommt. Mich erinnert das immer an den
unvergessenen Rudi Carrell. Ich bitte aber darum, Kollege Wissing, heute nicht so viel an Carrell zu denken.
Rudi Carrell hat gesagt: Schuld ist immer die SPD, an
dem schönen Wetter, aber auch am schlechten Wetter. Ich befürchte, dass jetzt wieder eine Rede kommt, die
sich leider nicht mit dem Thema auseinandersetzt, sondern das Lied zu singen versucht: Schuld ist immer die
SPD. Ich sage: Vorangehen wird es in diesem Land und
eine ordentliche Regulierung wird es geben, wenn die
SPD wieder mehr zu sagen bekommt und regiert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. - Nächster Redner
ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP. Wir
haben eben gehört, die Erwartungen an ihn vonseiten der
Sozialdemokraten sind sehr groß. Bitte schön, Kollege
Volker Wissing.
({0})
Herr Präsident! Ich danke Ihnen. Falls Rudi Carrell
jemals gesagt haben sollte: Schuld ist immer nur die
SPD
({0})
- oder es gesungen hat -, dann kann man feststellen,
dass er ein kluger Kopf gewesen ist.
({1})
Ich möchte heute über das Thema Basel III reden. Ich
sage Ihnen: Wir haben Lehren aus der Krise gezogen.
Wir haben in der Krise gesehen, dass Banken Probleme
hatten, weil sie keine ausreichende Liquidität hatten. Wir
haben gesehen, dass Banken Probleme hatten, weil sie
kein ausreichendes Eigenkapital hatten. Wir haben uns
zu Beginn dieser Legislaturperiode als Koalitionsfraktion die Frage gestellt: Welches sind die zentralen Lehren aus dieser Krise? Wir haben gesagt: Der Schwerpunkt muss darauf liegen, die Eigenkapitalausstattung
der Banken zu verbessern und Liquiditätspuffer zu
schaffen, damit sich das Gleiche nicht wiederholt. Dann
haben wir gesagt: Wir brauchen auch einen Restrukturierungsfonds. Für den Fall, dass Banken wieder ins Straucheln geraten, soll der Steuerzahler nicht dafür aufkommen. Dafür brauchen wir eine Bankenabgabe. Die muss
der Höhe nach so ausfallen, dass genügend Möglichkeiten vorhanden sind, Liquiditätspuffer zu finanzieren und
Eigenkapitalvorsorge zu treffen.
Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden.
Sie haben - Sie lassen hier im Plenum keine Gelegenheit
aus, das zu betonen; das gilt auch für Peer Steinbrück
mit seinem Papier - den Schwerpunkt auf eine höhere
Bankenabgabe gelegt und sagen immer, dass sie noch
höher sein muss. Deswegen können Sie sich hier nicht
glaubwürdig hinstellen und sagen, Basel III sei der
richtige Weg. Der Weg, den Sie immer propagieren, ist
eine höhere Bankenabgabe. Der Weg, den wir für besser
halten, ist Basel III: Eigenkapitalvorsorge, Liquiditätspuffer.
({2})
Deswegen ist es falsch und außerdem scheinheilig,
wenn Sie sich Basel III zu eigen machen. Sie argumentieren immer gegen diesen Regulierungsansatz. Wir haben uns für einen anderen Ansatz entschieden als Sie;
wir haben uns Basel III zu eigen gemacht, weil mit Basel III genau die richtigen Lehren aus der Krise gezogen
werden.
({3})
Sie wollen einen staatlichen Fonds füllen; Sie können
den Menschen jedoch nicht erklären, wie eine Bank
1 Euro aus ihrem Gewinn gleich dreimal ausgeben kann.
({4})
1 Euro bleibt 1 Euro. Dann kommen Sie auch noch
und verlangen, dass Banken möglichst hohe Finanztransaktionsteuern und zugleich eine höhere Bankenabgabe bezahlen und dann auch noch für Eigenkapitalvorsorge und Liquiditätspuffer sorgen.
({5})
Ich wiederhole: 1 Euro ist 1 Euro, und wenn die Sozialdemokraten das nicht verstehen, belegen sie damit
nur, dass sie eben immer falsch liegen und nicht rechnen
können.
({6})
Das Gute an Basel III ist, dass es bereits erste Wirkungen zeitigt
({7})
und die Banken ihre Geschäftsmodelle heute schon danach ausrichten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Vorwürfe, die Sie heute versuchsweise eingestreut haben,
nämlich dass Basel III von der Bundesregierung nicht
schnell genug vorangetrieben würde, sind schlicht und
einfach falsch.
Wenn an der einen oder anderen Stelle gebremst wird,
dann kommt das eher vonseiten der französischen Regierung. Das sind diejenigen, zu denen Sie noch hingefahren sind und die Sie als die Besseren in Europa bezeichnet haben. Das sind Ihre Freunde. Eine Verzögerung
kommt jedoch keinesfalls von einer christlich-liberalen
Koalition, die Basel III entschieden voranbringt. Sie liegen tatsächlich in allen Punkten falsch. Rudi Carell hat
recht, lieber Kollege Sieling.
Herr Kollege Wissing, der Kollege Dr. Schick will
Ihre Redezeit verlängern, indem er Ihnen eine Zwischenfrage stellt.
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich würde gerne wissen - jetzt gar nicht
auf Frankreich bezogen, sondern auf Deutschland -, ob
Sie es richtig finden, dass wir es weitere fünf Jahre zulassen, dass Banken mit weniger als 3 Prozent Eigenkapital arbeiten können. Nehmen wir als Beispiel die Deutsche Bank mit 2,5 Prozent. Oder sind Sie der Meinung,
dass mehr Eigenkapital nötig ist?
Herr Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen bin ich
der Meinung, dass die Bankenabgabe nicht erhöht werden sollte, sondern dass sie auf dem derzeit richtigen justierten Maß bleiben sollte. Außerdem bin der Meinung,
dass das Eigenkapital kontinuierlich auf ein ausreichendes Niveau angehoben werden muss.
Dabei muss man jedoch die Tatsache im Blick behalten, dass die notwendige Kreditvergabe und somit die
Liquiditätsversorgung der Wirtschaft sichergestellt werden muss. Dies zeichnet das Augenmaß der christlichliberalen Regierung aus, während Sie, ebenso wie die
Sozialdemokraten, den Menschen in Deutschland einreden, man könne 1 Euro dreimal, viermal oder fünfmal
ausgeben. Das hat mit der Realität nichts zu tun.
Deswegen müssen Sie sich klar bekennen: Wollen Sie
höhere Bankenabgaben, wollen Sie hohe Finanztransaktionsteuern für die Banken, oder wollen Sie ein höheres
Eigenkapital? Sie stehen nämlich mit all Ihren Forderungen gegen eine höhere Eigenkapitalausstattung. Also behaupten Sie hier doch nicht immer wieder das Gegenteil!
({0})
Entscheiden Sie sich doch einmal, was die Banken
mit ihren Gewinnen machen sollen! Man kann 1 Euro
nur einmal ausgeben. Eins und eins ist eins und nicht
drei.
({1})
- Eins bleibt eins und ist nicht zwei oder drei. Ja, Herr
Sieling, ist ja gut.
({2})
Die Frage ist beantwortet.
Den Mitgliedern des Finanzausschusses wird immer
unterstellt, das Einmaleins bestens zu kennen.
Eins bleibt eins, liebe Kollegen. Freuen Sie sich, das
ist geschenkt. - Sie werden jedoch von dieser Fragestellung nicht loskommen. Sie können sich nicht hinstellen
und den Leuten immer wieder sagen, die Bankenabgabe
sei zu niedrig, die Finanztransaktionsteuer müsse kommen und das Eigenkapital sowie der Liquiditätspuffer
seien zu niedrig.
Sie müssen den Banken irgendwann die Frage beantworten, woraus das Ganze finanziert werden soll.
({0})
Das geht ja nur aus dem Gewinn, und den gibt es eben
nur einmal. Das wollte ich Ihnen verdeutlichen.
Deswegen führt das, was auf europäischer Ebene mit
Basel III vorangebracht wird, zur Schließung weiterer
Lücken im Regulierungssystem. Das ist genau der richtige Weg, um unseren Bankensektor sicherer zu machen,
begleitet von einer Aufsichtsreform, die wir in dieser
Woche im Finanzausschuss beraten haben.
Das Ganze wird begleitet von vielen einzelnen Schritten, die unseren Finanzsektor stabiler machen, sowie von
einer europäischen Aufsichtsreform. Am Ende werden
wir in Europa ein stabiles Finanzsystem vorfinden. Ich
freue mich jedenfalls, dass Basel III schon heute in den
Geschäftsmodellen der Banken antizipiert wird. Es ist
ein gutes Gesetz. Sie hingegen sollten sich endlich einmal entscheiden, welche Regulierung Sie für richtig halten. Die Quadratur des Kreises, die Sie vorschlagen, ist
jedenfalls nicht möglich. Deswegen bleiben wir dabei:
Wir haben Lösungsansätze, Sie liefern nur Papier.
({1})
Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. - Der
letzte Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte
schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Eigentlich ist heute ein ziemlich historischer
Tag. Wir hatten 2008 eine fundamentale Bankenkrise,
die nicht nur dazu geführt hat, dass wir zweistellige Milliardenbeträge an Liquidität in die Banken hineinpusten
mussten und dreistellige Milliardenbeträge als Haftung
bereitgestellt haben, sondern auch dazu, dass es einen
veritablen Konjunkturabschwung und Ausfälle bei den
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen in Milliardenhöhe gab. Nicht zuletzt hat die Bankenkrise dazu geführt, dass die Menschen in diesem Land nicht nur die
Frage nach der Sinnhaftigkeit des Bankensystems, sondern auch die Systemfrage gestellt haben. Wir alle in der
Politik, die wir hier sitzen, wissen eines: Wenn sich
solch eine Bankenkrise wiederholt, dann haben wir ganz
andere Fragen zu beantworten als jene, die wir heute zu
beantworten haben.
Die Politik hat sich deswegen damals, zur Zeit der
Großen Koalition, auf den Weg gemacht, die Banken zu
regulieren. Uns war eines immer klar: Vorschriften zu
Eigenkapital und Liquidität sind die wichtigsten Instrumente, um Banken zu regulieren. Nach 2008 hat es vier
Jahre gedauert, bis wir zum heutigen Tag gekommen
sind, an dem wir versuchen, entsprechende Instrumente
in deutsches Recht umzusetzen. Das ist bemerkenswert.
Wenn wir die Debatte, die wir heute führen, vor vier Jahren geführt hätten, dann hätte sie mehr Aufmerksamkeit
erregt, dann wäre sie insbesondere vonseiten der Opposition etwas intensiver und weniger lustlos geführt worden.
({0})
Ich habe gesagt: Wir haben uns auf den Weg gemacht,
die Banken zu regulieren. Man kann die Maßnahmen in
fünf Kategorien einteilen:
Die erste Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass in
Banken weniger Fehler gemacht werden, durch die Veränderung der Vergütungsstrukturen, durch die Regulierung von Ratingagenturen, durch das Paket zum Hochfrequenzhandel, das wir jetzt auf den Weg bringen,
durch viele Maßnahmen, die im Rahmen der Kapitaladäquanzrichtlinie umgesetzt worden sind.
Die zweite Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass
die Fehlertragfähigkeit bei Banken, offenen Immobilienfonds und in vielen anderen Bereichen erhöht worden
ist.
Die dritte Kategorie. Wir haben die Aufsichtsstrukturen verbessert, indem wir bei Leerverkäufen Transparenz und neue Aufsichtsarchitekturen geschaffen haben,
ganz aktuell hier in Deutschland und vor einigen Monaten in Europa. Auch das ist bemerkenswert.
Die vierte Kategorie. Wir sind uns immer im Klaren
darüber gewesen, dass das nicht reicht, dass wir einen
Restrukturierungsmechanismus für Banken brauchen.
Im Gegensatz zu dem, was Herr Steinbrück heute MorRalph Brinkhaus
gen erzählt hat, haben wir hier in Deutschland einen
Bankenrestrukturierungsmechanismus auf den Weg gebracht. Wir haben eine Bankenabgabe eingeführt und dafür gesorgt, dass zumindest die ersten Verluste von den
Banken selber getragen werden, nämlich über einen
Fonds, der über die Bankenabgabe gespeist wird.
Die fünfte Kategorie. Wir haben auch dafür gesorgt,
dass wir die Lasten verteilen. Die Bundesregierung hat
auf europäischer Ebene dafür gesorgt, dass die Finanztransaktionsteuer nunmehr von ganz vielen Ländern unterstützt wird.
({1})
Das alles ist in den letzten Jahren gemacht worden.
({2})
Trotzdem hat eines gefehlt. Wir haben hier über 50 Debatten geführt; wir haben fast 20 Gesetze und Initiativanträge auf den Weg gebracht. Wenn wir mit irgendeiner
Sache fertig waren, haben wir immer gesagt: Das war
wieder ein kleinerer oder größerer Baustein, um die Bankenwelt sicherer und besser zu machen. Aber der ganz
große Baustein, das Fundament hat noch gefehlt. Das
Fundament bildet tatsächlich das, was wir heute verabschieden. Dementsprechend können wir, der Deutsche
Bundestag, wirklich stolz darauf sein, dass wir es, obwohl die europäischen Regelungen noch nicht fertig sind
- das ist richtig -, geschafft haben, ein Gesetz auf den
Weg zu bringen, das sicherstellt, dass wir in Europa zu
den Ersten gehören, die das Paket tatsächlich umsetzen.
Das ist gut und richtig.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Wir haben 2008 eine wirklich fundamentale Krise gehabt. Wir
in der Politik haben das kapiert; wir haben aus dieser
Krise gelernt. Wenn ich mir aber teilweise anschaue, wie
die Branche, die Finanzinstitute auf unsere Maßnahmen
reagieren, dann scheint mir, dass diese Menschen nichts
daraus gelernt haben. Leichte Kritik ist okay; auch
schwerere Kritik ist teilweise okay, weil wir nicht alles
richtig machen. Aber das permanente Ablehnen von Regulierungsmaßnahmen, das Genöle der Branche, dass
dieses oder jenes dazu führe, dass die Realwirtschaft zusammenbricht, dass ganze Geschäftsmodelle zusammenbrechen, führt nicht weiter.
({3})
Da schaue ich jetzt auch zu den Kollegen in der Opposition; da sind wir alle in diesem Haus uns einig. Ich
würde mir mehr konstruktive Beiträge wünschen. Ich
glaube, das ist angesichts der Krise, die durch diese
Branche verursacht worden ist, durchaus berechtigt.
({4})
Ich habe gesagt, dass die Krise durch diese Branche
verursacht worden ist. In dem Zusammenhang möchte
ich sagen, was mich des Weiteren stört. Es wird immer
wieder gesagt - die Kollegen, die in diesem Bereich als
Berichterstatter tätig sind, kennen es genauso wie ich -:
Ich habe mit der Krise nichts zu tun gehabt. Wir sind
nicht verantwortlich. Wir sind die Guten. Reguliert bitte
die Schlechten.
Das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt. Wir müssen uns an den Risiken, die tatsächlich im Bankenwesen
entstehen, orientieren, und es gibt zwei gute Messlatten
für die Risiken: Das sind Eigenkapital und Liquidität,
und Eigenkapital und Liquidität sind das Rückgrat der
Basel-III-Regulierung.
Meine Damen und Herren, trotz aller Dinge, trotz aller Gesetze, trotz aller Maßnahmen, die wir auf den Weg
gebracht haben, müssen wir eines sehen: Eine hundertprozentige Garantie, dass wir eine Krise wie die, die
2008 aufgetreten ist, in Zukunft werden verhindern können, kann niemand geben.
Finanzmarktregulierung ist nicht der große Wurf.
Finanzmarktregulierung ist ein hartes Geschäft. Finanzmarktregulierung beinhaltet viele Einzelmaßnahmen,
und Finanzmarktregulierung heißt auch, dass wir uns
immer wieder damit auseinandersetzen müssen, dass
- der Kollege Schick hat es angesprochen - die eine oder
andere Regierung irgendetwas anders sieht, dass wir uns
mit unseren Vorstellungen international nicht durchsetzen und dass es in den Märkten Menschen gibt, die
schneller - sie sind im Übrigen auch besser bezahlt als
wir - auf Ideen kommen, um unsere Regulierungen zu
umgehen.
Das ist einfach die Realität. Es geht nicht darum, ein
auf ewige Zeiten stabiles Finanzsystem hinzubekommen. Das werden wir nicht hinbekommen. Es geht darum, die Instabilitäten, die in diesem Finanzsystem enthalten sind, gut zu managen, und deswegen bin ich
immer noch über das, was die SPD und der Kanzlerkandidat der SPD in den letzten Wochen geboten haben,
nachhaltig verärgert.
({5})
Nicht nur, dass er komplett ignoriert hat, was in den
letzten vier Jahren - übrigens auch unter seiner Mitwirkung - an Finanzmarktregulierung auf den Weg gebracht
worden ist - nein, er behauptet auch: Ihr müsst einfach
nur das machen - und Herr Sieling hat es gerade bestätigt -, was in meinem göttlichen Papier steht. Das ist der
große grüne Knopf, und wenn wir den drücken, dann
wird alles gut in dieser Welt.
({6})
Meine Damen und Herren - und das gilt für die Besucher hier und für die Damen und Herren, die vor dem
Fernsehschirm sitzen -, wenn Ihnen jemand verspricht,
er habe im Finanzmarktbereich und in anderen Politikbereichen den großen grünen Knopf gefunden, auf den
man drücken könne, und dann werde alles gut, dann
glauben Sie ihm nicht.
Danke schön.
({7})
Kollege Ralph Brinkhaus war der letzte Redner in un-
serer Debatte, die ich folglich nun schließe.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10974 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 7 a bis 7 i auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiederherstellung eines Lebensstandard sichernden und strukturell armutsfesten Rentenniveaus
- Drucksache 17/10990 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Altersarmut wirksam bekämpfen - Solidarische Mindestrente einführen
- Drucksache 17/10998 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rente erst ab 67 sofort vollständig zurücknehmen
- Drucksache 17/10991 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kindererziehung in der Rente besser berücksichtigen
- Drucksache 17/10994 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Eine solidarische Rentenversicherung für alle
Erwerbstätigen
- Drucksache 17/10997 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Risiko der Erwerbsminderung besser absichern
- Drucksache 17/10992 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Angleichung der Renten in Ostdeutschland
auf das Westniveau bis 2016 umsetzen
- Drucksache 17/10996 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rente nach Mindestentgeltpunkten entfristen
- Drucksache 17/10995 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsident Eduard Oswald
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wieder einführen
- Drucksache 17/10993 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Sie sind infolgedessen damit einverstanden. Das ist also beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Matthias Birkwald. Bitte schön, Kollege Matthias
Birkwald.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Warum legt Ihnen die Linke neun einzelne
Anträge vor? Nun, die Linke will konkrete und schnelle
Verbesserungen - am besten natürlich in Form des gesamten linken Rentenkonzepts, das wir hier bereits im
März debattiert haben. Wir wissen aber, dass das hier im
Parlament noch nicht mehrheitsfähig ist.
In einzelnen Punkten gibt es jedoch Übereinstimmungen. Uns geht es hier um konkrete einzelne Schritte im
Kampf gegen Altersarmut und für eine gute Rente.
({0})
In der Rentenpolitik muss sich etwas bewegen, und
darum fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Verweigern Sie sich nicht. Machen Sie mit. Legen
Sie Ihre parteipolitischen Scheuklappen ab, und unterstützen Sie die Forderungen, die Sie selbst für richtig
halten.
({1})
Da komme ich direkt zur CDU/CSU. Jüngst war im
Handelsblatt zu lesen, dass Sie, Herr Kollege Weiß, und
Karl-Josef Laumann von der Christlich-Demokratischen
Arbeitnehmerschaft
({2})
- wie im Übrigen auch die SPD - fordern, die Rente
nach Mindestentgeltpunkten für Zeiten nach 1992 fortzuführen. Das ist eine gute Idee, weil lange Jahre zu
niedriger Löhne in der Rente deutlich besser bewertet
würden. Darüber hinaus käme diese Rentenform Frauen
zugute. Verzichten Sie auf die Einkommensanrechnung,
und stimmen Sie unserem Vorschlag zu. Dann sind wir
an dieser Stelle auf einem guten Weg für Menschen mit
niedrigen Löhnen.
({3})
Die Frauen in der Union fordern ähnlich wie wir, dass
allen Müttern und Vätern für jedes Kind bei der Rentenberechnung drei Jahre Kindererziehungszeiten gutgeschrieben werden. Sie fordern das allerdings nur im Hinblick auf diejenigen, die in Zukunft in Rente gehen
werden. Wir sagen: Es muss gelten, dass jedes Kind dem
Staat und der Gesellschaft gleich viel wert ist, und deshalb müssen wir diejenigen Mütter und Väter, die vor
1992 Kinder bekommen haben, gleichstellen. Es ist
nämlich überhaupt nicht einzusehen, dass es für diese
Kinder nur 74 bis 84 Euro mehr Rente gibt und für Kinder, die bis 1991 geboren wurden, nur 25 bis 28 Euro
mehr. Damit wir diese Gleichstellung zustande bringen,
sollten Sie auch diesem Vorschlag der Linken zustimmen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ja, es
ist richtig: Man muss darüber reden, dass es Armut trotz
Erwerbsarbeit gibt. Wir brauchen am Arbeitsmarkt gute
Tariflöhne. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Zwei Drittel der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter erhalten, wie wir diese Woche gehört haben, Niedriglöhne. Deswegen müssen wir die Leiharbeit regulieren.
Wir würden sie am liebsten verbieten. Ich könnte noch
vieles mehr nennen.
Trotz der Tatsache, dass es gute Erwerbsarbeit gibt,
haben wir das Problem der Altersarmut. Deswegen müssen wir an die Gründe dafür herangehen. Einer der
Hauptgründe ist das weiter absinkende Rentenniveau.
Das ist ein wesentlicher Risikofaktor für Altersarmut.
Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. Das muss geändert werden. Die Rente muss wieder den Lebensstandard
sichern.
({5})
Damit das geschieht, muss das Rentenniveau auf 53 Prozent angehoben werden. Durchschnittlich verdienende
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hätten rund
160 Euro Rente verloren, wenn das Rentenniveau heute
nur noch bei 43 Prozent läge. Das ist doch ein Skandal!
({6})
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
manche von Ihnen wollen aus guten Gründen ebenfalls
das Rentenniveau anheben oder zumindest beibehalten.
Darum bitte ich Sie: Ordnen Sie Ihre rentenpolitische
Vernunft nicht leichtsinnig dem Vizekanzlerkandidatenkonzept Ihrer Partei unter und unterstützen Sie diesen
Antrag, der Millionen von hart arbeitenden Männern und
Frauen zugutekäme.
({7})
Weitere rentenpolitische Kürzungsmaßnahmen forcieren das Problem der Altersarmut, zum Beispiel die
Rente erst ab 67. Deswegen muss sie abgeschafft werden.
({8})
Bei der Erwerbsminderungsrente sind Abschläge systemfremd. Wer krank ist, hat keine Wahl. Darum müssen
die Abschläge aus der Erwerbsminderungsrente heraus.
({9})
Hinein in die Rente müssen aber unbedingt wieder die
Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose, die von dieser
Regierung auf null gesetzt worden sind. Hartz-IV-Betroffene dürfen nicht unter die Räder geraten. Deswegen
brauchen wir anständige Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose.
({10})
Insgesamt ist es wichtig, dass alle Erwerbstätigen in
die Rentenversicherung einbezogen werden, also auch
Selbstständige, Beamtinnen und Beamte und vor allen
Dingen Abgeordnete, Ministerinnen und Minister,
Staatssekretärinnen und Staatssekretäre.
({11})
Alle Erwerbstätigen sollen in die Rentenversicherung
einzahlen, und zwar entsprechend der Löhne und Gehälter, die sie beziehen. Wer ein Gehalt von 10 000 Euro im
Monat hat, soll auch für 10 000 Euro Rentenversicherungsbeiträge zahlen und nicht nur für 5 600 Euro.
({12})
Ein ganz wichtiger Punkt: 22 Jahre nach der Einheit
muss endlich Schluss sein mit der erbärmlichen SanktNimmerleins-Tag-Politik. Union und FDP und die Kanzlerin persönlich haben ihre Wählerinnen und Wähler
belogen. Rentnerinnen und Rentner im Osten, die durchschnittlich verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren, erhalten immer noch durchschnittlich
142 Euro weniger Rente im Monat. Es muss aber gelten:
Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Deswegen
müssen wir jetzt angleichen und die Sache bis 2016 abschließen.
({13})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wir haben
schon heute Altersarmut. 436 000 Menschen befinden
sich in der Grundsicherung im Alter. Rechnet man die
Dunkelziffer hinzu, stellt man fest, dass es um weit über
1 Million Menschen geht. Deswegen brauchen wir schon
heute eine solidarische Mindestrente in Form eines einkommens- und vermögensgeprüften steuerfinanzierten
Zuschlags. Denn es muss gelten: Niemand soll im Alter
in Armut leben müssen.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollege Birkwald. - Ich weise darauf
hin, dass wir uns hier im Hause einig sind, dass das Wort
„Lüge“ nicht parlamentarisch ist.
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Statistische Bundesamt hat uns erst kürzlich die
neuesten Untersuchungen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland vorgelegt, und es hat festgestellt:
Deutschland hat im Durschnitt die älteste Bevölkerung
in Europa und die zweitälteste in der Welt. Die Deutschen werden immer älter und bekommen immer weniger Kinder. Im Jahr 2010 war nicht einmal jeder siebte
Deutsche jünger als 15 Jahre und zugleich jeder fünfte
65 Jahre und älter. Pro 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner werden nur noch acht Kinder geboren. Damit ist
Deutschland weltweit bei einem Negativrekord angelangt.
Auf der anderen Seite gibt es eine eigentlich erfreuliche Entwicklung, nämlich dass die Lebenserwartung der
Deutschen kontinuierlich ansteigt, um etwa sechs Wochen pro Jahr. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Durchschnitt die Aussicht, noch mindestens 20 Jahre zu leben.
Das sind fünf Jahre mehr, als es für einen 60-Jährigen im
Jahr 1960 galt. Bei den Frauen sind es sogar 24 Jahre
und damit 6 Jahre mehr, als es für eine Frau im Jahr 1960
galt.
Mir persönlich, auch unserer Fraktion, CDU/CSU,
fallen eine Menge wünschenswerter Dinge ein, die wir
zugunsten unserer Rentnerinnen und Rentner neu ins
Gesetz schreiben könnten. Aber wir wissen auch: Die
umlagefinanzierte Rente bedeutet, dass das, was wir
heute und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten
Rentnerinnen und Rentnern zusätzlich geben, von den
immer weniger werdenden jungen Leuten, die eines Tages in Arbeit und Brot stehen werden, bezahlt werden
muss.
({0})
Offensichtlich blendet die Linke dies schlichtweg aus.
Sie ist die jugendfeindlichste Partei, die es in Deutschland gibt.
({1})
In einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Umfrage haben 41 Prozent der Befragten erklärt, dass sie
den Generationenvertrag, auf dem die Rente basiert, für
ungerecht halten. Dies begründeten sie damit, dass Jüngere in diesem System zu stark belastet werden. Ich
frage mich: Welche Akzeptanz würde das Alterssicherungssystem in Deutschland bei der Bevölkerung finden,
wenn wir die Jüngeren noch mehr belasten würden,
({2})
als es nach der heutigen rechtlichen Regelung der Fall
ist?
Das zeigt mir, verehrte Damen und Herren: Ein Alterssicherungssystem kann nur funktionieren, wenn es
Generationengerechtigkeit abbildet, wenn die Zusage an
die Älteren gilt, dass sie eine sichere Rente bekommen,
und wenn die Jüngeren wissen, dass sie das von dem,
was sie eines Tages durch ihre Arbeit verdienen werden,
finanzieren können.
Herr Kollege Peter Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Ralph Lenkert?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank. - Herr Kollege Weiß, Sie sagen immer,
wir müssten aus Gründen der Demografie heute die Renten der Zukunft abschmelzen.
Nein, das habe ich nicht gesagt.
Ich stelle Ihnen eine Frage. Ich betrachte es jetzt einmal unabhängig vom Geld, einfach nur von den Produkten her. Die Generation, die, so wie Sie und ich, im Arbeitsleben ist, muss in ihrem Arbeitsleben alle Güter,
materiellen Werte und Ausbildungsmittel produzieren
und bereitstellen, die notwendig sind, um die Seniorinnen und Senioren zu versorgen und gleichzeitig die Ausbildung der kommenden Generation sicherzustellen; das
muss sie machen. Ich betrachte das jetzt unabhängig
vom Geld, rein von den Waren her. In 40 Jahren muss
die Generation, die dann im Arbeitsleben sein wird - unabhängig davon, wie groß diese Gruppe sein wird -,
ebenfalls für die Seniorinnen und Senioren und gleichzeitig für die nachwachsende Generation die Mittel bereitstellen.
Jetzt kommt meine Frage an Sie: Welche Produkte
und Güter kann ich 40 Jahre lang einlagern und aufheben, die ich dann in Anwendung bringen kann, wenn
nicht mehr genügend produziert wird? Denn Geld kann
man ja bekanntlich nicht essen.
({0})
Ein Einlagern findet in der gesetzlichen Rente nicht
statt. Weil das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute einzahlen, am nächsten Tag an die Rentnerinnen und Rentner ausgegeben wird, funktioniert dieses
System immer. Da haben Sie recht.
({0})
Aber das Problem, vor dem wir in Deutschland stehen,
ist: Heute sind die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge - hoffentlich - allesamt im Erwerbsleben. An der
Spitze befindet sich der Jahrgang 1964. Damals sind die
meisten Kinder in Deutschland geboren worden, nämlich 1,35 Millionen.
Wenn wir - die meisten Anwesenden im Plenum des
Deutschen Bundestages kommen aus geburtenstarken
Jahrgängen - und unsere Altersgenossinnen und Altersgenossen eines Tages Rentnerin oder Rentner sein werden, dann werden diese geburtenstarken Jahrgänge, die
dann ja auch die geburtenstarken Rentnerinnen- und
Rentnerjahrgänge sein werden, durch das finanziert werden müssen, was die jungen Leute - letztes Jahr haben
wir, glaube ich, 640 000 Geburten in Deutschland gehabt; das war also nicht einmal die Hälfte der Menschen,
die 1964 geboren worden sind - für die Sicherstellung
des Rentenaufkommens aufbringen. Wie diese Rechnung aufgeht, das können uns die Linken nicht erklären.
Sie handeln mit ihren Anträgen fundamental gegen das
Gesetz: Generationengerechtigkeit ist die Grundlage einer solidarischen Sozialversicherung.
({1})
Herr Kollege Peter Weiß, ich frage Sie, ob Sie eine
weitere Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke, nämlich unseres Kollegen Matthias Birkwald, beantworten
wollen.
Das mache ich alles sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Matthias Birkwald.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Herzlichen Dank,
Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben gefragt, ob wir Ihnen das erklären können. Auf diese Frage
von Ihnen hin habe ich mich gemeldet. Ich bin jetzt
gerne bereit, Ihnen das zu erklären.
({0})
Zu Bismarcks Zeiten kamen 12 Erwerbsfähige im Alter zwischen 15 bis 65 Jahren auf 1 Rentner und 1 Rentnerin. Im Jahre 1916 wurde das Renteneintrittsalter von
65 Jahren eingeführt; da waren es immer noch ungefähr
12. Bei Einführung der dynamischen Rente durch Ihren
Parteifreund Dr. Adenauer 1957 und 1960 waren es
5,8 Menschen im erwerbsfähigen Alter, die einen Rentner oder eine Rentnerin finanzieren mussten. Im Jahre
2010 waren es 3,3, und in Zukunft, in den Jahren 2030
und 2040, werden es 2 sein.
Diesen großen demografischen Wandel von 12 Erwerbsfähigen, die es brauchte, um 1 Rentner oder
1 Rentnerin zu ernähren, auf heute 3,3 und auf in Zukunft 2 kann man bewältigen durch zwei Punkte, nämlich durch steigendes Wirtschaftswachstum - durch ein
größer werdendes Bruttoinlandsprodukt, das über Jahre
und Jahrzehnte im Durchschnitt immer um die 1,4 oder
1,5 Prozent gelegen hat - und durch eine steigende Arbeitsproduktivität, die im Durchschnitt immer bei
1,7 oder 1,8 Prozent gelegen hat.
Das heißt, selbst wenn die Rentenbeiträge deutlich
anstiegen - in Zukunft, nicht heute -, dann hätten die
Menschen bei einem Wirtschaftswachstum auf diesem
niedrigen prozentualen Niveau trotzdem mehr in der Tasche als heute, und wir könnten sowohl die Älteren als
auch die Jüngeren finanzieren. Hinzu kommt Folgendes:
Als die gerade von Ihnen angesprochenen geburtenstarken Jahrgänge jung waren - ich bin ja auch einer aus diesem Jahrgang -, mussten für sie Kindertagesstätten,
Grundschulen, Universitäten etc. finanziert werden; damals gab es aber wenig Ältere. Dieser Gesamtquotient,
also die Jungen und die Alten gemeinsam im Verhältnis
zur erwerbstätigen Bevölkerung, war schon im Jahre
1970 niedriger, als er in Zukunft sein wird.
Sind Sie also bereit, anzuerkennen, dass man mit dem
Wirtschaftswachstum und mit der Arbeitsproduktivitätssteigerung in Zukunft sehr wohl in der Lage ist, anständige Renten für die heute jüngere Generation zu zahlen?
({1})
Herr Kollege Birkwald, wir können selbstverständlich
gern ein historisches Seminar hier im Plenum des Deutschen Bundestages durchführen.
({0})
Sie haben natürlich manches verschwiegen. Sie haben
die Einschnitte durch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg verschwiegen, und Sie haben verschwiegen, wie
hoch die Beiträge beim Start der Rentenversicherung
waren, nämlich unter 10 Prozent, und wo sie heute stehen.
({1})
- Sie haben auch die Rentenhöhe verschwiegen. ({2})
Sie negieren schlichtweg, dass es eine in Deutschland in
dieser Form bislang noch nie dagewesene Situation ist,
({3})
- doch! ({4})
dass wir eine solch große Zahl geburtenstarker Jahrgänge haben - diese Personen sind heute zwischen
35 und 55 Jahre alt -, dass wir danach aber deutlich kleinere Jahrgänge haben, was die Anzahl der geborenen
Jungen und Mädchen anbelangt, während wir es gleichzeitig mit einer deutlich höheren Lebenserwartung als in
der Vergangenheit zu tun haben. Das heißt, einen solchen demografischen Wandel, wie er uns in den kommenden Jahren erwartet, hat es in dieser Form in
Deutschland historisch noch nie gegeben.
({5})
Insofern ist die Antwort, die Sie geben, falsch.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was ich
vorgetragen habe, heißt nicht, dass im Rentensystem
nicht gehandelt werden muss, wenn Sicherheit im Alter
für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
auch in Zukunft eine verlässliche Perspektive sein soll.
Insofern ist es gut, zunächst einmal an den Problempunkten anzusetzen.
Wenn man sich anschaut, welche älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger heute ergänzend auf den Bezug von
Leistungen der Grundsicherung, also auf staatliche Sozialhilfe, angewiesen sind, weil ihr Einkommen im Alter
nicht ausreicht, dann fällt auf, dass darunter vor allem
solche Menschen sind, die wegen Krankheit oder
bedingt durch einen Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten. Schon heute müssen 9,6 Prozent der sogenannten Erwerbsminderungsrentner ergänzende Leistungen der Grundsicherung beziehen, und in
der Perspektive steigt dieser Anteil deutlich an.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir in der
Koalition bereits vereinbart haben, die Berechnung der
Erwerbsminderungsrente deutlich zu verbessern, um
dieser - derzeit größten - sozialpolitischen Herausforderung klar zu begegnen. Wir wollen, dass Erwerbsminderungsrentner künftig besser dastehen als heute, damit sie
nicht auf Leistungen der staatlichen Grundsicherung angewiesen sind.
({7})
Da unser Alterssicherungssystem, vor allen Dingen
seit Rot-Grün es 2001 umgebaut hat, davon lebt, dass
man ergänzend für das Alter vorsorgt, ist die Frage zu
stellen, warum nicht auch die ergänzende Altersvorsorge, also die betriebliche bzw. private Vorsorge, im
Fall des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente eine
Leistung erbringt. Morgen bringt die Koalition einen
Gesetzentwurf ins Parlament ein, mit dem sie den Anteil
eines Riester-Sparvertrages, der für den Fall einer Erwerbsminderungsrente vorgesehen werden kann, erhöhen will.
Als ich vorgestern auf dem Arbeitgebertag hier in
Berlin an einer Diskussion teilgenommen habe, war ich
positiv überrascht, dass die Befürworter der betrieblichen Altersvorsorge auf den Vorschlag, auch in diesem
Bereich eine verbindliche Vorsorge für den Erwerbsminderungsfall zu treffen, durchaus positiv reagiert haben.
Insofern gilt: Die zweite und dritte Säule der Alterssicherung müssen für den Fall der Erwerbsminderungsrente mehr leisten, als es heute der Fall ist.
({8})
Generell gilt: Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge
gezahlt und für das Alter vorgesorgt hat, der sollte sicher
sein können, dass er im Alter mehr hat als jemand, der
nicht vorgesorgt und keine Beiträge gezahlt hat. Wir diskutieren in der Koalition also zu Recht darüber, wie wir
dieses Prinzip im Rentenrecht generell stärker verankern
Peter Weiß ({9})
können. Der Vorschlag „Mindestrente für alle“ ist aber
ein Schlag ins Gesicht von Gerechtigkeit:
({10})
ein Schlag ins Gesicht von Generationengerechtigkeit
und Leistungsgerechtigkeit. Wir setzen uns für ein Rentensystem ein, in dem auch zukünftig gilt: Wer etwas geleistet und vorgesorgt hat, der soll mehr haben als derjenige, der nicht vorgesorgt und nichts geleistet hat. Das
ist Gerechtigkeit im Rentensystem.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Respekt vor den Mitgliedern des Hauses gebietet es,
dass ich mich im Wesentlichen mit den Anträgen der
Linken beschäftige. Aber ich muss sagen: Peter Weiß hat
mich durch die Art und Weise, wie er sich hier gerade
dargestellt hat, ganz schön gereizt.
({0})
Peter, die Akzeptanz des Rentenversicherungssystems
ausschließlich daran festzumachen, wie hoch die Beitragssätze sind, ist relativ einfach. Allerdings ist das
auch ein bisschen schlicht. Für die Menschen ist nämlich
auch wichtig, was dabei herauskommt.
({1})
Beides muss in einem vernünftigen und gesunden Verhältnis zueinander stehen.
({2})
Indem die Arbeitsministerin darauf hingewiesen hat,
dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent des
durchschnittlichen Nettolohns sinkt, hat sie Angst vor
Altersarmut geschürt. Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen; denn im Gesetz steht: Bei einem Rentenniveau von 46 Prozent ist die Regierung aufgefordert,
Vorschläge dafür zu machen, wie man dieses Niveau
halten kann. 43 Prozent sind überhaupt kein Ziel. Die
Ministerin hat versucht, diese Truppe, die rentenpolitisch völlig zerstritten ist, auf den Weg zur Zuschussrente zu zwingen.
Bei der Rentenversicherung geht es immer auch um
die Akzeptanz der Leistungen und nicht nur der Beitragssätze. Hier seid ihr völlig ignorant. Bei uns in der
Partei gibt es eine heftige Debatte über das Leistungsniveau. Ich gebe hier unumwunden zu, dass das noch
nicht entschieden ist. Der jungen Generation aber zu sagen: „Bei 43 Prozent werdet ihr altersarm“, und dann zu
erwarten, dass dieses System bei der jüngeren Generation Akzeptanz findet, ist fast schon zynisch.
({3})
Da ich gerade dabei bin: Diese Ministerin ist in dieser
Legislaturperiode mit all dem, was sie rentenpolitisch
auf den Weg bringen wollte, kläglich gescheitert. Die
Zuschussrente hat noch nicht einmal die Ressortabstimmung überlebt. Jetzt habt ihr eine neue Kommission zur
Entwicklung von Plänen gegen Altersarmut eingesetzt.
Ein Jahr lang habt ihr für eine Zuschussrente getagt, die
am Ende nicht realisiert worden ist - übrigens korrekterweise nicht, weil diese Zuschussrente eigentlich eine sozialpolitische Leistung ist und über Beiträge finanziert
werden sollte. Die Ordnungspolitiker in der FDP haben
das korrekterweise verhindert, zwar aus anderen Gründen und ideologisch anderer Motivation heraus. Aus
meiner Sicht haben sie Gott sei Dank verhindert, dass
eine Sozialleistung über Beiträge finanziert wird.
Zum Beitragssatz. Da man große Teile der deutschen
Einheit über die Beiträge an die Sozialversicherung
finanziert hat, darf man sich über steigende Beitragssätze nun wirklich nicht wundern und beschweren. Das
geht nun gar nicht.
({4})
Jetzt zu den Anträgen der Linken, Matthias Birkwald.
Ich finde, es ist eine deutliche Verbesserung, dass nicht
grundsätzlich alles falsch und einiges sehr zustimmungsfähig ist, wie zum Beispiel der Punkt, dass man generell
sagt: Die Erwerbsminderungsrente muss verbessert werden. D’accord! Ihr schreibt in eurem Antrag allerdings
auch, dass die Zugänge offener werden müssen. Hierbei
will ich lieber genau wissen, worüber wir reden, bevor
ich einem solchen Antrag zustimme.
Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten: D’accord!
Alle Anträge haben letzten Endes aber gleichermaßen
wenig Substanz. Dass sie beispielsweise nicht mit Zahlen unterlegt sind, ist wohl auch beabsichtigt. Ihr fordert
die Bundesregierung mit diesen Anträgen auf, zu handeln. Dann muss man auch nicht konkret werden. Bei
ganz vielem würde ich aber gerne wissen, was ihr genau
damit meint.
Ihr sprecht zum Beispiel von der Wiederherstellung
der lebensstandardsichernden Rente.
({5})
Was heißt das denn konkret?
({6})
Heißt das, eine Rentenhöhe von 53 Prozent ist lebensstandardsichernd? Ich bin da anderer Meinung. Für eine
Friseurin, eine Krankenschwester oder eine Frau in einem typischen Frauenberuf werden diese 53 Prozent niemals lebensstandardsichernd sein.
({7})
Daher ist das Ganze an dieser Stelle nicht konsistent,
also ein Widerspruch. Insofern bin ich hier etwas anderer
Meinung.
Nun zur solidarischen Mindestrente. Auch wir haben
gesagt, man brauche eine Mindestabsicherung für Menschen, die langjährig gearbeitet haben. Ihr sagt aber: Wir
brauchen eine Mindestabsicherung für Menschen, auch
wenn sie überhaupt keine Beiträge gezahlt haben.
({8})
Das ist dann aber keine rentenrechtliche Frage, sondern
eine sozialpolitische Frage. Dann geht es letzten Endes
darum, dass ihr nur die Grundsicherung im Alter von
dem jetzigen Betrag von 680 Euro auf 1 050 Euro anheben wollt. Das sagt dann doch auch! Noch einmal: Das
gehört dann aber nicht in eine Rentendebatte, sondern in
eine sozialpolitische Debatte, und es hat im Rentenkonzept letzten Endes nichts zu suchen.
({9})
Übrigens: Da das sozusagen bedingungslos sein soll,
also nicht durch Beiträge hinterlegt werden muss, hat die
Katja Kipping euch bei dem bedingungslosen Grundeinkommen sicherlich über den Tisch gezogen. Anders
kann ich mir nicht erklären, dass das so darin steht.
Bezüglich der Rente mit 67 bin ich völlig anderer Meinung; das wisst ihr. Innerhalb unserer Partei gibt es auch
keine ausreichende Mehrheit dafür, die Rente mit 67 zurückzunehmen. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein Fortschritt auch in unserer eigenen Debatte: Wir müssen die
Übergänge in die Rente anders, flexibler und sozialverträglicher gestalten.
({10})
Man kann in der Rückschau natürlich sagen: Wir hätten
das eigentlich machen müssen, als wir die Rente mit 67
eingeführt haben. Ich halte hier aber kein Geschichtsseminar und sage nicht, wer schuld daran ist, dass das
nicht gemacht wurde. Das wäre völliger Quatsch. Wir
haben damals für die Rente mit 67 die Hand gehoben,
und jetzt geht es darum, die Wege dahin vernünftig zu
gestalten.
Was die Erwerbstätigenversicherung angeht, bin ich
der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass jeder,
der ein Erwerbseinkommen hat, in irgendeiner Form in
die sozialen Sicherungssysteme einzahlt. Wie die Kappung oben aussehen soll, zum Beispiel bei einem Abgeordneten, sollte man dann allerdings auch konkretisieren, damit man weiß, worauf man sich einlässt.
({11})
Ab wann wird gekappt, und in welcher Höhe wird gekappt?
({12})
Das ist auch eine Frage von Akzeptanz.
Jetzt haben 80 000 Selbstständige Frau von der Leyen
per Internet die Mitteilung zukommen lassen, dass sie
nicht zwangsweise in die gesetzliche Rentenversicherung hineinwollen. Also, man braucht auch für einen solchen Weg Akzeptanz.
({13})
Die Frage Angleichung von Ost und West ist in der
Tat eine, die wir auf dieser Seite des Hauses abladen
können. Sie haben den Menschen im Osten vorgemacht,
Sie führten in dieser Legislaturperiode Schritte zur rentenrechtlichen Angleichung durch. Nichts, gar nichts ist
geschehen.
({14})
Die Menschen im Osten sind an dieser Stelle belogen
worden. Ich sage das, auch wenn es unparlamentarisch
ist. Ich entschuldige mich auch sofort dafür. Es ist in der
Tat so, dass Sie den Menschen vorgemacht haben, Sie
würden ihnen helfen. Einige der Menschen im Osten haben Sie wahrscheinlich deshalb gewählt, und sie sind mit
Sicherheit und zu Recht maßlos enttäuscht, dass Sie an
dieser Stelle nichts gemacht haben.
({15})
Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten - das steht in
unserem Konzept; das will ich unumwunden sagen -:
Das ist in Ordnung. Da können wir mitmachen.
Zur Frage, ob man Langzeitarbeitslose mit 0,5 Punkten aufwertet: Na ja, man kommt dann schnell in die Kategorie derer, die für geringe Gehälter arbeiten, die keinen, eventuell nur einen halben oder einen dreiviertel
Entgeltpunkt erarbeiten. Ich sage: Da ist die Rente nach
Mindestentgeltpunkten, also die Aufwertung bei nachgelagerter Betrachtung, eigentlich das Richtige. Man sollte
nicht im Voraus sagen, was jemand auf jeden Fall bekommt, sondern man sollte im Nachhinein schauen, welche Ansprüche jemand hat und wie man sie entsprechend aufwerten muss.
({16})
Matthias Birkwald, du siehst, wir sind nicht in allen
Punkten völlig unterschiedlicher Meinung. Aber bei einigen hätten wir mit Sicherheit noch Diskussionsbedarf,
bevor ich einem solchen Antrag zustimmen könnte. Dabei wäre der Charme tatsächlich, wenn wir eine Mehrheit hätten, diese Anträge zu beschließen, weil sie sich
ausschließlich an die Bundesregierung richten. Die Bundesregierung soll einmal Konzepte vorlegen. Es wäre
spannend, zu sehen, was bei diesem zerstrittenen Haufen
dabei herauskommt. Dabei würde nämlich nichts herauskommen, meine Damen und Herren.
({17})
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({18})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Weltbild der Linken ist einfach. Herr Birkwald, Sie wissen, was richtig ist, und an einer echten Diskussion mit
dem Rest des Hauses ist Ihnen nicht wirklich gelegen.
({0})
Zu diesem Schluss muss ich jedenfalls kommen - warten
Sie einmal ab, Herr Strengmann-Kuhn -, wenn ich feststelle, dass Sie neun Anträge zur Beratung angemeldet
haben, die uns am Dienstag, spät am Abend, noch nicht
zugegangen waren,
({1})
gestern noch nicht mit einer Bundestagsdrucksachennummer erfasst waren und die wir heute schon mit Ihnen
diskutieren sollen.
({2})
Das zeigt: Sie sind ignorant. Sie wollen wirklich nicht
die Diskussion in der Sache, sondern Sie wollen nur Ihre
Ideologie nach vorne bringen. An dieser Stelle können
Sie mit uns nicht rechnen.
({3})
Nachdem ich mir diese Anträge heute angesehen
habe, muss ich sagen, dass darin wirklich nichts Neues
ist. Sie bringen zum x-ten Mal die gleichen Forderungen.
Herr Birkwald, Sie kennen vielleicht das Krankheitsbild
der Diarrhö.
({4})
Ich sorge mich wirklich, dass irgendjemand in Ihrer
Fraktion an „Graphorrhö“ leidet und nicht mehr kontrollieren kann, was aus seinem Computer oder aus seiner
Feder herausläuft.
({5})
Da wäre wirklich weniger mehr. Wen wollen Sie denn
mit dieser Flut von Anträgen beeindrucken, Herr Kollege Birkwald?
({6})
- Ich sage ja etwas zum Inhalt.
({7})
- Ich komme schon dazu.
Ich will Ihnen zunächst einmal vorhalten, dass Sie die
falschen Grundannahmen treffen. Wer von falschen
Werten und falschen Annahmen ausgeht, muss am Ende
auch zu falschen Ergebnissen kommen. Am falschesten
ist die Annahme, Deutschland brauche neun Anträge der
Linken, um rentenpolitisch voranzukommen.
({8})
Das ist wirklich nicht der Fall.
Wir haben mit dem Alterssicherungsstärkungsgesetz,
das sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, sehr
deutlich gemacht, dass wir Anpassungen bei der Zurechnung der Erwerbsminderungsrente wollen, dass wir eine
demografiefeste Neufassung des Rehabudgets wollen
- Stichwort „atmender Deckel“ - und dass wir vor allen
Dingen Verbesserungen bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten für Rentner wollen.
({9})
Das ist ein wichtiger Schritt, Toni Schaaf, für den flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
({10})
Daran müssen wir alle ein Interesse haben.
Es ist doch nicht so, dass wir nichts täten. Aber so,
wie Sie das machen - immer wieder einmal hopplahopp
ein paar Anträge fallen lassen, und dann geht es zwei
Wochen später in die nächste Runde -, kommt man rentenpolitisch wirklich nicht voran.
({11})
Es ist immer schön, wenn man Debattenzeit bekommt
- das ist das einzig Positive an Ihren Anträgen -, in der
man sich etwas ausführlicher mit einzelnen Aspekten befassen kann.
({12})
Eine weitere Fehlannahme von Ihnen ist nämlich, das
Rentenniveau sinke auf 43 Prozent, das sei im Gesetz so
festgeschrieben.
({13})
Das steht so nicht im Sozialgesetzbuch VI, Herr Kollege Birkwald. Ich finde da nur eine Rentenformel. Die
Rentenformel beinhaltet einen Nachhaltigkeitsfaktor,
mit dem der Rentenanstieg gedämpft wird,
({14})
und zwar in Abhängigkeit von dem Verhältnis der Äquivalenzrentner - das ist ein statistisches Modell - zu den
Äquivalenzbeitragszahlern. Wie sich das tatsächlich entwickelt, steht auf einem ganz anderen Papier.
Ich will Ihnen einmal Zahlen nennen, damit wir etwas
Neues in die Debatte hineinbekommen. Unter rot-grüner
Regierungszeit sank das Nettorentenniveau von 53,6 Prozent im Jahre 1998 auf 50,0 Prozent im Jahre 2005. Aktuell, Juni 2012, liegt das Rentenniveau praktisch unverändert hoch bei 49,9 Prozent statt den von Walter Riester
damals für diesen Zeitpunkt prognostizierten 47,5 Prozent. Merken Sie etwas? Es kommt darauf an, wie man
es macht, wie sich die Dinge am Arbeitsmarkt entwickeln. Dann kommen Sie auch zu zählbaren Ergebnissen
in der Politik. In dem Rentenversicherungsbericht 2011
- wir werden bald neuere Zahlen bekommen - geht man
von 47,8 Prozent für 2020 und 46,2 Prozent für 2025
aus. Das ist alles mehr als 43 Prozent.
({15})
Anstatt jetzt Krokodilstränen darüber zu vergießen,
dass das alles so schlimm sei, sollten wir gemeinsam unsere Anstrengungen darauf richten, dass über die beeinflussbaren Faktoren in der Rentenformel die Rentenanpassung in Zukunft möglichst ungedämpft verläuft.
Das ist doch das Ziel, das uns umtreiben muss.
({16})
Dabei sind Flexibilisierung und längere Teilhabe am Erwerbsleben ein Thema. Da ist die Frage zu beantworten,
wie Teilzeitstellen in Vollzeitstellen umgewandelt werden können, und andere Dinge mehr. Das wäre des
Schweißes der Edlen wert. Aber so, wie Sie das hier machen, geht es meines Erachtens nicht.
Falsch ist auch Ihre Annahme - das ist der zweite
Punkt, den ich in der verbleibenden Zeit noch kurz anreißen kann -, das Rentensystem würde dann stabiler, wenn
man mehr Menschen in das System einbezieht. Das ist
falsch.
({17})
In dieser einfachen und schlichten Darstellung, wie Sie
das bringen, ist das falsch. Denn die Menschen, die in
das System einbezogen werden, zahlen Beiträge und erwerben mit ihren Beiträgen Anwartschaften. Das heißt,
man kann vielleicht kurzfristig ein Strohfeuer entfachen.
Aber wir haben in der Rente ein langfristiges und strukturelles Problem. Das lösen Sie nicht damit, dass Sie
mehr Menschen in das System aufnehmen.
Man kann natürlich jetzt so wie Sie sagen, wir nehmen nicht nur mehr Menschen in das Rentensystem auf,
sondern wir schaffen auch die Beitragsbemessungsgrenze ab und flachen am oberen Ende die Ansprüche
der erworbenen Anwartschaften ab.
({18})
Ich sage Ihnen: Das ist verfassungswidrig.
({19})
Damit werden Sie in Karlsruhe zwangsläufig scheitern.
({20})
Aber diese beiden Annahmen - mehr Redezeit habe
ich leider nicht - zeigen, dass Sie mit Ihren rentenpolitischen Anträgen auf einem vollkommen falschen Fundament stehen. Ich kann Sie nur noch einmal dazu auffordern, Herr Birkwald - das spart auch ein bisschen Arbeit
und Energie -: Produzieren Sie weniger, aber dafür bessere Anträge.
({21})
Dann haben Sie vielleicht irgendwann einmal die
Chance, mit uns in einen ernsthaften Dialog über Ihre
Vorstellungen einzutreten.
({22})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege
Dr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wäre schön, Herr Kolb, wenn die Regierungskoalition
einmal etwas vorlegen würde, aber es gibt nichts.
({0})
Es gibt einen Referentenentwurf, der in der Ressortabstimmung ist, aber schon wieder kassiert worden ist.
Hier im Bundestag diskutieren wir immer nur über Anträge der Oppositionsfraktionen.
({1})
Es gibt diesen einen Gesetzentwurf, mit dem der Automatismus, der im Gesetz steht, umgesetzt werden soll.
Das ist aber auch schon alles. Sonst gibt es keine zukunftsweisenden Konzepte der Regierungskoalition, zumindest keine abgestimmten. Es gibt viele verschiedene
Konzepte. Die FDP hat eines. In der CDU gibt es mindestens zwei Konzepte. Im BMAS gibt es ein weiteres
Konzept. Die CSU hat eines. Aber hier herrscht Leere.
Darüber kann man nicht diskutieren.
Meine Redezeit läuft schon. Ich kann nicht auf alle
neun Anträge eingehen, sondern will mich auf vier
Punkte konzentrieren.
Es ist immer wichtig, zu schauen: Wohin will man bei
der Rente langfristig? Dann weiß man auch, was jetzt zu
tun ist. Ein wesentliches Ziel in dem grünen Rentenkonzept ist, langfristig eine Bürger- und Bürgerinnenversicherung auch in der Rente zu schaffen. Das, was Sie
eben dazu gesagt haben, Herr Kolb, ist falsch.
({2})
Natürlich ist es nachhaltiger, wenn man mehr Menschen
in der Rentenversicherung hat. Sonst würden sich auch
mehr Geburten nicht nachhaltig auswirken. Wenn mehr
Kinder geboren werden, bekommen auch sie irgendwann
einmal Rente. Mehr Menschen in die Rentenversicherung einzubeziehen, ist ökonomisch nichts anderes, als
mehr Geburten zu haben. Insofern ist eine Ausweitung
auf weitere Bevölkerungsgruppen genauso effektiv wie
mehr Geburten. Sie ist sogar effektiver, weil man nicht
noch 18 Jahre warten muss, bis die Menschen einzahlen;
vielmehr zahlen sie sofort ein.
({3})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann kann ich darauf
reagieren.
Mit einer Bürgerversicherung, in die alle - Selbstständige, Beamte, Politiker, Politikerinnen, alle Bürgerinnen
und Bürger - einzahlen und an der möglichst alle Einkommen beteiligt sind, bekommt man langfristig eine
nachhaltige Finanzierung hin. Das wäre sozial gerecht
und ökonomisch nachhaltig.
({4})
Wir wissen, dass wir diese Bürgerversicherung nicht
auf einmal hinbekommen. Das wird schrittweise erfolgen. Die Wirkung wäre sowieso nur langfristig spürbar.
Wir müssen aber schneller agieren.
Deswegen haben wir zweitens das Konzept einer grünen Garantierente; das haben wir hier schon des Öfteren
präsentiert. Es beinhaltet das Prinzip, dass bei mindestens 30 Versicherungsjahren - nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjahren - 30 Entgeltpunkte garantiert
werden. Das wäre ein Niveau, das über dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. Langfristig
Versicherte wären damit so gestellt, dass sie nicht auf
Grundsicherung angewiesen sind. Dadurch erhöhen wir
die Akzeptanz der Rentenversicherung und verhindern
drohende Altersarmut. Diese grüne Garantierente ist ein
zentrales grünes Konzept.
({5})
Dritter Punkt: Ost-West-Angleichung. Dazu sagen
auch wir, dass wir - wir wollen das noch schneller als
die Linken - ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
West brauchen. Nach über 20 Jahren deutscher Einheit
ist es wichtig, die innerdeutsche Mauer bei der Rente
endlich abzureißen und ein einheitliches Rentenrecht zu
schaffen. Wir wollen, dass der Rentenwert Ost auf den
Rentenwert West angehoben wird; denn Altersarmut ist
besonders im Osten bedrohlich. Sie wird dort besonders
ansteigen. Die Garantierente, die wir vorschlagen, soll
im Osten genauso hoch sein wie im Westen.
Wir wollen das aber nicht wie die Linken machen,
sondern wir wollen es kostenneutral finanzieren. Das
heißt, die bisher erworbenen Rentenansprüche sollen
gleich bleiben und in Zukunft in Ost und West einheitlich berechnet werden. Das soll aber, wie gesagt, mit einer Garantierente verbunden werden, die in Ost und
West gleich ist.
Vierter und letzter Punkt. Nachhaltige Finanzierung
ist für uns ein ganz zentrales Ziel. Wir wollen langfristig
nachhaltige, stabile Beitragssätze in der Rentenversicherung haben. Aus dem Grund ist es falsch, jetzt die Rentenbeiträge zu senken. Das ist kurzsichtig und nicht
nachhaltig. Wir wollen, dass die Rentenbeiträge jetzt
nicht gesenkt werden, damit sie über das Jahr 2020 hinaus kontinuierlich unter 20 Prozent bleiben können.
Außerdem wollen wir frei werdende Mittel dafür verwenden - das ist ein zentrales Problem, das auch schon
angesprochen worden ist -, die Erwerbsminderungsrente
zu verbessern. Wer aus medizinischen Gründen nicht
mehr arbeiten darf, für den sollten die Abschläge abgeschafft werden.
({6})
Bürgerversicherung, Garantierente und stabile Beitragssätze sind Kernelemente des grünen Rentenkonzepts. Ein solches Rentenkonzept wäre ökonomisch,
nachhaltig und sozial gerecht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön,
Kollege Max Straubinger.
({0})
Geschätzter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Fraktion Die Linke überhäuft uns
wiederum mit Anträgen, die sie schon x-mal gestellt hat
und die letztendlich nur dazu dienen, hier ein Bild zu
zeichnen von einer angeblich sehr schwierigen Rentensituation in Deutschland. Das ist ein verzerrtes Bild.
({0})
Ich möchte zuerst feststellen, Herr Kollege Birkwald,
dass das Rentenniveau in Deutschland ständig steigt und
dass darüber hinaus vor allen Dingen auch die Finanz23902
grundlagen für die Rentenversicherung von dieser Bundesregierung nachhaltig gefördert worden sind. Deshalb
haben wir stabile Rentenfinanzen. Darauf können sich
die Bürgerinnen und Bürger verlassen.
({1})
Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, dass
heute sehr viele Wünsche geäußert werden. Es ist ungefähr wie beim Wunsch an das Christkind. Vieles von
dem, was gefordert wird, überlegen auch wir; manches
ist auch von uns abgeschrieben worden.
({2})
Dafür hätten wir die Linken nicht benötigt.
({3})
Entscheidend ist aber auch, dass wir auf die Finanzierbarkeit und die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in unserem Land achten. Ich glaube, dies ist wichtig
und entscheidend für eine verantwortliche Rentenpolitik.
Ich möchte mich nicht mit allen Anträgen in irgendeiner Art und Weise befassen. Aber eines ist für mich entscheidend und wichtig, nämlich dass die Linke wieder
eine Angleichung der Ost- und Westrenten fordert. Ich
bin sehr dafür, auf einer tatsächlich sachlich fundierten
Grundlage darüber zu reden und es dann vor allen Dingen auch in ein Gesetz zu fassen.
({4})
Aber es geht natürlich nicht so, wie Sie es wollen, Herr
Kollege Birkwald. Erstens insinuieren Sie mit Ihrem Antrag, es gäbe eine Benachteiligung der Rentnerinnen und
Rentner und der Menschen im Osten Deutschlands. Das
ist keineswegs der Fall.
({5})
Denn Sie wissen haargenau, dass die Renten aufgestockt
werden und dementsprechend mittlerweile feststellbar
ist, dass das Rentenniveau im Osten Deutschlands im
Durchschnitt höher ist als im Westen Deutschlands.
Darüber hinaus gilt auch unter aktuellen Gesichtspunkten, Herr Kollege Birkwald: Wenn jemand im Osten
ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im Jahr hat
({6})
und im Westen ebenfalls 30 000 Euro die Grundlage
sind, dann erwirbt man im Osten Deutschlands eine Rentenanwartschaft von 27,08 Euro im Jahr und im Westen
Deutschlands von 25,95 Euro im Jahr. Das zeigt sehr
deutlich, dass die derzeitige Situation die Menschen im
Osten bei der Rentenversicherung bevorteilt.
Ein weiterer Punkt: Derzeit wird sehr viel über angehende Altersarmut und insgesamt über Altersarmut in
unserer Gesellschaft gestritten. Es ist bezeichnend, dass
wir immer darauf bauen und derzeit auch darauf bauen
können, dass es eine geringe Inanspruchnahme von
Grundsicherungsleistungen gibt, weil die Versorgung
aus der gesetzlichen Rentenversicherung gut ist. Das
zeigt sich vor allen Dingen auch sehr deutlich für die
Bürgerinnen und Bürger im Osten.
Die Enquete-Kommission des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern „Älter werden in MecklenburgVorpommern“ stellt in einer Kommissionsdrucksache
vom 9. Oktober 2012 als Fazit fest - ich darf daraus zitieren -:
In Deutschland wird derzeit viel von Altersarmut
gesprochen und insbesondere auf die prekäre Lage
von Rentnerinnen verwiesen. Die aktuellen Zahlen
beschreiben jedoch ein ganz anderes Bild - auch in
MV.
Den Älteren steht heute tendenziell mehr Einkommen zur Verfügung als noch vor zehn Jahren,
- hört, hört! weit über 80 % verfügen über ein gewisses Geldvermögen. Fast die Hälfte der Älteren ({7}) weist Haus- und Grundbesitz
vor; rund ein Viertel der Rentnerhaushalte und 43 %
der Jüngeren unter den Älteren ({8}) kann
auf Versicherungsansprüche aus Lebens- und privater Rentenversicherung bauen.
({9})
Der Anteil von Grundsicherungsbeziehern unter
den Älteren ist und bleibt vermutlich bis 2020 eher
gering.
Er liegt derzeit bei 1,5 Prozent.
Mehr als die Hälfte der über 75-jährigen Frauen in
den neuen Bundesländern beziehen neben Versicherungsrenten auch Witwenrenten und erreichen hierdurch von allen Vergleichsgruppen das höchste
Renteneinkommen.
({10})
In MV beziehen rund 34 % der Rentnerinnen Mehrfachrenten und erzielen auf diese Weise ein Einkommen, das seit 2004 jedes Jahr anstieg; 2011 betrug es 1 230 Euro. Die Analyse des Bezugs von
Mehrfachrenten zeigt, dass es notwendig ist, sorgfältig zwischen den Aussagen zu Renten und Rentnern zu unterscheiden.
Ich glaube, dass es notwendig ist, bei der Frage von
Altersarmut auch darüber zu diskutieren und dies vielleicht auch einmal stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Ich danke ausdrücklich für diese
Kommissionsdrucksache, die von der Universität Rostock erarbeitet worden ist.
({11})
Damit bin ich auch schon am Ende meiner Redezeit.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Anträge
der Linken werden wir natürlich ablehnen.
({12})
Wir sind am Ende unserer Aussprache, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10990 bis 17/10998 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen
Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen ({0})
- Drucksachen 17/10037, 17/10123 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
- Drucksache 17/11046 Berichterstattung:Abgeordnete Tankred SchipanskiRené RöspelDr. Peter RöhlingerDr. Petra SitteKrista Sager
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann haben wir das auch gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({2})
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Einrichtungen der Wissenschaft stehen in einem starken
internationalen Wettbewerb um Wissen und Technologien, und sie stehen in einem Wettbewerb um gute Rahmenbedingungen, der ebenso stark ist. Sie brauchen Gestaltungsspielraum, sie brauchen Handlungsfreiheit,
Eigenverantwortung, einen autonomen Status ihrer Institution. Dies beschäftigt uns seit langem. Ich habe gerade
Frau Flach, die sich, bevor sie ins Gesundheitsministerium ging, viele Jahre dafür stark gemacht hat, gesagt,
dass es uns nun gelingt, den Einrichtungen die Bedingungen zu geben, die notwendig sind, um international
stark und souverän auftreten zu können.
({0})
Der Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten, hat deshalb auch einen starken und
ungeteilten Zuspruch aus der Wissenschaft bekommen.
Er hat über Fraktionsgrenzen hinweg einen breiten politischen Konsens gefunden; das freut mich. Das Gesetz
ist damit nicht nur ein Gesetz der einen oder anderen
Gruppe im Parlament, sondern auch das Ergebnis eines
langjährigen Dialoges der wissenschaftspolitischen
Sprecher mit unseren Wissenschaftsorganisationen. Drei
Säulen tragen dieses Gesetz: Autonomie, Eigenverantwortung und Transparenz.
Autonomie heißt Selbstständigkeit, wenn es um Profil, Programme, Projekte und Strategien geht. Die Einrichtungen müssen selbst entscheiden können. Wenn
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschungsprojekte betreuen und gestalten, müssen sie immer auch
kurzfristig die Möglichkeit haben, neue Wege zu gehen,
umzuplanen und bislang nicht Vorhersehbares aufzugreifen. Neue Ansätze müssen berücksichtigt werden, Forschungsergebnisse in die weiteren Planungen aufgenommen werden. Hierfür ist größtmögliche Flexibilität in der
Mittelbewirtschaftung erforderlich. Dafür sind Globalhaushalte notwendig. Genau das ermöglicht dieses Gesetz.
({1})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das viele von uns in den
letzten Jahren verfolgt haben: Die Gründungsphase des
Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen hat uns gezeigt, wie wichtig diese operative Flexibilität vor Ort ist. Nur so können wir aktuelle, gesellschaftlich relevante Forschungsgebiete zügig erschließen und
uns im internationalen Vergleich an der Spitze positionieren.
Die Wissenschaftseinrichtungen werden durch das
Gesetz mehr Freiheit und Selbstständigkeit bei Finanzund Personalentscheidungen, bei Kooperationen und
Bauvorhaben erhalten. Wir machen Ernst mit der Deregulierung und in der Folge dann auch mit dem Bürokratieabbau, nicht nur, weil es effizienter ist, sondern
auch, weil wir die Einrichtungen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin unterstützen wollen, sich auf
ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Wir wissen,
das steigert die Leistung.
Zweitens: Eigenverantwortung. Freiheit ist an Verantwortung gebunden. Deshalb kann ich Ihnen versichern
- das sage ich ganz besonders den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, die uns berechtigterweise viele Fragen
gestellt haben -: Die Pilotphase der Wissenschaftsfreiheitsinitiative hat gezeigt, dass die Einrichtungen maß23904
voll und verantwortungsbewusst mit ihrer Selbstständigkeit umgehen und dass sie unser Vertrauen verdient
haben.
({2})
Mehr Eigenverantwortung bedeutet auch, die Detailsteuerung durch Staat und Verwaltung weiter zurückzufahren. Das bedeutet aber nicht Regellosigkeit. Die Verantwortungsbereiche von Wissenschaftseinrichtungen,
Staat und Politik werden insgesamt klarer gefasst und
damit auch transparenter. Ich glaube, das ist ein zentraler
Punkt. Wir bauen nicht Regeln ab. Autonomie heißt
nicht Anarchie. Vielmehr haben wir neue Formen der
Rechenschaftsgebung und der Rechenschaftslegung.
({3})
Drittens: Transparenz. Transparente Strukturen machen Verantwortung sichtbar. Mit dem Monitoring zum
Pakt für Forschung und Innovation und mit den damit
verbundenen Zielvereinbarungen haben wir bereits gute
Erfahrungen gemacht. Auf diesen Erfahrungen bauen
wir auf. Wir wollen kein starres Berichtswesen, sondern
ein flexibles Instrumentarium, mit dem wir auch kurzfristig auf aktuelle Entwicklungen reagieren können. Wir
wollen keine neue Bürokratie, sondern wir wollen den
Abbau bisheriger Bürokratie.
({4})
Meine Damen und Herren, das Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist schlank konzipiert. Herr Professor Schubert
vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung hat dies im Rahmen der Expertenanhörung zur inhaltlichen Seite des Gesetzentwurfes treffend formuliert.
Ich zitiere: Es sind sieben einfache Paragrafen, die in weiten Bereichen oder in weiten Teilen eine Diskussion beenden - zumindest für die außeruniversitäre Forschung -,
die wir nun seit mindestens 20 Jahren führen.
Ich bin davon überzeugt: Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz wird dem gesamten Wissenschaftssystem positive
Impulse geben. In diesem Zusammenhang nenne ich
ausdrücklich auch die Ressortforschungseinrichtungen.
Mit dem Entwurf für den Haushalt 2013 hat die Bundesregierung auch für solche Einrichtungen wichtige Flexibilisierungen auf den Weg gebracht.
Und ich freue mich sehr, dass das Parlament auch den
DAAD und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung in
dieses Gesetz aufnimmt.
({5})
- Danke an alle. - Auch hier gilt das Struck’sche Gesetz:
Kein Gesetz geht so hinaus, wie es hereingekommen ist.
Dies begrüße ich außerordentlich.
Meine Damen und Herren, ich ermutige schließlich
die Länder, im Blick auf die Hochschulen ausdrücklich
gemeinsam mit uns diesen Weg zu gehen. Wir haben
viele Kooperationen zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, und genau dafür ist es wichtig, dass auch die Hochschulen ein vergleichbares Maß an Autonomie erhalten.
Ich bin davon überzeugt: Für die Wissenschaft in
Deutschland, für die betroffenen Wissenschaftseinrichtungen ist dieses Gesetz Signal zum Aufbruch, eine weitere Etappe zur Stärkung in einem harten internationalen
Wettbewerb.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege René Röspel. Bitte schön,
Kollege Röspel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst, Frau Ministerin Schavan, herzlichen
Dank, dass Sie mit relativ wenig Pathos und sehr sachlich in das Wissenschaftsfreiheitsgesetz eingeführt haben.
({0})
Wir haben das in den letzten Wochen und Monaten in
den Ausschussanhörungen oder in den Debatten manchmal durchaus etwas anders erlebt.
Wir debattieren heute in der Tat nicht über Wissenschaftsfreiheit. Das haben wir im Hohen Hause an anderer Stelle durchaus gemacht, immer dann, wenn die Wissenschaftsfreiheit wirklich tangiert war, bei embryonaler
Stammzellforschung und Ähnlichem.
Beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz geht es um die
Flexibilisierung haushaltsrechtlicher Rahmenbedingungen der Forschung, also Erleichterungen im Wissenschaftsmanagement.
({1})
Das ist eine Initiative der Großen Koalition von 2008.
Ich habe schon damals kritisiert, dass der Titel eigentlich
zu hoch gehängt ist, wenngleich viele der Maßnahmen
für außeruniversitäre Einrichtungen durchaus sinnvoll
sind. Wir stärken damit sozusagen ein Bein im Marathonlauf um ein besseres Bildungs- und Wissenschaftssystem in Deutschland und mehr Wettbewerbsfähigkeit
im internationalen Vergleich.
Aber auch das andere Bein muss man immer im Blick
behalten: Das ist die universitäre Forschung. Im Hinblick darauf, wie die Hochschulen künftig aufgestellt
sind, treibt uns doch die Sorge um. Auch dieses Bein
muss weiterentwickelt werden. Leider geht die Debatte
über die Änderung des Grundgesetzes heute Abend zu
Protokoll. Wir hätten Ihnen gerne in dieser Debatte unsere Vorschläge vorgestellt, wie man dauerhaft, nachhalRené Röspel
tig und sicher Bildung, aber auch universitäre Hochschulforschung und -lehre besser finanzieren kann.
({2})
Das ist dringend notwendig; denn wenn Sie nur bei einem Bein den Muskel stärken, werden Sie feststellen,
dass Sie irgendwann im Kreis laufen und nicht wirklich
vorankommen.
Unabhängig davon bedeutet das Wissenschaftsfreiheitsgesetz für außeruniversitäre Einrichtungen sicherlich einen Fortschritt. Ich will den beiden Berichterstattern, Herrn Schipanski und Herrn Rehberg, ausdrücklich
meinen Dank dafür aussprechen, dass sie unser Gesprächsangebot angenommen haben, zu schauen, an welchen Stellen wir gemeinsam noch etwas verbessern können. Daraus ist ein interfraktioneller Antrag geworden.
Dass nun auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung
und der DAAD in das Gesetz aufgenommen sind, ist sicherlich ein Fortschritt.
({3})
Das führt dazu, dass wir diese Initiative mit einer Enthaltung begleiten.
Zustimmen können wir leider nicht, weil wir an anderen Stellen - das werden Sie uns nachsehen - weiterhin
Probleme oder Verbesserungsbedarf sehen. Wir hätten es
zum Beispiel besser gefunden, wenn die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes verbindlicher in das
Gesetz aufgenommen worden wären, als das jetzt über
Maßnahmen haushaltsrechtlicher Art erfolgt. Dieser
Punkt war uns wichtig; doch wir haben ihn leider nicht
hineinverhandeln können. Schon jetzt erreichen uns Anfragen aus den entsprechenden Instituten,
({4})
warum sie, die sie doch gute Forschung machen, nur
deswegen, weil sie zum Bund gehören, von den Regelungen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes keinen Gebrauch machen könnten.
Andere Punkte, die wir für wichtig und richtig halten
- wir finden es gut, dass das endlich kommt -, sind Deckungsfähigkeit und Überjährigkeit. Nach der Vorlaufphase, die es gab, wird es den Instituten jetzt endlich
möglich sein, Sachmittel, die nicht abgerufen worden
sind, in Personalmittel umzuschichten und damit zum
Beispiel für die nächsten Jahre einen Doktoranden zu finanzieren. Das ist wirklich gut für die außeruniversitäre
wissenschaftliche Arbeit. Schlecht wäre es allerdings,
wenn umgekehrt der Fall entstünde, dass vorhandene
Personalmittel, die nicht abgerufen wurden, in Sachmittel umgewandelt werden und damit zum Beispiel - zugegebenermaßen ein extremes Beispiel - dem neuen Direktor eine Dienstvilla gebaut wird; im Gesetz steht ja
auch etwas von baurechtlichen Erleichterungen. Wenn
die Bürger uns fragen würden: „Warum macht ihr so etwas?“, könnten wir kaum sagen: Wir haben den Instituten 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt; was sie damit machen, wissen wir jedoch nicht.
({5})
Deswegen ging es in einem unserer Anträge - er
wurde im Ausschuss leider abgelehnt - um ein verbessertes Steuerungs- und Informationssystem, das das Parlament beschließt, um die Kontrolle nachvollziehbar und
sichtbar zu machen.
({6})
Wir sind es, die dem Bürger gegenüber zu rechtfertigen
haben, was mit dem Geld, das den Einrichtungen zur
Verfügung gestellt wird, passiert. Das ginge über das hinaus, was in § 3 Abs. 3 des Entwurfs des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes steht; da kommt das aus unserer Sicht
zu kurz. Da hätten wir uns eine stärkere parlamentarische Beteiligung gewünscht.
Gut für die außeruniversitären Einrichtungen ist sicherlich auch, dass man Berufungen, Neueinstellungen
von Spitzenwissenschaftlern dadurch begleiten kann,
dass man ihnen ein höheres Gehalt zahlt, als eigentlich
vorgesehen ist - solange dieses zusätzliche Geld aus
nichtöffentlichen Quellen kommt.
So gut das für die außeruniversitären Einrichtungen
ist, so sehr sehen wir auch drei Probleme, die damit verbunden sind:
Erstens führt ein solches Verfahren zu einem Ungleichgewicht in den Instituten. Wir bekommen schon
jetzt mit, dass sich viele Mitarbeiter zu Recht fragen, warum es eine Stärkung in der Spitze und nicht in der
Breite gibt. Über das Tarifsystem in außeruniversitären
Forschungseinrichtungen wird an anderer Stelle, im Zusammenhang mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz,
zu reden sein.
Das zweite Problem, das wir sehen, ist: Wie steht es
eigentlich mit der Unabhängigkeit von Spitzenwissenschaftlern, wenn künftig über private Industriebeiträge
ein Teil ihres Gehalts finanziert wird? Kann Unabhängigkeit wirklich gewährleistet werden? Ich habe zwar
erst einmal Vertrauen in die Wissenschaft,
({7})
aber es ist ein schwieriger Ansatz, das muss man schon
sagen.
Das dritte Problem, das wir sehen, ist: Wie ist das im
Verhältnis zu Universitäten und Hochschulen, die es sich
nicht leisten können, diesen zusätzlichen Zuschlag zu
gewähren? Auch da ist die Balance zwischen außeruniversitärer und universitärer Forschung ein Problem.
Leider haben Sie unseren Antrag, etwas für den wissenschaftlichen Nachwuchs - und nicht nur für die
Spitze - zu machen, im Ausschuss abgelehnt. Das hätten
wir für gut befunden. Wissenschaftsfreiheit in unserem
Sinne bedeutet nämlich auch, dass Wissenschaftler frei
von Sorgen um ihre Existenz forschen und kreativ arbeiten können.
({8})
Das bedeutet, eine Zukunftsperspektive und vernünftige
Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dafür werden wir uns
weiterhin einsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege René Röspel. - Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist unser Kollege Dr. Peter
Röhlinger. Bitte schön, Kollege Dr. Röhlinger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein
Tag für die Wissenschaft. Wir freuen uns darüber. Wenn
wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen - ich kann
das zumindest für meine Fraktion sagen -: Insbesondere
Grundlagenforschung hat nicht so eine große Lobby, wie
man sich das manchmal wünscht. Schauen Sie sich die
Programme der Parteien einmal dahin gehend an, wie
häufig sich dort das Wort „Grundlagenforschung“ wiederfindet. Ich habe es getan. Ich war erstaunt, wie groß
die Differenz ist: „Bildung“ ja; „Grundlagenforschung“
und „Forschung“ schon nicht so sehr. Insoweit ist es ein
gutes Zeichen, mit dem heutigen Tag diesen Akzent über
die Parteigrenzen hinaus zu setzen.
({0})
Dies ist ein Zeichen der Politik für Verlässlichkeit und
Dauerhaftigkeit, insbesondere auch ein Zeichen von Vertrauen. Wir haben es heute schon von der Ministerin gehört: Es ist ein Ausdruck der Einheit von Freiheit und
Verantwortung. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten,
dass die Wissenschaftseinrichtungen nicht gegängelt
werden, sondern dass sie einen gewissen Entscheidungsspielraum haben, der ihnen Luft zum Atmen gibt.
Meine Damen und Herren, uns allen liegt die Beschlussempfehlung und der Bericht des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Annahme des Entwurfs eines
Wissenschaftsfreiheitsgesetzes mit Änderungen vor. Bei
genauerem Hinsehen werden wir unschwer erkennen:
Auch dieses Mal ist es gelungen, dem Grundsatz zu folgen, dass ein Gesetz das Plenum anders verlässt, als es
Eingang gefunden hat. Dies ist also Ausdruck dessen,
dass wir zuhören.
({1})
Herr Röspel, Sie haben es angesprochen: Es gibt beim
Gesetzgeber, insbesondere bei den Koalitionären, durchaus das Begehren bzw. den Wunsch, den Oppositionsparteien so weit entgegenzukommen, möglichst einen
Antrag auf den Weg zu bringen, bei dem es partei- und
fraktionsübergreifend die Möglichkeit der Zusammenarbeit gibt. Das geht nicht bis zum Schluss, und irgendwie
muss die Opposition auch Kante zeigen, wie man in der
Politik sagt. Aber in vielen Dingen ist es uns doch gelungen. Ich freue mich darüber, dass der Änderungsantrag
der christlich-liberalen Koalition zum Gesetzentwurf
auch von der SPD mitgetragen wurde.
({2})
Das ist insofern bemerkenswert, als das zugleich als ein
Signal - Herr Röspel, hören Sie genau zu ({3})
an die von der SPD geführten Landesregierungen verstanden werden kann,
({4})
schnell entsprechende Landesgesetze auf den Weg zu
bringen.
({5})
Der Bund kann nicht alles alleine machen, und das will
er auch gar nicht.
({6})
Hier sind die Landesregierungen gefragt. Alle Initiativen, diesbezüglich etwas auf den Weg zu bringen, werden von uns unterstützt.
({7})
Dieses Gesetz verbinde ich ganz persönlich mit einer
Erinnerung. Als ich mich nach Berlin in den Bundestag
beworben habe, bin ich zu den Präsidenten dieser Einrichtungen gegangen und habe sie gefragt: Was kann ich
für euch tun? Ich war über die Antworten erstaunt, denn
mir wurde gesagt: Geld brauchen wir nicht, Herr
Röhlinger,
({8})
wir brauchen weniger Bürokratie. Uns stört diese ewige
Gängelung. Sehen Sie bitte zu, dass das aufhört. Wir
wollen weniger Beobachtung, dafür mehr Unterstützung
und mehr Freiraum.
({9})
Das ist uns gelungen. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ganz herzlich bei all denen, die den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben. Ist Frau Flach
noch da? Ja, da hinten sind Sie, liebe Frau Flach.
Vielleicht können Sie ihr das direkt sagen; denn Ihre
Redezeit ist mehr als abgelaufen.
Alles Gute auf diesem Wege!
({0})
Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, den die Koalition gewissermaßen in einem Anflug von Hochstapelei als Wissenschaftsfreiheitsgesetz bezeichnet hat.
({0})
Genau genommen - Herr Röspel hat schon darauf
hingewiesen - geht es gar nicht um Wissenschaftsfreiheit. Vielmehr geht es darum, dass Institutsleitungen,
Präsidien und Forschungsministerien mehr Handlungsspielraum bekommen sollen.
({1})
Insofern wäre es allemal ehrlicher gewesen, wenn Sie
das ganze Konstrukt „Wissenschaftsmanagementgesetz“ genannt hätten. Aber nein, wie man Sie so kennt,
schlagen Sie lieber ein bisschen Schaum auf einer
Pfütze, die ziemlich flach, trübe und natürlich auch klein
ist.
({2})
Die Linke fürchtet nach den Erfahrungen der letzten
Jahre allerdings, dass die Wissenschaftsfreiheit eher verliert als gewinnt. Das will ich Ihnen gerne erklären.
Das Problem liegt gar nicht so sehr in den acht
schlichten Paragrafen, für die Sie immerhin drei Jahre
gebraucht haben, sondern vielmehr in dem, was gerade
nicht in dem Entwurf steht. Jetzt wollen Sie sozusagen
Globalhaushalte einführen, Sie wollen Stellenpläne abschaffen, Sie wollen, dass sich die Einrichtungen leichter
an Unternehmen beteiligen können. Schließlich sollen
die einrichtungseigenen Kompetenzen bei Bauverfahren
erweitert werden.
({3})
Insoweit könnte man jetzt meinen, dass Entwarnung
signalisiert werden könnte - wenn sich nicht in den letzten Tagen ausgerechnet der Bundesrechnungshof kritisch bis ablehnend zu Wort gemeldet hätte.
({4})
Aber auch das haben Sie in der gestrigen Turboberatung
im Bildungsausschuss ganz tapfer ignoriert.
({5})
Für die Linke ergeben sich, wie ich es schon angedeutet hatte, Probleme vor allem aus dem, was nicht in diesem Gesetz enthalten ist. Sie zelebrieren sozusagen den
Rückzug aus angeblicher staatlicher Detailsteuerung und
verkennen gänzlich, dass Sie sich auch aus Ihrer politischen Verantwortung zurückziehen.
({6})
Mit solchen Fragen, wie man in den Einrichtungen,
wenn man ihnen schon mehr Autonomie einräumt, mehr
Transparenz oder größere Mitbestimmung für ihre Beschäftigten schaffen kann, haben Sie sich schon gar nicht
belastet.
({7})
Hierzu will ich Ihnen gerne ein Beispiel nennen:
Wenn man auf Stellenpläne verzichtet und das Besserstellungsverbot für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufhebt,
({8})
dann ergeben sich daraus nicht nur für diese Gruppe,
sondern für alle Beschäftigten Konsequenzen. Warum
ergeben sich für alle Beschäftigten daraus Folgen: Weil
das Besserstellungsgebot nicht für alle Beschäftigten
gilt; Herr Röspel hat das bereits angedeutet. Es soll nur
für das Personal gelten, das einen sogenannten wesentlichen Beitrag zum wissenschaftlichen Prozess leistet.
({9})
Dahinter verbirgt sich - das sage ich für die Zuhörerinnen und Zuhörer - die Möglichkeit, dass sogenannte
Spitzenkräfte, die gewonnen werden können oder sollen,
in ihren künftigen Einkommen aus Drittmitteln aus privatwirtschaftlicher Auftragsforschung bessergestellt
werden können.
({10})
Für diese Gruppe ist so etwas also möglich. In diesem
Falle gehen Sie auch über die Vergütungsregelungen des
öffentlichen Dienstes hinaus.
({11})
Allerdings wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten, dass diese Praxis bereits vom Bundesrechnungshof
kritisiert worden ist, weil sie in den letzten Jahren intransparent gestaltet worden ist. Daher fordert der Bundesrechnungshof klare Regeln und eine Gehaltsobergrenze. Ich kann mich da dem Bundesrechnungshof nur
anschließen.
({12})
Meine Damen und Herren, wieso wird eigentlich das
Personal in den Laboren, an den Großgeräten und im
Wissenschaftsmanagement ausgeschlossen?
({13})
Ich frage: Wieso werden Beschäftigte, insbesondere der
wissenschaftliche Nachwuchs im Mittelbau, ausgeschlossen? Wissenschaftliches Arbeiten ist viel komplexer geworden; man kann das gar nicht mehr so abgrenzen. Deshalb kritisieren wir es.
Ich erinnere daran: Wir haben hier schon mehrfach
darüber geredet, dass drei Viertel der Beschäftigten
befristet angestellt sind, was übrigens ein Hauptgrund
dafür ist, dass neu gegründete Einrichtungen beispielsweise in den neuen Bundesländern überhaupt keine Interessenvertretung mehr haben. Da gibt es gar keinen Betriebsrat, weil die Beschäftigten im Wesentlichen
befristete Verträge haben. Das muss man schon kritisieren.
({14})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir hier im
Bundestag alle gemeinsam schon einen Antrag zur Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses beschlossen haben.
({15})
Also müsste man nicht nur eine Art Wissenschaftsmanagementgesetz vorlegen, sondern auch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ändern. Sie müssten die Tarifsperre aufheben, damit die Tarifpartner bessere
Bedingungen schaffen können.
({16})
Wer gute Forschung will, muss gute Arbeitsbedingungen
bieten, und das auf allen Ebenen, auf allen Karrierestufen und für alle Beschäftigten.
Fazit: Dieses erste Bundesgesetz für die Forschung
hätte eine Initialzündung für eine Zukunftsdebatte geben
können, für eine Debatte über die Frage, wie die Wissenschaftslandschaft von morgen aussehen soll, über die
Profile und Aufgaben unserer Forschungsorganisationen, über moderne, digital vernetzte Wissenschaft und
schließlich über gute Arbeit in den Wissenschaftseinrichtungen.
({17})
Das alles findet nicht statt. Das gibt auch dieses Gesetz
nicht her. Deshalb hat es den hochtrabenden Namen
„Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ auch nicht verdient.
Frau Kollegin.
Keine Zwischenfrage, Frau Präsidentin.
({0})
Ich wollte Ihnen keine Zwischenfrage stellen.
({0})
Ich wollte Ihnen einen Hinweis geben.
Das war nur ein Versuch, zu scherzen.
({0})
Ich will nur noch sagen, dass dieses Gesetz aus diesen
Gründen für uns nicht annehmbar ist.
({1})
Wenn Sie den Scherz demnächst bitte schriftlich einreichen könnten, damit auch ich ihn verstehe?
({0})
Krista Sager hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses
Gesetz ist im Grunde ein Schritt nachholender Modernisierung. Warum „nachholend“? Weil viele Forschungseinrichtungen die Rechte, die heute gesetzlich fixiert
werden, schon in der Praxis nutzen, weil viele Hochschulen seitens der Bundesländer schon seit längerem
ähnliche Rechte und einen ähnlichen Autonomiestatus
hinsichtlich ihrer eigenen Belange eingeräumt bekommen haben. Das heißt, wir bewegen uns in einem Feld,
in dem wir schon jahrelang Erfahrungen gesammelt
haben.
({0})
Dann wundert mich aber doch so manches im Zusammenhang mit diesem Gesetz.
Ich muss den Kollegen der FDP sagen: Es hat mich
sehr gewundert, dass im ursprünglichen Regierungsentwurf die Wissenschaftseinrichtungen, die dort ressortieren, wo die FDP selber den Hut auf hat, nicht als Nutznießer dieser Freiheit vorgesehen waren.
({1})
Da frage ich mich schon, Herr Röhlinger, warum sie ursprünglich am Gängelband bleiben sollten.
({2})
Ich habe mich auch gewundert, wie lange ausgerechnet
die FDP gebraucht hat, sich in dieser Frage neu zu sortieren.
({3})
Gut, wir haben diese Angelegenheit gestern im Ausschuss geheilt, die Regierungskoalition gemeinsam mit
Grünen und SPD. Das ist auch gut so. Ich möchte Sie
aber daran erinnern, dass Sie nicht vergessen sollten,
diese Heilung jetzt auch im Haushaltsgesetz umzusetzen. Auch darin muss sich die Budgetflexibilisierung
wiederspiegeln; sonst haben die Einrichtungen davon
keinen Nutzen. Also vergessen Sie das bitte nicht auch
noch.
({4})
Wenn wir bedenken, dass wir uns hier in einem Bereich bewegen, in dem wir viele Erfahrungen gesammelt
haben, ist es im Grunde unverständlich, dass letztendlich
offengeblieben ist, mit welchen Instrumenten man tatsächlich von der Inputsteuerung zur Outputsteuerung
übergehen will. Das heißt, welche Indikatoren sollen
jetzt eigentlich die relevanten Indikatoren sein, um die
Leistung dieser Einrichtungen zu messen? Wie soll der
Unterschiedlichkeit, der Besonderheit von einzelnen
Einrichtungen Rechnung getragen werden? Wie soll
aber auch mit Kennzahlen eine Vergleichbarkeit hergestellt werden? Trotz der großen Unterschiede der Einrichtungen muss es schließlich vergleichbare Kennzahlen geben. Wie soll das Ganze mit Elementen der
leistungsabhängigen Mittelzuweisung begleitet werden,
und welche Auswirkungen hat das auf Zielvereinbarungen? Da hat die Bundesregierung - das muss ich ganz
ehrlich sagen - ihre Hausgaben nicht gemacht. Dazu
sagt sie vielmehr: Wir gucken weiter, nachdem wir das
Gesetz gemacht haben. - Das halte ich, ehrlich gesagt,
für zu wenig.
({5})
Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht über
Peanuts. Es geht hier um ein Volumen von 4,6 Milliarden Euro, und da ist die Frage, wie bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen die Steuerungs- und
Monitoringelemente aussehen sollen, nicht gerade eine
Petitesse. Ich finde es vollkommen richtig, was der Kollege Röspel gesagt hat: Wir müssen auch das Parlament
beteiligen.
({6})
Die Angelegenheit ist einfach zu wichtig, als dass das
Parlament einfach außen vor bleiben könnte.
({7})
Richtig ist auch, dass eine verantwortliche Personalpolitik nicht erst bei den Spitzenforschern, sondern beim
wissenschaftlichen Nachwuchs anfängt. Uns haben in
der Vergangenheit aus einigen Forschungseinrichtungen
zu Recht Klagen erreicht, wie mit diesen Menschen in
den Verträgen umgegangen wird. Ich hätte es richtig gefunden, dieses Wissenschaftsfreiheitsgesetz zugunsten
einer verantwortlichen und nachhaltigen Personalpolitik
und zugunsten des gesamten Personals um einen Code of
Conduct zu erweitern.
({8})
Ein weiteres großes Problem ist hier angesprochen
worden. Es gibt bei den Gehältern von Spitzenkräften in
der Forschung jetzt mehr Handlungsspielräume. Wenn
aber in den einzelnen Einrichtungen Milliarden bewegt
werden, dann braucht man auch in der Verwaltung und
in den technischen Infrastrukturen Spitzenkräfte.
({9})
Dass die Handlungsspielräume auf diese Kräfte nicht
ausgeweitet werden, leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht
ein.
({10})
Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie Sorge
dafür trägt, dass auch die Leibniz-Gemeinschaft von den
Möglichkeiten dieses Gesetzes profitieren kann und dass
wir erfahren, wie es mit Blick auf die Einrichtungen der
Ressortforschung weiterentwickelt werden kann und wie
einzelne Elemente wie die Überjährlichkeit vielleicht
auch bei den Begabtenförderungswerken angewendet
werden können.
Darüber hinaus müssen wir uns der Frage widmen,
wie wir verhindern können, dass die Universitäten als
Arbeitgeber noch mehr Nachteile gegenüber den außeruniversitären Forschungseinrichtungen haben. Diese
Frage ist für die Wissenschaftspolitik eine der aktuellsten Fragen; sie ist noch nicht gelöst. Wir brauchen nachhaltige Personalstrukturen.
({11})
Wir brauchen einen Pakt für den wissenschaftlichen
Nachwuchs. Das heißt, es gibt in der Wissenschaftspolitik auch in Zukunft noch eine ganze Menge zu tun.
({12})
Der Kollege Albert Rupprecht hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Sitte, was wir heute beschließen,
ist nicht Kleinkram, sondern hat eine Dimension, wie es
sie in dieser Größenordnung noch nie gegeben hat. Wir
schaffen erstmalig - so etwas hat es in der Tat noch nie
gegeben - ein eigenes, separates Haushaltsrecht für einen speziellen Politikbereich. Das ist einzigartig und hat
eine historische Dimension.
({0})
Wer dieses Gesetz, Frau Sitte, kleinredet - Sie sagten,
es seien nur acht schlichte, dürftige Paragrafen -, hat,
glaube ich, die Dimension und die Wirkung dieses Gesetzes noch nicht verstanden.
Albert Rupprecht ({1})
({2})
Ich prognostiziere Ihnen, Frau Sitte, dass das, was wir
heute beschließen - Frau Sager, Sie haben recht, an manchen Hochschulen ist dies bereits Realität, aber an vielen
eben nicht -, eine Dynamik entfalten, eine Welle auslösen wird, die letztendlich auch vor den Hochschulen
nicht haltmachen wird. Vielmehr wird es auch an den
Hochschulen aufgrund dieses Gesetz zu wesentlichen,
substanziellen Veränderungen kommen.
({3})
Was wir heute machen, ist in eine Studie, in ein Dokument des Wissenschaftsrates von Juli 2000 einzubetten.
Damals hat der Wissenschaftsrat letztmalig umfassend
das deutsche Wissenschaftssystem untersucht. Er hat in
diesem Zusammenhang elf Anforderungen an die Politik
formuliert. Er forderte eine stärkere Anwendungsorientierung, eine stärkere internationale Ausrichtung und
viele andere Dinge mehr. Einer dieser elf Punkte war die
Aufforderung des Wissenschaftsrates an die Politik, für
mehr Selbststeuerung und weniger Detailsteuerung
durch die Politik zu sorgen, eben das, was wir heute mit
dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschließen.
Die Aufgaben, die der Wissenschaftsrat damals genannt hat, sind wir in den letzten zwölf Jahren angegangen, auch zusammen mit der SPD in der Großen Koalition. Die Reform wurde von Frau Bulmahn angestoßen
und von Frau Ministerin Schavan in großer Dimension
umgesetzt und vollzogen. Dieser Bericht war die Grundlage für die Arbeit der letzten Jahre. Das gilt für die
Hightech-Strategie, die Exzellenzinitiative und den
Hochschulpakt. Mit den Paketen, die wir als Lösung
politisch beschlossen haben, haben wir im Wissenschaftssystem Deutschlands eine Dynamik in Gang gesetzt, die eine historische Dimension hat. Wir haben
damit das Wissenschaftssystem in Deutschland neu ausgerichtet.
({4})
Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Betrag
nennen: Der Bund hat seit 2000, über die Regierungszeiten der verschiedenen Koalitionen hinweg, deutlich
mehr als 150 Milliarden Euro investiert, um das Wissenschaftssystem in Deutschland neu auszurichten. Das war
ein Riesenkraftakt, aber damit waren wir, wie ich finde,
ausgesprochen erfolgreich.
({5})
Heute beschließen wir den letzten gewichtigen Baustein, den der Wissenschaftsrat damals eingefordert hat:
mehr Freiheit für die Wissenschaft. Herr Röspel, dieses
Gesetz bringt sehr wohl mehr Freiheit. Dieser Einzelbaustein fügt sich in ein Ganzes. Ich sage es nochmals:
Über die Parteigrenzen hinweg haben wir unsere Mission aus dem Jahr 2000 erfüllt.
({6})
In der parlamentarischen Beratung haben wir vier
Themen vertieft behandelt:
Erstens. Wir wollten - Sie haben das Thema angesprochen; das wollten aber auch die Unionsfraktion und
die FDP-Fraktion -, dass die AvH und der DAAD in den
Gesetzentwurf aufgenommen werden. Dafür war ein
Stück Überzeugungsarbeit bei den Fraktionskollegen aus
den anderen Fachbereichen notwendig. Das ist letztendlich gelungen. Der Punkt ist somit erledigt.
Zweitens: das Berichtswesen. In der Tat war die Frage
- Sie haben es angesprochen -, ob wir das Berichtswesen im Gesetzentwurf inhaltlich konkret und präzise
festschreiben wollen. Letztendlich war der entscheidende Punkt, dass wir der Überzeugung sind, dass mehr
Freiheit auch mehr Verantwortung bedeutet. Und mehr
Verantwortung heißt für uns ganz konkret: Wir erwarten
von den Wissenschaftsorganisationen, dass sie aufgrund
von mehr Freiheit zusätzliche, weitere und bessere wissenschaftliche Ergebnisse vorlegen. Wir erwarten von
den Forschungseinrichtungen, dass sie systematisch,
kontinuierlich und aussagekräftig darüber berichten. Das
ist unstrittig. Die Frage war letztlich nur, ob wir das jetzt
mit diesem Gesetz konkret und detailliert regeln sollten.
Nach vielen Gesprächen, die wir geführt haben, sind wir
zu der Erkenntnis gekommen, dass das falsch wäre, weil
sich ein derartiges, outputorientiertes Berichtssystem nur
im Dialog, im Zuge der Umsetzung und im Zusammenspiel von Wissenschaftseinrichtungen, Parlament und
Regierung über Monate hinweg entwickeln kann. Wir
können das heute an dieser Stelle nicht abschließend und
detailliert festlegen. Das ist eine Aufgabe, deren Lösung
heute beginnt. Der Beschluss, die Verabschiedung des
Gesetzentwurfs ist letztendlich der Einstieg in genau diesen Dialog, der notwendig ist.
({7})
Ich sehe, dass meine Redezeit leider Gottes schon zu
Ende ist. Ich verstehe gar nicht, wieso.
({8})
Ich hätte gerne noch weitere Themen angesprochen, zum
Beispiel den Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses. Aber dafür sind fünf Minuten wesentlich zu kurz.
({9})
Ich hätte auch gerne noch etwas zu den Ressortforschungseinrichtungen gesagt. Das wird der Kollege für
mich übernehmen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich habe in den
zehn Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, keinen Gesetzentwurf erlebt, der so viel
Zustimmung von den betroffenen Institutionen erhalten
hat wie dieser Gesetzentwurf. Wir werden von den Wissenschaftseinrichtungen wie Schellenkönige - so sagt
man in Bayern - für diesen Gesetzentwurf gelobt. Ich
glaube, das ist ein starkes Zeichen dieser Einrichtungen
dafür, dass wir heute hier in der Tat einen richtigen
Schritt machen.
Herzlichen Dank.
({10})
Der Kollege Klaus Hagemann hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Röspel hat davor gewarnt, heute mit zu viel Pathos in die
Diskussion zu gehen. Daran musste ich gerade bei der
Rede des Kollegen Rupprecht denken. Sie haben es so
dargestellt, als ob ein neues Zeitalter beginnt, als ob ein
Urknall durch die Wissenschaftsszene geht.
({0})
Wenn wir in die Genese gehen, lieber Kollege
Rupprecht, dann sehen wir, dass es nichts Neues ist. Sie
haben darauf hingewiesen, dass wir das Gesetz nicht
schlecht- und kleinreden sollen. Die Wissenschaftsfreiheitsinitiative, die wir in der Großen Koalition geregelt
hatten, enthielt schon fast alles von dem, was jetzt im
Gesetz steht. Die Wissenschaftsorganisationen konnten
also schon handeln, und die Anregungen des Wissenschaftsrates sind in diesem Zusammenhang umgesetzt
worden.
Wir könnten in dieser Frage schon wesentlich weiter
sein, wenn es nicht den einen oder anderen Bremser in
der Zeit der Großen Koalition gegeben hätte. Ich schaue
nach rechts zum damaligen haushaltspolitischen Sprecher der Union und heutigen geschätzten Staatssekretär
Peter Kampeter.
({1})
Er war einer derjenigen, die am meisten gebremst haben.
Er wollte nicht, dass Haushaltsrechte an Außenstehende
abgegeben werden. Wir, Frau Ministerin Schavan, haben
gekämpft, um dies im Haushaltsausschuss voranzubringen. Das sollten wir noch einmal in Erinnerung rufen
und deutlich machen.
({2})
Ich bin auch dankbar - jetzt spreche ich den Kollegen
Rehberg an -, dass wir in Vorgesprächen einiges bewegen konnten, leider nicht so, dass wir alle Anregungen,
lieber Kollege Dr. Röhlinger, aufgreifen konnten. Einige
Anregungen sind nicht umgesetzt worden; ich komme
darauf gleich noch zu sprechen. Deswegen können wir
uns heute - Kollege Röspel hat darauf hingewiesen - nur
der Stimme enthalten. Aber der Grundzug ist richtig.
Diesen haben wir in der Zeit der Großen Koalition festgelegt. Wir haben dabei die Anregungen aus den Wissenschaftsorganisationen übernommen.
Dass die AvH, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, und der Deutsche Akademische Austauschdienst
im Gesetz enthalten sind, ist sehr positiv; denn sie brauchen mehr Flexibilität in ihren Haushalten.
Ich möchte aber auch die Ressortforschungseinrichtungen ansprechen. Ich finde es nicht gut, dass sie nicht
im Gesetz stehen. Man regelt das jetzt über Vermerke im
Haushaltsplan. Weil die Ressortforschungseinrichtungen
der einzelnen Ministerien auch von der politischen Direktive der Ministerien abhängig sind, besteht aber die
Gefahr, dass hier keine Freiheit so wie bei den Wissenschaftsorganisationen gegeben ist. Deswegen, so meine
ich, müssen sie ins Gesetz aufgenommen werden, zum
Beispiel die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, die
BAM, also die Bundesanstalt für Materialforschung und
-prüfung, und der Deutsche Wetterdienst. Man hätte sie
in das Gesetz aufnehmen sollen, um ihnen mehr Flexibilität zu geben. Hier besteht eine gewisse Gefahr, dass
Willkür herrscht, dass über politische Direktiven Einfluss genommen werden kann und dass politischer Opportunismus eine Rolle spielt. Diese Einrichtungen
müssten daher unserer Ansicht nach in das Gesetz aufgenommen werden.
({3})
Die Kritik des Rechnungshofes ist schon angesprochen worden. Ich möchte hier auf eine Pressemitteilung
hinweisen - darüber haben wir uns schon heute Nachmittag im Haushaltsausschuss unterhalten -: „Rechnungshof verreißt Wissenschaftsfreiheitsgesetz“. Ich
darf einen kurzen Abschnitt zitieren:
Angesichts der stetig wachsenden Mittel für die
Forschungsorganisationen fehle ein ausreichendes
Controlling. Gelder könnten auf Selbstbewirtschaftungskonten geparkt werden.
Das darf nicht passieren; denn sie sollen in der Forschung verausgabt werden.
({4})
Ich zitiere weiter:
Bei den geplanten Spitzenvergütungen für herausragende Wissenschaftler fehle es an Transparenz …
Auch das sollten wir als Parlamentarier ernst nehmen.
Wir sollen im Blick behalten, ob hier entsprechend gehandelt wird.
({5})
Es sollte auch - so steht es in der Pressemitteilung - eine
Gehaltsobergrenze eingeführt werden.
({6})
Diese Kritikpunkte des Rechnungshofes sind berechtigt. Ich sage nicht, dass ihnen allen gefolgt werden
kann, aber sie müssen beachtet werden.
Lassen Sie mich zum Schluss - mir geht es wie dem
Kollegen Rupprecht; auch mir läuft die Zeit davon noch einmal deutlich machen: In der ersten Lesung hatte
ich sehr kritisiert, dass eine der Forschungseinrichtungen, die Max-Planck-Gesellschaft, gerade im Bereich
der Förderung von Stipendiaten, von Doktoranden sehr
zurückhaltend war. Wir haben hier Verbesserungen gefordert. Seit der ersten Lesung ist etwas geschehen: Die
Max-Planck-Gesellschaft hat festgelegt, dass Stipendiaten, dass Doktoranden mit einem Höchstbetrag von - ich
hoffe, ich habe es richtig im Kopf - 1 350 Euro gefördert
werden. Das sollte beispielhaft für alle Organisationen
werden.
({7})
Denn, wie vorhin schon formuliert wurde, gute Wissenschaftler bedingen gute Nachwuchswissenschaftler. Die
Wissenschaft erzielt nur Erfolge, wenn entsprechend
gute Leute zur Verfügung stehen.
Zum Schluss noch dieses: Der Kollege Rachel und
ich haben in dieser Woche an einer Gremiensitzung einer
großen Wissenschaftsorganisation teilgenommen. Da
wurde seitens des Gesamtbetriebsrates kritisiert, dass
man nur die Spitzenwissenschaftler aufnimmt und nicht
auch die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Kritik nehmen wir auf, und die werden
wir hier auch weiter verfolgen.
({8})
Herr Kollege Hagemann.
Ich komme zum Ende und möchte darum bitten, das
zu beachten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat für
die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich beginne mit dem bemerkenswertesten
Begriff, der hier gefallen ist, nämlich mit dem Thema
„Outputsteuerung“ - ich sage es mal auf Deutsch -, also
Steuerung auf Zielsetzung. Das, was hier dazu gesagt
wurde, stimmt so nicht; denn die Zielvereinbarungen
werden mit den Wissenschaftseinrichtungen getroffen.
Wir geben damit - das will ich an der Stelle hervorheben, denn darum geht es ja in diesem Gesetzentwurf Freiheit und übertragen Verantwortung an die Einrichtungen auf der Grundlage genau dieser Zielvereinbarungen.
Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Frau
Sager, Sie sprachen beispielsweise von Leibniz und der
Rolle der Länder dabei. Auch das, was Sie hierzu gesagt
haben, ist nicht richtig. Die Länder können und müssen
in der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz für entsprechende Landesregelungen sorgen. Das haben wir
immer wieder deutlich gesagt. Dazu laufen gegenwärtig
Beratungen. Verdrehen Sie die Tatsachen bitte nicht. Ich
habe bisher keine Anzeichen dafür bemerkt, dass sich
Länder hier sperren wollten.
Kommen wir zum Inhalt. Wir haben jetzt drei Jahre in
der Koalition an einem für die Wissenschaft äußerst
wichtigen Gesetz gearbeitet. Hier sind ja verschiedene
Fragmente genannt worden, die ich kurz zitieren
möchte; ich habe mir das gerade aufgeschrieben. Gesprochen worden ist von wissenschaftlichem Nachwuchs, von Intransparenz, und von der Outputsteuerung
war die Rede. Sie haben aber nicht mit einem einzigen
Wort gesagt, was notwendig ist für die Spitzenforschung, welche Bedingungen wir in Deutschland organisieren müssen, um hier Spitzenforschung zu bekommen.
Wir reden also nun drei Jahre darüber, wir diskutieren
darüber, und auch hier im Parlament wurde oft darüber
gesprochen. Aber fünf Minuten vor der Angst bekommen wir Änderungsanträge, die Sie mit den zuvor zitierten Bemerkungen umschrieben haben.
({0})
- Jetzt, Frau Sitte, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu den Ressortforschungseinrichtungen.
({1})
- Ja, das war aber etwas ganz anderes.
Auch die Sache mit den Ressortforschungseinrichtungen ist tatsächlich nicht so, wie Sie das hier dargestellt
haben. Ich habe in der diesjährigen Sommerpause eine
ganze Reihe von Einrichtungen der Ressortforschung in
Berlin und Brandenburg besucht, unter anderem die
Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung. Die Kollegen dort haben mir etwas völlig anderes gesagt als das,
was Sie hier behaupten. Sie wollen nämlich nur
bestimmte Flexibilisierungen. Sie wollen nicht das
gesamte Gesetz; das muss man an der Stelle sagen. Deshalb haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die betreffenden Regelungen mit Maß und Verstand in den
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen.
Ein kleines Beispiel: Die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung möchte im Jahre 2013 mit einem
Pilotprojekt starten, bevor man dort Stellenpläne komplett verändert. Die Bundesanstalt wartet auf die Ergebnisse, die man dann dort gemeinsam erzielen wird. Das
geht vollkommen gegen das, was Sie hier in den Gesetzestext aufzunehmen versuchen.
({2})
Sie, liebe Frau Kollegin Sager, haben uns vorgeworfen, dass wir ein Verhinderer von Freiheit seien, dass wir
die Ausweitung des Gesetzes blockierten. Dazu kann ich
nur Folgendes sagen, und das will ich wirklich lobend
hervorheben: Die Ressortforschungseinrichtungen der
FDP-geführten Ministerien machen am meisten von den
Flexibilisierungsregelungen Gebrauch. Das Gesundheitsministerium und das Auswärtige Amt haben gezeigt, dass man weitreichende Flexibilisierungen aufnehmen kann. Wir sind nicht Verhinderer, liebe
Dr. Martin Neumann ({3})
Kolleginnen und Kollegen, sondern die Förderer der
Wissenschaftsfreiheit.
Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen
der Opposition ausdrücklich dafür, dass sie die Regelung, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und den
DAAD mit aufzunehmen, mittragen.
Ich komme zum Schluss. Wir wollen mit dieser Regelung, so wie wir sie heute vorgestellt haben, letztendlich
ganz konkret zum Ausdruck bringen, dass wir ein klares
politisches Signal von Ihnen vermissen. Sie haben ohne
Blick auf die richtige Zielrichtung gesprochen. Sie lieben es, uns über das Thema „Freiheit in der Wissenschaft“ zu belehren.
({4})
Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie ganz deutlich
auf: Wenn es Ihnen tatsächlich um ein Signal an die Wissenschaft geht und wenn Sie ein solches Gesetz ernsthaft
fordern, dann stimmen Sie doch endlich für unser Wissenschaftsfreiheitsgesetz!
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich würde dieses Thema nicht so abtun wollen,
als ob wir lediglich ein paar haushaltsrechtliche Regelungen verändern oder aufheben. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, das, worum es heute geht, ist
für die deutsche Wissenschaftslandschaft ein Schritt
nach vorne.
Ich glaube, Herr Kollege Hagemann, es ist ganz
normal, dass im Vorfeld bestimmte Schritte notwendig
waren, um das zu erreichen, was man jetzt erreicht hat:
Globalhaushalte, die weitgehende Befreiung von Regelungen im Baubereich usw. usf. Ich glaube, es wäre nicht
ziel- und sachgerecht gewesen, wenn man diese Maßnahmen schon 2008 so durchgeführt hätte, wie wir es
heute tun. Ich erinnere nur an die Helmholtz-Debatte, in
der es darum ging, dass, wie es der Bundesrechnungshof
dargestellt hat, angeblich Mittel liegengeblieben sind. Im
Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es nicht so war,
sondern dass im Rahmen der Selbstbewirtschaftungsgrenzen sachgerecht gearbeitet worden ist. Insofern sage
ich als für den Einzelplan 30 zuständiger Haushälter: Ich
glaube, heute ist ein mehr als guter Tag. Da dieser Gesetzentwurf heute im Deutschen Bundestag verabschiedet wird, ist es für den deutschen Wissenschaftsbereich
sogar ein ganz entscheidender Tag.
({0})
Dieser Prozess wurde ganz maßgeblich von Annette
Schavan und Ulrike Flach gestaltet. Sie haben auch dafür gesorgt, dass dieses Vorhaben im Koalitionsvertrag
verankert wurde. Dass es dagegen Widerstände der
Fachressorts gibt, halte ich für ganz normal.
({1})
Ich komme noch einmal auf den DAAD und die AvHStiftung zu sprechen. Beide werden aus drei Ressorts gespeist: aus dem des Auswärtigen Amts, dem des Entwicklungshilfeministeriums und dem des Bildungs- und
Forschungsministeriums. Deswegen waren auch hier
Widerstände zu überwinden. Wir, die Abgeordneten von
CDU/CSU und FDP, sind allerdings so selbstbewusst,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, dass wir sagen: Wenn wir das für richtig und
sachgerecht halten, wird das auch umgesetzt. - Wir
bedanken uns bei der SPD und beim Bündnis 90/Die
Grünen, dass Sie das mittragen.
({2})
Frau Sager, Sie kritisieren, dass es zwischen den Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die im Wissenschaftsfreiheitsgesetz aufgeführt sind, und den Hochschuleinrichtungen der Länder einen Niveauunterschied
geben wird. Dazu kann ich nur eines sagen: Dann sollen
doch bitte auch die Länder Globalhaushalte einführen!
({3})
Dann sollen doch bitte auch die Länder ihre Universitäten und Fachhochschulen von stringenten Regelungen
befreien!
({4})
Dann, glaube ich, gäbe es noch mehr Wettbewerb, sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder, und man könnte sehen: Wo ist man erfolgreich, und
wo kommen wir voran?
({5})
- Das ist in vielen Ländern überhaupt noch nicht geschehen. In vielen Ländern haben die Universitäten keine
Globalhaushalte. In den meisten Ländern frönt man noch
dem Urzustand der Kameralistik und Gängelung. Denjenigen, der sich darüber beklagt, dass der Bund in diesem Bereich voranschreitet, kann ich nur auffordern, es
dem Bund gleichzutun. Dann braucht man sich an dieser
Stelle nicht mehr zu beklagen.
({6})
- Wissen Sie: Es ist mir ganz egal, welche Parteifarbe in
einem Bundesland gerade vorherrscht.
({7})
Das war eine generelle Aussage im Hinblick auf die
Wissenschafts- und Forschungslandschaft in Deutschland. Da achte ich überhaupt nicht auf Parteibücher.
Noch eine Anmerkung zum Thema Ressortforschung.
Ich halte es für nicht sachgerecht, das Wissenschaftsfreiheitsgesetz in dieser Art und Weise für die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes zu öffnen. Sachgerecht war vielmehr der Kabinettsbeschluss vom Mai
dieses Jahres, der vorsah, dass die Ressorts selber entscheiden: Wer kann die Flexibilisierung nutzen, und wer
kann sie nicht nutzen? Es gibt Ressortforschungseinrichtungen, die überwiegend Forschung betreiben, und es
gibt auch viele, die in hohem Maße administrative Aufgaben haben. Ich glaube, hier muss man ein bisschen
aufpassen, dass man nicht zu viel des Guten tun wird.
({8})
Eine letzte Bemerkung: Ich glaube, ich verrate kein
Geheimnis, wenn ich sage: Ich denke, es ist ein falsches
Ansinnen, jetzt schon mit einer Neiddebatte anzufangen.
Es geht um das Thema „Transparenz von Gehältern bei
den Forschungseinrichtungen“. Wir haben uns dazu entschieden, dass sie durch Drittmittel, durch private Mittel,
aufgestockt werden können, und sollten nicht gleich im
nächsten Schritt dafür sorgen, dass diese Gehälter offengelegt werden. Überlegen Sie auch einmal, was wäre,
wenn Sie das gleiche Ansinnen, dass sämtliche Einkommen personenbezogen offengelegt werden müssen,
bezogen auf ein Unternehmen hätten. Das macht kein
Unternehmen.
({9})
Deswegen bin ich strikt dagegen, dass wir als Erstes
damit anfangen, eine Neiddebatte zu führen, indem wir
alle Gehälter in den Forschungseinrichtungen offenlegen; denn dies führt nicht zum Ziel, sondern nur zu
Neiddebatten in der Öffentlichkeit. Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz wird aber nicht dazu da sein, eine
Neiddebatte zu initiieren, sondern Wissenschaft und
Forschung voranzubringen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11046, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10037
und 17/10123 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
bitte ich jetzt um ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion
Die Linke gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer ist für den Gesetzentwurf
und erhebt sich deswegen? - Die Gegenstimmen! - Die
Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11064. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die
einbringende Fraktion abgelehnt. Die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, die CDU/CSU und die FDP waren dagegen, die SPD hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
- Drucksache 17/11004 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})HaushaltsausschussFederführung strittig
Für die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit Monaten gibt es wegen angeblich untragbarer Strompreiserhöhungen eine Hetzkampagne gegen
den Ausbau der erneuerbaren Energien.
({0})
Kampagnenchef ist Wirtschaftsminister Rösler, assistiert
wird ihm von Umweltminister Altmaier, FDP-Fraktionschef Brüderle und Energiekommissar Oettinger.
({1})
Verbreitet werden die übelsten Diffamierungen gegen
die erneuerbaren Energien, auch in millionenschweren
Anzeigen von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
({2})
Sie alle verschweigen völlig den Beitrag des Ökostroms
zum Klimaschutz und zur Ablösung der Erdölwirtschaft,
die die Verbraucher und die gesamte Wirtschaft mit immer höheren Ölpreisen unter Druck setzt.
({3})
Doch Ihnen von Union und FDP geht es ja gar nicht
um die Lösung zentraler Menschheits- und Wirtschaftsprobleme, sondern ausschließlich um den Bestandsschutz der schmutzigen Stromerzeugung aus Kohle, und
Sie bereiten Ihre dritte Kehrtwende für eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken vor,
({4})
wie sie der Fraktionsvize Vaatz gestern gefordert hat.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({5})
Die wahren Strompreistreiber sind Sie, meine Damen
und Herren von Union und FDP. 2005, am Ende der rotgrünen Regierungsverantwortung, lag die EEG-Umlage
gerade mal bei 0,7 Cent pro Kilowattstunde.
({6})
Sie von Union und FDP haben sie mit gravierenden Fehlern in verschiedenen EEG-Novellen auf heute 5,3 Cent
hochgetrieben.
({7})
Ohne Ihre verfehlte Politik läge die EEG-Umlage trotz
erfolgreichen Ausbaus der erneuerbaren Energien heute
sozialverträglich unter 3 Cent.
({8})
Der erste Fehler der Union, den Sie zusammen mit
der SPD machten, passierte schon 2009, als Sie den
Umlagemechanismus verändert haben. Sie haben damit
den wegen der erneuerbaren Energien sinkenden Börsenstrompreis zur Basis für die Berechnung der EEGUmlage gemacht und so schon die EEG-Umlage um
1 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben.
Dann folgten Schlag auf Schlag die schwarz-gelben
preistreibenden Fehler: die uferlose Befreiung von
Produktionsbetrieben von der EEG-Umlage,
({9})
die Eigenstrombefreiung von Kohlekraftwerken und die
Einführung der Marktprämie.
Wir fordern Sie heute mit dem Antrag auf, genau
diese hausgemachten Fehler zu korrigieren. Wenn Sie es
ernst meinen mit der Begrenzung der Kosten der Energiewende, dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen.
({10})
Aber ich habe mir auch einmal Ihre konkreten
Vorschläge zur Preisdämpfung angeschaut. Im Verfahrensvorschlag zum EEG von Umweltminister Altmaier
finden wir keine Vorschläge zur Korrektur Ihrer hausgemachten schwarz-gelben Fehler. Stattdessen hören wir
von der FDP und vom Umweltminister ausschließlich
Vorschläge zur Begrenzung des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Erstmals in der Geschichte Deutschlands
haben wir einen Umweltminister, der die wichtigste Klimaschutztechnologie ausbremsen will. Was ist das denn
für ein Umweltminister?
Ja, die FDP verlässt sogar den Boden der freien
Marktwirtschaft.
({11})
Ihre Vorschläge zum Quotenmodell mit staatlich festgelegten Ausbauzielen habe ich vor allem in den kommunistischen Fünfjahresplänen Chinas gefunden.
({12})
Nur, selbst in China wurde inzwischen erkannt, dass
diese staatlich festgelegten Quoten nicht erfolgreich
sind, und dort wurde ein EEG eingeführt, das Sie genau
abschaffen wollen.
({13})
Aber den Vogel schießt ausgerechnet Umweltminister
Altmaier ab.
({14})
Er will den jährlichen Zubau von Windkraft, Biomasse
und Photovoltaik staatlich festgelegt kontrollieren und
mit einer marktwirtschaftswidrigen Obergrenze belegen.
({15})
Sein Argument, dass der angeblich unkontrollierte
Ausbau des Ökostromes mit dem Ausbau der Netze
nicht mithält, ist nicht tragfähig. Vergleichbar ist dies mit
dem Vorschlag, dass man wegen der vielen Staus auf den
deutschen Straßen und des fehlenden Straßenausbaus bei
den Bundesfernstraßen VW und Daimler staatlich zwingen will, den Verkauf von Autos einzuschränken. Nichts
anderes ist dies. Eine absurde Vorstellung, die nichts mit
Marktwirtschaft zu tun hat, weil Sie nur eingreifen
wollen in den Ausbau der anderen.
({16})
Ihre Politik von Schwarz-Gelb hat nichts mehr mit
Marktwirtschaft zu tun.
({17})
Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge
Herr Kollege.
- zum Bestandsschutz der großen Energiekonzerne
werden aber nicht durchgehen; denn weite Teile der
Bevölkerung haben längst erkannt, dass sie mit genossenschaftlichen Modellen selbst den Strom erzeugen
können
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende gekommen sein.
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - und die
Wertschöpfung in die eigene Hand nehmen können.
Wir Grünen werden die Bevölkerung gegen Ihre
Preistreiberei und Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge
zum Ausbremsen der erneuerbaren Energien unterstützen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Fell, wissen Sie, da höre ich mir doch dreimal lieber die Frau Höhn an als noch einmal das, was Sie
hier zum Besten gegeben haben.
({0})
Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier für einen
Unfug erzählt haben.
({1})
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist genau das Problem, weil es nämlich bei den Kosten nach oben völlig
unbegrenzt ist. Jedes Förderprogramm, das wir bisher
aufgelegt haben, ob das nun Marktanreizprogramme
oder andere waren, hat einen Deckel, aber das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist praktisch unbegrenzt.
({2})
Die EEG-Umlage steigt natürlich genauso unbegrenzt
mit, wenn man den Ausbau in unserem Lande unbegrenzt forciert. Ganz besonders gilt dies im Bereich der
Photovoltaik. Sie, Herr Fell, wissen selbst: 57 Prozent
der Umlage entstehen durch die Kosten für die Photovoltaik, die aber nur einen Anteil von 12 Prozent unseres
Stromes in Deutschland ausmacht.
Wo wäre denn die EEG-Umlage heute, wenn wir
nicht in den letzten Jahren gegen den erbitterten Widerstand von Ihnen, den Grünen, und von Ihnen, der SPD,
({3})
und den Ländern, die alle mitgemischt haben, die Förderung gekürzt hätten? Es klingelt doch in den Ohren,
wenn ein Ministerpräsident sagt, er würde eine Energiepreisdeckelung einfordern. Ich frage mich da manchmal,
was im Bundesrat diskutiert wird.
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz stößt eben, wirtschaftlich gesehen, marktwirtschaftlich gesehen und
auch technisch gesehen, an seine Grenzen. Darüber kann
man doch nicht diskutieren.
({4})
Ich merke: Auch bei Ihnen zieht langsam die Erkenntnis
ein, dass wir Änderungen brauchen und dass wir diese
Änderungen schnell brauchen.
({5})
Die erneuerbaren Energien sind doch mit einem Anteil von über 20 Prozent am Strom kein Nischenprodukt
mehr. Damals, als das Stromeinspeisungsgesetz und später das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft gesetzt
wurden, war es sinnvoll, neue Technologien zu fördern.
Das ist doch unbestritten.
({6})
- Wir können darüber reden, warum ich dagegen gestimmt habe.
({7})
Es war nämlich erkennbar, dass wir genau an den Punkt
kommen, an dem wir heute stehen. Das war damals
schon erkennbar.
({8})
Herr Fell, Sie können im Moment den Strompreis
nicht mehr dämpfen, weil die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen in Ihrem Antrag erst mittel- und langAndreas G. Lämmel
fristig wirken. Kurzfristig kann man an diesem System
überhaupt nichts ändern.
Jetzt zu der größten Legende, die Sie verbreiten. In
Ihrem Antrag steht der Satz:
Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende
gerade energieintensive Unternehmen hart treffen
werde, hat sich als unbegründet erwiesen.
Das ist der Hammer. Mein lieber Mann, da kann man sehen, dass die Grünen wirtschaftspolitisch völlig blind
sind und überhaupt nicht merken, was seit der Einführung zusätzlicher Belastungen in Deutschland passiert
ist.
Herr Kollege, Herr Lenkert möchte Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfragen
zulassen.
({0})
Ich will Herrn Fell gerne die Zahlen liefern, damit er erkennen kann, wie blind die Grünen heute in der Wirtschaftspolitik agieren.
({1})
Ein Unternehmen aus der Stahlbranche zahlt bei der aktuellen Umlage von 3,59 Cent pro Kilowattstunde ohne
Entlastung 280 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich. Für
diese 280 Millionen Euro zusätzliche Kosten entsteht
nicht eine einzige Tonne Stahl mehr. Für diese 280 Millionen Euro zusätzliche Kosten entsteht auch kein einziger Arbeitsplatz mehr.
({2})
Nach der Entlastung - Sie sprechen immer von Befreiung, aber es handelt sich hier ausschließlich um eine
Entlastung - zahlt das Unternehmen 88 Millionen Euro.
Wenn man jetzt diese neue Preissteigerung einrechnet,
also die 5,3 Cent pro Kilowattstunde, die jetzt für die
Zukunft ausgerechnet worden sind und dabei wieder die
Entlastung einrechnet, dann entstehen dem Unternehmen in einem Jahr 128 Millionen Euro zusätzliche
Kosten.
({3})
- Ich kann Sie Ihnen geben. - Man muss doch erkennen,
dass dieses Unternehmen natürlich nicht mehr in
Deutschland investieren wird, sondern es wird sich andere Standorte in anderen Ländern suchen, wo einfach
diese zusätzlichen Belastungen nicht entstehen.
Die Stahlindustrie insgesamt hat ab 2013 jährliche
Mehrkosten ohne Entlastung in Höhe von 1,8 Milliarden
Euro, also 1 840 Millionen Euro.
({4})
Unter Berücksichtigung der Entlastung sind es immer
noch 609 Millionen Euro. Wenn Sie das auf die Arbeitsplätze umrechnen, die in der Stahlindustrie existieren,
heißt das, dass das Mehrkosten in Höhe von 6 766 Euro
pro Arbeitsplatz sind. Meine Damen und Herren, man
könnte neue Arbeitsplätze schaffen, wenn man diesen
belastenden Betrag nicht einfach so ausgeben müsste.
Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage
des Kollegen Krischer zulassen?
Nein, möchte ich nicht. - Herr Fell, bevor man Solarpaneele aufs Dach schrauben kann, muss man Aluminium, Silizium und Glas herstellen. Wenn Sie verhindern
wollen, dass diese Wertschöpfungskette in Deutschland
weiter existiert, müssen Sie so weitermachen wie bisher.
Dann können Sie das alles in China kaufen. Sie werden
aber hier am Pult stehen und über hohe Arbeitslosigkeit
klagen.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen:
Minister Altmaier ist auf dem richtigen Weg. Eine
Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes muss dringend auf den Weg gebracht werden. Angesichts dieser
Tatsache kann ich nur hoffen, dass auch die linke Seite
- ich meine die SPD und die Grünen - Vernunft annimmt und hier an diesem Werk mitarbeitet.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe jetzt nacheinander den Kollegen Lenkert und
Krischer das Wort zu einer Kurzintervention. Dann
könnte Herr Lämmel darauf antworten. Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Lämmel, im Jahr 2000 habe ich für eine Kilowattstunde
Strom 14 Cent bezahlt. Damals betrug die EEG-Umlage
0,2 Cent. Im Jahr 2012 bezahle ich für die Kilowattstunde Strom 26 Cent. Die EEG-Umlage beträgt
3,5 Cent. Die Differenz beträgt 12 Cent. Davon sind
- selbst wenn ich den Mehrwertsteueranteil zurechne etwa 4 Cent EEG-Umlage. Das heißt, ein großer Teil des
Anstieges des Strompreises kommt nicht aus den erneuerbaren Energien.
Ich stelle Ihnen dazu Fragen. Was hat Benzin im Jahre
2000 gekostet? Was hat Heizöl im Jahr 2000 gekostet?
Was hat zum Beispiel Kohle für Heizzwecke im Jahr
2000 gekostet? Diese Preise haben sich bis heute mehr
als verdoppelt. Demzufolge scheint es so zu sein, dass
trotz EEG-Umlage durch den Wettbewerb im Strombereich die Stromerzeugungskosten und die Stromnutzungskosten selbst - im Gegensatz zu dem, was Sie
hier verkünden - für uns relativ gesunken sind.
Ich komme zu einer Studie von Arepo-Consult im
Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dabei geht es
um die Befreiung der energieintensiven Industrien und
der anderen Industrien. Wir haben letztens gelernt, dass
zu den energieintensiven Industrien Rolltreppenbetreiber
in einem Einkaufscenter gehören. Die Befreiungen für
diese Industrien und auch für Aluminiumwerke wie das
in Hamburg - es investiert jetzt auch in Deutschland,
weil die Energiekosten scheinbar so hoch sind - machen
fast 10 Milliarden Euro pro Jahr aus, wenn man alles zusammenrechnet.
Wenn man die Industriestromkosten vom Jahr 2000
mit denen von heute vergleicht, stellt man fest, dass die
Unterschiede im Verhältnis zu unseren Wettbewerbern
sogar kleiner geworden sind. Wir haben zwar immer
noch die zweitteuersten; aber der Abstand ist von 2 Cent
für die Kilowattstunde auf 1 Cent für die Kilowattstunde
geschrumpft. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Industrie ist nicht gefährdet.
Ich frage Sie deshalb: Wieso lasten Sie die gesamten
Kosten permanent den Verbraucherinnen und Verbrauchern an? Wieso stellen Sie nicht sicher, dass hier
Wahrheit herrscht? Wenn wir nämlich die Preisanstiege
in allen Bereichen betrachten, werden wir feststellen,
dass gerade der Strombereich - so weh uns die Kosten
dort auch allen tun - den geringsten Preisanstieg hat.
Gerade die erneuerbaren Energien haben dafür gesorgt,
dass dies so ist.
Bitte, erklären Sie mir, warum die Stromrechnung so
gestiegen ist.
({0})
Herr Krischer, bitte.
Aha, es regiert also das Parlament und nicht die Regierung. - Herr Kollege Lämmel, Sie haben uns eben
vorgeworfen, hier gäbe es keinen wirtschaftspolitischen
Sachverstand. Den vermisse ich leider bei Ihnen. Ich
finde es schon erstaunlich, dass Sie hier in Ihrer Rede einen Lobbybrief der Stahlindustrie, der uns allen heute
oder gestern zugegangen ist, ungeprüft vorlesen. Das ist
schon ein unglaublicher Vorgang.
({0})
Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, die Angaben, die dort gemacht werden, zu überprüfen. Sie halten nämlich einer Überprüfung nicht stand. Einer Überprüfung stand hält allerdings das, was die Industrie
selber sagt. Ich möchte Ihnen dazu Beispiele nennen.
Das Unternehmen Norsk Hydro produziert weltweit
Aluminium und hat vor zwei Wochen angekündigt, seine
Produktion nach Deutschland, nämlich nach Neuss, zu
verlagern, weil in Deutschland die Strompreise günstiger
sind. Das Unternehmen hat ein Werk in Deutschland, das
es stillgelegt hat, wieder in Betrieb genommen und die
Produktion von Australien nach Deutschland verlagert,
mit der Begründung, die Industriestrompreise seien in
Deutschland billiger. Das ist die Realität in Deutschland.
Weiteres Beispiel: Trimet Aluminium. Trimet Aluminium hat in der Tat im letzten Jahr Verluste gemacht.
Aber wissen Sie, warum sie Verluste gemacht haben?
Weil sie auf steigende Strompreise gewettet haben. Aber
die Strompreise sind für Trimet Aluminium gesunken.
Deshalb ist der Verlust entstanden. Das ist die Realität in
Deutschland - nicht das, was Sie uns erzählen wollen.
Ich möchte noch ein drittes Beispiel nennen, das mir
nach der Debatte, die wir in der letzten Sitzungswoche
zu dem Thema geführt haben, nochmals bestätigt worden ist. Bayer MaterialScience sagt klipp und klar: Die
Industriestrompreise in Deutschland sind geringer als im
europäischen Durchschnitt. - Sie erzählen hier wider
besseres Wissen das Gegenteil. Sie sollten lernen. Informieren Sie sich besser, statt ungeprüft Lobbybriefe vorzulesen und damit auch noch wirtschaftliche Kompetenz
zu suggerieren, die Sie offensichtlich nicht haben.
({1})
Herr Lämmel, möchten Sie reagieren? - Bitte schön.
({0})
Das ist das Interessante bei den Grünen: Wenn Sie
Zahlen einer Branche verwenden, dann ist das die Wahrheit. Wenn die Solarbranche ihre Zahlen liefert, dann ist
das gedruckte Wahrheit.
({0})
Wenn man Zahlen verwendet, die zum Beispiel die Gewerkschaft oder eine andere Branche vorlegen, dann ist
das die Unwahrheit. So gehen Sie mit den Dingen um.
Deshalb habe ich gesagt: Sie sind auf dem wirtschaftspolitischen Auge blind. Denn wenn Sie die Industriestrompreise in Amerika, Asien und Europa vergleichen,
dann werden Sie feststellen, dass es nicht stimmt, was
Sie behaupten.
Die Industriestrompreise sind eben nicht mit den Preisen vergleichbar, die an der Börse gebildet werden. Das
sollten Sie vielleicht im Lehrbuch nachlesen.
Zu dem Herrn von der linken Seite: Sie haben vielleicht noch den VEB Energiekombinat im Hinterkopf,
({1})
der feste Preise hatte, und der Staat hat dann aus seiner
Kasse den Rest gezahlt. Wenn Sie sich die Belastungen
des Strompreises allein durch politische Elemente ansehen, dann zeigt sich, wo die großen Preissteigerungen
herkommen. Der größte Batzen war die Einführung der
Ökosteuer, die im Prinzip als Rentenauffüllsteuer eingeführt worden ist.
({2})
Das hatte mit Öko nichts zu tun. Außerdem gibt es die
Netzentgelte und all die anderen Bausteine, die politisch
motiviert auf den Strompreis aufgeschlagen werden. Das
sind die großen Strompreistreiber.
Derzeit ist das die EEG-Umlage. Man kann diskutieren und reden, wie man will: Das sind jetzt 5,3 Cent pro
Kilowattstunde. Die muss jeder bezahlen, und zwar nicht
nur die Bürgerinnen und Bürger; die Wirtschaft zahlt das
genauso.
({3})
Wenn man jetzt nicht der Sache Einhalt gebietet und
die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes angeht,
wird sich dieser Preisaufschwung in den nächsten Jahren
fortsetzen. Das ist ein einfaches mathematisches Modell.
Herr Fell, ich weiß nicht, ob Sie in der Schule das Rechnen vielleicht nicht richtig gelernt haben. Sonst könnten
Sie nämlich mit einem Dreisatz ausrechnen, wie sich die
Kosten entwickeln.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf
Hempelmann jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist doch erfrischend, dass wir für die Debatte
heute einen Antrag mit dem sachlichen Titel „Kosten
und Nutzen der Energiewende fair verteilen“ von den
Grünen vorgelegt bekommen haben.
In der gestrigen von Schwarz-Gelb aufgesetzten Aktuellen Stunde wollten Sie uns in die Schuhe kippen,
dass wir eine EEG-Umlage von 5,3 Cent im Jahre 2012
haben. Sie haben sich damit absolut lächerlich gemacht.
Die Zahlen sind eben hier genannt worden: 0,67 Cent
war die EEG-Umlage im Jahre 2005 am Ende von RotGrün, 1,13 Cent am Ende von Schwarz-Rot, und jetzt,
also in Ihrer Verantwortungszeit, liegt sie bei 5,27 Cent.
Gestehen Sie wenigstens ein, dass das Ihre Preiserhöhung ist und bitte schön nicht unsere! Wir nehmen sie
Ihnen nicht weg.
({0})
Der Titel des heute vorliegenden Antrags „Kosten und
Nutzen der Energiewende fair verteilen“ veranlasst mich,
zunächst einmal darüber zu reden, dass wir als Erstes versuchen sollten, unnötige Kosten zu vermeiden. Wenn ich
sehe, was Sie da in den letzten Jahren gemacht haben,
dann denke ich daran, dass Sie genau an dieser Stelle ein
Scheitern par excellence zu verantworten haben. Sie
haben durch planloses Handeln zum Beispiel im Bereich
der Offshorewindenergie dafür gesorgt, dass zusätzliche
Kosten entstanden sind, die jetzt auf die Verbraucher
umgewälzt werden müssen. Sie haben einen Gesetzesvorschlag gemacht und gestehen ein, dass inzwischen Haftungsentschädigungen von 1 Milliarde Euro fällig werden, die auf die Verbraucher umzulegen sind. Dies macht
0,25 Cent pro Kilowattstunde für die nächsten drei bis
vier Jahre aus. Das war Ihr Werk. Das sind Kosten, die Sie
durch planloses und hektisches Handeln künstlich und
zusätzlich verursacht haben.
Das Zweite. Es droht durch die fehlende Koordination
der Energiewende, was Sie auch wiederum zu verantworten haben, dass wir in den nächsten Jahren weitere zusätzliche und unnötige Kosten haben werden. Es gibt
nämlich keinen abgestimmten Plan zwischen Bund und
Ländern zur Entwicklung der Energieinfrastruktur. Im
Gegenteil, wir haben auf der einen Seite im Norden die
Bemühungen, die Steigerung von Offshore- und
Onshorewindenergie weit über den eigenen Bedarf hinaus zu bewerkstelligen - dagegen will ich gar nichts sagen -; aber gleichzeitig sagen in anderen Bundesländern,
zum Beispiel im Süden der Republik, explizit Ministerpräsidenten, sie wollen von diesem Strom nicht abhängig
sein, sie wollen autark sein, sie wollen Energieerzeugung
im eigenen Land. Wenn Sie dies zulassen, wenn Sie das
nicht koordinieren, dann werden wir demnächst nicht nur
das eine oder andere notleidende konventionelle Kraftwerk haben, sondern möglicherweise notleidende Infrastrukturen an allen Ecken und Enden, nämlich dann,
wenn zum Beispiel Netze, die von Nord nach Süd gebaut
werden, aus diesem Grund nicht ausgelastet werden oder
wenn Stromerzeugungsanlagen, die im Norden stehen,
im Süden keine Abnehmer finden und deswegen Abfall
produzieren. Sie sollten sich darum kümmern, endlich
die Koordinierungsaufgabe in der Energiewende ernst zu
nehmen, um weitere Kostenexplosionen zu vermeiden.
({1})
Das Dritte. Seit über einem Jahr oder noch länger basteln Sie an einer Alternative, die durchaus kostengünstig
sein würde - aber Sie haben bisher immer noch nicht geliefert -: Ich rede vom Lastmanagement, also davon,
dass man zu- und abschaltbare industrielle Lasten nutzen
kann, um zu bestimmten Zeiten - zum Beispiel zu Spitzenlastzeiten, wenn aber beispielsweise der Wind nicht
weht - gegenüber der sehr teuren Regelenergie die Alternative der Abschaltung zu haben. Liefern Sie endlich,
und sorgen Sie dafür, dass wir hier eine Alternative bekommen, die uns vor allen Dingen in der zeitlichen Perspektive hilft, Kosten zu vermeiden!
Nun zu dem Thema der fairen Kostenverteilung. Gestern haben wir diese unsägliche Debatte gehabt. Ich habe
gerade schon gesagt: Es sind Ihre 5,3 Cent, die Sie gestern zum Thema gemacht haben. Die Öffentlichkeit,
denke ich, hat das auch gemerkt. Diese 5,3 Cent kommen zu 100 Prozent beim Kunden als Belastung an.
Aber was heute hier zu Recht gesagt worden ist: Wir haben durch die erneuerbaren Energien auch Kostensenkungen im System. Wir haben beispielsweise beim Börsenstrompreis den Effekt, dass die erneuerbaren
Energien in der Merit Order aufgrund ihrer geringen, gegen null tendierenden variablen Kosten den Börsenstrompreis senken.
Das hat aber den paradoxen Effekt, dass das als doppelte Steigerung bei der EEG-Umlage ankommt. Also
sorgt der Kostenvorteil, generiert durch erneuerbare
Energien, für eine doppelte Steigerung der EEG-Umlage. Arbeiten Sie an diesem System! Denn daran ist etwas falsch. Dann werden wir es auch schaffen, dass die
Kostenvorteile und nicht nur die Belastungen beim Endkunden ankommen.
({2})
Sie mussten ja auch gestern erfahren: Nicht die Ausnahmen für die wirklich stromintensiven, im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen sind das Problem, sondern das Problem ist Ihre Ausweitung dieser
Ausnahmen auf zahlreiche Unternehmen, die zu diesem
Kreis überhaupt nicht gehören. Das hat dazu geführt,
dass zusätzliche Belastungen beim Endkunden entstanden sind, gerade auch bei den Haushalten, und dass Vorteile, die nicht sinnvoll sind, für Unternehmen, die diese
Ausnahmen nicht brauchen, entstanden sind. Das ist
keine faire Verteilung von Chancen und Lasten.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen zulassen?
Ja, da kann ich mal einen Schluck Wasser trinken.
Bitte schön.
Lieber Kollege Hempelmann, Sie haben gerade angesprochen, dass die im letzten Jahr eingeführte Stufe der
Entlastung für energieintensive Unternehmen diese Ausweitung bewirkt hat. Jetzt frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass diese Stufe in der Summe gerade einmal
10 Terawattstunden ausmacht und dass vorher bereits
150 Terawattstunden befreit waren? Sind Sie der Meinung, dass diese 150 Terawattstunden, die die rot-grüne
Koalition bzw. wir in der Großen Koalition 2008 beschlossen haben, damit in Ordnung und gut sind?
Erstens. Selbst wenn die Zahlen - ich kann sie jetzt
nicht prüfen - so stimmen: Es geht nicht allein um den
Umfang, sondern auch um die Symbolik.
({0})
Wenn Sie Unternehmen befreien, die nicht zu dem Kreis
der Privilegierten gehören sollten - dies aufgrund der
Tatsache, dass sie eben nicht ausreichend stromintensiv
sind, dass sie nicht im internationalen Wettbewerb stehen, dass sie keine Produkte herstellen, in deren Preis
man zusätzliche Lasten hineinbringen kann, weil der
Preis an internationalen Handelsplätzen gebildet wird -,
dann ist jedes einzelne Unternehmen, das hier privilegiert wird, fehl am Platze und dann stört das die Akzeptanz dieses Instruments.
({1})
Das Zweite ist: Sie haben diese Ausweitung der Ausnahmetatbestände nicht nur im EEG vorgenommen. Sie
haben es zum Beispiel auch bei den Netztarifen gemacht. Da haben wir die schizophrene Situation, dass
Unternehmen dabei sind, die nun mit produzierendem
Gewerbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wir haben
Ihnen gestern die Liste genannt. Ich glaube, man muss
das nicht wiederholen.
Meine Damen und Herren, ich will zur Differenzierung darauf hinweisen, dass zwar auf der einen Seite in
der Tat die Großhandelspreise sinken, dass aber auf der
anderen Seite nicht jedes Industrieunternehmen, jedenfalls auf Sicht, gleichermaßen davon profitiert. Das hat
etwas damit zu tun, dass sich viele Unternehmen an Terminmärkten oder auch bei Over-the-Counter-Geschäften
vorsorglich mit Strom eindecken. Wir hatten die Situation, die Sie im letzten Jahr mit der hektischen Energiewende verursacht haben, dass die Preise deutlich gestiegen sind und Unternehmen sich am Terminmarkt oder
bilateral mit Strom für die nächsten Jahre versorgt haben. Sie profitieren derzeit überhaupt nicht von den gesunkenen Großhandelspreisen, sondern erst dann, wenn
diese Verträge ausgelaufen sind. Deswegen sage ich: Im
Grundsatz stimmen die Behauptungen. Aber man muss
noch einmal sehr differenziert hinschauen.
Meine Damen und Herren, helfen Sie den Leuten,
Kosten zu sparen. Zur fairen Verteilung gehört, dass man
dafür sorgt, dass die Menschen, die es nicht von alleine
können, beim Energiesparen Unterstützung erhalten. Wir
haben dazu vielfältige Vorschläge gemacht. Jetzt werden
sie aufgegriffen, von Umweltminister Altmaier allerdings nur verbal; gehandelt hat er bisher nicht. Er will etwas tun für die Energieberatung, er will auch im Bereich
Wärme sowie im Bereich Mobilität etwas tun. Er will
Effizienzmaßnahmen unterstützen. Kündigen Sie nicht
mehr nur an, sondern handeln Sie in diesen Bereichen!
Dann können Sie tatsächlich zeigen, dass Sie ein Herz
für diejenigen haben, die zurzeit von den Kosten erdrückt werden.
Vielen Dank.
({2})
Herr Meierhofer für die FDP-Fraktion. Bitte.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin wirklich
ziemlich überrascht, wie Sie hier mit Wahrheiten umgehen, wie Sie hier die Tatsachen verdrehen, nur weil es
Ihnen gerade in den Kram passt. Das ist wirklich unredlich von Anfang bis Ende.
({0})
Die Aussage, dass wir die Energiekosten durch die EEGUmlage auf 5,3 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben
hätten und es bei Ihnen nur so wenig, 0,6 Cent, gewesen
seien,
({1})
ist vollkommen richtig. Wissen Sie auch, warum? Weil
Rot-Grün im Jahr maximal 0,92 Gigawatt erneuerbare
Energie ausgebaut hat. Wir dagegen haben die beiden
letzten Jahre 7,5 Gigawatt ausgebaut.
({2})
Wir haben die erneuerbaren Energien ausgebaut; im Vergleich dazu ist bei Ihnen nichts passiert.
({3})
Natürlich habe ich keine EEG-Umlage, wenn ich die Erneuerbaren nicht ausbaue. Das ist genau der Punkt. Jetzt
haben wir die Dynamik, dass der Preis nach oben geht.
Deswegen kommen die Kosten.
({4})
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kelber
zulassen?
({0})
Ja, gern; so viel Zeit muss sein.
Bitte schön.
Herzlichen Dank. - Man kann ja die vielen Zahlen,
die vorgetragen wurden, auf eine reduzieren: In den vier
Jahren schwarz-gelbe Koalition gab es in der Tat einen
massiven Ausbau der Erneuerbaren. Ihre Vergütung hat
sich, wenn man 2013 einkalkuliert, verdoppelt. Doch
warum hat sich die EEG-Umlage in dieser Zeit dann vervierfacht?
Das kann ich Ihnen sagen: Weil fast 50 Prozent der
EEG-Umlage mit der Photovoltaik zusammenhängen,
für die Sie und der Kollege Fell von den Grünen lobbyieren.
({0})
Aus diesem Grund sind die Kosten insgesamt extrem angestiegen. Ich nenne die Zahlen bei der Photovoltaik:
0,92 Gigawatt, 7,5 Gigawatt, 7,3 Gigawatt, dieses Jahr
wieder über 7 Gigawatt. Die Vergütung für Photovoltaik
ist viel höher, sie liegt bei 20 bis 30 Cent pro Kilowattstunde.
({1})
So viel rechnen müssten Sie doch können, dass Sie sehen, dass es einen Unterschied macht, ob man für 6 oder
7 Cent pro Kilowattstunde die Windkraft ausbaut oder,
wie Sie früher, für 43 Cent oder, wie wir jetzt, für
19 Cent die Photovoltaik.
({2})
Natürlich ist es dadurch teurer geworden. Wir haben die
teuren erneuerbaren Energien ausgebaut.
({3})
- Sie haben es immer noch nicht verstanden, oder? Sie
wollen es nicht verstehen. Es ist doch selbstverständlich,
dass diejenigen Energien am meisten ausgebaut wurden,
die die teuersten waren.
({4})
Wissen Sie auch, warum? Weil die Rendite am höchsten
war.
({5})
Wissen Sie auch, warum die Rendite am höchsten war?
Weil Sie sich in allen Gremien, wo Sie die Möglichkeit
dazu hatten, dagegen gewehrt haben, die Vergütung vernünftig zu kürzen.
({6})
Das ist die Wahrheit: Sie haben aus Lobbyinteressen heraus jedes Mal die Prozesse monatelang verzögert.
({7})
Wir sind mittlerweile zwar bei 19 statt 42,7 Cent für eine
Kilowattstunde Photovoltaik. Die Kosten sind aber ge23922
nau deswegen so langsam gesunken, weil Sie sich immer
quergestellt haben.
({8})
Und jetzt sollen wir dafür verantwortlich sein, dass es so
teuer geworden ist? Das schlägt dem Fass den Boden
aus.
({9})
Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, zu sagen: Wir wollen diese hohe Vergütung; es ist uns egal, dass das zu sozialen Zerwürfnissen führt; es ist uns egal, dass von unten nach oben umverteilt wird; wir sind der festen
Überzeugung, das ist richtig; der Strompreis kann gar
nicht hoch genug sein, weil Strom per se nicht verbraucht werden soll.
({10})
- Sagen Sie das den Leuten ehrlich und offen; dann werden Sie einmal ein realistisches Ergebnis bekommen.
({11})
Aber dazu sind Sie nicht bereit. Mit Krokodilstränen
reden Sie von Sozialtarifen. Dabei sind Sie diejenigen
gewesen, die die Großindustrie - Betriebe, die 10 Gigawatt abnehmen - ausgenommen haben.
({12})
Natürlich wird diese besondere Berücksichtigung der
Großindustrie in Anspruch genommen.
({13})
- Sie wollen uns vorwerfen, dass wir neben der Großindustrie, von der Sie lobbyiert werden,
({14})
auch die Mittelständler, die im internationalen Wettbewerb stehen, ausnehmen?
({15})
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Seit wann sind Sie
denn ausschließlich für die Großkonzerne?
({16})
Seit wann haben Sie ein Problem damit, wenn Mittelständler, die im internationalen Wettbewerb stehen, auch
entlastet werden? Ich halte das für eine Absurdität sondergleichen.
({17})
Jetzt, lieber Kollege Fell, würde ich gern mal darauf
hinweisen, was die tatsächlichen Kosten ausmacht.
Wenn Sie genau zuhören, werden Sie feststellen, dass
Ihre Aussage vollkommen verkehrt war. Gestern habe
ich leider gehört, dass es hier absolut nicht möglich ist,
von einer Lüge zu sprechen; dass das unparlamentarisch
ist. Mir fällt jetzt kein passendes Wort dafür ein, wie
man es nennen sollte.
({18})
Gerade einmal 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstunde
macht unsere Reform, dass wir die Mittelständler entlasten, aus. Das sind 2 Prozent dessen, was Sie beschlossen
haben. Es ist vollkommen absurd, so zu tun, als würden
wir es teuer machen.
({19})
Sie haben es teuer gemacht, weil Sie nicht bereit waren,
zu akzeptieren, dass sich internationale Investoren die
Taschen auf Kosten des kleinen Mieters vollgestopft haben. Das ist Ihr Verdienst. Das werden wir jetzt beenden.
({20})
Jetzt kommt mein Lieblingspunkt. Wenn man sich mit
Leuten von energieintensiven Unternehmen unterhält,
dann bekommt man klare und eindeutige Aussagen. Es
wird gesagt: Das ist eine Existenzfrage. Die Energieund Stromkosten seien die zweithöchsten in ganz Europa. Wir wären erledigt, wenn es keine Ausnahmen
gäbe. - Also: Sie haben es damals mit Ihren Ausnahmen
richtig gemacht, nur gehen sie nicht weit genug. Und
was sagen Sie? Sie sagen: Es gibt aber Firmen, die das
genau andersherum sehen. Der Kollege Krischer hat
darauf hingewiesen, und es steht auch in Ihrem wunderbaren Antrag. Dem Unternehmen Norsk Hydro geht es
wunderbar und deshalb erhöhen sie die Produktion; das
hat Herr Krischer gesagt.
Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende
gerade energieintensive Unternehmen hart treffen
werde, hat sich als unbegründet erwiesen.
Das schreiben die Grünen.
Im Gegenteil: Die günstige Strombeschaffung hat
kürzlich den Aluminiumhersteller Norsk Hydro zu
dem Plan bewogen, seine Produktion in Deutschland deutlich zu erhöhen. Der Industriestandort
Deutschland profitiert also auch in stromintensiven
Branchen von der Umstellung auf erneuerbare
Energien.
Das steht in dem Antrag. Herr Krischer hat es bestätigt.
Die Zitate, die ich gerade genannt habe - nämlich
Existenzfrage; die Strompreise seien die zweithöchsten
in Europa; wir wären erledigt, wenn es keine AusnahHorst Meierhofer
men gäbe - kommen zufälligerweise von Herrn Bell.
Oliver Bell heißt der Herr. Er ist Vorsitzender des Aufsichtsrates von Norsk Hydro. Man könnte jetzt vermuten, der Mann weiß nicht, wovon er spricht, oder er hat
den Verstand verloren, weil es das Gegenteil von dem zu
sein scheint, was sie machen.
({21})
Darum haben wir uns in meinem Büro die Mühe gemacht und bei dem Unternehmen nachgefragt. Das Telefonat hätten Sie hören sollen. Sie hätten hören sollen,
was sie dazu gesagt haben, dass Norsk Hydro für Ihren
dünnen, jämmerlichen Lobbyantrag missbraucht wird.
Und Sie hätten hören sollen, was sie dazu gesagt haben,
dass sie dafür in Haftung genommen werden, dass sie
wegen der günstigen Strompreise hier ausbauen. Wissen
Sie, was sie wirklich gemacht haben? Sie haben im Jahr
2005, also kurz nachdem Sie aus der Regierung ausgeschieden sind, ihre Produktion in Deutschland auf
20 Prozent reduziert, also um 80 Prozent. Das lag an der
Unklarheit, wie es auf europäischer Ebene weitergeht.
({22})
Sie haben nicht gewusst, wie es mit der Bundesregierung weitergeht, ob wirtschaftsverträgliche Regelungen
angekündigt werden. Nachdem dies geschehen ist, haben
sie jetzt die Produktion auf 70 Prozent erhöht. Es ist so
was von schäbig, zu unterstellen, dass diejenigen, die
wegen Ihrer Politik einen Großteil der Produktion ins
Ausland verlagert haben,
({23})
sich über Ihre Politik freuen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie
so etwas noch einmal machen, dann erzählen Ihnen die
Firmen etwas. Uns haben sie es gesagt. Sie haben gesagt:
Die Grünen wissen genau, dass sie Quatsch erzählen. Sie
sagen es aber trotzdem, weil ihnen die Wahrheit an dieser Stelle vollkommen egal ist. Sie tun es nur für PR, um
die Leute zu überraschen.
({24})
Da machen wir nicht mit. Wenn Ihre Fairness darin besteht, dass man im Bundesrat blockiert, wenn die Kosten
sinken, wenn es Ihre Fairness ist, dass man, wenn es um
die Gebäudesanierung geht, bei der man viel CO2 einsparen könnte, sich dauernd daneben verhält, weil Sie
nicht bereit sind, sich an den Kosten, die alle, auch die
Länder, betreffen, zu beteiligen, dann gute Nacht,
Deutschland! Wir machen es so, dass es für alle verträglich ist. Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt.
Herr Kollege.
Sie machen hier nichts außer Propaganda.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ökologischer Umbau und sozialer Ausgleich müssen
Hand in Hand gehen. Diesen Satz aus Ihrem Antrag unterstützen wir voll und ganz.
({0})
Ich hoffe auch, Sie meinen es ernst;
({1})
denn in der Regierungszeit von Rot-Grün wurden eine
Menge neuer Instrumente eingeführt, die auf den Strompreis wirken. Aber den richtigen sozialen Ausgleich dafür gab es leider nicht. Auch der im Jahr 2005 eingeführte Emissionshandel hat die Energieversorger reich
gemacht, aber bisher leider kaum zum Klimaschutz beigetragen. Gab es irgendwann Geld, um für Haushalte die
Strompreiseffekte des CO2-Handels abzufedern? Nein.
Es gab auch keine Mittel, um die miese Verteilungswirkung der Ökosteuer auszugleichen. Wir haben das angemahnt. Kein Cent ging in Richtung Bedürftiger, auch
nicht unter Schwarz-Gelb, die es immer anmahnen. Sie
machen wirklich den Bock zum Gärtner.
({2})
Klar ist: Der beste Schutz vor steigenden Preisen besteht darin, die Energieeffizienz, Energieeinsparungen
zu erhöhen sowie Kohle und Öl abzulösen; denn die
werden immer knapper und teurer. Gleichzeitig müssen
wir aber die Energiewende sozial absichern - darum
geht ja der Streit: Wer ist sozialer? ({3})
und die Kosten fair verteilen, Kollege Meierhofer. Darum hat die Linke ein Sieben-Punkte-Programm erarbeitet, das diese Aspekte enthält. Uns geht es darum, die
Privilegien der Industrie abzubauen, die unberechtigt
sind.
({4})
Es kann nicht sein, dass große Stromverbraucher mithilfe des EEG Geld verdienen, etwa weil sie von dem
sinkenden Börsenpreis durch die Vorrangregelungen des
EEG profitieren, selbst aber kaum EEG-Umlage zahlen,
Kollege Lämmel. Befassen Sie sich doch einmal mit diesen Themen; das Wirtschaftsministerium hat ja bestätigt,
dass es diese Probleme gibt.
Jetzt wende ich mich an die Grünen. Ich verstehe Folgendes nicht: In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die ener23924
gieintensiven Unternehmen lediglich 0,5 Cent Umlage
als Ausgleich für den preissenkenden Merit-Order-Effekt - ich habe ihn schon erklärt - zahlen sollen. Dieser
beträgt aber doch 0,9 Cent; das schreiben Sie selbst. Das
heißt also: Auch hier wird den Großverbrauchern noch
etwas gegeben. Wir haben einmal für einen Alubetrieb
berechnet, wie sich das auswirken würde, und kommen
auf einen Betrag von 20 Millionen Euro - und das ohne
Leistung. Das ist ein bisschen viel, oder?
Einige Ausnahmen halten auch wir für berechtigt. Die
Linke will nicht leichtfertig Arbeitsplätze aufs Spiel setzen. Das haben wir auch in unserem Antrag im
Frühsommer bereits x-mal gesagt. Weiterhin brauchen
wir eine effektive Stromaufsicht im Endkundenbereich.
Denn der Großhandelsmarkt und die Netze werden
natürlich überwacht; denn - kein Wunder - die Industrie
hat Interesse an niedrigen Strompreisen. Die Preisbildung für Endverbraucher hingegen interessiert offensichtlich niemanden. Das ist ebenfalls kein Wunder;
denn hier geht es ja nur um die privaten Haushalte und
nicht um die Konzerne. Der ganze Spuk kostet eine Familie rund 70 Euro im Jahr, und das betrifft nur diesen
Tatbestand; es kommt noch einiges andere hinzu.
Darüber hinaus müssen wir über die Stromsperren reden. Das ist wichtig. Stromsperren sind asozial, hierzu
habe ich gestern schon etwas gesagt.
({5})
Reden müssen wir zudem über eine Abwrackprämie für
Stromfresser im Haushalt, damit die Leute Energie sparen können. Man kann den Leuten doch nicht sagen, sie
sollen Energie sparen, weil die Preise steigen, und dabei
wissen sie überhaupt nicht, wie das funktioniert. Das
geht gar nicht.
Wir wollen ein Stromtarifmodell, in dem wir Effizienz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden.
({6})
Wir wollen mehr Geld in die energetische Gebäudesanierung fließen lassen; das ist aus sozialen Gründen dringend notwendig. Wir wissen, dass viele Menschen bereits aus ihren Wohnungen ausziehen mussten, weil sie
die Mieten nicht mehr bezahlen konnten.
Nicht zuletzt - da stimmen wir mit den Grünen nicht
überein - wollen wir die Stromsteuer senken. Ihre Lenkungswirkung ist marginal.
({7})
Wir setzen auf das Lenkungsinstrument EEG, Kollege
Meierhofer, und hier darf eben nicht gesenkt werden,
wie Sie es immer fordern. Wir wollen das EEG ausbauen.
Frau Kollegin, Ihre Zeit ist abgelaufen.
Meine Zeit ist leider für heute abgelaufen.
({0})
Der ökologische Umbau kann nur sozial gestaltet werden, oder er wird auf Dauer nicht akzeptiert werden.
Deshalb brauchen wir soziale Strompreise.
({1})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich
hätte mir wenigstens einen Minimalkonsens gewünscht,
der gelautet hätte: Jawohl, dieser Energieumbau kostet
viel Geld. Wir müssen über die Frage diskutieren, wie
das Ganze verteilt werden soll und wie wir vorgehen
wollen.
Stattdessen erleben wir eine Feigenblattdiskussion
erster Güte, eine Haltet-den-Dieb-Debatte,
({0})
bei der die eine Seite des Hauses versucht, der anderen
Seite den exorbitanten Anstieg der EEG-Umlage in die
Schuhe zu schieben. Das ist schon bemerkenswert.
Wenn gute Katholiken über Schuld und Unschuld sprechen, geht es mit der Erforschung des eigenen Gewissens los. Hier haben Sie einiges auf dem Kerbholz.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Freiflächenphotovoltaik-Einspeisevergütung im Jahr 2003 45,7 Cent
und im Jahr 2005 noch 43,4 Cent betrug. Wenn man in
dem Tempo, das Sie da vorgegeben haben, weitergemacht hätte, wären wir heute noch bei einer Vergütung
in der Größenordnung von 30 Cent pro Kilowattstunde.
Es ist Legendenbildung, wenn hier manche behaupten,
sie hätten die notwendige Reduzierung der Einspeisevergütungen im Solarbereich mit großer Wonne unterstützt.
Das ist einfach falsch. Sie wissen ganz genau, dass die
Altlast, die das EEG mitschleppt, der Sprengsatz dieses
Gesetzes, die Tatsache ist, dass Sie mit der Photovoltaik
zu früh an den Markt gegangen sind, als es noch zu teuer
war. Das ist das Problem.
({2})
Es ist auf ganz besondere Art und Weise unredlich, uns
das jetzt in die Schuhe schieben zu wollen und zu sagen:
Schaut her! Die haben die böse Industrie von der Umlage befreit. Deshalb ist das so teuer.
Nun gestehe ich den Linken zu, dass sie das tun, was
sie an der Stelle immer tun, nämlich auf ihre Klientel
schielen und sagen: Wichtig ist, dass die Hartz-IV-Empfänger befreit sind. Wir schenken ihnen auch noch einen
Kühlschrank. Dann ist die Welt wunderbar. ({3})
Das gestehe ich Ihnen zu; aber das interessiert hier wirklich niemanden.
Wenigstens von der SPD, die in der Großen Koalition
bei dem Thema mit dabei war,
({4})
hätte ich aber erwartet, dass sie sagt: Freunde, es ist vollkommen richtig, dass man die energieintensive Industrie
in Deutschland von der EEG-Umlage befreit; wir sind da
auf dem richtigen Weg. - Das hätte ich von Ihnen erwartet.
Herr Krischer, Ihr komischer Vergleich mit dem
Durchschnitt ist im Übrigen Unfug. Denken Sie daran:
Deutschland ist die letzte Industrienation in Europa. Es
kommt nicht darauf an, ob wir knapp über oder knapp
unter dem Durchschnitt liegen, sondern darauf, dass wir
diesen Status halten; das ist entscheidend.
({5})
Das können wir nur tun, wenn wir dieses Thema auch im
internationalen Bereich sehr präzise angehen.
Herr Nüßlein, der Kollege Lenkert möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja, bitte schön, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Nüßlein, ich stelle eine Frage zu den
Offshorewindparks, die von Ihrer Koalition bevorzugt
werden. Stimmen Sie mir zu, dass Sie den Betreibern der
Offshorewindparks mehrere Geschenke unterbreitet haben, indem Sie erstens eine Vergütung für die Offshorewindenergie in Höhe von 15,9 Cent pro Kilowattstunde durchgesetzt haben - sie ist übrigens höher als die
Vergütung für Solarstrom -, zweitens den Netzkunden
die Kosten für den Anschluss der Offshorewindparks an
die Koppelpunkte an Land aufgedrückt haben und Sie
jetzt drittens als Krönung dafür gesorgt haben, dass die
Netzkunden, die nichts dafür können, die Versicherung
bezahlen müssen, die einspringt, wenn Windparks nicht
rechtzeitig angeschlossen werden bzw. es in Zukunft zu
Ausfällen kommt? Allein die Kosten der Versicherung
gegen das Risiko ausfallender Nutzungsstunden in den
Offshorewindparks betragen 1 Milliarde Euro; dieses
Geschenk haben Sie den Betreibern gemacht. Stimmen
Sie mir zu, dass dies Ihre Politik ist, die nicht über die
EEG-Umlage, aber über die Netznutzungsentgelte dazu
führt, dass die Kosten der Endverbraucher um 1 bis
2 Cent je Kilowattstunde steigen?
Sie haben die Tragweite Ihrer Frage zum Schluss Gott
sei Dank selber relativiert; denn Sie haben immerhin
- das billige ich Ihnen zu - die Kosten richtig zugeordnet. Sie stimmen mir doch hoffentlich zu, dass das, was
Sie gerade angeführt haben, nichts mit der Steigerung
der EEG-Umlage zum jetzigen Zeitpunkt zu tun haben
kann.
({0})
Das ist doch wohl Fakt. Deshalb ist Ihre Frage an dieser
Stelle komplett unsachgerecht.
Aber ich räume ein, dass es uns auch darum gehen
muss, das Thema Offshorewindenergie - da gab es bis
dato einen Konsens; Sie sind offenkundig bereit, ihn zu
kündigen - angesichts der größeren Zahl der Laststunden bei der Energiewende zu berücksichtigen. Da geht
es am Schluss natürlich auch um die Frage: Wer trägt
welche Risiken? Wie gestalten wir dies, dass am Schluss
noch investiert wird? Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir redlich und ernsthaft darum ringen, diese
Risiken gerecht zu verteilen.
Sie sollten jetzt nicht noch eine Nebelkerze zünden;
aber das tun Sie, um die Verwirrung komplett zu machen. Es geht Ihnen nämlich bei diesen Debatten permanent darum, die Verwirrung komplett zu machen, anstatt
zu sagen: Jawohl, diese Energiewende ist teurer. - Wir
müssen letztendlich über die Frage reden, wie wir damit
umgehen.
({1})
Ich sage Ihnen ganz offen: Es hat mich ernsthaft geärgert, dass Kollege Trittin und Ihr Parteivorsitzender,
Herr Özdemir, in letzter Zeit Unwahrheiten verbreitet
haben. Das ist schon ein dreistes Ding. Ich gehe gar
nicht auf die Zahlen ein; denn schon die Zahlen, die
Quantitäten waren falsch. Sie haben nämlich immer von
über 2 000 Unternehmen gesprochen, die von der Umlage befreit seien. Wenn man genau gelesen hätte, hätte
man gesehen, dass das die Unternehmen sind, die entsprechende Anträge gestellt haben. Zum jetzigen Zeitpunkt sind etwas über 700 Unternehmen befreit. Wenn
man weiter im Gesetz gelesen hätte, nicht Verwirrung
hätte stiften wollen und nicht bewusst die Unwahrheit
hätte sagen wollen, dann hätte man auch lesen können,
dass nur das produzierende Gewerbe und der Schienenverkehr befreit werden können. Ein Golfplatz ist selbst
bei der weitesten und naivsten Auslegung
({2}): Wider besseres
Wissen alles behaupten!)
kein produzierendes Gewerbe.
Wenn ich mir die Richtlinien der BAFA anschaue
- ich könnte sie Ihnen im Einzelnen vorlesen, aber dafür
reicht die Zeit leider nicht -, 23926
Aber vielleicht reicht die Zeit für eine Zwischenfrage.
- dann finde ich auch dort keinen Golfplatz. Trotzdem tragen Sie diesen Golfplatz wegen des Verhetzungspotenzials monstranzartig vor sich her, damit Sie sagen
können: Das sind die anderen.
({0})
Sie tun so, als ob das das Negativbeispiel wäre, anhand
dessen man zeigen könnte, welche bescheuerten Ausnahmen wir gemacht haben.
({1})
Herr Nüßlein, möchten Sie die Frage von Frau Höhn
zulassen?
Ja.
Der arme Herr Nüßlein. - Herr Nüßlein, können Sie
bestätigen, dass zwei Golfplätze - einer liegt in Sonthofen - einen Antrag auf Befreiung von den Netzdurchleitungsgebühren gestellt haben und dass Sie bei den Netzdurchleitungsgebühren nicht den Faktor „Produktion“
berücksichtigt haben? Können Sie das bestätigen? Ja
oder nein?
({0})
Frau Höhn, ich kann etwas dieser Art überhaupt nicht
bestätigen, weil ich nicht weiß, wer welchen Antrag
stellt. Das ist das Erste.
Im Unterschied zu Ihnen - das ist der zweite Punkt weiß ich auch nicht, wie dieser Antrag am Schluss beschieden wird; denn ich habe leider nicht so viel Augurenvermögen wie Sie.
Dritter Punkt - und das halte ich für ganz entscheidend -: Ich habe von der EEG-Umlage gesprochen, und
ich habe bis dato gedacht, dass auch Sie davon reden.
({0})
Jetzt reden Sie wieder von etwas anderem. Man muss
schon wissen, wovon man redet, wenn man nicht nur zur
Verwirrung beitragen will.
({1})
Sie wollen nur einseitig zur Verwirrung beitragen und
rufen: Die Kosten haben die anderen verursacht. Wir haben nur gute Dinge gemacht. - Das ist falsch und unredlich, und das kann man Ihnen an der Stelle nicht durchgehen lassen.
Reden Sie mit uns doch über vernünftige Dinge, beispielsweise über die Frage, wie man die EEG-Umlage
berechnet. Das wäre eine spannende Debatte. Denn ich
sehe, dass die Berechnung einen Zirkelschluss enthält
und dass der Druck auf die Preise für Strom aus grenzkostenlosen erneuerbaren Energien dazu führt, dass die
EEG-Umlage steigt. Man kann darüber diskutieren, wie
man so etwas in Zukunft gestaltet. Das ist eine spannende Geschichte.
({2})
Auch über die Frage der Verteilung der Lasten durch
die EEG-Umlage kann man aus meiner Sicht diskutieren. Vielleicht fällt uns etwas ein, wie wir die EEG-Umlage, die 20 Jahre läuft, so gestalten können, dass auch
die nachfolgende Generation - schließlich profitiert
diese davon, dass wir in die Erneuerbaren eingestiegen
sind und ohne variable Kosten Strom produzieren können - einen Teil dieser Lasten übernimmt.
({3})
Dazu gibt es intelligente Ideen. Dafür müssen Sie lesen,
was die CSU dazu publiziert. Das ist hochspannend,
nicht nur weil es von der CSU ist, sondern weil es - das
hängt natürlich damit zusammen - intelligent ist.
({4})
Ich lade Sie ein, solche Diskussionen mit uns zu führen, und möchte Sie bitten, hier nicht am laufenden Band
solche Verwirrungsaktionen zu starten. Schließlich haben wir morgen das Vergnügen, dasselbe Thema noch
einmal miteinander zu bereden.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache
17/11004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse zu überweisen. Darüber gibt es Einvernehmen;
jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hingegen beim Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist dieser Überweisungsvor-
schlag abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringende
Fraktion und die Linke. Die übrigen Fraktionen waren
dagegen.
Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer ist
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dieser
Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die SPD angenommen. Dage-
gen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 6 a bis e auf:
ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen ({0})
- Drucksache 17/9852 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 17/11053 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Ingo Egloff
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern
- Drucksachen 17/9956, 17/11053 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Ingo Egloff
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Frak-
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Presse-Grosso gesetzlich verankern
- Drucksachen 17/8923, 17/9989 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({4}) zu dem Antrag der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen
- Drucksachen 17/9155, 17/11058 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhard Grindel-
Martin Dörmann-
Burkhardt Müller-Sönksen-
Kathrin Senger-Schäfer-
Tabea Rößner
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 Berichterstattung:Abgeordneter Reinhard GrindelMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea Rößner
Ich weise darauf hin, dass wir später über Art. 3 des
Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen namentlich abstimmen werden.
Zu dem genannten Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!
Ich freue mich, heute die Debatte über die achte GWBNovelle eröffnen zu dürfen. Der Bundeswirtschaftsminister und diese Koalition stärken damit die wettbewerblichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Diese
Reform ist ein klares ordnungspolitisches Signal, mit
dem Wachstumskräfte und der Wirtschaftsstandort
Deutschland nachhaltig gestärkt werden. Die Verbraucher profitieren genauso davon.
({0})
Ich glaube, es ist uns vor allem gut gelungen, auf der
einen Seite den Fokus klar auf kleine und mittlere Betriebe in Deutschland zu richten und auf der anderen
Seite nicht ohne Not starke und große Unternehmen zu
schwächen. Beispielsweise im Bereich des Presse- und
Medienwesens ist das hervorragend gelungen. Wir lassen zu, dass gerade in den Bereichen, in denen einzelne
Unternehmen bedroht sind, Fusionen zur Sanierung dieser Unternehmen stattfinden. Wir brauchen hier starke
Medienunternehmen. Das ist ein ganz klares Signal für
die Stärkung des Wettbewerbs im Medienbereich.
Oftmals ist groß auch klein. Markenunternehmen beispielsweise haben große Marktanteile in ihren Branchen,
aber bezogen auf den Lebensmitteleinzelhandel insgesamt haben sie nur einen kleinen Anteil am Marktsortiment. Deswegen freue ich mich, dass wir beispielsweise
das Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unter Einstandspreisen um weitere fünf Jahre verlängern konnten.
Auch dies ist ein starkes Signal. Wir wollen gerade im
Handel in Deutschland Wettbewerb haben. Das tut den
Dr. Martin Lindner ({1})
Verbrauchern gut, das sorgt für günstigere Preise. Das
haben wir mit dieser Novelle richtig und gut gemacht.
({2})
Ich sage Ihnen: Es war richtig und wichtig, auch öffentliche und gesetzliche Unternehmen in diese Novelle
einzubeziehen. In dieser Auffassung unterscheiden sich
die zwei Hälften dieses Hauses. Die linke Hälfte dieses
Hauses sagt: Was öffentlich-rechtlich ist, was hoheitlich
ist, was staatlich ist, ist gut und bedarf keiner Kontrolle.
Die vernünftige Hälfte des Hauses sagt:
({3})
Wer am Markt teilnimmt, muss sich auch der Aufsicht
stellen, unabhängig davon, ob es staatliche oder private
Anteilseigner gibt.
({4})
Das gilt für den Bereich der Wasserversorgung und in
anderen Bereichen. In der Vergangenheit haben gerade
staatliche Monopolunternehmen für extrem hohe Preise
gesorgt. Deswegen ist es richtig und vernünftig, dass wir
ein Auge darauf haben und sich auch diese Unternehmen
in Deutschland dem Wettbewerb und der Aufsicht stellen müssen.
Ich komme zu den gesetzlichen Krankenkassen. Ich
sage Ihnen: Auch was einem sozialen Zweck dient, auch
was primär sozialgesetzlichen Regelungen unterstellt ist,
kann Preisabsprachen treffen, kann zum Nachteil des
Wettbewerbs verdrängen und fusionieren. Deswegen ist
es richtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen ab sofort
der Fusionskontrolle in Deutschland unterliegen sollen.
({5})
Nichts ist sozialer als ein gesunder, geregelter Wettbewerb in Deutschland. Nichts ist sozialer als dies. Nicht
die Schaffung und Förderung von privaten oder öffentlichen Monopolen ist die zentrale Aufgabe des Staates,
sondern die Herstellung und Stärkung von Wettbewerb.
({6})
Das beinhaltet folgende Grundsätze:
Erstens. Der Markteintritt muss gesichert werden.
Zweitens. Es muss einen fairen Wettbewerb geben.
Dies beinhaltet übrigens auch den Austritt aus dem
Markt. Es beinhaltet auch, dass ein Unternehmenskonzept scheitern kann, wie das beispielsweise bei Quelle
oder Schlecker der Fall war. Dazu gehört auch, dass der
Staat nicht zulasten der Mitbewerber, die erfolgreiche
Unternehmenskonzepte haben, intervenieren kann.
Drittens: Wachstum und Größe ermöglichen - auch
das ist ein wichtiges Prinzip der Marktwirtschaft -, aber
gleichzeitig dafür sorgen, dass die Größe von Unternehmen nicht zu Verdrängungen auf dem Markt führt.
Ich glaube, diesen Grundsätzen wird diese Novelle in
hervorragender Weise gerecht. Diese Koalition und dieser Bundesminister werden weiterhin dafür sorgen, dass
wir Wettbewerb, Aufsicht und Fusionskontrolle zugunsten der Marktwirtschaft und vor allen Dingen zugunsten
der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland
haben.
Herr Kollege!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die achte Novelle zur Änderung des GWBGesetzes hat drei Jahre gebraucht, um es hier ins Plenum
zu schaffen, und in den letzten drei Wochen ist noch einmal hektisch an dem Gesetzentwurf herumgeschraubt
worden, ohne dass man genau erkennen kann, warum.
Das Ergebnis ist anscheinend der kleinste gemeinsame
Nenner der Koalitionspartner. Jedenfalls sind Punkte, die
einst wortgewaltig von Herrn Brüderle angekündigt worden sind, zum Beispiel Regelungen zur Entflechtung der
Unternehmen, dabei sang- und klanglos auf der Strecke
geblieben.
({0})
Nicht ausreichend geregelt ist in dem Gesetzentwurf
die Frage der Abschöpfung unrechtmäßig erlangter
Kartellgewinne. Wer wie das Kaffeekartell unrechtmäßige Gewinne in Höhe von 860 Millionen Euro
macht, der lässt sich auch durch ein Bußgeld in Höhe
von 160 Millionen Euro nicht beeindrucken.
({1})
Der wichtigste Kritikpunkt ist aus unserer Sicht aber
die Einbeziehung der gesetzlichen Krankenkassen in den
Bereich der Fusionskontrolle. Hier können wir wieder
einmal die neoliberale Resterampe der FDP besichtigen.
({2})
Ich hatte in den letzten drei Wochen erwartet, dass die
Kollegen von der CDU/CSU - ich weiß von dem einen
oder anderen, dass er überhaupt nicht damit einverstanden ist, dass die Krankenkassen einbezogen werden diesen Punkt noch herausverhandeln. Aber anscheinend
haben sie sich nicht durchsetzen können und müssen den
Unsinn, den ihnen der liberale Koalitionspartner in diesen Gesetzentwurf geschrieben hat, hinnehmen.
({3})
Diese Regelung hat in dem Gesetzentwurf nichts zu
suchen. Sowohl nach deutschem als auch nach europäiIngo Egloff
schem Recht sind Krankenkassen keine Unternehmen im
kartellrechtlichen Sinne.
({4})
Sie sind Teil der mittelbaren Landes- bzw. Bundesverwaltung und laut Bundessozialgericht - hören Sie zu „organisatorisch verselbstständigte Teile der Staatsgewalt“. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!
({5})
Die Fusionskontrolle ist überflüssig, weil die freiwillige Vereinigung von gesetzlichen Krankenkassen schon
dem sozialrechtlichen Genehmigungsvorbehalt durch
die Aufsichtsbehörde unterliegt.
({6})
Der Bundesrat hat völlig recht, wenn er feststellt,
dass das Verhalten der Krankenkassen weiterhin
nach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben
und allein durch die für die Rechtsaufsicht über die
jeweilige Krankenkasse zuständige Aufsichtsbehörde beurteilt wird.
Er stellt auch fest, dass einer Beteiligung des Bundeskartellamts verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen.
({7})
Gesetzliche Krankenkassen als Körperschaften des
öffentlichen Rechts, die im Verhältnis untereinander und
zu ihren Mitgliedern vom Solidarprinzip geprägt sind,
sind nicht mit freien Unternehmen vergleichbar. Gesetzliche Krankenkassen sind Ausdruck des Sozialstaatsprinzips - auch wenn Ihnen das nicht gefällt, Herr
Dr. Lindner - und deshalb zu Recht bisher von der Überprüfung durch die Kartellbehörden ausgenommen. Seien
Sie sicher: Wenn wir regieren, ändern wir das wieder.
({8})
Sie schaffen nicht nur überflüssige Doppelstrukturen
auf der Genehmigungsebene, sondern Sie gefährden auf
europäischer Ebene die Stellung der Krankenkassen. Wir
laufen Gefahr, dass die Anwendung des Kartellrechts zur
Folge hat, dass Krankenkassen nach europäischem
Recht als Unternehmen eingestuft werden, unter Ausblendung des sozialstaatlichen Auftrages.
Gesetzliche Krankenkassen sind zu einer kassenübergreifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen,
innerhalb derer ein Kosten- und Risikoausgleich erfolgt.
Das Solidarprinzip lässt an dieser Stelle ein Gewinnstreben nicht zu, und darüber hinaus besteht die Verpflichtung, jeden Versicherungspflichtigen aufzunehmen.
Sie gefährden aus ideologischen Gründen das System
der gesetzlichen Krankenkassen. Das Kartellrecht passt
hier nicht. Es ist systemwidrig, und deswegen lehnen wir
Ihren Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer spricht für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute beschließen wir hier in zweiter und dritter Lesung
die achte Novelle zum Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirtschaft ist nämlich die Wettbewerbswirtschaft.
({0})
- Da sollten Sie auf der linken Seite nicht lachen, sondern gut zuhören, damit Sie vielleicht noch das eine oder
andere lernen.
({1})
Gerade dieser Wettbewerb ist ursächlich dafür, dass
wir in diesem Land Fortschritt erzielen. Das GWB sorgt
nämlich durch den Rahmen, dieses Grundgesetz, das es
aufspannt, dafür, dass der Wettbewerb funktioniert und
möglichst ungehindert ein vielgestaltiger Wettbewerb
auf allen Märkten stattfindet, ganz im Sinne von Ludwig
Erhard. Anders als in der reinen Marktwirtschaft oder in
der menschenverachtenden Planwirtschaft nach Ihrem
Gusto besteht in der sozialen Marktwirtschaft das Soziale darin, dass die Effizienzgewinne, die über den
Wettbewerb im Markt gehoben werden, dem Verbraucher in allen Sektoren zugutekommen. Es bedarf also
keiner sozialen Flankierung in dem Sinne, dass der Staat
eingreifen muss. Vielmehr hebt der Wettbewerb die Effizienzpotenziale, die dem Verbraucher zugutekommen.
Das ist der Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft.
({2})
- Das freut mich, Volker.
({3})
Mit dieser Rolle kam das GWB bisher sehr gut zurecht. Daher beschränkt sich diese Novellierung auf Verbesserungen in Kernbereichen der Fusionskontrolle, der
Missbrauchsaufsicht und bei Verfahren wegen Kartellverstößen.
Was wird konkret geregelt? Hervorzuheben ist hier
die Verlängerung des Verbots der Preis-Kosten-Schere
um weitere fünf Jahre. Der Wettbewerb auf dem Kraftstoffsektor ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen.
Deshalb ist ein Gesetz in Vorbereitung - Stichwort
Markttransparenzstelle -, das insbesondere die kleinen
und mittleren Tankstellenbetreiber betrifft. Auch wird
die spezielle Preismissbrauchsaufsicht für marktbeherrschende Strom- und Gasanbieter um weitere fünf Jahre
verlängert. Dies ist notwendig, um in Bereichen, in denen der Wettbewerb noch nicht vollendet funktioniert,
mit dem Hammer im Schrank dem Wettbewerb auf die
Beine zu helfen.
({4})
Zudem wird das wettbewerbliche Handeln der gesetzlichen Krankenkassen zukünftig dem Kartellrecht unterliegen. Darüber kann man in der Tat diskutieren. Aber
durch die Reformgesetze der vergangenen Jahre im
Krankenkassenbereich sind wesentliche wettbewerbliche Elemente in der Krankenversicherung gestärkt worden. Beispielsweise wurden die Möglichkeiten der Krankenkassen, Selektivverträge abzuschließen, erweitert.
Auch können sie in erweitertem Umfang Wahltarife und
Satzungsleistungen anbieten. Darüber hinaus haben wir
seit 2011 den für die Kassen individuell eingeführten
Zusatzbeitrag, der auch ein zentrales Unterscheidungskriterium im Wettbewerb darstellt. Wenn Bereiche, die
bisher nicht im Wettbewerb standen, an den Wettbewerb
herangeführt werden oder in den Wettbewerb überführt
werden, ist es natürlich logisch, auch diese dem GWB zu
unterstellen und in das Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft einzubeziehen. Die effiziente Versorgung der
Patienten wird darunter nicht leiden.
Konflikte mit dem Sozialrecht, am Beispiel „Kooperationsgebot der Krankenkasse“, sind nicht zu erwarten.
Die Gefahr, dass die EU durch die Hintertür über den
Wettbewerb in den Gesundheitsbereich eingreift, was
wir uns nicht wünschen, sehe ich in Deutschland als
nicht gegeben an.
({5})
Auch gemeinsames Handeln der Krankenkassen ist
zukünftig weiterhin möglich, beispielsweise beim
Mammografie-Screening. Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um einen regelrechten Bauchladen von
Themen, weil er alle betroffenen Sektoren behandelt.
Der Handlungsspielraum kleinerer und mittlerer Presseunternehmen wird gestärkt. Die Aufgreifschwelle bei
Fusionen von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen wird
von 25 auf 52,5 Millionen Euro erhöht; dies stärkt die
kleinen Verlage, den Mittelstand und die Medienlandschaft insgesamt. Auch sind Sanierungsfusionen zukünftig leichter möglich, als es bisher der Fall ist. Uns ist
lieber, dass kleine Verlage übernommen werden, als dass
sie aus wirtschaftlichen Gründen ganz aus dem Markt
ausscheiden.
({6})
Last, but not least wird das Presse-Grosso-System
durch eine Betrauungslösung rechtlich abgesichert.
Auch dies stärkt die Pressevielfalt, insbesondere im
ländlichen Raum.
({7})
Herr Kollege!
Gibt es eine Zwischenfrage?
Nein. Aber Sie sind schon seit 40 Sekunden über Ihrer Zeit.
Gemäß dem ehemaligen Vorsitzenden der Monopolkommission, Möschel, schließe ich, ganz wie es die Präsidentin wünscht,
Wie es Ihre Zeit vorsieht.
- wie folgt:
Die Erfahrung zeigt, daß da, wo Märkte funktionieren, jeder kriegt, was er will.
Wir wollen, dass jeder kriegt, was er will. Deshalb hoffen wir nicht nur heute im Bundestag, sondern auch im
Bundesrat auf Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
({0})
Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden hier und heute über die immerhin achte Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen.
Wenn es dabei darum ginge, die Verbraucherinnen und
Verbraucher und die kleinen und mittleren Unternehmen
vor der Marktmacht der Großkonzerne zu schützen,
dann würde die Linke ihr gerne zustimmen. Aber dazu
ist sie leider völlig unzureichend.
({0})
Illegale Preisabsprachen schädigen die Verbraucherinnen und Verbraucher in Millionen- oder sogar Milliardenhöhe. Beim sogenannten Badezimmerkartell zum
Beispiel schätzt man, dass es um einen Betrag von
7 Milliarden Euro ging. Die Linke fordert deshalb erstens deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnen
und Verbraucher im Klageverfahren. Zweitens wollen
wir, dass die Geschädigten ihr zu viel gezahltes Geld unbürokratisch zurückbekommen, etwa durch einfachere
Sammelklagen. Und: Ein Fünftel der Bußgelder soll der
unabhängigen Verbraucherarbeit zufließen.
({1})
Das leistet Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Dabei
könnten Sie hier wirklich etwas Gutes für die Verbraucherinnen und Verbraucher tun. Stattdessen verfolgt die
schwarz-gelbe Bundesregierung die absurde Idee, das
Kartellrecht jetzt noch mehr über die gesetzlichen KranKathrin Vogler
kenkassen zu stülpen. Das ist aber völlig neben der Spur.
Die gesetzlichen Krankenkassen sind keine Wirtschaftsunternehmen. Sie haben einen gesetzlichen Auftrag, der
nahezu das gesamte Leistungsspektrum regelt. Ihre Versicherten sind keine Kunden, sondern Mitglieder; sie
zahlen keine Versicherungsprämien, sondern Beiträge,
und die Kassen dürfen keine Gewinne machen.
({2})
Die Linke sagt: So soll es bleiben. Wir wollen eine solidarische gesetzliche Krankenversicherung erhalten und
sie zu einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung weiterentwickeln.
Aber für die FDP und leider auch für große Teile der
Union ist dies ein kaum erträglicher Fremdkörper im
neoliberalen Weltbild.
({3})
Sie predigen Ihren Glaubenssatz vom Wettbewerb der
Kassen. Dazu gehört dann eben auch, dass Kassen nicht
mehr zusammenarbeiten dürfen, wenn sie dadurch eine
große Marktmacht erringen.
({4})
Dabei wäre genau diese Zusammenarbeit im Interesse
der Versicherten.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar von Frau Aschenberg-Dugnus.
Sehr gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank. - Liebe Frau Kollegin Vogler, ist Ihnen
eigentlich bewusst, dass wir mit der vorliegenden GWBNovelle eine entsprechende Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts anordnen, eben keine unmittelbare? Ist Ihnen bewusst, dass mit der juristischen Formulierung „entsprechend“ dem Umstand Rechnung
getragen wird, dass die Krankenkassen keine Unternehmen sind?
Ist Ihnen weiterhin bewusst, dass bereits seit 2007
Vorschriften des Kartellrechts im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer
ebenfalls entsprechend angewendet werden und dass
niemand, auch nicht der EuGH, deswegen auf die Idee
kommt, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, eine Einordnung der Krankenkassen als Unternehmen vorzunehmen?
Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass im EU-Kartellrecht
ein funktionaler Unternehmensbegriff vorherrscht, das
heißt, dass die Einführung der wettbewerblichen Elemente nicht dazu führt, dass die Krankenkassen künftig
als Unternehmen einzuordnen sind? Ich frage mich, was
zutrifft: Wissen Sie das, sagen aber etwas anderes, oder
wissen Sie das nicht? In diesem Fall sollten Sie vielleicht Ihre Rede umschreiben.
Liebe Frau Kollegin, ich bedanke mich sehr für diese
Frage, weil mir das ermöglicht, noch ein bisschen mehr
auf Details einzugehen.
Tatsächlich haben Sie offensichtlich auch gemerkt,
welche Schwierigkeiten mit dieser GWB-Novelle ins
Haus stehen, wenn Sie nicht nachbessern. Deshalb haben
Sie uns gestern im Ausschuss ja auch noch einen Änderungsantrag vorgelegt, der den Kassen zumindest teilweise weiter gemeinsames Handeln erlaubt. Liebe Kollegin Aschenberg-Dugnus, das macht den gesamten
Gesetzentwurf aber nicht besser, sondern allenfalls komplizierter.
Meine Prognose ist, dass wir erleben werden, wie sich
Heerscharen hochdotierter Consulting-Unternehmer, Berater, Juristen und Fachreferenten damit auseinandersetzen werden, wo jetzt die Grenze zwischen der von Ihnen
mit diesem Gesetzentwurf erlaubten und der unerlaubten, weil kartellrechtlich zu kontrollierenden, Zusammenarbeit liegt. Das heißt, die Versicherten, die Patientinnen und Patienten, haben davon gar nichts, aber es
gibt eine ganze Schar von Leuten, die dadurch wieder
sehr gutes Geld verdienen werden.
Vielen Dank.
({0})
Im Übrigen gibt es keinen einzigen Hinweis darauf,
dass Ihre Art von Wettbewerb den Versicherten nutzt. Im
Gegenteil: Er führt zur Konkurrenz der Kassen um junge
und gesunde Mitglieder und zu Kostendrückerei zulasten
Kranker. Der Versicherte wird im Krankheitsfall zum
Kostenfaktor. Dieses Welt- und Menschenbild lehnt die
Linke ab. Gesundheit ist für uns keine Ware.
({1})
Jetzt kurz noch einmal zur SPD. Herr Kollege Egloff,
Sie gebärden sich hier ja sehr schön populistisch als Retter der Krankenkassen vor dem Wettbewerbsrecht.
({2})
Erinnern Sie sich nicht mehr daran, dass Sie es waren,
die die Krankenkassen mit den Wahltarifen, den Selektivverträgen, den Zusatzbeiträgen, den Prämien und anderen unternehmerischen Elementen in den ökonomischen Wettbewerb geschickt haben? Jetzt stellen Sie
ganz überrascht fest, dass Sie mit dem Wettbewerb, den
Sie wollten und den Sie gesät haben, Wettbewerbsrecht
ernten.
({3})
Die Linke sagt kategorisch: Im Gesundheitswesen
darf es Wettbewerb nur und ausschließlich um die beste
Versorgung von Patientinnen und Patienten geben.
({4})
Darum müssen wir uns bei Ihrem Entschließungsantrag
leider auch enthalten.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, die gesetzliche Krankenversicherung ernsthaft als soziales Umlagesystem erhalten wollen und zu
einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für alle ausbauen, dann schreiten wir gerne mit Ihnen Seit’ an Seit’.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Tobias Lindner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte
zeigt: Wir sind uns in diesem Haus über zwei Dinge eigentlich einig:
Erstens. Das Kartellrecht ist wichtig in unserer sozialen Marktwirtschaft. Wettbewerb ist kein Selbstzweck.
Wettbewerb ist nicht aus sich heraus gut, nein, Wettbewerb soll sicherstellen, dass die Konsumentinnen und
Konsumenten den Preis bezahlen, der einerseits für Produzenten kostendeckend ist, andererseits aber nicht
übertriebene Gewinne ermöglicht.
({0})
Zweitens. Eine Reform des Kartellgesetzes ist dringend notwendig; denn ein solches Gesetz muss immer
wieder an die Zeichen der Zeit angepasst werden.
({1})
Es gibt aber eine Sache, über die wir uns gar nicht einig sind. Sie von der rechten Seite des Hauses haben hier
diese Novelle, die in den letzten Tagen - man kann
schon fast sagen: im Schweinsgalopp - durchgepeitscht
wurde, in den Himmel gelobt. Mein Kollege Dr. Martin
Lindner sprach eben von einem klaren Signal für das
Wettbewerbsrecht. Nein, Herr Dr. Lindner, das ist alles
andere als ein klares Signal. Was Sie hier vorlegen, ist
vielmehr eine Nebelkerze.
({2})
Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sie können es von
dort aus vermutlich nicht erkennen. Es ist die Seite 18
Ihres Koalitionsvertrages. Dort schreiben Sie:
In das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
wird als ultima ratio ein Entflechtungsinstrument
integriert.
Auch die Experten in der Anhörung und die Monopolkommission sind der Auffassung: Wir brauchen auch
im Kartellrecht ein missbrauchsunabhängiges Entflechtungsinstrument als Ultima Ratio.
Mit anderen Worten: Es ist in Oligopol und Monopol
alles andere als leicht, einen Missbrauch nachzuweisen.
Deshalb müsste diese Forderung in dieser Novelle des
Kartellgesetzes stehen, und das tut sie nicht.
Ich will auf einen anderen Punkt eingehen - ich habe
es anfangs erwähnt -: Das Kartellgesetz, der Wettbewerb
stehen im Dienst der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher,
muss oftmals die durch Kartelle abgesprochenen überhöhten Preise bezahlen? Wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher, kann dazu beitragen, dass
Marktmissbrauch aufgedeckt wird, und wer, wenn nicht
die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitiert von
fairem Wettbewerb?
Meine Damen und Herren, meine Fraktion, wir fordern, dass die Belange des Verbraucherschutzes ins Kartellgesetz aufgenommen werden und dass Verbraucherverbände auch entsprechend gestärkt werden. Das ist
dringend notwendig.
({3})
Lassen Sie mich an dieser Stelle, gerade weil wir in
einer parlamentarischen Debatte sind, noch einen Punkt
erwähnen. Es geht mir um die Ministererlaubnis, darum,
dass wir uns da nicht falsch verstehen. Da wollen wir die
Bundesregierung nicht aus der Verantwortung lassen. Es
ist richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister die Verantwortung trägt, wenn eine seltene Ausnahme gemacht
wird. Aber genauso wichtig und richtig ist es in einer
parlamentarischen Demokratie, dass dann der Bundestag
bzw. der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie das
Recht zu einer Stellungnahme zu einer solchen Ausnahme hat und, wenn er anderer Auffassung ist, dann die
Bundesregierung nochmals entscheiden muss. Das wollen wir im Kartellgesetz ergänzt sehen.
({4})
Ich möchte auf einen allerletzten Punkt eingehen. Das
Thema Krankenkassen ist vielfach angesprochen worden.
Es ist völlig unstrittig, dass natürlich auch gesetzliche
Krankenkassen beaufsichtigt werden müssen.
({5})
Das ist überhaupt nicht das Problem. Aber was das Problem ist - da blicke ich genau in Ihre Richtung, zu der
Partei, die sich immer des Bürokratieabbaus rühmt -:
Warum machen Sie das dann nicht über das Sozialgesetzbuch? Warum machen Sie eine Art doppelte Prüfung?
({6})
Das ist alles andere als effizient. Nein, das ist ein neues
Bürokratiemonster, das Sie hier aufbauen. Das wird
noch eine Menge Konflikte geben.
Ich komme zum Schluss. Die vorliegende Novelle des
Kartellrechts macht eines deutlich: Sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Diese Novelle programmiert
die nächste Überarbeitung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen schon vor. Deshalb werden wir es
heute in dieser Abstimmung ablehnen.
Vielen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich als Staatssekretär
des Bundeswirtschaftsministeriums gemeldet, aber ich
spreche hier natürlich auch als ein langjähriger Kulturund Medienpolitiker. Deswegen will ich Ihnen eingangs
ganz offen einräumen, dass manche der Änderungen im
Pressebereich dem Bundeswirtschaftsministerium und
mir persönlich gar nicht leichtgefallen sind. Wir haben
das alles nicht leichtfertig gemacht. Das gilt insbesondere für die Bagatellanschlussklausel, die dazu führt,
dass alle Verlage mit weniger als 1,25 Millionen Euro
Umsatz pro Jahr ohne jede Überprüfung durch das Kartellamt übernommen werden können.
({0})
Das ist ein Zielkonflikt. Das will ich hier ganz offen
kennzeichnen. Wirtschaftliche Ordnungspolitik, für die
das Bundeswirtschaftsministerium ja steht, gebietet eine
starke Wettbewerbskontrolle durch das Kartellamt.
Weshalb also erleichtern wir im Pressebereich die Fusionskontrolle? Wir tun das, meine Damen und Herren,
weil die Digitalisierung der Medien zu einer wirklich rasanten Marktveränderung geführt hat und in Zukunft
noch weiter führen wird. Die Umsätze verschieben sich
in immer größerem und immer schnellerem Umfang von
Printangeboten hin zu digitalen Angeboten. Wir müssen
deshalb insbesondere die kleinen und mittleren Verlage,
die vor großen Umstellungen, vor großen Investitionen
stehen, in die Lage versetzen, die Herausforderungen gemeinsam zu stemmen und sich leichter zusammenzuschließen.
({1})
Deswegen haben wir die Aufgreifschwellen erhöht,
deshalb haben wir die Sanierungsfusionen erleichtert,
und deshalb haben wir auch die Bagatellanschlussklausel vorgesehen.
({2})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Presse-Grosso
sagen. Ich hätte es wirklich sehr begrüßt, wenn die im
Gesetzentwurf vorgesehene europarechtliche Betrauung
und kartellrechtliche Befreiung der Printverlage und des
Grosso-Verbandes überflüssig geworden wären.
Deswegen habe ich im Vorfeld alle Beteiligten und
auch alle fünf Fraktionen zu mehreren Sitzungen eines
runden Tisches eingeladen. Wir mussten dort allerdings
feststellen, dass eine außergesetzliche Einigung leider
nicht möglich war und auf der anderen Seite eine anstehende Klage gegen das Grosso-System die Gefahr heraufbeschworen hat, dass hier Schaden entsteht.
Wir haben uns deshalb schweren Herzens - das will
ich ganz klar sagen - zu dieser Gesetzesänderung durchgerungen, mit der wir gesetzgeberisches Neuland betreten. Wir hatten so etwas noch nicht. Es sind bereits - das
muss man offen sagen - Klagen gegen diese Neufassung
angekündigt.
Diese Regelung ist allerdings dennoch unumgänglich,
weil wir wissen, dass das bewährte Grosso-System ein
Garant für die weltweit einmalige Pressevielfalt in
Deutschland ist, für die Überallerhältlichkeit, für die
Diskriminierungsfreiheit aller Presseerzeugnisse. Wir
dürfen nicht zulassen, dass dieses bewährte PresseGrosso-System in seinem Kern gefährdet oder gar zerstört wird.
({3})
Wir werden dadurch bestärkt, dass bis auf einen alle
deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, der GrossoVerband und auch alle fünf Fraktionen des Deutschen
Bundestages hinter dieser Änderung stehen. Ich bin seit
rund 20 Jahren Mitglied dieses Hohen Hauses. Ich kann
mich nicht erinnern, dass es eine Änderung oder einen
Vorschlag gegeben hat, der in diesem Detail von allen
fünf Fraktionen dieses Hauses gemeinsam getragen
wurde.
Deswegen will ich hier abschließend feststellen: Alle
fünf Fraktionen des Bundestages bekennen sich zur
Pressevielfalt in Deutschland, bekennen sich zum
Presse-Grosso-System, das diese Pressevielfalt sichert.
Das ist immerhin eine gute Nachricht. Ich hoffe, dass es
uns gelingen wird, mit dieser Änderung dazu beizutragen, dass wir diese einmalige Pressevielfalt auch in Zukunft erhalten können.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Dörmann von
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Fraktionskollege Ingo Egloff hat bereits prägnant
dargelegt, warum wir heute die GWB-Novelle insgesamt
ablehnen werden. Ich möchte aber einige ergänzende
Anmerkungen zu den presserelevanten Bestimmungen
machen und dabei auch auf den von der SPD-Fraktion
vorgelegten Medienantrag eingehen, über den wir heute
auch beraten.
({0})
Für die SPD-Fraktion ist die Sicherung der Medienfreiheit und der Medienvielfalt von zentraler Bedeutung.
Wir begrüßen es deshalb sehr - Herr Kollege Otto, Sie
wissen das -, dass die Koalition unsere Forderung nach
einer gesetzlichen Absicherung des Presse-Grosso-Vertriebssystems aufgegriffen hat und die bewährte Möglichkeit von freiwilligen Branchenvereinbarungen erhält.
Das bisherige Presse-Grosso-System verhindert, dass
größere Verlage bessere Konditionen als kleine Verlage
erhalten, und trägt so entscheidend zu einer vielfältigen,
diskriminierungsfreien und flächendeckenden Medienlandschaft bei. Die vorgesehenen Änderungen beim
Pressefusionsrecht sehen wir differenziert. Wegen der
besonderen Bedeutung der Presse für die Meinungsbildung und damit für unsere Demokratie ist es wichtig,
dass hierfür auch weiterhin strengere Sonderregelungen
gelten als im übrigen Wettbewerbsrecht.
Richtig ist andererseits aber auch, dass wir in einer
veränderten Medienwelt leben und dass insbesondere die
Zeitungsverlage unter besonderen wirtschaftlichen Druck
geraten sind. Vor diesem Hintergrund können wir eine
vorsichtige Lockerung des Pressefusionsrechts mittragen, soweit hierdurch in einer Gesamtbetrachtung die
Medienvielfalt eher gestärkt und eben nicht geschwächt
wird.
So halten wir eine Erleichterung bei der Sanierungsfusion in engen Grenzen durchaus für sinnvoll, um defizitäre Zeitungstitel überhaupt noch zu erhalten. Wettbewerbsrechtlich gerade noch vertretbar erscheint uns auch
eine Erhöhung der Aufgreifschwellen für kartellrechtliche Verfahren. Ich will darauf hinweisen, dass das in der
Anhörung des Wirtschaftsausschusses sowohl die Monopolkommission als auch das Bundeskartellamt entsprechend gesehen haben. Sie haben aber auch gleichzeitig betont, dass hierdurch eine rote Linie erreicht sei,
und Sie haben vor weiteren Änderungen insbesondere
bei der Bagatellanschlussklausel gewarnt. Herr Otto, ich
habe Ihr schlechtes Gewissen herausgehört. Wir glauben, dass an dieser Stelle die Balance insgesamt doch
nicht mehr stimmt.
({1})
Wir kritisieren allerdings scharf, dass die Regierungskoalition einseitig nur auf wettbewerbsrechtliche Regelungen fokussiert ist und weitergehende, aber notwendige Maßnahmen zur Sicherung der Medienvielfalt und
von Qualität im Journalismus verweigert. Die SPDFraktion hat hierzu einen umfassenden Antrag vorgelegt.
Darin schlagen wir ein Maßnahmenbündel vor, um die
Qualität, die Freiheit und die Unabhängigkeit der Medien in einer sich verändernden Medienlandschaft zu
sichern. Dies reicht von neuen Modellen zur Finanzierung von Journalismus bis hin zu Fragen der Medienordnung, die man natürlich gemeinsam mit den Ländern angehen muss.
Im laufenden Haushaltsverfahren verweigert die
Koalition zudem die Finanzierung und ständige Aktualisierung einer Medienstatistik. Genau die ist aber Voraussetzung für belastbare Daten für zukünftige Entscheidungen.
({2})
Insgesamt springt die schwarz-gelbe Koalition auch medienpolitisch deutlich zu kurz.
Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir laden alle Fraktionen ein, mit uns nicht nur
beim Presse-Grosso für gemeinsame medienpolitische
Lösungen einzutreten bzw. diese zu finden. Unsere Vorschläge jedenfalls liegen auf dem Tisch.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Kritik
ist natürlich das Metier der Opposition. Ich hätte mich
trotzdem gefreut, wenn wir - so wie es der Kollege
Dörmann gerade exerziert hat - ein paar lobende Worte
mehr insbesondere zu dem gehört hätten, was man hier
beispielsweise im Bereich des Presse-Grossos implementiert hat.
({0})
Nichtsdestotrotz gebe ich auch zu, dass ich den einen
oder anderen kritischen Einwurf zum Thema Krankenkassen nachvollziehen kann. Ich bin aber der Auffassung, dass Sie sich damit auf den Regierungsentwurf beziehen und nicht auf das, was nach Veränderungen durch
das Parlament hier heute zu beschließen ansteht.
Meine Damen und Herren, wir haben dafür gesorgt,
dass auf der einen Seite wichtige, gebotene und auch gesetzlich vorgegebene Möglichkeiten der Kooperation
zwischen Krankenkassen ermöglicht werden, dass man
auf der anderen Seite aber über die Fusionskontrolle
auch sicherstellen kann, dass noch eine Vielzahl von
Krankenkassen erhalten bleibt und dass auch da der
Wettbewerb eine Rolle spielt. Darauf kommt es uns entscheidend an.
({1})
Bei der anderen Thematik, die hier kritisch erwähnt
wurde, handelt es sich um das Fehlen einer missbrauchsunabhängigen Entflechtungsbefugnis. Meine
Damen und Herren, als wir das Thema am Beginn der
Koalition diskutierten, taten wir uns alle miteinander
schwer, Anwendungsbeispiele - und zwar solche, die
rechtlich durchsetzbar sind - zu finden. Ich finde es hoch
spannend, dass die SPD plötzlich einen Antrag formuliert und alle problematischen Märkte in ganz Deutschland aufführt, wo man dieses Instrument jetzt, weil es
nicht kommt, angeblich hätte anwenden können, um mit
diesem Allheilmittel alles zu klären und alles zu regeln.
Meine Damen und Herren, Sie wissen präzise: Dieses
missbrauchsunabhängige Entflechtungsinstrument wäre
ein stumpfes Schwert gewesen. Es wäre auf der einen
Seite verfassungsrechtlich höchst problematisch, auf der
anderen Seite wäre es, wenn man es wirklich hätte anwenden wollen, so an Vorprüfungen und rechtliche Einschränkungen gebunden gewesen, dass es schier unmöglich gewesen wäre, damit etwas zu tun. Ein stumpfes
Schwert, meine Damen und Herren! Trotzdem sage ich
ganz offen: Auch mit einem stumpfen Schwert kann man
Schaden anrichten, wenn die Falschen damit herumfuchteln. Deshalb ist es ganz gut - es kann ja einmal sein,
dass jemand von Ihrer Seite damit fuchtelt -, dass wir
das an dieser Stelle unterlassen und eben nicht in diese
Novelle implementiert haben.
Zum Thema „schwierige Märkte“ habe ich schon einiges erwähnt. Wir haben auch etwas zum Thema
„Presse und Medien“ - was sich da verändert hat - gehört. Ich glaube, es ist ganz spannend, dass uns gerade
das Thema Pressefusionskontrolle sehr beschäftigt hat.
Wie stellt man sicher, dass auf einem Markt, auf dem
die Auflagen so dramatisch zurückgehen - und zwar
nicht deshalb, weil das von irgendeiner Politik beeinflusst wird, sondern weil die Mediennutzung so ist, wie
sie ist -, die eine oder andere Tageszeitung letzten Endes
trotzdem weiter existieren kann? Eben im Wege der Fusion. Ich halte es für wichtig, richtig, geboten und sinnvoll, dass man das dann so macht und sagt: Dann muss
man ein bisschen großzügiger mit der Fusionskontrolle
umgehen.
In der Tat hat uns das Thema Presse-Grosso sehr intensiv beschäftigt. Ich bin dem Kollegen Otto ausdrücklich dankbar für seine Versuche, zu klären, welche Möglichkeiten zur Gestaltung es gibt. Denn der runde Tisch
war letztendlich auch das, nämlich ein Ansatz, zu klären,
was man tun kann, um ein jahrzehntelang geduldetes
Kartell so abzusichern, dass es gegen Europarecht bestehen kann. Denn wir alle wissen, meine Damen und Herren, dass dieses Kartell, wenn es darum ging, Presseerzeugnisse flächendeckend auch im ländlichen Raum zu
verteilen, dazu beigetragen hat, dass die Medienlandschaft in Deutschland anders aussieht als beispielsweise
in Frankreich.
Es ist auch ein spannendes Lehrstück, dass man erkennen muss, dass die Wettbewerbsbeschränkung an der
einen Stelle für mehr Wettbewerb an der anderen Stelle
sorgt. Wettbewerbsbeschränkung bei der Verteilung von
Medien sorgt nämlich dafür, dass wir dann zwischen den
Medien mehr Wettbewerb haben. Deshalb haben wir uns
am Schluss durchgerungen, diesen Schritt zu gehen und
beide, die Grossisten und die Verleger, mit einer Aufgabe zu betrauen, von der wir meinen, dass sie kulturell
und auch national von besonderer Bedeutung ist.
Die EU macht an dieser Stelle etwas Bemerkenswertes: Sie öffnet das Tor im Wege der Betrauung, Ausnahmen zu machen; dabei greift das europäische Kartellrecht nicht. Es war gut, Herr Kollege Otto, dass wir
durch dieses Tor gegangen sind und die Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, die die EU eröffnet. Man sollte
nicht immer nur über die Kollegen in Brüssel schimpfen,
sondern auch das regeln und gestalten, was sie uns in
dieser Weise eröffnen. Das ist eine gute Sache. Ich hoffe,
dass dieses Vorhaben jetzt nicht beim Thema Krankenkassen am Bundesrat scheitert oder eingeschränkt wird.
Denn ich glaube, dass unser Presse-Grosso und unsere
Medienlandschaft so wichtig sind, dass wir sehen sollten, dass diese Gesetzesnovelle zum Schluss auch durchkommt.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-
kungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11053, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9852 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Die Fraktion der SPD hat beantragt, über Art. 3 einer-
seits und über den Gesetzentwurf im Übrigen anderer-
seits getrennt abzustimmen.
Ich rufe zunächst Art. 3 in der Ausschussfassung auf.
Die Fraktion der SPD hat namentliche Abstimmung ver-
langt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze besetzt? - Gut.
Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen Ihre Stimm-
karte eingeworfen? - Dann schließe ich diesen Abstim-
mungsgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.1)
Ich erteile jetzt das Wort zu einer persönlichen Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung der Kollegin Elke Ferner. Bitte schön.
1) Ergebnis Seite 23936 D
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Ich melde mich deshalb jetzt hier zu Wort,
weil es aus sozialpolitischer Sicht keine Kleinigkeit ist,
worüber wir abstimmen. Im Kern geht es darum, ob die
gesetzlichen Krankenversicherungen Sozialversicherungen bleiben oder ob sie als Wirtschaftsunternehmen betrachtet werden. Weil dies eine weitreichende und unabsehbare Folge hat, stimmen wir - auch ich - heute gegen
die 8. GWB-Novelle. Wir stimmen gegen das Gesetz,
weil Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, das Kartellrecht auf die gesetzlichen Krankenkassen anwenden.
Dies widerspricht aus meiner Sicht in elementarer
Weise dem Wortlaut und dem Geist des Sozialgesetzbuches V.
({0})
Dort ist an vielen Stellen die Rede vom einheitlichen und
gemeinsamen Handeln der Krankenkassen. Es gibt dort
ein Gebot zur Kooperation, und das passt eben nicht mit
der Anwendung des Kartellrechts zusammen, weil in
diesem Gesetz ein Verbot der Kooperationen normiert
ist.
({1})
Wir stimmen gegen das Gesetz, weil unterstellt wird,
dass die gesetzlichen Krankenkassen Wirtschaftsunternehmen sind und es hier um einen Wettbewerb zwischen
Unternehmen geht, der durch das Kartellamt überwacht
werden muss. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aber
keine Wirtschaftsunternehmen, sondern solidarische, im
Umlageverfahren finanzierte Pflichtsozialversicherungen, die für über 70 Millionen Menschen in unserem
Land die notwendigen medizinischen Leistungen ohne
jegliches Gewinnstreben zu günstigen Kosten sicherstellen müssen.
Auch der EuGH hat in einem Urteil die Auffassung
vertreten, dass die deutschen Krankenkassen eben keine
Unternehmen sind. Nur deshalb gilt das europäische
Wettbewerbsrecht für die gesetzlichen Krankenkassen in
Deutschland nicht, Herr Minister. Wir stimmen gegen
dieses Gesetz, weil durch die Anwendung des Kartellrechts auf alle Sozialversicherungen im nationalen Recht
die Gefahr besteht, dass auch der EuGH unsere gesetzlichen Krankenkassen als Unternehmen betrachtet und
sie dann mit allen negativen Konsequenzen dem europäischen Wettbewerbsrecht unterworfen wären. Dann
wären eben nationale Sonderregelungen nicht mehr
möglich, und am Ende müssten die Versicherten die Zeche bezahlen.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil mit den von
CDU/CSU und FDP getragenen Änderungen die gesetzliche Krankenversicherung ihren Charakter als Sozialversicherung verlieren wird. Die solidarische Finanzierung, der Steuerzuschuss, die bewährte Selbstverwaltung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch
die der Leistungserbringer, das Gebot zur Kooperation
zwischen den Kassen, die Rechtsform der Körperschaften des öffentlichen Rechts bis hin zu den Gestaltungsmöglichkeiten dieses Parlaments werden durch diesen
Gesetzentwurf ebenfalls zur Disposition gestellt.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil dies der Einstieg in ein völlig anderes, in ein von privaten und privatisierten Versicherungsunternehmen getragenes Gesundheitssystem wäre, und das wollen die Menschen in
Deutschland nicht, das wollen die Arbeitgeber nicht, das
wollen die Gewerkschaften nicht, nicht die Sozialverbände und nicht die Patientenorganisationen, und die
SPD will das auch nicht.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil wir wollen,
dass die Krankenversicherungen Sozialversicherungen
bleiben und nicht zu Wirtschaftsunternehmen mutieren;
denn Sie spielen mit einem der grundlegenden Eckpfeiler unserer Gesellschaft, auf dem auch ein großer Teil
des sozialen Friedens in unserem Land beruht. Wenn der
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen überhaupt einer weiteren Regulierung bedarf, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dann muss diese im Sozialrecht und nicht im
Kartellrecht erfolgen.
Wir werden anhand der eben erfolgten namentlichen
Abstimmung auch sehen, wer sich hier für Sozialversicherungen und den Erhalt der gesetzlichen Krankenversicherung als Sozialversicherung einsetzt und wer das
nicht tut. Vor allen Dingen hoffe ich, dass Sie alle hier
sich der Tragweite Ihrer Entscheidung bewusst sind. Ihre
Länder werden dazu wahrscheinlich im Bundesrat eine
für Sie vermutlich nicht sehr erfreuliche Position vorbringen.
Schönen Dank.
({2})
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 543. Mit
Ja haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 241,
keine Enthaltungen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 543;
davon
ja: 302
nein: 241
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Norbert Barthle
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({23})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Pascal Kober
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({24})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({27})
Burkhardt Müller-Sönksen
({28})
Dirk Niebel
({29})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Johannes Vogel
({30})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({32})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Michael Hartmann
({33})
Hubertus Heil ({34})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({35})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({36})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({37})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({38})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({39})
Marlene Rupprecht
({40})
Annette Sawade
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({41})
Werner Schieder ({42})
Ulla Schmidt ({43})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({44})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({45})
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Paul Schäfer ({46})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({47})
Volker Beck ({48})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({49})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({50})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({51})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Arfst Wagner ({52})
Dr. Valerie Wilms
Der Art. 3 des Gesetzentwurfs ist angenommen.
({53})
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmergebnis angenommen.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/11065. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung von SPD
und Linken.
Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-
fehlungen des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
gie auf Drucksache 17/11053 fort. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9956 mit dem Titel „Verbrau-
cherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht ver-
ankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung von SPD und Linken.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Presse-
Grosso gesetzlich verankern“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9989,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8923 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur
und Medien zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Instrumente zur
Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stel-
len“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11058, den Antrag der Frak-
tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/9155 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Ge-
genstimmen? - SPD und Grüne. Enthaltungen? - Die
Linken. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und
Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Ti-
tel „Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern -
Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im
Journalismus stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11045 bzw.
in seinem Bericht auf Drucksache 17/11082, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10787 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Linken. Ge-
genstimmen? - SPD und Grüne. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Programm „Soziale Stadt“ zukunftsfähig weiterentwickeln - Städtebauförderung sichern
- Drucksache 17/10999 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({54})-
Innenausschuss-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({55})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
40 Jahre Städtebauförderung - Erfolgsmodell für die Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Städtebauförderung auf hohem Niveau verstetigen, Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen
- Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist offenkundig nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Michael Groß von der SPD-Fraktion
das Wort.
({56})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den Städten zurzeit zwei große Herausforderungen. Die erste betrifft die Frage: Wie können die Menschen demnächst noch ihre Miete bezahlen, wenn in
manchen Regionen 30 bis 50 Prozent des zur Verfügung
stehenden Einkommens für das Wohnen ausgegeben
werden müssen?
Die zweite Herausforderung betrifft die Fragen: Wie
wollen wir in den Städten leben? Was heißt gute Lebensqualität? Wie sieht die Zukunft der Menschen in den
Städten aus? Die zweite Herausforderung hat damit zu
tun, dass sich Menschen, insbesondere Familien, fragen:
Wachsen unsere Kinder gesund auf? Welche Unterstützung finde ich im Stadtteil für meine Kinder? Gibt es
Betreuungsangebote? Gibt es Spielplätze? Können sich
die Kinder ihr Wohnumfeld aneignen? Identifiziere ich
mich mit meinem Wohnumfeld? Der zweite Fragenkomplex lautet: Kann ich selbstbestimmt in meinem Stadtteil
leben? Finde ich Arbeit? Finde ich Freunde, die mir helfen, wenn ich krank werde?
Der dritte Fragenkomplex betrifft das Altwerden im
Stadtteil in Würde: Finde ich Unterstützung, wenn ich
Hilfe brauche, wenn ich krank bin? Kann ich in meinen
eigenen vier Wänden alt werden?
Ich glaube, dass die Bundesregierung zurzeit auf
diese Fragen keine Antwort hat, weder auf die die steigenden Mieten betreffen noch auf die zur Lebensqualität
in unseren Städten.
({0})
Das Programm „Soziale Stadt“ hat alle Antworten geboten, die notwendig sind. Ich habe alle Akteure meines
Stadtteils beteiligen können, um die Frage zu beantworten: Wie gestalte ich den Stadtteil, die Quartiere? Ich
habe alle Themen abarbeiten können: Inklusion, Integration, gutes Leben, Altwerden im Stadtteil. Ich habe einen
großen Teil der Bürger mobilisieren können.
Sie haben das Programm seit 2009 systematisch zurückgefahren, Sie haben die Mittel um 60 Prozent, zum
Teil um 70 Prozent gekürzt. Während im Jahr 2009 noch
48 Projekte neu aufgenommen werden konnten - da waren Sie noch nicht in der Verantwortung -, wurde im
letzten Jahr nur ein Projekt neu in das Programm „Soziale Stadt“ aufgenommen. Sie haben das Programm vor
die Wand gefahren, vor allen Dingen deshalb, weil sich
die Kommunen und die Länder nicht darauf verlassen
konnten, dass Planungssicherheit und eine verlässliche
Finanzierung vorhanden sind.
({1})
Wir leben in einer Zeit der riskanten Chancen. Diese
Aussage ist schon 30, 40 Jahre alt. Sie stammt von dem
Soziologen Beck aus München. Diese Aussage ist immer noch ganz aktuell. Die Arbeiterwohlfahrt hat eine
Studie zu Lebenslagen von Kindern herausgebracht.
Man höre, wie der Titel heißt: „Von alleine wächst sich
nichts aus …“ Je länger ein junger Mensch in Armut
aufwächst, desto geringer wird die Chance für ein Wohlergehen, für ein gutes Leben, desto größer sind die Risiken.
Der von Ihnen und anderen studierte Armuts- und
Reichtumsbericht belegt eindeutig: Trotz wirtschaftlichen Wachstums haben wir ein zunehmendes Armutsrisiko in Deutschland. 12,8 Millionen Menschen sind gefährdet, insbesondere Kinder, Alleinerziehende, Frauen
und ältere Menschen. 6,5 Prozent eines Jahrgangs,
60 000 junge Menschen in Deutschland, haben keinen
Schulabschluss. 20 Prozent der Deutschen schaffen es
nicht, einen höheren Bildungsabschluss zu bekommen
als ihre Eltern. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder studieren. Man kann das zusammenfassen: Die Bundesregierung hat eine Studie in Auftrag gegeben zu „Trends und
Ausmaß der Polarisierung in deutschen Städten“, aus der
hervorgeht - ich zitiere -:
… dass Bewohnerinnen und Bewohner mit niedrigem sozialen Status, geringer Qualifikation und unterdurchschnittlichem Einkommen oft konzentriert
in Stadtteilen mit mangelhaftem Gebäudebestand
und unterdurchschnittlicher Infrastruktur leben.
Das ist der Befund, den Sie sich selber ausstellen. Dagegen wollen Sie nichts tun.
Was trägt zur Stabilisierung in Stadtteilen bei? Es gibt
ein Dutzend Faktoren. Ich glaube, über das Thema Bildung brauchen wir nicht zu reden. Außerschulische Förderung ist ein wichtiges Thema. Bereits in der U-3-Förderung im Kindergarten ist es notwendig, die Familien
zu unterstützen. Wir müssen Netzwerke aufbauen, soziale Hilfen und vor allen Dingen vorbeugende Hilfen in
Stadtteilen organisieren, in denen sich die Menschen
nicht mehr selber helfen können. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger aktivieren. Das ist eigentlich das
wichtigste Pfund, mit dem wir wuchern können; denn sie
verfügen über Ressourcen und Kompetenzen. Diese dürfen wir nicht brachliegen lassen. Wir müssen daher in
den Stadtteilen für Aufbruchstimmung sorgen und dürfen nicht zulassen, dass sich die Menschen abgehängt
fühlen.
({2})
Die „Soziale Stadt“ ist ein Erfolgsmodell. Wir haben
jahrelang erlebt, dass die Städte und Länder mithilfe des
Bundes erfolgreiche Arbeit geleistet haben. Ich möchte
einen in Berlin geborenen Diplom-Wirtschaftsingenieur
zitieren. Er sagt, durch die Zusammenarbeit mit dem
Programm „Soziale Stadt“ habe er zum ersten Mal in
seinem Leben das Gefühl gehabt, nicht mehr nur geduldeter Ausländer zu sein, sondern zu dieser Gesellschaft
zu gehören.
Wenn Sie Kinder befragen, sagen diese: Nachbarschaft ist wichtig. Die Menschen dort sind für uns
Freunde und Bekannte, die wir jeden Tag sehen. - Nachbarn haben keine eigentlichen Aufgaben, ich halte es jedoch für meine Aufgabe, meinem Nachbarn zu helfen,
wenn er Hilfe benötigt.
({3})
Warum gerade Ältere von der Nachbarschaftshilfe
profitieren, sagen Ihnen Menschen aus dem Stadtteil, die
mit dem Programm „Soziale Stadt“ zu tun haben. Aufgrund dieses Programms erfahren sie Nachbarschaftshilfe, sodass sie im Bedarfsfall nicht die Tagespflege
oder die Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen müssen,
sondern zu Hause wohnen bleiben können. Deswegen
fordern wir Sie auf, Ihre Kürzungen in der Städtebauförderung endlich zurückzunehmen, die Mittel für die „Soziale Stadt“ auf 150 Millionen Euro aufzustocken
({4})
und endlich Verlässlichkeit und Planbarkeit einzuführen.
({5})
Wir schlagen Ihnen vor, das Programm „Soziale
Stadt“ zu einem Leitprogramm zu machen. Dies sollte
nicht nach defizitorientierten Maßstäben erfolgen; vielmehr sollte man ressourcenorientiert nach den Kompetenzen der Menschen Ausschau halten. Vor allen Dingen
gilt es, übergreifend, koordinierend und kooperativ zu
planen und zu handeln und die Menschen im Stadtteil
zusammenzubringen, damit sie dort gut leben können.
Wir fordern Sie auch auf, dafür zu sorgen, dass insbesondere die Kommunen diese Programme in Anspruch
nehmen können. Nach dem KfW-Panel sind 40 Prozent
der Kommunen dazu nicht in der Lage. Hier lassen Sie
die Städte allein. Sie könnten jedoch mit wenig Mitteleinsatz viel erreichen.
Ich komme zum Schluss. Willy Brandt hat vor circa
50 Jahren im Ruhrgebiet gesagt: Der Himmel über dem
Ruhrgebiet soll wieder blau werden. - Das war nicht nur
eine umweltpolitische Aussage, sondern damit haben die
Menschen im Ruhrgebiet die Hoffnung verbunden, dass
es ihnen einmal besser geht und dass sie sich darauf verlassen können, dass ihre Stadtteile ihnen ein besseres Leben ermöglichen.
Herzlichen Dank und Glückauf!
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Groß von der Opposition, jetzt lassen Sie doch einfach
einmal die Kirche im Dorf und nehmen Sie die Realität
wahr. Es ist diese Bundesregierung, die die Kommunen
durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung allein im Zeitraum von
2012 bis 2016 um über 20 Milliarden Euro entlastet. Das
ist die größte Kommunalentlastung in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland
({0})
Und dann kommen Sie heute her und beklagen, genau
wie vor einem Jahr, in einer rückwärtsgewandten Debatte, dass der Bund nicht genug tut.
({1})
Wenn Ihnen sonst nichts Besseres einfällt, begreifen Sie
wirklich nicht, wie wichtig die Gesundung der Kommunalfinanzen eigentlich ist.
({2})
Chancen für die Übernahme eigener Verantwortung
in freier Entscheidung sind besser als goldene Züge
durch Bund und Länder mit immer stärker ausgestalteten
lenkenden und bevormundenden Förderprogrammen.
({3})
- Lieber Kollege Sören, für uns haben auch eine solide
Haushaltspolitik und das Einhalten der Schuldenbremse
einen hohen Stellenwert. - Die Kostenübernahme der
Altersgrundsicherung steht sinnbildlich für einen Paradigmenwechsel in der Bundespolitik. Anstatt wie in der
Vergangenheit die Kommunen immer wieder mit neuen
Aufgaben und Ausgaben zu belasten, stärken wir die
Städte, Gemeinden und Landkreise nachhaltig. Die
Früchte dieser Politik lassen sich auch an der Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen ablesen. Die meisten
Kommunen - sicherlich nicht alle - sind wieder in der
Lage, ihre eigenen gesetzlichen und freiwilligen Aufgaben selbst zu finanzieren.
({4})
Unabhängig von dieser positiven Entwicklung, Herr
Kollege Scheelen, werden wir die Städte und Gemeinden auch zukünftig bei nötigen Investitionen im Bereich
der Städtebauförderung und der Stadtentwicklung unterstützen. Dies gilt gerade auch für wirtschaftlich und sozial benachteiligte Stadtteile. Dafür - das ist seit mehr
als 40 Jahren unstrittig - sind die Städtebauförderungsprogramme ausgezeichnet geeignet.
Für uns ist ein ressortübergreifender, stadtteilbezogener Ansatz ein zentraler Erfolgsfaktor in der Stadtentwicklung. Deshalb haben wir neue Schwerpunkte gesetzt und den Energie- und Klimafonds auch für die
Finanzierung von Maßnahmen der Stadtentwicklungspolitik geöffnet. Die große Nachfrage nach den neuen
Programmen „Kleine Städte und Gemeinden“ und
„Energetische Stadtsanierung“ bestätigt eindrücklich die
Notwendigkeit, sich diesen Zukunftsthemen verstärkt
zuzuwenden. Wir leisten damit auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge in dünn besiedelten Räumen und erschließen neue
Potenziale bei der Vermeidung von CO2-Ausstoß in städtischen Quartieren.
Nur zur Erinnerung: Das Programm „Die soziale
Stadt“ wurde in seiner Grundidee unter der Leitung der
damaligen Bundesbauminister Klaus Töpfer und Eduard
Oswald auf den Weg gebracht. Das war 1998, vor inzwischen 14 Jahren.
({5})
Es half, vor allem in den Jahren geringen wirtschaftlichen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit. Leider
haben einige wenige Kommunen die bei solchen Programmen stets notwendige kritische Reflexion aus den
Augen verloren. Dadurch ist der gute Ansatz des Programms „Die soziale Stadt“ in Misskredit geraten.
Ziel dieses Programms ist nicht die dauerhafte Alimentierung sämtlicher Maßnahmen - der Kollege Groß
hat es vorhin aufgezeigt -, sondern die Beseitigung der
Ursachen der Entwicklung eines Stadtquartiers zu einem
Problemquartier. Vor diesem Hintergrund hat sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion intensiv an der Weiterentwicklung und am Ausbau des Programms beteiligt.
Wir wollen eine passgenaue Verzahnung der verschiedenen Programme und Maßnahmen sowohl auf Bundesebene als auch vor Ort erreichen. Um benachteiligte
Quartiere zu stabilisieren, wurden die städtebaulichen
Investitionen des Programms „Die soziale Stadt“ passend zu den gesetzlichen Vorgaben mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gekoppelt; so steht es auch im Gesetz. Wenn wir uns die verschiedensten nichtinvestiven
Bundesprogramme anschauen, wie zum Beispiel das
ESF-Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ und
die Bundesinitiativen „Offensive Frühe Chancen:
Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“, „JUGEND
STÄRKEN“ oder „Lernen vor Ort“, dann erkennen wir:
Es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, das Programm
„Die soziale Stadt“ sinnvoll zu ergänzen. Diese notwendige Koordinierung ist von keinem der vielen SPD-Bundesbauminister gegenüber anderen Ressortchefs dauerhaft durchgesetzt worden.
Es ist richtig, das Programm „Die soziale Stadt“ auf
die baulichen Investitionen zu konzentrieren und es so
mit anderen Programmen zu kombinieren, dass städtebauliche Missstände in den Kommunen behoben werden
und das Programm den Menschen zugutekommt. Jedes
Land, jede Kommune ist frei in ihrer Entscheidung, sich
zusätzlich mit eigenen Mitteln in die Programmfinanzierung einzubringen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, der Bundeshaushalt ist kein Wünsch-dir-wasKatalog, und trotzdem ist es gelungen, die Mittel der
Städtebauförderung auf hohem Niveau zu verstetigen
und zusätzlich die Mittel für die energetische Stadtsanierung auf über 100 Millionen Euro aufzustocken. Das
sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Antrag mit dem Titel „Städtebauförderung auf
hohem Niveau verstetigen, Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen“, der hier heute neben den beiden
Anträgen der SPD besprochen wird, bezieht sich auf den
seinerzeit einstimmig gefassten Beschluss der Bauministerkonferenz vom 28. Juni 2011. Ich kann heute den Beschluss der Bauministerkonferenz vom 20./21. September 2012 in Saarbrücken danebenlegen und konstatieren,
dass unsere Forderungen von vor einem Jahr nicht nur
immer noch aktuell sind, sondern ihre Umsetzung sogar
noch notwendiger geworden ist. Herr Götz, wenn Sie
hier die SPD dafür kritisieren, dann muss ich Sie schon
fragen: Sind Sie als CDU klüger als 16 Bauminister, die
seit Jahren beklagen, dass Sie zwar im Koalitionsvertrag
versprochen haben, 535 Millionen Euro pro Jahr in den
Haushalt einzustellen, nun aber die Mittel auf 455 Millionen Euro reduzieren?
({0})
Sie tragen es zwar nett vor, aber Sie tragen es nicht ehrlich vor.
({1})
Das ist auch nicht verwunderlich, weil unerledigte
Aufgaben durch Liegenlassen nicht kleiner werden, sondern wachsen. Qualitativ neue Aufgaben sind zwischenzeitlich aufgrund der Aktualität des Themas hinzugekommen und wachsen jeden Tag rasant an. Die
Regierung macht aber nichts anderes, als die Mittel auf
immer geringerem Niveau zu verstetigen. Sie macht
nicht das, was sie im Koalitionsvertrag versprochen hat.
So wird der Berg unerledigter Aufgaben bei der Entwicklung unserer Städte,
({2})
den die Bundesregierung vor sich herschiebt, immer größer.
Städtebauförderung eignet sich auch nicht für Kampagnen. Sie muss langfristig, dauerhaft und zuverlässig angelegt sein, auch weil die Länder und Kommunen jeweils mit mindestens 30 Prozent an den Kosten der
Städtebauförderung beteiligt sind und vor allem die Umsetzung zu organisieren haben. Auch sie haben ihre
Haushaltspolitik zu machen und ihren Planungsvorlauf
zu realisieren, und dafür benötigen sie dauerhaft zuverlässige Aussagen der Bundesregierung.
({3})
Deswegen ist es absolut unverständlich, dass die Kontinuität der Städtebauförderung gerade in einer Zeit unterbrochen wird, in der die Erfordernisse der Stadtentwicklung objektiv eine völlig neue Dimension
annehmen. Die Ansprüche und Maßstäbe, die heute an
die Städtebauförderung gelegt werden müssen, haben
sich an sozialdemografischen, ökologischen, ökonomischen und Entwicklungserfordernissen der Gesellschaft
zu orientieren. Herr Groß hat das hier sehr intensiv und
auch sehr umfassend dargestellt.
Die Städtebauförderung ist nicht nur eine nationale
Aufgabe, sondern auch eine globale Herausforderung.
Gerade der Kongress, den wir in der vergangenen Woche
gemeinsam bestritten haben, hat noch einmal deutlich
gemacht, dass unsere Städte auch international eine Verantwortung tragen.
Ich bin weit davon entfernt, dem Koalitionsvertrag
von 2009 vorausschauende Weisheit zu unterstellen,
aber immerhin hat die Koalition damals versprochen,
535 Millionen Euro zu verstetigen. Daran sieht sie sich
seit 2011 nicht mehr gebunden. Wir erheben mit unserem Antrag also gar keine neue Forderung, sondern fordern nur die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Wenn
wir Ihnen zum wiederholten Mal vorrechnen, dass die
Städtebauförderung keine Subventionssünde, sondern
ein einzigartiges, sich selbst finanzierendes Konjunkturprogramm ist, dann wundert es uns schon, dass Sie gerade in Zeiten, in denen die Wachstumsraten für
Deutschland wieder korrigiert werden und in denen die
Alarmglocken verschiedener Branchen läuten, weil es
bergab gehen wird, konjunkturell funktionierende Programme abbauen und ihre Mittelausstattung auf einem
niedrigeren Niveau verstetigen. Das ist für uns völlig unverständlich.
({4})
Wenn von heute 455 Millionen Euro Städtebauförderung - und jetzt zitiere ich Herrn Ramsauer selbst städtebauliche Investitionen von insgesamt über 6 Milliarden Euro angestoßen werden, frage ich mich, um wie
viel größer die ökologischen und volkswirtschaftlichen
Effekte von 535 Millionen Euro oder den eigentlich notwendigen 700 Millionen Euro wären.
Ein weiterer Grund für eine entschlossene Aufstockung der Städtebaufördermittel kommt hinzu: Die Konjunkturdaten, die ich eben genannt habe, erfordern Investitionen des Bundes und der Länder, nicht aber den
Rückbau von Investitionen. Ich sage Ihnen: Die Städtebauförderung könnte neben den sowieso gewollten und
notwendigen Impulsen für den sozialökologischen Umbau unserer Städte und Regionen zu einem starken und
effizienten Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung werden. Sie könnte Arbeitsplätze sichern, die Sozialsysteme stabilisieren und zusätzliche Steuereinnahmen bei Bund und Ländern generieren. Dies nicht zu
begreifen, ist die große Schwäche unseres Bauministers.
Danke schön.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Petra
Müller das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Städtebauförderung ist seit 40 Jahren ein Erfolgsmodell.
Darüber herrscht breite, große Einigkeit in diesem
Hohen Haus, in den Ländern und parteiübergreifend.
({0})
- Lass mich doch einmal weitersprechen, bitte.
Die Finanzhilfen des Bundes für 2013 bleiben bei
455 Millionen Euro; diese Summe ist seit drei Jahren
gleich. Hinzu kommen die Mittel für die energetische
Stadtentwicklung in Höhe von 100 Millionen Euro. Wer
rechnen kann, kommt dann auf 555 Millionen Euro, und
das ist ein bisschen mehr als 535 Millionen Euro.
Petra Müller ({1})
({2})
Diese Ergebnisse - das möchte ich hinzufügen - erreichen wir trotz Haushaltskonsolidierung und trotz
Euro-Krise. Das zeigt, wie hoch der Stellenwert der
Städtebauförderung in der christlich-liberalen Koalition
ist. Damit betreiben wir eine verlässliche und erfolgreiche Politik.
({3})
Daher lasse ich den Vorwurf vonseiten der SPD, dass wir
die Städtebauförderung vernachlässigen, nicht gelten.
Zu Ihren Anträgen fallen mir zwei Dinge ein:
Wunschkonzert und Gießkanne. Wunschkonzert, weil
Ihre Forderung zeigt, dass Sie keine Rücksicht auf den
Gesamtetat oder die Teilprogramme nehmen. Ihre Anträge zeigen, dass Sie auch nicht zur Kenntnis nehmen,
dass mit dem Programm „Kleinere Städte und Gemeinden“ 2010 ein neues Programm auf den Weg gebracht
wurde. Es war zunächst mit 18 Millionen Euro ausgestattet. Mittlerweile wurden 55 Millionen Euro abgerufen. Das spricht für Kontinuität. Das ist ein Anwachsen
der Städtebauförderung in ganz bestimmten Bereichen,
nämlich den kleinen Städten und Gemeinden. Ich muss
Ihnen auch einmal sagen: Unter Rot-Grün haben Sie das
nicht zustande gebracht.
({4})
Das haben wir zustande gebracht.
({5})
Ihre Anträge zeigen auch, dass Sie nicht zur Kenntnis
nehmen, dass die alten Ziele des Programms „Soziale
Stadt“ schon längst in anderen Programmen aufgenommen wurden und jetzt in diesem Rahmen angestrebt werden, und zwar viel direkter und viel effizienter.
Wir, die christlich-liberale Koalition, werden die
Städtebauförderung in Deutschland kontinuierlich weiterentwickeln, zielgenau und treffsicher.
({6})
Bestes Beispiel ist der Stadtumbau West. Das Programm
berücksichtigt heute als breitaufgestelltes Programm den
Klimawandel gleichermaßen wie den demografischen
Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung. Das ist
das, was Sie eben beklagt haben. Lesen Sie das einmal
nach. So stelle ich mir - das muss ich Ihnen ganz ehrlich
sagen - eine zukunftsweisende Stadtentwicklung vor.
Nur so können wir Städte, Gemeinden und Kommunen
fitmachen für die Zukunft. Das nenne ich eine erfolgreiche Politik der christlich-liberalen Koalition.
({7})
Wir haben die Energiewende beschlossen. Wir haben
uns vorgenommen, in nur wenigen Jahren die Energieversorgung unseres Landes auf eine neue, andere Basis
zu stellen. In unseren Gebäuden, egal ob in privater oder
öffentlicher Hand, werden 40 Prozent der Primärenergien verbraucht. Die Stadtentwicklung muss in Zukunft
zur Senkung des Primärenergieverbrauchs in den Gebäuden beitragen. Sie muss dabei einen entscheidenden
Beitrag leisten. Dieser Verantwortung haben wir uns gestellt, und diese Chance haben wir mit dem Programm
„Energetische Stadtsanierung“ genutzt.
Es gibt weitere Bereiche, in denen wir uns neu ausrichten müssen. Abgesehen von der Notwendigkeit eines
energetischen Umbaus und der Berücksichtigung des
demografischen Wandels müssen wir auch das
Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen
megaurbanem und ländlichem Raum ausgleichen. Das
müssen die Schwerpunkte der zukünftigen Städtebauförderungsprogramme sein. Ich glaube auch, dass eine
energetisch-dynamische Stadtentwicklung den Blick
weg vom Einzelgebäude hin zum Quartier richten muss.
Das ist ganz wichtig, wenn wir unsere Klimaschutzziele
erreichen wollen. An dieser Stelle macht der Einsatz
öffentlicher Mittel Sinn. Er ist effizient, er verringert den
bürokratischen Aufwand, und er schafft nachhaltige
Lösungen.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, liebe Kolleginnen von
den Linken, dass gute Nachbarschaft, sozialer Zusammenhalt, reges Vereinsleben, kulturelle Vielfalt usw.
Ausdruck funktionierender Städte, Gemeinden und
Quartiere sind. Ich muss Ihnen einmal ganz ehrlich
sagen: Genau das setzen wir um. Das wird gefördert.
Dennoch sind die Prozesse dynamisch. In den vergangenen Tagen konnten Sie Bilder von Studenten sehen,
die eine Wohnung suchen, die keinen günstigen Wohnraum finden. Auch hier besteht Handlungsbedarf, und
zwar im Interesse aller Wohnungssuchenden. Die soziale
Wohnraumförderung ist Ländersache. Wir erwarten von
den Ländern, dass der Bundeszuschuss eins zu eins in
den sozialen Wohnraum fließt und nicht für andere haushalterische Maßnahmen in den Länderhaushalten genutzt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 630 Millionen Euro
für das Wohngeld - das sind 34 Millionen Euro mehr als
im letzten Jahr -; 455 Millionen Euro, seit drei Jahren
verstetigt, für Stadtentwicklungsmaßnahmen; 1,5 Milliarden Euro für die CO2-Gebäudesanierung, verstetigt
bis 2014; 100 Millionen Euro für das Programm „Energetische Stadtsanierung“. Ehrlich gesagt, das ist für mich
moderne Stadtentwicklungspolitik.
({9})
Genau diese Politik werden wir in der Zukunft fortsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das
Wort die Kollegin Daniela Wagner.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kollegin Müller, die einzige Aussage in Ihrer Rede, der
man zustimmen kann, war, dass der Bund in der Tat
darauf achten muss, dass die Länder die Mittel für den
sozialen Wohnungsbau ausgeben. Darum haben wir ja
auch den Bauminister gebeten. Damals, im Jahr 1999,
haben wir mit dem neuen Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ in vielen Stadtteilen in ganz Deutschland
drohende oder bereits in Gang gesetzte Abwärtsspiralen
stoppen können. Es gab sichtliche bauliche Verbesserungen für die Menschen: neue Spielplätze, renovierte
Schulen, neue Gemeinwesenzentren, Stadtteilbibliotheken.
Aber eine Stadt besteht eben nicht nur aus ihren
Gebäuden, aus ihren Wohnungen und aus dem Sand auf
ihren Spielplätzen, sondern sie besteht auch aus den
Menschen, die dort wohnen, arbeiten und leben, die
täglich das Leben dort gestalten. Deswegen haben wir
damals in dieses Programm die Möglichkeit aufgenommen, Handlungen in diesen Stadtteilen anzustoßen, die
Identifikation stiften. Das waren damals die nichtinvestiven Maßnahmen. Soziale und professionelle Netzwerke
und bürgerliches Engagement zur Stärkung von Integration und einem fairen Zugang zu Bildung und Teilhabe
an Kultur konnten damit gefördert werden.
({0})
Das alles haben Sie geschleift. Sie haben das Programm nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu
seinem Nachteil verändert.
({1})
Erst der lagerübergreifende Protest aus allen Städten hat
Sie überhaupt dazu veranlasst, in den letzten beiden
Haushalten, dem Haushalt 2012 und dem Haushalt 2013,
noch ein bisschen nachzulegen.
({2})
Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle bei Ihrer Linie bleiben.
({3})
Sie müssen jetzt nur noch die gegenseitige Deckungsfähigkeit wiederherstellen und die Diskriminierung des
Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ innerhalb der
Städtebauförderung beseitigen. Vor allen Dingen müssen
Sie sicherstellen, dass die Städte ihren Eigenanteil aufbringen können.
({4})
Freiheit ist das, was im Moment herrscht, nicht, Herr
Kollege Götz. Es ist keine Freiheit, zum Beispiel die
nichtinvestiven Maßnahmen selber zu finanzieren. Viele
Städte können nicht einmal mehr den investiven Anteil
tragen.
Sie müssen die Einschnitte rückgängig machen. Denn
die soziale Spaltung in unseren Städten und Gemeinden
verschärft sich. Das hat eine Difu-Studie ganz klar
belegt. Die, die in diesen Stadtteilen übrig bleiben, die
nicht wegziehen können, sind genau diejenigen, die am
Ende des Tages dringend unsere Unterstützung brauchen. Wir dürfen diese Stadtteile nicht sich selbst überlassen. Diese Stadtteile sind überfordert. Wir müssen sie
dauerhaft und nachhaltig erhalten und ihnen helfen, und
zwar nicht mit einem Strohfeuer, nicht mit jährlichem
Investitionsrisiko, bei dem die Städte am Ende sagen:
Wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt, also
lassen wir besser die Finger davon.
({5})
Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ hat hervorragende Arbeit geleistet, auch und gerade mit den
nichtinvestiven Maßnahmen und mit der Förderung der
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen der Stadtverwaltung: Sozialverwaltung, planende
Verwaltungsbereiche, Bildungsbereiche. Das ist wichtig,
und das muss fortgesetzt werden, sowohl bei den Ländern als auch beim Bund. Denn anders wird es nicht
gehen. Ohne den interdisziplinären Ansatz dieses
Programms wird die Förderung im Grunde als Strohfeuer verbrennen.
Deswegen wollen wir die Anhebung der Mittel für die
Städtebauförderung, für das Bund-Länder-Programm
„Soziale Stadt“ auf das Niveau von vor drei Jahren,
nämlich auf 105 Millionen Euro. Wir wollen die
Deckungsfähigkeit mit allen anderen Programmen der
Städtebauförderung wiederherstellen. Vor allen Dingen
müssen die nichtinvestiven Maßnahmen wieder zugelassen werden.
Außerdem wollen wir ein Programm zur energetischen Sanierung
({6})
von Quartieren mit einem hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte anregen. Das betrifft viele Gebiete
des Programms „Soziale Stadt“. Hier muss das Ziel sein,
zu einer warmmietenneutralen energetischen Sanierung
zu kommen; denn diese Menschen können sich hervorragend sanierte Wohnungen, bei denen die Sanierungskosten mit 11 Prozent umgelegt wurden, nicht mehr leisten.
Sie werden sozusagen heraussaniert. Deswegen brauchen wir ein besonderes Programm für diese Stadtteile.
Anders werden wir die sozialen und ökologischen
Schieflagen in unseren Städten nicht in den Griff bekommen.
Wir, der Bund, haben eine klare Mitverantwortung für
die Entwicklung in unseren Städten und Wohnquartieren. Da kann man nicht sagen: Das ist doch Ihre Sache.
Machen Sie doch etwas. - Das ist auch unsere Sache.
Das ist auch Sache der Länder. Wir müssen das gemeinsam anpacken.
({7})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Volkmar Vogel als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte erst einmal Folgendes feststellen: Wenn man von Sozialstaat
spricht, dann denken alle an Rentenversicherung, an Arbeitslosenversicherung, an Sozialhilfe. Aber keiner
denkt eigentlich an das berühmte Dach über dem Kopf.
({0})
Ich glaube, das Dach über dem Kopf und lebenswerte
Städte sind die größte soziale Errungenschaft, die wir in
unserem Lande haben. Es muss auch ein bisschen Zeit
sein, denen zu danken, die dafür gesorgt haben. Es ist
nicht die SPD an erster Stelle. An erster Stelle sind es
die, die vor Ort im Rahmen der Wohnungswirtschaft als
private Immobilienbewirtschafter, als Wohnungsunternehmen, als kommunale Unternehmen dafür sorgen,
dass unsere Städte im Großen und Ganzen bei aller Kritik und bei allen Problemen, die es gibt, in einem sehr
guten Zustand sind.
({1})
Wenn man das weltweit, also auch mit anderen großen
Industrienationen, vergleicht, dann zeigt sich: Das kann
sich sehen lassen.
Natürlich haben ihren Beitrag geleistet die Kommunen, die Länder, in deren Zuständigkeit einige dieser
Dinge liegen, und auch der Bund, der seit mittlerweile
40 Jahren die Städtebaufördermittel kontinuierlich zur
Ausreichung bringt.
Ja, „Soziale Stadt“ ist gut. Aber „Soziale Stadt“ ist
nur dann gut, wenn auch tatsächlich sozial wirkende
Investitionen im Vordergrund stehen ({2})
Investitionen ins Wohnumfeld, in die soziale Infrastruktur und auch in lebenswerte Wohnungen. Genau da
bauen wir nicht ab. Einen solchen Abbau zu verhindern,
ist die Aufgabe, die uns, dem Bauausschuss, zusteht. Die
Mittel, die auch in diesem Jahr für investive Zwecke zur
Verfügung stehen, haben mindestens die Höhe, die schon
in den vergangenen Jahren zur Verfügung gestanden hat.
Eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Als 1998
die SPD gemeinsam mit den Grünen in die Verantwortung kam, ist es ihr nicht gelungen, das Programm
„Soziale Stadt“ tatsächlich zu verzahnen. Peter Götz hat
es anschaulich dargestellt. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Städtebauförderung
sprechen, dann müssen wir vor allen Dingen darüber
sprechen, welche Herausforderungen in der Zukunft vor
uns stehen werden. Das sind zwei wesentliche Dinge:
Das eine ist der demografische Wandel, und das andere
ist die Energiewende, die auch im Gebäudebereich eine
wichtige Rolle spielt. Es waren wir, die dafür gesorgt haben, dass der Stadtumbau Ost und der Stadtumbau West
mit einem hohen Anteil weitergeführt werden. Es waren
wir, die sich auch in der Fläche darum gekümmert
haben, dass für kleine Städte und Gemeinden die Möglichkeit besteht, eine gemeinsame Infrastruktur zu entwickeln. Wir fördern das mit einem entsprechenden Programm.
Gerade im Stadtumbau sind weitere Maßnahmen
notwendig. Wir haben die Zwischenberichte zum Stadtumbau Ost, und wir haben den Zwischenbericht zum
Stadtumbau West. Wir werden in den nächsten Jahren
große Anstrengungen unternehmen müssen, um hier
voranzukommen. Wir stellen uns dieser Aufgabe in vielfältiger Hinsicht.
Demografischer Wandel heißt, da, wo es notwendig
ist, Rückbau zu unterstützen. Demografischer Wandel
heißt aber auch Umbau, der den neuen Bedingungen der
Menschen entspricht. Außerdem heißt demografischer
Wandel Aufwertung, etwa was soziale Infrastruktur angeht. Auch hier sieht man die Verknüpfung mit anderen
Programmen, wie zum Beispiel mit dem Programm „Soziale Stadt“.
({3})
Die Energiewende wird im Gebäudebereich - das
wissen wir alle - eine sehr große Rolle spielen. Ich
möchte an dieser Stelle sagen: Wenn wir von insgesamt
555 Millionen für die Städtebauförderung sprechen,
dann müssen wir auch noch darüber sprechen, dass jedes
Jahr 1,5 Milliarden für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm zur Verfügung stehen, ein großer Teil davon für
unsere Gebäude, für unsere Immobilien, die es energetisch zu ertüchtigen gilt.
Nun spreche ich besonders die Opposition an: Wenn
es um die Energiewende und die Bereitstellung finanzieller Mittel geht, fordere ich Sie auf: Springen Sie endlich über Ihren Schatten und sprechen Sie mit den Verantwortlichen in den Bundesländern, in denen Sie an der
Regierung beteiligt sind,
({4})
Volkmar Vogel ({5})
um dafür zu sorgen, dass wir im Hinblick auf die energetische Sanierung auch die Möglichkeit von Sonderabschreibungen auf den Weg bringen.
({6})
Der Vorschlag von Ministerpräsident Kretschmann ist
zwar nicht ganz neu; er stellt aber zumindest eine gute
Basis für weitere Verhandlungen dar, wenngleich es aus
unserer Sicht notwendig ist, hier noch etwas zu tun, um
auch privates Kapital zu heben.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: 40 Jahre Städtebauförderung, das ist eine gute Sache.
({8})
Sie gilt es fortzuführen, allerdings immer den jeweiligen
Bedingungen entsprechend. Ich rufe die Kollegen von
der Opposition auf: Unterstützen Sie uns, wenn es darum
geht, neue Programme zu entwickeln und alte Programme weiterzuentwickeln, und zwar den Bedingungen, die uns der Wohnungs- und der Immobilienmarkt
vorgeben, und den Bedürfnissen der Menschen entsprechend.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10999 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/8199. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6444 mit dem Titel
„40 Jahre Städtebauförderung - Erfolgsmodell für die
Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? - Die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine Enthaltungen.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6447 mit dem Titel „Städtebauförderung auf hohem Niveau verstetigen,
Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - SPD und Linke.
Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensmittelverluste reduzieren
- Drucksache 17/10987 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Ursachen der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln wirksam bekämpfen
- Drucksache 17/10989 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter
Bleser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir
eine große Freude, hier und heute miterleben zu dürfen,
dass sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema Lebensmittelverschwendung befasst und in einem fraktionsübergreifenden Antrag gleiche Ziele definiert. Ich
halte das für ein sehr wichtiges Signal, das die öffentliche Debatte beflügeln und dabei helfen wird, dieses
Thema mitten in die Gesellschaft zu tragen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auf jeder
Stufe der Warenkette werden Lebensmittel weggeworfen. In Deutschland rechnen wir mit 11 Millionen Tonnen pro Jahr.
({0})
Dies ist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht vereinbar. Die Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung von
Nahrungsmitteln beansprucht nämlich eine große Menge
natürlicher Ressourcen, die dadurch für andere Nutzungen nicht zur Verfügung stehen. Sie verursachen natürlich auch Kosten für die Gesellschaft.
({1})
Es ist daher ein Gebot der Verantwortung gegenüber
der Weltbevölkerung und den kommenden Generationen, Lebensmittelverluste so weit wie möglich zu reduzieren.
({2})
Das ist in einer Gesellschaft, die sich an Überfluss, an
eine breite Auswahl und an die ständige Verfügbarkeit
von Lebensmitteln gewöhnt hat, nicht einfach. Etwas,
was man immer hat, wird weniger geschätzt. Das gilt
auch für andere gesellschaftliche Bereiche.
Wir brauchen mehr Wertschätzung für die Mittel zum
Leben. Insofern bin ich froh, dass unsere Ministerin
Aigner schon vor einiger Zeit mit der Kampagne „Jedes
Mahl wertvoll“, mit der Initiative „IN FORM“ und auch
mit der Kampagne „Zu gut für die Tonne“ damit begon-
nen hat, entsprechende Hinweise zu geben und damit die
Gesellschaft auf dieses Problem hinzuweisen. Die Kam-
pagne „Zu gut für die Tonne“ bündelt zahlreiche Aktivi-
täten, die in diesem koalitionsübergreifenden Antrag
richtigerweise angesprochen werden.
Sowohl die Europäische Union als auch die Bundes-
ministerin haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020
die vermeidbaren Lebensmittelabfälle um die Hälfte zu
reduzieren. Ich meine, dieses ambitionierte Ergebnis
lässt sich nur in einem gesellschaftlichen Bündnis aus
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und natür-
lich Verbrauchern erreichen.
Wichtig ist uns die Information der Verbraucherinnen
und Verbraucher a) über die Möglichkeit der Abfallver-
meidung und b) zur Sensibilisierung für die Wertschätzung von Lebensmitteln. Dazu gehören natürlich Wissen
und auch praktische Tipps, die unsere Eltern und Großeltern vielleicht noch eher kannten als viele Angehörige
jüngerer Generationen. Es geht um nützliches Wissen
und praktische Tipps für den Umgang mit Lebensmitteln
und um die Berücksichtigung dieses Wissens und dieser
Tipps schon beim Einkauf, bei der Lagerung und natürlich bei der Verarbeitung in der Küche, also bei der Nahrungsmittelzubereitung.
Wir haben die Internetseite www.zugutfuerdietonne.de geschaltet, die sehr stark nachgefragt wird und
für die es auch eine App gibt. Hier werden Tipps von
Sterneköchen
({3})
dafür preisgegeben, wie man aus vermeintlichen Abfällen, also mit Lebensmittelresten, tolle Speisen zubereiten
kann. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass in
meiner Jugend gerade Speisen aus Resten am besten geschmeckt haben. Bis heute liegt mir noch sehr viel an
Restesuppen, wie wir immer gesagt haben. Das waren
sehr schmackhafte Gerichte.
({4})
- Liebe Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich glaube, wir
haben hier den gleichen Erfahrungsschatz.
Außerdem gilt es natürlich, gemeinsam mit den Tafeln und Slow Food durch öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen auf die Rettung von Lebensmitteln aufmerksam zu machen. In Bremerhaven wird noch im
Herbst die erste Veranstaltung dazu stattfinden.
Aber auch bei unseren Kindern müssen wir ansetzen,
und wir müssen ihnen Wertschätzung vermitteln. Dazu
hat unsere Ministerin am 3. Oktober 2012 den Schülerwettbewerb „ECHT KUH-L“ gestartet, der in diesem
Schuljahr die Lebensmittelverschwendung thematisiert.
Ich hoffe auch, dass in so mancher Küche über unsere
alltägliche Verwendung und oft auch Verschwendung
von Lebensmitteln diskutiert wird. Ich glaube, nur so
werden wir ein Umdenken erreichen, das letztlich erst in
den Köpfen der Menschen herbeigeführt werden muss
und dann auch zu praktischem Handeln führen kann.
({5})
Wir dürfen natürlich nicht nur auf die privaten Haushalte setzen. Deswegen hat das BMELV in den vergangenen Monaten erste Gespräche auch mit Herstellern,
dem Handel und Großverbrauchern geführt. Diese Gespräche werden mit dem Ziel fortgesetzt, konkrete Beiträge aller Akteure zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung zu leisten.
Im Frühjahr nächsten Jahres soll dieser Prozess mit
einem runden Tisch abgeschlossen werden. Von allen
Beteiligten werden bis dahin konkrete, überprüfbare
Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle in
ihrem Verantwortungsbereich erwartet.
Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und
Ressourcen zu schonen. Das geht uns alle an. Dieses
Thema ist für jeden wichtig. Jeder ist gefragt, und jeder
ist gefordert. Am Schluss dieser Debatte sage ich noch
einmal: Ich freue mich, dass wir bei diesem Thema einen
so tollen Konsens in diesem Haus haben. Ich denke, es
ist auch eine Botschaft an die Bevölkerung, dass wir uns
hier nicht nur streiten, sondern bei Themen, bei denen
wir einen Konsens haben, auch gemeinsam handeln können. Auch diese Kampagne ist von Erfolg gekrönt, weil
wir zusammenstehen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira DrobinskiWeiß von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, was lange
währt, wird endlich gut, nicht wahr, Herr Staatssekretär?
({0})
Nun haben wir es doch geschafft, einen gemeinsamen
Antrag mit Maßnahmen gegen die Verschwendung von
Lebensmitteln auf den Weg zu bringen. Das ist ein gutes
Signal. Denn mit dem Wegwerfen genießbarer LebensElvira Drobinski-Weiß
mittel werden ungeheure Ressourcen verschwendet
- Arbeitskraft, Energie, Wasser, Rohstoffe, ländliche
Fläche -, die in armen Ländern dringend benötigt würden, um den Hunger vor Ort zu bekämpfen. Damit hat
dieses Thema nachhaltige und ethische Dimensionen,
denen wir nur dann gerecht werden können, wenn wir
alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Insofern war es
uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr
wichtig, dass wir hier einen gemeinsamen Antrag auf
den Weg bringen konnten.
({1})
Auch wenn in einem gemeinsamen Antrag nicht alle
Vorschläge zu 100 Prozent untergebracht werden können
und Kompromisse gemacht werden müssen, ist das, was
wir heute hier vorlegen, so denke ich, eine gute Grundlage.
Bisher stand allerdings vor allem das Verhalten der
Verbraucher im Fokus der Maßnahmen gegen die Lebensmittelverschwendung. Das reicht nicht aus, Herr
Staatssekretär; denn beim verschwenderischen Umgang
mit Lebensmitteln handelt es sich um ein systemisches
Problem, dessen Ursache in einem nicht nachhaltigen
Umgang auf allen Produktionsstufen liegt.
({2})
- Vielen Dank.
Zwar müssen wir als Verbraucherinnen und Verbraucher unser Konsumverhalten und unsere Ansprüche an
Vielfalt, frische Optik und ständige Verfügbarkeit von
Lebensmitteln hinterfragen. Dazu gehört aber auch, dass
Verbraucher besser darüber informiert werden, welche
sozialen und ökologischen Folgen die Erfüllung dieser
Ansprüche hat und welchen Wert Lebensmittel wirklich
haben.
({3})
Die mangelnde Wertschätzung ist nicht nur bei Verbrauchern ein Problem. Wo Wegwerfen billiger und
leichter für alle Anbieter als die Weiterverwertung ist,
braucht man nach Wertschätzung nicht zu fragen.
Die Konzentration im Handel verschärft die Situation; denn im Kampf um Marktanteile sind Niedrigstpreise für Lebensmittel die Waffe, mit der Konkurrenten
vom Markt gedrängt werden und unter der Zulieferer
und Erzeuger zu leiden haben. Auch die Ansprüche an
Optik und Verarbeitungsfähigkeit üben Druck auf die Erzeuger aus und führen zum Aussortieren und zu unnötigen Abfällen bereits bei der Ernte. Dieser Umgang mit
Lebensmitteln ist ethisch, sozial und ökologisch nicht
vertretbar.
({4})
Unser Antrag ist auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgerichtet. Die Verschwendung von Lebensmitteln kann nur eingedämmt werden, wenn alle Beteiligten
- alle! - ihren Beitrag leisten. Auch die Landwirtschaft,
die Ernährungsindustrie und der Handel müssen stärker
Verantwortung übernehmen. Diese Einsicht scheint sich
jedoch noch nicht überall in der Branche durchgesetzt zu
haben.
So hatte zum Beispiel die vom Agrarministerium in
Auftrag gegebene Studie der Universität Stuttgart wegen
fehlender Auskunftsbereitschaft auf neue Zahlen aus
Handel und Industrie verzichten müssen. Hier, so meinen wir, braucht es mehr Kooperationsbereitschaft und
mehr Transparenz, um nachvollziehen zu können, wo
wie viel Lebensmittelabfälle anfallen.
Uns allen ist bewusst, dass im Zeitalter der Globalisierung, in einer immer weiter vernetzten Welt, die Wertschöpfungsketten immer länger werden. Damit gibt es
zwischen Produzenten und Verbrauchern immer mehr
Zwischenhändler, Logistiker, Verpackungs- und Lagerungsspezialisten und immer mehr Wege, auf denen
brauchbare Ware, brauchbare Lebensmittel aussortiert
und weggeworfen werden.
Zudem gibt es immer alles und überall: Erdbeeren aus
China, Mangos aus Indien und Äpfel aus Amerika - und
das alles das ganze Jahr über. Die Lebensmittel müssen
teilweise weit reisen, um zu uns, zum Verbraucher, zu
gelangen. Kürzere Wertschöpfungsketten und der Einkauf von regionalen und saisonalen Produkten sind deshalb auch gute Maßnahmen gegen die Lebensmittelverschwendung. Dabei sind nicht nur die Verbraucher
gefragt, sondern auch die Gastronomie, Großküchen und
Kantinen.
20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel - Herr
Staatssekretär, ich habe bei dieser Zahl ein paar Tonnen
mehr, als Sie genannt haben - wandern in Deutschland
jährlich auf den Müll. Statistisch gesehen wirft jeder von
uns jedes Jahr 235 Euro in den Abfall. Jedes fünfte Brot
wird weggeworfen. Trotzdem haben wir über 300 verschiedene Brotsorten in den Regalen der heimischen Bäckereien und Läden. Und bis zum Ladenschluss wird das
komplette Sortiment vorgehalten, um dem Kunden auch
noch nach 20 Uhr die volle Auswahl bieten zu können.
Was übrig bleibt, wird weggeworfen.
Der Bischof von Caesarea, Basileus, hat einmal gesagt: Das Brot, das ihr verderben lasst, das ist das Brot
der Hungernden. - Das ist ethisch, sozial und ökologisch
unverantwortlich. Deshalb bin ich froh, dass wir heute
hier gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen, erste
Schritte gehen, um diese Verschwendung einzudämmen
und zu einem achtsamen Umgang mit Lebensmitteln zurückzufinden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein gemeinsamer Antrag macht es vielleicht
möglich, den persönlichen Zugang zu einem Thema in
einer Rede hier im Bundestag darzustellen.
Als ich die Aufgabe des Vorsitzenden in meinem
Lieblingsausschuss übernahm, habe ich mir überlegt:
Was willst du eigentlich als Akzent setzen in der Funktion, in der Rolle, die du jetzt hast? Mir war es ganz besonders wichtig, herauszustellen, dass wir heute enorm
global mit allem vernetzt sind - die Erdbeeren aus
China, die hier unglücklicherweise ankamen, sind dafür
ein besonderes Beispiel -, dass es aber auch darum geht,
dass man immer wieder die Vernetzung zwischen der
globalen Situation und dem ganz persönlichen Verhalten
deutlich macht.
Jeder, der sich damit ein bisschen beschäftigt, kommt
sehr schnell dahinter, dass es ein Thema gibt, das uns bewegen muss, das uns in die ethische Verantwortung
nimmt: Das ist das Thema der Lebensmittelverschwendung. Das ist ein Synonym dafür, dass bei uns Lebensmittel viel zu billig sind und dass wir es eigentlich mit
einem Begriffsirrtum zu tun haben; denn sehr viele Menschen empfinden die Lebensmittel nicht als wesentliche
Mittel für ihr Leben.
Deswegen haben wir vom Ausschuss nach diesen Erkenntnissen, die wir gemeinsam hatten, wie der Antrag
belegt, als Erstes eine Reise nach Afrika gemacht, nicht
eine Vergnügungsreise, sondern eine Arbeitsreise. Wir
wollten dahin fahren, wo die größte Gruppe von Menschen Hunger leidet. Angesichts der Weltbevölkerung ist
das eine unvorstellbar große Zahl: Von 7 Milliarden
Menschen hungern 1 Milliarde Menschen.
Als die Kollegen aus Afrika wiederkamen, haben wir
gefragt: Was bringen Sie uns mit? Dabei stellten wir fest,
dass der Hunger auch etwas damit zu tun hat, dass in diesen Ländern die Lagerbedingungen schlecht sind, dass in
diesen Ländern die Transportbedingungen schlecht sind.
All das sind Gründe dafür, dass es nicht zu einer vernünftigen Lebensmittelverwendung kommt.
Wir haben dann eine weitere Reise nach China gemacht. Die Chinesen waren enorm stolz darauf, dass sie
in der Lage waren, ihr 1,3-Milliarden-Volk zu ernähren,
weil sie sich darüber im Klaren waren, dass Hungerkonflikte sehr schnell zu kriegerischen Konflikten führen
können.
Dann gab es eine Veranstaltung von Greenpeace hier
in unmittelbarer Nachbarschaft. Bei dieser Veranstaltung
hat eine junge Frau aus Österreich erzählt, wie die Zahlen in Österreich sind. Ich habe mich daraufhin gefragt:
Warum haben wir eigentlich keine Zahlen? Wir haben
uns dann gemeinsam auf den Weg gemacht, um diese
Zahlen zu beschaffen.
Eines Tages tauchte der Film „Taste the Waste“ auf.
In Papenburg, meiner Heimatstadt, habe ich einen Kinosaal angemietet. 500 junge Menschen, 500 Schüler, sind
gekommen. Als der Film zu Ende war, ist etwas eingetreten, was ich sehr selten erlebt habe. Tief bewegte
junge Menschen kamen auf mich zu und fragten mich:
Wie können Sie eigentlich als Politiker damit leben, dass
wir diese unendlich großen Mengen wegwerfen, während in der Welt Menschen verhungern?
Wir haben daraus den Schluss gezogen - gemeinsam
den Schluss gezogen -, den wir mit dem heute vorliegenden Antrag zum Ausdruck bringen. Er setzt darauf,
die gesamte Kette ins Auge zu fassen und daraus die
richtigen Schlüsse zu ziehen, wie wir an jeder einzelnen
Stelle - von Afrika bis in den Kühlschrank, bis auf den
Teller - die Dinge so entwickeln können, dass wir zu einer Minimierung des Wegwerfens kommen, dass wir zu
einer viel, viel besseren Situation kommen.
Kernvoraussetzung dafür ist Bildung, Information
und Wissen um die Dinge. Wir haben in Deutschland im
Moment eine riesige Chance, uns in besonderer Weise
mit dem Thema zu beschäftigen, weil sich die Familienstruktur verändert. Heute gehen Kinder relativ früh in
außerhäusliche Bildungseinrichtungen, ob es Kindergärten oder Schulen sind. Viele dieser Schulen machen sich
auf den Weg, Kantinen einzurichten. Diese Kantinen
sind häufig nicht unbedingt das, was man unter einem
klugen Bildungsangebot in den Schulen versteht. Sie
sind häufig nicht mit dem unterrichtlichen Tun vernetzt,
wo in Erfahrung gebracht wird: Wo kommt das Produkt
her? Wie muss es bearbeitet werden? In welcher Menge
muss es eingesetzt werden, damit es auch zu einer vernünftigen Verwendung dieses Produktes kommt?
Wir wissen natürlich auch, dass die Dinge zum Teil
sehr kompliziert sind. Gerade das jüngste Beispiel mit
den Erdbeeren aus China hat gezeigt, welche Streuung
solche Themen heute erfahren. Da hatten auf einmal
Tausende von jungen Menschen Durchfall bzw. ein Enteritisproblem. Das gab es aber keineswegs nur in Nordrhein-Westfalen. Nein, das gab es auch in Thüringen und
Sachsen-Anhalt. Im Grunde gab es das überall.
Wenn man nicht weiß, wo die Ursachen für solche
Probleme liegen, kann man die Dinge nicht korrigieren.
Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir über die gesamte
Palette - über den Forschungsbedarf, das Mindesthaltbarkeitsdatum, Aufklärungskampagnen, Vermarktungsstrukturen in der EU und über Wertschätzung - nachdenken.
Am Anfang hatte ich gesagt, dass es eine globale Verantwortung gibt. Es gibt aber auch die lokale. Vor einiger
Zeit habe ich auf Mallorca ein bisschen Urlaub gemacht.
Ich stellte, als ich relativ spät den Speisesaal verließ,
fest, dass die gesamte Palette auf dem Büfett noch vorhanden war. Meine Tochter hat in einem Hotel gearbeitet. Zwei Minuten vor zehn hat sich ein Gast furchtbar
darüber beschwert, dass bestimmte Artikel des Programms nicht mehr da waren.
Ich frage: Was machen wir selbst? Sagen wir dann
auch einmal: „So muss das nicht sein; ich bin im Grunde
genommen auch zufrieden, wenn ich, weil ich später gekommen bin, nicht mehr alles geboten bekomme“? Ich
habe es schon ein paarmal gesagt: Ich finde es tief blamabel, dass, wenn bei den Veranstaltungen, die bei uns
in der Parlamentarischen Gesellschaft abends stattfinden, Anmeldungen für 40, 50 oder 60 Kollegen eingehen, aber nur 15 erscheinen, dann weggeworfen wird auf
Teufel komm raus. Ich finde, wir sollten da bei uns selbst
anfangen und das umsetzen, was in diesem Antrag steht.
Dann sind wir auf einem guten Weg.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Binder von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bleser, Sie
möchten gerne Lebensmittelverluste reduzieren, um
Himmels Willen aber nicht mit der Linken zusammen,
obwohl es ein gemeinsames Anliegen ist und wir auch
mitgearbeitet haben.
({0})
Aber deshalb haben wir dann noch einen eigenen Antrag
auf den Weg gebracht, um zu Ihrem Antrag vielleicht
noch ein paar zusätzliche Ideen beizusteuern. Denn wir
gehen davon aus, dass die Ursachen der Lebensmittelvernichtung in Deutschland sehr vielfältig sind.
({1})
In erster Linie sind sie ein Problem der Nahrungsmittelindustrie und des Handels. Echte Wertschätzung für
unsere Lebensmittel bleibt leider auf der Strecke, wenn
Dumpingpreise und Lockvogelangebote den Takt angeben.
({2})
Das regionale Lebensmittelhandwerk wie Bäcker
oder Metzger kann da auch nicht mehr mithalten.
In den ärmeren Ländern dieser Erde entstehen Verluste aus der alltäglichen Not heraus. Erntemaschinen,
Lagerhaltung oder die Infrastruktur fehlen, um Produkte
zu ernten oder auf den Markt zu bringen. Ernten werden
vernichtet, nicht nur durch Klimakatastrophen. Jeder
Krieg verhindert oder zerstört Ernten.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass multinationale
Lebensmittelkonzerne aus den Wohlstandsländern die
Märkte dieser armen Länder mit unseren Abfällen und
Billigprodukten überschwemmen und damit den heimischen Anbau und die Produktion von Nahrungsmitteln
verdrängen oder langfristig sogar zerstören. Das ist für
die Linke nicht hinnehmbar.
({3})
Dagegen ist hierzulande Lebensmittelvernichtung ein
Problem des Überflusses. Hersteller und Handel geben
den Takt an. Bauern bleiben auf ihren Erzeugnissen sitzen, da sie nicht den Normvorgaben der Industrie entsprechen.
({4})
Wer nicht die passende Größe, Form oder Farbe liefern
kann, kann seine krummen Gurken oder zu kleinen oder
zu großen Kartoffeln wieder unterpflügen, da sie zur maschinellen Weiterverarbeitung nicht taugen.
Die Produktion von Halbfertig- oder Fertigprodukten
läuft maschinell. Sie sollen billig und haltbar sein. Deshalb sind auch viele Füll- und Zusatzstoffe drin.
Strategien zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung müssten auch dieses systembedingte Problem aufgreifen. Insofern ist der Antrag „Lebensmittelverluste reduzieren“ der vier anderen Fraktionen etwas
enttäuschend. Es handelt sich um wohlfeile Lippenbekenntnisse nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber
mach mich nicht nass“: Verbraucher müssten nur richtig
mit Lebensmitteln umgehen lernen, dann landete auch
nichts auf dem Müll. Da sollen ein offener Dialogprozess eingeleitet und die Verbraucher verstärkt informiert
werden. Verantwortliche in Industrie und Handel sollen
aufgefordert werden; ein Innovationswettbewerb soll
eingeleitet werden, aber: keine Verbindlichkeit, keine
Verpflichtung, keine klaren Vorgaben. Frau Aigner
dürfte sehr zufrieden sein, denke ich. Damit fällt nämlich
in dieser Wahlperiode keine Arbeit mehr an.
Die Linke hingegen fordert wirksame Maßnahmen,
um der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln zu begegnen: Die Regierung muss die Halbierung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelabfällen
bis 2020 verbindlich vorgeben. Große Lebensmittelunternehmen sollten verpflichtet werden, ihre Stoffbilanz
offenzulegen, um die Wirksamkeit ihrer Vermeidungsstrategien überprüfbar zu machen.
({5})
Für Waren wie Obst, Gemüse, Brötchen und Eier
muss es neben den Mehrfachgebinden immer auch den
Stückverkauf geben. Güteklassen und industrielle Vermarktungsnormen für Waren wie Obst und Gemüse sind
aufzuheben.
Statt Exportförderung für die Industrie brauchen wir
eine konsequente Förderung des ökologischen Anbaus
und regionaler Erzeugung. Das haben wir auch in der
Haushaltsberatung deutlich gemacht.
Es gibt noch viele Forderungen, die Sie unserem Antrag entnehmen können, aber auf eine möchte ich noch
ausdrücklich eingehen: Wir brauchen eine Umkehr der
Rechtslage. Das Containern, also das Fischen nach essbaren Lebensmitteln im Müll, darf nicht länger als Straftat verfolgt werden.
({6})
Stattdessen muss das verantwortungslose Wegwerfen bei
Herstellern und im Handel geahndet werden, meine Damen und Herren.
Jetzt danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche einen schönen Abend.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Nicole Maisch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen heute auf Grundlage eines fast fraktionsübergreifenden Antrags nichts weniger als eine Lebensstil- und
Wertedebatte. Ich finde es gut, dass Union und FDP, die
sich sonst solchen Lebensstildebatten ja nicht so gerne
nähern ({0})
ich denke an die Frage des Fleischkonsums -, sich gemeinsam mit uns und anderen starken gesellschaftlichen
Akteuren wie den Tafeln, Slow Food, den Kirchen ganz
vorne dabei, auf den Weg gemacht haben, diese Diskussion zu führen.
({1})
Wir wissen nicht erst seit dem letzten Bericht unserer
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“: Unser Ressourcenverbrauch übersteigt das
Leistungsvermögen des Planeten, und durch reine Effizienzsteigerung in der Produktion ist dies nicht aufzufangen. Das macht sich exemplarisch an der Frage der
Nahrungsmittelproduktion fest. Wenn global ein Drittel
und in den reichen Ländern bis zur Hälfte der Lebensmittel im Müll landen, dann können wir uns natürlich
bemühen, im Agrarbusiness Innovationen einzuführen;
wir können effizienter werden. Aber wenn gleichzeitig
9 Milliarden Menschen satt werden wollen, wird es uns
nicht gelingen, diese Lücke zu schließen. Was wir an Effizienzsteigerung hereinholen, wird uns auf der anderen
Seite durch Verschwendung und durch den größeren Bedarf wieder weggegessen.
({2})
Wenn wir also in Zukunft satt werden wollen, müssen
wir uns mit dem Thema Nahrungsmittelverschwendung
befassen. Wir wollen hier als Abgeordnete des Ernährungsausschusses keine Welle der Empörung reiten und
das Thema dann, wenn wir ein paar Schlagzeilen abgegriffen haben, wieder zu den Akten legen, sondern wir
haben intensiv in Anhörungen, in langen Diskussionen
im Ausschuss ein politisches Programm erarbeitet. Es
geht uns um nichts weniger als um eine gesellschaftliche
Debatte darüber, wie viel wir als Individuen und wie viel
wir als Gesellschaft von den knappen Ressourcen, die
unser Planet bereithält, für uns in Anspruch nehmen
wollen.
Unser Antrag sagt es klar und deutlich: Angesichts
1 Milliarde hungernder Menschen, angesichts schon
existierender und in Zukunft drohender Knappheiten
sind die Verluste entlang der gesamten Produktions- und
Handelskette und die Verschwendung im Privathaushalt
aus ethischer und ökologischer Sicht nicht akzeptabel.
({3})
Wir haben als gemeinsames Ziel formuliert - der
Staatssekretär hat es ganz am Anfang gesagt -, bis 2020
die Zahl der vermeidbaren Lebensmittelverluste zu halbieren. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel, und deshalb
ist es gut, dass sich der gesamte Bundestag - auch die
Linke hat sich ja zu diesem Ziel bekannt - hinter dieser
Zielmarke versammelt.
Es gibt noch einige Dinge, die im fraktionsübergreifenden Antrag nicht zu unserer vollständigen Zufriedenheit niedergelegt sind, obwohl es ein sehr guter Antrag
ist. Deshalb möchte ich diese Punkte hier doch noch einmal nennen, weil ich glaube, dass sie zu der Debatte über
Lebensmittelverluste dazugehören.
Erstens. Wir brauchen eine tiefer gehende Analyse des
Systems der Nahrungsmittelproduktion. Wir müssen uns
fragen: Wie ist es dazu gekommen, dass Nahrungsmittel
zu Wegwerfprodukten werden? Hat das vielleicht etwas
damit zu tun, dass wir Milch billiger als Mineralwasser
verramschen? Hat es etwas damit zu tun, dass man das
Kilo Schweinefleisch für 3 Euro bekommt und dass die
externen Kosten eben nicht auf dem Kassenzettel auftauchen, sondern die Umwelt- und sozialen Kosten auf andere Menschen und die Natur abgewälzt werden?
({4})
Deshalb sagen wir: Die Neuordnung der Agrarsubventionen auf europäischer Ebene ist eine gute Möglichkeit,
um sich für Klasse statt Masse einzusetzen. Wir setzen
nicht mehr auf billig, sondern wir setzen auf besser.
({5})
Zweitens. Es ist eine schwierige politische Aufgabe,
der wir uns aber stellen müssen, neue Formen des Teilens und Tauschens zu ermöglichen. Wer von Ihnen in
kleinen Orten wohnt, der weiß: Wenn die Zucchini reif
sind, dann verschenkt man sie an die Nachbarn; wenn
die Pflaumen reif sind, gibt man den Korb an Freunde
und Verwandte weiter. In Großstädten ist das gar nicht so
einfach mit dem Teilen und Tauschen. Deshalb haben
sich Leute aufgemacht, im Internet Plattformen - die
nennt man heute Food-Sharing Platforms - zu organisieren.
({6})
Hier stellt sich die Frage für uns in der Politik: Müssen
diese Plattformen reguliert werden?
({7})
Ich würde sagen, da begegnen sich Bürger wie früher am
Gartenzaun, die die Zucchini rübergeben und die Eier
entgegennehmen. Leider ist das Ministerium anderer
Meinung. Dort ist man der Meinung, dass solche Plattformen ähnlich wie Lebensmittelunternehmen reguliert
werden sollen. Wir sind der Meinung: Wenn sich Bürger
begegnen, um etwas zu tauschen, dann muss der Staat
nicht unbedingt übermäßig regulieren.
({8})
Der dritte Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist - das hat
der Ausschussvorsitzende angesprochen, was ich sehr
gut finde - das Thema Schulernährung. Wenn wir etwas
im Hinblick auf die Wertschätzung für unsere Lebensmittel ändern wollen, dann dürfen wir die Kinder nicht
abfüttern, sondern dann müssen sie gutes Essen kriegen.
Wenn große Caterer heute 50 Cent an Rohstoffkosten für
ein Schulmittagessen ausgeben, dann ist das Abfüttern;
dann ist das kein gutes Essen. Damit lernen Kinder nicht
Wertschätzung für Lebensmittel.
({9})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das mache ich; das ist mein letzter Satz.
Wir Abgeordnete haben den ersten Teil unserer Arbeit
geleistet: Wir haben nach langen Diskussionen im Ausschuss und einer Anhörung ein verbindliches Reduktionsziel und ein umfassendes Maßnahmenpaket verabschiedet. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug.
({0})
- Herr Bleser, Sie haben uns an Ihrer Seite. Wenn es uns
zu langsam geht, haben Sie uns dann auch im Nacken.
Deshalb wünsche ich mir, dass Sie schnell Maßnahmen
auf den Weg bringen. Ich denke, inhaltlich sind wir uns
in weiten Teilen einig.
({1})
Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Carola Stauche von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute, wie schon gesagt wurde, einen gemeinsamen Antrag von Grünen,
SPD und den Regierungsfraktionen. Eigentlich weist
schon das darauf hin, welche Bedeutung wir dem Thema
Lebensmittelverschwendung und den damit verbundenen Lebensmittelverlusten beimessen. Uns allen ist es
wichtig, so wenig Lebensmittel wie nur irgend möglich
in der Versorgungskette zu verlieren. Das möchte ich
hier noch einmal ausdrücklich betonen. Hierfür gibt es
ökonomische, ökologische, aber vor allen Dingen ethische Gründe. Dies wurde auch schon gesagt.
Es darf nicht sein, dass nach Schätzung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO 1 Milliarde Menschen auf der Welt hungern und gleichzeitig
in der EU 89 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle im
Jahr verursacht werden. Allein in Deutschland - es
wurde vorhin schon in Geld beziffert - sind es, um dies
einmal zu verdeutlichen, pro Bürger 81,6 Kilogramm
Lebensmittel, die wir als Müll verursachen. Es gilt also
nicht nur international zu fragen, ob wir es uns tatsächlich leisten können, Lebensmittel zu verschwenden.
Ausdrücklich lobe ich hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages die Arbeit der vielen Ehrenamtlichen
bei den Tafeln.
({0})
Das kann nicht oft genug geschehen. Sie fahren landauf,
landab Supermärkte ab und sammeln Lebensmittel für
Arme ein, die noch gut sind, aber nicht mehr verkauft
werden können. Sie haben seit vielen Jahren regen Zulauf. Es gibt auch in Deutschland noch bedürftige Menschen, die sich ohne Hilfe nicht ausreichend oder vernünftig ernähren können. Der sozialpolitische Aspekt
dessen gehört diskutiert, allerdings nicht heute in dieser
Debatte. Ohne die Einsatzbereitschaft der Tafeln und der
vielen Ehrenamtlichen würde noch viel mehr Essen im
Eimer landen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tafeln
sind aktiv im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung. Weltweit versuchen Menschen, diesen Wegwerfirrsinn zu stoppen. Die Bundeslandwirtschaftsministerin
Ilse Aigner hat nach dem Film „Taste the Waste“ quer
durch die Gesellschaft eine breite Debatte angestoßen
und die Menschen für das Thema Lebensmittelverschwendung sensibilisiert. Politiker aller Parteien sind
sich einig: Lebensmittelverschwendung ist ein Problem,
und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieses Problem
zu lösen. Viele kleine Schritte können bewirken, dass
wir unser Ziel erreichen, Lebensmittelverschwendung
um die Hälfte zu reduzieren.
Doch welche Wege führen aus der Wegwerffalle?
Vieles zu den Ursachen und Lösungswegen wurde heute
bereits gesagt. Das ist auch gut; denn oberste Priorität
müssen Information und Aufklärung haben. Das muss
bei den Kleinsten anfangen und darf bei den Älteren
nicht aufhören. Der verantwortungsvolle Umgang mit
Lebensmitteln muss Tag für Tag neu gelernt werden. Nur
so gelingt es uns, das Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln wieder in die Köpfe der Menschen zu
bekommen. Nur so können wir in unserer Überflussgesellschaft abhandengekommenes Alltagswissen zum
Umgang mit Lebensmitteln langfristig und erfolgreich
zurückgewinnen. Diese Kompetenzen im Umgang mit
Lebensmitteln müssen von klein auf erlernt werden. Hier
müssen wir die Länder, die ja für die Bildung zuständig
sind, in die Pflicht nehmen.
Nachdem insgesamt 11 000 Kinder - vermutlich aufgrund verkeimter Erdbeeren aus China - Magen-DarmErkrankungen erlitten haben, fragen sich viele, warum
unsere Kita- und Schulkinder im Herbst Erdbeeren aus
China bekommen. Ich will dazu nur so viel sagen: Es
gibt hervorragende Kitas und Schulen, die die Verpflegung der Kinder mit Ernährungsbildung verknüpfen.
Das ist der richtige Ansatz. Dann lernen die Kinder nämlich, dass im Herbst Äpfel, Birnen und Pflaumen auf den
Bäumen wachsen.
({1})
Wenn sie dann noch das Obst fürs Frühstück selbst geschnippelt haben, werden sie eine ganz andere Einstellung zum Essen bekommen.
Unsere Landfrauen leisten mit dem Ernährungsführerschein sehr gute Arbeit. Sie haben das Wissen, und sie
haben den Willen, uns bei der Ernährungsbildung zu helfen. Wir sollten dieses Wissen einbeziehen.
({2})
Die Einstellung zu Lebensmitteln muss sich ändern.
Der Verbraucher ist natürlich nur ein Glied in der Kette;
er ist nicht allein für dieses hohe Ausmaß der Lebensmittelverschwendung verantwortlich. Wir können ihn aber
auch nicht außen vor lassen; denn er ist besonders anspruchsvoll: In der Regel will er nämlich nur einwandfreie Produkte kaufen, und das möglichst zu jeder Tagesund Nachtzeit. Manche gehen mitten in der Nacht zur
Tankstelle und kaufen dort Brötchen oder Tiefkühlpizza;
das ist heute eine Selbstverständlichkeit.
Ich erlebe selbst jeden Tag, dass viele Mitbürger Lebensmittel nicht mehr wertschätzen; schließlich gibt es
ja genug davon, und sie wachsen ja nebenan in der Kaufhalle und sind preiswert. Wir wissen nicht erst jetzt, dass
dem nicht so ist.
Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist der
im Antrag geforderte offene Dialogprozess, der eingeleitet werden soll, um eine Strategie zur Reduzierung der
Lebensmittelverschwendung zu entwickeln. Über den
Weg des Dialogs muss es uns gelingen, die Wertschätzung für Lebensmittel zu erhöhen und dadurch die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Ich möchte das
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wissen.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern den
mündigen Verbraucher, der gut informiert selbst entscheidet, was er konsumieren möchte und, vor allem,
was nicht. Die Aufklärung, die ich beschrieben habe,
spielt bei dem Thema Lebensmittelverluste eine wesentliche Rolle.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Lebensmittelindustrie und -handel sind ebenso
in der Pflicht, Lebensmittelverluste zu minimieren. Angefangen beim Mindesthaltbarkeitsdatum über das Verfütterungsverbot tierischer Proteine bis hin zu praktikableren Verpackungsgrößen ist hier vieles aufgezählt. Die
Gastronomie könnte mit kleineren Schnitzeln einen Beitrag leisten. Deshalb fordern wir einen Ideenwettbewerb
zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen.
Meine Damen und Herren, ich möchte es nicht versäumen, mich bei Ministerin Aigner, dem Staatssekretär
und ihrem Hause für ihren Einsatz zu bedanken.
({0})
Dadurch hat das Thema Lebensmittelverschwendung in
der öffentlichen Wahrnehmung den Stellenwert bekommen, den es verdient.
({1})
- Ich danke Ihnen. - Nur wer sich traut, kann gewinnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/10987 mit dem Titel „Le-
bensmittelverluste reduzieren“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller
anderen Fraktionen ist der Antrag angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10989 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Aufnahme menschenverachtender Tatmotive als besondere
Umstände der Strafzumessung ({0})
- Drucksache 17/9345 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuchs ({1})
- Drucksache 17/8131 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/11061 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Jörg van Essen-
Halina Wawzyniak-
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({4}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-
folgen
- Drucksachen 17/8796, 17/11061 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Jörg van Essen-
Halina Wawzyniak-
Jerzy Montag
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sind
Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetz-
buchs - „Aufnahme menschenverachtender Tatmotive
als besondere Umstände der Strafzumessung“. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11061, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/9345
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Zustimmung der SPD-Fraktion und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD zur Änderung des Strafgesetzbuchs. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11061, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8131 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Zustimmung der SPD-Fraktion und Enthaltung der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Auch hier
entfällt die weitere Beratung.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/11061
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8796 mit
dem Titel „Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-
folgen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und Enthaltung von SPD und Linken.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes
- Drucksachen 17/10042, 17/10124 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5})
- Drucksache 17/11019 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Alois Gerig-
Gustav Herzog-
Dr. Erik Schweickert-
Alexander Süßmair-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhaltungsanbau
- Drucksachen 17/7845, 17/8612 Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigGustav HerzogDr. Erik SchweickertAlexander SüßmairHarald Ebner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/
CSU-Fraktion.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland ist
ein wirtschaftlich starkes Land. Dies liegt am Fleiß und
Grips unserer Mitbürger, an der Innovationskraft unserer
Unternehmen und natürlich auch an der richtigen politischen Führung.
({0})1) Anlage 6
Deutschland ist ein schönes Land. Dies liegt an der
vielfältigen, bunten Kulturlandschaft und den Menschen,
die diese bewirtschaften und pflegen.
Damit dies auch in Zukunft so bleibt, verbessern wir
zum Beispiel mit der Änderung des Weingesetzes die
Rahmenbedingungen für die Winzer und die deutsche
Weinwirtschaft. Derzeit ist die Weinlese in vollem
Gange. Es wird von einer leicht unterdurchschnittlichen
Erntemenge, dafür aber aufgrund des schönen Spätsommers von einem qualitativ sehr guten Jahrgang ausgegangen. Dies ist nach einem Jahr mit vielen Frostschäden eine sehr erfreuliche Situation für die Branche.
Lassen Sie uns heute für eine weitere gute Nachricht
sorgen, indem wir gemeinsam den Gesetzentwurf zur
Änderung des Weingesetzes beschließen.
Mit den Änderungen nutzen wir im Rahmen der europäischen Weinmarktordnung unsere nationalen Spielräume, um das Bezeichnungsrecht für Wein zu präzisieren. Durch die zusätzlichen Angaben auf dem Etikett
können deutsche Weine im Wettbewerb mit in- und ausländischen Produkten noch stärker an Profil gewinnen.
Die Angaben zu Anbaugebiet und Lage haben beim
Kauf von Wein schon immer eine gewichtige Rolle gespielt. Die neuen differenzierten Bezeichnungen helfen
dem Käufer, das Produkt seiner Wahl noch besser zu finden.
Viele Verbraucher greifen zunehmend sehr bewusst
zu Nahrungsmitteln mit eindeutiger Herkunft,
({1})
weil diese in der unübersichtlichen anonymen Warenwelt vertrauenswürdiger sind. Mit dem Kauf von Produkten regionaler Herkunft können unsere Bürger einen
Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten und gezielt die heimische Erzeugung und somit auch den Erhalt
der liebgewonnenen Kulturlandschaft stärken. Dieser
Trend ist zu begrüßen und wird durch die vorliegende
Gesetzesänderung unterstützt.
({2})
Wichtig ist, dass wir nicht nur neue Bezeichnungen
schaffen, sondern auch die Qualität fördern. Die Länder
können für Weine, die aus kleineren geografischen Einheiten oder einer Steil- oder Terrassenlage stammen,
strengere Qualitätsanforderungen festlegen, beispielsweise hinsichtlich der zugelassenen Rebsorten oder des
zulässigen Hektarertrags. Damit bieten wir die Möglichkeit und Gewähr, die spezielle Wertigkeit dieser Weine
zu erhöhen. Die Käufer werden dadurch motiviert, die
notwendigen höheren Preise zu akzeptieren.
({3})
Derzeit bedeutet Steillagenweinbau für die Winzer
nämlich harte körperliche Arbeit und leider häufig auch
nicht kostendeckende Erträge. An Mosel sowie an Main,
Tauber und Neckar wird deutlich, dass der dortige Weinbau diesen Regionen eine besondere landschaftliche Prägung verleiht und sie sehr attraktiv für den Tourismus
macht. Hier sehe ich noch deutliche Zukunftspotenziale.
Leider liegt der Erhalt des Steillagenweinbaus nicht
allein in unserer Hand. Wichtig ist, dass sich die Bundesländer weiterhin engagieren. Ebenso wichtig ist, dass in
der Europäischen Union der bestehende Anbaustopp für
Reben verlängert wird.
Der Anbaustopp hat für den Weinbau in Deutschland
eine große Bedeutung. Eine Aufhebung würde unweigerlich zu einer Ausdehnung der Rebflächen in einfach
zu bewirtschaftenden Flachlagen und damit zu einer Produktionssteigerung führen. Die Folge: Die Preise und
damit die Einkommen der Winzer kämen vermutlich
massiv unter Druck, und unsere überwiegend kleinen
und mittelständischen Unternehmen wären schnell in ihrer Existenz bedroht.
Ich bitte deshalb die Bundesregierung, ihren richtigen
Kurs beizubehalten und sich in Brüssel weiterhin massiv
für die Verlängerung des Anbaustopps einzusetzen. Dies
liegt im Interesse der deutschen Weinbauern und unserer
Bevölkerung.
Eine weitere wichtige Zukunftsaufgabe - auch für
den deutschen Weinbau - ist es, einen besseren Schutz
gegen zunehmende Wetterextreme zu erreichen. Hagel,
Sturm, Spätfrost und Starkregen häufen sich infolge des
Klimawandels und können für existenzbedrohende Produktionsverluste sorgen. Bei der Absicherung gegen
diese Risiken dürfen deutsche Winzer nicht gegenüber
europäischen Wettbewerbern benachteiligt werden.
Aus diesem Grund bin ich dafür, die Mehrgefahrenversicherungen steuerlich genauso zu behandeln wie die
Hagelversicherungen. Bei der Änderung des Versicherungsteuergesetzes sollten wir die Steuersätze so festlegen, dass Winzer, Bauern und auch Gärtner ermuntert
werden, Eigenvorsorge zu betreiben, um sich selbst gegen witterungsbedingte Risiken absichern zu können.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutsche Weinwirtschaft erzeugt qualitativ hochveredelte
Produkte, die für ein gutes Stück Lebensqualität stehen.
Darüber hinaus leisten die Winzer einen wertvollen Beitrag zum Erhalt der Kulturlandschaft und für den Tourismus in den Anbaugebieten.
Wohl wissend, dass auf europäischer Ebene weitere
wichtige Entscheidungen anstehen, sollten wir heute unseren Beitrag für positive Rahmenbedingungen in der
deutschen Weinwirtschaft leisten und den vorliegenden
Gesetzentwurf gemeinsam beschließen.
Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit auch weiterhin
fröhliche Weinfeste gefeiert werden und wir weiterhin
hübsche Weinköniginnen krönen können.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Gustav
Herzog das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute hat es im Plenum, hier an
diesem Rednerpult, eine ganze Reihe heftigster politischer Auseinandersetzungen gegeben; über Fragen der
Europa-, Finanz-, Energie- und Rentenpolitik ist heftig
gestritten worden. Aber schon beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt - bei der Frage, wie wir mit Lebensmittelverlusten umgehen - haben wir bewiesen, dass es
möglich ist, hier im Deutschen Bundestag nicht nur einen Kompromiss zu finden, sondern auch einen Konsens. So ist es gut, dass wir auch hier, beim Thema Wein,
einen Konsens gefunden haben.
Nun darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass
es beim Weinrecht immer so friedlich zugeht. Ich kann
mich daran erinnern, dass es in Zeiten, in denen wir die
Hektarhöchsterträge eingeführt haben, stundenlange Debatten und heftige Auseinandersetzungen gab. Aber das
ist schon einige Jahre her. Ich glaube, wir haben damals
den Mut bewiesen, ein vernünftiges Regelwerk zu etablieren, und leben heute von den Früchten, die wir damals gesät haben.
Ich habe heute Abend gleich zu Beginn einige gute
Nachrichten. Zunächst zitiere ich aus der Zeitschrift
Pfälzer Bauer: „Jahrhundertweine sind beim 12er möglich“.
({0})
- Aber daraus habe ich zitiert. Andere haben das, Kollege Schweickert, sicherlich auch zutreffend beschrieben. - Auch die Mengen sprechen dafür, dass sowohl die
Erzeuger als auch wir, die Kunden, über die Runden
kommen. Die Preise sind für die Erzeuger auskömmlich
und für die Kunden leistbar.
Ich sage das, weil wir beim Wein schon ganz andere
Zeiten erlebt haben, beispielsweise als die Mengen vagabundiert und die Preise abgestürzt sind. Die Politik hat
dafür gesorgt, dass in diesem Bereich Ruhe eingekehrt
ist. Heute wollen wir die Rahmenbedingungen der Vermarktung weiter verbessern.
Die heutige zweite und dritte Lesung des Siebten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes bietet die Gelegenheit, zwei, drei grundsätzliche Dinge zu sagen. Wir
haben mit der Überführung des eigenen Regelwerkes in
die gemeinsame Marktordnung vor einigen Jahren einen
großen Schritt getan, nicht immer mit Beifall aus diesem
Haus. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Politik europäisches Recht vernünftig in nationales Regelwerk übersetzt hat. Mein Vorredner hat schon die vielen Möglichkeiten angeführt, die das Bezeichnungsrecht heute mit
sich bringt.
Wir waren hier im Deutschen Bundestag immer gut
beraten, die Länder intensiv in die Diskussion mit einzubeziehen; denn nicht nur die Länder, sondern auch die
Weinanbaugebiete weisen eine große Vielfalt auf, die
sich im Wein widerspiegelt und ein besonderes Qualitätsmerkmal des deutschen Weines ist.
({1})
Eine Ursache dieser Vielfalt liegt darin - auch da stimme
ich dem Kollegen Gerig zu -, dass wir, was die Pflanzrechte angeht, ein sehr strenges Regelwerk haben, wir es
also nicht zulassen wollen, dass die Weinrebe nur dort
angepflanzt wird, wo die Kapitalverwertung am besten
möglich ist, sondern dass sie Teil der Kulturlandschaft
bleibt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, allein im
Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes wurden neunmal die Bezeichnungen „Prädikatswein“, „Qualitätslikörwein b. A.“ und „Qualitätsperlwein b. A.“ eingefügt. Ich sage das deshalb, weil
damit deutlich wird, wie hochkompliziert und wie verrechtlicht dieser Bereich geworden ist. Es ist kein Steckenpferd der Politik - wir finden keine innere Freude
daran -, die Sachen besonders kompliziert zu machen.
Vielmehr haben wir in der Debatte zu dieser Weingesetzänderung viele Anregungen aus der Weinwirtschaft bekommen, von den Verbänden, den Genossenschaften,
den Kellereien; auch einzelne Winzer haben sich an
mich gewandt. Jeder hatte einen Wunsch oder die Empfehlung, dies oder jenes in das Weingesetz aufzunehmen.
Ich glaube, wir waren gut beraten, dass wir als Berichterstatter für das Weingesetz insgesamt gesagt haben:
Verständigt euch weitestmöglich in der Weinwirtschaft,
klärt das erst einmal unter euch, und dann sind wir gerne
bereit, diese Vorschläge auch in unsere Willensbildung
mit einzubeziehen.
Es hat sich in einer großen Anhörung, die wir zu dem
Weingesetz gemacht haben, gezeigt, dass auch die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Verbände diesen Weg
und das Ergebnis für richtig halten.
Wir haben uns dann in einem Berichterstattergespräch
den Gesetzentwurf noch einmal sehr detailliert vorgenommen. Daher kann ich sagen: Weil das Struck’sche
Gesetz zur Anwendung kommt, werden wir auch hier
dem Änderungsgesetz zustimmen. Wir haben aus einem
brauchbaren Gesetzentwurf der Bundesregierung einen
guten Gesetzentwurf gemacht, dem es sich auch zuzustimmen lohnt.
({2})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Professor
Dr. Erik Schweickert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die gute
Ernte sind schon einige Worte verloren worden. Ich
möchte auch für die Zuhörer darstellen, dass es hier
nicht um eine kleine Nische geht. Über 50 000 Genossenschaftswinzer, über 20 000 Weingüter, über 200 Winzergenossenschaften in verschiedenen Arten und über
200 Wein- und Sektkellereien sind in Deutschland in
diesem Bereich tätig. Viele Familien sind also davon abhängig, wie wir unsere Entscheidung heute treffen.
Ich möchte dem Kollegen Herzog, aber natürlich auch
dem Kollegen Gehrig zustimmen: Wir haben es über die
Fraktionen hinweg geschafft - so stellen es sich viele
Zuhörer auch vor -, darüber zu diskutieren und auch Anregungen der Länder aufzunehmen, um hier gemeinsam
einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Ich muss mit mir selber ein bisschen ins Gericht gehen. Ich komme aus der Weinwirtschaft. Mein Opa hat
früher immer von Schrott gesprochen, wenn es um
Dinge ging, die die Politik beschlossen hat, und hat über
das Weingesetz geschimpft. Aber ich muss sagen: Wenn
es heute schiefgeht, dann ist daran definitiv nicht die
Politik schuld. Denn wir haben die Anregungen aus dem
Berufsstand aufgenommen und für die Betriebe zum
Beispiel die Berücksichtigung von Jungwein bei der
Umrechnung vereinfacht. Ich möchte Ihnen verdeutlichen, dass es bei „g.g.A.“ und „g.U.“ nicht um einen
Rap, der hier in Berlin produziert wurde, geht, sondern
um bezeichnungsrechtliche Eigenschaften.
Wir werden den Ländern nun bei kleineren herkunftsgeschützten Angaben die Freiheit einräumen, ihre eigenen
Möglichkeiten im Bereich der Rebsorten, des Hektarertrages, des Mindestalkoholgehaltes und des Restzuckergehaltes zu nutzen. Das heißt, wir kommen weg, wie es in
Deutschland bisher immer der Fall war, von der Qualität
im Glase und hin zur Ursprungsbezeichnung, wie es in
vielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien schon lange Tradition ist.
Wenn man sich vor Augen hält, dass wir in Deutschland ungefähr 35 Prozent eigenen Wein trinken - 65 Prozent der Weine, die in Deutschland getrunken werden,
kommen aus dem Ausland -, dann wird klar, dass die
Winzer bei Aldi & Co. im Wettbewerb stehen. Denn
80 Prozent werden über den Lebensmitteleinzelhandel
und nur 20 Prozent ab Weingut vermarktet. Dann wird
uns bewusst, dass wir die Basis dafür schaffen müssen,
dass sich die Winzer in diesem Wettbewerb behaupten
können.
({0})
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund, dass
bei einem Einkauf im Supermarkt im Prinzip in drei Sekunden die Entscheidung zwischen Rotwein, Weißwein
und Preis gefällt wird, müssen wir den Winzern Möglichkeiten geben, hier aktiv zu werden. Das machen wir.
Denn die Länder wissen vor Ort besser, welche regionale
Besonderheit sie besonders schützen und im Marketing
besonders hervorheben können.
Ich möchte allerdings auch ganz klar sagen: Dieses
Gesetz birgt eine große Chance für die Weinwirtschaft.
Aber sie muss auch genutzt werden. Insofern appelliere
ich an die Länder, dieses Gesetz nicht nur limitativ zu
nutzen, also den Hektarertrag extrem einzugrenzen, sondern profilbildend zu wirken und Profile auf den Markt
zu bringen, unter denen sich der Verbraucher etwas vorstellen kann.
Allein die Region Rioja mit über 60 000 Hektar - in
Deutschland wird auf insgesamt 102 000 Hektar Wein
angebaut - oder die Region Chianti mit 24 000 Hektar
stehen jeweils für einen einzigen Weinstil, und trotzdem
kann jedes Weingut machen, was es will. Es hat sich allerdings diesem Profil und dieser Stilistik zu unterwerfen, wenn es diesen Wein produziert. Das sind Chancen
auf dem Markt. Aber natürlich muss ich auch die Möglichkeit haben, diese Weine zu erzeugen. Deswegen
mein Appell: Wir sollten in diesem Bereich nicht nur
limitative Möglichkeiten nutzen, sondern insbesondere
profilbildende.
({1})
Wir haben in der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf
klargemacht, dass wir, wenn wir möchten, dass das Rebflächenmanagement erhalten bleibt - dazu stehen alle
Fraktionen im Deutschen Bundestag -, auch dafür sorgen müssen, dass das Rebflächenmanagement auf europäischer Ebene erhalten bleibt. Dann dürfen keine nationalen Freiräume genutzt werden; denn dafür ist die
Weinwirtschaft ein zu großes Haifischbecken. Wer
meint, als Winzer in einem Haifischbecken Goldfisch
spielen zu müssen, der darf sich nicht wundern, wenn er
gefressen wird. Deswegen müssen wir alle, die wir hier
sitzen, uns dafür einsetzen, dass das Rebflächenmanagement auf europäischer Ebene erhalten bleibt. Wir wissen
alle, dass das nicht so einfach gehen wird wie in den Jahren zuvor, dass die Regelung nicht einfach verlängert
werden wird. Wir müssen schauen: Wo gibt es Kompromissmöglichkeiten? An welcher Stelle kann man mit flexibleren Regelungen entgegenkommen? Im Grundsatz
muss der Beschluss aber erhalten bleiben.
({2})
Ich sage auch: In diesem Bereich können wir als
Fraktionen einiges tun. Wir haben das Parlamentarische
Weinforum, in dem wir seit Jahren fraktionsübergreifend
gut zusammenarbeiten. Wenn ich aber sehe - das sage
ich auch an die Adresse des Präsidiums, nicht nur an die
Adresse der Fraktionen und der Regierung -, was für
Produkte bei Veranstaltungen der Bundesrepublik
Deutschland, der Fraktionen oder bei Parlamentarischen
Abenden manchmal ausgeschenkt werden,
({3})
dann muss ich sagen: Es liegt auch an uns. Wir entscheiden nicht nur heute Abend über die Rahmenbedingungen
der Weinwirtschaft, sondern wir können auch mit anderen Entscheidungen, die wir treffen, unsere Weinwirtschaft unterstützen und zeigen, dass wir zu ihr stehen.
Wir können sagen: Jawohl, wir haben in Deutschland
eine gut ausgebildete Weinwirtschaft. Wir haben beste
Voraussetzungen: eine gute Wasserverfügbarkeit, tolle
Böden, eine hohe Tag-Nacht-Amplitude, die Aromen
bringt. Wir können auch durch solche Entscheidungen
zu den Produkten stehen, die die Weinwirtschaft nach
unseren Regeln erzeugt. In diesem Sinne können wir den
Winzern sagen: Zum Wohl!
Herzlichen Dank.
({4})
Kollege Schweickert, den Hinweis auf das Präsidium
habe ich nicht ganz verstanden. Hier oben - damit das
auch für die Zuhörer klar ist - wird weiter Wasser gereicht. Das mit dem Wein verschieben wir auf einen späteren Zeitpunkt.
({0})
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich muss Ihre Anregung gleich aufnehmen. Mir kommt jetzt wohl die Rolle
zu, etwas Wasser in den Wein zu gießen.
({0})
- Ja, leider. Das kann ich Ihnen nicht ersparen.
Wir befassen uns heute mit dem Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung des Weingesetzes und mit einem Antrag meiner Fraktion zum Erhalt
von einheimischen Rebsorten. Einige der Änderungen,
die die Regierung beim Weingesetz vornehmen will, finden auch wir von der Linken sinnvoll, zum Beispiel die
Anpassung von Begrifflichkeiten und Formulierungen
an das EU-Recht. Allerdings steckt der Teufel, wie so
oft, im Detail.
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP haben einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bundesregierung eingebracht. Darin sind zwei Punkte enthalten, die wir von der Linken kritisieren:
Erstens. Laut Ihrem Änderungsantrag wollen Sie es
den Bundesländern ausdrücklich untersagen - jetzt wird
es fachlich -, eigene strengere Festlegungen für die
Hangneigung in herkunftsgeschützten, kleineren geografischen Einheiten zu treffen. Das ist falsch; denn gerade
im Weinbau ist die sogenannte Steillage prägend. Sie
bewahrt die Kulturlandschaft.
({1})
Nicht zu vergessen ist der Wert für den Tourismus.
Weinbau in Steillagen ist aber kostenintensiver als der
Weinbau in Flachlagen. Gerade deshalb sollten Steillagen besonders gefördert und geschützt werden können.
Wir sind der Meinung: Wenn Bundesländer mit einem
großen Anteil von Gebieten mit Steillagen, wie zum Beispiel an der Unstrut, der Nahe oder dem Main, schärfere
Regelungen treffen wollen, dann sollen sie dies auch
dürfen. Deshalb lehnen wir diese Änderung ab.
({2})
Zweitens. Sie beantragen eine Erhöhung der Anzahl
der Sitze des Aufsichtsrats des Deutschen Weinfonds
und eine Erhöhung der Anzahl der festen Mitglieder der
Winzereigenossenschaften von eins auf zwei. So weit, so
gut. Aber gleichzeitig machen Sie es durch eine Veränderung der Zusammensetzung des Aufsichtsrates so gut
wie unmöglich, dass Mitglieder der Verbraucherschutzorganisationen im Aufsichtsrat vertreten sind.
Kollege Süßmair, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Schweickert?
Er kann sich am Ende meiner Rede zu einer Kurzintervention melden, aber jetzt nicht.
Also nicht.
Eine der Hauptaufgaben des Deutschen Weinfonds ist
die Erschließung und Pflege des Weinmarktes. Es sind
doch die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die der
Wein produziert wird. Deshalb haben wir im Ausschuss
beantragt, dass mindestens zwei Mitglieder des Aufsichtsrates Vertreter der Verbraucherschutzorganisationen sein müssen und dass auch die Anzahl der Verbraucherschützer im Verwaltungsrat erhöht wird. Diesen
Antrag haben die Regierungsfraktionen abgelehnt. Das
zeigt einmal mehr, welchen Stellenwert Verbraucherschutz für Sie hat. Die Linke jedenfalls möchte die
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken.
({0})
Abschließend möchte ich über den Antrag der Linken
zum Erhalt der einheimischen Rebsorten sprechen. Fast
zwei Drittel der Weinbaubetriebe in Deutschland verfügen nur über maximal 1 Hektar Landfläche. Wenn diese
Winzerinnen und Winzer alte Rebsorten anbauen wollen,
die nicht registriert sind, müssen sie für die Zulassung
zum Teil mehrere Tausend Euro zahlen, und das, bevor
auch nur eine einzige Flasche verkauft ist. Nebenerwerbswinzer können sich diese Kosten kaum leisten.
Staatliche Institute haben zwar auch Weinstöcke seltener
oder alter Sorten, aber teilweise nur drei Stück. Wir finden, das ist zu wenig.
({1})
Alle reden über Biodiversität, also Artenvielfalt; aber
wenn es konkret wird, dann ist plötzlich Schluss mit der
Förderung von Vielfalt. Die Linke aber meint: Biodiversität und Erhaltungsanbau brauchen Wertschätzung und
Unterstützung.
({2})
Wir alle wissen: Auch Wein aus Deutschland hat einen
guten Ruf. Tun wir als Gesetzgeber alles, damit es auch
so bleibt!
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Schweickert das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Süßmair, man kann natürlich die Position vertreten, dass man es den Bundesländern offenlässt, strengere Festlegungen in Bezug auf die
Hangneigung zu treffen. Aber stimmen Sie mit mir darin
überein, dass allein der Hinweis auf den höheren Arbeitsaufwand in der Steillage nicht geeignet ist, den Verbraucher, den Sie gerade in den Mittelpunkt gestellt haben, zu überzeugen? Denn wenn der Verbraucher von
dieser Mehrarbeit keinen Mehrwert hat, dann wird er
nicht dafür zahlen.
Die Originalität der Steillage besteht darin, dass sie
eine bessere Wasserverfügbarkeit hat. Wir alle wissen,
dass es eher eine Wasserrennbahn ist, wenn die Steillage
zu steil ist. Dann rinnt das Wasser herunter, und es wird
weniger gespeichert. Bei den Graden, die jetzt im Gesetz
stehen, gibt es eine optimale Reflexion von Nachtwärme
und besserer Aromabildung. Ich möchte einfach bitten,
dass wir mehr über die Qualität, die uns die Steillage liefert, und nicht über den Arbeitsaufwand, der dahintersteckt, sprechen. Er ist zwar vorhanden und muss entlohnt werden, er wird aber nur dann entlohnt, wenn der
Verbraucher etwas davon hat. Das ist nur dann der Fall,
wenn genau diese Charakteristika, die man jetzt mit der
Eigenschaft g.U. erheben kann, vom Verbraucher wahrgenommen werden.
({0})
Zur Erwiderung hat der Kollege Süßmair das Wort.
Sehr verehrter Kollege Schweickert, ich habe dazu
eine andere Position. Sie sagen, dass der Verbraucher bereit ist, mehr zu zahlen, wenn er Wein mit einer besseren
Qualität bekommt. Mit dem Fachlichen kennen Sie sich
wahrscheinlich besser aus als ich. Aber Sie müssen erklären, warum Sie meinen, dass unsere Vorstellung in
diesem Zusammenhang nicht gerechtfertigt ist. Sie wissen auch, dass die Europäische Union es so definiert hat,
dass eine Förderung erst ab 30 Prozent möglich ist. Das
gilt natürlich für die gesamte EU.
Gerade wir in Deutschland haben sehr viele Regionen, zum Beispiel bei mir im Bayerischen, im Fränkischen, in denen es zahlreiche Steillagen gibt. Wir sind
der Meinung, dass es nicht allein um die Bezahlung des
Aufwands der Menschen, die die Steillagen bewirtschaften, geht, sondern - das habe ich gesagt - dass es auch
um den Erhalt einer besonderen Form der Kulturlandschaftspflege geht, also um den Aufwand, der betrieben
wird, um zum Beispiel einen Mehrwert für die Landschaft und den Tourismus zu erreichen.
Sie werden mir auch zustimmen, wenn ich sage: Wir
haben auf europäischer Ebene - Sie haben das angesprochen - Debatten über die Aufhebung der Pflanzrechte.
Andere Länder wollen in der Tiefe und in den Flachlagen in die größere Produktion gehen. Wenn wir weiterhin rechtfertigen wollen, dass die Steillage etwas Besonderes ist, und wenn wir sie fördern und erhalten
möchten, und zwar auch für die Kulturlandschaft und für
den Tourismus, dann finde ich es sehr wohl angebracht,
dass man dies dem Verbraucher klarmacht, wenn die entsprechenden Bundesländer es wollen. Wenn die Menschen zum Beispiel einen Ausflug in ein schönes Tal, ob
an der Mosel oder sonst wo, machen und die Steilhänge
sehr schön finden, müssen sie wissen, dass wir dies langfristig nur erhalten können, wenn wir genau diese Form
des Kulturanbaus schützen. Interessanterweise ist die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrats hierauf eingegangen. Sie hat
in Bezug auf § 24, der unter anderem die Beschränkung
der zugelassenen Rebsorten, den Alkoholgehalt und dergleichen beinhaltet, unter Punkt 1 die Hangneigung hineingeschrieben. Sie bestätigt also die Position der Linken.
({0})
Deshalb finde ich es durchaus korrekt, dass wir es den
Bundesländern überlassen wollen.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Markus Tressel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jenseits der schönen Weinfeste und der noch schöneren
Weinköniginnen hat der Weinbau auch wichtige Funktionen in anderen Bereichen. Er stärkt die regionale
Wertschöpfung, er schafft Arbeitsplätze auf dem Land,
und er fördert den Tourismus. Das ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Unsere Aufgabe als Politik
ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass dies
auch weiterhin gewährleistet wird. Die Winzerinnen und
Winzer in Deutschland haben unsere Unterstützung verdient. Ich glaube, das wird auch deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Ich bin froh darüber, dass uns heute ein Gesetzentwurf vorliegt, der die Rahmenbedingungen für den
Weinbau verbessert. Der Gesetzentwurf lässt den Bundesländern die Freiheit, unterschiedliche Ansätze bei der
Profilierung kleinerer geografischer Einheiten und Steiloder Terrassenlagen zu wählen. Kleinere Weinlagen
können somit aufgewertet werden. Das ist ein Vorteil für
die Verbraucher; denn mit dem Grundsatz „Je genauer
die Herkunftsangabe, desto höher die Qualitätsanforderungen“ bekommen sie eine bessere Orientierung.
Eine geregelte Aufwertung der Lagenweine trägt
auch dazu bei, das hohe Niveau der Weine, seine Vielfalt
und Einzigartigkeit zu erhalten. Wir wissen, es gibt über
2 500 Einzellagen in Deutschland. Hier können höhere
Preise erzielt und der Absatz der Winzer gesichert werden.
Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass in der EU seit Anfang
August dieses Jahres anstelle der Bezeichnung „Wein
aus Trauben aus ökologischem Anbau“ endlich die
Bezeichnung „Ökologischer Wein“ verwendet werden
kann. Verbraucherinnen und Verbraucher legen zunehmend Wert auf ökologische Qualität und auf eine geringere Belastung der Umwelt mit Pflanzenschutzmitteln.
Deshalb ist auch das ein richtiger Schritt.
({1})
Trotz der positiven Entwicklungen bei der Weingesetzgebung, gibt es eine Entwicklung - die Kollegen haben es angesprochen -, die die qualitätsorientierte Zukunft des Weinbaus gefährdet. Das ist das für 2015
geplante Auslaufen der Rebpflanzrechte. Wenn das Verbot, wie von der EU vorgesehen, ausläuft, droht eine Abwanderung des Weinbaus in Ackerbauregionen. Damit
wäre einer industriellen Produktion von Billigweinen
Tür und Tor geöffnet, und es wäre für viele Winzer kaum
noch möglich, Weinbau in solch einzigartigen Kulturlandschaften zu betreiben und diese so zu erhalten. Das
wäre katastrophal für unsere Weinbauregionen. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir das verhindern.
({2})
Auch da sehen Sie uns an Ihrer Seite. Ich freue mich,
dass wir da, glaube ich, partei- und auch fraktionsübergreifend Konsens haben.
Wir haben starke Unterstützer. Auf EU-Ebene unterstützen 16 EU-Mitgliedstaaten dieses Anliegen, und
auch eine von der EU-Kommission eingesetzte hochrangige Expertengruppe versucht, einen Kompromiss jenseits der völligen Liberalisierung zu finden. Ich glaube,
hier sollte die Bundesregierung in Zukunft deshalb noch
mehr Engagement zeigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt heute ein
Gesetzentwurf vor, den wir unterstützen können. Die
Kollegen haben das ebenfalls gesagt. Er leistet einen
Beitrag dazu, dass die Qualität des Weinbaus in Deutschland erhalten bleibt, regionale Wertschöpfung gestärkt
und Arbeitsplätze gesichert werden. Deshalb stimmt
meine Fraktion dem Gesetzentwurf zu.
Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam und im Konsens Initiativen für den deutschen Weinbau entwickeln
können. Ich glaube, nicht nur aus dem Parlamentarischen Weinforum heraus sind wir insoweit auf einem guten Weg.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, den
Winzerinnen und Winzern in unserem Land auch weiterhin gutes Gelingen bei ihrer Arbeit.
Vielen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Norbert
Schindler das Wort.
({0})
Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich möchte
nicht nur die Gäste auf den Tribünen, sondern vor allem
auch meine Freunde aus Neustadt an der Deutschen
Weinstraße herzlich begrüßen.
({0})
- Ja, besser kann es nicht sein. - Sie warten schon die
ganze Zeit auf dieses Thema und natürlich auch auf meinen Auftritt.
({1})
Natürlich könnte ich jetzt eine abendfüllende Rede
halten. Aber, lieber Herr Süßmair, Ihnen rufe ich nur zu:
Vielleicht haben Sie Ahnung von Bier, von Wein jedenfalls haben Sie keine.
({2})
Lassen Sie sich doch einmal im Rahmen einer gescheiten Weinprobe von der Rebsortenergründung und den
Feinheiten und filigranen Wünschen der Winzerschaft
überzeugen. Wir laden Sie dazu gerne ein.
({3})
Im Übrigen wäre es ja das erste Mal, dass die linke Fraktion einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen würde. Ihr habt ja immer und an allem etwas zu meckern. Leider Gottes ist es so.
({4})
Zur Sache. Es gibt zwei neue elementare Begriffe, mit
denen es die Länder im Rahmen der Ermächtigung zu
tun haben. Das hat es im deutschen Weinrecht bis jetzt
nicht gegeben, weder im Weinrecht von 1970 noch in
dem von 1971, noch in dem von 1986, noch in dem von
1997. Es geht um kleinere geografische Einheiten oder,
wie die deutschen Weinleute sagen, um die Qualitätspy23962
ramide: je kleiner die geernteten und vermarkteten Mengen, je höher die qualitativen und mengenmäßigen Anstrengungen.
Sowohl bei den zugelassenen Rebsorten - ihre Zahl
soll allerdings sehr eng begrenzt werden - als auch beim
zulässigen Gesamternteertrag als auch beim natürlichen
Mindestalkoholgehalt - bis hin zum Restzuckergehalt versetzen wir die Länder in die Lage - Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt, natürlich auch Rheinland-Pfalz -, für Betriebe, die in der Vegetationszeit
durch Ausdünnung nur 6 000, 7 000 oder 8 000 Liter pro
Hektar produzieren - die Ausdünnung ist in der Weinwirtschaft heutzutage ja schon selbstverständlich - und
deren Weine aus kleineren geografischen Einheiten
stammen, besondere Bedingungen festzulegen.
In Baden-Württemberg denkt man im Hinblick auf
die Bereichslagen und in Rheinland-Pfalz im Hinblick
auf die Einzellagen darüber nach, einen Katasternamen
hinzuzufügen. Die kleinste geografische Einheit geht übrigens auf das Weinrecht von vor 100, 120 Jahren zurück. Damals war es selbstverständlich, eine Weinflasche mit der Katasterlage als engster geografischer
Herkunft des Weins auszuzeichnen; mit den Weingesetzen, die in der nachfolgenden Zeit auf den Weg gebracht
wurden, wurde dieses Vorgehen etwas egalisiert. Mit der
Ermächtigung werden die Länder also in die Lage versetzt, gemeinsam mit der Weinwirtschaft für Baden, für
Württemberg, für die Mosel und für die Pfalz individuell
besondere Qualitätskriterien festzulegen.
({5})
Hier sind natürlich auch die Länder in der Verantwortung. Ich richte sowohl an Rheinland-Pfalz als auch an
Baden-Württemberg den Appell, die Kriterien - ob im
Hinblick auf die Ursprungsbezeichnungen, die uns die
Europäische Union vorgegeben hat, oder im Hinblick
auf die neuen Lagenbezeichnungen engerer Herkunft landeseinheitlich zu formulieren, damit es beim Verbraucher nicht erneut zu Verwirrung kommt.
Zu dem Begriff „Steillagen“, den wir bundeseinheitlich festlegen. Ja, es ist richtig, dass wir bundesweit eine
Hangneigung von 30 Prozent festlegen, damit der Verbraucher weiß: Die Steillage am Würzburger Juliusspital
ist genauso differenziert wie der Bernkasteler Doctor.
Damit hat man im Interesse der Verbraucher eine klare
Trennung vorgenommen. Warum 30 Prozent? Weil es
vonseiten der Europäischen Union bei Überschreiten
dieser 30 Prozent eine zusätzliche Fördermöglichkeit
gibt. In Zukunft werden hoffentlich alle Steillagen- und
Terrassenwinzer eine besondere Zuwendung aus der
zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union bekommen. Deswegen, Herr Kollege:
Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander, fordern
Sie aber keine Sonderrechte, die man vielleicht gerne als
i-Tüpfelchen hätte! Das führt bei den Verbrauchern nur
zu Verwirrung.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Besetzung des
Aufsichtsrates. Ja, diese Debatte wurde vom Genossenschaftsverband zu Recht angestoßen. Über 30 Prozent
aller Weine, die in Deutschland abgefüllt werden, kommen nämlich aus dem genossenschaftlichen Bereich.
In den neun Aufsichtsräten war die genossenschaftliche Schiene schwächer vertreten, und wir waren uns eigentlich über die Parteien hinweg einig: Diesem berechtigten Wunsch sollte man entgegenkommen.
({6})
- Warum kritisieren Sie es denn dann? Dann lassen Sie
es doch sein!
({7})
- Stellen Sie eine Frage, dann kommen Sie dran.
({8})
Wir haben in Bezug auf den Begriff „Schaumwein“
eine Korrektur vorgenommen. Weil die Bezeichnung
„Tafelwein“ weggefallen ist, haben wir neu geregelt,
dass man an die Bezeichnung „Schaumwein“ den Begriff „Landwein“ anfügen kann.
({9})
- Geben Sie dem einmal einen gescheiten Schluck Wein
zu trinken, dann ist er vielleicht ein bisschen ruhiger. Er
hat immer was zu meckern. ({10})
Damit ist auch wieder Rechtssicherheit geschaffen, was
gerade im Bereich der Schaumweine notwendig war.
Dies musste neu geordnet werden, damit bei den Qualitätssekten eine nähere geografische Herkunftsbezeichnung gegeben ist.
Meine letzte Anmerkung zu etwas, das auch Kollege
Gerig angesprochen hat. Es geht um die Elementarschadensversicherung. Für Frost- und Hagelschäden gibt es
sie. Es gilt hier auch ein besonderer Satz. Wir führen im
Finanzausschuss derzeit eine Debatte darüber. Helfen
Sie mir, meine Freunde, dass wir die Finanzleute in dieser Frage noch überzeugen. Das ist kein leichter Weg,
den wir hier gehen, aber es wäre eine gute Sache.
Entgegen den Rechnungen der Finanzbeamten wären
die Einnahmen, die der Staat aus der Versicherungsteuer
erzielen würde, höher, weil mit dem Angebot an alle,
eine Elementarversicherung abzuschließen, ein Anreiz
dafür gegeben wird, und zwar nicht nur für diejenigen,
die sich gegen Hagelschäden versichern wollen, sondern
auch für diejenigen, die sich gegen die Folgen von
Hochwasser und Frost versichern wollen, damit sie nicht
in elementare Not kommen und jedes Mal nach einem
Jahrhundertereignis nach der Hilfe der Staates rufen
müssen. Das könnte man wirklich sehr elegant lösen.
Ich sehe, ich habe meine Redezeit um eine Minute
überschritten. Danke, Frau Präsidentin, für die Großzügigkeit.
Wohl bekomm’s! Es ist ein guter Gesetzentwurf. Wie
gesagt: Sie, Herr Süßmair, lade ich einmal zu einer gescheiten Weinprobe ein.
({11})
- Bringen Sie kein Bier mit, das haben wir selbst. - In
diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen guten
Abend.
Irgendwann müssen wir zwar wieder eine Änderung
vornehmen, aber wir haben jetzt eine kundenorientierte
Zielrichtung gewählt.
({12})
Klarheit und Wahrheit! Die Winzer, die bestrebt sind,
Qualität anzubieten, werden mit dieser gesetzlichen Vorgabe belohnt.
Danke schön.
({13})
Bevor es zum interfraktionellen Zusammentreffen bei
einem guten Wein oder auch Bier kommen kann, haben
wir noch ein wenig Arbeit vor uns.
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes.
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11019, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10042 und
17/10124 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Rettung einheimischer Rebsorten durch
Erhaltungsanbau“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8612, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7845 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rechtliche und finanzielle Voraussetzungen
für die Zahlung einer Ausstellungsvergütung
für bildende Künstlerinnen und Künstler
schaffen
- Drucksache 17/8379 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({0})-
Rechtsausschuss-
Finanzausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8379 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/10956 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10956 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-
ren - Konsequenzen aus den Entscheidungen
des Gerichtshofs der Europäischen Union und
des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte ziehen
1) Anlage 3
2) Anlage 2
Vizepräsidentin Petra Pau
- Drucksachen 17/8460, 17/9008 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({5})-
Ulla Jelpke-
Josef Philip Winkler
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu nehmen.1) - Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9008, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8460 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998
- Drucksache 17/10975 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})-
Auswärtiger Ausschuss-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Verteidigungsausschuss
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10975 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und
weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung ({7}) Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten
- Drucksache 17/10310 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({8})
- Drucksache 17/10874 Berichterstattung:Abgeordnete Daniela Wagner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
soll im Wesentlichen dazu dienen, das Bauproduktengesetz und damit einhergehende Rechtsvorschriften an
die Bauproduktenverordnung der Europäischen Union
anzupassen. Diese Verordnung wird am 1. Juli 2013
die bisher geltende Rechtsvorschrift der Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG aus dem Jahre 1988 ablösen. Die
neue Verordnung ({0}) Nr. 305/2011 des Europäischen
Rates und des Europäischen Parlaments vom 9. März
2011 gibt harmonisierte Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten vor. Inhaltlich handelt die Verordnung vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von
Handelshemmnissen im Binnenmarkt ab.
Wie so oft nehmen wir mit dem Gesetzentwurf unsere
Aufgabe als Mitgliedstaat innerhalb der EU wahr und
passen unsere Gegebenheiten an die harmonisierten
Vorgaben der Europäischen Union an. Zwar müsste bei
der nun durch die EU gewählten Rechtsform einer Verordnung grundsätzlich keine Umsetzung in nationales
Recht erfolgen, da sie ohnehin direkt in jedem Mitgliedstaat gilt. Dennoch müssen wir einige nationale Anpassungen der momentan geltenden Regelungen vornehmen. Damit der bald geltenden Verordnung nichts im
Wege steht, sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, alte Vorschriften, die derzeit zur Umsetzung
der Bauproduktenrichtline gelten, aufzuheben. Auch
Folgeänderungen im übrigen Bundesrecht müssen zusätzlich vorgenommen werden.
Grundsätzlich wird in der EU-Bauproduktenverordnung ein neuer Rechtsrahmen für die Vermarktung der
CE-Kennzeichnung von Bauprodukten geregelt. Das Anpassungsgesetz der Bundesregierung regelt zudem die
folgenden organisatorischen Punkte: Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als eine „technische Bewertungsstelle“ für Bauprodukte, die Einsetzung des DIBt als Behörde für sogenannte unabhängige
Drittstellen, Ausführungsregelungen zur Marktüberwachung sowie Bußgeld- und Straftatbeständen, Verpflichtung zur Akkreditierung von unabhängigen Drittstellen
bei der Deutschen Akkreditierungsstelle, DAkkS.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist notwendig und richtig. Detailfragen zu fachlichen Themen sind
zuvor mit den Bundesländern und Verbänden einvernehmlich abgestimmt worden, und auch der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen
Bundestages hat sich in einer Beschlussempfehlung einstimmig für die Annahme des Antrags in leicht geänderter Fassung ausgesprochen. Nach Abänderung der angesprochenen formalen Berichtigungen im Antrag bitte
ich, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Bedin-
gungen für die Vermarktung von Bauprodukten in der EU
harmonisiert werden, und es wird eine Anpassung an die
EU-Verordnung Nr. 305/2011 und damit die Aufhebung
der bisherigen Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG vor-
genommen. Vor dem Hintergrund, dass auf die europäi-
sche Bauwirtschaft 15 Prozent der industriellen Wert-
1) Anlage 5
2) Anlage 4
schöpfung entfallen, jedoch ihr Anteil am europäischen
Handel nur 5 Prozent beträgt, hat die Europäische
Union das Recht der Bauprodukte europaweit angeglichen.
Der EU-weite Handel soll unter anderem durch folgende Maßnahmen gestärkt und die Verwendung von
Bauprodukten vereinfacht werden: durch die Einführung
einer gemeinsamen Fachsprache für Bauprodukte auf
Grundlage der harmonisierten Normen, dem CEKennzeichen kommt eine größere Bedeutung zu, Leistungserklärungen sind den Produkten beizufügen. Die
Mitgliedstaaten richten sogenannte technische Bewertungsstellen ein. Auch in der EU-Bauproduktenverordnung, die auf der früheren Bauproduktenrichtlinie beruht und die jetzt mit diesem Gesetz umgesetzt wird, sind
die wesentlichen Leistungsmerkmale der Bauprodukte
nicht festgeschrieben, sondern werden aus den Grundanforderungen an Bauwerke abgeleitet. Für diese Merkmale werden dann in harmonisierten Normen konkrete
Anforderungen formuliert. Diese bilden die Grundlage
für die Leistungserklärung des Herstellers und die Vergabe der CE-Kennzeichnung. Mit der Leistungserklärung übernimmt der Hersteller die Verantwortung für
sein Bauprodukt und dessen Leistung und kann in Mängelhaftung genommen werden. Straftat- und Bußgeldvorschriften ergeben sich ebenfalls aus dem vorliegenden Gesetz.
Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt, wird die
Aufgabe der technischen Bewertungsstelle wahrnehmen. Nach der EU-Bauproduktenverordnung können die
Mitgliedstaaten für die jeweiligen Produktbereiche einen oder mehrere technische Bewertungsstellen benennen. Hier sollte zukünftig geprüft werden, ob aufgrund
der wirtschaftlichen Bedeutung, aber auch hinsichtlich
relevanter Bauprodukte wie Dämmstoffe zum Erreichen
der Klimaziele und der Energiewende zusätzliche Kapazitäten benötigt werden und weitere Bewertungsstellen
hinzugezogen werden sollten.
Mit der Ablösung der EU-Bauproduktenrichtlinie
89/106/EWG durch die neue EU-Bauproduktenverordnung stand die Anpassung zahlreicher nationaler Vorschriften an den veränderten Rechtsrahmen bevor. Die
Umsetzung der alten EU-Bauproduktenrichtlinie ist seit
längerem Gegenstand mehrerer durch die Europäische
Kommission gegen die Bundesrepublik geführter Vertragsverletzungsverfahren, Nrn. 2004/5116 und 2005/4743. Gegenstand dieser Verfahren sind insbesondere die in der
Bauregelliste B vorgesehenen Zusatzanforderungen an
Produkte, die von harmonisierten europäischen Normen
erfasst sind und die CE-Kennzeichnung tragen. Die
Kommission rügt, dass die bestehenden Zusatzanforderungen gegen die europäischen Vorgaben verstoßen.
Hier sollte im Sinne der europäischen Angleichung um
eine gemeinsame Lösung gerungen werden.
Eine Harmonisierung, mehr Transparenz und die Gewährleistung einer europarechtskonformen Umsetzung
des Bauproduktenrechts sind generell zu begrüßen.
Die CE-Kennzeichnung ist seit ihrer Einführung innerhalb der Europäischen Union 1993 eine Erfolgsgeschichte. Mit ihr dokumentieren Hersteller, dass
Produkte den produktspezifisch geltenden europäischen
Richtlinien entsprechen und damit Sicherheits- und
Gesundheitsanforderungen erfüllen, die in den 30 Vertragstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums gelten.
Faktisch hat sich die CE-Bezeichnung im Baugewerbe
als Qualitätssiegel etabliert und ist ein für Produzenten,
Händler und Verbraucher gleichermaßen leicht anwendbares und gut erkennbares Instrument der Sicherheit und Verlässlichkeit. Die FDP unterstützt daher alle
im Zuge eines weiteren Harmonisierungsprozesses der
Länder der Europäischen Union notwendigen und dem
Charakter des bisherigen Konformitätsverfahrens entsprechenden Schritte.
Über die Richtigkeit und den Bedarf dieser Harmonisierung besteht im Hohen Hause kein Streit. Lassen
Sie mich zur Anpassung des Bauproduktengesetzes
trotzdem hier sagen: Es bleibt, erstens, wie bisher bei einer Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten für die
sich aus einem Bauwerk ergebenden Anforderungen an
Bauprodukte. Die EU - wie wir - regelt mit dieser Vorlage nur die Verfahren des Nachweises, dass ein Produkt
bestimmte Anforderungen auch erfüllt. Diese Verfahren
werden vereinheitlicht mittels harmonisierter technischer Normen und durch einzelproduktbezogene technische Bewertungen, die ein Hersteller bei den von den
Mitgliedstaaten einzurichtenden Bewertungsstellen beantragen muss. Dann erst ist er befugt und verpflichtet,
die CE-Kennzeichnung anzubringen, und muss genau
angeben, welches Anforderungsniveau das jeweilige
Produkt in Bezug auf bestimmte Merkmale erreicht.
Das war bisher so, und das wird auch so bleiben. Neu
jedoch ist, dass die Kommission zukünftig europaweit
gültige und europaweit einheitliche Schwellenwerte festsetzen kann für einzelne Inhaltsstoffe oder Leistungswerte. Das ist ein großer und wichtiger Schritt hin zu
einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Gesetzgebung im Bauproduktenrecht und wird von der FDP
ausdrücklich unterstützt.
Im Verfahren selbst sind, zweitens, Verfahrenserleichterungen vorgesehen. Insbesondere wird die technische
Bewertung zukünftig an Fristen gebunden und wird
damit rascher erfolgen können. Das ist insbesondere für
Marktteilnehmer ein nicht zu unterschätzender Wert,
denn in vielen Fällen dauern Prüfvorgänge zu lange und
verhindern den Marktzugang. Es war daher der FDP
wichtig, dass Hersteller sich auch weiterhin die Prüfstelle frei wählen können.
Drittens. Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt,
soll weiterhin als in Deutschland zuständige Stelle für
die Erteilung europäischer technischer Zulassungen für
Bauprodukte fungieren. So werden wir sicherstellen,
dass trotz der Zweigleisigkeit im Zulassungswesen eine
organisatorische Einheitlichkeit für Hersteller und
Handel gewährleistet bleibt.
Eine vierte und damit letzte Bemerkung: Nicht nur ist
im Interesse der Marktüberwachung und im Interesse
des deutschen Baugewerbes vorgesehen, die deutsche
Sprache für die notwendigen Dokumente zu verwenden;
es soll auch die Bundesregierung, also das fachlich
zuständige BMVBS, dieselben Informationen erhalten,
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
die die Europäische Kommission im Rahmen der Marktüberwachung erhalten muss. So bleibt Deutschland
informativ uneingeschränkt handlungsfähig.
Die ursprüngliche Motivation, mit der CE-Kennzeichnung als Produktreisepass Handelshemmnisse für
den europäischen Binnenmarkt zu beseitigen, ist ein
urliberaler Gedanke. Die FDP-Bundestagsfraktion wird
daher für diesen Gesetzentwurf stimmen.
Zu dem hier vorliegenden Antrag der Bundesregierung kann ich die Zustimmung der Fraktion Die Linke
signalisieren. Wir verbinden damit allerdings die Erwartung, dass die mit dem Gesetz verfolgten Absichten
und Ziele in einer angemessenen Frist überprüft werden
und die Bundesregierung dem Bundestag spätestens ein
Jahr nach Inkrafttreten darüber berichtet.
Uns ist wichtig, dass mit dem Gesetz nicht nur rechtsformale Vereinheitlichungen ohne jeden praktischen
Nutzen stattfinden, sondern dass die Anwendung des Gesetzes auch einen konkreten Beitrag zur ökologischen
und ökonomischen Effektivitätssteigerung der Bauwirtschaft leistet. Die Bauwirtschaft ist einer der Hauptakteure bei der Durchsetzung von Klimaschutzzielen und
der Energiewende. Deshalb muss sichergestellt sein,
dass erstens die Einführung des Gesetzes auch zur ausschließlichen Verwendung von CE-zertifizierten Bauprodukten beiträgt und ein Ausweichen auf billigere,
aber nicht gekennzeichnete Bauprodukte ausgeschlossen wird, zweitens die Verwendung ausschließlich zertifizierter Bauprodukte europaweit zur Einhaltung einheitlicher Schwellenwerte bezogen auf Inhaltsstoffe und
Leistungswerte der Bauprodukte führt und drittens die
Verwendung zertifizierter Bauprodukte nicht zur Begründung höherer Baupreise missbraucht werden darf.
Wir fordern die Bundesregierung daher dazu auf, vor
Inkrafttreten der vorgelegten Regelungen am 1. Juli 2013
in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen Stellungnahmen sowohl vom Deutschen Institut für Bautechnik als auch von den Baufachverbänden einzuholen
und diese dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zu geben.
Das vorliegende Gesetz dient der Anpassung des
Bundesrechts an die neue Verordnung ({0}) Nr. 305/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates vom
9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates - EUBauproduktenverordnung.
Die EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen
Rechtsrahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeichnung von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die
bisher geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.
Der Gesetzentwurf ist sehr technisch, aber von hoher
politischen Relevanz für Bündnis 90/Die Grünen. Es
werden Anforderungen an die Vermarktung von Bauprodukten harmonisiert, und diese Anforderungen haben
insbesondere Auswirkungen auf die Art und Weise, wie
ökologisch vertretbare Baunormen gefördert werden
können. Die Verordnung legt wesentliche Merkmale für
verschiedene „Familien“ von Bauprodukten fest. Einige
dieser Kategorien von Produkten unterliegen harmonisierten Normen, andere wiederum unterliegen den European Technical Assessments. Es ist daher unerlässlich,
die Bewertungsverfahren zu definieren.
Die Fraktion der Grünen im Europaparlament hatte
bereits festgestellt, dass im Ergebnis die Verhandlungen
zur Verordnung zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten mit dem
Rat nicht ideal verlaufen sind. Es gab erheblichen Druck
von einigen Sektoren der Industrie, die von einigen Mitgliedstaaten unterstützt wurden, um klare Verpflichtungen zu vermeiden. Aber der letztlich vereinbarte Text
enthält Elemente, die aus unserer Sicht wichtig sind.
Den Grünen ist es wichtig, dass die Verfahren transparent sein sollten. Insbesondere die Normungsgremien
sollten nicht von den Vertretern der Großindustrie monopolisiert werden.
In dem vorliegenden Gesetz wird die renommierte Zulassungsstelle im Bauwesen, das Deutsche Institut für
Bautechnik, als unabhängiges Normungsgremium benannt, das 1993 aus dem Institut für Bautechnik hervorgegangen ist.
Unser Anliegen ist es, dass auch Positionen kleiner
und mittlerer Unternehmen oder anderer Beteiligter berücksichtigt oder übernommen werden sollten.
Der Aufbau der Vorschriften und auch das Verfahren
sollten in der Lage sein, innovative und ökologische Ansätze zu fördern.
Weiter ist zu vermeiden, dass spezielle Verfahren für
„Kleinstunternehmen“ von der Industrie als ein Mittel
genutzt werden könnten, um die Anforderungen und Verfahren generell zu umgehen.
Lassen sie mich die Gelegenheit nutzen, etwas zu
Bauprodukten im Allgemeinen zu sagen. Deutschland
hat sich international verpflichtet, seinen Beitrag zu
leisten, um den Anstieg der globalen Temperatur um
mehr als 2 Grad Celsius zu verhindern. Dies bedeutet,
dass der Ausstoß von Klimagasen hierzulande um mindestens 40 Prozent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050
gesenkt werden muss. Der Gebäudebereich spielt also
für das Erreichen der Klima- und Energieeinsparziele
eine zentrale Rolle; denn in den Bestandsgebäuden werden 40 Prozent der Endenergie für Wärme und Kühlung
verbraucht und fast 20 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland verursacht.
Mit den Klimazielen gehen Fragen der Versorgungssicherheit einher. Das Gros der fossilen Energierohstoffe wird aus außereuropäischen Ländern importiert,
und es wird immer teurer. Deutschland lag in 2008 mit
einem Erdölverbrauch von 118,1 Millionen Tonnen an
sechsten Stelle der zehn Länder mit dem weltweit größten Erdölverbrauch. Die deutsche Wirtschaft zahlte im
Jahr 2010 allein für ihre Ölimporte 41,6 Milliarden
Euro.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um die Klimaschutzziele zu erreichen, den Energieverbrauch sowie die CO2-Emissionen zu senken und die
Abhängigkeit von Erdölimporten zu reduzieren, ist also
die Steigerung der Ressourcen-, Energieeffizienz und
Nachhaltigkeit im Gebäudebestand ein wichtiger Baustein.
In Bezug auf die Modernisierung der Wärmeversorgung von Gebäuden sind immerhin erste Schritte eingeleitet. Alternative Baustoffe haben aber trotz des großen
Substitutionspotenzials nur wenig Eingang in die Aktionsprogramme zur Gebäudesanierung gefunden, und
selbst im Neubau sind sie nur die Ausnahme.
Ein Großteil der in Deutschland benötigten energetischen und nichtmetallischen mineralischen Rohstoffe
wird im Land gewonnen. Mengenmäßig sind Bausande
und -kiese mit etwa 239 Millionen Tonnen die wichtigsten mineralischen Rohstoffe, auf die knapp ein Drittel
der heimischen Rohstoffproduktion entfällt. Ökologische
Herausforderungen ergeben sich aufgrund der negativen Umweltwirkungen, durch Abbau und Verbrauch,
und ihrer Endlichkeit. Die Entnahme von Rohstoffen beeinflusst die Umwelt negativ: unter anderem durch Veränderungen der Landschaft, Abholzung der Vegetation
für Tagebaue, Absenken der Grundwasserspiegel, die
Belastung des Grundwassers mit Metallen oder durch
Versauerung sowie durch das Risiko von Bergschäden.
Die von Rot-Grün eingeführten Marktanreizprogramme für ökologische Baustoffe wurden von den
nachfolgenden Bundesregierungen leider nicht weitergeführt. Die Absatzzahlen von Dämmstoffen auf Basis
von nachwachsenden Rohstoffen konnten durch die
Marktanreizprogramme kurzfristig gesteigert werden.
Die Laufzeit der Programme war zu kurz, um wesentliche dauerhafte Preissenkungen der Produkte zu erreichen. Diese konnten gegenüber den Produkten aus der
steuerbefreiten stofflichen Nutzung von Erdöl keine gesteigerte Konkurrenzfähigkeit entwickeln, obwohl die im
Neubau und der energetischen Gebäudesanierung üblicherweise verwendeten Baustoffe hinsichtlich Energieverbrauch, CO2-Emissionen, Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und Recyclingfähigkeit vielfach mangelhaft sind.
Obwohl die konventionellen organisch-synthetischen
Dämmstoffe über die Steuerbefreiung für die stoffliche
Nutzung von Erdöl bereits einen Marktvorteil haben,
sind ökologisch nachhaltige Baustoffe in der Fördersystematik der KfW mit Dämmstoffen auf petrochemischer
Basis gleichgestellt.
Unter anderem wegen dieses Marktvorteils und den
daraus resultierenden niedrigen Preisen der petrochemischen Materialien werden Dämmstoffe aus ökologisch nachhaltigen Materialien weniger verbaut.
Schaut man auf die Zahlen der CO2-Gebäudesanierungsprogramme der KfW, so sieht man: Es wurden seit
2006 der Neubau und die energetische Sanierung von
2,4 Millionen Wohnungen finanziert. Über diese Fördermittel wurden Investitionen mit einem Volumen von
74 Milliarden Euro angestoßen, circa 4,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart und 320 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert. Für die Verwendung ökologischer
Baustoffe gäbe es bei Betrachtung dieser Zahlen somit
ein erhebliches Potenzial.
Die Bundesregierung sollte daher erwägen, die Subventionierung petrochemischer Kunststoffe und CO2-intensiver Baustoffe abzubauen und die Steuerbefreiung
für die stoffliche Nutzung von Erdöl abschaffen. Die
Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl
stellt eine Marktverzerrung zugunsten umwelt- und klimaschädlicher sowie energieaufwendiger Produkte dar.
Die steuerliche Gleichstellung würde einen deutlichen
ökonomischen Anreiz zur Nutzung nachwachsender
Rohstoffe setzen.
Die Energie- und Stromsteuersubventionen sollten für
die energieintensive Herstellung von Baustoffen wie Zement und Keramik nur gewährt werden, wenn die Produktion sonst nachweislich von der Verlegung ins weniger stark regulierte Ausland bedroht wäre und keine
gleichwertigen Alternativbaustoffe mit besserer Umweltbilanz bereitstehen.
Auch ist es überlegenswert, das Bergrecht grundlegend zu reformieren. In Deutschland kann nach dem geltenden Bergrecht eine Förderabgabe von 10 Prozent
oder mehr des Rohstoffwertes auf sogenannte bergfreie
Bodenschätze von den Ländern erhoben werden. Allerdings ist die derzeitige Aufteilung in bergfreie und
grundeigene Bodenschätze und damit die Aufteilung, für
welche Bodenschätze Förderabgaben grundsätzlich zu
zahlen sind oder nicht, willkürlich. Darüber hinaus gibt
es zahlreiche Ausnahmeregelungen, sodass in der Regel
überhaupt keine Förderabgabe gezahlt wird.
Diese Regelung ist - wie auch weite Teile des übrigen
deutschen Bergrechts - nicht mehr zeitgemäß. Bis heute
stehen hier völlig einseitig die Interessen der Bergbautreibenden im Vordergrund, nicht die Schonung von Ressourcen. Wir wollen das Bergrecht umfassend reformieren.
Die Zahlung einer Förderangabe muss der Regelund darf nicht der Ausnahmefall in Deutschland sein.
Wir wollen daher eine Förderabgabe in Höhe von mindestens 10 Prozent konsequent auch auf nicht erneuerbare Baustoffe wie Kies und Sand erheben. Dies ist gerechtfertigt, da beim Rohstoffabbau in der Regel in
erheblichem Umfang Gemeingüter in Anspruch genommen werden. Jedenfalls sind die bestehenden Förderabgaben nicht ausreichend, und die vielen Ausnahmen machen diese ineffizient. Die konsequente Erhebung einer
Förderabgabe schafft Anreize für Ressourceneffizienz,
gerade bei dem bisher nicht erfassten Abbau von Massenrohstoffen der Bauindustrie wie Kies, Sand und Gesteinen. Die Verpflichtung zur Zahlung wollen wir auf
alle hierzulande geförderten Bodenschätze ausdehnen.
Sie sollte nur in begründeten Ausnahmefällen und zeitlich eng befristet erlassen werden und weiterhin den
Ländern zugutekommen.
Wir wollen Unternehmen, die nachweislich besonders
energieintensiv sind und in intensivem internationalen
Wettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen bei den
Energiesteuern oder bei den Umlagen für erneuerbare
Energien gewähren, um eine CO2-bedingte Verlagerung
Zu Protokoll gegebene Reden
von Unternehmen zu vermeiden. Allerdings müssen diese
Subventionen zukünftig an den im Einzelfall nachgewiesenen Härten bemessen und an konkrete Effizienzverpflichtungen geknüpft werden, damit nicht Verschwendung und technologischer Stillstand subventioniert
werden.
Der Einsatz ökologischer Baustoffe sollte im Neubau
und bei energetische Sanierung stärker gefördert und
daher ein Modellprogramm für ökologische Baustoffe
initiiert werden.
Hinsichtlich der Standards für Baustoffe sollten diese
um den Energieverbrauchs ergänzt werden und den gesamten Lebenszyklus der Baustoffe, inklusive des Energieverbrauchs bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung
berücksichtigen.
Die Energieausweise für Gebäude müssen dringend
um eine Nachhaltigkeitsbewertung mit Lebenszyklusbetrachtung der Gebäude erweitert werden.
Auch dürfen ökologische Baustoffe nicht länger in
den Bauordnungen des Bundes und der Länder diskriminiert werden, wie etwa in den Brandschutzkategorien.
Sehr sinnvoll wäre es, die Programme der KfW für
Neubau und Sanierung stärker auf den Einsatz ökologischer Baumaterialien auszurichten; denn viele der im
Neubau und der energetischen Gebäudesanierung herkömmlich verwendeten Baustoffe erfüllen nur mangelhaft Anforderungen an das Nachhaltigkeitsprinzip hinsichtlich ihrer Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und
Recyclingfähigkeit.
Die Grundlagenforschung in diesem Bereich der ökologischen Baustoffe und Bauweisen, beispielweise ein
Forschungsprogramm „Bauen mit Holz“, muss daher
dringend intensiviert werden.
Zum Instrumentarium einer nachhaltigen Ressourcenpolitik gehören auch Ressourcensteuerabgaben. Negative gesellschaftliche Umweltauswirkungen, die durch
den Abbau von Rohstoffen entstehen, können durch Steuern und Abgaben internalisiert werden. Nötig ist deshalb ein Forschungsprogramm, das konkrete Möglichkeiten in den Einstieg der Rohstoffbesteuerung aufzeigt.
Die Diskriminierung ökologischer Baustoffe in Deutschland muss endlich ein Ende haben.
Das Gesetz dient der Anpassung des Bundesrechts
an die Verordnung ({0}) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur
Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der
Richtlinie 89/106/EWG des Rates, ABl. L 88 vom
4. April 2011, S. 5 EU-Bauproduktenverordnung. Die
EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen Rechtsrahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeichnung
von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die bisher geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.
Zur Anpassung des Bundesrechts ist es erforderlich, Regelungen zur Durchführung der EU-Bauproduktenverordnung im Bauproduktengesetz zu treffen, die Vorschriften aufzuheben, die zurzeit der Umsetzung der
Bauproduktenrichtlinie dienen, sowie Folgeänderungen
im übrigen Bundesrecht vorzunehmen.
Das Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes
und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung ({1})
Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten, BauPG-Anpassungsgesetz, regelt Folgendes: die Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als technische
Bewertungsstelle für Bauprodukte, analog den Zulassungen nach Landesrecht; die Einsetzung des DIBt als
notifizierende Behörde für „unabhängige Drittstellen“
- diese erteilt etwa Prüflaboratorien die Befugnis, im
Rahmen der EU-Bauproduktenverordnung tätig zu werden -; die Verpflichtung zur Akkreditierung für unabhängige Drittstellen bei der Deutschen Akkreditierungsstelle, DAkkS - diese bescheinigt die technische
Kompetenz der Drittstellen -; ergänzende Ausführungsregelungen zur Marktüberwachung sowie Bußgeld-/
Straftatbestände.
Der Gesetzentwurf ist zur Durchführung von EURecht notwendig und ausreichend. Die Art. 1 und 2 des
Gesetzes enthalten die notwendigen Durchführungsregelungen zur EU-Bauproduktenverordnung. Sie umfassen im Wesentlichen Zuständigkeitsbestimmungen, ergänzende Verfahrensbestimmungen sowie Bußgeld- und
Straftatbestände.
Die weiteren Artikel enthalten Folgeänderungen des
Erlasses der EU-Bauproduktenverordnung im übrigen
Bundesrecht. Der gespaltenen Inkrafttretensregelung
des Art. 68 der EU-Bauproduktenverordnung folgend
tritt Art. 1 sofort in Kraft; die übrigen Artikel treten zum
1. Juli 2013 in Kraft.
Für Bund, Länder und Gemeinden ergeben sich keine
Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand. Das Gesetz
verursacht keinen Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen
und Bürger. Das Gesetz verursacht keinen Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft. Das Gesetz verursacht keinen Erfüllungsaufwand für die Verwaltung.
Weitere Kosten entstehen nicht. Es sind keine Auswirkungen auf die Einzelpreise für Bauprodukte und andere
Waren und Dienstleistungen zu erwarten. Auswirkungen
auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucherpreisniveau, sind auszuschließen.
Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zuzustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10874, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10310 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der GesetzentVizepräsidentin Petra Pau
wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Fograscher, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Evaluierung der Auswirkungen des neuen
Waffenrechts
- Drucksache 17/10114 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der schreckliche Amoklauf vom 11. März 2009 in
Winnenden war Anlass dafür, eine Änderung des Waffenrechts vorzunehmen. Insbesondere die mangelhafte Sicherung bei der Aufbewahrung von Waffen und Munition hat dem Täter erst Zugang zu Waffen und Munition
ermöglicht. In seinen Beratungen hat sich der Deutsche
Bundestag besonders mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Waffengesetzgebung an mehreren Stellen verändert werden muss, um
mehr Sicherheit zu erreichen. Ein Hauptaugenmerk lag
unter anderem darauf, dass gerade Jugendlichen der
Zugang zu Waffen und Munition erschwert wird.
Um die Wirksamkeit der Gesetzesänderungen zu
überprüfen, hat der Deutsche Bundestag in seiner
227. Sitzung am 18. Juni 2009 zudem eine Entschließung angenommen, die die Bundesregierung auffordert,
die getroffenen Regelungen zu evaluieren. Diese Forderung findet sich auch im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition. Dabei sollte ein besonderes
Augenmerk darauf gelegt werden, ob die Änderungen
für legale Waffenbesitzer eine zu hohe Belastung darstellen. Um dies zu bewerten, ist eine aussagekräftige
Evaluierung wichtig.
Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundesregierung nun auf, diesen Evaluierungsbericht, der bis
zum Ende 2011 vorliegen sollte, endlich vorzulegen. Des
Weiteren bittet die SPD die Ständige Konferenz der Innenminister und Senatoren der Länder, IMK, endlich um
Freigabe des Berichts der Expertengruppe Evaluierung
Waffenrecht. Bedauerlicherweise liegt uns dieser Bericht der Länder nicht vor. Die Länder haben mehrfach
einer Freigabe des Berichts widersprochen, zuletzt im
Rahmen einer Abfrage durch die Geschäftsstelle der
IMK im September 2012. Zwischenzeitlich hat die Bundesregierung dem Innenausschuss ihren Bericht zugeleitet. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass nach
Art. 83 Grundgesetz die Ausführung des Waffengesetzes
Angelegenheit der Länder ist. Der Bund war insofern
darauf angewiesen, Erfahrungswerte von den 577 Waffenbehörden der Länder aufzugreifen und zu einem Bericht zusammenzufügen.
Vor dem Hintergrund, dass unsere derzeitige Struktur
sehr heterogen ist und auch die Zuständigkeitsbereiche
der Mitarbeiter unterschiedlich gestaltet sind, stützt sich
die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die Ergebnisse
der Expertengruppe Waffenrecht der Länder. Die Länderexpertengruppe hat einen Fragenkatalog erarbeitet,
der von 15 Prozent der Waffenbehörden anonymisiert zu
beantworten war. Unter Einbeziehung der Erfahrungen
von Flächenländern ebenso wie Stadtstaaten sollte so
ein repräsentatives Bild gezeichnet werden. Insgesamt
wurden also 86 Behörden über ihre Erfahrungen mit den
waffenrechtlichen Änderungen von 2009 im Zeitraum
vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 befragt.
Aufgrund des Fragenkatalogs der Expertengruppe Waffenrecht kommt die Bundesregierung zu der Bewertung,
dass die Waffenrechtänderungen von 2009 zur Verbesserung der Sicherheit beitragen und sie damit das Ziel, Jugendlichen und unberechtigten Personen den Zugang zu
Waffen und Munition zu erschweren, erreicht hat. Das
Datenmaterial, auf dem die Auswertung der waffenrechtlichen Änderungen im Einzelnen basiert, kann meiner Ansicht nach nur Hinweise zur Wirksamkeit geben.
Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass
die Waffenbehörden der Länder nicht verpflichtet sind,
Statistiken zu führen und somit keine einheitlich strukturierten Daten zur Auswertung vorliegen. Abgesehen davon ist vonseiten der Bundesregierung aber auch keine
weitere umfassende Abfrage hinsichtlich der Wirksamkeit der jüngsten Änderungen des Waffengesetzes erfolgt. Dies wäre wünschenswert gewesen.
Im Hinblick auf einheitliche Struktur und Datenlage
wird die Einführung des Nationalen Waffenregisters, das
wir in diesem Jahr auf den Weg gebracht haben, eine
deutliche Verbesserung bringen. Die bisher in unterschiedlicher Form gesammelten Informationen über
Waffenbesitz der lokalen Waffenbehörden werden nun
aktualisiert und in ein computergestütztes System überführt. Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland
erstmals einheitliche Standards festgelegt, welche Informationen im Zusammenhang mit Waffenbesitz im Einzelnen festgehalten werden müssen. Eine aktuelle und
belastbare Datengrundlage ist nicht nur ein Sicherheitsgewinn für Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Sie
dient auch einer sachlichen Debatte um das Thema Waffenrecht.
Ein wesentlicher Teil der Gesetzesänderungen von
2009 bezieht sich auf die Kontrolle der sicheren Aufbewahrung von Waffen und Munition sowie die Überprüfung der waffenrechtlichen Bedürfnisse. Die Umsetzung
der verdachtsunabhängigen Kontrollen nach § 36 Abs. 5
WaffG hat im Vorfeld große Diskussionen unter den Waffenbesitzern hervorgerufen. Die Ordnungsämter haben
nun die Möglichkeit, in Vor-Ort-Kontrollen die Einhaltung der Aufbewahrungsvorschriften bei Besitzern von
Schusswaffen stichprobenartig ohne vorherige Ankündigung zu überprüfen. Im Berichtszeitraum haben die Waffenbehörden der Länder in 8 554 Fällen die Möglichkeit
der verdachtsunabhängigen Kontrolle genutzt.
Erfreulicherweise ist festzuhalten, dass die Beanstandungsquote bei Jägern und Schützen nur bei 14 Prozent
lag. Dies zeigt deutlich, dass Vereine und Verbände eine
gute Aufklärungsarbeit leisten. Die Beanstandungsquote
bei Altbesitzern lag allerdings bei fast 100 Prozent. Ein
Großteil der Beanstandungen konnte kurzfristig behoben
werden, und nur 12 Prozent der Beanstandungen führten
zu 236 Widerrufsverfahren.
Mit § 36 Abs. 3 Satz 1 WaffG hat der Waffenbesitzer
nun eine „Bringschuld“ und muss gegenüber der Waffenbehörde die sichere Aufbewahrung nachweisen. Aus
dem Bericht geht hervor, dass dieser Nachweis von Jägern und Sportschützen durchweg erbracht wurde. Dagegen konnten Erben und Altbesitzer eine sichere Aufbewahrung häufig nicht nachweisen und entschieden sich
dafür, entsprechende Waffen an die Behörden abzugeben.
Nach der Regelung des § 52 a WaffG ist ein Verstoß
gegen die Aufbewahrungsvorschriften nun nicht mehr
wie bisher nur bußgeldbewehrt. Ein vorsätzlicher Verstoß steht unter Strafe, wenn konkrete Gefahr des Abhandenkommens bzw. der Zugriff Dritter entsteht.
Hierzu ist der Bericht meiner Ansicht nach nicht aussagekräftig genug, da kaum Erfahrungen mit dem Vollzug
gemacht wurden.
Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, dass die
Beibehaltung eines Strafmaßes bei besonders schwerwiegenden Verstößen gegen die waffenrechtlichen Aufbewahrungsvorschriften sinnvoll ist. Eine genaue Überprüfung der Vorschrift ist aber erst möglich, wenn
konkretere Erfahrungswerte vorliegen.
Insgesamt sehe ich klare Hinweise darauf, dass mit
Nachweispflicht und verdachtsunabhängigen Kontrollen
das Ziel erreicht wurde, die Sicherheit bei Aufbewahrung von Waffen und Munition wesentlich zu verbessern.
Die Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse haben jederzeit für eine sichere Aufbewahrung von Waffen und Munition Sorge zu tragen.
In Bezug auf die 2009 in § 4 Abs. 4 Satz 3 WaffG getroffene Möglichkeit, auch nach der bisher vorgeschriebenen einmaligen Regelüberprüfung das waffenrechtliche Bedürfnis fortlaufend überprüfen zu können, kommt
der Bericht zu einem positiven Ergebnis. Von den befragten Waffenbehörden wurde diese Möglichkeit der erneuten Überprüfung befürwortet und auch durchgeführt. In den meisten Fällen geschah dies anlassbezogen
zum Beispiel aufgrund von Information von Schießsportvereinen oder bei Zuzug. Außerdem erfolgte die Bedürfnisprüfung häufig im Zuge von Kontrollen der sicheren
Aufbewahrung von Waffen und Munition. Bei knapp
4 Prozent der Fälle wurde ein Widerrufsverfahren gemäß § 45 Abs. 2 WaffG eingeleitet, und in Einzelfällen
haben Waffenbesitzer ihre Waffen freiwillig an Behörden
abgegeben.
Zu den waffenrechtlichen Änderungen von 2009 gehört auch, dass der Waffenerwerb durch Sportschützen
über das sogenannte Grundkontingent hinaus stärker
von waffenrechtlichen und sportlichen Bedürfnissen abhängig ist. Der Bericht sieht hierin eine Unterstützung
der Arbeit von Waffenbehörden und ehrenamtlich Verantwortlichen in den Schießsportverbänden, da so nur
nachgewiesen aktive Sportschützen in der Ausübung ihres Sports gefördert werden.
Die Anhebung der Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre
- § 27 Abs. 3 WaffG - für das Schießen mit sogenannten
großkalibrigen Waffen im Schießsportverein war eine
richtige Entscheidung. Nur zur Nachwuchsgewinnung
und Förderung des Leistungssports sind Ausnahmen zugelassen.
Sehr positiv wird die Verpflichtung der Meldebehörden in § 44 Abs. 2 WaffG aufgenommen, auch den Zuzug
von Waffenbesitzern an die Waffenbehörden zu melden.
Diese Regelung verbessert die Informationslage der
Waffenbehörden wesentlich und gewährleistet eine
schnellere Bearbeitung und Aktualisierung der Waffenakten.
Aus dem Bericht der Bundesregierung geht außerdem
hervor, dass auch die Möglichkeit der Vernichtung eingezogener Waffen mit Änderung des § 46 Abs. 5 Satz 1
WaffG positiv bewertet wird. Nach den vorliegenden Angaben machten 92 Prozent der Waffenbehörden von der
Möglichkeit Gebrauch, sichergestellte und eingezogene
Waffen zu vernichten. Damit können diese Waffen endgültig vom Markt genommen werden.
Nicht zuletzt durch den Erfolg der befristeten Amnestieregelung kommt die Bundesregierung zu dem Schluss,
dass die in 2009 getroffenen Änderungen des Waffengesetzes die Erwartungen erfüllt haben. Insgesamt wurden
bis zum 31. Dezember 2009 circa 200 000 Waffen abgegeben.
Als Gesetzgeber ist es das Bestreben des Deutschen
Bundestages in seiner Gesetzgebung zum Waffenrecht
einen Ausgleich zwischen dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung einerseits und den Interessen
von rechtmäßigen Waffenbesitzern wie Sportschützen,
Jägern und Sammlern andererseits zu schaffen. Insbesondere vor dem Hintergrund der letzten waffenrechtlichen Änderungen von 2009 ist es daher von großem Interesse für den Deutschen Bundestag, die Auswirkungen
der Änderungen überprüfen zu können. Nur aufgrund einer fundierten Information und Datenlage können Aussagen über die Wirksamkeit der Regelungen getroffen
werden.
Die Ergebnisse des vorgelegten Berichts der Bundesregierung sind leider nicht so aussagekräftig, wie ich es
mir als Innenpolitiker wünschen würde. Hier möchte ich
die Anregung an das Bundesministerium des Innern weitergeben, eine weitere Ergänzung des Berichts vorzunehmen.
Es bleibt außerdem festzuhalten, dass bestehende
Fragen und Unklarheiten zur Umsetzung einiger Regelungen erst mit der am 23. März 2012 in Kraft getretenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum WaffengeZu Protokoll gegebene Reden
setz, WaffVwV, ausgeräumt wurden. Inwieweit das einen
Einfluss auf die Praxis der Waffenbehörden vor Ort
hatte, geht aus diesem Bericht leider nicht hervor.
Deutlich geworden ist, dass Sportschützen, Jäger und
Sammler überwiegend gut über die neuen Anforderungen an die Sicherheit bei der Aufbewahrung von Waffen
und Munition informiert sind und sie weitestgehend
erfüllt haben. Dies bestätigt auch meine persönliche
Erfahrung in Gesprächen mit Waffenbesitzern.
Am 18. Juni 2009 hat der Deutsche Bundestag umfangreiche Änderungen im Waffenrecht beschlossen. Neben anderen Neuregelungen wurde die Nachweispflicht
der sicheren Aufbewahrung für Waffenbesitzer eingeführt und für die Waffenbehörden die Möglichkeit geschaffen, die sichere und ordnungsgemäße Aufbewahrung der Waffen verdachtsunabhängig zu kontrollieren.
Viele Waffenbesitzer haben diese Änderungen kritisiert,
weil sie angeblich die legalen Waffenbesitzer unter einen Generalverdacht stelle.
Deshalb hat der Deutsche Bundestag bei der Verabschiedung des Gesetzes eine Entschließung gefasst, ich
zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Wirksamkeit der getroffenen Regelungen zur sicheren Aufbewahrung und zum Schutz vor unberechtigtem Zugriff bis Ende 2011 zu evaluieren.“
Doch bis Ende 2011 lag nichts, aber auch gar nichts
aus dem Bundesinnenministerium vor, was den Auftrag
des Bundestages hätte erfüllen können.
Am 11. Oktober 2012, also mehr als 9 Monate nach
Ablauf des Frist, erhalten wir ein Schreiben aus dem
Bundesinnenministerium, das der geforderte Evaluierungsbericht sein soll. Doch dieser angebliche Evaluierungsbericht ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit.
Schon alleine in der Vorbemerkung zeigt das Bundesinnenministerium, was es von Aufträgen des Deutschen
Bundestages hält: „Der zwischen CDU, CSU und FDP
für die 17. Legislaturperiode vereinbarte Koalitionsvertrag greift diesen Auftrag auf und regelt, dass insbesondere darauf geachtet werden soll, ob es im praktischen
Vollzug der 2009 getroffenen Regelungen unzumutbare
Belastungen für die Waffenbesitzer gegeben hat.“
Es ist doch völlig unerheblich, was in dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP steht. Wichtig ist, was
der Deutsche Bundestag von der Bundesregierung
fordert. Das Parlament wollte eine Evaluierung der Aufbewahrungsvorschriften und der Regelungen zum
Schutz vor unberechtigtem Zugriff. Ob es unzumutbare
Belastungen für die Waffenbesitzer gibt, war und ist
nicht Auftrag des Bundestages gewesen. Wenn Sie als
Koalitionsfraktionen das gerne wissen wollen, dann fragen Sie doch Ihren Minister.
Wer sich von dem angeblichen Evaluierungsbericht
neue Erkenntnisse über das neue Waffenrecht erhofft
hat, wurde abermals enttäuscht: In der Ausschussdrucksache heißt es dazu: „Da nicht zu erwarten war, dass
eine erneute eigenständige Abfrage des Bundes bei den
Ländern zu weitergehenden Ergebnissen bzw. Erkenntnissen geführt hätte, wurde nicht zuletzt auch im Hinblick auf die begrenzten personellen Ressourcen sowohl
beim Bund als auch bei den Ländern darauf verzichtet
und der von der IMK beschlossene Evaluierungsbericht
zur Erledigung des Auftrages des Deutschen Bundestages zugrunde gelegt.“
Das ist eine Frechheit und eine Missachtung des Parlaments. Dieser angebliche Evaluierungsbericht ist also
eine Zusammenfassung des Berichts der IMK, der dem
Deutschen Bundestag nicht zugänglich gemacht wird.
Hinzu kommt, dass der IMK-Bericht auch die Änderungen des Waffenrechts von 2008 untersuchen sollte.
Die Erkenntnisse wurden für den Zeitraum 1. Januar
2010 bis 31. Dezember 2010 erhoben, also für einen
Zeitraum, in dem das im Juli 2009 geänderte Waffenrecht gerade erst in Kraft getreten war. Auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz war in
dem Zeitraum noch nicht in Kraft.
Erstaunlich ist auch, dass das Bundesinnenministerium fast ein Jahr gebraucht hat, um den IMK-Bericht
zusammenzufassen und dem Bundestag vorzulegen.
Es gab keine eigenständige Abfrage der Wirkungen
der Neuregelungen bei den Waffenbehörden durch das
Bundesinnenministerium. Es gab keine Gespräche mit
Waffenbesitzern und deren Verbänden durch das Bundesinnenministerium. Es gab auch keine Erhebung des
Bundesinnenministerium, wie die verdachtsunabhängigen Kontrollen in den einzelnen Ländern durchgeführt
werden, welche Gebühren für diese Kontrollen den
Waffenbesitzern angelastet werden. Nach meinen Informationen sind die Gebühren für die Kontrollen teilweise
erheblich, unterscheiden sich aber massiv von Bundesland zu Bundesland, ja sogar von Landkreis zu Landkreis.
Dabei steht in der Begründung zu den neuen waffenrechtlichen Regelungen: „Die verdachtsunabhängigen
Kontrollen liegen im öffentlichen Interesse und deswegen werden keine Gebühren erhoben.“ Wenn das
Bundesinnenministerium eigene Erhebungen durchgeführt und den Auftrag des Bundestages ernst genommen hätte, dann hätte so etwas auch in dem Evaluierungsbericht stehen müssen.
Wenn Sie uns schon eine Zusammenfassung des IMKBerichts als Ihren eigenen Evaluierungsbericht vorlegen, müssen Sie uns eine Reihe von Fragen beantworten: Wie ist der Bericht zustande gekommen? Welche
Methodik liegt ihm zugrunde? Führen die Länder Statistiken über die Kontrollen? Wird unterschieden zwischen
angemeldeten und unangemeldeten Kontrollen? Wie
kann man einen Bericht zusammenfassen und die Ergebnisse bewerten, wenn „keine einheitlich strukturierten
Daten für eine statistische Auswertung zur Verfügung
stehen“ ({0})?
Für meine Fraktion stelle ich klar: Das Waffengesetz
ist ein Bundesgesetz. Dass der Vollzug bei den Ländern
liegt, enthebt die Bundesregierung nicht ihrer Pflicht, zu
überprüfen, wie sich Gesetzesänderungen auswirken.
Die Innenausschussdrucksache 17({1})582 erfüllt nicht
den Auftrag des Deutschen Bundestages zur Evaluierung der Aufbewahrungs- und Kontrollregelungen im
neuen Waffenrecht.
Wir fordern von der Bundesregierung, dass bis Ende
2012 ein ernstzunehmender und auf eigenen Erhebungen und Befragungen basierender Evaluierungsbericht
dem Deutschen Bundestag zugeleitet wird.
Wir fordern, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, dass dem Deutschen Bundestag der IMK-Bericht
zugeleitet wird.
Das Waffenrecht ist ein Beitrag zur öffentlichen
Sicherheit. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger
ein Recht, zu erfahren, wie sich Änderungen im Waffenrecht auswirken. Und wir, der Deutsche Bundestag,
lassen uns nicht abspeisen mit der lapidaren Begründung des Personalmangels, der angeblich einer eigenständigen Evaluierung eines Bundesgesetzes entgegensteht.
Nunmehr liegt also der lang erwartete Evaluierungsbericht zu den Verschärfungen des Waffenrechts auf dem
Tisch - leider allerdings nur der Bericht der Bundesregierung. Die Länder haben Ihren Bericht nach meinem
Kenntnisstand bis zum heutigen Tag nicht freigegeben.
Dabei wäre es aus meiner Sicht durchaus hilfreich, den
Bericht der Länder zu bekommen. Immerhin ist dieser
Länderbericht die Grundlage des Evaluierungsberichts
der Bundesregierung. Vielleicht können sich die Innenminister der Länder noch dazu durchringen, dem Bundestag als zuständigem Gesetzgeber im Bereich des Waffenrechts ihren Bericht vorzulegen. Dies wäre sehr
hilfreich.
Zum vorgelegten Evaluierungsbericht der Bundesregierung: Wie dem Bericht zu entnehmen ist, scheinen
sich die Änderungen im Waffenrecht der letzten Jahre
bewährt zu haben. Erlauben Sie mir dennoch ein paar
kritische Anmerkungen. Zunächst zu den Altersgrenzen
gemäß § 27 III Waffengesetz. Was die Altersgrenzen für
junge Sportschützen angeht, so wurden diese mit den
Verschärfungen des Waffenrechts erheblich angehoben.
Sicher, es gibt die Möglichkeit für Ausnahmegenehmigungen für den Bereich des Leistungssports. Aber diese
gelten für den Leistungssport, und niemand fängt in diesem Bereich an. Außerdem gibt es für Ausnahmegenehmigungen auch Einschränkungen, sofern mit bestimmten Kalibern geschossen werden soll. Ob sich diese
Altersbeschränkungen mit der Möglichkeit der Ausnahme allerdings unter dem Gesichtspunkt Nachwuchsförderung bzw. Nachwuchsgewinnung und Olympische
Spiele bewährt haben, ist aus meiner Sicht fraglich. Mir
geht es nicht darum, dass Jugendliche ohne jegliche altersgerechte Betreuung den Umgang mit Waffen lernen.
Mir geht es darum, dass Sportler ihre Karriere frühzeitig beginnen können, damit sie in der Weltklasse mithalten können. Mit den angesprochenen Einschränkungen
sehe ich da große Probleme. Wir sollten uns dies im Innenausschuss aus meiner Sicht noch einmal genau ansehen.
Zur Bedürfnisprüfung nach § 4 Waffengesetz: Zur Bedürfnisprüfung möchte ich anmerken, dass viele Sportschützen zwar regelmäßig schießen, oftmals aber Probleme haben, die für erforderlich gehaltene Anzahl von
Schießen nachzuweisen. Dies wiederum hat dann Auswirkungen auf ihr Bedürfnis, entsprechende Waffen zu
besitzen. Im Bericht heißt es dazu, dass in knapp 4 Prozent der Fälle, in denen eine Bedürfnisprüfung vorgenommen wurde, ein Widerrufsverfahren nach § 45 II
Waffengesetz eingeleitet wurde. Mich würden in diesem
Zusammenhang weitere Hintergründe zu diesen angeführten Fällen interessieren.
Schließlich noch zur verdachtsunabhängigen Kontrolle nach § 36 III Waffengesetz: Es wird Sie sicherlich
nicht überraschen, aber gerade aus liberaler Sicht sehe
ich bei den Möglichkeiten der Nachschau in privaten
Räumen das größte Problem der Änderungen im Waffenrecht. Hierbei wird aus meiner Sicht in das Recht der
Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen, wie sie das
Grundgesetz in Art. 13 garantiert. Sicherlich ist eine
Kontrolle zur Durchsetzung gesetzlicher Vorschriften
erforderlich. Aber was ich im Zusammenhang mit den
Nachschauen aus dem Kreis von Jägern und Schützen zu
hören bekomme, macht mich fassungslos. Da wurde mir
berichtet, dass zur Überprüfung gleich mehrere Behördenvertreter zusammen mit Polizisten angerückt seien.
Es wurde mir auch berichtet, dass Behördenvertreter
gar keine Ahnung von Waffen gehabt haben sollen. Wenn
wir als Gesetzgeber diese ohnehin schon problematische
Nachschau gesetzlich verankern, dann hat diese auch
schonend und fachlich versiert zu erfolgen. Ich sehe hier
noch erheblichen Klärungsbedarf.
Sie sehen, es gibt noch viele Punkte, die in den weiteren Beratungen zu klären sind. Ich bin gespannt auf die
weiteren Beratungen im Innenausschuss.
Der vorliegende Antrag der SPD hat sich insofern erledigt, als dass die Bundesregierung in plötzlicher Eile
- mit Datum vom 8. Oktober 2012 - den geforderten
Evaluationsbericht doch noch vorgelegt hat. Allerdings
kann der Bericht nicht den Anspruch einlösen, eine Evaluation der waffenrechtlichen Änderungen seit 2009
oder gar eine Evaluation des bundesdeutschen Waffenrechtes vorzunehmen. Die Bundesregierung hat es sich
so einfach wie möglich gemacht. Sie hat den Evaluationsbericht der Expertengruppe „Waffenrecht“ der
Ständigen Konferenz der Innenminister von Dezember
2011 abgeschrieben. Die Datenlage dieses Berichtes ist
allerdings mehr als dürftig.
Von den 577 Behörden - Polizei und Kommunen sind nur 86 Waffenbehörden für den Zeitraum Januar bis
Dezember 2010 befragt worden. Da war das Waffenrecht gerade mal anderthalb Jahre in Kraft. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz wurde
erst im März 2012, also nach der Datenerhebung, in
Kraft gesetzt. Die Verwaltungspraxis zum Beispiel zur
Bedürfnisprüfung war bis dahin in jedem Kreis eine
andere. Angesicht dessen und der Tatsache, dass in den
Ländern völlig unterschiedliche Statistiken geführt werZu Protokoll gegebene Reden
den, die erhobenen Daten also nur begrenzt vergleichbar sind, kann von einer repräsentativen Erhebung
keine Rede sein.
In der Anhörung zum Waffenrecht im Innenausschuss
des Bundestages im Mai 2012 waren sich alle Fraktionen und Gutachter einig, dass eine Evaluierung des bundesdeutschen Waffenrechtes unabdingbar ist. Die Bundesregierung beschränkt sich auf die Änderungen seit
2009, und selbst das ist nur halbherzig umgesetzt. Die
Linke hingegen fordert eine grundhafte Evaluation des
bundesdeutschen Waffenrechtes und einen internationalen Vergleich der bundesdeutschen Regelungen mit Regelungen anderer vergleichbarer Länder. Überprüft
werden sollte, inwieweit die Verfügbarkeit von Waffen in
der Gesellschaft und restriktive bzw. liberale Regelungen Waffenmissbrauch verhindern oder begünstigen.
Erst dann kann eingeschätzt werden, inwieweit das deutsche Waffenrecht die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und die Interessen von Sportschützen und Jägern
im vernünftigen Maße austariert.
Zum Evaluationsbericht. Nach dem Amoklauf von
Winnenden wurde das Waffenrecht in mehreren Punkten
geändert. Wesentlich sind die fortlaufende Bedürfnisund Eignungsprüfung, die Änderungen bei der Anzahl
des erlaubten Waffenbesitzes, Änderungen bei den Altersgrenzen, die Nachweispflicht einer sicheren Aufbewahrung, die Einrichtung des nationalen Waffenregisters und insbesondere die verdachtsunabhängigen
Kontrollmöglichkeiten zur vorschriftsmäßigen Lagerung von Waffen und Munition. In all diesen Punkten bescheinigt der Bericht der Bundesregierung eine Verbesserung der Sicherheit und die Praktikabilität der
Gesetzesänderungen. Kein Wort wird hingegen verloren,
dass die meisten Waffenbehörden mit den verdachtsabhängigen und verdachtsunabhängigen Kontrollen personell überfordert sind. Die Vor-Ort-Kontrollquote von
3,85 Prozent aller waffenrechtlichen Erlaubnisinhaber
ist wohl eher ein erster Anfang als ein Ausweis für die
Effektivität der Waffenbehörden. Die dabei festgestellte
Beanstandungsquote von 23 Prozent ist zutiefst erschreckend und widerspricht den gebetsmühlenartig vorgetragenen Behauptungen von der überdurchschnittlichen
Gesetzestreue der Waffenbesitzer. Es ist noch viel Arbeit
zu leisten, um zu dem behaupteten Zustand zu gelangen.
Auch der für Ende 2012 angekündigte Start des nationalen Waffenregisters ist nach Einschätzung zahlreicher
Experten kaum zu halten. Es gibt erhebliche Schwierigkeiten bei der Zusammenführung Hunderter unterschiedlicher Datenbestände. Im Bericht liest sich das völlig
anders. Probleme kommen nicht vor. Der illegale Waffenbesitz als gefährlichster Umstand bezüglich Waffen
in der Bundesrepublik wird nur im Zusammenhang mit
der abgelaufenen, befristeten Amnestie thematisiert. Die
straflose Abgabemöglichkeit nicht zugelassener Waffen
ist eine anerkannte Möglichkeit, illegale Waffen aus dem
Schwarzmarkt zu nehmen. Im Bericht wird allerdings
nur mitgeteilt, dass Amnestien nicht zu häufig stattfinden dürfen, da sonst illegaler Waffenbesitz dauerhaft legalisiert würde. Das offenbart eine gähnende Ideenlosigkeit der Bundesregierung.
Es ist offensichtlich, dass die Regierungsparteien ein
Jahr vor den Wahlen kein wirkliches Interesse an einer
Evaluation des Waffenrechtes, geschweige denn an konstruktiven Änderungen haben und ihr bisheriges Handeln in belanglosen Berichten beschönigen wollen.
Der Antrag, den wir hier vor uns haben, ist ein klassisches Stück SPD-Politik zum Waffenrecht: erst die
Reform selbst nicht hingekriegt, dann in anklagendem
Ton die Bundesregierung angehen, dass sie doch endlich
ihrer Informationspflicht nachkommen solle - die es so
gar nicht gibt, weil die SPD sie nicht im Gesetz verankert hat -, und schließlich übersehen, dass andere diese
Anforderung längst gestellt haben, und zwar da, wo es
tatsächlich wirksam ist, nämlich im Innenausschuss.
Von einer inhaltlichen Positionierung in Sachen Reform
des Waffenrechts sieht die SPD übrigens ab.
Der Reihe nach: Im Frühjahr 2009 hat die damalige
Große Koalition eine verkorkste und unzureichende
Reform des Waffenrechts beschlossen. Zwar wurden einige wichtige Punkte aufgenommen und die ohnehin
zwingende Erfüllung EU-rechtlicher Vorgaben noch einmal als Fortschritt gefeiert. Aber es gibt darin keine Begrenzung des Waffenbesitzes, keine Regelungen gegen
großkalibrige, halbautomatische Waffen, wie sie beim
grässlichen Amoklauf in Winnenden benutzt wurden,
keine Vorschrift, Waffen und Munition getrennt aufzubewahren. Auch eine Auswertung dieses Reförmchens
sieht das Gesetz nicht vor. Die mitregierende SPD hat es
damals nicht vermocht, ihre Zustimmung zum Gesetz
davon abhängig zu machen - es gab lediglich einen Entschließungsantrag. Nicht einmal die wissenschaftliche
Unabhängigkeit der Evaluierung wurde damals angemahnt. Die wäre zwar richtig, aber im Text steht eben
auch sie nicht. Und mal ganz ehrlich: Ein Entschließungsantrag einer Regierungskoalition, in der die eigene Regierung zum Handeln aufgefordert wird, ist nun
wirklich eine so schwache Willenserklärung, dass man
von Entschluss eigentlich nicht mehr reden mag. Als
Papiertiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet!
Inhaltlich teilen wir das Anliegen der SPD, weshalb
ich namens meiner Fraktion bereits im letzten Dezember
um Übersendung der entsprechenden Ergebnisse der
Länder gebeten hatte. Und ich hatte die Bundesregierung um ihre Haltung zu diesen Erkenntnissen gebeten
und auch darum, welche Folgerungen sie daraus zieht.
Das Ergebnis war ernüchternd. Zunächst hieß es, es
liege noch nichts vor, und wir wurden mit einer lapidaren Zusammenfassung des Gesetzes abgespeist. Da es ja
bei Schwarz-Gelb bekanntlich oft länger dauert, bis die
Erkenntnis einsetzt, und dann ja noch der unvermeidliche Koalitionsstreit zu regeln ist, habe ich dann erst im
Juni wieder nachgefragt. Nun wurde ich darauf verwiesen, dass es sich um einen Bericht der Länder handle,
der dem Bund nicht zugänglich sei. Dass diese Regierung bisweilen lange braucht, um anstehende Fragen zu
verstehen, daran haben wir uns alle gewöhnt. Dass sie
das Schreiben von Gesetzen auslagert, ist auch nicht
neu, aber dass sie nun die Bewertung einer Studie der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesländer nicht von der Studie selbst unterscheiden
kann und im Übrigen eben diesen Ländern überlassen
will, das ist dann doch ein neuer Grad an Begriffsstutzigkeit und Unselbstständigkeit.
Mit Datum vom 8. Oktober wurde uns nun ein knapper Bericht vorgelegt. Darin werden vor allem die Änderungen des Waffengesetzes noch einmal dokumentiert,
an Evaluierung gibt es nicht mehr als Sätze der Komplexitätsstufe „Die Regelung hat sich dem Grunde nach bewährt“. Man fühlt sich so stark an Radio Eriwan erinnert, dass man auf die Frage, ob diese Evaluierung
etwas tauge, antworten möchte: Im Prinzip ja, aber sie
müsste um Erkenntnisse ergänzt werden. Die Bundesregierung verzichtet vollkommen darauf, irgendwelche
Schlussfolgerungen zu ziehen. Kein Wort dazu, wie festgestellte Defizite behoben werden sollen, kein Wort
dazu, ob lang diskutierte Maßnahmen wie technische
Sicherungssysteme erforderlich und umsetzbar sind,
kein Wort zu neuen Fällen des Missbrauchs privater
Waffen und dazu, warum sie durch die Gesetzesnovelle
nicht verhindert wurden.
Man kann hoffen, dass die Innenministerkonferenz
sich doch noch erweichen lässt, und uns ihre - hoffentlich - umfangreichere und substanziellere Studie zukommen lässt, dann kann man vielleicht noch etwas lernen.
Allerdings muss man befürchten, dass es dazu nicht
kommt. Wenn hier die SPD beantragt, dass uns dieser
Bericht vorgelegt werden möge, aber die sieben Landesinnenminister der SPD offenbar nicht für eine Übermittlung votiert haben und auch die Unionsinnenminister in
den mit Großer Koalition regierten Ländern nicht von
einer Veröffentlichung zu überzeugen waren, dann mache ich mir wenig Hoffnung.
Fazit: ein schlechtes Gesetz vor drei Jahren, Geheimniskrämerei der eigenen Landesminister und ein Schaufensterantrag, der Jahre alte eigene Versäumnisse verdecken soll. Überzeugen kann das nicht - und gegen die
verbliebenen Lücken im Waffenrecht kann man so schon
gleich gar nichts tun.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10114 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Höhe der Managementprämie für Strom aus Windenergie und solarer Strahlungsenergie ({1})
- Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2,
17/10817 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchRalph LenkertHans-Josef Fell
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Am 30. Juni 2011, also gerade mal vor einem Jahr,
hat der Deutsche Bundestag die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beschlossen - das Herzstück
der Energiewende. Mit dem Ziel, den Anteil erneuerbarer Energieträger am Bruttostromverbrauch bis 2022
auf 80 Prozent gegenüber heute etwa zu verdreifachen,
müssen auch die Anforderungen an die Rahmenbedingungen für diese Entwicklungen angepasst werden. Aus
diesem Grund war die schrittweise Integration regenerativer Erzeuger in den Energiemarkt - neben der kosteneffizienten Ausgestaltung der Förderung und der
Fortsetzung bewährter Grundprinzipien - schon vor einem Jahr ein zentraler Bestandteil der Novelle. Auch im
Energiekonzept der Bundesregierung vom September
2010 wird das Ziel „die Einspeisung effizienter gestalten“ bereits deutlich herausgestellt. Ich zitiere: „... eine
schrittweise, aber zügige Heranführung an den Markt
und damit eine stärker bedarfsgerechte Erzeugung und
Nutzung der erneuerbaren Energien. Künftig soll das
EEG stärker am Markt orientiert werden und der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien in stärkerem
Maße marktgetrieben erfolgen.“
Dieses Kernelement - die Markt- und Systemintegration - hat die Weiterentwicklung des Gesetzes aus dem
vergangenen Jahr übrigens mit nahezu allen Vorschlägen über die zukünftige Ausgestaltung des Strommarkts
gemein, die heute auf dem Tisch liegen.
Damit will ich sagen: Wir wissen alle, dass das EEG
durch den zunehmenden Anteil regenerativer Erzeuger
- die erneuerbaren Energien sind keine Nischenprodukte mehr - an seine Grenzen stößt. Aus diesem Grund
beschäftigten sich die Bundesregierung, aber auch die
Unionsfraktion im Deutschen Bundestag seit Jahren mit
marktorientierten Förderwerkzeugen innerhalb des bestehenden Gesetzes.
Bereits heute liegt der Anteil der Erneuerbaren an der
Bruttostromerzeugung bei 25 Prozent, und bei diesem
Anteil gewinnt die Optimierung des Zusammenspiels aller Marktakteure - der Erneuerbaren, der Konventionellen, aber auch von Speichern und Stromverbrauchern immer weiter an Bedeutung.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag nicht erst seit der Novelle
des EEG im Jahr 2009 auf die Bedeutung der Marktintegration hinweist. So fand der Beginn der Marktintegration Erneuerbarer Anfang 2010 statt; seitdem wird
Strom, der in EEG-Anlagen erzeugt wird, durch die
Übertragungsnetzbetreiber am Day-ahead-Markt der
Leipziger Strombörse transparent vermarktet. Strom aus
Erneuerbaren leistet erstmals einen aktiven Beitrag zur
Grundfunktion des Marktes, dem Prinzip von Angebot
und Nachfrage, und beeinflusst seitdem aktiv die Preisbildung.
Das zweite Instrument, die Einführung eines Prämienmodells, um eine marktorientierte Produktion erneuerbarer Energien anzureizen und diese schrittweise an den
Markt heranzuführen, war ursprünglich ebenfalls im
Rahmen der 2009er-Novelle angedacht. Gegen vehemente Intervention des damaligen Koalitionspartners ist
das Instrument jedoch bedauerlicherweise im parlamentarischen Beratungsverfahren gescheitert und erst vier
Jahre später, auf erneute Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten.
Die Einführung der Marktprämie stellt bis heute einen
Paradigmenwechsel bei den erneuerbaren Energien dar.
Es war ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige
Richtung und hat Anlagebetreibern zum ersten Mal die
Möglichkeit eröffnet, sich optional selbstständig im
Markt zu versuchen oder aber Dritte mit dieser Aufgabe
zu beauftragen.
Die Anzahl der EE-Anlagen, die in diesem Jahr in die
Direktvermarktung gewechselt sind, hat uns letztendlich
recht gegeben; unsere Erwartungen wurden bei weitem
übertroffen und somit im Oktober 2012 fast 27 Gigawatt
über das Marktprämienmodell vermarktet - das entspricht der Hälfte der installierten Leistung erneuerbarer Energien in Deutschland. Und auch für die Zukunft
wird ein breiter Zulauf erwartet; die Übertragungsnetzbetreiber haben in ihrer Annahme zur EEG-Umlage
2013 prognostiziert, dass der Anteil der Anlagen in der
Marktprämie auf bis zu 36 Gigawatt ansteigen könnte.
Bereits heute lassen sich die ersten positiven Effekte
dieser Marktorientierung feststellen: Dies betrifft in erster Linie die zunehmende Flexibilität des Gesamtsystems
und die damit zusammenhängenden sinkenden Systemkosten. Zum Beispiel konnte durch den Auf- und Ausbau
einer umfassenden Infrastruktur, von Kommunikationsund Steuerungssystemen die Prognosegüte bei der
Stromerzeugung deutlich verbessert werden. Wie sich
ein zukünftiger Strommarkt immer auch gestalten wird hierbei handelt es sich um eine sinnvolle Investition in
die Zukunft.
Dieser Nutzen findet sich auch in der finanziellen Betrachtung wieder. Bereits im ersten Jahr hat die Einführung der Marktprämie zu einer Reduzierung negativer
Strompreise am Spotmarkt geführt und die EEG-Umlage
dadurch signifikant entlastet. Diese Entlastung liegt darin begründet, dass die Marktprämie - im Gegensatz zur
Einspeisevergütung - einen Anreiz schafft, Windenergieanlagen abzuregeln, wenn keine Nachfrage besteht.
Dieser unerwartete Erfolg hat unzweifelhaft auch
Auswirkungen auf die Kosten der Marktprämie. Die prognostizierten 200 Millionen Euro Mehrkosten, die für
das Einführungsjahr der Marktprämie - maßgeblich
durch die Vergütung der Kosten für den Ausgleich von
Prognoseabweichungen sowie die Kosten für den Handelszugang veranschlagt wurden, werden aufgrund der
regen Teilnahme bereits deutlich überschritten. Allerdings haben die Gutachter im vergangenen Jahr einen
Rückgang der Kosten für das Folgejahr prognostiziert dieser Beweis ist in den kommenden Jahren noch zu führen.
Obwohl oder gerade weil die Marktprämie solch ein
Erfolgsmodell ist, ist es notwendig, die Prämie nachhaltig an die Entwicklung des Marktes anzupassen: Die
Managementprämie für fluktuierende erneuerbare Erzeuger, und nur um diese geht es in dieser Verordnung,
wäre zum 1. Januar 2013 von heute 1,2 Cent pro Kilowattstunde auf 1 Cent pro Kilowattstunde gesunken. Allerdings war bereits im Laufe dieses Jahres absehbar,
dass sich die Grundlage für die Berechnung der Managementprämie verändert. Es war von Beginn an davon auszugehen, dass die Einführung eines neuen unbekannten Instruments anfangs höhere Kosten als im
derzeitigen System verursachen dürfte und schon kurzfristig mit einem deutlichen Lerneffekt zu rechnen ist.
Auch aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag im
vergangenen Sommer eine Verordnungsermächtigung
innerhalb des EEG beschlossen, um die Marktprämie
kurzfristig und kosteneffizient an die Marktentwicklungen anzupassen.
Auf Basis neuer wissenschaftlicher Untersuchungen,
die gezeigt haben, dass sich die Höhe der Managementprämie für volatile Erzeuger mittlerweile deutlich über
den wirtschaftlich abzudeckenden Kosten befindet, wird
die Höhe der Managementprämie im Rahmen der Managementprämienverordnung über die im EEG festgelegte Degression zum Ende des Jahres angepasst. Diese
Erkenntnisse wurden darüber hinaus durch die Erfahrungen der Übertragungsnetzbetreiber bestätigt, die
diese über Jahre bei der Vermarktung des EEG-Stroms
machen konnten. Das führt letztlich dazu, dass die Managementprämie für das Jahr 2013 bei nicht fernsteuerbaren Anlagen um 0,35 Cent pro Kilowattstunde abgesenkt wird.
Eine weitere Anpassung, die im Rahmen der Managementprämienverordnung zu einer effizienteren Integration fluktuierender Erneuerbarer in den Markt führen
soll, ist die Kopplung einer erhöhten Managementprämie an die Fernsteuerbarkeit der Anlagen. Die Managementprämie wird hierfür um 0,1 Cent pro Kilowattstunde gegenüber nicht fernsteuerbaren Anlagen
erhöht; somit fällt die Degression der Managementprämie bei fernsteuerbaren Anlagen mit 0,25 Cent pro Kilowattstunde etwas niedriger aus. Diese Regelung soll
dazu führen, den - bisher schleppend vorangehenden Integrationsprozess fernsteuerbarer Wind- und Solaranlagen im folgenden Jahr signifikant zu beschleunigen
und einen Anreiz zu schaffen, um die Einrichtung von
Fernsteuerungstechnologien im Sinne der Systemsicherheit weiter zu etablieren und die bedarfsorientierte Bereitstellung von Strom zu verbessern.
Vor diesem Hintergrund wird die Absenkung der Managementprämie eine geringere Gewinnmarge für die
Direktvermarktung von Strom aus Windenergie und solarer Strahlungsenergie zur Folge haben. Grundsätzlich
- und das ist auch die Rückmeldung aus der Branche bleibt jedoch der Anreiz zum Wechsel in die DirektverZu Protokoll gegebene Reden
marktung erhalten und bietet bei entsprechendem Anlagenbetrieb auch zukünftig die Aussicht auf angemessene
wirtschaftliche Mehrerlöse.
Dem ist noch hinzuzufügen, dass in der Verordnung
auch für die Zeit ab 2014 die Höhe der Managementprämie für nicht fernsteuerbare Anlagen und eine stetige
Verstärkung der zusätzlichen Anreizwirkung für fernsteuerbare Anlagen geregelt ist.
Das Ziel der Managementprämienverordnung ist es,
die Direktvermarktung der erneuerbaren Energien zunehmend stärker an den Markt heranzuführen und die
Kosteneffizienz der Stromversorgung insgesamt zu verbessern; die EEG-Umlage wird durch die Neuregelung
im Jahr 2013 um die Größenordnung von 200 Millionen
Euro entlastet und leistet infolgedessen einen Beitrag zu
den Bestrebungen der Bundesregierung, die Kosten der
Energiewende in einem angemessenen Rahmen zu halten.
Die Entwicklung der Direktvermarktung wird weiterhin regelmäßig evaluiert, und die Entwicklung der tatsächlichen Kosten als auch der unmittelbare Nutzen der
Direktvermarktung, insbesondere in Bezug auf die
Marktintegration, werden analysiert.
Ich bitte daher um Zustimmung zur vorliegenden Verordnung.
Ich halte die Degression der Managementprämie für
richtig. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um die erneuerbaren Energien marktfähig zu machen.
Die Direktvermarktung von Eigenstrom ist ein wichtiger Schritt in Richtung Marktanpassung. Wichtig ist
hierzu, dass die Angebote der vielen Kleinerzeuger zusammengeführt und daraus verlässliche Komplettpakete
geschnürt werden.
Die Bevölkerung in Deutschland greift die Chancen
der Energiewende aktiv auf: Seit 2005 haben sich über
80 000 Bürger in rund 600 Energiegenossenschaften zusammengetan. Darüber hinaus gibt es weitere Formen
des genossenschaftlichen Engagements. Ihnen allen ist
gemein, dass sie die Energiewende dezentral gestalten
und die Wertschöpfung in der jeweiligen Region halten.
Das Einkommen aus der Energieproduktion fließt nicht
mehr in anonyme Aktienpakete oder ins Ausland, sondern kommt Landwirten, Hausbesitzern, Handwerkern
und vielen Privatleuten zugute, die sich an Windrädern
und Solaranlagen beteiligen oder diese vor Ort installieren und warten. Das ermöglicht breite Eigentumsstreuung im Energiebereich und stärkt so die Mittelschichten
der Gesellschaft.
Das aktuelle Zusammentreffen neuer Informationstechnologien mit erneuerbaren Energien führt zu einem
Entwicklungsschub, der die Grundlagen unseres Lebens
in Richtung Dezentralität und Kleinteiligkeit verändert.
Dies fördert langfristig ein verlässliches Stromangebot wir sind weder vom Funktionieren einer Handvoll Großkraftwerke abhängig, noch sind wir steigenden Rohstoffkosten oder Unsicherheiten beim Import ausgeliefert.
Der Import macht derzeit noch 70 Prozent der Energiekosten aus. Mit erneuerbaren Energien können wir
flexibel und selbstbestimmt auf Angebot und Nachfrage
reagieren.
Dabei spielt auch Biomasse eine wichtige Rolle - sie
kann kurzfristig an den Verbrauch angepasst werden
und helfen, Lücken in der Stromproduktion durch Wind
und Sonne zu überbrücken. Eine Zusammenführung der
Kleinerzeuger mit bedarfsgerechten Komplettangeboten
stabilisiert den Markt und entlastet die EEG-Umlage.
Derzeit wird von den Möglichkeiten der Direktvermarktung noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die
Managementprämie ist strukturell zu sehr auf die alten
Stromversorger hin orientiert.
Gut ist an ihr, dass die Fernsteuerbarkeit von Anlagen verbessert wird. In einem virtuellen Kraftwerk, also
einem Verbund verschiedener Kleinerzeuger, trägt die
Fernsteuerbarkeit zur bedarfsgerechten Einspeisung
der erneuerbaren Energien und zur Entlastung der
EEG-Umlage bei. Unumstößlich für das Gelingen der
Energiewende ist und bleibt bei allen diesen Marktmechanismen der Einspeisevorrang der erneuerbaren
Energien.
Viele Ökostromhändler haben in eine langfristig angelegte Direktvermarktung investiert und sind bereit,
sich weiterzuentwickeln. Jörg Müller, Vorstandschef
von ENERTRAG, erklärt: „Mit einem novellierten
Grünstromprivileg könnten wir die Stromkunden preiswerter mit sauberer Energie beliefern.“ Diesem Zitat
schließe ich mich an.
An diesem Montag konnte man schwarz auf weiß lesen, was zuvor viele befürchtet hatten: Die Übertragungsnetzbetreiber gaben an, dass die sogenannte EEGUmlage im nächsten Jahr 5,277 Cent pro Kilowattstunde betragen wird. Dies entspricht einer Erhöhung
um rund 50 Prozent, nachdem die EEG-Umlage in diesem Jahr noch 3,59 Cent pro Kilowattstunde betragen
hat. Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen diesen
Preis pro verbrauchter Kilowattstunde, um Deutschlands Energieerzeugung fit für die Zukunft zu machen.
Kritiker und Gegner der Energiewende sind kräftig
am Werk, um Ängste seitens der Verbraucherinnen und
Verbraucher vor steigenden Strompreisen zu schüren.
Eines muss uns jedoch klar sein: Die Energiewende wird
es nicht zum Nulltarif geben. Der Umbau der Energieinfrastruktur und des Marktsystems mit dem Ziel, eine
Vollversorgung mit erneuerbaren Energien bis 2050 zu
erreichen, wird zweifelsohne Geld kosten.
Andererseits muss man sich darüber im Klaren sein,
welche immens hohen Kosten auf uns zukommen würden, wenn wir in der Energiefrage untätig blieben. Das
fossile Öl und Gas aus Saudi-Arabien und Russland gehen zur Neige, die Brennstoffe müssen in den nächsten
40 Jahren ersetzt werden. Die zentrale Frage, die wir
uns stellen müssen, ist: Was hätte es gekostet, wenn die
Energiewende nicht in Gang gesetzt worden wäre und
alles beim Alten geblieben wäre? Eine Struktur des
Zu Protokoll gegebene Reden
Strommarkts mit wenigen, aber übermächtigen Stromkonzernen, ins Unermessliche steigende Öl- und Gaspreise, verpestete Luft und eine zerstörte Umwelt!
Eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung will nach wie vor die Energiewende hin zu einem
dezentralen Strommarkt, bezahlbarem Strom und einer
Vollversorgung mit sauberen, erneuerbaren Energien.
Es gilt jetzt vor allem, die anfallenden Kosten so gerecht
zu verteilen, dass die Herkulesaufgabe Energiewende
nicht nur auf wenigen Schultern ruht, sondern alle gleichermaßen mit in die Finanzierung eingebunden und soziale Härten abgefedert werden.
Die Höhe der EEG-Umlage taugt dabei ganz und gar
nicht als Indikator für die Kosten der Energiewende, obwohl Kritiker uns dies weismachen wollen: Die Umlageerhöhung geht am wenigsten auf die ansteigende Förderung für die erneuerbaren Energien zurück. Nur rund
ein Drittel des gesamten Anstiegs um rund 1,7 Cent betrifft die zusätzlichen Förderkosten von ErneuerbareEnergien-Anlagen. Für den Rest sind vor allem die politischen Fehlentscheidungen der schwarz-gelben Bundesregierung im Zuge der Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes im Sommer 2011 verantwortlich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Umweltminister Röttgen haben im letzten Jahr die Anhebung der EEG-Umlage aus politischen Gründen einfach
aufgeschoben. Nichts sollte die NRW-Wahl für Röttgen
belasten. Dieser Schuss ging Gott sei Dank nach hinten
los, die Rechnung dafür müssen die Verbraucherinnen
und Verbraucher aber nun im nächsten Jahr bezahlen.
Zudem hat Schwarz-Gelb die Umlageentlastung von Industrieunternehmen enorm ausgeweitet. Ab 2013 profitieren dann statt circa 750 Unternehmen wie in diesem
Jahr mindestens 2 000 industrielle Abnehmer von den
Privilegien. Die Umlage wird somit auf weniger Schultern verteilt. Privathaushalte und kleine und mittelständische Unternehmen müssen die Zeche dafür zahlen.
Ein weiterer Punkt, der die EEG-Umlage unnötig belastet, ist das sogenannte Marktprämienmodell, das die
Bundesregierung in der letzten EEG-Novelle gegen den
Willen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen hat.
Das Modell beinhaltet eine Marktprämie und eine Managementprämie, die Anlagenbetreibern ausgezahlt wird,
wenn sie ihren erzeugten Strom direkt - und nicht über
den EEG-Mechanismus - verkaufen.
Nun, noch nicht einmal ein Jahr nach der Einführung
dieses Mechanismus, bestätigt sich die Kritik der SPDBundestagsfraktion am Marktprämienmodell voll und
ganz: Diese Form der Direktvermarktung fördert weder
die Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien,
noch setzt sie ausreichend Anreize für eine bedarfsgerechte Einspeisung und für Investitionen in Speichertechnologien. Zudem wurde weder die Prognosegüte
verbessert, noch eröffneten sich neue Vermarktungswege für den wertvollen Grünstrom. Es zeigt sich, dass
die Marktprämie zwar hohe Kosten verursacht, die gewünschte Wirkung jedoch nicht erzielt hat. Zudem
machen Anlagenbetreiber, Direktvermarkter und die
konventionelle Energiewirtschaft durch hohe Mitnahmeeffekte Kasse. Konventionelle Energieerzeuger kaufen
beispielsweise den billigen Grünstrom ein, anstatt mit
höheren Kosten selbst Strom zu produzieren, und teilen
sich die Managementprämie mit den Anlagenbetreibern.
So profitieren sie sogar doppelt.
Kurzum: Die nun von der Bundesregierung vorgesehene Absenkung der Managementprämie ist ein Symptom dafür, dass das Marktprämienmodell in seiner derzeitigen Form gescheitert ist. Die Absenkung kann man
zwar begrüßen, sie ändert aber nichts an der grundsätzlichen Fehleinschätzung auch in dieser energiepolitischen Frage.
Die Kosten, die die Managementprämie verursacht,
sind Bestandteil der EEG-Umlage und werden von den
Stromendverbrauchern bezahlt. Angesichts der steigenden Belastungen für Stromkunden sehen wir es als richtig an, die sinnlosen Überförderungen innerhalb der
Managementprämie zu beseitigen, und stimmen daher
der Verordnung zu ihrer Absenkung zu.
Gleichzeitig kritisieren wir, dass die Bundesregierung
im Zuge der letzten EEG-Novelle das bislang einzig effektive Instrument zur Marktintegration erneuerbarer
Energien, das sogenannte Grünstromprivileg, durch ungerechtfertigte Restriktionen faktisch beseitigt hat. Anders als die Marktprämie wäre ein weiterentwickeltes
Grünstromprivileg ein einfaches, unbürokratisches System, das Märkte für Grünstrom schafft und Anreize zum
betriebswirtschaftlichen Planen bietet. Die Bundesregierung soll endlich die Marktprämie in der derzeitigen
Form als ineffizientes und überteuertes Direktvermarktungsmodell abschaffen und stattdessen ein Konzept für
eine Weiterentwicklung des Grünstromprivilegs vorlegen, das die System- und Marktintegration effektiv und
kosteneffizient vorantreibt, Anreize für eine bedarfsgerechte Stromeinspeisung erneuerbarer Energien und für
Investitionen in Speichertechnologien schafft. Ein Lerneffekt stellt sich bei Schwarz-Gelb aber leider nur selten
ein.
Der Vermittlungsausschuss hat sich im Rahmen des
Pakets zur Reform der Photovoltaikvergütung darauf
geeinigt, die Managementprämie ab dem Jahr 2013 abzusenken, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden und die
Belastung der Stromkunden zu verringern. Diese Absenkung stellt eine Justierung des im letzten Jahr eingeführten Instruments der Marktprämie dar. Deren Einführung
war richtig, da sie zur Direktvermarktung motiviert und
so die erneuerbaren Energien an den Markt heranführt.
Allerdings wurden von den zuständigen Ministerien im
Gesetzgebungsverfahren wesentlich niedrigere Kosten
prognostiziert. Das zeigt erneut die begrenzte Prognosefähigkeit der öffentlichen Institutionen in Bezug auf die
EEG-Instrumente.
Zudem ist dieses Instrument für die Markt- und Netzintegration erneuerbarer Energien auf Dauer nicht geeignet, weil es einen Mindestpreis setzt und die Börsenentwicklung nach unten abfedert. Die Marktakteure
können also nach oben profitieren und haben nach unten
kein Risiko. Deshalb plädiert die FDP-Bundestagsfraktion dafür, die Marktprämie durch ein MarktzuschlagsZu Protokoll gegebene Reden
modell zu ersetzen, bei dem es einen festen Zuschlag auf
den Börsenpreis und nicht einen vollständigen Kostenairbag nach unten gibt, der letztendlich die in Rede stehenden Zusatzkosten mit verursacht.
Es ist die Mühe wert, gemeinsam zu schauen, wie man
die Direktvermarktung reformieren kann. Die Antwort
der Opposition, einfach das Grünstromprivileg auszuweiten, greift zu kurz. Denn das Grünstromprivileg ist
immer damit verbunden, dass die EEG-Umlage auf immer weniger Schultern lastet. Deshalb müssen andere
Modelle entwickelt und dann auch beschlossen werden.
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Vergangenes Jahr haben wir in einem unfassbaren
Tempo 200 Seiten EEG-Novelle durch dieses Haus gejagt. Es war aufgrund der Eile nicht einmal den Verbänden möglich, die Gesetzesnovelle in ihrer ganzen Breite
zu durchdringen, obwohl sie den Entwurf dafür Tage vor
den Abgeordneten zur Stellungnahme erhalten hatten.
Verschiedene peinliche Dinge, die sich in dem Entwurf
noch verborgen hatten, wurden inzwischen ausgeräumt.
Darüber hinaus gab es aber auch Politisches, aufgrund
dessen der Bundesrat diese Novelle so nicht passieren
lassen wollte. Die Verordnung zur Absenkung der Managementprämie, die wir jetzt behandeln, ist Teil der
Kompromissmasse aus den Verhandlungen mit dem Bundesrat und wiederum eine Korrektur der völlig überhasteten und planlosen Änderungen am Erneuerbare-Energien-Gesetz des vergangenen Jahres.
Die Linke begrüßt diese Verordnung, da wir bereits
zur Einführung der Managementprämie davor gewarnt
haben, dass diese zu unnötigen Mehrkosten bei der Erneuerbare-Energien-Umlage führen würde. Auch der
Bundesverband Erneuerbare Energien hat seinerzeit vehement darauf hingewiesen. Bereits nach wenigen Monaten hat sich herausgestellt, dass die Prämie zu hoch
angesetzt war und kaum einen Nutzen gebracht hat. Sie
hatte keinen Nutzen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und ebenso wenig für deren Marktintegration.
All das war bereits im Juni 2011 absehbar, und davor
hatten wir gewarnt.
Bei einer zweiwöchigen Beratungszeit für einen über
200 Seiten umfassenden Gesetzentwurf, in dem noch wesentlich gravierendere Dinge fehlgesetzt worden waren,
ist es aber kein Wunder, dass solche mahnenden Stimmen nicht wahrgenommen wurden. Obwohl wir die vorgesehene Kürzung der Managementprämie nun begrüßen, können wir uns letztendlich zu dem Gesamtwerk
nur enthalten. Das eigentliche Problem dieser Verordnung ist nämlich das Ziel der Marktintegration von fluktuierenden erneuerbaren Energien. Die Linke vertritt
hier deutlich den Standpunkt, dass nicht die erneuerbaren Energien sich dem Markt anpassen müssen, sondern
der Markt den fluktuierenden erneuerbaren Energien.
Wir alle kennen das Bild stillstehender Windräder, obwohl sehr wohl Wind weht. Es kommt immer häufiger
vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber erneuerbare
Energien vom Netz nehmen müssen, weil fossile Grundlastkraftwerke die Netze verstopfen. Aber trotz der zunehmenden Abschaltung von Erneuerbare-Energien-Anlagen hält die Bundesregierung weiter daran fest,
Sonnen- und Windstrom passend für den Markt machen
zu wollen, anstatt das Marktdesign, bei dem das eigentliche Problem liegt, grundlegend auf den Kopf zu stellen. Unser Ziel ist die Vollversorgung mit erneuerbaren
Energien. Wenn man das möchte, kann man die Regenerativen aber nicht in das Stromsystem hineinpressen,
sondern man muss den Markt entsprechend ausrichten.
Dass sich diese Erkenntnis noch immer nicht in den Regierungs- und Koalitionskreisen durchgesetzt hat, zeigt
uns exemplarisch das weitere Festhalten an der Marktund Managementprämie, anstatt sie völlig abzuschaffen.
Deshalb können wir dieser Verordnung nicht zustimmen.
Seit letztem Montag wissen wir, um welchen Betrag
die EEG-Umlage im nächsten Jahr steigen wird. Es sind
knapp 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Neben Wirtschaftsminister Rösler schiebt auch der Kollege Vaatz die Erhöhung auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Herr
Vaatz will mit der Begründung steigender Strompreise
die gefährliche und teure Atomkraft wiederbeleben, welche er für billig hält. Dabei ist die Atomenergie bisher
mit rund 180 Milliarden Euro subventioniert worden,
die nicht im Strompreis auftauchen. Eine billige Stromquelle, Herr Vaatz? Während bei der EEG-Umlage so
getan wird, als wären dies ausschließlich die Kosten für
den Ausbau der erneuerbaren Energien, wurden die
enormen Subventionen für Atom und die fossilen Energien über Jahrzehnte in unzähligen Haushaltsposten
versteckt. Leider ist die EEG-Umlage eben kein Indikator für die Kosten des Ausbaus der Erneuerbaren, weil
sie inzwischen mit zahlreichen anderen Posten belastet
wird. Die Regierung und die Koalitionsfraktionen sind
leider an einer ehrlichen Analyse der einzelnen Posten
der EEG-Umlage und deren Steigerungen gar nicht interessiert. Da Sie zu dieser Analyse nicht bereit sind,
werde ich sie für Sie machen. Von den 1,7 Cent Erhöhung der Umlage sind gerade einmal 0,5 Cent auf den
Ausbau zurückzuführen. Etwa zwei Drittel aber gehen
auf Ihre Fehler zurück.
Da haben wir zunächst die Ausweitung der Privilegien für die Industrie. Es ist richtig, dass wir unter der
rot-grünen Regierung die Ausnahmen für die energieintensive Industrie im EEG 2004 eingeführt haben. Wir
wollen nämlich auch nicht die energieintensive Industrie
aus Deutschland vertreiben. Doch wir führten damals
auch einen Passus ein, der die Ausnahmen auf 10 Prozent des Gesamtvolumens der Umlage deckelten. Dieser
Passus wurde 2006 aus dem Gesetz gestrichen. In der
letzten EEG-Novelle senkten Sie dann die Schwelle für
energieintensive Unternehmen auf eine Gigawattstunde
Jahresverbrauch. Dadurch haben jetzt gut 2 000 Unternehmen einen Antrag auf Befreiung von der EEG-Umlage gestellt. Erhält der große Teil dieser Unternehmen
die Befreiung, erhöht sich die Entlastung der Unternehmen auf etwa 4 Milliarden Euro. Die weitere Befreiung
vieler Industriezweige muss auf den Prüfstand, und wir
Zu Protokoll gegebene Reden
freuen uns, dass dies inzwischen auch die Bundeskanzlerin so sieht.
Ein weiterer Punkt sind die geringeren Erlöse der erneuerbaren Energien an der Strombörse durch die Einführung des neuen Wälzungsmechanismus im Jahr 2009.
Eigentlich freuen wir uns über den strompreissenkenden
Effekt der erneuerbaren Energien. Allerdings fehlt auf
der einen Seite eine Maßnahme der Bundesregierung,
diesen positiven Effekt für alle Stromkunden wirksam
werden zu lassen, und auf der anderen Seite steigt genau
durch diesen Effekt die EEG-Umlage um etwa 1 Cent
pro Kilowattstunde. Warum gibt es zur Weitergabe des
Merit-Order-Effekts an die Haushalte und zu einem verbesserten Wälzungsmechanismus eigentlich keinen Vorschlag von Umweltminister Altmaier?
Als nächsten Punkt haben wir die viel zu hohe Ansetzung der Liquiditätsreserve. Wenn die Prognose für die
EEG-Umlage für das nächste Jahr dieses Mal seriös berechnet wurde, dann brauchen wir keine Liquiditätsreserve von 10 Prozent, dann hätte die Bundesnetzagentur
die Reserve bei 3 Prozent belassen können. Auch hier
haben wir wieder Mehrkosten von etwa 1,2 Milliarden
Euro.
Auch die Marktprämie ist eine Fehlleistung dieser
Regierung. Dabei ist die Idee, die erneuerbaren Energien dort, wo es jetzt schon möglich ist, auch außerhalb
des EEG am Markt zu etablieren, richtig. Aber das Instrument hat wenig für die Marktintegration der erneuerbaren Energien bewirkt und stattdessen viele Mitnahmeeffekte produziert. Durch die Mitnahmeeffekte wurden
obendrein innovative andere Vermarktungswege uninteressant und damit ausgebremst. Die Mehrkosten der
Managementprämie belaufen sich anstelle der von der
Regierung veranschlagten 200 Millionen Euro in diesem
Jahr auf rund 600 Millionen Euro.
Wir stehen hinter dem Ziel, die erneuerbaren Energien außerhalb des EEG stärker zu fördern. Wir wollen
dazu das Grünstromprivileg wieder in das Zentrum der
Direktvermarktung der erneuerbaren Energien rücken.
Obwohl wir eine Abschaffung der Managementprämie
fordern, stimmen wir dieser Beschlussempfehlung dennoch zu, da wir damit zumindest einen ersten Schritt zur
Korrektur dieser Fehlentwicklung machen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10817,
der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/10571 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen
Fraktionen des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans
- Drucksachen 17/9744, 17/11034 Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerDr. Rolf MützenichMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({1})
Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll.
Spricht man über Ehrlichkeit und Fairness für die
Menschen auf dem Westbalkan im Zusammenhang mit
einer europäischen Perspektive, sollten wir vor der
Wahrheit nicht die Augen verschließen. Die Wahrheit
lautet: Analysiert man den Zustand der Länder des
sogenannten Westbalkan anhand der Kopenhagener
Messlatte, werden zahlreiche Defizite offenkundig. Zur
Wahrheit gehört aber auch, dass bereits honorige Anstrengungen aktueller und potenzieller Beitrittskandidaten benannt werden können. Bereits in der Debatte vom
28. Juni 2012 habe ich in meinem Redebeitrag darauf
hingewiesen, dass - auch wenn wir vereinheitlichend
vom „Westbalkan“ sprechen - wir die Heterogenität
dieser Region nicht außer Acht lassen dürfen. So unterschiedlich die nationalen, historischen, ethnischen und
religiösen Identitäten auf dem Westbalkan sind, so ungleich sind auch ihre politischen und wirtschaftlichen
sowie sozialen Entwicklungsstadien.
In Bezug auf die geforderte Geschwindigkeit der europäischen Integration im Antrag der SPD sollte darauf
hingewiesen werden, dass die Behebung der Defizite im
Sinne der Erfüllung der Kriterien für eine Vollmitgliedschaft Zeit braucht. Deutlich wird dies am Beispiel
Kroatiens, das kurz vor der bevorstehenden Aufnahme
in die EU in der vergangenen Woche einen Blauen Brief
aus Brüssel erhielt. Gleich zehn Mängel stellte die EUKommission fest, die das Land bis nächsten Juli beseitigen muss. Es hat den Weg noch nicht erfolgreich
beschritten, wie auch ich im vergangenen Juni noch annahm. Nach wie vor gilt uneingeschränkt: Wer beitritt,
muss beitragen. Und so muss Zagreb nun nachsitzen.
In diesem Zusammenhang macht es die EU-Erweiterungsmüdigkeit, wie sie in den Worten des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert mitschwang, Politikern
nicht leichter. Es geht längst nicht mehr allein um eine
ehrliche und faire Perspektive. Für die Menschen auf
dem Balkan geht es um konkrete Verhandlungen, nicht
um Versprechungen. Augenmaß und bindende Kriterien
sind das, was zählt, nicht das Termingeschäft. Nur das
schafft Vertrauen und Akzeptanz, besonders nach den
Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien, auch oder
gerade bei unseren Bürgern im eigenen Land.
Im Fall Kroatien ist noch eines zu erwähnen: An einem Beitritt ist festzuhalten, schon allein wegen der
Strahlkraft auf die Nachbarstaaten und dem eigenen
Interesse, um die in den 1990er-Jahren aus den Fugen
geratene Region für ein friedliches und sicheres Europa
weiter zu stabilisieren.
Für den Schlüsselstaat Serbien ist ebenfalls kein baldiges Termingeschäft zu empfehlen, wie es der Antrag
fordert. Die kürzlichen Äußerungen des serbischen Präsidenten Nikolic über einen möglichen Verzicht Belgrads
auf die EU-Eingliederung, sollte Serbien vor die Wahl
zwischen EU und der Anerkennung des Kosovo gestellt
werden, sind dafür ein warnendes Indiz. Die neue Regierung in Serbien muss durch Taten zeigen, dass sie
reformwillig ist. Verbalinjurien wie die des Premierministers Dacic vor laufender Kamera: „Scheiß auf die
EU, wenn die Schwulenparade die Eintrittskarte ist“,
zeugen nicht vom Willen zu einem positiven Avis zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, der im Frühjahr
2013 denkbar gewesen wäre. Die Zukunft Serbiens liegt
in Europa, die Geschwindigkeit der Annäherung hängt
aber zuallererst vom Land selbst ab.
Die Reihe setzt sich fort mit Bosnien-Herzegowina.
Nicht nur, dass Bosnien Ende August eine Frist für
Reformen auf seinem Weg nach Europa verstreichen
ließ. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderte Anpassung des Wahlrechts wurde
ebenfalls nicht umgesetzt. Zusätzlich drohen antieuropäische, nationalistische Tendenzen, die eine Spaltung des
Landes voranzutreiben geeignet sind. Mit der Ankündigung eines Zahlungsstopps betreffend die bosnische
Armee erhöht der bosnische Serbenführer Dodik den
Druck, womit er das Land gefährlich nahe an die Situation der 1990er Jahre bewegt. Allzu ausgeprägte Kleinstaaterei ist in einem zusammenwachsenden Europa
nicht zu unterstützen und stellt einen Anachronismus
dar.
Verglichen mit der ungeklärten Kosovo-Frage und
der prekären Situation in Bosnien-Herzegowina erscheint die Auseinandersetzung zwischen Mazedonien
und Griechenland um die Namensfrage quasi als Randnotiz. Und doch hat die Region bei allen beschriebenen
Unterschieden in jedem Fall ein gemeinsames Problem:
den Exodus junger Menschen ins Ausland. Der Grund
für diese Tendenz ist nicht die hohe Arbeitslosigkeit. Es
ist das fehlende Vertrauen der jungen Menschen in die
Politik und vor allem das Gefühl wirtschaftlicher und
sozialer Stagnation, weshalb sie ihrer Heimat - zumindest zeitweilig - den Rücken kehren. Dabei wäre es von
nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, dass die junge
Generation nach Ausbildung und Studium im Ausland in
ihrer Heimatländer zurückkehren. Denn sie sind einer
der die Zukunft stützenden Pfeiler für Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ihrer Länder.
Wir stehen zu unserem Wort und bieten mehr als eine
ehrliche und faire Perspektive. Uns geht es um eine realistische Zukunft und die klare Benennung der tatsächlichen Möglichkeiten, die Kriterien zu erfüllen, die den
Schlüssel für jede Mitgliedschaft der Staaten des westlichen Balkan in der EU darstellen. Nicht allein die Zeit
muss reif sein, sondern vor allem der Kandidat.
Die europäische Perspektive, die die EU den Ländern
des westlichen Balkan in der Erklärung des Europäischen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „Die
Zukunft des westlichen Balkan liegt in Europa“ gab,
wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens eine neue
Form der Realität annehmen. Auch die anderen Staaten
des westlichen Balkan sind auf dem Weg nach Europa.
Wie die aktuellen Fortschrittsberichte der EU-Kommission vom 10. Oktober für die einzelnen Länder des westlichen Balkan zeigen, ist die europäische Perspektive
heute näher und konkreter denn je. Allerdings ist sie
nicht pauschal und ohne Bedingungen und Auflagen zu
haben. Daher lehnen wir den Antrag der SPD ab.
Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkan einen Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, SAP, eingeleitet, der sie nach und nach enger an die EU heranführen soll. In den letzten Jahren waren etliche
Fortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbst
Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt.
Hier ergibt sich noch ein sehr differenziertes Bild. Als
potenzielle Kandidaten gelten nach heutigem Stand
Albanien sowie Bosnien und Herzegowina und das
Kosovo. Was Albanien anbelangt, so hat die EU-Kommission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vom
10. Oktober eine Empfehlung für den Kandidatenstatus
ausgesprochen. Die EU hat Albanien in diesem Zusammenhang angehalten, seine Reformbemühungen insbesondere in den Bereichen Justiz und öffentliche Verwaltung sowie bezüglich der Verfahrensregelungen im
Parlament zu intensivieren. Der Kandidatenstatus ist somit an weitere Fortschritte und die Umsetzung weiterer
Reformen gebunden. Wir unterstützen diese Haltung der
EU.
Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seine
Verfassung in Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, SAA, in Kraft
treten kann, und die Grundlagen für einen fundierten
Beitrittsantrag gelegt werden. Für uns sind darüber
hinaus substanzielle Fortschritte im Hinblick auf die
Verfassungsreform im Bereich Parlamentskammer und
Präsidentschaft unablässige Voraussetzungen für das
Inkrafttreten des SAA und einen möglichen EU-Beitritt.
Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiterhin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,
Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption
engagieren müssen, um die entsprechenden Reformen im
Kosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zu unterstützen.
Was die Kandidatenländer Mazedonien, Montenegro
und Serbien betrifft, möchte ich hervorheben, dass dort
Fortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehen
weiterhin Defizite. Auch hier gilt - wie für alle Beitrittskandidaten: Selbst wenn diese Staaten auf ihrem Weg in
die EU weiter vorangeschritten sind, bestehen wir daZu Protokoll gegebene Reden
rauf, dass alle Auflagen und Verpflichtungen der EU erfüllt sind, ehe ein Beitritt erfolgt.
In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir den hochrangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen in
allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namensstreits
durch Griechenland blockiert wird.
Montenegro hat insbesondere in den Bereichen
Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und
organisierter Kriminalität noch etliche Reformen zu
meistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kommission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit
den Kapiteln Justiz und Rechtstaatlichkeit zu beginnen.
Auch die Beitrittsverhandlungen mit Serbien müssen
unserer Meinung nach insbesondere an weitere Fortschritte im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess
sowie einer weiteren Normalisierung der bilateralen Beziehungen zum Kosovo gebunden sein. Wie dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu Serbien vom
10. Oktober zu entnehmen ist, muss Serbien außerdem
Reformen im Bereich Justiz sowie der Bekämpfung von
Korruption und dem organisierten Verbrechen zügig auf
den Weg bringen. Vor diesem Hintergrund werden wir
den europapolitischen Kurs des serbischen Präsidenten
Nikolic genauestens verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass er
den Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt.
Auch beim Beitrittsland Kroatien legen wir Wert
darauf, dass die EU-Kommission ihre bisherige Überwachung des Beitrittsprozesses fortsetzt. Gerade in Anbetracht des jüngsten durchaus kritischen Fortschrittsberichts der EU-Kommission sehen wir Kroatien auch in
der Pflicht, vereinbarte Fristen einzuhalten und ein angemessenes Reformtempo aufrechtzuerhalten. Wir erwarten ein eindeutigeres Bekenntnis Kroatiens zu seiner
europäischen Perspektive und greifbare Erfolge auf seinem Weg nach Europa. Denn eine Ratifizierung der Beitrittsurkunde wird es mit uns erst geben, wenn alle Auflagen erfüllt sind.
Aus Sicht der Geschichtsschreibung ist es erst einen
Augenblick her, dass auf dem Balkan blutige Konflikte
tobten. Nach dem Versagen der internationalen Gemeinschaft während der Jugoslawienkriege haben die EU
und Deutschland große Verantwortung in der Region
übernommen, um Frieden zu sichern, Neues aufzubauen, Versöhnung zu erreichen und schließlich auch
die einzelnen Länder sowie die Region als ganze auf
dem Weg hin zur europäischen Integration zu begleiten.
Die europäische Integration nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges ist eine große Erfolgsgeschichte des
Friedens und der Verständigung und Zusammenarbeit
unter den Völkern. Es erfüllt mich und - ich denke - alle
hier in diesem Hause mit Freude, Respekt und Stolz,
dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten wird - ausdrücklich auch für die Friedenswirkung ihrer Erweiterungen und ausdrücklich auch unter
Benennung ihrer Anstrengungen zur Integration von
Ländern des westlichen Balkan! Dies ist ganz klar auch
eine politische Botschaft und unterstreicht damit eine
Verantwortung, der sich niemand der politisch Verantwortlichen in unserem Land - etwa mit einem populistischen Gerede über einen Stop der EU-Erweiterung entledigen kann.
Die jüngsten Fortschrittsberichte der EU-Kommission und die Erweiterungsstrategie für die Jahre 2012
bis 2013 zeigen in aller Deutlichkeit: Vieles haben Kroatien, Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawische
Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Albanien und das Kosovo schon erreicht auf dem Weg in
Richtung EU, viel muss noch getan werden. Gerade in
den zentralen Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Justiz gibt es vielfach noch Missstände,
ebenso bei der Reform staatlicher Verwaltung, der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität, dem Schutz
von Minderheiten, der Medienfreiheit und -pluralität
und in weiteren Bereichen.
Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir die zentrale
Bedeutung der Kopenhagener Kriterien stets betont. Wir
sind für strenge Beitrittskriterien und erwarten von den
Kandidatenländern und beitrittswilligen Staaten große
Reformanstrengungen. Weder die Erfolge noch die
Schwächen der Länder des westlichen Balkan dürfen
kleingeredet werden. Nur eine ehrliche Position der EU
und ehrliche Anstrengungen der Beitrittskandidaten und
beitrittswilligen Länder werden schließlich zum Erfolg
führen.
Nun entzünden sich kurz nach der Bekanntgabe der
Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU Debatten, welche Teilen der Begründung des Nobelpreiskomitees zuwiderlaufen. Was wir hier von einigen Protagonisten aus der CDU/CSU innerhalb weniger Tage an
kurzsichtigen und schädlichen Signalen an die Länder
des westlichen Balkan vernehmen konnten, muss einen
schon sehr nachdenklich stimmen. Da erklären führende
Politiker der Union Kroatien neun Monate vor dem geplanten Termin für nicht beitrittsreif. Da rufen führende
Politiker der Union nach einem Erweiterungsstopp. Und
der Bundesinnenminister fordert die Aussetzung der
visafreien Einreise in die EU für Bürgerinnen und Bürger Serbiens und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien. Das alles sind Schläge in die Gesichter der europafreundlichen Kräfte in den Ländern des
westlichen Balkan. Befeuert werden damit mitnichten
differenzierte Debatten, sondern ungute Stimmungen
und Ängste sowohl in der EU als auch in den betroffenen
Ländern, die uns keinen Schritt weiterbringen. Das Bild
Deutschlands und der EU als glaubwürdige und verlässliche Partner wird darunter leiden.
Ob Kroatien reif für den Beitritt am 1. Juli 2013 ist,
wird sich zeigen. Der Reformwille Kroatiens sollte nicht
abgeschrieben, sondern nach Kräften unterstützt werden. Vor abschließenden Beurteilungen sind die Entwicklungen in Kroatien während der kommenden
Monate und die Veröffentlichung des letzten Monitoringberichtes der EU-Kommission im Frühjahr 2013
abzuwarten. Es waren die Vertreter Kroatiens selbst, die
immer wieder betonten, dass sie die Kriterien erfüllen
werden und dabei auch keinen politischen Rabatt erhalZu Protokoll gegebene Reden
ten wollen. In unserem heute hier zur Abstimmung vorliegenden Antrag machen wir als SPD-Bundestagsfraktion ganz deutlich, dass wir für strenge Beitrittskriterien
und deren strikte Einhaltung sind. Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass
Kroatien bis zum 1. Juli 2013 die Bedingungen der EU
erfüllen wird. Denn wenn es die Kriterien bis dahin nicht
erfüllt, wird es zu diesem Termin auch nicht beitreten
können. Das ist in Kroatien sowohl der Regierung als
auch der Bevölkerung klar. Wer dies aber bereits jetzt
herbeiredet, schadet mehr, als dass er nützt.
Die Forderung nach einem Erweiterungsstopp aus
den Reihen der Union ist nicht neu. Sie erhält aber eine
neue Brisanz, wenn der Bundestagspräsident sie aufgreift.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident
Lammert, wenn Sie die Position eines Erweiterungsstopps tatsächlich vertreten, fordere ich Sie nun auch
dazu auf, in letzter Konsequenz ehrlich und aufrichtig zu
sein. Dann müssen Sie jetzt offen und ehrlich sagen, dass
sich die EU aus dem 2003 in Thessaloniki gegebenen
Versprechen verabschieden soll, demzufolge alle Staaten
des westlichen Balkan eine EU-Perspektive haben. Vertreten Sie Ihre Haltung offen gegenüber der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten und den Staaten, denen das
Versprechen gilt! Zu guter Letzt zeigen Sie dann bitte
auch den Weg auf, wie die EU den Spagat zwischen
einem Bruch ihrer Zusage und ihrer Glaubwürdigkeit
meistern soll; denn ich sehe diesen Weg nicht. Wenn sich
die EU von der gegebenen Zusage einer Beitrittsperspektive abwendet, wird die friedens- und stabilitätsstiftende Wirkung dieser Perspektive erlöschen, Reformkräfte werden geschwächt, und die betroffenen Länder
werden sich früher oder später anderen Partnern zuwenden. Dies liegt nicht in unserem Interesse. Und genau das wäre die Flucht aus unserer Verantwortung für
Frieden und Freiheit in ganz Europa! Wieder würde die
EU auf dem Balkan versagen, mit möglicherweise dramatischen Folgen für den Frieden in dieser Region.
Noch einige Worte zur Visafrage. Einem Missbrauch
von Asylleistungen muss selbstverständlich entgegengewirkt werden. Die Lösung kann aber nicht sein, ganzen Bevölkerungen die visafreie Einreise zu verweigern
und nun alle Serben und Mazedonier - Bürgerinnen und
Bürger von EU-Beitrittskandidaten - unter Generalverdacht zu stellen. Die visafreie Einreise ist die für die
Menschen wohl stabilste, greifbarste Brücke nach Europa. Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten, Touristen, Familienangehörige, Teilnehmer von Jugendaustauschprogrammen - wollen wir für alle diese Menschen
das Überqueren der Brücke erschweren? In Verbindung
mit dem Ruf nach einem Erweiterungsstopp ist dies ein
überdeutliches Signal, das sagt: „Wir wollen euch
nicht.“ Ein falscheres Signal können wir nicht senden.
Auch lohnt sich ein zweiter Blick darauf, wer die
Menschen eigentlich sind, die da Asylanträge stellen. Es
gibt in Staaten des westlichen Balkan leider immer noch
große Probleme bei der Integration von Sinti und Roma.
Sie leiden unter Diskriminierung und Armut. Bei einer
ohnehin wirtschaftlich katastrophalen Lage - so lag beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in Serbien 2011
bei 46 Prozent, in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien bei fast 54 Prozent - stehen sie am unteren Rand der Gesellschaft. Wir können diese Probleme
nicht anstelle Serbiens oder der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien lösen, wir können nicht
alle aufnehmen, die ihr Land der Armut wegen verlassen
wollen, aber wir können gemeinsam mit den Regierungen nach Lösungen suchen. Armut und Massenarbeitslosigkeit in Kandidatenländern der EU gehen uns sehr
wohl etwas an. Die Türe zuzuschlagen, kann nicht der
richtige Weg sein.
Die Bundesregierung sollte zeitnah schlüssige Konzepte aufzeigen, wie sie die Länder des westlichen Balkan auf dem nicht immer einfachen und keineswegs
schnellen Weg hin zu Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und
wirtschaftlichem Aufschwung, letztlich auf dem Weg
Richtung EU, unterstützen will. Dazu gehört ganz klar
auch die Benennung von Schwachstellen. Ob jedoch Initiativen wie der jüngste Besuch des Kollegen
Schockenhoff in Belgrad dazu geeignet sind, den Reformwillen vor Ort zu unterstützen, darf bezweifelt werden.
Besonders drängend stellt sich die Frage nach deutscher Unterstützung im Fall Bosnien und Herzegowinas.
Der vor wenigen Wochen vollzogene Abzug der letzten
deutschen Soldaten aus der EU-Mission EUFOR Althea
darf kein Rückzug aus dem deutschen Engagement in
und für Bosnien und Herzegowina sein. Das Land mag
friedlich sein, stabil ist es noch lange nicht. Nationale
Partikularinteressen in den verschiedenen Landesteilen
blockieren nötige Reformschritte zugunsten des Gesamtstaates. Der Annäherungsprozess Bosnien und Herzegowinas an die EU stockt. Auch wirtschaftlich steht das
Land schlecht da. Die Europäische Union und Deutschland müssen vor allem den Aufbau demokratischer und
transparenter Strukturen als Grundlage eines funktionierenden Staates fördern. Zivilgesellschaft und regionale Kooperation müssen gestärkt werden. Unsere Verantwortung für Bosnien und Herzegowina bleibt
bestehen. Dazu gehört auch die Unterstützung des
Engagements des Hohen Repräsentanten der Vereinten
Nationen für Bosnien und Herzegowina. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher ausdrücklich, seine Arbeitsfähigkeit und sein Büro vor Ort bis zur Erfüllung
der vereinbarten 5+2-Kriterien zu erhalten. Die Bonn
Powers des Hohen Repräsentanten sind immer noch
eine tragende Säule der staatlichen Integrität Bosnien
und Herzegowinas und dürfen daher nicht ausgehölt
werden.
Weil uns die Integrations- und damit Zukunftsfähigkeit der EU sehr am Herzen liegt, erwarten wir Sozialdemokraten von Kroatien, Serbien, Montenegro, der
ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Albanien und Kosovo große Reformanstrengungen und die Erfüllung aller nötigen Kriterien. Aber auf eines können sich die Menschen in
diesen Ländern verlassen: Von unserer Seite bleibt die
Hand dabei ausgestreckt, wir stehen zu dem, was wir als
EU den Menschen des Westbalkan versprochen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es wäre ein wichtiges Signal, wenn auch die CDU/CSUFraktion in diesem Haus ein solches Signal der Verlässlichkeit und des Verantwortungsbewusstseins aussenden
würde.
Eine Woche nach der Veröffentlichung der Fortschrittsberichte der Europäischen Union ist ein guter
Zeitpunkt für diese Debatte. Ich weiß, dass die Fortschrittsberichte, gerade wenn sie kritisch ausfallen, von
den Beitrittsländern leicht als zusätzliches Hindernis
angesehen werden. Von manchen innerhalb der EU werden sie ebenfalls manchmal gerne als Vorwand genommen, den gesamten Prozess aufzuhalten oder zumindest
zu verzögern. Wir Liberale lehnen jegliche Versuche dieser Art mit Nachdruck ab. Die Fortschrittsberichte sind
eine Hilfestellung auf dem Weg zum Beitritt. Sie können
und dürfen für keine anderen Zwecke missbraucht werden. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten
fällen Entscheidungen dann, wenn sie anstehen. Beitrittskandidaten werden danach beurteilt, was sie zu diesem Zeitpunkt erreicht haben - und nicht ein halbes Jahr
vorher. Ich sage ausdrücklich, dass dies auch uneingeschränkt für Kroatien gilt. Wir sind optimistisch, dass
das Land die noch offenen Aufgaben bis 2013 abarbeiten kann. Wir ermutigen Kroatien, dies zu tun, und halten nichts von Vorverurteilungen.
Die diesjährigen Fortschrittsberichte zeigen - wie
immer - Licht und Schatten. Zwei besonders dunkle Kapitel, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, bilden
Bosnien-Herzegowina und Makedonien. Die Kommission hat jetzt zum vierten Mal die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Makedonien empfohlen, was
von Griechenland weiter wegen der ungelösten Namensfrage blockiert wird. Dieser Fall gefährdet die Glaubwürdigkeit unseres gesamten konditionierten Ansatzes.
Wenn ein Land Fortschritte macht, aber trotzdem keinen
Schritt weiterkommt, dann ist das ein extrem schlechtes
Beispiel für alle anderen Beitrittsländer. Bei allem Verständnis für die aktuelle Lage in Griechenland, ich
glaube, wir müssen hier mehr Nachdruck entwickeln.
Das andere dunkle Kapitel ist Bosnien-Herzegowina:
Die Reform des Wahlrechts ist nicht vorangekommen. So
lange wird es auch keine weiteren Annäherungsschritte
an die EU geben können. Sie alle hier kennen meine
Meinung, dass die internationale Gemeinschaft hier
nicht eingreifen sollte, sondern im Gegenteil, die Institution des Internationalen Hohen Repräsentanten abgeschafft werden sollte. Ich bin aber sehr froh, dass Valentin
Inzko sich in der aktuellen Lage völlig richtig verhält,
indem er auf die Eigenverantwortung der Politiker des
Landes pocht und nicht für einen vermeintlich leichten
Ausweg sorgt. Das Land muss diesen Schritt selber gehen. Nur dann zeigt es seine Europatauglichkeit.
Zu Serbien: Die Kommission hat keine Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen empfohlen. Ich halte das für
richtig. Mit der Verleihung des Kandidatenstatus im
März hat die EU meiner Ansicht bereits eine Vorleistung
erbracht. Serbien muss diesen Vertrauensvorschuss nun
mit Fortschritten bei den Verhandlungen mit Kosovo
erst einmal rechtfertigen.
Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, mit
Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen auszuhandeln. Das hört sich heute nach einem technischen Schritt an, ich möchte aber daran erinnern, dass
diese Perspektive noch vor wenigen Jahren ganz, ganz
weit entfernt schien.
Ich habe bereits in der ersten Debatte zu diesem Antrag deutlich gemacht, warum wir ihm wegen verschiedener Einzelpunkte nicht zustimmen können, obwohl wir
uns glücklicherweise in diesem Haus über die Grundlinien sehr einig sind. Ich möchte aber noch eine Bemerkung zum Titel des Antrags machen: „ehrliche und faire
europäische Perspektive“. Denn wenn wir ehrlich sind,
dann müssen wir zugeben, dass wir im Grunde nicht
wirklich fair sind. Die jetzigen Beitrittsländer müssen
höhere Anforderungen erfüllen als frühere. Wir schauen
heute wesentlich genauer hin. Natürlich würden wir mit
dem ganzen Serbien/Kosovo-Problem anders umgehen,
wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Zypern gemacht
hätten. Wir würden auch bei Kroatien weniger genau
hinschauen, wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Rumänien und Bulgarien gemacht hätten. Europa hat aus
seinen Fehlern gelernt, und das hat Konsequenzen für
die Kandidatenländer. Das sollten wir ehrlich zugeben.
Diese Strategie liegt aber auch im Interesse der Länder.
Diese wollen einer starken und handlungsfähigen Union
beitreten. Dazu müssen die Kandidatenländer besser
werden, aber auch wir müssen besser werden. Daran arbeiten wir.
Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive
der Staaten des westlichen Balkan, so heißt der Antrag
der SPD, den wir heute debattieren. Zur ehrlichen Debatte gehört auch der Blick in die Vorbedingungen der
jetzigen Situation. Und da muss immer wieder darauf
hingewiesen werden, dass die schwarz-gelbe Regierung
1991 durch ihre vorzeitige Anerkennung von Slowenien
und Kroatien Mitverantwortung für die Eskalation der
nationalistischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien
hat. Zur ehrlichen Debatte gehört auch die Feststellung,
dass die rot-grüne Regierung die Verantwortung für den
völkerrechtswidrigen Angriff auf Rest-Jugoslawien im
Jahr 1999 trägt.
In dem heute zu debattierenden Antrag finden wir
dennoch viele richtige Ansätze. Die Linke begrüßt die
Aussage, den EU-Erweiterungsprozess nicht zu stoppen
und die Zusagen des Europäischen Rates von Thessaloniki nicht infrage zu stellen, obwohl die EU selbst im
Moment nicht mehr eine so attraktive Ausstrahlung hat
wie noch 2003. Die EU-Mitgliedschaft bietet für die
Staaten des Westbalkan dennoch eine große Chance auf
eine dauerhaft friedliche Perspektive. Angesichts der
aktuellen Fortschrittsberichte ist dies aber eine Jahrhundertaufgabe und keine schnell zu lösende Herausforderung.
Auch wir stehen dazu, dass die Beilegung regionaler
Konflikte und die Anerkennung bestehender Grenzen
Zu Protokoll gegebene Reden
Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sind. In den seltensten Fällen kann man die Grenzstreitigkeiten in der
Region als bilateral bezeichnen, wie dies im Antrag getan wird. Deshalb hat sich die Linke gegen die einseitige
Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar
2008 ausgesprochen.
Wir begrüßen, dass Serbien nun den Status eines Beitrittskandidaten hat. Allerdings muss hier zur Ehrlichkeit hinzugefügt werden, dass die Vorbedingung der Anerkennung eines unabhängigen Kosovo durch Serbien
sich noch als ein Pferdefuß für den gesamten Westbalkan
herausstellen kann. Denn die einseitige Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 wird mit dem Gutachten
des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zur
Blaupause für weitere territoriale Aufsplitterungen im
ehemaligen Jugoslawien.
Mit der Ankündigung eines Zahlungsstopps betreffend die bosnische Armee ist der Ministerpräsident der
Republik Srpska, Milorad Dodik, bereits einen weiteren
Schritt in Richtung seines politischen Vorhabens gegangen, Bosnien-Herzegowina aufzulösen. Das Haltbarkeitsdatum Bosniens sei schon längst abgelaufen, so Dodik
Anfang Oktober. Er fordert ein Referendum zur Ablösung von Srpska aus Bosnien ein. Niemand wird nach einem der Sezession zustimmenden Referendum glaubwürdig begründen können, warum für Srpska nicht
gelten soll, was für Kosovo rechtens ist. Die aktuellen
Erwägungen, das Büro des Hohen Repräsentanten für
Bosnien und Herzegowina ins Ausland zu verlagern,
spielen dieser Entwicklung in die Hände. Deshalb ist
aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, warum die EU
in dieser problematischen Situation mit dem Kosovo
noch einen Schritt weitergeht. Trotz der Tatsache, dass
fünf Mitgliedstaaten - Spanien, Griechenland, Slowakei,
Rumänien und Zypern - das Kosovo nicht als eigenständigen Staat anerkennen, will sie einen Stabilisierungsund Assoziierungsabkommen auf den Weg bringen. In
der mit den Fortschrittsberichten veröffentlichten Machbarkeitsstudie heißt es auf Seite 4: „Die Assoziierung
des Kosovo mit der Europäischen Union ist mit der Tatsache vereinbar, dass die Mitgliedstaaten der Union unterschiedliche Standpunkte in Bezug auf den völkerrechtlichen Status des Kosovo haben.“ Es scheint, als
sollte hier das Krisenpotenzial des Westbalkan in die EU
selber hineingetragen werden.
Bosnien-Herzegowina ist derzeit das räumliche und
politische Krisenzentrum. In dem Fortschrittsbericht ist
die Rede davon, dass Korruption sowohl im öffentlichen
Sektor als auch im Privatsektor noch immer ein weitverbreitetes und gravierendes Problem ist. Die Zersplitterung der Polizeikräfte in Bosnien und Herzegowina
wirkt sich nach wie vor nachteilig auf die Effizienz, die
Zusammenarbeit und den Informationsaustausch aus.
Die Roma sehen sich nach wie vor mit sehr schwierigen
Lebensbedingungen und mit Diskriminierung konfrontiert. Positive Wandlungen können kaum festgestellt
werden.
Kroatien soll am 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaat
der EU werden, aber der Fortschrittsbericht zählt zehn
Punkte auf, die der Aufnahme entgegenstehen. Im Hinblick auf den Grenzverlauf sind mit Serbien, Montenegro
und Bosnien-Herzegowina keine konkreten Fortschritte
erzielt worden. Die Romaminderheit lebt unter besonders schwierigen Bedingungen. Bildung, Sozialschutz,
Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und der Zugang
zu Personaldokumenten sind weiterhin problematisch.
Bundestagspräsident Lammert fordert angesichts der
Bewertung der Fortschritte in Kroatien einen Stopp der
EU-Erweiterung. Auch die negativen Erfahrungen der
Beitritte von Bulgarien und Rumänien könnten nicht
ignoriert werden. Die EU müsse sich erst selber stabilisieren, bevor sie sich erweitern könnte. Hier deutet sich
ein politischer Kurswechsel an, der die Lösung der
Krise eher in der Konzentration auf ein Kerneuropa bzw.
ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sieht.
Innenminister Friedrich stößt in das gleiche Horn. Er
will die Visumspflicht für die Balkanstaaten BosnienHerzegowina, Albanien, Mazedonien, Serbien und Montenegro wieder einführen. Er bekommt von der EU-Innenkommissarin Malmström hierin Unterstützung. Erst
im Juni hat die EU Beitrittsverhandlungen mit Montenegro beschlossen, obwohl das Land als eines der korruptesten Länder der Welt gilt. Gegen den gerade gewählten Premierminister Milo Djukanovic laufen in
mehreren westeuropäischen Ländern Verfahren gegen
groß angelegten Zigarettenschmuggel. Seine Familie ist
in zahlreiche Affären verstrickt. Justiz und Medien stehen unter dem Einfluss der Regierung.
Angesichts der realen Lage auf dem Westbalkan ist
schwer nachvollziehbar, warum in der jetzigen Situation
noch von Fortschrittsberichten gesprochen wird. Es sind
Stagnations- oder sogar Rückfallberichte, die wir hier
zur Kenntnis nehmen müssen. Große Teile des Balkan
innerhalb und außerhalb der EU sind heute wieder politische und ökonomische Zonen der Instabilität. Gerade
deswegen ist es wichtig, an der Idee von einem friedlich
geeinten Kontinent festzuhalten.
Der Westbalkan bleibt eine fragile und gefährliche
Krisenregion. Es bestehen Spannungen und ungelöste
Konflikte. Die Gefahr eines erneuten Gewaltausbruchs
ist leider immer noch nicht gebannt. Die Region benötigt
trotz Euro-Krise eine hohe Aufmerksamkeit der europäischen Politik.
Die 2003 in Thessaloniki eröffnete Beitrittsperspektive ist ein wichtiges Instrument für Stabilität und Frieden auf dem Westbalkan. Der voraussichtliche Beitritt
Kroatiens am 1. Juli 2013 und die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit Montenegro sind richtige
Signale. Sie zeigen, dass die Europäische Union weiter
zu der Thessaloniki-Agenda steht. Umso beunruhigender sind aktuelle Äußerungen, die unnötigerweise den
Beitritt Kroatiens und die Visumfreiheit für Serbien und
Montenegro in frage stellen. Gerade die Reisefreiheit
lässt die Menschen auf dem Westbalkan die Vorzüge der
Annäherung an die Europäische Union konkret erleben.
Der Austausch fördert das Zusammenwachsen des
Kontinents und trägt die Erfahrung demokratischer
Zu Protokoll gegebene Reden
Marieluise Beck ({0})
Bürgergesellschaften in die Transformationsländer Südosteuropas.
Der anstehende Beitritt Kroatiens ist ein Bespiel für
die Reformkraft, die der Beitrittsprozess auslösen kann.
Die EU-Kommission hat aus den vorangegangenen
Erweiterungen gelernt und auf strikte Konditionalität
geachtet. Diese Strategie hat in Kroatien Wirkung gezeigt. Es ist klar, dass auch die anderen Staaten des
Westbalkans nur beitreten können, wenn sie die Bedingungen vollständig erfüllen. Politische Rabatte kann es
nicht geben.
Eine rein technische Erweiterungslogik ist allerdings
nicht ausreichend. Einzelne Länder drohen dabei auf
der Strecke zu bleiben, weil bestehende Konflikte nur
schwer zu lösen sind und ein Fortkommen verhindern.
Deshalb muss die Europäische Union ihr Prinzip von
Anreiz und strikter Konditionalität durch eine aktive
Politik ergänzen, die die bestehenden Konflikte zu lösen
sucht. Nur so kann Chancengleichheit zwischen den
zukünftigen Beitrittsländern hergestellt werden. Und nur
so können die Länder möglichst zeitnah zueinander
beitreten. Sollten einzelne Staaten von der Annäherung
an die Europäische Union abgehängt werden, drohen
sich die bestehenden Spannungen zu verstärken - mit
nicht absehbaren Folgen.
Viele der bestehenden Konflikte auf dem Westbalkan
sind ohne eine Einigung der europäischen Politik nicht
zu lösen. Die Europäische Union muss sich deshalb auf
gemeinsame Grundsätze in der Westbalkanpolitik einigen. Allem zugrunde muss ein klares Bekenntnis zur
Unverrückbarkeit der Grenzen liegen. Vereinzelte
Vorschläge, Länder entlang ethnischer Grenzen zu spalten, bergen unabsehbare Risiken für mögliche Kettenreaktionen. Denn in der gesamten Region ist das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen
und Minderheiten fragil.
Auch gegenüber den einzelnen Ländern des Westbalkan muss die Europäische Union Einigkeit herstellen. So
kann der Aufbau des Rechtsstaats im Kosovo durch die
EU-Mission EULEX nur gelingen, wenn alle Mitglieder
der Europäischen Union das Land anerkennen und
EULEX nicht länger statusneutral agieren muss. Weil
eine Teilung des Kosovo aus den genannten Gründen
nicht hingenommen werden kann, ist von Serbien der
Abbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo zu fordern.
Vorher kann es keine Beitrittsverhandlungen mit Serbien
geben. Auf lange Sicht ist für den Beitritt Serbiens eine
Anerkennung des Kosovo nötig. Denn gute Nachbarschaft ist ein Grundprinzip der Europäischen Union.
Andernfalls könnten die Länder gegenseitig den Beitritt
blockieren oder später durch Blockaden innerhalb der
Union deren Funktionsfähigkeit bedrohen.
Der Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien muss endlich beendet werden, damit Mazedonien
Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. In Montenegro
sollten wir in den Bereichen Korruption und organisierter Kriminalität genauer hinsehen, wenn der Reformprozess durch die beginnenden Beitrittsverhandlungen
ein Erfolg werden soll. In Bosnien und Herzegowina bereiten zwei Jahre Dauerblockade und völliger Stillstand
große Sorge. Dieser Zustand zeigt, dass Anreizpolitik
und Ownership allein nicht ausreichen, um Reformen
anzustoßen. Die Europäische Union hat die weiterhin
bestehende Nachkriegsordnung 1995 in Dayton mit verfasst. Sie hat deshalb nicht nur ein eigenes Interesse,
sondern auch eine Verantwortung, die diskriminierende
und undemokratische Dayton-Verfassung zu überwinden. Nur so kann das Land regierbar werden und sich
auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten.
Auch wenn die Kräfte der Europäischen Union durch
die Euro-Krise stark gebunden sind, ist eine aktive Westbalkan-Politik dringend nötig. Deutschland sollte mit
seinen zahlreichen Verbindungen in die Region und seinem Gewicht innerhalb der Europäischen Union vorangehen und die Initiative auf dem Westbalkan ergreifen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11034, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9744 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und
anderer umweltrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10957 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften klingt zunächst technisch und
wenig spektakulär. Allerdings geht es darin um nicht weniger als um die künftige Infrastruktur in Deutschland,
um den Umbau unserer Energieversorgung, es geht um
die Beteiligung der Öffentlichkeit bei großen Bauvorhaben wie etwa Industrieanlagen, und es geht vor allem
um die Stellung der Umweltverbände im deutschen
Rechtsgefüge.
Was ist der Hintergrund? Mit Urteil vom 12. Mai
2011 hat der Europäische Gerichtshof den deutschen
Umweltverbänden mehr Klagerechte zugebilligt.
Danach können diese grundsätzlich in einem gerichtlichen Verfahren auch die Verletzung der objektiven maßgeblichen Umweltvorschriften des Unionsrechts geltend
machen. Den Umweltverbänden werden demnach wesentlich mehr Klagerechte eingeräumt, als das geltende
deutsche Recht derzeit vorsieht. Diese weitergehende
Regelung leitet der EuGH aus der Umweltverträglichkeitsrichtlinie, Richtlinie 85/337/EWG des Rates über
die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ab, die seiner Ansicht
nach umfassendere Klagemöglichkeiten für die Umweltverbände vorsieht. Nach geltendem deutschem Recht
sind Umweltverbände bislang weitestgehend klagebefugten Personen gleichgestellt. Das deutsche Rechtsschutzsystem geht im Ansatz - nicht nur in diesem
Bereich - vom Individuum und dessen subjektiven Rechten aus. Den Umweltverbänden soll mit dem Urteil jetzt
die Möglichkeit gegeben werden, auch die Verletzung
objektiver Umweltrechtsvorschriften zu rügen. Die Öffnung der Verbandsklage im Verwaltungsverfahren und
der Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeutet ein Novum, das
auch in der deutschen Rechtswissenschaft nicht unumstritten ist. Dadurch wird die Kontrollfunktion der
umweltrechtlichen Verbandsklage erweitert. Klagegegenstand kann nun beispielsweise auch die Wiederherstellung der Artenvielfalt sein. Bei dieser Herangehensweise sprechen viele von einer Zäsur im deutschen
Rechtsschutzsystem.
Die Bundesregierung hat sich deshalb sehr intensiv
mit der Thematik befasst. Der Gesetzentwurf setzt die
europäischen Vorgaben in nationales Recht um. Da
Deutschland auch nach der Aarhus-Konvention eine erweiterte Verbandsklage im Umweltrecht zulassen muss,
ergibt es sich, dass die erweiterte Verbandsklage nicht
nur im Bereich der unionsrechtlich basierten Umweltvorschriften, sondern künftig auf den gesamten deutschen Bestand der Umweltrechtsvorschriften Anwendung
findet. Durch die Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes wird sichergestellt, dass den Umweltverbänden
diese hinreichenden Klagebefugnisse eingeräumt werden.
Alles in allem hat der Gesetzentwurf aber viel Kritik
erfahren. Auch ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich
betonen, dass Deutschland beschlossen hat, seine Energieversorgung umzubauen. Wir benötigen neue Netze.
Es werden neue Offshorewindenergieanlagen gebaut.
Wir benötigen zur Überbrückung lastschwacher Zeiten
hocheffiziente und flexible Gaskraftwerke. Bei diesen
Bau- und Großvorhaben sind in vielen Fällen Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Überprüfungen nach
dem Bundesimmissionsschutzgesetz notwendig. Gleiches gilt bei Verkehrsprojekten oder Deponien. Mit der
Neuregelung werden nun bei allen diesen Vorhaben
auch die weitergehenden Klagerechte für die Umweltverbände greifen.
Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte gerichtlich angefochten. Dies führt - in einigen Fällen
auch begründet - zu erheblichen Verzögerungen, die mit
hohen Kosten für die Unternehmen und schlussendlich
damit auch die Verbraucher verbunden sind. Die Industrie fürchtet daher weitere Verfahrensverzögerungen bei
Großprojekten. Es geht deshalb auch darum, ökologische Gegebenheiten mit ökonomischen Erfordernissen
in Einklang zu bringen. Ich begrüße daher außerordentlich, dass mit dem Gesetzentwurf bewusst ein Ausgleich
geschaffen wird. Danach sieht der Gesetzentwurf in § 4 a
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor, mit flankierenden
Maßnahmen diesen Ausgleich zu schaffen. Sofern die
Umweltverbände die Verletzung objektiven Umweltrechts rügen, müssen sie bestimmte Fristen einhalten
und ihre Klagen ausreichend begründen. Dies ist im Angesicht der Herausforderungen, beispielsweise im Bereich der Energieversorgung, durchaus angemessen.
Durch die flankierenden Maßnahmen stellen wir
sicher, dass Umweltverbände sich weiterhin genau überlegen, gegen welche Großvorhaben sie aufgrund ihrer
erweiterten Befugnisse künftig Klage erheben. Dadurch
wollen wir in der konkreten Ausgestaltung sicherstellen,
dass sich die Rahmenbedingungen bei Vorhaben wie
zum Beispiel Infrastrukturprojekten im Energie- oder im
Verkehrsbereich nicht so verändern, dass sich diese
kaum noch durchsetzen lassen. Geschaffen werden soll
ein konstruktives Miteinander. Wir wollen, dass die Umweltverbände gestärkt und die Umwelt geschützt werden. Wir wollen aber auch, dass in Deutschland auch
künftig wichtige Infrastrukturprojekte entstehen. Wir
wollen, dass die Akzeptanz von Großprojekten steigt und
eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung geschaffen wird,
und wir wollen, dass Deutschland Industrieland bleibt
und Investitionen in Deutschland weiter stattfinden.
Dass der Bundesrat die komplette Abschaffung des § 4
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fordert, ist aus meiner
Sicht unverständlich. Auch den Ländern sollte daran gelegen sein, dass wichtige Großprojekte realisiert werden
können.
Darüber hinaus werden weitere europarechtliche Erfordernisse mit dem Gesetzentwurf in deutsches Recht
umgesetzt. Beispielsweise wird eine UVP-Pflicht für
Projekte zur Verwendung von Ödland oder naturnahen
Flächen zu intensiver Landwirtschaftsnutzung geschaffen und künftig im Umwelt-Verträglichkeitsprüfungsgesetz des Bundes geregelt.
Der Gesetzentwurf wird nun in den Ausschuss überwiesen. Am kommenden Montag findet eine Anhörung
statt. Ich bin davon überzeugt, dass der eingeschlagene
Weg im Ergebnis von den Sachverständigen bestätigt
wird.
Ich begrüße den Entwurf zur Neugestaltung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes. Durch das Trianel-Urteil
des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai 2011 wurde
Deutschland veranlasst, das Verbandsklagerecht zu ändern. Das Gericht beanstandete die Beschränkungen auf
die Verletzung subjektiver Rechte. Es ist schade, dass
Deutschland erst nach mehrmaliger Aufforderung durch
den Gerichtshof in Luxemburg die Mitbestimmungsrechte seiner Bürger erweitert. Deutschland gehört zu
den Mitgliedsländern der Europäischen Union, die Klagerechte noch immer einschränken. Deswegen hat die
Europäische Kommission Ende September ein Verfahren
wegen Vertragsverletzung eingeleitet.
Erst durch den neuen Gesetzentwurf werden Umweltverbandsklagen den Individualklagen gleichgestellt.
Künftig können auch Verbände gegen Verletzungen aller
umweltrechtlichen Vorschriften Klage einreichen.
Dennoch beschreitet Deutschland noch immer einen
Sonderweg. Das Klagerecht bleibt eingegrenzt. Die
„flankierenden Regelungen“ eines neuen § 4 a UmwRG
schränken Klagerechte auf folgende Weise ein:
Erstens. Die Einführung einer Klagebegründungsfrist. Zweitens. Das Gericht muss den Sachverhalt einer
behördlichen Entscheidung nur formal auf Vollständigkeit hin überprüfen, nicht jedoch auf inhaltliche Fehler
oder Lücken. Drittens. Ein Gericht kann erhöhte Anforderungen an die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen anordnen.
Auch der Bund der deutschen Verwaltungsrichter
sieht hier eine Gefahr. Er befürchtet, dass Deutschland
die Vorgaben aus Brüssel nicht weit genug umsetzt. Die
Verwaltungsrichter hegen weiter Bedenken gegen den
neuen § 4 a UmwRG. Dieser Position schließe ich mich
an. Der Bundesrat hat sich bereits im September für das
Streichen der „flankierenden Maßnahmen“ ausgesprochen.
Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass
Genehmigungen bei fehlerhaften Umweltverträglichkeitsprüfungen aufgehoben werden müssen. Hier muss
rechtliche Klarheit geschaffen werden.
Anerkannte Umweltverbände werden in ihren Rechten durch die Änderungen zwar gestärkt - das Klagerecht ist ein wichtiger Schritt zur Mitgestaltung - dennoch erfüllen die deutschen Vorschläge noch nicht alle
europäischen Anforderungen. Es muss mit weiteren Niederlagen vor dem Europäischen Gerichtshof gerechnet
werden. In Deutschland machen Umweltverbandsklagen
im Übrigen nur 0,03 Prozent aller Verwaltungsgerichtsverfahren aus. Die Angst vor einer Klageflut ist also
nicht begründet.
Andere europäische Länder haben es vorgemacht.
Auch wir sollten die Bürger stärker einbinden. Dafür
müssen neue Möglichkeiten der Partizipation geschaffen werden.
Es ist eine traurige Angelegenheit, die es heute zu besprechen gilt. Und es hätte nicht so weit kommen müssen, das steht fest. Die handwerklichen Fehler im Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz waren schon länger klar, der
Reformbedarf ist offensichtlich. Die notwendigen Klarstellungen und inhaltlichen Verbesserungen der in unserer Zeit enorm wichtigen Beteiligungsrechte nun auf die
vom Minister Altmaier vorgelegte Art und Weise angehen zu wollen, zeigt schlicht, dass es in dieser Sache
überhaupt kein Problembewusstsein gibt.
Diese mangelnde Ernsthaftigkeit wurde durch Herrn
Minister Altmaier auf einer Pressekonferenz vom
16. August 2012 erneut auch persönlich zur Schau gestellt: Angesprochen auf das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, erklärte er, und ich zitiere: „Das hat uns der EuGH
eingebrockt“.
Das Rechtsverständnis des Juristen Altmaier ist bemerkenswert: Nicht die handwerklichen Fehler des Gesetzes sind schuld an der Verurteilung der Bundesrepublik
Deutschland wegen nicht EU-rechtmäßiger Umsetzung
der Aarhus-Konvention und der Richtlinie zum Zugang
zu Gerichten, sondern der EuGH als Überbringer der
schlechten Nachrichten. Hört sich so ein Minister an,
der Einsicht zeigt und die aufgezeigten Rechtswidrigkeiten in der Gesetzgebung aktiv und zur allgemeinen Zufriedenheit lösen will? Ich denke kaum.
Dabei haben wir als Arbeitsgruppe Umwelt der SPDBundestagsfraktion schon vor Jahren im Plenum mit einer Erklärung nach § 31 GO auf die Unionsrechtsmängel im Rechtsbehelfsgesetz hingewiesen. Die Beschränkung der Rügebefugnis von Umweltverbänden auf
drittschützende Normen ist offensichtlich eine politisch
motivierte Fehleinschätzung gewesen.
Nun scheint sich diese Erkenntnis bei Herrn Altmaier
auch durchgesetzt zu haben, der Richterspruch des
EuGH hat seinen Reflexionsprozess aber nicht ausreichend angeregt. Betrachtet man den jetzt vorliegenden
Entwurf, so ist immerhin der eben angesprochene Fehler
geheilt. Allerdings hat der Gesetzentwurf im Beratungsverfahren vom ersten Entwurf bis zur heutigen Vorlage
an anderen Stellen Änderungen erfahren, die wieder mit
einiger Wahrscheinlichkeit EU-rechtswidrig sein werden.
Die besagten Änderungen gehen auf Interventionen
und ein Positionspapier des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, BDI, zurück, dessen Formulierungsvorschläge - flankiert durch das Bundeswirtschaftsministerium - dann auch teilweise in die Vorlage des BMU
übernommen wurden. Man fragt sich doch manchmal,
wer im BMU eigentlich die Hosen anhat.
Der BDI und das BMWi sind beide nicht eben dafür
bekannt, eine breite Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planungs- und Genehmigungsverfahren zu befürworten,
wie sie der heutigen Zeit und den komplexen Problemstellungen in diesen Verfahren angemessen wäre. Vielmehr argumentieren sie mit der Straffung der Verfahren,
indem Bürger- und Verbänderechte eingeschränkt werden sollen und der Zugang zu Gerichten erschwert werden soll. Dass auf europäischer Ebene und darüber hinaus durch die Aarhus-Konvention schon seit Jahren
genau das Gegenteil, nämlich eine Stärkung der Bürgerund Verbänderechte, vorangetrieben wird, wird vom
BDI und BMWi, und nun anscheinend auch vom BMU,
leider ignoriert.
Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hat diese
anachronistische Einstellung mit seiner Forderung unterstrichen, man müsse europäisches Naturschutzrecht
mal eben bei der Planung von Stromleitungen außer
Kraft setzen können. Im BDI-Positionspapier liest sich
das dann so: „Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Bemühungen zur Beschleunigung von Planungsund Genehmigungsverfahren ist die Ausweitung der
Klagerechte kontraproduktiv“ und „Der Ausweitung der
Klagerechte für Verbände hinsichtlich des Gerichtszugangs müssen interessengerechte Beschränkungen gegenüberstehen, um die Ausgewogenheit des deutschen
Rechtsschutzsystems zu gewährleisten“. Zu diesem
Zweck wurden daher im Gesetzentwurf die Präklusionsregeln verschärft und formale Hürden in der Verwal23988
tungsgerichtsordnung geschaffen, die mit einem hohen
europarechtlichen Risiko verbunden sind. Ein Schelm,
wer bei dem aktuell vorliegenden Entwurf des BMU nun
Böses denkt.
Wir haben auf Basis dieser Überlegungen eine Sachverständigenanhörung im Umweltausschuss beantragt
und werden das weitere Gesetzgebungsverfahren kritisch begleiten. Ziel des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
muss nicht nur seine EU-Konformität sein, sondern auch
dem Geist des Gesetzes muss Rechnung getragen werden: Vorausschauende, transparente und bürgernahe
Planungsverfahren mit breiten Beteiligungsmöglichkeiten für Betroffene und Verbände werden letztlich dazu
führen, Genehmigungsprozesse zu beschleunigen und
weniger kostenintensiv zu gestalten. Wer erst alles
durchwinkt und sich nachher auch noch über Ärger
wundert, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Derzeit bestimmt § 2 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes, UmwRG, dass den Umweltverbänden nur dann ein
eigenes Klagerecht zusteht, wenn sie Vorschriften rügen,
die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können.
Genau diese Beschränkung stellt heute das Problem
dar. Nach dem sogenannten Trianel-Urteil des Europäischen Gerichtshofs ({0}) vom 12. Mai 2011
sind Vorschriften des deutschen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes über den Gerichtszugang nicht mit Art. 10 a der
UVP-Richtlinie der EU - jetzt Art. 11 - vereinbar, soweit
anerkannte Umweltvereinigungen darin auf die Rüge
der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte beschränkt
werden. Der nationale Gesetzgeber darf zwar den Gerichtszugang von Einzelpersonen entsprechend eingrenzen, nicht jedoch den Gerichtszugang anerkannter Umweltvereinigungen.
Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltverbände nach geltendem deutschem Recht auf drittschützende und auf dem Europarecht basierende Normen beschränkt. Dies ist nach dem oben genannten EuGHUrteil europarechtswidrig.
Der EuGH hat dies damit begründet, dass nach
Art. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die Europäische
Union Vorschriften der UNECE-Aarhus-Konvention
über den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten
umgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhalten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung von
Vorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlich
geltend machen zu können, die auf dem Unionsrecht basieren. Anerkannten Umweltverbänden ist danach in
Umweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Gerichten zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassung
des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben.
Seit dem 10. Oktober 2012 liegt daher ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des UmweltRechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher
Vorschriften vor, um insbesondere bei dieser Problematik Abhilfe zu schaffen.
Umweltverbände sind damit nicht mehr auf die Geltendmachung von Grundrechtsverstößen beschränkt, die
auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu einer
Klage berechtigen würden. Mit seinem Urteil hat der
EuGH die Rechte von anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbänden in Deutschland damit gestärkt. Diese
können nun auch die Beachtung eines vorsorgenden
Umweltschutzes, beispielsweise im Bereich der Luftreinhaltung und des Artenschutzes, einfordern. Dies geht
deutlich über die bisherigen Klagerechte hinaus.
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es, neben
der europarechtlich gebotenen Ausweitung des Verbandsklagerechts auch einen Ausgleich zwischen Umweltschutz und der Verwirklichung von Großprojekten
zu schaffen, beispielsweise solchen, die zur Umsetzung
der Energiewende notwendig sind, aber auch Vorhaben
der Wirtschaft, um Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Es geht insgesamt nicht nur um Projekte wie den
Bau von Automobilfabriken, Stahl- oder Kohlekraftwerken, sondern auch um den dringend notwendigen Ausbau der Stromnetze und Speicherkraftwerke. Wenn man,
wie die Grünen, mit Nachdruck den Ausstieg aus der
Atomkraft und die Energiewende gefordert hat, dann
muss man jetzt auch ehrlich zu den Bürgern und konsequent im Handeln sein.
Art. 1 des Gesetzentwurfs enthält die zur Umsetzung
des Trianel-Urteils notwendigen Änderungen des
UmwRG. Dazu ist vorgesehen, bei der Umweltverbandsklage die bisherige Beschränkung der Rügebefugnis auf
individualrechtsschützende Umweltvorschriften ersatzlos entfallen zu lassen.
Die Art. 2 bis 13 des Entwurfs enthalten weitere punktuelle Anpassungen verschiedener Rechtsvorschriften.
Bei diesen Änderungen ergibt sich der Regelungsbedarf
nicht aus dem Trianel-Urteil. Vielmehr geht es um die
Umsetzung von Vorgaben, die sich aus anderen Urteilen
des EuGH und aus Forderungen der Europäischen
Kommission ergeben, ferner um inhaltliche Klarstellungen sowie redaktionelle und rechtstechnische Korrekturen.
Die Herausforderung bei der Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Ausgleich zwischen der europarechtlich gebotenen Ausweitung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw.
Verfahrensbeschleunigung bei dringend notwendigen
Infrastrukturprojekten zu schaffen; denn es ist zu befürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklage
die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zunimmt und auch die Kosten für diese Projekte weiter
steigen. Hierdurch könnte für Deutschland ein erheblicher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessen
will der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigen. Ziel
ist es, die möglichen kontraproduktiven Wirkungen von
Verbandsklagen abzufedern. Insbesondere soll verhindert werden, dass das Instrument der Verbandsklage in
der Praxis zu sachlich ungerechtfertigten Verzögerungen von Vorhaben instrumentalisiert wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dazu wird beispielsweise mit dem neuen § 4 a „Maßgaben zur Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung“ eine zwingende Klagebegründungsfrist von sechs
Wochen eingeführt. Die Klagebegründungsfrist beschneidet nicht die Möglichkeit des Gerichts, darauf
hinzuwirken, dass unerfahrene oder nicht fach- und
rechtskundige Individualkläger sachdienliche Tatsachen
und Beweismittel vortragen. Diese Klagebegründungsfrist kann auf Antrag durch das Gericht nach seinem Ermessen verlängert werden.
Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle industrierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behördliche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben,
Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichen
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren,
wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbeschlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dies
zeigt die hohe praktische Relevanz und Bedeutung dieses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrund
der Herausforderungen der Energiewende. Als liberale
Partei wollen wir in Deutschland Vorhaben verwirklichen und nicht ausbremsen; denn bereits jetzt dauern
Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange.
Durch die in dem Gesetzentwurf der Grünen ({1}) geforderten Änderungen, die deutlich
über die europarechtlichen Anforderungen hinausgehen,
würden die Klagemöglichkeiten erheblich ausgeweitet,
wodurch Deutschland ein wesentlicher Wettbewerbsnachteil entstehen würde. Wir wollen Arbeitsplätze in
Deutschland halten und neue schaffen. Dazu benötigen
wir Vorhabenträger, die weiterhin in den Standort
Deutschland investieren. Was wir nicht brauchen, sind
Forderungen wie die der Grünen, die den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit Arbeitsplätze gefährden.
Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die Herausforderungen der Energiewende beispielsweise wollen wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen,
sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemöglichkeiten haben sich dazu als ausreichend und angemessen erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGH
hinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist
nicht erforderlich.
Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demokratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen
Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben
wie dem Netzausbau und dem Bau von Speicherkraftwerken auf der anderen Seite zu gewährleisten.
Zu der heute vorliegenden Novelle der Bundesregierung zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fällt mir nur noch
die Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“
ein. Die Debatten um das Recht der Umweltverbände
und jeder Person, Genehmigungen von Großvorhaben
gerichtlich überprüfen zu lassen, finden in diesem
Hause seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit statt.
Worum geht es? Es geht um die Aarhus-Konvention,
eine Vereinbarung der europäischen Länder zu mehr
Bürgerrechten in Umweltfragen, die 2001 in Kraft trat.
In Europa hat seitdem jede Person das Recht auf Informationen über die Einhaltung von Umweltvorschriften
bis hin zur Klagemöglichkeit bei Beeinträchtigungen der
Umwelt durch Großvorhaben. Die Bundesregierung hat
dazu mit großer Verspätung, erst 2006, ein sehr halbherziges Gesetz verabschiedet. Und auch das muss gesagt
werden, der damalige Bundesumweltminister der SPD,
Sigmar Gabriel, hat dabei keine besonders rühmliche
Rolle gespielt. Meine Fraktion hat damals darauf hingewiesen, dass das Gesetz unzureichend ist und mit einem
Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen,
der den geforderten Rechtsschutz aller Umweltbelange
durchsetzt. Der Europäische Gerichtshof hat unsere Kritik mit seiner Entscheidung im Mai 2011 bestätigt. Nur
wenige Monate später erinnerten die Grünen mit einem
Gesetzentwurf die Bundesregierung an ihre nicht erledigte Hausaufgabe.
Nach einem weiteren Jahr haben Sie nun, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, eine Gesetzesnovelle vorgelegt. Aber Sie wollen damit das bisher
schon unzulängliche Klagerecht in unserem Land noch
weiter einschränken. Das ist das Gegenteil von dem,
was der Europäische Gerichtshof entschieden hat. Und
das ist das Gegenteil von Bürgerbeteiligung, Transparenz und Akzeptanz, die Bundesminister Altmaier vor
wenigen Wochen als seine Arbeitsschwerpunkte postuliert hat. Hier wird geltendes Recht komplett auf den
Kopf gestellt. Selbst der Bundesrat versagt dafür die Gefolgschaft. Diese Gesetzesnovelle ist so nicht haltbar.
Das werden in der nächsten Woche auch die Sachverständigen der öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses im Bundestag bestätigen.
So durchsichtig präsentiert uns die Bundesregierung
ihre Klientelpolitik auch nicht alle Tage. Und wenn die
möglichen Auswirkungen auf unsere Lebensumwelt
nicht so gravierend wären, hätte das Ganze sogar einen
gewissen Unterhaltungswert. Was steckt also dahinter,
wenn bei Verstößen gegen Umweltvorschriften das Klagerecht weiter eingeschränkt werden soll? Zeit - es geht
um Zeitgewinn für weitere Genehmigungen von Großprojekten, die eben nicht die Umweltstandards einhalten. Wahrscheinlich reicht das dem FDP-Wirtschaftminister Rösler schon. Aber das ist ganz schlechter Stil und
wird kaum zur Verbesserung des derzeit schlechten Images der Politik beitragen.
Ich fordere die Bundesregierung heute erneut auf,
umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, der
den Rechtsschutz aller Umweltbelange durchsetzt und
damit das vom Europäischen Gerichtshof bestätigte uneingeschränkte Informations- und Klagerecht für alle
Personen und Umweltverbände gegen die Genehmigung
aller Großprojekte, die Umweltvorschriften nicht einhalten. Dabei empfehle ich, den Grünen-Gesetzentwurf
aus dem letzten Jahr und den Antrag der Linken aus dem
Jahr 2006 hinzuzuziehen. Darin findet sich alles, um
dieses Gesetz zu dem zu machen, was es sein soll und
was die Bürgerinnen und Bürger von ihm erwarten: die
Zu Protokoll gegebene Reden
Umsetzung des Gedankens der Aarhus-Konvention, so
wie es erstmals im Völkerrecht verankert wurde, in deutsches Recht. Das heißt, ich sage es zum Schluss noch
einmal: Jede Person hat das Recht auf Information, Beteiligung und Klagemöglichkeit zum Schutz der Umwelt.
Das gute alte Sprichwort „Was lange währt, wird
gut“, stimmt in diesem Fall leider gar nicht. Nach einer
fast einjährigen Ressortabstimmung und anderthalb
Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
legt die Bundesregierung nun endlich einen Gesetzentwurf zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor. Dieser aber
ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Wir haben bereits Ende letzten Jahres einen fachlich fundierten Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie postwendend abgelehnt
haben. Hätten Sie mal damals unserem Gesetzentwurf
zugestimmt, dann hätte wir heute ein modernes und europarechtskonformes Beteiligungsrecht im Umweltbereich. Stattdessen haben wir hier nun einen Entwurf auf
dem Tisch, der leider nicht zustimmungsfähig ist, weil er
erneut zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen wird.
Lassen Sie mich daran erinnern, welches der eigentliche Grund für die Neuregelung ist. Mit dem sogenannten Trianel-Urteil stellte der Europäische Gerichtshof
fest, dass das deutsche Verbandsklagerecht nicht europarechtskonform ist. Die Klagemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger werden bisher unverhältnismäßig
stark eingeschränkt. Dies wurde zwar auch bereits bei
der Verabschiedung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
von der Opposition und dem Sachverständigenrat für
Umweltfragen kritisiert, aber sie brauchten ja erst ein
Gerichtsurteil, um dies zu glauben.
Und was passiert nun, nachdem sie über anderthalb
Jahre Zeit hatten, darüber nachzudenken, wie dieses
recht deutliche Urteil umgesetzt werden kann? Sie legen
einen Gesetzentwurf vor, der absolut unzureichend ist.
Ich habe größte Zweifel, ob die vorgeschlagene Neuregelung den europa- und völkerrechtlichen Vorgaben entspricht. Insbesondere die Regelungen der Aarhus-Konvention werden sträflich missachtet. Das novellierte
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz wird daher erneut gerichtlich zu überprüfen sein. Eine Mehrbelastung der Gerichte, die sich eigentlich niemand wünschen kann, und
eine Verzögerung einer eindeutigen Gesetzgebung sind
die Folgen.
Und wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann warten
Sie die Anhörung am Montag ab. Da werden Ihnen die
Gutachterinnen und Gutachter mit Sicherheit die Schwächen Ihres Gesetzentwurfs verdeutlichen. Verschließen Sie
sich nicht allen Argumenten, und ergreifen Sie die
Chance, im parlamentarischen Verfahren den Gesetzentwurf so zu korrigieren, dass die Rechtsunsicherheiten
auf ein Minimum reduziert werden.
Da Sie nur zähneknirschend akzeptieren wollen, dass
die Klagemöglichkeiten gegen Vorhaben mit Umweltauswirkungen ausgeweitet werden müssen, versuchen
Sie nun auf leicht durchschaubare Weise, durch die Hintertür, die Klagemöglichkeiten wieder zu beschränken.
Sachliche Gründe für Einschränkungen beispielsweise
bei der Begründungsfrist oder bei der Begrenzung des
Rechtsschutzes gibt es nicht. Und bitte kommen Sie mir
nicht wieder mit dem Argument, mehr Klagerechte würden allein dazu missbraucht, wichtige Infrastrukturprojekte zu verzögern. Dies ist, gelinde gesagt, eine Unterstellung der übelsten Art, werte Kollegen von CDU/CSU
und FDP. Umfassende Klagemöglichkeiten führen häufig dazu, dass sorgsamer geplant wird, dass alle umweltrechtlichen Vorschriften eingehalten werden, und sie
steigern die Akzeptanz. Nur schlecht geplante Projekte,
bei denen, absichtlich oder fahrlässig, bestehende
Rechtsvorschriften ignoriert werden, müssen erweiterte
Klagemöglichkeiten fürchten.
Die Verbandsklage ist das erfolgreichste Instrument
zum Abbau von Vollzugsdefiziten im Naturschutzrecht.
Wir Grüne wollen auch, dass die Vollzugsdefizite im
Umweltrecht abgebaut werden. Bei Ihnen, werte Kollegen von CDU/CSU und FDP, gewinnt man aber eher
den Eindruck, dass es Ihnen ganz recht ist, wenn möglichst viele Vollzugsdefizite beim Umweltrecht entstehen.
Sie wollen anscheinend nicht, dass die bestehende Gesetzgebung möglichst konsequent umgesetzt wird. Das
zeigt sich nicht nur hier, sondern auch darin, dass in den
Ländern, in denen Schwarz-Gelb regiert, die Umweltverwaltungen systematisch kaputtgespart werden oder
wurden. Ohne Fachverwaltung lässt sich der Vollzug
nicht mehr kontrollieren und ohne umfassende Klagerechte kann auch niemand mehr einen ordnungsgemäßen Vollzug einklagen.
Aber damit werden Sie nicht durchkommen; wir werden auf Bundesebene dafür sorgen, dass es zukünftig
starke Klagerechte für Umweltverbände gibt. Und wir
werden auf Landesebene die von Ihnen kaputtgesparten
Umweltverwaltungen wieder stärken. Wir machen Umweltpolitik nicht allein für den Grünen Tisch, wir wollen
Umweltgesetze auch umsetzen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10957 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine
inklusive Gesellschaft
Vizepräsidentin Petra Pau
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Teilhabesicherungsgesetz vorlegen
- Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008 Berichterstattung:Abgeordnete Maria Michalk
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Wohl niemand bestreitet in diesem Hohen Haus, dass
inklusive und integrative Ansätze seit langem sich wie
ein roter Faden durch unsere parlamentarische Arbeit
ziehen. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen unserer Gesellschaft voranbringen. Inklusion ist
die konsequente Weiterentwicklung von dem, was wir
vor langer Zeit unter dem Begriff der „Integration“ begonnen haben.
Unter Integration wird die Eingliederung von Außenstehenden in etwas Bestehendes verstanden.
Inklusion bedeutet aber Einbeziehung und Öffnung
des Bestehenden. Das bedeutet, selbst auf andere zuzugehen, eigene Grenzen zu verschieben. Wenn wir Teilhabe, Chancengleichheit und Vielfalt in unserer Gesellschaft verwirklichen wollen, müssen wir uns selbst
öffnen. Das bedeutet:Wir brauchen eine gesellschaftlich
tragfähige Kultur der Inklusion. Vorbehalte, Begegnungsängste, Umgangsunsicherheiten und ähnliche Erscheinungsformen müssen überwunden werden, und
zwar von jedem einzelnen von uns. Am erfolgreichsten
wird dieser Prozess gelingen, je intensiver sich jede Bürgerin und jeder Bürger mit diesen Fragen beschäftigt,
unabhängig davon, ob eine persönliche Betroffenheit in
der Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis vorliegt.
Mut machen dazu gelungene Beispiele aus dem wahren Leben, so wie ungelöste Situationen natürlich Zweifel an der Verwirklichung dieses Zieles schüren.
Ich möchte nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern zum Handeln vor Ort. Das liegt ganz im Interesse
der Kampagne der Bundesregierung, die unter anderem
mit dem Motto „Behindern ist heilbar“ für Offenheit
und aktives Handeln wirbt. Insofern ist Mahnung aus
dem Antrag der Linken kein neuer Ansatz, und die aufgeführten 10 Punkte sind keine neue Idee. Ich will daran
erinnern, dass wir den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung sowohl im Deutschen Bundestag debattiert
als auch Anhörungen zu ihm durchgeführt haben. Er ist
kein Gesetz, sondern ein Programm, das selbstverständlich immer wieder mit neuen Umsetzungsideen angereichert wird. Ich will auch daran erinnern, das in
Deutschland das Diskriminierungsverbot existiert. Im
Bundeshaushalt sind finanzielle Grundlagen aufgenommen, die in der mittelfristigen Finanzplanung fortgeschrieben werden.
Das geforderte „Screening“ aller bestehenden Gesetze und Verordnungen auf behindertenrelevante Themenstellungen ist ein ständiger Prozess und parlamentarische Praxis. Auch die Forderung, den Kostenvorbehalt
in § 13 SGB XII aufzuheben, ist unrealistisch, weil damit
das Subsidiaritätsgebot aufgegeben wird. Und eine höhere Sensibilität bei den Ausschreibungen von öffentlichen Aufträgen, Projekten und Maßnahmen in diesem
Bereich unter Qualitätsgesichtspunkten zu erreichen auch dieser Punkt ist parlamentarisch bearbeitet und auf
den Weg gebracht. Im Übrigen ist darauf zu verweisen,
dass eine offizielle Übersetzung der BRK verwendet
wird, die keine Interpretationsspielräume zulässt. Wohl
niemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Konsultationsprozess und die Erarbeitung des NAP unter breiter
Einbeziehung der betroffenen Menschen und ihrer Interessensvertretungen stattgefunden hat und in der Umsetzung der permanente Dialog gepflegt ist, weil unstrittig
ist, dass nicht über Menschen mit Behinderungen gesprochen wird, sondern mit ihnen. Sie sind Experten in
eigener Sache.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle 10 Punkte
aus dem Antrag bereits heute „unser täglich Brot“ sind.
Der Antrag hat sich erledigt bzw. wäre nicht notwendig.
Die weitere Aufforderung, ein Teilhabesicherungsgesetz vorzulegen, ist parlamentarisch zwar legitim, aber
nicht verantwortungsvoll. Es liegt uns allen am Herzen,
die volle und wirksame Teilhabe für Menschen mit Behinderungen durch flächendeckende, soziale, inklusiv
ausgestaltete Infrastrukturgegebenheiten zu sichern.
Und der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile ist
unser gemeinsames Ziel. Das ist auch das Wesensmerkmal des SGB IX in seiner aktuellen Fassung. Nicht von
ungefähr ist der Beschluss der SMK zustande gekommen, stärker als bisher die individuelle Situation des jeweils Betroffenen zu berücksichtigen.
Ich habe es bereits in meiner Rede zur 1. Lesung dieses Antrages gesagt: Der Paradigmenwechsel im SGB
IX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UNBehindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, muss
vor Ort gelebt werden. Vor Ort ist das Mühen deutlich
erkennbar. Aber leider erreichen uns immer wieder Beispiele, dass vom Gesetzgeber gegebene Entscheidungsspielräume zum Nachteil des Betroffenen nicht genutzt
werden. Das muss sich ändern.
Deshalb ist auch der Beschluss der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe der ASMK so wichtig, wo vereinbart wurde, dass
ein Verfahren etabliert werden sollte, das den Menschen
mit Behinderungen in seiner Situation ganzheitlich erfasst, ihn aktiv einbezieht und sein Wunsch- und Wahlrecht berücksichtigt. In Zukunft sollte also stärker als
bisher die Gesamtplanung der Unterstützungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten erfolgen, und zwar trägerübergreifend. Die trägerübergreifende Arbeit ist nach
der Gesetzeslage bereits heute möglich, wird aber in viel
zu geringem Umfang praktiziert. Da sind wir uns einig.
Hintergrund ist natürlich die Kostenbetrachtung. Uns ist
die Forderung, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen in
diesem Bereich zu überprüfen und neu zu regeln, nicht
verborgen geblieben. Ich denke, wir müssen uns mit dieser Frage beschäftigen, aber nicht auf der Grundlage eines neuen Behindertenbegriffs, wie im Antrag beschrieben. Was wir brauchen, ist ein nach festen Kriterien
agierendes, für alle Bundesländer verbindliches Verfahren. Die Gesetzesgrundlage ist das eine, die Ausführungsbestimmungen und die gängige Praxis in den Ländern das andere. Das beweist der sehr breite Korridor
der bewilligten Eingliederungshilfe je Person im jeweiligen Land.
Die Komplexität dieser Thematik verbietet Schnellschüsse. Ich wünsche mir auch, dass wir in der gemeinsamen Arbeit zwischen Bund und Ländern in diesem
Themenbereich zu einem tragfähigen Ergebnis kommen.
Aber wie Sie wissen, hält der seit Jahren geführte intensive Diskussionsprozess an. Da alle hier im Deutschen
Bundestag vertretenen Fraktionen in unterschiedlicher
Konstellation Regierungsverantwortung in den Ländern
tragen, haben wir uns gegenseitig keinen Vorwurf zu
machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Ich bin
Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihren beiden Anträge
„Behindern ist heilbar - unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“,
die wir heute diskutieren, einen Beitrag dazu leisten, die
Diskussion über die Behindertenrechtskonvention aufrechtzuerhalten. Die Ermöglichung einer gleichberechtigten und selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen ist mir eine Herzensangelegenheit und
sollte auch zu keinem Zeitpunkt aus dem Fokus unserer
politischen Arbeit geraten.
Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung sorgt die unionsgeführte Bundesregierung für eine
umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und kommt einen großen Schritt voran auf dem
Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan hat bereits und wird auch weiterhin das Leben
der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in
Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen.
Aber wir wollen nicht nur die physischen Barrieren beseitigen, sondern auch die psychischen, die eine Integration und Berührungen mit Menschen mit Behinderungen
erschweren. Mit den zahlreichen Einzelprojekten in unserem Aktionsplan beseitigen wir eben diese Barrieren.
Aufführen möchte ich hier zum Beispiel die Aufhebung der 50-km-Regelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX, die
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der
Deutschen Bahn ausgehandelt hat. Diese Regelung ermöglicht den schwerbehinderten bzw. Schwerkriegsgeschädigten Reisenden eine bundesweite, kostenfreie
Nutzung der Nahverkehrszügen der DB Regio AG.
Anführen möchte ich an dieser Stelle auch die
Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung - BITV 2.0, welche sicherstellt, dass öffentlich zugängliche Internetdienste und -angebote der Bundesverwaltung für
Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt
werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Wenn
Sie in Ihrem Antrag eine Einbeziehung der betroffenen
Menschen fordern, dann darf ich Sie darauf hinweisen,
dass die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans gerade gemeinsam mit Menschen mit Behinderung und ihren Verbänden stattfand. Hierdurch wurden Qualität und
Wirkung der Maßnahmen gewährleistet.
Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie sich sogar
den Titel der Kampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „Behindern ist heilbar“, mit dem das
selbstverständliche Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderung in das Bewusstsein aller Menschen in Deutschland gebracht werden soll, zu eigen gemacht haben.
Ich freue mich, dass auch Sie die Kampagne für gelungen erachten.
Aber zurück zu Ihrem Antrag: Mit der Forderung
nach zahlreichen neuen Leistungsansprüchen und der
Aufhebung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe unterlaufen Sie das System der beitragsfinanzierten Vorsorge und stellen auf
eine überwiegend steuerfinanzierte Leistung ab.
Mit der Einführung eines Teilhabesicherungsgesetzes
zulasten des Bundes mit generell bedürftigkeitsunabhängigen Teilhabeleistungen - die im Übrigen deutlich über
den derzeitigen Aufwendungen für die Eingliederungshilfe liegen würden und nicht gegenfinanziert sind - lösen Sie die strukturellen Probleme der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nicht.
Des Weiteren wäre eine zusätzliche Belastung für den
Bundeshaushalt in Milliardenhöhe vor dem Hintergrund
der in der letzten Sitzungswoche in erster Lesung debattierten vollständigen Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch
den Bund nicht vertretbar.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Fraktion
Die Linke, lassen Sie mich abschließend nochmals betonen, dass ich Ihnen für Ihren Diskussionsbeitrag
dankbar bin - allerdings ist die Behindertenpolitik der
christlich-liberalen Koalition nicht von unerreichbaren
Versprechungen und einer fahrlässigen Auseinandersetzung mit den haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
gekennzeichnet, sondern von realistischen Maßnahmen,
die Schritt für Schritt wirkungsvoll umgesetzt werden
und auf einer notwendigen, belastbaren Kostenfolgenabschätzung basieren. Wir sind mit unserem Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
auf einem sehr guten Weg.
Daher müssen wir Ihre beiden Anträge leider ablehnen.
Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Fraktion Die Linke. In dem einen Antrag wird ein Teilhabegesetz gefordert; der andere Antrag trägt den Titel „Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine inklusive
Gesellschaft“. Dieser Weg ist lang. Auch wir müssen im
Bundestag noch so manche Barrieren beseitigen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir alle erinnern uns: Im letzten Jahr musste der Tag
der Menschen mit Behinderungen im Deutschen Bundestag ausfallen und alle Gäste wieder ausgeladen
werden. Das war eine peinliche Angelegenheit. Leider
war den Organisatoren zu spät aufgefallen, dass für die
vielen angemeldeten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer die Sicherheit hier im Gebäude nicht gewährleistet werden konnte.
Diesmal wird es klappen. Der Tag findet nun nächste
Woche statt. Etwa 300 Betroffene aus beinahe allen
Wahlkreisen werden nach Berlin kommen und mit uns
Politikerinnen und Politikern diskutieren.
Wir möchten von ihnen lernen: Wir möchten unseren
Blick auf Politik mit und für Menschen mit Behinderung
schärfen. Wir möchten Vorschläge von den Expertinnen
und Experten in eigener Sache bekommen. Und wir
möchten lernen, welche Barrieren es gibt und wie sie abgebaut werden können.
Ich freue mich auf den Dialog.
Die Mehrzahl der Gäste könnte ohne Einladung des
Bundestages einschließlich Übernahme der Fahrtkosten
überhaupt nicht zu uns nach Berlin kommen, weil eine
solche Reise schlichtweg zu teuer wäre.
Traurige Wahrheit ist: Jemand, der einen verantwortungsvollen Job hat und den ganzen Tag arbeitet, wird
auf Sozialhilfeniveau heruntergerechnet, nur weil er behinderungsbedingte zusätzliche Ausgaben hat. Diese
Menschen müssen ihre gesamten Lebensverhältnisse
offenlegen - aufgrund ihrer Behinderung. Eltern, wenn
sie im gleichen Haushalt leben, und Ehepartner werden
mit belastet. Das entspricht nicht der UN-Behindertenrechtskonvention.
Es ist eine riesige Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch
mit Behinderung von einem eigentlich ausreichenden
Gehalt nicht leben kann. Die Menschen sind arm, weil
ihr Verdienst auf die Eingliederungshilfe nach Sozialhilfekriterien angerechnet wird. In der Anhörung im vergangenen Jahr wurde ein bedrückendes Beispiel eines
Diplominformatikers genannt, der sagte: „Ich verdiene
gut, aber für meine Lebensassistenz wird mir so viel
Geld abgenommen, dass … ich bei knapp über 900 Euro
pro Monat bin. Ganz davon abgesehen, dass ich meine
Lebenspartnerin nicht heiraten kann. Es ist eine Situation, die unglücklich ist und die behinderte Menschen
auch in der Lebensorientierung ständig mit der Frage,
Sozialhilfe ja oder nein, wie komme ich da heraus, beschäftigt.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
haben recht mit Ihrer Forderung in Ihrem Antrag zum
Teilhabegesetz: Wir müssen dringend eine Einkommensund Vermögensunabhängigkeit prüfen. Wir müssen weg
vom Fürsorgegedanken, der hinter der Sozialhilfe steht,
und hin zum Inklusionsgedanken, der hinter einer Teilhabeleistung stünde.
Das haben wir schon im letzten Jahr in unserem Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine
inklusive Gesellschaft nutzen“ ({0})
gefordert. Wir wollen ein Leistungsrecht zur sozialen
Teilhabe im SGB IX schaffen. Anders als Sie können wir
uns dabei aber durchaus auch eine Grenze der Anrechnungsfreiheit bei sehr hohen Einkommen oder Vermögen, insbesondere aus Schadensausgleichen, vorstellen.
Sonst gibt es wieder neue Ungerechtigkeiten. Im Unterschied zu Ihnen würden wir die Leistungsausführung
lieber bei den Kommunen sehen, die durch die Eingliederungshilfe viel Erfahrung damit haben. Deshalb werden wir uns zu Ihrem Antrag zum Teilhabesicherungsgesetz enthalten, auch wenn wir uns einig sind: Wir
brauchen eine umfassende Überarbeitung des Sozialgesetzbuches IX, des Behinderungsbegriffs und der
Instrumente. Wir brauchen ein neues System, das
Menschenrechte, Selbstbestimmung und Inklusion konkret verwirklicht.
Die aktuellen Bestrebungen zur Reform der Eingliederungshilfe und die Übernahme der Finanzverantwortung durch den Bund bieten hier eine Chance, die nicht
ungenutzt bleiben sollte. Insbesondere sind wir als Bundespolitikerinnen und -politiker gefragt, die Position des
SGB IX zu stärken und nicht die Verantwortung für die
Teilhabe gänzlich an die Sozialhilfe abzugeben. Diese
Verantwortung gilt es wahrzunehmen, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen.
So weit sind wir nicht und so weit kommen wir auch
nicht mit den Plänen der Bundesregierung. Bis auf einen
seitenschweren, aber weitestgehend inhaltsleeren
Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention haben wir
von Union und FDP nichts Wegweisendes auf den Tisch
bekommen. Mir fällt nur ein Programm aus Mitteln des
Ausgleichsfonds ein. Diese Gelder standen jedoch schon
vorher für Menschen mit Behinderung zur Verfügung.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, marschieren da schon eher in die richtige Richtung mit
Ihrem Antrag „Behindern ist heilbar - Unser Weg in
eine inklusive Gesellschaft“. Auch wir fordern ganz
Ähnliches in unserem Antrag, den wir übrigens gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Verbänden formuliert
haben. Dies war uns ganz wichtig, denn „Nichts über
uns ohne uns“ oder „Selbst Aktiv“ ist unsere Leitlinie.
Leider ist es nicht die der Bundesregierung und das kritisieren Sie zu Recht.
Sie greifen die Probleme der Übersetzung und des
mangelnden Inhalts des Nationales Aktionsplans ({1})
zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention auf.
Hier möchte ich insbesondere auf die Aufhebung des
Kostenvorbehalts in § 13 SGB XII hinweisen, die Sie und
auch wir fordern. Der Kostenvorbehalt bedeutet zum
Beispiel, dass ein junger Mensch, der nach einem Unfall
behindert ist, gegen seinen Willen in einem Pflegeheim
untergebracht werden kann, weil das billiger ist, als
wenn er weiterhin in seiner Wohnung lebt. In was für einem Staat leben wir denn, in dem erwachsene Menschen
in ein Heim gezwungen werden können? So etwas darf
nicht sein!
Aber auch in diesem Antrag der Linken gibt es einige
Punkte, denen wir uns so nicht anschließen können. Sie
wollen zum Beispiel neben dem Nationalen Aktionsplan
eine Liste mit zu ändernden Vorschriften. Wir wollen all
Zu Protokoll gegebene Reden
das im Nationalen Aktionsplan haben und ihn stärken durch eine Beteiligung des Parlaments und der Betroffenen. Auch hier muss ganz klar gelten: „Nichts über uns
ohne uns“. Deshalb werden wir uns, so richtig die Zielsetzung ist, auch bei diesem Antrag enthalten.
Ich freue mich auf eine anregende Diskussion im Ausschuss und mit unseren Gästen am Tag der Menschen
mit Behinderungen in der nächsten Woche hier bei uns
im Bundestag.
„Behindern ist heilbar“ - das ist der Slogan des
Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention. „Behindern ist heilbar“ ist auch Titel
des Antrages der Fraktion Die Linke. Wir sind uns offensichtlich alle einig, dass die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung verbessert werden können und
Barrieren, die Inklusion verhindern, abgebaut werden
müssen. Der Slogan drückt zudem eine Perspektive aus,
die sich auch in der UN-Behindertenrechtskonvention
widerspiegelt: Nicht die Menschen mit Behinderung
müssen sich an die Gesellschaft anpassen, sondern die
Gesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, die
Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ermöglicht.
Ich freue mich, dass mit der Ratifikation der UNBehindertenrechtskonvention die Diskussionen um
Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zugenommen haben. Es vergeht nicht eine
Woche, in der Zeitungen nicht über das Thema Inklusion
und Behinderung berichten, vor allem im Zusammenhang mit dem Thema Bildung. Dort steht die Frage im
Mittelpunkt: Bekommen Kinder mit Behinderung durch
gemeinsames Lernen eine bessere Schulbildung?
Zunehmend wird auch in Spielfilmen das Thema
Behinderung aufgegriffen. Der Deutsche Bundestag
befasst sich mit den Bedürfnissen behinderter Menschen. Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sind Schlagworte wie Inklusion,
Teilhabe, Selbstbestimmung und Partizipation wegweisend für die Behindertenpolitik in Deutschland. Diese
Prinzipien sind Richtschnur der liberalen Politik. Unser
Ziel ist es, Menschen mit Behinderung echte Teilhabe zu
ermöglichen. Die UN-Konvention gilt dabei als Messlatte für politische Entscheidungen und das betrifft nicht
nur die Sozialpolitik! Es ist wichtig, dass wir Politik für
Menschen mit Behinderung als Inklusionspolitik begreifen. Daher begrüße ich die Anträge der Linken als
Anstoß für weitere Diskussionen.
Inhaltlich muss ich jedoch klar widersprechen. Es
wird mit dem Antrag der Linken der Eindruck erweckt,
dass unsere Gesetze nicht im Einklang mit der UNBehindertenrechtskonvention seien und nur ein einkommensunabhängiges Teilhabegeld der richtige Weg sei.
Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt den einzelnen Vertragsstaaten jedoch Gestaltungsspielraum, wie
Leistungen für Menschen mit Behinderung erbracht
werden. Es kann der UN-Behindertenrechtskonvention
keinesfalls entnommen werden, dass Leistungen unabhängig von Einkommen und Vermögen erbracht werden
müssen. Dies ist angesichts der Haushaltslage auch
nicht finanzierbar. Denn würde die individuelle Bedürftigkeitsprüfung wegfallen, würden auch Menschen mit
einem hohen Einkommen Anspruch auf steuerfinanzierte
Teilhabeleistungen haben. Der Personenkreis würde
sich erheblich erweitern. Der Vorschlag der Linken folgt
nicht dem Prinzip, nur denen zu helfen, die bedürftig
sind.
Erreichbare Ziele sollten angesteuert werden. Die gesamte Gesellschaft ist aufgerufen, Menschen mit Behinderung teilhaben zu lassen und nicht an den Rand zu
drängen. Daher sehe ich die UN-Behindertenrechtskonvention auch als gesellschaftspolitischen Impuls.
Doch Inklusion ist noch nicht jedermann ein Begriff.
Fragt man Menschen auf der Straße, so können viele
nichts mit diesem Wort anfangen. Der Begriff an sich ist
nicht barrierefrei, weil er erklärungsbedürftig ist. Bedauerlicherweise nimmt die Hälfte der Deutschen ihre
zehn Millionen Mitbürger mit Behinderung nicht wahr,
und jeder Dritte hat überhaupt keinen Kontakt zu
Menschen mit Behinderung. Das ergab eine Umfrage
der Aktion Mensch und zeigt uns, dass noch viel zu tun
ist.
Noch viel zu oft spielen und lernen Kinder mit Behinderung getrennt von ihren nichtbehinderten Altersgenossen. Noch viel zu oft erleben Menschen mit Behinderung Diskriminierung. Noch viel zu oft wird
Behinderung mit Leistungsminderung gleichgesetzt. Vor
allem im Arbeitsleben wird das Potenzial von Menschen
mit Behinderung zu wenig erkannt. Die Linken plädieren
in ihrem Antrag für eine Prüfung der derzeitigen Gesetze. Es ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, dass alle Regelungen und Gesetze, die Menschen mit
Behinderung eigentlich die Aufnahme von Arbeit und
das Berufsleben erleichtern sollen, vorurteilsfrei geprüft
werden, ob sie dieses Ziel auch erfüllen.
Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung kann
nicht allein durch Gesetze gesichert werden. Entscheidend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Rückblickend
haben sich in den letzten Jahrzehnten die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung insgesamt erheblich
verbessert. Es ist erfreulich, dass mit der UN-Behindertenrechtskonvention weitere Entwicklungen stattfinden.
Die Ambulantisierung schreitet voran. Mehr und mehr
Projekte machen es möglich, dass Menschen außerhalb
von großen Einrichtungen leben können, wie beispielsweise das Hamburger Projekt Alsterdorf, wo sich eine
große Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in
einen Stadtteil für alle fortentwickelt hat. Noch nie sprachen so viele Menschen über inklusive Bildung. Neue inklusive Modelle entstehen. Insgesamt beschäftigen nicht
immer weniger, sondern immer mehr Unternehmen
Menschen mit Behinderung. Mit dem Nationalen
Aktionsplan und seinen Maßnahmen sind wir auf einem
guten Weg, die Teilhabechancen zu erhöhen. Inklusive
Prozesse wurden angestoßen, weitere werden folgen. Es
ist ganz natürlich, dass sich im Laufe dieser Entwicklung auch Konflikte ergeben. Diese sollten aber nicht
einfach beiseite geschoben werden, sondern zum Anlass
genommen werden, Veränderungen vorzunehmen. Behindern ist dann heilbar, wenn Menschen die für sie notZu Protokoll gegebene Reden
wendige Unterstützung und Assistenz bekommen und es
sich alle Menschen zur Aufgabe machen, Bedingungen
zu schaffen, die Menschen mit Behinderung ein gleichberechtigtes und selbstverständliches Miteinander ermöglichen.
Am 1. Dezember 2011 hatten wir hier im Hohen
Hause eine behindertenpolitische Debatte im Bundestag. Wir diskutierten unter anderem die Anträge der
Fraktion Die Linke „Behindern ist heilbar - Unser Weg
in eine inklusive Gesellschaft“ ,Drucksache 17/7872,
und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ,Drucksache
17/7889. Thema war auch der für den 2. und 3. Dezember geplante Dialog der Politik mit Menschen mit Behinderungen, welcher aus sicherheits- und brandschutztechnischen Gründen abgesagt werden musste, weil sich
zu viele Rollstuhlfahrer unter den eingeladenen Teilnehmern befanden. Hier hatte das wirkliche Leben von
Menschen mit Behinderungen den Bundestag kalt erwischt.
Heute, fast ein Jahr später, entscheiden wir über die
beiden Anträge der Linken, und in ein paar Tagen, am
26. und 27. Oktober, kommen rund 300 Menschen mit
Behinderungen aus allen Bundesländern in den Bundestag, um mit uns Abgeordneten über die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention zu diskutieren. Ich freue
mich auf diese erstmalig stattfindende Veranstaltung,
auch wenn sie aufgrund der baulichen Gegebenheiten
mit Kompromissen und Einschränkungen beim Konzept
und der Zahl der Rollstuhlfahrer verbunden ist. Und ich
bin sicher: Auch wenn beide Anträge heute mit Ihrer
Mehrheit abgelehnt werden - sie bleiben aktuell, und sie
werden von der Behindertenbewegung und von den Linken bei dieser Veranstaltung und darüber hinaus wieder
auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Was hat die Bundesregierung in den letzten dreieinhalb Jahren, seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention
innerstaatliches Recht ist, für deren Umsetzung getan?
Sie legte - sehr spät - einen Nationalen Aktionsplan vor,
der vor allem Prüfaufträge und Absichtserklärungen
enthält, die Vorschläge aus der Behindertenbewegung
aber weitgehend unberücksichtigt ließ. Gibt es inzwischen eine Überprüfung aller Gesetze und Verordnungen auf Änderungsbedarf, damit sie den Maßstäben der
UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden? Fehlanzeige! Und die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen bei der Erarbeitung von Konzepten und Gesetzen, die sie direkt oder
indirekt betreffen? Überwiegend Fehlanzeige! Gibt es
ein Konjunkturprogramm zur systematischen und beschleunigten Beseitigung von baulichen Barrieren? Fehlanzeige! Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der - finanziellen - Lebenssituation zur Sicherung umfassender
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft? Fehlanzeige!
Nein, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen! Gibt es
einkommens- und vermögensunabhängige Sicherung personaler Assistenz? Fehlanzeige!
Und wie sieht es aus mit Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung? Da hat sich etwas, wenn auch viel zu wenig, getan. Es gibt eine teure Kampagne der Bundesregierung unter der Überschrift „Behindern ist heilbar“.
Fazit: Behindertenpolitik ist weiterhin kein inklusiver
Bestandteil der Politik in allen Bundesbehörden, sondern eine Nische im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales. Es wird viel geredet - das ist auch schon was
wert -, aber kaum was getan…
Im unlängst veröffentlichten 4. Armuts- und Reichtumsbericht gibt es kaum Angaben über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen. Auch in der Studie der Universität Heidelberg zur Lebenssituation von
contergangeschädigten Menschen spielte die finanzielle
Situation keine Rolle. Daten darüber waren vom Auftraggeber politisch nicht gewollt. Gleichzeitig erklärt
die Bundesregierung auf diesbezügliche Fragen der Linken seit vier Jahren, dass sie diesbezüglich keine Erkenntnisse hat. Wer aber mit Betroffenen redet, die geltende Sozialgesetzgebung kennt und auch etwas genauer
in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung schaut, wird feststellen: Behinderung ist ein Armutsrisiko, und zwar für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Behinderung führt sehr schnell zu Armut. Und
wer dort erst mal angekommen ist, bleibt in der Regel
auch lebenslänglich arm.
Eine wesentliche Ursache ist das Fehlen von persönlicher bedarfsgerechter einkommens- und vermögensunabhängiger Assistenz und Pflege. Deswegen kämpft die
Behindertenbewegung seit vielen Jahren für ein entsprechendes Teilhabesicherungsgesetz. Deswegen brachte
die Linke, wie auch schon in der 14. und 16. Wahlperiode, einen Antrag für ein solches Leistungsgesetz in
den Bundestag ein. Den Beratungsverlauf und das Abstimmungsverhalten der Fraktionen zu beiden Anträgen
kann die interessierte Öffentlichkeit der vorliegenden
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses
für Arbeit und Soziales, Drucksache 17/10008, entnehmen. So heißt es in diesem Bericht: „Die Fraktion der
SPD forderte … das auch in der Konvention verankerte
Motto ,Nichts über uns ohne uns‘ müsse umgesetzt werden. Das sei in den Anträgen der Fraktion Die Linke offensichtlich geschehen.“ Stimmt. Deswegen finde ich es
unerklärlich, dass sich die Fraktion der SPD bei beiden
Anträgen nur zu einer Stimmenthaltung durchringt. Die
Fraktion der CDU/CSU betonte, dass sie grundsätzlich
die permanente Diskussion über die Behindertenrechtskonvention begrüße. Sie lehne aber die Anträge ab, weil
der eine überflüssig sei, denn es gäbe einen tollen Aktionsplan der Bundesregierung und eine erfolgreiche
Kampagne. Und der Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz sei nicht finanzierbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den christlichen
Parteien, Sie forderten am 3. April 2001, Bundestagsdrucksache 14/5804, eine „umfassende Lösung mit Verbesserungen für behinderte Menschen“. „Diese kann“,
so steht es in Ihrem Antrag, „nur in einem eigenständigen und einheitlichen Leistungsgesetz für Behinderte
erreicht werden, das vom Bund zu finanzieren ist. Dieses
Gesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängig
ausgestaltet sein und die Leistungen, die derzeit in der
Eingliederungshilfe … enthalten sind, zusammenfasZu Protokoll gegebene Reden
sen …“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Sonderbelastungen und vor einer Stigmatisierung als Sozialhilfeempfänger geschützt werden“. War das alles Lüge,
weil Sie gerade in der Opposition waren, oder kann Ihre
Forderung aus dem Jahr 2001 in Folge ihrer Regierungspolitik in den letzten sieben Jahren nicht mehr aufrechterhalten werden?
Auch die FDP will beide Anträge ablehnen. Das
überrascht mich nicht, auch wenn in dem Bericht steht:
„Die FDP lobte die Anträge als Diskussionsbeitrag.
Grundsätzlich stimme die Fraktion der FDP auch einzelnen Vorschlägen zu …“. Welchen, bleibt ihr Geheimnis, denn es liegt von der FDP nichts zur Abstimmung
auf dem Tisch.
Bündnis90/Die Grünen will dem Antrag „Behindern
ist heilbar“ zustimmen, den Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz dagegen ablehnen. Im Bericht heißt es:
„Den weitergehenden Vorschlägen zu einem Teilhabesicherungsgesetz allerdings nicht. Dazu habe man andere
Vorstellungen.“ Das überrascht mich, schließlich hat
die Fraktion der Grünen im Wahlkampf 2009 die diesbezüglichen Forderungen aus den Behindertenverbänden
ausdrücklich unterstützt.
„Behindern ist heilbar“ - es wird aber noch ein langer Heilungsprozess, bis Menschen mit Behinderungen
selbstbestimmt und ohne Diskriminierungen am Leben
in der Gesellschaft teilnehmen können, bis alle Barrieren beseitigt sind und Inklusion kein Fremdwort mehr
ist. Unbestritten: Es ist kein einfacher Weg in eine inklusive Gesellschaft. Den müssen wir gemeinsam beschreiten, parteiübergreifend, in Bund, Ländern und Kommunen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und allen
anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Vorschläge der
Linken für diesen Weg liegen auf dem Tisch. Ich meine,
sie sind gut, können aber - durch die Diskussion in und
mit der Gesellschaft - durchaus noch besser werden.
Lassen Sie uns daran arbeiten, nicht stur ablehnen!
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen hat die Entwicklung sozialer Bürgerrechte für behinderte Menschen einen entscheidenden
Schritt weitergebracht und eine qualitativ neue Dimension aufgemacht: In keiner internationalen Menschenrechtskonvention kommt der Empowerment-Ansatz so
prägnant zum Tragen wie hier. Die formulierten Befähigungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche
Teilhabe für Menschen mit Behinderungen werden nicht
nur das deutsche Sozialrecht, sondern den gesamten
Menschenrechtsdiskurs verändern.
Zum ersten Mal werden Menschenrechte nicht ausschließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen.
Nach dieser Konvention, der ersten großen Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts, stehen staatliche
und gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, den
Möglichkeitsraum und Handlungsraum von Menschen
zu garantieren und durch aktives Handeln möglich zu
machen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokument
nicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassen
von staatlichen Übergriffen zu garantieren, sondern gerade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst zu
ermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachter
gehen davon aus, dass die Anspruchsrechte auf Befähigung Wirkung auf weitere Gruppen weit über den Kreis
der Menschen mit Behinderungen hinaus entfalten. Die
Konvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Es eröffnet sich meines Erachtens auch eine Perspektive für eine neue Phase der Entwicklung sozialer
Menschenrechte.
Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention
sind Phänomene wie „gesellschaftliche Ausgrenzung“,
„Diskriminierung“, „rechtliche Entmündigung“ und
„medizinische Zwangsbehandlung“ nicht bloß gesellschaftliches Übel, sondern müssen richtigerweise als
Verletzung von Menschenrechten verstanden werden.
Die Entwicklung eines anderen Menschenbildes für alle
Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen
von Normalität entsprechen, wie in der Konvention formuliert ist, liefert dafür die Grundlage: Unter Buchstabe e der Präambel der Konvention wird Behinderung
als ein sich verändernder Zustand - als Prozess - beschrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschen
mit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstellung sowie der Umwelt entsteht und im Ergebnis die
gleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teilnahme an der Gesellschaft behindert.
Dieser Satz greift fundamental die Ursachen von
Ausgrenzung an: Behinderung - ja Benachteiligung
schlechthin - wird als soziale Konstruktion begriffen.
Wer konstruiert? Ein Netz definitionsmächtiger, ressourcenstarker und durchsetzungsfähiger Akteure, die nicht
unbedingt bewusst organisiert sein müssen, die nicht
einmal die Bevölkerungsmehrheit darstellen oder repräsentieren müssen! Im Ergebnis erzwingt dieses Netz eine
bestimmte Definition von Normalität. Über den gesellschaftlichen Diskurs, rechtliche Normen und Sanktionsdrohungen wird diese Definition von Normalität als gesellschaftliche Wirklichkeit rationalisiert und reproduziert.
Mit der Übernahme des sogenannten sozialen Modells von Behinderung stellt die UN-Konvention nichts
weniger dar als die Anerkennung von Behinderung als
Bestandteil menschlichen Lebens. Weiter gedacht: Die
Anerkennung von „Anderssein“ als Bestandteil menschlichen Lebens wird schlechthin vorangetrieben. Setzte
sich diese Auffassung mehrheitlich in der Gesellschaft
durch, führte dies in der Konsequenz dazu, dass es kein
„Anderssein“ mehr gibt, sondern nur noch ein „Sosein“. Damit verbunden dürfte eine Aufwertung all jener
Umgangsweisen und Praktiken verbunden sein, derer
sich die heute noch als „unvollkommen“ Stigmatisierten
bedienen.
Die mit der Konvention postulierte Akzeptanz des
„Soseins“ ist ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung
der Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, auch eine Antwort auf die Gefahr neuer Ausgrenzungen darzustellen,
die zu beobachten sind: In dem Maße, in dem Beschäftigte zusehends die Rolle eines ArbeitskraftunternehZu Protokoll gegebene Reden
mers einnehmen ({0}) und ihnen mithin die individuelle Verantwortung für das einwandfreie Funktionieren
zugewiesen wird, sind die neuen Dogmen der sozial konstruierten Normalität zunehmend geeignet, neue Formen der Exklusion hervorzubringen. In der „Aktivgesellschaft“, Lessenich, ist jeder, der sich nicht fit hält,
sich nicht weiterbildet, raucht oder sich gar den Zumutungen gewisser Arbeitsverhältnisse wie Niedriglohnbeschäftigung zu entziehen versucht, beinahe ein wandelndes Standortrisiko, mindestens aber ein potenzieller
fiskalpolitischer und volkswirtschaftlicher Schadensfall.
Ein solches Verständnis von Eigenverantwortung - so es
sich denn weiter verbreitet - ginge mit neuen Diskriminierungen gegenüber sich abweichend verhaltenden
Menschen einher. Die von der Großen Koalition beschlossenen Leistungsausschlüsse in der gesetzlichen
Krankenversicherung für Hauterkrankungen und Entzündungen nach Tätowierungen bzw. Piercings zeigen
deutlich, dass diese neuen Diskriminierungen mehr als
eine vage Befürchtung darstellen.
Vor diesem Hintergrund ermöglicht die UN-Konvention über die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen, eine universelle Forderung an Staat und
Gesellschaft zu stellen: „Anderssein“ ist nicht zu diskriminieren, sondern „Sosein“ ist zu ermöglichen. Anders
ausgedrückt: Je größer die Diskriminierungsfreiheit und
Barrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller die
Bedingung der Möglichkeit von Freiheit hergestellt
wird, desto kleiner wird die Zahl behinderter und ausgegrenzter Menschen zukünftig sein und desto weniger
wird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daran
hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Unter
dem Aspekt der Möglichkeit des „Soseins“ verwundert
es übrigens nicht, dass die Würde - sehr viel direkter als
in anderen Menschenrechtskonventionen - auch als Gegenstand notwendiger Bewusstseinsbildung angesprochen wird. Im Ergebnis kann dieses Menschenrechtsdokument alle Mitglieder der Gesellschaft von dem
Zwang entlasten, sich den Norm- und Normalvorstellungen der übermächtigen, definitionsmächtigen Kollektive
zu unterwerfen. Es stellt daher eine emanzipatorische
Errungenschaft ersten Ranges dar, die so noch längst
nicht erkannt worden ist. Den Staat stellt sie vor große
Herausforderungen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/10008. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7872. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
der SPD angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7889. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 1177/2010
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie
zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/10958 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})RechtsausschussAusschuss für Tourismus
Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll.
Diesen Sitzungstag hat unsere verehrte Bundeskanzlerin mit einer wegweisenden Regierungserklärung zu
Europa begonnen. Im Mittelpunkt der Ausführungen der
Kanzlerin standen die Vertrauenskrise des Euro, die
besorgniserregende finanzielle Situation einiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die Reformbemühungen in diesen Ländern, die von interessierten
Kreisen immer weiter verzögert werden. Die Menschen
in Deutschland sind verunsichert. Denkt der Bürger an
Europa in der Nacht, so ist er um den Schlaf gebracht.
Glücklicherweise haben wir mit Angela Merkel und
Wolfgang Schäuble starke Führungspersönlichkeiten,
die uns und die Europäische Union mit sicherer Hand
durch diesen schweren Sturm lenken werden. Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin hat in eindrucksvoller Weise gezeigt, dass sie die richtigen Akzente zu
setzen weiß. Unser aller Unterstützung ist ihr sicher.
Voller Verständnislosigkeit kann ich - das können
aber sicher auch die meisten Deutschen - nur auf die
kruden Vorstellungen der Opposition blicken. Niemand
außer den SPD-Funktionären kann nachvollziehen, warum es für Deutschland so vorteilhaft sein soll, wenn die
Schulden vergemeinschaftet werden. Vielleicht sollten
die Damen und Herren der Opposition einmal die Schulden fremder Menschen, Menschen, die nicht unverschuldet in die Schuldenfalle geraten sind, aus ihrem Privatvermögen bezahlen, damit sie sehen, wie toll ihre Ideen
sind. Doch Europa besteht nicht nur aus Krisen, Schulden und Bürokratie. Europa ist mehr. Europa ist der gemeinsame Weg aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs in
Gedenken an die gefallenen, toten und ermordeten Menschen als ewige Mahnung hin zu Frieden, Freiheit und
Wohlstand auf dem gesamten Kontinent. Diesen Zielen
fühlt sich die Union von Konrad Adenauer über Helmut
Kohl bis hin zu Angela Merkel verpflichtet. Auf diesem
Weg haben wir nicht nur die längste Friedensperiode in
Europa seit Menschengedenken erlebt, sondern auch
eine Entwicklung von Handel und Wandel, die niemand
vorhergesehen hat, ja auch so nie vorhersehen konnte.
Nahezu jeden Tag gibt es dank der Europäischen Union
für die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland Fortschritte, Fortschritte, die in vielen Fällen auch die Misshelligkeiten des täglichen Lebens wirksam bekämpfen.
Europa ist nicht in erster Linie das Europa der Technokraten und Konzernlenker, der Kapitalgesellschaften
und Konzerne. Europa ist in erster Linie das Europa der
Menschen, das Europa der Europäer.
Daher genießen der Schutz des Verbrauchers und die
verbesserte Teilhabe von Menschen, die Einschränkungen ausgesetzt sind, am täglichen Leben, aber auch an
den kleinen Freuden des Daseins, die für uns, die wir
glücklicherweise gesund sind, selbstverständlich sind, in
Europa eine sehr hohe Priorität. Trotz des sperrigen Titels freue ich mich daher, heute zur Durchführung der
Verordnung ({0}) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates sprechen zu dürfen. In dieser Verordnung werden nicht nur die Fahrgastrechte im Seeund Binnenschiffsverkehr gestärkt, sondern auch die Situation von Personen mit eingeschränkter Mobilität verbessert.
Durch diese Verordnung wurden die Rechte der Verbraucher im See- und Binnenschiffsverkehr in zentralen
Punkten gestärkt. Ich möchte hier einige ansprechen:
Wir alle wissen, dass auch bei sorgfältigster Planung
und einer hervorragenden unternehmerischen Leistung
der Reiseveranstalter Verspätungen nicht immer vermieden werden können. Nichts aber ist ärgerlicher, als im
Ungewissen gelassen zu werden. Daher müssen die Passagiere im See- und Binnenschiffsverkehr so schnell wie
möglich, spätestens aber eine halbe Stunde nach der
planmäßigen Abfahrtszeit, über die Lage und, sobald
diese Informationen vorliegen, über die voraussichtliche
Abfahrtszeit und die voraussichtliche Ankunftszeit informiert werden.
Wenn Fahrgäste aufgrund einer Annullierung oder
Verspätung einen Anschluss versäumen, so müssen sie
über alternative Anschlüsse unterrichtet werden.
In den Fällen, in denen die Abfahrt im See- und Binnenschiffsverkehr ganz annulliert wird oder sich um
mehr als 90 Minuten über die planmäßige Abfahrtszeit
hinaus verzögert, müssen den Fahrgästen in den Hafenterminals kostenlos Imbisse, Mahlzeiten oder Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit angeboten werden. Wenn die Fahrt ganz annulliert wird
oder sich so verspätet, dass ein Aufenthalt von einer
oder mehreren Nächten erforderlich wird, haben die
Passagiere nicht nur das Recht auf die erwähnten Imbisse, Mahlzeiten oder Erfrischungen, sondern auch einen Anspruch auf eine kostenlose angemessene Unterbringung an Bord oder an Land sowie die Beförderung
zwischen dem Hafenterminal und der Unterkunft. Darüber hinaus muss in diesen Fällen den Passagieren
eine anderweitige Beförderung zum frühestmöglichen
Zeitpunkt und ohne Aufpreis zum Reiseziel unter vergleichbaren Bedingungen angeboten werden. Ersatzweise können die Fahrgäste sich für die Erstattung des
Fahrpreises und eine kostenlose Rückfahrt zum Abfahrtsort entscheiden.
Des Weiteren haben die Fahrgäste Anspruch auf eine
Entschädigung durch Fahrpreisnachlässe bei verspäteter Ankunft. Das Prinzip, dass durch die Anwendung auf
den Luftverkehr bekannt geworden ist, gilt also auch für
den See- und Binnenschiffsverkehr.
Schließlich haben auch Menschen mit Behinderung
vielfältige Ansprüche auf Unterstützung und Hilfe. Denjenigen unter Ihnen, die aus einer falsch verstandenen
Marktradikalität Überregulierung und Bevormundung
der Unternehmen annehmen, möchte ich zurufen, dass
wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben. Der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards, in der der Mensch
eine zentrale Rolle einnimmt. Wir von der Union haben
immer für diese soziale Marktwirtschaft gefochten und
werden dies auch weiter tun. Zur Beruhigung sei noch
angeführt, dass die Verordnung ({1}) Nr. 1177/210 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 die Unternehmen nur zu dem verpflichtet,
was jeder anständige Mensch sowieso täte.
Als nationalem Gesetzgeber obliegt es uns, für die
Einhaltung und Durchsetzung der Verordnung in Bezug
auf den See- und Binnenschiffsverkehr die entsprechenden Stellen einzurichten. Außerdem mussten wir Sanktionen für Verstöße gegen die Verordnung festlegen. Die
zuständige Stelle für Beschwerden über einen mutmaßlichen Verstoß gegen die Verordnung ist in Zukunft das
Eisenbahn-Bundesamt, das zu diesem Zweck mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet wurde, die zur Erreichung des Zieles der Verordnung erforderlich und nötig sind.
Ferner haben wir die Voraussetzungen für die Einrichtung von Schlichtungsstellen zur Beilegung von
Streitigkeiten aus der Beförderung im See- und Binnenschiffsverkehr genannt, die von den Fahrgästen im Falle
von Problemen angerufen werden können, ohne dass das
Recht, die Gerichte anzurufen, verloren geht.
Wie jedes Gesetz, das kein zahnloser Tiger sein
möchte, weist auch dieses Sanktionsmöglichkeiten auf.
Verstöße gegen die Verordnung können mit einer Geldbuße bis zu 30 000 Euro geahndet werden.
Ich denke, dass dieses Gesetz in hervorragender
Weise den Absichten der Verordnung ({2}) Nr. 1177/
2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und
Binnenschiffsverkehr entspricht. Dieses Beispiel zeigt,
dass Europa auch in der Krise für die Menschen da ist.
Mobilität wird immer wichtiger für jeden Einzelnen
von uns. Wir unternehmen Urlaubsreisen, besuchen
Freunde und Verwandte in aller Welt, und auch beruflich
ist heute eine immer größer werdende Mobilität und
Flexibilität gefragt. Passagierrechte bilden ein Kernelement der verkehrspolitischen Vision Europas. Die EUKommission hat es sich zum Ziel gemacht, das Reisen in
der EU einfacher und angenehmer zu gestalten, die
Qualität des Reisens zu verbessern, die Reisenden besser zu schützen und die europäische Verkehrsbranche attraktiver zu machen. Die EU-Passagierrechte ruhen auf
Zu Protokoll gegebene Reden
drei Eckpfeilern: Diskriminierungsfreiheit, genaue, zeitgerechte und zugängliche Informationen, unverzügliche
und angemessene Hilfeleistungen.
Im Flugverkehr enthält vor allem die sogenannte
Fluggastrechteverordnung, Verordnung ({0}) Nr. 261/
2004, die am 17. Februar 2005 in Kraft getreten ist, die
wichtigsten Regelungen zu Verspätungen, Annullierungen und Überbuchungen. Daneben gibt es noch die
Verordnung ({1}) Nr. 1107/2006 für die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität und die Verordnung ({2}) Nr. 1008/
2008 für Bestimmungen zur Preisfestsetzung. Für Bahnreisende gilt in Deutschland seit dem 29. Juli 2009 das
Gesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die Verordnung ({3}) Nr. 1371/2007. Voraussichtlich 2013 werden Fahrgastrechte für Busreisende wirksam. Im Dezember dieses Jahres tritt eine EUVerordnung für Fahrgastrechte von Schiffsreisenden in
Kraft, die Verordnung ({4}) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November
2010. Diese Verordnung enthält im Wesentlichen für
Schiffsreisende bei Annullierung oder Verspätung der
Abfahrt um mehr als 90 Minuten den Anspruch auf
Erstattung des Fahrpreises oder eine anderweitige Beförderung und eine angemessene Unterstützung bezüglich Verpflegung und Unterbringung für die Nacht,
Schutz von Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität, Mindestanforderungen an die Information für alle Fahrgäste und ein vorgeschriebenes
Beschwerdemanagement. Erstmals sollen mit dieser
Verordnung nun auch für die Schifffahrt unabhängige
Durchsetzungsstellen auf nationaler Ebene geschaffen
werden, die unter anderem für ein Beschwerdemanagement und die Erstellung von Statistiken über die Anzahl
und Art der Beschwerden eingeführt werden. Mir ist besonders auch wichtig an dieser EU-Verordnung, dass die
qualifizierten Hilfeleistungen für Mobilitätsbehinderte
und ihre Berücksichtigung bei den Anmelde- und Organisationsprozessen von Schiffsfahrten und -reisen nun in
den Fokus rücken.
Mit dem vorliegenden EU-Fahrgastrechte-Schifffahrt-Gesetz, FahrgRSchG, will die Bundesregierung die
Grundlage und Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung zur Durchsetzung und Einhaltung der EUVerordnung schaffen und die umsetzungsbedürftigen
Regelungen bezüglich der Durchsetzung durch nationale Durchsetzungsstellen in nationales Recht umsetzen.
Gleichzeitig verlängert sie die Übergangsfrist des § 73
Abs. 4 LuftVG um zwei weitere Jahre und gewährleistet
so, dass die langjährig ausgeübten Tätigkeiten ausländischer Flugsicherungsorganisationen gemäß § 31 b Abs.
6 LuftVG fortgesetzt werden können. Dieses Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates, gleichwohl
hat der Bundesrat seine Empfehlung gemäß Art. 76 Abs.
2 des Grundgesetzes abgegeben.
Als zuständige Behörde für die Durchsetzung der EUVerordnung hat die Bundesregierung das EisenbahnBundesamt eingesetzt. Die weitere Ausgestaltung der
Schlichtungsstelle für Schifffsreisende wurde im vorliegenden Gesetzentwurf offengelassen. Der Bundesrat
weist daher völlig zu Recht darauf hin, dass die Regelungen zur Schlichtung im See- und Binnenschiffsverkehr insbesondere mit den Schlichtungsregeln im
Energiewirtschaftsgesetz, in der Eisenbahn-Verkehrsordnung sowie im Entwurf eines Gesetzes zur Schlichtung im Luftverkehr harmonisiert werden müssen.
In der Stellungnahme des Gesetzentwurfs zählt der
Bundesrat auf, wie die Situation der Schlichtungsstellen
für Fahrgäste in Deutschland ist. Bahnkunden können
sich an die vereinsgetragene Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, wenden, für
Flugpassagiere sollen laut einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung eine privatrechtliche Schlichtungsstelle auf freiwilliger Basis und eine behördliche
Schlichtungsstelle bei einer Bundesbehörde eingerichtet
werden. Damit wird völlig unnötig die Gründung von
drei Schlichtungsstellen für die Fahrgäste in Deutschland vorbereitet. Dies ist in der heutigen Zeit, in der
Passagiere und Fahrgastunternehmen verstärkt nach
der Intermodulität, also einer stärkeren Verzahnung der
verschiedenen Verkehrsträger verlangen, kontraproduktiv.
Das Verhalten der Bundesregierung auf die Vorschläge des Bundesrates ist wieder einmal bezeichnend.
Einerseits begrüßt sie die Vorschläge des Bundesrates
nach einer harmonisierten Schlichtungsstelle, trifft andererseits aber keine konkreten Vorkehrungen in ihrem
Gesetz, damit eine wirklich verkehrsträgerübergreifende
Schlichtungsstelle Realität wird. Wir halten die
verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, die gerade im
Bahnbereich hervorragende Arbeit geleistet hat, für
sehr geeignet. Genau wie bei der Bahn könnte sie auch
bei Schiffs- und Luftverkehr zur Wiederherstellung eines
vertrauensvollen Miteinanders von Fahrgästen und Unternehmen beitragen.
Der Bundesrat plädiert in seiner Stellungnahme außerdem für eine Pflicht der Unternehmen zur Beteiligung an einer Schlichtung für alle Beförderer, Reiseveranstalter und Reisevermittler. Dies halte ich ebenfalls
für einen guten Vorschlag, der die Verbraucherrechte
weiter stärkt. Leider lehnt die Bundesregierung diesen
Vorstoß ab und bleibt damit hinter den Richtlinien der
EU zurück.
Abschließend möchte ich eine Empfehlung der EUVerordnung über die Fahrgastrechte im See- und
Binnenschiffsverkehr erwähnen, die mir besonders am
Herzen liegt. In der Einleitung wird empfohlen, dass bei
der Gestaltung neuer Häfen, bei Abfertigungsgebäuden
und Renovierungsarbeiten auf Barrierefreiheit geachtet
werden muss. Besondere Beachtung soll eine Konzeption für alle Verwendungsarten - Design for all - finden.
Die SPD-Fraktion hat gerade eine Kleine Anfrage zum
universellen Design an die Bundesregierung verfasst.
Aus unserer Sicht ist es wichtig, den Ansatz des universellen Designs nicht nur im Baubereich, sondern auch
für alle Verkehrsträger voranzutreiben.
Wenn wir über Fahrgastrechte im Allgemeinen reden,
denken wir zuallererst an den Flugverkehr. VerschiebunZu Protokoll gegebene Reden
gen und Ausfälle dominieren nicht nur unsere Gedanken, sondern sind auch Gegenstand zahlreicher Berichterstattungen verschiedener Medien. In den meisten
Fällen aber landen wir problemlos und pünktlich am
Zielflughafen. Dann erwischt uns die Sorge, dass unser
Gepäck beschädigt ist oder vielleicht gar nicht seinen
Zielort erreicht haben könnte. Vielen Mitbürgern fällt
aber auch als Gegenstand von Beschwerden die Bahn
ein, die deutlich pünktlicher ist als ihr Ruf. Das wird
sich aber ein Bahnreisender sicherlich nicht vor Augen
führen, wenn er bei minus 20 Grad am Berliner Hauptbahnhof auf seinen 15 Minuten verspäteten Zug wartet.
Für beides gibt es bewährte Entschädigungssysteme,
sodass die Kunden zu ihrem guten Recht kommen. Die
Bahn ist beispielsweise verpflichtet, ab einer Verspätung
von 60 Minuten ihren Kunden einen 25-prozentigen Rabatt einzuräumen, und die Fluggastrechteverordnung
EG Nr. 261/2004 sorgt für einen gerechten Entschädigungsanspruch von Passagiere gegenüber ihren Fluggesellschaften. Auch wenn die Erfahrung zeigt, dass sich
die Airlines in den meisten Fällen sehr kulant zeigen, so
wird diese christlich-liberale Koalition die Verbraucherrechte durch die Einrichtung einer eigenen Schlichtungsstelle für den Flugverkehr noch weiter stärken.
Woran die wenigsten aber denken, ist, dass es auch
Passagiere im Schiffsverkehr gibt. Um auch deren Rechte
zu stärken, hat die Europäische Union vor zwei Jahren
die Verordnung Nr. 1177/2010 erlassen, die Ende dieses
Jahres in Kraft tritt. Diese regelt die Fahrgastrechte im
Binnen- und Seeschiffsverkehr, wenn der Einschiffungshafen oder Ausschiffungshafen in der Europäischen
Union liegt. Neben Regelungen zu Verspätungen und
Annullierungen beinhaltet sie auch das Verbot der Diskriminierung und das Gebot der Unterstützung gegenüber Menschen mit Behinderungen und Mobilitätseinschränkungen. Das hier vorgelegte Gesetz soll nun die
Verordnung in deutsches Recht transferieren.
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung dabei von
der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dass sich der
Beschwerdeführer zuerst an das betroffene Unternehmen wenden muss, bevor die Schlichtungsstelle einbezogen wird. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass ähnlich wie im Flugverkehr oder bei der Bahn sich auch
hier die allermeisten Probleme bereits ohne Schlichtung
lösen lassen. Daneben ist es gelungen, die Schlichtung
möglichst unbürokratisch zu gestalten, indem es eine
zentrale Anlaufstelle geben soll, ohne in jedem Bundesland noch eine zusätzliche Beschwerdestelle einzurichten.
Ich glaube, dass der Bundesregierung mit dem hier
vorgelegten Gesetz zur Durchführung der EU-Verordnung ein guter Aufschlag zur Stärkung der Verbraucherrechte gelungen ist, und freue mich auf die weiteren Beratungen.
Mit der Europäischen Verordnung Nr. 1177/2010 erreichen Fahrgäste im See- und Binnenschifffahrtsverkehr einige wesentliche Verbesserungen. Die wesentlichen Regelungen der Verordnung treten in den
Mitgliedsländern unmittelbar in Kraft. Damit erhalten
Schiffsreisende ähnliche Rechte wie Bahn- und Flugreisende. Diese Gleichstellung begrüßt die Linke. Jedoch
krankt die Verordnung an den ebenso gleichen Stellen
wie im Bereich der Fluggastrechte. Zwar sollen auch die
Betreiber von Fahrgastschiffen einen Teil des Reisepreises bei verspäteter Ankunft am Zielhafen erstatten. Wie
im Luftverkehr beinhaltet die Regelung jedoch scheunentorgroße Schlupflöcher, bei denen sich Reiseveranstalter durch Hinweise auf schlechtes Wetter oder außergewöhnliche Umstände aus der Pflicht stehlen
können.
Insgesamt jedoch dürfen die Fahrgäste dankbar sein,
dass hier die Europäische Union zum größten Teil selbst
unmittelbares Recht setzt und so der Bundesregierung
kein großer Spielraum bleibt, die Stärkung von Fahrgastrechten zu torpedieren. Obwohl die neuen Regelungen gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität
entscheidende Verbesserungen enthalten, erklärte Verkehrsminister Ramsauer zum Beschluss der Verordnung
durch das Europäische Parlament: „Bei der Verordnung
fehlen das Augenmaß und die nötige Balance zwischen
Kosten für die Verkehrsunternehmen und dem effektiven
Nutzen für die Fahrgäste.“ Und: „Die Bundesregierung
hat sich in Brüssel gegen die Verordnung in der vorliegenden Form ausgesprochen.“
Die Umsetzung des kleineren Teils der Verordnung,
der erst noch in nationales Recht umgesetzt werden
muss, trägt dann auch die entsprechende Handschrift
der Bundesregierung. Obwohl an dieser Stelle Regelungskompetenz besteht, unterlässt es die Bundesregierung, den Unternehmen gegenüber den Reisenden ausreichend deutlich ausformulierte Informationspflichten
über die Schlichtungsstelle aufzutragen.
Weiter versäumt es die Bundesregierung, die Sanktionen bei Verstoß gegen die Fahrgastrechte gerade im
Sinne von Menschen mit Behinderung ausreichend zu
konkretisieren. So spart die Verordnung zum Gesetzentwurf die Sanktionierung zahlreicher behindertenspezifische Verstöße gegen die EU-Verordnung aus.
Die Linke wird sich im Gesetzgebungsprozess dafür
einsetzen, dass der Bundestag seinen verbliebenen
Spielraum bei den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr im
Sinne der Fahrgäste und nicht im Sinne der beteiligten
Unternehmen nutzt.
Zwei Dinge stehen hier heute zur Debatte: zum einen
Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, zum
anderen die Änderung des Luftverkehrsgesetzes. Bei beiden Themen hatten wir ausführliche Stellungnahmen der
Bundesländer, die an Kritik nichts offen ließen. Und was
hat die Bundesregierung dazu zu sagen? Man muss hier
auf Seite 48 von einem 50-seitigen Dokument schauen,
um sich dann mit zweieinhalb Seiten Gegenäußerung zufrieden zu geben. Den absolut berechtigten Einwendungen zur Schlichtung im Luftverkehr werden gar nur
zwölf Zeilen gewidmet. Ist das Ihr Ernst, meine liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition? Halten Sie
Zu Protokoll gegebene Reden
es für angemessen, angesichts der Kritik des Bundesrates, wo nahezu alle Länder Änderungsbedarf sahen?
Einen besonderen Gruß sende ich an dieser Stelle mal
nach Bayern. Sie haben im Bundesrat wirklich sehr gute
Arbeit geliefert. Aber das, was CSU und FDP hier abliefern, ist unterirdisch. Ramsauer und Aigner führen mit
dem Verkehrs- und dem Verbraucherministerium auf
Bundesebene zwei Ministerien, denen man nun wirklich
nicht unterstellen kann, dass sie in diesem Bereich nicht
betroffen seien. Das BMVBS war auch stets in die Verhandlungen des BMJ unter Führung der FDP eingebunden. Das, was Sie hier abliefern, ist Ausdruck des blanken Versagens. Und ich sage Ihnen auch eines: Wenn es
Ihnen wirklich ernsthaft um verkehrsträgerübergreifende und neutrale Schlichtung gegangen wäre, würden
Sie das hier nicht durchgehen lassen. Bei Ihrer Reise
durch das Verbraucherrecht haben Sie wirklich noch
einmal eindrucksvoll unter Beweise gestellt, dass Sie
nichts anderes als blinde Passagiere sind.
Lassen Sie mich eines kurz zitieren. Schauen Sie mal
auf Seite 50: „Die Bundesregierung weist für den Bereich des Luftverkehrs darauf hin, dass sich inzwischen
zahlreiche Luftfahrtunternehmen zu einer freiwilligen
Schlichtung bereit erklärt haben.“ Ich frage Sie: Wer ist
denn schon Mitglied bei einer anerkannten Schlichtungsstelle? Die Verordnung gibt es schließlich schon
seit siebeneinhalb Jahren. Seit 2005 bestand dazu die
Möglichkeit. Erst bei der Schlichtungsstelle Mobilität,
jetzt bei der SÖP. Wo ist denn die Schlichtungsstelle für
Flugreisende? Was passiert denn derzeit mit den ganzen
Beschwerden, die Fluggäste an die Airlines richten und
die dort nur unzureichend bearbeitet werden? Sie haben
es wirklich nicht begriffen. Weder erkennen Sie die mangelhafte Rechtsdurchsetzung der Fluggastreche noch
welches Potenzial eine unabhängige Schlichtungsstelle
für die Reisenden bringt, wohl gemerkt im Zusammenhang mit anderen zu nutzenden Instrumenten, wie beispielsweise einer konsequenten Sanktionierung.
Und damit möchte ich auch noch kurz etwas zu den
anderen Bereichen des Reiserechts betonen: Auch hier
- liebe Kollegen von der CSU - bauen Sie nicht Bürokratie ab, sondern auf. Was ist denn mit Herrn Stoiber?
Wo ist denn seine Aufgabe? Ist das Reiserecht davon
ausgenommen? Wir brauchen endlich einen Rechtsakt
für alle Reisenden. Was soll denn dieser Käse mit den
ganzen sektorspezifischen Regelungen? Natürlich brauchen wir auch Fahrgastrechte für See- und Binnenschiffsverkehr. Natürlich brauchen wir Fahrgastrechte
im Bus- und Bahnverkehr. Und selbstverständlich brauchen wir dringend ein ordentliches Maß an Verbraucherschutz für Fluggastrechte. Aber: Wir brauchen ein
Reiserecht, dass auch den intermodalen Verkehrskonzepten gerecht wird. Wir brauchen ein Recht, das Qualität sichert. Wir brauchen ein Recht, das den Reisenden,
auch ohne dafür ein Jurastaatsexamen gemacht zu haben, klar und einfach darstellt, welches Recht sie haben ganz im Sinne der Reisenden. Denn die sind es, um die es
primär geht, und nicht allein die Wahrung der Interessen
der Wirtschaft.
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur
Änderung des Luftverkehrsgesetzes werden zum einen
die gesetzlichen Grundlagen im nationalen Recht für die
Einhaltung und Durchsetzung der durch die Verordnung
({1}) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung ({2})
Nr. 2006/2004 unmittelbar geltenden Fahrgastrechte im
See- und Binnenschiffsverkehr durch die Einrichtung
entsprechender Stellen sowie der Festlegung eines Sanktionsregimes bei vermeintlichen Verstößen geschaffen.
Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung damit das verbraucherpolitische Ziel der Stärkung und
weiteren Verbesserung der Rechte von Verbrauchern im
See- und Binnenschiffsverkehr in Bezug auf Personenverkehrsdienste und Kreuzfahrten unter besonderer
Berücksichtigung von Belangen behinderter und mobilitätseingeschränkter Menschen in Deutschland um.
Diese Passagiere erhalten nach Inkrafttreten des vorgelegten Gesetzentwurfs das gleiche europaweite Schutzniveau, wie es schon im Luft- und Eisenbahnverkehr
besteht und künftig auch auf den Buslinienverkehr ausgeweitet wird.
Der Entwurf des eingebrachten EU-FahrgastrechteSchifffahrt-Gesetzes bestimmt im Wesentlichen die Aufgaben und die Zuständigkeit des Bundes für den Bereich
des Verkehrsträgers Schiff zur Durchsetzung der Fahrgastrechte. Ferner werden die für die Durchführung der
Verordnung ({3}) Nr. 1177/2010 notwendigen Befugnisse sowie Mitwirkungspflichten abschließend normiert. Zudem enthält der Gesetzentwurf Regelungen zur
individuellen Streitbeilegung sowie zur Möglichkeit der
Anrufung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle.
Neben den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr wird
mit dem Gesetzentwurf die Luftsicherheit durch ausländische Flugsicherungsorganisationen in grenznahen
Bereichen und an Flugplätzen durch die Verlängerung
der bestehenden Übergangsfrist für deren Aufgabenwahrnehmung aufgrund einer Änderung von § 73 Abs. 4
Luftverkehrsgesetz weiterhin dauerhaft gewährleistet.
Mit der durch den Gesetzentwurf erfolgten Änderung
von § 73 Abs. 4 des Luftverkehrsgesetzes wird die dort
geregelte und am 31. Dezember 2012 endende Übergangsfrist für ausländische Flugsicherungsorganisationen nach dem LuftVG um zwei Jahre bis zum 31. Dezember 2014 verlängert. Damit wird gewährleistet, dass die
mit ausländischen Staaten ausgehandelten völkerrechtlichen Übereinkünfte zur Durchführung der Flugsicherung in Deutschland fristgerecht in Kraft gesetzt werden
können. Andernfalls würden die bisherigen und teilweise
seit Jahrzehnten im deutschen Luftraum in grenznahen
Bereichen ausgeübten Tätigkeiten ausländischer FlugZu Protokoll gegebene Reden
sicherungsorganisationen mit Ablauf der bislang geltenden Frist als nicht mehr gestattet gelten.
Ich glaube, wir haben heute einen guten Entwurf vorgelegt, und freue mich auf zügige parlamentarische Beratungen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10958 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz
und Energiewende
- Drucksache 17/9583 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Die Energiewende ist für die Bundesrepublik
Deutschland neben der Euro-Krise die größte wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau und die größte umweltpolitische Herausforderung
überhaupt. Gerade weil unsere umwelt- und energiepolitischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvoll
sind, bedürfen sie auch einer besonders sorgfältigen
Prüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen
auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze, aber auch
auf die Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Ländern
und Kommunen. Alle Möglichkeiten, die zu einem erfolgreichen Abschluss dieses Mammutprojektes führen
können, müssen berücksichtigt und integriert werden.
Deshalb müssen auch die positiven Auswirkungen der
Raumordnung betrachtet werden.
Die von den Grünen geforderten Änderungen und
Vorschläge sind jedoch in keiner Weise zielführend, da
es im Wesentlichen um Ziele geht, die auch ohne die beantragten Gesetzesänderungen und Raumordnungspläne des Bundes erreicht werden können, sodass die
vorgeschlagenen Maßnahmen lediglich deklaratorischen Charakter besitzen.
Zudem werden die erfolgreichen föderalen Strukturen
infrage gestellt. Der Bund ist für die Planung eines ausreichenden Hochspannungsnetzes zuständig, welches
gewährleistet, dass der produzierte Strom vom Ort der
Entstehung dahin transportiert wird, wo der Strom gebraucht wird. Die Ausweisung raumordnerischer
Gebiete für erneuerbare Energien ist aber originärer
Kompetenzbereich der Landesplanungen. An dieser Aufteilung, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, werden
wir nichts ändern. Die planerische Konkretisierung des
Ausbaus erneuerbarer Energien auf Grundlage des § 17
Abs. 1 ROG ist nicht notwendig. Es ist nicht sinnvoll,
dass der Bund den Gemeinden vorschreibt, ob und in
welchem Umfang entsprechende Flächen für erneuerbare Energien festgeschrieben werden.
Die bisherigen Erfahrungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien zeigen, dass die Erstellung eines gesamtdeutschen Raumordnungsplanes mit verbindlichen
Flächenvorgaben für erneuerbare Energien für die einzelnen Bundesländer nicht notwendig ist. Die Energiekonzepte der Länder werden nach derzeitigem Stand
dazu führen, dass die von der Bundesregierung anvisierten Ziele für erneuerbare Energie nicht nur erreicht,
sondern übertroffen werden.
Eine verbindliche Vorgabe durch den Bund ist in der
Praxis schon deshalb nicht sachgerecht, weil für ein
effizientes Raummanagement die örtlichen Gegebenheiten der einzelnen Regionen in Ansatz gebracht werden
müssen, so dass eine Steuerung nur auf Ebene der über
die entsprechende Ortskenntnis verfügenden Landesund Regionalplanungen möglich ist. Im Übrigen wäre
ein entsprechender gesamtdeutscher Plan nicht zielführend, weil er keine positive Wirkung in der Praxis garantieren könnte.
An dieser Stelle möchte ich auf den Flächenverbrauch eingehen, der zunehmend zu einem Problem
wird. Es ist in unserem Sinn, eine möglichst geringe Inanspruchnahme land- und forstwirtschaftlicher Flächen
zu erreichen. Ich möchte auf die Doppelbelastung der
Land- und Forstwirtschaft durch Inanspruchnahme
landwirtschaftlicher Flächen zunächst für den Eingriff
selbst und dann für Kompensationsmaßnahmen im Rahmen des Naturschutzausgleichs hinweisen. Deshalb sollten bei der Umweltprüfung neben Schutz und Schonung
von Naturräumen auch der Schutz von land- und forstwirtschaftlichen Flächen, agrarstrukturelle Belange sowie für die Landwirtschaft besonders geeignete Böden
sowie der Bodenschutz Berücksichtigung finden.
Wichtig ist auch, dass wir hier die Bevölkerung, insbesondere unsere Landwirte, mitnehmen. Bei Kompensationsmaßnahmen müssen Inhalt, Art und Umfang von
Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Entsiegelung,
Wiedervernetzung von Lebensräumen, Bewirtschaftung
und Pflege sowie zum Ersatzgeld und zur Definition
„agrarstrukturelle Belange“ und „besonders geeignete
Böden“ berücksichtigt werden. Eine Erhöhung der einmaligen Dienstbarkeitsentschädigung auf 20 Prozent
des Grundstückswertes bei Freileitungen und mindestens 50 Prozent des Grundstückswertes für 380-kVErdverkabelungen sowie die Ergänzung der einmaligen
Dienstbarkeitsentschädigung um eine jährlich wiederkehrende und unbefristete Nutzungsvergütung sollten
diskutiert werden.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist auch für
Deutschland ein Kraftakt. Die von der Bundesregierung
anvisierten klimapolitischen Ziele sind mehr als erfüllt.
Wir sind auf dem Weg zur Energie von morgen: sauber,
bezahlbar, verlässlich.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zeigt wieder
einmal deutlich, dass Sie verzweifelt versuchen, unsere
Erfolge in der Energiepolitik schlechtzureden. Statt
unsere energiepolitischen Vorhaben konstruktiv zu begleiten, haben Sie sich auf Blockade und Lamentieren
spezialisiert. Doch die Fakten zeigen deutlich, dass unsere Gesetzgebung zum Erreichen der energiepolitischen Ziele erfolgreich ist. Wir erreichen nicht nur unsere Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien,
sondern übertreffen auch bei Weitem alle Ausbauziele,
die sich Grün oder Rot in ihrer Regierungszeit gesetzt
haben.
Allein im vergangenen Jahr ist der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix um 3 Prozent auf über
20 Prozent gestiegen, seit unsere schwarz-gelbe Koalition regiert, ist der Anteil der erneuerbaren Energien um
fast 10 Prozent gestiegen. So schnell wie bei keiner anderen Regierung zuvor. Damit gehören wir in Europa zu
den Spitzenreitern beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch die Bundesländer überbieten sich in ihren
Energiekonzepten. Insgesamt wollen 14 Bundesländer
energieautark und zehn von ihnen zum Stromexporteur
werden. Alle Ausbauziele zusammen liegen 60 Prozent
über denen der Bundesregierung. Allein im ersten Halbjahr dieses Jahres sind laut Branche 26 Prozent mehr
Windenergieanlagen aufgestellt worden als im Vorjahreszeitraum, insgesamt 414 Windenergieanlagen mit einer Leistung von zusammen 1 004 Megawatt. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass der Zubau vor Ort floriert und
keineswegs am jetzigen Raumordnungsgesetz scheitert.
Das aktuelle Raumordnungsgesetz ist eben kein „Erneuerbaren-Ausbau-Verhinderungs-Gesetz“, wie es der
vorliegende Antrag suggeriert. Im Gegenteil: Es beinhaltet ausreichende Regelungen für Klimaschutz und
den Ausbau der erneuerbaren Energien. So wird schon
zu Beginn des Gesetzes in § 2 Abs. 2 Nr 6 Raumordnungsgesetz geregelt: „Den räumlichen Erfordernissen
des Klimaschutzes ist Rechnung zu tragen sowohl durch
Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken als
auch durch solche, die der Anpassung an den Klimawandel dienen. Dabei sind die räumlichen Voraussetzungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien … zu
schaffen.“
Auch der Flächensicherung für erneuerbare Energien und Klimaschutz wird im Raumordnungsgesetz
Rechnung getragen. Raumbedeutsame Nutzungen und
Funktionen des Raumes sowie alle denkbaren raumordnerischen Steuerungsfunktionen sind dort ausreichend
abgedeckt. Die von Ihnen geforderte Ergänzung im § 8
Abs. 5 ROG ist also nicht sinnvoll, da sie eine rein deklaratorische Normierung ohne eigenen Regelungsgehalt
darstellen würde.
Wenn die Grünen an der einen Stelle mehr Bürgerbeteiligung beim Ausbau der Netze oder Umbau von Bahnhöfen fordern, dann sollten sie auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien konsequent bleiben und nicht
einen Bundesausbauplan für erneuerbare Energien fordern. Denn auch aus Gründen der Akzeptanz ist es richtig, dass auf Landesebene und kommunaler Ebene vor
Ort entschieden wird, wo die erneuerbaren Erzeugungsanlagen gebaut werden. Vorgaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien durch das Raumordnungsgesetz
würden die Akzeptanz der erneuerbaren Energien nur
unnötig gefährden. Denn die Leute vor Ort wollen mit
eingebunden werden, wenn vor ihren Häusern Windmühlen oder Biogasanlagen gebaut werden. Geeignete
Gebiete für erneuerbare Energien festzulegen, kann also
besser durch die Länder als durch den Bund geschehen.
Denn die Länder verfügen zusammen mit den Kommunen eindeutig über die bessere Ortskenntnis in den
Regionen. Dass dies funktioniert, beweisen sowohl alle
Energiekonzepte der Länder mit ihren teils überbordenden Ausbauzielen als auch die laufende Umsetzung
durch die Landes- und Regionalplanung der Bundesländer.
Dieser Antrag zeigt wieder einmal den Realitätssinn
der Grünen. Sie verkennen die Lage und die eigentlichen
Herausforderungen der Energiewende. Unser Hauptproblem ist nicht, dass wir den Zubau durch EEGNovellen durch das Raumordnungsgesetz verhindern.
Vielmehr stellt uns der äußerst schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien vor massive, andere Herausforderungen. So ist es nun an der Zeit, dass die erneuerbaren
Energien schneller zu Markt- und Wettbewerbsfähigkeit
geführt werden. Deshalb haben wir mit der Marktprämie erstmals ein Instrument für mehr Systemintegration
der erneuerbaren Energien geschaffen. Damit wird angereizt, dass die erneuerbaren Energien nicht einfach
blind einspeisen, sondern sich besser in das System integrieren. Weitere Schritte werden und müssen folgen.
Zum einen müssen die erneuerbaren Energien für den
Verbraucher bezahlbar bleiben. Deshalb fühlen wir uns
in der Pflicht, die Förderung der Erneuerbaren so effizient wie möglich zu gestalten. Dies haben wir in vergangenen EEG-Novellen versucht, doch auch hier wurden wir zu oft von Ihnen im Bundesrat gehindert. Zum
anderen muss der Ausbau der erneuerbaren Energien
mit dem Ausbau der Netze in Einklang gebracht werden.
Diesen und weiteren Herausforderungen stellen wir
uns. Wo Sie schon mit Wahlkampfgetöse starten, leiten
wir zusammen mit Bundesumweltminister Peter
Altmaier einen Verfahrensprozess ein und packen diese
Herausforderungen ganz konkret an. Das Parlament,
die Länder und auch die Bürger bekommen die Möglichkeit, sich an diesem Verfahren zu beteiligen. Das ist auch
Ihre Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit der
Energiewende.
Das Raumordnungsgesetz beinhaltet die Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumordnung, die die sozialen
und wirtschaftlichen Anforderungen an den Raum in der
Bundesrepublik mit den ökologischen in Einklang bringt
und ausgewogen gestaltet. Mit der letzten Novelle 2008
wurden nicht nur Anpassungen hinsichtlich der Föderalismusreform vorgenommen, sondern wurde das Raumordnungsgesetz, ROG, auch an die aktuellen „Leitbilder
und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in
Deutschland“ angepasst. Diese Neufassung hatte unter
anderem die Verringerung der FlächeninanspruchZu Protokoll gegebene Reden
nahme, den Klimaschutz, die Stärkung des ländlichen
Raumes und das Hervorheben der interkommunalen und
europäischen Zusammenarbeit zum Ziel. Insgesamt
wurde die Raumordnungsgesetzgebung derart gestaltet,
dass sie künftig von vornherein flexibel auf besondere
Entwicklungen reagieren kann. Auch die EU-Richtlinie
zur strategischen Umweltprüfung wurde im damaligen
Gesetz vollständig umgesetzt. Ziel war es zu diesem Zeitpunkt bereits, die Raumordnung umfassend auf klimabedingte Veränderungen vorzubereiten und deren Auswirkungen einzubeziehen.
Wegen der unmittelbaren Auswirkungen der Raumordnung auf die Bauleitplanung sind detaillierte Vorgaben in der Raumordnung eher zurückhaltend zu bewerten. Als NRW-Bundestagsabgeordneter kann ich
darüber informieren, dass der weit überwiegende Teil
der kommunalen Flächennutzungspläne in NRW bereits
Darstellungen zu Konzentrationszonen mit Windenergie
enthält.
Mit Klimaveränderungen wird zunehmend die Frage
der Ernährung und als wichtigstes Produktionsmittel
der Boden - also die Fläche - eine gewichtige Rolle
spielen. Bereits jetzt ist die Konkurrenz um die Fläche
sehr hoch. Auch der Präsident des Deutschen Bauernverbandes lenkte das Augenmerk um die Flächenkonkurrenz von Nahrung und Energie mit einer öffentlichen
Petition auf die schwindende landwirtschaftliche Fläche. Mit dem ZDF-Thementag gegen Hunger - als immer noch größtes Gesundheitsrisiko in der Welt - wird
der Ernst der Lage sehr deutlich. Hier liegt aus Sicht der
SPD die Aufgabe der Raumordnung klar in der Identifizierung und Abwägung spezifischer Nutzungskonkurrenzen.
Es ist ohne Zweifel eine politische Aufgabe, den Ausbau erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Auch die
Ministerkonferenz für Raumordnung bekräftigte, dass
„die verstärkte Nutzung regenerativer Energien und der
hierzu erforderliche Netz- und Speicherausbau der
überörtlichen, planerischen Konzeption sowie der
Flächen-, Standort- und Trassenvorsorge durch die
Landes- und Regionalplanung bedarf“. Gerade regenerative Energien bieten die Chance dezentraler Strukturen und können nur vor Ort und in Kooperation von
Bund, Land und Kommunen entwickelt werden. Dazu
sind die ordnungspolitischen Voraussetzungen zu schaffen.
Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, NABeG, hat
eine Reihe von Verbesserungen bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen der Bundesnetz- und Bedarfsplanung geschaffen, so zum Beispiel die Verpflichtung
der Betreiber von Übertragungsnetzen, den Entwurf des
Netzentwicklungsplans vor Vorlage bei der Regulierungsbehörde im Internet zu veröffentlichen, sowie die
verpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung im Zuge der
strategischen Umweltprüfung. Darüber hinausgehend
halten wir weitere Verbesserungen der Bürgerbeteiligung für geboten.
Für den ambitionierten Ausbau der regenerativen
Energien in Deutschland müssen wir die Menschen mitnehmen, aber insbesondere gewinnen und regionale
Belange berücksichtigen. Ich verweise an dieser Stelle
erneut auf unseren Antrag und das SPD-Konzept im
Rahmen des Infrastrukturkonsenses zu umfassender
Bürgerbeteiligung. Bei der Raumordnung muss jedoch
mit Augenmaß gehandelt werden und ein Abwägungsprozess gestaltet werden. Dies geht nur über regionale
Planung, horizontal und vertikal abgestimmte regionale
Konzepte - gerade für die Gestaltung der Energiewende. Eine einseitige Auslegung der Raumordnungsgesetze wäre hier sicher nicht zielführend.
Wichtig ist also eine enge inhaltliche und politische
Abstimmung mit den Ländern, ob überhaupt und in welcher Form eine Änderung der Raumordnung verfolgt
werden sollte.
Die christlich-liberale Regierungskoalition hat sich der
unumkehrbaren und umfassenden Energiewende verschrieben. Ob im Bundesministerium für Wirtschaft unter Führung des FDP-Vorsitzenden Dr. Philipp Rösler,
im Umweltministerium unter dem Christdemokraten
Peter Altmaier oder im BMVBS unter dem CSU-Minister Dr. Peter Ramsauer - alle Parteien der Koalition arbeiten intensiv und nachdrücklich an der Umsetzung der
Beschlüsse zur Energiewende. Das beinhaltet selbstverständlich auch, die klimagerechte Entwicklung in den
Städten und Gemeinden zu fördern, den CO2-Ausstoß zu
verringern, die erneuerbaren Energien auszubauen.
Überall dort, wo Bau-, Stadtplanungsvorschriften sowie
Raumordnung dazu einen Beitrag leisten können, werden wir das tun. Denn Raumordnung und Stadtentwicklung, Klimaschutz und Energiewende sind für die FDP
kein Widerspruch, sondern bilden eine Einheit, die es
politisch weitblickend, sozialverträglich, ökologisch sinnvoll und ökonomisch vertretbar zu gestalten gilt.
Mit den Änderungen des Baugesetzbuches tun wir genau das. Wir gestalten und begleiten unter anderem
auch die Energiewende und leisten den fachlichen Beitrag zum Klima- und Naturschutz, der in Verantwortung
für lebende wie zukünftige Generationen notwendig ist.
Kursorisch lassen Sie mich einige Themen aufgreifen.
Bereits in § 1 des novellierten Baugesetzbuches werden
die Bedeutung der Fläche und die Schonung der Natur
in besonderer Weise hervorgehoben und gestärkt. Die
Notwendigkeit der Umwandlung landwirtschaftlich oder
als Wald genutzter Flächen soll zukünftig begründet
werden. Der Innenentwicklung von Städten und Gemeinden wird daher eine wichtige Rolle zugewiesen. Brachflächen, Baulücken, Gebäudeleerstand und Möglichkeiten
der Nachverdichtung werden ausdrücklich hervorgehoben. Das wird den Flächenverbrauch in der Zukunft
bremsen und damit das natürliche und klimafreundliche
Regenerationspotenzial stärken. Gleiches gilt für § 17,
wo der Spielraum der Gemeinden im Interesse der Innenentwicklung erhöht wird, wenn es darum geht, von
Obergrenzen für die Festsetzung des Maßes für bauliche
Nutzungen abzuweichen.
Die FDP hält am Ziel des Nullneuflächenverbrauchs
fest und sieht vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung einen politisch begleiteten negativen
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
Flächenverbrauch für angezeigt. Und lassen Sie mich
einfügen: Die Innenentwicklung werden wir nicht nur im
Baugesetzbuch fördern. Mit den für den Bundeshaushalt
2013 erhöhten Mitteln für die Städtebauförderprogramme „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“ um 4 Millionen auf 97 Millionen Euro, „Kleine Städte und Gemeinden“ um 10 Millionen auf 55 Millionen Euro,
„Stadtumbau Ost und West“ zusammen 116 Millionen
Euro werden wir passgenau unter anderem das tun, was
Sie fordern: den Flächenverbrauch senken, die Innenstädte fördern, den natürlichen Lebensraum erhalten,
die Klimabilanz verbessern. Das ist Politik der FDP und
das ist Politik der christlich-liberalen Union.
Doch zurück zur Baugesetzbuchnovelle. Mit § 136
werden wir die Belange des Klimaschutzes und der
Klimaanpassung ausdrücklich in die Beurteilung städtebaulicher Missstände einbeziehen. Damit wird deutlich,
dass beide Aspekte - Klimaschutz und Klimaanpassung - auch im Rahmen der städtebaulichen Sanierung
und als Bestandteil städtebaulicher Gesamtmaßnahmen
zukünftig berücksichtigt werden. Die bereits vielerorts
praktizierten Aktivitäten zur klimagerechten Stadterneuerung finden damit auch im Gesetzestext eine Stütze. Die
Städte und Gemeinden können davon Gebrauch machen; es liegt in ihrem planerischen Ermessen. Die FDP
und die Bundesgesetzgebung fordern sie dazu ausdrücklich auf und schaffen dafür den rechtlichen Rahmen.
Gleichzeitig sollen in § 136 die energetische Beschaffenheit und die Gesamtenergieeffizienz als Kriterien benannt werden für die Sanierungsbedürftigkeit. Damit
sollen städtebauliche Sanierungsmaßnahmen zukünftig
einen stärkeren Beitrag dazu leisten, dem Klimawandel
entgegenzuwirken. Dafür wird es notwendig sein, die
Ausstattung baulicher Anlagen mit nachhaltigen Versorgungseinrichtungen, mit Erneuerbare-Energien-Anlagen,
mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und einer verbesserten Wärmedämmung zu versehen. Was die Nutzung von
Solarthermie- und Photovoltaikanlagen betrifft, werden
wir die Baunutzungsverordnung - §§ 14 und 17 - entsprechend anpassen.
Die Möglichkeiten, den Klimaschutz politisch und gesetzgeberisch zu fördern und die Energiewende in unserem Land voranzutreiben sind vielfältig. Die christlichliberale Koalition beweist unter anderem mit der Novelle des Baugesetzbuches oder mit der Fortentwicklung
der Städtebauförderprogramme, dass sie auch weiterhin
handwerklich solide und ökologisch nachhaltig und
politisch erfolgreich daran arbeitet.
Dem hier vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmen wir insgesamt zu, auch
wenn wir nicht jede einzelne Forderung eins zu eins
übernehmen würden. Wenn die Umsetzung dieses Antrags aber einen Beitrag leisten kann zur Beschleunigung der Energiewende, hat er unsere Unterstützung. Es
ist absolut richtig, dass die Raumordnung einen gewichtigen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten
kann. Voraussetzung ist aber, dass der Bund mit seiner
Gesetzgebung die Landesbehörden unterstützt und deren
Kompetenz, aber auch deren Motivation stärkt. Ob dazu
ein Bundesraumordnungsplan, wie in Punkt 3 des Antrags gefordert wird, das richtige Instrument ist, lasse
ich erst einmal dahingestellt. Richtig ist jedenfalls das
Anliegen, das ich dahinter vermute.
Die Energiewende ist eine Aufgabe von geradezu historischer Bedeutung. Als politische Aufgabenstellung ist
sie aber noch relativ jung und die verfügbaren Planungsinstrumente, die Planungsgremien und der gegebene
Rechtsrahmen haben darauf noch nicht in der notwendigen Konsequenz reagiert. Anstelle eines Bundesraumordnungsplanes - der könnte vielleicht der zweite
Schritt sein -, würde ich eine generelle Revision sämtlicher Planungs- und Rechtsvoraussetzungen anregen.
Das gesamte System von Planungshoheit, Ämterbefugnis und die in den letzten Jahrzehnten geübte Planungspraxis gehören auf den Prüfstand, und zwar unter der
Prämisse, ob sie den objektiven Erfordernissen des Klimaschutzes und der Energiewende noch gerecht werden.
Klimaschutz ist eine internationale Aufgabe, die aber
in Regionen und Gemeinden verwirklicht werden muss.
Die Frage ist: Ist die Raumordnungsplanung in ihrer
jetzigen traditionellen Verfasstheit in der Lage und ist
sie motiviert, dazu einen entscheidenden Beitrag zu leisten? Ich meine, es gibt da bedeutende Reserven und Potenziale zu heben, für die aber bundespolitische Prioritätensetzungen einschließlich des dafür erforderlichen
Rechtsrahmens notwendig sind.
Insofern ist mir auch die Forderung im Punkt 4 des
Antrags zu zögerlich, wonach die Bundesregierung angehalten ist, zu „prüfen, ob der Klimaschutz und der
Ausbau erneuerbarer Energien gestärkt werden können,
indem im Raumordnungsgesetz die Möglichkeit geschaffen wird, Flächenvorgaben verbindlich auf die Länderebenen zu konkretisieren“. Der Bund muss, ausgehend
von Klimaschutzerfordernissen, einen Prioritätenkatalog
festlegen, den die Landesplanung in ihre Prämissen zur
Fortschreibung von Raumordnungskonzepten und -planungen übernimmt. Er muss auch mit den Ländern gemeinsam eine Hirarchie der Entscheidungsebenen abstimmen, mit der Planungszeiträume verkürzt und
unmissverständliche Rechtssicherheit in den einzelnen
Planungsschritten erreicht werden können. Weder der
Klimaschutz noch die Energiewende dürfen durch Landesgrenzen aufgehalten werden.
Wenn es Landesinteressen oder regionale Interessen
gibt, die zu Verhinderungsplanungen verleiten, müssen
diese Interessen mit den Bundesinteressen verglichen
und Interessenkonflikte durch Vereinbarungen ausgeglichen werden. Die Frage ist, ob in der Bürgerbeteiligungspraxis eine ausreichende Berücksichtigung aller
Interessen stattfindet oder ob Planungsvorgaben dazu
führen können, dass berechtigte Bürgerinteressen zu
früh und ohne Nachteilsausgleich weggewogen werden.
Zur Bürgerbeteiligung wäre es sinnvoll, ein Instrument
der Bestandsaufnahme der Interessen aller von der
Raumordnungsplanung Betroffenen am Beginn einer
Planfortschreibung oder einer Planänderung zu finden,
und zwar mit dem Ziel, Einvernehmen herzustellen und
auf eine vertragliche Grundlage zu heben. Geschieht
Zu Protokoll gegebene Reden
das nicht, entscheiden womöglich am Ende einer jahrelangen Planungsphase Oberverwaltungsgerichte darüber - und zwar aus rein rechtsformalen Gründen -, ob
die Energiewende gelingt oder ob die Akteure, die diesen Prozess voranbringen wollen, irgendwann entnervt
oder pleite aufgeben.
Akzeptanz im Kleinen ist notwendig, damit die Energiewende im Großen gelingen kann.
Die Raumordnung wird von dieser Regierung ver-
nachlässigt. Denn schon im Jahr 2010 sollte der neue
Raumordnungsbericht vorliegen. Doch es hat bis An-
fang dieses Jahres gedauert, also zwei Jahre länger als
geplant. Jetzt liegt der Bericht zwar vor, aber Sie wei-
gern sich, den Bericht im Parlament zu debattieren.
Die Gründe dafür sind offensichtlich. Sie wollen den
Bericht dem Bundestag nicht vorlegen, weil er aufzeigt,
welche Steuerungspotenziale in der Raumordnung lie-
gen. Er zeigt sehr deutlich auf, wo sie tatenlos sind und
wie sie es versäumen, die Energiewende ernsthaft zu be-
treiben. Herr Minister Raumsauer, lassen Sie die Poten-
ziale der Raumordnung nicht ungenutzt. Gerade im Be-
reich der Energiewende gibt es über die Raumordnung
Gestaltungsmöglichen. Laut Raumordnungsbericht 2012
sollten im besonderen Maße der Ausbau erneuerbarer
Energien und Leitungsnetze, Risikomanagement und
Schutz kritischer Infrastrukturen als Aufgabe der Bun-
desraumordnung gesehen werden. Und auch die wich-
tigen Themen wie Begrenzung des Flächenverbrauchs
und der Aufbau eines nationalen Biotopverbundsystems
wären hier gut aufgehoben. Doch in keinem dieser Be-
reiche werden Sie - als Regierung - aktiv.
Der aktuell wichtigste Handlungsansatz ist jedoch
der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Lei-
tungsnetze. Dazu kann die Raumordnung einen wesent-
lichen Beitrag leisten, wie wir in unserem Antrag aufzei-
gen. Das hat mittlerweile sogar Bundesumweltminister
Peter Altmeier erkannt. Vor kurzem sagte er: „Die wich-
tigste Aufgabe ist, ein Gesamtkonzept auszuarbeiten, in
dem der Ausbau der erneuerbaren Energien und der
Stromnetze besser miteinander verzahnt werden.“ Wir
sind gespannt auf Ihre Vorschläge! Denn das Ministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ignoriert
weiterhin kosequent die Potenziale der Raumordnung
für die Energiewende und den Klimaschutz. Dabei ist
dafür nicht einmal eine Gesetzesänderung notwendig.
Denn schon mit einem Bundesraumordnungsplan, der
übrigens eh im Raumordnungsgesetz vorgesehen ist,
lässt sich hier schon viel erreichen.
Ein Bundesraumordnungsplan für erneuerbare Ener-
gien schafft Transparenz, bietet den nachfolgenden Ebe-
nen Orientierung und schafft so einen Beitrag zur sach-
gerechten Verteilung erneuerbarer Energien im Raum.
Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, ein plan-
wirtschaftliches Instrument zu schaffen, das den Län-
dern keinen Handlungsspielraum mehr lässt, sondern
vielmehr darum, eine Grundlage für einen koordinierten
Ausbau zu schaffen. Das wäre ein echter Beitrag zur
Energiewende, im Gegensatz zu dem Ausbaustopp für
Windkraft, den Minister Altmeier fordert.
Die Verhinderung von Windkraftanlagen ist kein neues
Thema. So kam es in der Vergangenheit vor, dass Gemein-
den die Möglichkeit zur Festlegung von Windkrafteig-
nungsgebieten genutzt haben, um Windkraftanlagen zu
verhindern. Damit werden gesetzliche Möglichkeiten, die
eigentlich den Ausbau erneuerbarer Energien befördern
sollen, ad absurdum geführt. Denn solche Eignungsge-
biete sind mit einer Sperrwirkung ausgestattet. Das heißt,
werden Flächen als Eignungsflächen für Windkraft vorge-
sehen, ist diese Nutzung auf umliegenden Flächen nicht
möglich. Hier muss das Raumordnungsgesetz angepasst
werden, um diese missbräuchliche Verhinderungsplanung
zu erschweren. Eignungsgebiete für Windkraft sollten nur
noch in Ausnahmefällen möglich sein.
Auch zum Thema Repowering von Windkraftanlagen
muss das Raumordnungsgesetz überarbeitet werden.
Denn der Austausch alter Windkraftanlagen durch mo-
derne und effizientere Anlagen wurde mit der letzten
BauGB-Novelle schon in das Baugesetzbuch aufgenom-
men. Dieser Ansatz muss auch in das Raumordnungsge-
setz übertragen werden. Dazu haben Sie vor elf Monaten
in Ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage angemerkt,
dass Sie noch nicht abschließend entschieden haben, ob
eine solche Änderung sinnvoll ist. Geschwindigkeit ist
bei der Energiewende nicht Ihre Sache, das ist klar. Viel-
leicht haben Sie hier mittlerweile doch eine Entschei-
dung getroffen und die Notwendigkeit dieser Regelung
erkannt. Dann freuen wir uns über Ihre Unterstützung
für unseren Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9583 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der
Internationalen Arbeitsorganisation
- Drucksache 17/10959 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation
- Drucksachen 17/9066, 17/9614 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Wir diskutieren heute ein sehr wichtiges Regelwerk den Entwurf für das neue Seearbeitsgesetz. Dabei geht
es um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute
an Bord von Kauffahrteischiffen unter deutscher Flagge.
Wir setzen damit das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation - kurz ILO - aus dem
Jahr 2006 in deutsches Recht um. Gleichzeitig wird die
Ratifizierung des ILO-Abkommens vorbereitet. Deutschland trägt mit diesen Vorhaben seinen Teil dazu bei, dass
das ILO-Übereinkommen weltweite Gültigkeit erlangen
kann. Wenn dieses Ziel erreicht ist, herrschen überall
auf See dieselben Bedingungen für Seeleute. Vor dem
Hintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs ist
dies auch wichtig; denn nur mit weltweit einheitlichen
Mindeststandards kann der Wettbewerb nicht auf Kosten
der Beschäftigten stattfinden. Zusammen mit den neu
aufgenommenen Elementen der Flaggenstaatkontrolle
und der Hafenstaatkontrolle, auf die ich gleich noch näher
eingehen werde, bilden diese Mindeststandards das Kernstück des ILO-Übereinkommens aus dem Jahr 2006.
Nach der Flaggenstaatkontrolle muss jeder Staat die
Einhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsübereinkommens auf Schiffen unter seiner Flagge überwachen.
Die Hafenstaatkontrolle sieht vor, dass jeder Staat, in
dessen Häfen Schiffe unter fremder Flagge einlaufen,
die Einhaltung der ILO-Anforderungen zu überprüfen
hat. Somit ist gewährleistet, dass auf allen Schiffen weltweit dieselben Bedingungen herrschen müssen, auch auf
Schiffen unter der Flagge solcher Staaten, die das ILOAbkommen nicht ratifiziert haben. Zahlenmäßig sprechen
wir von circa 65 000 Handelsschiffen oder etwa 1,2 Millionen Seeleuten, die von diesen Vorhaben betroffen
sind. Sie erkennen hiermit die enorme Tragweite unserer
nationalen Bemühungen.
Bevor ich näher auf die markantesten Neuerungen
unseres vorliegenden Gesetzentwurfs eingehe, möchte
ich gerne noch ein paar Bemerkungen zu dem Antrag
der Linksfraktion machen. Sie haben, meine Damen und
Herren von den Linken, in Ihrem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, das Seearbeitsübereinkommen der
Internationalen Arbeitsorganisation unverzüglich zu ratifizieren. Wie ich schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema dargelegt habe, ist uns in der Union der Arbeitsschutz und die Gesundheit der auf See tätigen
Menschen ein wichtiges Anliegen. Dafür muss es die
eingangs erwähnten Mindestbedingungen geben. So
weit sind wir uns einig.
Aber was den richtigen Zeitpunkt für die Ratifizierung angeht, überlassen Sie doch besser uns die Entscheidung. Es macht nämlich wenig Sinn, den zweiten
Schritt vor dem ersten zu gehen. Wenn wir das ILOÜbereinkommen ratifizieren, ohne zuvor die internationalen Bestimmungen in nationales Recht umgesetzt zu
haben, fehlt uns ein wichtiger Baustein. Für alle Schiffe,
die unter der deutschen Bundesflagge in See stechen, benötigen wir ein Regelwerk, das international Bestand
hat. Das ist zudem eine wesentliche rechtliche Voraussetzung, um überhaupt das ILO-Abkommen ratifizieren
zu können. Das deutsche Seemannsgesetz, das bis zum
Inkrafttreten des neuen Seearbeitsgesetzes gültig ist, erfüllt dies nicht vollständig. Sonst brauchten wir ja auch
das aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht. Die moderne, global ausgerichtete Handelsschifffahrt erfordert
gerade im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts eine
neue Rechtsgrundlage. Meine Fraktion hat deswegen
auch Ihren Antrag ablehnen müssen.
Wie Sie wissen, wird das neue Seearbeitsgesetz derzeit erarbeitet. Es noch in diesem Jahr verabschiedet
werden, sodass es im ersten Quartal 2013 in Kraft treten
kann. Die Ratifizierung selbst ist dann nur noch reine
Formsache.
Bis das neue Gesetz in Kraft tritt, stehen die Seeleute
unter deutscher Flagge aber keinesfalls schutzlos da.
Das aktuelle Seemannsgesetz setzt bereits einen hohen
Standard für den Schutz der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord. Das beginnt bei den Regelungen über
das Heuerverhältnis, Arbeitsschutz, Verpflegung, Unterbringung und geht hin bis zu Vorschriften über die medizinische Versorgung, Urlaub und Landgang.
Der Entwurf für das neue Seearbeitsrecht setzt jedoch
weitere, ganz neue Maßstäbe.
So berücksichtigt es neue Entwicklungen im Bereich
der Schifffahrt, sei es im Bereich des Handels oder etwa
der Offshoreindustrie.
Der persönliche Geltungsbereich des Gesetzentwurfs
ist weiter gefasst als der bisherige im Seemannsgesetz.
So gilt das Gesetz zum Beispiel auch für selbstständig an
Bord Tätige oder für abhängig Beschäftigte, die bei einem anderen Arbeitgeber als dem Reeder des Schiffs beschäftigt sind.
Eine Neuerung ist auch die Definition des Reeders im
Bereich des Seearbeitsrechts und seine Verantwortung
für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute an
Bord seines Schiffs. Dies gilt unabhängig davon, ob er
selbst ihr Arbeitgeber ist oder ein Dritter. Damit werden
die Seeleute davor geschützt, dass ein Reeder versuchen
könnte, seine Pflichten gegenüber den Seeleuten auf andere abzuwälzen.
Um die bereits angesprochenen umfangreichen Kontrollen künftig effizienter zu gestalten, sieht das neue
Gesetz ein transparentes Verfahren vor, mit dem die Seediensttauglichkeit der Besatzungsmitglieder eines Schiffes
festgestellt werden kann. An dessen Ende erhalten die
Seeleute dann ein Seetauglichkeitszeugnis.
Eine bessere Übersicht und klarere Abgrenzungen
finden sich auch bei den neu geregelten Arbeits- und
Ruhezeiten. Erforderliche Abweichungen von Höchstarbeitszeiten oder Mindestruhezeiten sind für bestimmte
Schiffskategorien oder bestimmte Arbeitseinsätze vorgesehen. Um die Besatzungsmitglieder nicht zu überfordern, werden daneben auch Ausgleichsruhezeiten vorgeschrieben.
Als letztes positives Beispiel aus diesem Regelwerk
möchte ich den Bereich der Berufsausbildung an Bord
erwähnen. Dieser wird erstmals gesetzlich normiert.
Das Berufsbildungsgesetz, das die Ausbildung an Land
regelt, wird den besonderen Anforderungen auf See nur
in Teilen gerecht. Die neuen Vorschriften im SeearbeitsZu Protokoll gegebene Reden
gesetz orientieren sich hieran so weit wie möglich. Allerdings berücksichtigen sie eben auch die besonderen
Gegebenheiten einer Berufsausbildung an Bord.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leistet die Bundesregierung also ihren Beitrag zur weltweiten Anwendung des Seearbeitsübereinkommens. Sie trägt mit
Sorge dafür, dass auf See angemessene Bedingungen für
die Beschäftigten gelten. Durch ihre Gesetzesvorhaben
sichert sie gleichzeitig, dass der Wettbewerb auf Kauffahrteischiffen nicht über die Besatzungsmitglieder ausgetragen wird.
Ich hatte gehofft, dass ich mich hier schon viel
schneller wieder zum Seearbeitsübereinkommen äußern
kann. Denn es war eine ganz schöne Hängepartie der
Bundesregierung, bis der Gesetzentwurf zur Umsetzung
des Seearbeitsübereinkommens fertig war. Das Seearbeitsübereinkommen war 2006 von der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, beschlossen worden. In der Großen Koalition hatten wir noch intensiv an der
Umsetzung gearbeitet, doch seit 2009 wurde das alles
schleifen gelassen. In Antworten auf schriftliche Fragen
der SPD-Fraktion und im Ausschuss wurden von der
Bundesregierung immer wieder verschiedene Daten genannt, zu denen ein Gesetzentwurf vorgelegt werden
sollte. Und jedes Mal verstrichen diese Daten, ohne dass
etwas geschah. Deswegen möchte ich zunächst der Bundesregierung gratulieren, dass es nach viel zu langer
Zeit nun endlich geglückt ist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, und es damit endlich einen Schritt vorwärtsgeht
auf dem Weg zu guten und fairen Arbeitsbedingungen
auf See.
Leider stimmt aber der Spruch „Was lange währt,
wird endlich gut“ nicht immer. So ist das auch hier, und
der Teufel steckt im Detail. Der Bundesrat hat bereits einige wichtige Anmerkungen vorgebracht, so beispielsweise bei der Anerkennung von Ausbildungsberufen in
der Seeschifffahrt. Hier war es bisher so, dass die Länder einbezogen werden - und dabei muss es auch bleiben, auch wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zunächst anderes vorsah. Wir haben an der Küste viele
gute Ausbildungsstandorte für Seeleute. Diese gute Ausbildung müssen wir auch in Zukunft gewährleisten.
Die Verfassung der ILO besagt, dass es durch die
Umsetzung von Übereinkommen nicht zu einer Schlechterstellung im Vergleich zu den davor geltenden Regelungen kommen darf. Wir dürfen also keine der Regelungen, die bisher bestehen, verwässern. Doch auch hier
sehe ich im Gesetzentwurf der Bundesregierung Probleme.
Zum einen, und auch dies kritisiert der Bundesrat,
werden die hafenärztlichen Dienste abgeschafft. Wir
dürfen aber die Gesundheitsämter bei der Kontrolle der
Arbeits- und Gesundheitsbedingungen nicht außen vor
lassen, denn hier wird gute Arbeit geleistet. Hier hat
sich ein Modell bewährt, das wir nicht abändern sollten.
Auch in Zukunft sollen die Gesundheitsämter hier überwachen. Alles andere wäre eine Schlechterstellung der
Seeleute.
Die Gefahr einer Schlechterstellung sehe ich zum anderen in der Formulierung zu Höchstarbeitszeiten und
Mindestruhezeiten. Wir haben derzeit eine Regelung im
Seemannsgesetz, die im Großen und Ganzen gut funktioniert. Nach Art. 19 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation, dem Schlechterstellungsverbot,
müssen wir uns auch hier daran orientieren, was bisher
in Deutschland gilt. Die nun vom BMAS vorgesehenen
Regelungen sind jedoch eine Schlechterstellung im Vergleich zu den bisher geltenden Höchstarbeitszeiten. Mir
ist absolut bewusst, dass es in der Schifffahrt immer wieder Extremsituationen geben kann, in denen eine lange
Arbeitszeit der Besatzungsmitglieder notwendig ist. Wir
brauchen aber klare Regeln, die besagen, dass überlange Arbeitszeiten nicht die Regel sind. Bislang haben
die Tarifvertragspartner hierzu Regelungen mit Augenmaß getroffen - Regelungen, die für Seeleute und Reeder
gleichermaßen praktikabel waren. Hier dürfen wir erstens nicht die Seeleute schlechterstellen, wenn die Bundesregierung einfach die Höchstarbeitszeit im Vergleich
zum bisherigen Seemannsgesetz verlängert. Und zweitens
dürfen wir nicht zulassen, dass ein funktionierendes System der Tarifvertragspartner zerstört wird, indem die
Bundesregierung hier ohne Not gesetzlich regulieren will.
Die Anerkennung der Ausbildungen, die Rolle der
Gesundheitsämter und die Regelung von Höchstarbeitszeiten sind nur drei Beispiele, anhand derer ich hier zeigen will, dass der Entwurf zum Seearbeitsgesetz noch
nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wir müssen im Gesetzgebungsprozess noch an entscheidenden Stellen
nachbessern, und hier möchte ich meine Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP auffordern, sich den
Sachargumenten nicht zu verschließen und noch mal genau nachzuprüfen, damit das Schlechterstellungsverbot
aus der ILO-Verfassung respektiert wird. Lassen Sie uns
bei den Beratungen im Ausschuss gemeinsam handeln,
um faire Arbeitsbedingungen auf See zu schaffen.
Bei aller Kritik an der deutschen Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens - zu spät und kritisch an den
angesprochenen Punkten - möchte ich betonen, dass das
Seearbeitsübereinkommen ein großartiges Beispiel dafür ist, wie die internationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik funktionieren kann - und funktionieren muss.
Beim Seearbeitsübereinkommen werden weltweit gültige
Standards gesetzt, die viel Missbrauch, der insbesondere
auf ausgeflaggten Schiffen stattfindet, verhindern werden. Das ILO-Übereinkommen steht für weltweit gute
Arbeitsbedingungen, die auch weltweit kontrolliert werden. Denn auf See kann kein Staat alleine garantieren,
dass faire Arbeitsbedingungen gewährleistet sind. Hier
brauchen wir die internationale Kooperation.
Das Seearbeitsübereinkommen ist nicht das einzige
ILO-Übereinkommen, das in Deutschland so lange liegt,
bevor etwas geschieht. Ich habe Sorge, dass die
schwarz-gelbe Bundesregierung auch beim im letzten
Jahr geschlossenen Übereinkommen 189 zu den Rechten
von Hausangestellten die Umsetzung auf die lange Bank
schiebt. Es ist niemandem damit geholfen, wenn auf internationaler Ebene gute und wegweisende Übereinkommen geschlossen und diese von allen gelobt werden - beim Übereinkommen zu Hausangestellten nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
zuletzt von der Kanzlerin, als sie im vergangenen Jahr
bei der ILO-Arbeitskonferenz sprach. Was zählt, sind
aber nicht die Worte, sondern die Taten. Deswegen fordere ich, dass das ILO-Übereinkommen zu Hausangestellten nicht erst mal in die Schublade gelegt wird, sondern dass hier schnell ein klarer Plan zur Ratifizierung
vorgelegt wird.
Die Arbeit der ILO kann nur funktionieren, wenn die
Mitgliedstaaten nach dem Beschluss der Übereinkommen zu Hause ihre Hausaufgaben erledigen. Die Ratifizierungen und die Umsetzung der Übereinkommen sind
die Hausaufgaben, die Deutschland von den jährlichen
Internationalen Arbeitskonferenzen bekommt. Wir müssen in der Umsetzung der Hausaufgaben besser und
schneller werden und mit gutem Beispiel international
vorangehen. Denn nur so können weltweit gute Arbeitsbedingungen auch tatsächlich umgesetzt werden und
bleiben nicht nur der Papiertiger ILO-Konferenzen in
Genf.
Die christlich-liberale Bundesregierung schafft mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf die Voraussetzungen
dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland das Seearbeitsübereinkommen, Maritime Labour Convention,
MLC, der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, von
2006 ratifizieren kann.
Das Seearbeitsübereinkommen ist die erste Kodifizierung des Seearbeitsrechts, in der mehr als 60 bestehende Übereinkommen und Empfehlungen der ILO in
einem Regelwerk zusammengefasst werden. Das Seearbeitsübereinkommen wird zukünftig verbindlich weltweite Mindeststandards für die Arbeit und das Leben der
mehr als 1,2 Millionen Seeleute an Bord von Kauffahrteischiffen setzen. Damit ist es eine Art Bill of Rights der
Seeschifffahrt. Konkret geht es um Beschäftigungsbedingungen, Unterkunft und Verpflegung, Gesundheitsschutz
und soziale Sicherung. Wegen der Vorgaben des Art. 59
Grundgesetz wird Deutschland zunächst das nationale
Recht ändern und erst dann das Seearbeitsübereinkommen ratifizieren.
Für die Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens
muss eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen angepasst und aktualisiert werden. Kern der Umsetzungsgesetzgebung ist ein neues Seearbeitsgesetz, mit dem
das alte, aus dem Jahr 1957 stammende Seemannsgesetz
ersetzt wird. Der Entwurf passt das Recht im Bereich der
Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute an die
Entwicklungen der heutigen, zunehmend global ausgerichteten modernen Seeschifffahrt an. Überkommene
Regelungen, insbesondere im Bereich des Urlaubs-,
Kündigungs-, und Heimschaffungsrechts, werden im
Seearbeitsgesetz modernisiert.
Künftig wird das Seearbeitsrecht für alle Personen
gelten, die an Bord eines Schiffes unter deutscher
Flagge tätig sind. Daneben werden das Verfahren zur
Feststellung der Seediensttauglichkeit, die Berufsausbildung an Bord und die medizinische Ausstattung auf eine
einheitliche rechtliche Grundlage gestellt. Neu geregelt
werden die Vorgaben des Seearbeitsübereinkommens
über die Arbeitsvermittlung, die Arbeitsinspektion und
die soziale Betreuung der Seeleute.
Eine weitere wichtige Neuerung ist die Regelung der
flaggen- und hafenstaatlichen Kontrollen zur Durchsetzung der Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens
- Arbeitsinspektion. Das bestehende System der flaggen- und hafenstaatlichen Kontrollen - Schiffssicherheit, Umweltschutz - wird auf die Überprüfung der
Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmitglieder erstreckt. Dabei werden Schiffe unter deutscher
Flagge, ebenso Schiffe unter fremder Flagge, die deutsche Häfen anlaufen, überprüft. Auch Schiffe aus Nichtvertragsstaaten, die das Seearbeitsübereinkommen nicht
ratifiziert haben, müssen dessen Mindeststandards beachten; sogenannte Nichtbegünstigungsklausel. Sie
werden künftig in den Häfen ratifizierender Staaten kontrolliert werden können - auch wenn sie unter der
Flagge eines Landes fahren, das das Übereinkommen
nicht ratifiziert hat. Bei Hafenstaatkontrollen werden sie
keine günstigere Behandlung erfahren als Schiffe aus
Vertragsstaaten. Damit stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit der Reeder, die Schiffe unter deutscher Flagge
betreiben.
Die Novellierung des Seearbeitsrechts nutzt die
christlich-liberale Bundesregierung auch dazu, überholte Regelungen zu streichen. So wird es das im bisherigen Seearbeitsrecht vorgesehene Musterungsverfahren künftig nicht mehr geben. Das baut Bürokratie ab
und entlastet alle Beteiligten finanziell um bis zu 2 Millionen Euro.
Für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute ist die Ratifikation des Seearbeitsübereinkommens
von entscheidender Bedeutung. Die Verbesserungen
können dazu beitragen, die Attraktivität seemännischer
Berufe zu steigern. Für die deutschen Reeder ist die
Ratifikation von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Sie schafft die Garantie, dass im Bereich der
Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Kauffahrteischiffen ein weltweit fairer Wettbewerb besteht. Die
Reeder aus anderen Staaten müssen die gleichen Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens erfüllen. Daraus folgen faire, einheitliche Wettbewerbsbedingungen
für alle Reeder.
Im Rahmen der Umsetzungsgesetzgebung muss - wie
bereits erwähnt - eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen angepasst und aktualisiert werden. In diesem
Zusammenhang mussten viele Detailfragen geklärt werden. Dazu sind auch die Sozialpartner in der Seeschifffahrt in die Diskussion eingebunden worden. Dass wir
heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung das
Verfahren zur Ratifikation des Seearbeitsübereinkommens einleiten, halte ich in Anbetracht des umfassenden
Regelungsgegenstandes und der Reichweite des Abkommens für einen beachtlichen Erfolg. Das ist auch ein
Erfolg des guten sozialen Dialogs in der Branche.
Deutschland stärkt mit der Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens die Arbeits- und Sozialrechte
der Seeleute und schafft die Voraussetzungen für einen
fairen Welthandel. Ich gehe insgesamt davon aus, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
wir hier eine hohe Akzeptanz im Interesse der betroffenen Seeleute und Reeder erreichen werden.
1,2 Millionen Seeleute stehen weltweit unter dem
Druck globalisierter Transportbedingungen und arbeiten unter zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen,
mangelnder sozialer Absicherung und Niedriglöhnen.
Viele Reeder fahren unter Billigflagge und halten sich
nicht an den Tarifvertrag der Internationalen Transportarbeiter-Föderation ITF. Sie zahlen ihnen mitunter
kaum mehr als 500 US-Dollar pro Monat.
Nach jahrelangen Verhandlungen war es der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, gelungen, im Februar 2006 einstimmig ein weltweit gültiges einheitliches Seearbeitsübereinkommen zu verabschieden. Doch
leider konnte dieses Abkommen bis heute nicht in Kraft
treten. Deutschland und andere Länder haben die Ratifizierung verschleppt.
Steckt Vorsatz dahinter? Deutsche Reeder verfügen
über eine der größten Handelsflotten der Welt. Aber nur
auf jedem zehnten Schiff gelten auch die deutschen
Rechtsvorschriften, denn nur 366 Handelsschiffe fahren
unter deutscher Flagge. Die meisten Reeder umgehen
die Vorschriften, indem sie unter einer Billigflagge fahren. Nach eigenen Angaben sparen sie pro Schiff zwischen einer Viertelmillion und einer halben Million
Euro.
Doch diese Blockadehaltung war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Am 20. August diesen Jahres hatten
33 Schifffahrtsnationen das Abkommen ratifiziert, die
zusammen über fast 60 Prozent der Tonnage der Welthandelsflotte verfügen. Damit kann das Abkommen nun
auch ohne Zustimmung Deutschlands im nächsten Jahr
in Kraft treten und würde auch gegen den erklärten Willen der Regierung bei uns gelten.
Nachdem nun selbst die Reeder vor den negativen
Auswirkungen warnten, da deutsche Schiffe zukünftig
wesentlich intensiver in den Häfen kontrolliert würden
als Schiffe von Staaten, die das Abkommen freiwillig umgesetzt haben, blieb der Koalition nichts anderes übrig,
als ein eigenes Seearbeitsübereinkommen vorzulegen.
Doch leider planen Sie, wichtige Details immer noch
sehr zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
umzusetzen, und fallen dabei zum Teil sogar hinter den
Stand bereits existierender Regelungen zurück. Insbesondere ergibt sich eine Schlechterstellung bezüglich
der §§ 3, 4 und 48 in Art. 1 des Gesetzentwurfs zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der ILO.
Wir erwarten, dass dies unverzüglich geändert wird.
Wichtig ist, dass der Reeder auch weiterhin als Bürge
für die Seeleute bestehen bleibt und die Einhaltung der
Gesetze gewährleisten muss, selbst wenn er Teile seiner
Aufgaben auf Dritte überträgt. Dies ist deshalb so in
dem internationalen Abkommen vereinbart worden, weil
es in der Schifffahrt immer wieder vorkommt, dass beispielsweise Seeleute von Bemannungsagenturen, BA, im
Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das
Schiff von A nach B bringen und anschließend von denen
kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die Seeleute dann das Recht, sich wegen der Heuerzahlung direkt an den Reeder zu wenden. Es gibt in der Schifffahrt
eben auch Reeder, die sich um die Heuerzahlung an die
Besatzung drücken. In einem solchen Fall haben die
Seeleute international das Recht, in einem ausländischen
Hafen sogenannte Schiffsgläubigerrechte geltend zu machen und notfalls das Schiff an die Kette legen zu lassen,
bis die Heuerforderung erfüllt ist.
Auch die Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten
wurden gegenüber dem internationalen Abkommen verschlechtert. Da auf See ein normaler Achtstundentag
nicht immer möglich ist, wurde eine maximale Höchstarbeitszeit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen von
täglich 14 Stunden vereinbart. Wenn selbst dies in einer
Extremsituation nicht ausreicht, können die Tarifvertragsparteien nach der Norm A 2.3 Abs. 13 unter Einhaltung der Vorgaben einen Tarifvertrag zur Verlängerung der maximalen Höchstarbeitszeiten vereinbaren.
Hier wurde das Abkommen jedoch so übersetzt, dass bei
uns jetzt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
ohne Information der Sozialpartner die Höchstarbeitszeit nach dem Seemannsgesetz in § 48 in Art. 1 des Gesetzentwurfs pauschal für alle Schiffe verlängern
könnte. Der neue Text in Abs. 2 bedeutet für Seeleute
beispielsweise auf einem großen Feederschiff eine Verlängerung der täglichen Höchstarbeitszeit von 10,3 Stunden auf 13 Stunden bzw. eine Verlängerung der wöchentlichen maximalen Arbeitszeit von 72 auf 91 Stunden. Da
viele Rechte von Seeleuten im Rahmen des Seearbeitsübereinkommens nicht direkt im Gesetz, sondern per
Verordnungen geregelt werden können, fordern wir,
diese in die parlamentarische Beratung einzubeziehen.
Dies gilt insbesondere für die Schiffsbesetzungsverordnung.
Die Linke fordert, dass die Regelungen zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten umgehend korrigiert werden und die zulasten der Seeleute eingefügten
gravierenden Abweichungen vom Abkommen behoben
werden.
Das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen
Arbeitsorganisation, ILO, wurde mittlerweile von über
30 Staaten ratifiziert, die zusammen mehr als 33 Prozent
der Welthandelstonnage pro Jahr transportieren. Damit
sind die Mindestvoraussetzungen erfüllt und das Übereinkommen kann im Sommer 2013 in Kraft treten.
Es wird also Zeit, dass die Bundesregierung mit dem
Gesetzentwurf auch in Deutschland die Bedingungen
zur Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens
schafft. Es geht schließlich darum, dass die circa
1,2 Millionen Seeleute weltweit bessere Arbeits- und
Lebensbedingungen erhalten. Die Seeleute, die Tag für
Tag den Welthandel und die stark ausdifferenzierte
Arbeitsteilung aufrechterhalten, bekommen endlich die
Wertschätzung, die sie verdienen.
Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung.
Aber eine Passage ist höchst problematisch. Die BunZu Protokoll gegebene Reden
desregierung hat ihre Hausaufgaben nur zum Teil gemacht. Gegenüber dem Referentenentwurf wurden einige Verbesserungen vorgenommen. Sie muss dennoch
nacharbeiten und zumindest den zentralen Kritikpunkt
bis zur zweiten Lesung beseitigen.
Wir kritisieren insbesondere eine gravierende Verschlechterung zulasten der Seeleute, die die Bundesregierung gegenüber dem ILO-Entwurf zum Seearbeitsübereinkommen vorgenommen hat. Dabei geht es um die
Haftungsfrage des Reeders, falls dieser Personal über
eine Bemannungsagentur einstellt und diese Seeleute
nicht oder nicht wie vereinbart bezahlt. Nach dem ILOEntwurf ist der Reeder für alle Forderungen der Seeleute uneingeschränkt haftbar. Die Bundesregierung hat
die Haftungsfrage in dem Gesetzentwurf aber erheblich
verkompliziert und zulasten der Seeleute abgeschwächt.
Laut dem Gesetzentwurf tritt der Reeder nur noch als
Bürge auf, wenn er Personal über eine Bemannungsagentur anstellt. Für deutsche Seeleute wird es schwer
und für ausländische Seeleute dürfte es nahezu unmöglich sein, ihre Ansprüche gegenüber dem Reeder geltend
zu machen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf,
die Haftung entsprechend dem ILO-Entwurf zu regeln
und § 4 Abs. 2 des Seearbeitsgesetzes ersatzlos zu streichen. Die Seeleute haben ein Recht auf ein einfaches
und faires Verfahren, in dem der Reeder, wie es die ILO
verlangt, der Durchgriffshaftung unterliegt.
Über den Gesetzentwurf hinaus erwarten wir von der
Bundesregierung, dass sie die Ausflaggung erschwert
und dafür sorgt, dass wieder mehr Schiffe eingeflaggt
werden. Derzeit hat Deutschland mit circa 3 000 Schiffen die weltweit größte Handelsflotte. Davon fahren
aber nur 300 Schiffe unter deutscher Flagge. Die Einflaggung würde auch dazu beitragen, dass die Arbeitsbedingungen besser kontrolliert und damit verbessert
werden können.
Es ist dringend erforderlich, dass die Lebens- und
Arbeitsbedingungen auf den Schiffen verbessert werden,
denn die Schiffe sind aus Kostengründen die meiste Zeit
auf See. Die Seeleute sind auf angemessene Unterkünfte,
Freizeiteinrichtungen und medizinische Betreuung angewiesen. Aufgrund der erheblichen Missstände und der
Verschiedenheit der Arbeitsbedingungen ist es an der
Zeit, dass weltweit geltende Arbeitsnormen, Beschäftigungsbedingungen und Mindestanforderungen an die
Infrastruktur an Bord geschaffen und wirkungsvoll
durchgesetzt werden. Deshalb sollte die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf nicht die Reeder schonen,
sondern die Belange der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellen.
Ich freue mich, dass hier heute die erste Lesung des
neuen Seearbeitsgesetzes und begleitender Gesetzesänderungen ansteht. Bereits der Titel des Gesamtvorhabens macht deutlich, dass unser Gesetzentwurf Teil eines
umfassenden Prozesses ist. Umgesetzt werden soll das
Seearbeitsübereinkommen 2006 der Internationalen
Arbeitsorganisation, ILO. Das Seearbeitsübereinkommen ist im Februar 2006 von den Vertretern der in der
Internationalen Arbeitsorganisation versammelten Staaten ohne Gegenstimme verabschiedet worden. Nachdem
die dafür erforderlichen Ratifikationen jetzt vorliegen,
wird das Seearbeitsübereinkommen am 20. August 2013
in Kraft treten.
Das Übereinkommen konsolidiert und aktualisiert
das internationale Seearbeitsrecht. Regelungen aus
35 Übereinkommen und 30 Empfehlungen der ILO werden in eine einheitliche Urkunde überführt. Umfassend
werden alle Aspekte der Arbeit und des Lebens an Bord
von Handelsschiffen geregelt. Die Anforderungen beziehen sich auf die Begründung der Beschäftigungsverhältnisse, ein Mindestmaß an arbeitsrechtlichem und sozialem Schutz und auf die Durchsetzung dieser Standards.
Abgebildet ist die ganze Breite des Arbeitens an Bord
von Seeschiffen. Vorsorge wird getroffen hinsichtlich der
Arbeitssicherheit, für eine ausreichende und angemessene Unterkunft und Verpflegung, aber auch für eine
gute medizinische Versorgung und soziale Absicherung.
Ich will einzelne Punkte hervorheben. Eine Neuerung
ist der verpflichtend vorgegebene Abschluss eines ausführlichen schriftlichen Heuervertrags. Die detaillierten
Anforderungen an den Vertragsinhalt stellen sicher, dass
das Besatzungsmitglied jederzeit seine wesentlichen
Rechte und Pflichten nachlesen kann. Ein Vertragsentwurf muss dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor
Vertragsschluss übermittelt werden. So werden für das
Besatzungsmitglied verbesserte Prüf- und Beratungsmöglichkeiten sichergestellt.
Ein weiterer Schwerpunkt von Übereinkommen und
Gesetzentwurf sind die Regelungen zur Erfüllung und
Durchsetzung der Mindestanforderungen zum Schutz
der Seeleute. Hier sind zwei Stichworte wichtig: Flaggenstaatkontrolle und Hafenstaatkontrolle. Sie wissen,
Handelsschiffe führen die Flagge eines bestimmten
Staates. Dieser Staat ist völkerrechtlich für schiffsrechtliche Regelungen einschließlich arbeitsrechtlicher
Regelungen verantwortlich. Das Seearbeitsübereinkommen gestaltet diese Regelungspflicht inhaltlich aus. Zugleich verpflichtet es den Flaggenstaat dazu, die
Regelung effektiv auf den Schiffen unter seiner Flagge
durchzusetzen. Hierzu wird der moderne Weg einer Zertifizierung beschritten. Ergebnis der Flaggenstaatkontrolle ist, dass für das Schiff ein Seearbeitszeugnis
einschließlich einer Seearbeitskonformitätserklärung
ausgestellt wird. Diese Dokumente sind eine Aufstellung
der nach dem jeweils einschlägigen nationalen Recht an
die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Schiff zu
stellenden Anforderungen und der vom Reeder zu ihrer
Erfüllung getroffenen Maßnahmen. Bestätigt wird, dass
das Schiff den arbeitsrechtlichen Anforderungen genügt.
Die Dokumente werden aktuell gehalten, indem in
bestimmten Intervallen Überprüfungen und nach fünf
Jahren eine Neuausstellung vorgegeben werden. Der
Gesetzentwurf überträgt diese Aufgaben für Schiffe unter deutscher Flagge der Berufsgenossenschaft für
Transport und Verkehrswirtschaft, die bereits eine
Dienststelle Schiffssicherheit unterhält.
Zu Protokoll gegebene Reden
Seearbeitszeugnis und Seearbeitskonformitätserklärung spielen eine wichtige Rolle für den zweiten Pfeiler
der Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens, die
Hafenstaatkontrolle. Das Seearbeitsübereinkommen
verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, ausländische
Schiffe in ihren Häfen auf die Einhaltung der Mindeststandards aus dem Übereinkommen zu überprüfen.
Dabei gilt die Kontrollpflicht gleichermaßen gegenüber
Schiffen von Staaten, die dem Seearbeitsübereinkommen
beigetreten sind, wie gegenüber Schiffen von Staaten, die
dies nicht getan haben. Bei den Kontrollen in ausländischen Häfen können Schiffe auf die von ihren nationalen
Behörden ausgestellten Seearbeitspapiere verweisen.
Die Dokumente erbringen dort einen Anscheinsbeweis
dafür, dass die Anforderungen aus dem Seearbeitsübereinkommen erfüllt sind. Hier wird deutlich, welche Bedeutung die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
Schiffe unter deutscher Flagge eingeführte Möglichkeit
hat, das Seearbeitszeugnis ausgestellt zu erhalten.
Schiffe unter deutscher Flagge werden dadurch gut und
sicher durch Kontrollen in ausländischen Häfen kommen. Kostspielige Verzögerungen bei der Kontrolle, Verlängerungen der Hafenliegezeit oder sogar eine Festhaltung seitens des Hafenstaates werden vermieden.
Meine Ausführungen habe ich bisher auf die das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation bedingten Neuerungen konzentriert. Darüber
will ich einen zweiten Schwerpunkt des Gesetzes nicht
unerwähnt lassen. Dieses Gesetz modernisiert grundlegend das deutsche Seearbeitsrecht und bereitet es auf
die Anforderungen der kommenden Jahrzehnte vor. Bisher ist die Materie im Wesentlichen durch das Seemannsgesetz aus dem Jahr 1957 geregelt. Seitdem haben sich aber die Verhältnisse verändert. Die
Handelsschifffahrt ist sehr viel internationaler geworden. Der Anteil an ausländischen Seeleuten aus Unionsländern, aber auch aus Drittstaaten, ist stark angestiegen. Es ist deshalb nicht mehr zeitgemäß und entspricht
nicht den Bestimmungen des Übereinkommens, wenn
etwa bei der Erkrankung eines Besatzungsmitglieds die
Zahlung des sogenannten Reederkrankengeldes nur
dann vorgeschrieben ist, wenn das Besatzungsmitglied
in Deutschland seinen Wohnsitz hat. Der zunehmend
internationalen Zusammensetzung der Besatzung widerspricht es auch, wenn bei der Gewährung von „Heimaturlaub“ als Urlaubsort ausschließlich auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes abgestellt wird.
Bedeutende Modernisierungen sollen auch in anderen Bereichen geschaffen werden. So fehlt es bisher bei
der Berufsausbildung an Bord von Seeschiffen an einer
klaren, einheitlichen und den praktischen Erfordernissen entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Die Praxis
behilft sich hier mit einer Teilregelung in der Schiffsmechaniker-Ausbildungsverordnung und einer analogen
Anwendung von Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes. Mit dem Gesetz wird nun erstmals die Berufsausbildung für einen Beruf an Bord von Seeschiffen auf eine
umfassende und angepasste gesetzliche Grundlage gestellt.
Schließlich trägt das Gesetz zur Entbürokratisierung
bei. Beispielsweise wird das Musterungsverfahren aufgegeben, das bisher vor der Einstellung von Besatzungsmitgliedern die Beteiligung der Seemannsämter erfordert. Auch Seefahrtsbücher, wie sie bisher den
Besatzungsmitgliedern von den Seemannsämtern ausgestellt werden, müssen nicht mehr geführt werden. Wirtschaftlich ist dies keine Kleinigkeit. Wir erwarten hier
Entlastungen für die Betroffenen von circa 800 000 Euro
allein an zu entrichtenden Gebühren.
Ein letzter Aspekt. Mit der Energiewende einher geht
der Ausbau von Windenergieanlagen auf See. In den
deutschen Küstengewässern und der deutschen Außenwirtschaftszone sind viele solcher Anlagen in Bau oder
in Planung. Dies wird zu stark ansteigenden Beschäftigtenzahlen in den genannten Seegebieten führen. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zur
rechtlichen Bewältigung dieser Entwicklung. Es wird
klargestellt, dass das Arbeitszeitgesetz auch in der deutschen Außenwirtschaftszone gilt. Rechtsverordnungen
werden vorbereitet, durch die an die besonderen
Verhältnisse der Offshoreindustrie angepasste Höchstarbeitszeiten geregelt werden sollen.
Ich hoffe, ich habe Interesse und Verständnis für diesen wichtigen Gesetzentwurf fördern können. Schließen
will ich mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungen. Die Bundesregierung strebt die Ratifizierung des
Seearbeitsübereinkommens an. Die Vorbereitung des
hierzu noch erforderlichen förmlichen Ratifikationsgesetzes steht vor dem Abschluss. Bitte wundern Sie sich
also nicht, wenn Sie bald erneut mit dem Seearbeitsübereinkommen befasst werden, dann unter dem
Gesichtspunkt der Ratifikation. Heute geht es um die
Umsetzung der Anforderungen aus dem Seearbeitsübereinkommen. Hier möchte ich Sie um zügige und zielgerichtete Beratung bitten, damit wir den dargestellten
Beitrag zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen an
Bord von Seeschiffen leisten können.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10959 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe
keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25 b. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9614, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9066 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit einem Rechenschaftsmechanismus fördern
- Drucksachen 17/8777, 17/10904 Vizepräsidentin Petra Pau
Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Rainer StinnerStefan LiebichKerstin Müller ({1})
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Die UN-Resolution 1325 wurde am 31. Oktober 2000
vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedet. Die
CDU/CSU-Fraktion steht genauso wie die Bundesregierung voll hinter dieser Resolution. In ihr wird die gleichberechtigte Einbindung von Frauen in politische Prozesse und Institutionen, bei der Planung, bei der
personellen Ausgestaltung von Friedensmissionen und
bei der Verhandlung von Friedensabkommen gefordert.
Es war Zeit, diese Resolution zu verabschieden und der
Rolle von Frauen in Konfliktsituationen Rechnung zu
tragen. Denn Zivilpersonen, und hier insbesondere
Frauen und Kinder, stellen die weitaus größte Mehrheit
der von bewaffneten Konflikten betroffenen Personen
dar. Die dramatischen Bilder aus Syrien zeigen dies gerade auch in jüngster Zeit wieder deutlich: Frauen und
Kinder machen nicht nur den Hauptanteil an Flüchtlingen und Binnenvertriebenen aus, sie werden auch in zunehmendem Maße von Kriegsparteien oder terroristischen Akteuren gezielt angegriffen. So galten bis 2010
circa 27,5 Millionen Menschen als binnenvertrieben.
Als Opfer von Verfolgung und Krieg haben sie meist weder rechtlichen noch physischen Schutz. Der für sie zuständige Staat gewährleistet ihnen oft keinen Schutz. Sie
müssen ihre Häuser verlassen und sind häufig Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, bevor sie ihren
Wohnort verlassen oder verlassen müssen. Und als
Flüchtlinge haben viele aus Furcht vor Verfolgung im eigenen Land ihre Heimat verlassen, weil sie einer bestimmten Ethnie angehören, eine andere Religion als die
Mehrheit ausüben oder eine andere politische Überzeugung vertreten. Teilweise werden sie verfolgt, misshandelt oder gefoltert. Und gerade Frauen und Mädchen
sind verstärkt Opfer von Vergewaltigung. Den Schutz ihres Landes können sie nicht in Anspruch nehmen und
verlassen es deshalb.
Während auf der einen Seite Frauen von Kriegen,
Bürgerkriegen und sonstigen bewaffneten Auseinandersetzungen überdurchschnittlich stark betroffen sind,
wird ihre Rolle bei der Verhütung und Beilegung von
Konflikten und bei der Friedenskonsolidierung nicht
ausreichend gewürdigt. Es ist auch nicht sichergestellt,
dass Frauen an allen Anstrengungen zur Wahrung und
Förderung von Frieden und Sicherheit gleichberechtigt
und in vollem Umfang teilhaben. Die Resolution 1325
vom Oktober 2000 führt nun aber dazu, dass die Rolle
von Frauen an den Entscheidungen im Hinblick auf die
Verhütung und Beilegung von Konflikten ausgebaut
wird. Sie garantiert, dass in allen Bereichen von Friedenssicherungseinsätzen eine Geschlechterperspektive
integriert wird. Die Resolution regt an, die Zahl der
Frauen in Entscheidungsfunktionen, bei Feldmissionen
der Vereinten Nationen, bei den Militärbeobachtern, der
Zivilpolizei sowie beim Menschenrechtspersonal und
beim humanitären Personal auszuweiten. Sie empfiehlt,
das gesamte Friedenssicherungspersonal im Hinblick
auf den Schutz, die besonderen Bedürfnisse und die
Menschenrechte von Frauen und Kindern in Konfliktsituationen speziell auszubilden und das Datenmaterial
zu den Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen
und Mädchen zu konsolidieren. Dies sind wichtige und
richtige Schritte, die die volle Unterstützung der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion haben.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Resolution
nicht Halt macht bei der Rolle von Frauen und Mädchen
im Konfliktfall, sondern auch dazu auffordert, deren besonderen Bedürfnisse bei der Normalisierung, der Wiedereingliederung und beim Wiederaufbau nach Konflikten Rechnung zu tragen. Hervorzuheben ist in diesem
Zusammenhang insbesondere die Aufforderung, mehr
Frauen zu Sonderbeauftragten und Sonderbotschafterinnen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu
benennen. Wir hoffen, dass in dieser Hinsicht möglichst
viele Mitgliedstaaten dieser Aufforderung nachkommen
und dem Generalsekretär geeignete Kandidatinnen vorschlagen. Wir halten dies für einen äußerst wichtigen
und wirksamen und vor allem symbolträchtigen Schritt.
Ich weise in diesem Zusammenhang auf so herausragende Persönlichkeiten hin wie Hina Jilani, die UNSonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger, oder
die UN-Sonderbotschafterin gegen Beschneidung, Waris
Dirie, die zudem seit Juli 2010 auch noch Friedensbotschafterin der Afrikanischen Union ist.
Hina Jilani, eine 1953 in Pakistan geborene Anwältin
und Menschenrechtsaktivistin, gründete 1980 gemeinsam mit ihrer Schwester Asma Pakistans erste Anwaltskanzlei für Frauenrechte und ist Mitbegründerin der
Kommission für Menschenrechte in Pakistan. Kofi
Annan berief sie einst zur Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für die Lage von
Menschenrechten. Waris Dirie, ein 1965 geborenes österreichisches Model somalischer Herkunft, Bestsellerautorin und Menschenrechtsaktivistin, machte sich im
Kampf gegen die Beschneidung von Frauen und Mädchen einen Namen. Sie entstammt einer Nomadenfamilie. Als sie im Alter von 13 Jahren an einen alten Mann
verheiratet werden sollte, floh sie durch die Wüste nach
Mogadischu. In ihrem Buch „Wüstenblume“ berichtete
sie über ihre Beschneidung und löste damit ein weltweites Medienecho aus.
Wir unterstützen die in der Resolution 1325 gemachte
Anregung, in den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Leitlinien für die Aus- und Fortbildung sowie Material über den Schutz, die Rechte und die besonderen Bedürfnisse von Frauen sowie über die Wichtigkeit der
Beteiligung von Frauen an allen Friedenssicherungsund Friedenskonsolidierungsmaßnahmen zur Verfügung
zu stellen. Dies ist eine wichtige präventive Maßnahme,
die hoffentlich dazu führt, die Sensibilität für die Situation von Frauen in Konfliktsituationen, für ihre spezifischen Probleme und Herausforderungen zu schärfen.
Man kann nur hoffen, dass sich daraus ein positiver Nebeneffekt ergibt und die angedachten Maßnahmen eine
Strahlkraft auf die gesamte Gesellschaft haben und sich
durch sie positive Auswirkungen auf den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Frauen und ihre gesellschaftliche Rolle ergeben. Die Resolution bringt mit der Forderung, Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes und
der Achtung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen, insbesondere im Zusammenhang mit der Verfassung, dem Wahlsystem, der Polizei und der rechtsprechenden Gewalt des jeweils betroffenen Landes zu
ergreifen, eine Kernforderung deutscher Außen- und
Menschenrechtspolitik zum Ausdruck, die ausdrücklich
die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion findet.
Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen, die
sich mit dem Thema Frauen in Konfliktsituationen beschäftigen, die Wirksamkeit der in der Resolution 1325
angeregten Maßnahmen möglicherweise mit einer gewissen Skepsis betrachten und bezweifeln, dass in den Konfliktherden dieser Welt auf die Stimme von Frauen gehört
und auf ihre Rechte eingegangen wird. Vor dieser Einstellung kann ich nur warnen. Ich teile sie nicht, denn sie entspricht meines Erachtens nicht den Realitäten. In einer
Reihe von Ländern, in denen es große soziale Spannungen, ethnische Konflikte oder kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat oder noch gibt, konnten Frauen
beachtlichen Einfluss erlangen und haben es sogar an die
Spitze von Staat und Regierung geschafft. Ich denke hier
an Indira Gandhi in Indien, an die Friedensnobelpreisträgerin Ellen Johnson-Sirleaf in Liberia, an Benazir
Bhutto in Pakistan oder an Chandrika Kumaratunga in
Sri Lanka, um nur einige Beispiele zu nennen. Indira
Gandhi ist ein Beweis für die Fähigkeit von Frauen zur
politischen Gestaltung. Ellen Johnson-Sirleaf, die erste
weibliche Präsidentin Afrikas, regiert das vom Bürgerkrieg ruinierte Liberia. Sie erhielt den Friedensnobelpreis. Mit Benazir Buttho stand zum ersten Mal eine
Frau an der Spitze eines modernen islamischen Staates.
Chandrika Kumaratunga, von 1994 bis 2005 Präsidentin Sri Lankas, schlug während ihrer Regierungszeit
einen verbindlichen Kurs ein gegenüber den Separatisten, um den Bürgerkrieg im Land zu beenden.
Sicherlich teilt nicht jeder die Positionen dieser oder
anderer Frauen an der Spitze von Staat, Regierung oder
internationaler Organisation, aber allein die Tatsache,
dass eine Frau in diesen häufig männlich geprägten Gesellschaften mit am Verhandlungstisch sitzt, ist ein Fortschritt und sollte anderen Frauen Mut machen, sich zu
engagieren und einzumischen.
Deutschland hat von Beginn an zu den Unterstützern
der Resolution 1325 gehört. Ausdruck unseres Bekenntnisses zu deren Inhalten ist Deutschlands Teilnahme an
der auf VN-Ebene von Kanada im Jahre 2001 initiierten
„Freundesgruppe der Resolution 1325“. Die nationale
Umsetzung erfolgt durch die jeweils beteiligten Ressorts, in deren Zusammenhang die Ressortarbeitsgruppe
„1325“ eingerichtet wurde. Seit 2004 berichtet die Bundesregierung dem Bundestag über die Umsetzung der
Resolution 1325. Die Europäische Union wendet die Resolution im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik an.
Die Frage ist nun, ob es darüber hinaus noch eines
weiteren nationalen Aktionsplans bedarf, der die Umsetzung der Resolution garantiert. In ihrem Antrag fordert
die SPD einen Evaluations- und Rechenschaftsmechanismus, wie es ihn in der Resolution 1612 zu Kindern in
bewaffneten Konflikten gibt. Bei der Rekrutierung von
Kindersoldaten, deren gezielter Tötung, Verstümmelung,
Vergewaltigung, Entführung und der Verneinung humanitären Zugangs sowie bei Angriffen auf Schulen und
Krankenhäuser handelt es sich um die Verletzung von
humanitärem Völkerrecht. Entsprechend kann dies auch
mit Sanktionen belegt werden. Die Resolution 1325 behandelt aber, grob dargestellt, vier Aspekte: Prävention
von Gewalt, angemessene Reaktion auf Gewalt, Entschädigung und Partizipation von Frauen in allen Phasen von Friedensprozessen.
Geahndet werden kann jedoch nur die Partizipation
von Frauen in allen Phasen von Friedensprozessen. Ein
nationaler Aktionsplan ist nach unserer Auffassung jedoch nicht erforderlich. Für Frauen nämlich gibt es
schon einen der Resolution 1612 vergleichbaren Mechanismus, und zwar in Form der im Jahre 2000 verabschiedeten Resolution 1960 bei sexueller Gewalt gegen
Frauen. Ein nationaler Aktionsplan würde somit gegenüber dem bestehenden deutschen Engagement für die
Umsetzung der Resolution 1325 keinen entscheidenden
Mehrwert bedeuten.
Aus diesem Grund stimmen wir dem Antrag nicht zu.
Mit der Verabschiedung der Resolution 1325
„Frauen, Frieden und Sicherheit“ und der Folgeresolutionen 1820, 1888 und 1889 trägt der Sicherheitsrat dem
Tatbestand Rechnung, dass Frauen und Kinder in kriegerischen Konflikten systematisch Opfer von Gewalt
werden, Frauen aber auch eine besondere Rolle als Akteurinnen in der Friedenspolitik einnehmen. In der Resolution wird dazu aufgefordert, dass Kriegsparteien die
Rechte von Frauen schützen, Frauen bei der Verwirklichung von Frieden und Sicherheit auf allen Ebenen verstärkt einbezogen und eine Gender-Perspektive verankert wird.
Mehr als zehn Jahre nach Verabschiedung der Resolution 1325 sind die Fakten immer noch ernüchternd:
30 Prozent des internationalen Personals in Peacekeeping-Missionen sind weiblich, davon aber nur
1,9 Prozent des militärischen Personals und 7,3 Prozent
der Polizeikräfte. Blickt man auf die Führungsebene,
finden sich noch weniger Frauen und auch ihre weltweite Beteiligung an Friedensverhandlungen ist mit
4 Prozent vernichtend gering. Daher greifen wir als
SPD-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Antrag
den Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
aus dem Jahre 2009 auf, einen Evaluations- und Rechenschaftsmechanismus für die Resolution 1325 einzurichten. Die Motivation für einen solchen Mechanismus
resultiert aus den Erfahrungen mit der Resolution 1612
zu Kindern in bewaffneten Konflikten. Mittels eines
„Monitoring and Reporting“-Mechanismus werden systematisch verlässliche Informationen zu Kindern in beZu Protokoll gegebene Reden
waffneten Konflikten gesammelt. Verletzungshandlungen wie die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern
als Soldaten werden dabei besonders berücksichtigt.
Durch das systematische Sammeln, Vergleichen und Publikmachen von Informationen kann Transparenz hergestellt und der Druck auf Nationalstaaten erhöht werden,
die Resolution des Sicherheitsrats entsprechend umzusetzen. Besonders wirksam hat sich dabei das Instrument des „Naming and Shaming“ in den Berichten des
Generalsekretärs erwiesen: Es werden jene Staaten in
den Berichten aufgelistet, die die Resolution 1612 nicht
adäquat umsetzen. Im Jahr 2010 befanden sich 57 Gruppierungen in 22 Ländern auf einer solchen Liste der
Schande. In letzter Konsequenz kann der Sicherheitsrat
Sanktionen gegen einen Staat beschließen.
Wir sind überzeugt, dass die Einführung eines Evaluations- und Rechenschaftsmechanismus vergleichbar
dem der Resolution 1612 zu Kindern in bewaffneten
Konflikten, der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und
Sicherheit ein besseres Umsetzungsergebnis verschaffen
würde. Ban Ki-moon hatte bereits 2005 gefordert, dass
Staaten nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Resolution 1325 vorlegen sollen. Jedoch sind bislang von
den 25 Ländern, die die Resolution ratifiziert haben, nur
15 dieser Aufforderung nachgekommen. Auch die Bundesregierung hat bislang nichts unternommen, einen
solchen Aktionsplan vorzulegen. Das ist besonders bitter, wenn man bedenkt, dass sie seit Anfang 2011 als
nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten
ist und so ihren Einfluss geltend machen könnte. Sie darf
sich da auch nicht hinter der EU verstecken, indem sie
sich darauf beruft, dass dort die Defizite bei der Umsetzung der Resolution ursächlich zu suchen sind. Vielleicht ist es Ihnen entfallen, aber auch die EU hatte die
Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, Aktionspläne vorzulegen.
Nach der ersten Beratung unseres Antrages im Deutschen Bundestag hatten wir uns darum bemüht, mit den
Parteien der Regierungskoalition einen gemeinsamen
Antrag zu formulieren. Danach entstand auch der Eindruck, dass es keine generellen Vorbehalte gegen einen
solchen Mechanismus gibt. Wie wir feststellen mussten,
scheut sich die Regierungskoalition jedoch, mehr Verbindlichkeit und Nachprüfbarkeit in der Frage Förderung und Gleichberechtigung von Frauen bei Friedenssicherung und Wiederaufbau einzugehen. Das spiegelt
in etwa auch das Regierungsgebaren im eigenen Land
wider. Der Widerstand gegen eine gesetzliche Quote für
Frauen in Aufsichtsräten ist ein Hemmschuh auf dem
Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.
Einer der Haupteinwände der CDU/CSU- und FDPVertreter gegen unseren Antrag ist, in Deutschland gebe
es keinen Handlungsbedarf in unserem Sinne. Unser
Einwand dagegen ist: Ein solcher Evaluierungsmechanismus wäre gerade unschätzbar für die Menschen in
den Ländern, in denen Frauen besonders häufig Opfer
von Gewalt werden und in denen sie durch einen Berichtsmechanismus gegenüber dem UN-Sicherheitsrat
solidarischen Schutz erhalten würden. Es ist zutiefst bedauerlich, dass die Parteien CDU/CSU und FDP diesen
solidarischen Schutz verweigern.
Trotz allem: Der Handlungsbedarf, die Vorgaben der
Resolution 1325 umzusetzen, besteht unverändert fort.
Wir sollten alle gemeinsam dazu beitragen, dass die Situation von Frauen in bewaffneten Konflikten, bei der
Herstellung und Sicherung von Frieden und beim Wiederaufbau verbessert wird. Besonders möchte ich daher
den Nichtregierungsorganisationen danken. Sie setzen
sich unermüdlich für eine bessere Berücksichtigung der
Resolution 1325 und einen nationalen Aktionsplan ein.
Ihnen gebührt unser ganz besonderer Dank. Gemeinsam
mit ihnen werde ich mich mit der SPD-Bundestagsfraktion auch weiterhin im Sinne der Resolution 1325 und
der Folgeresolutionen engagieren.
„Wenn wir über die Schaffung von Frieden sprechen
- was nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben für
uns im Bereich der internationalen Sicherheit ist -, wissen wir, dass etwas fehlt. Und das sind Frauen.“ Diese
wahren Worte stammen von Hillary Clinton. Sie hat
recht: Der internationalen Sicherheit kann man gar
keine größere Bedeutung zusprechen. Die Zahl der
Frauen aber, die in Friedens- oder Verhandlungsprozesse eingebunden sind und dort eine führende Rolle
übernehmen, liegt leider nicht in einem zufriedenstellenden Bereich, noch nicht. Bei der Analyse aller Handlungen, die in Deutschland für die Gleichberechtigung bereits veranlasst wurden, stellt sich dem Betrachter nicht
mehr die Frage, ob Frauen in Deutschland unterstützt
werden. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Deutschland
zusätzlich einen nationalen Aktionsplan benötigt. Einen
solchen nationalen Aktionsplan erarbeitet die Bundesregierung bereits. Dies ist nicht zuletzt auf die stetig
zunehmende Zahl von Staaten mit einem solchen Plan
zurückzuführen. Die Erwartungen seitens einiger unserer Partner werden immer nachdrücklicher. So zum Beispiel in der Ratsarbeitsgruppe Vereinte Nationen. Aber
auch die NATO und einige NATO-Partner haben eine
entsprechende Erwartung zuletzt deutlich vorgetragen.
Wir beobachten zufrieden, dass sich der Umgang der
Staaten mit der Resolution 1325 allmählich von allgemein-politischer Unterstützung zu operativer Umsetzung wandelt. Selbst die USA, die wir als Skeptiker der
Vereinten Nationen kennen, erstellen nun einen nationalen Aktionsplan. Diese Entscheidung ist daher für uns
ein Ereignis mit Referenzwert. Deutschland steht den
Vereinten Nationen sehr aufgeschlossen gegenüber.
Daher hat die Bundesregierung nicht gezögert, nun
ebenfalls mit einem nationalen Aktionsplan zu beginnen.
Somit ist die Kernforderung Nr. 2 des hier diskutierten
Antrags bereits erfüllt und wird dementsprechend unnötig. Ich persönlich bin der Meinung, dieser deutsche
Aktionsplan muss jetzt richtig gut werden, um zu zeigen,
dass Deutschland ihn braucht. Denn in Deutschland gibt
es bereits zwei Aktionspläne. Deren Wirkungen sollten
nicht unterschätzt werden. Noch 2007 nannte die damalige rot-grüne Regierung den Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention“ mit integriertem Genderansatz als
bestes Beispiel für Deutschlands Vorreiterrolle in der
zivilen Konfliktprävention. Dass dieser Aktionsplan
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht mehr reicht, seitdem Sie in der Opposition sind,
empfinde ich als scheinheilig.
Das Feministische Institut der Heinrich-Böll-Stiftung, lässt mit der Kritik, die vom Auswärtigen Amt
benannten Pläne und Projekte hätten gar nichts mit der
UN-Resolution 1325 zu tun, erkennen, worum es in
dieser Debatte tatsächlich geht. Es geht nicht darum,
besonders aktiv und effektiv für die Förderung der
Frauen einzutreten und diese in jeglichen Friedensprozessen zahlreicher in Erscheinung treten zu lassen. Es
geht einzig und allein um das Verfassen eines Plans.
Wie würde ein solcher Plan überhaupt aussehen?
Nach Berechnung durch die Vereinigung „Bündnis
1325“ wird ein Etat von 200 Millionen Euro benötigt.
Bei einer so schwerwiegenden finanziellen Belastung ist
es meiner Meinung nach notwendig, sich vorher zu
fragen, wie effektiv ein solcher Plan ist und wie gut dieses Geld Frauen hilft. Schauen wir uns die schon bestehenden Aktionspläne an, den bosnischen Plan beispielsweise, der vom Frauensicherheitsrat für seine GenderEquality-Gesetze gelobt wird. Liest der Betrachter ein
bisschen weiter, findet er die Aufforderung des Frauensicherheitsrats, diese tollen Gesetze doch auch bitte umzusetzen, was tatsächlich immer noch nicht der Fall ist.
Oder ist der Aktionsplan Großbritanniens effektiver?
Er besticht, so das Heinrich-Böll-Institut, durch
„schwammige Formulierungen“. Weiter erklärt das
Institut: „An einigen Stellen bleibt der Sinn der stichwortartigen Aneinanderreihungen von Punkten verborgen.“ Noch viel fragwürdiger wird der Aktionsplan
dadurch, dass er gar keine Mechanismen zur Evaluation
vorsieht. Einen solchen Aktionsplan wollen sie also erstellen? Für 200 Millionen Euro? Oder habe ich mir
vielleicht einfach die falschen Aktionspläne angeschaut? Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Linkspartei erklärten in der letzten Wahlperiode noch, man
sollte einen Aktionsplan wie in den skandinavischen
Ländern verfassen. Das ist insofern sehr interessant, da
auch der dänische Aktionsplan bereits gründlich durchleuchtet wurde. Nach Untersuchungen besteht der Plan
größtenteils aus Ankündigungen. Bereits bestehende
Projekte sollen weiter verfolgt werden. Kompetenzen
werden nicht verteilt, sodass gar nicht klar ist, wer den
Plan wie umsetzen soll. Der schwedische Aktionsplan
steht dem dänischen in keiner Weise nach. Zudem ist er
zeitlich begrenzt. Auch der Punkt der Finanzierung
bleibt gänzlich unerwähnt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der hier gestellten Forderung nach einem Aktionsplan geht das
Auswärtige Amt bereits nach. Ich möchte mich aber in
aller Entschiedenheit dafür aussprechen, dass ein solcher Plan nicht - wie von der Opposition gewünscht nur nach der Öffentlichkeitswirksamkeit gestaltet wird.
Die Effektivität des Plans muss im Mittelpunkt stehen.
Ich habe hier grundsätzlich das Gefühl, dass der Antragsteller die Aktionen und Vorgehensweisen der Bundesregierung nicht ausreichend verfolgt. Ansonsten
wäre Folgendes aufgefallen: Die erste Forderung nach
verstärkter Wahrnehmung der Schlüsselrolle von
Frauen in Konflikten und nach Unterstützung der
Vereinten Nationen bei der Umsetzung der Resolution
1325 ist hinfällig. Ihr wird schon seit vielen Jahren
nachgegangen. Die Bundesregierung berücksichtigt die
besondere Rolle von Frauen in Fragen der Sicherheitspolitik bereits. Genauso verhält es sich mit einem nationalen Aktionsplan.
Bezüglich der Forderung nach der Einbringung eines
Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat, der einen
Rechenschaftsmechanismus fordern soll, erwarte ich ein
bisschen mehr außenpolitisches Feingefühl. So etwas
würden wir zunächst mit unseren internationalen Partnern abstimmen. Daher lehnt die FDP den hier vorliegenden Antrag ab.
Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung nächste
Woche endlich den von den Oppositionsfraktionen in
insgesamt fünf Anträgen in dieser Legislatur geforderten nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325,
präsentieren wird. Wir freuen uns, weil dieser Nationale
Aktionsplan längst überfällig gewesen ist. Vor zwölf
Jahren wurde die UN-Resolution 1325 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedet. Seitdem hat
sich die Bundesregierung im Gegensatz zu vielen anderen europäischen und außereuropäischen Staaten vor allem dagegen gewehrt, den in der Resolution geforderten
Aktionsplan zu verabschieden. Diesen braucht es aber,
wenn man bei den zahlreichen außen- und entwicklungspolitischen Aktivitäten Deutschlands endlich für mehr
Geschlechtergerechtigkeit sorgen möchte. Als ich im
Sommer dieses Jahres in Washington mit der Direktorin
der Organisation Women In International Security,
Jolynn Shoemaker, darüber sprach, war die Enttäuschung über die deutsche Zögerlichkeit sehr groß. Aber
besser spät als nie: Die Regierung folgt nun endlich den
Vorschlägen der Opposition. Aber wir sind auch befremdet, weil nun doch ganz plötzlich ein Aktionsplan aus
der Taufe gehoben wird, aber so ganz anders, als sich
das die zahlreichen Institutionen der Zivilgesellschaft,
die sich seit Jahren für die Umsetzung von 1325 einsetzen, fordern. Denn er wird heimlich erstellt, ohne ihre
Einbeziehung, ohne ihre Expertise und Erfahrung. Und
wir sind befremdet, weil wir seit Wochen im Parlament
den Haushalt diskutieren und in keinem der Einzelpläne
ein noch so kleines Budget für 1325 zu finden ist. Wie
soll etwas stattfinden, wenn es nicht auch auf finanzielle
Füße gestellt wird?
Und wir, insbesondere als Linke, sind besorgt, besorgt, weil wir fürchten, dass der Inhalt dieses Aktionsplans wohl eher nicht dem entspricht, was wir uns im
Umgang mit der Resolution 1325 wünschen. Wir möchten, dass die UN-Resolution als ein völkerrechtlich legitimiertes Instrument genutzt wird, um Frieden zu schaffen, um Konflikte zu vermeiden und Frauen und
Mädchen zu schützen. Dieses Schützen, so glauben wir,
kann und darf nicht militärisch passieren.
Die Resolution 1325 bietet leider das Potenzial missbraucht zu werden für etwas, das unserem Ziel von einer
friedlicheren Welt, in der Konflikte nicht mehr durch
Kriege gelöst werden, entgegensteht, indem die
Zu Protokoll gegebene Reden
schlechte Situation von Frauen genutzt wird, um Kriege
zu legitimieren. Das haben wir jetzt schon mehrmals gehabt, mit schrecklichem Ausgang: In wohl kaum einer
Region der Welt geht es Frauen so schlecht wie in
Afghanistan, dem Land, in das die meisten Hilfsleistungen weltweit fließen und wo die Bundeswehr seit fast
zwölf Jahren Krieg führt. Afghanistan hat gezeigt, dass
das Projekt zivil-militärischer Zusammenarbeit gescheitert ist. Aber auch die Folgen der Austeritätsprogramme
treffen Frauen besonders. Es gibt Berichte aus Griechenland, dass Frauen Krankenhäuser mit 1 000 Euro
bestechen müssen, um dort ihr Kind zur Welt bringen zu
dürfen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit den
wichtigen Frauenorganisationen, die zu 1325 arbeiten,
zusammensetzen und sehen, wie ein nationaler Aktionsplan aussehen kann. Wie echtes Engagement für ein
Ziel, das wir, glaube ich, hier im Kern ja alle teilen,
mehr Geschlechtergerechtigkeit hier, in Europa, in der
ganzen Welt, gestaltet werden muss.
Der hier vorliegende Antrag der SPD leistet zu dieser
Diskussion durchaus einen Beitrag. Klar ist ein Rechenschaftsmechanismus wichtig. Wir werden uns bei der
Abstimmung aber enthalten, weil wir doch finden, dass
man in einem Parlamentsantrag weitergehen muss und
dass wir mit unserem gemeinsamen rot-rot-grünen
Antrag zur Forderung eines nationalen Aktionsplans zu
1325 auch schon mal weiter waren.
Und es kann auch nicht verschwiegen werden, dass
wir Oppositionsfraktionen unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, wie 1325 umgesetzt werden soll.
Für uns ist die Resolution kein Instrument, dafür zu sorgen, dass mehr Frauen als Soldatinnen in Kriege ziehen.
Wir wollen es stattdessen als ein Instrument, das mit den
drei P - Partizipation, Prävention und Protektion Frieden möglich macht. Dennoch sind wir uns über die
Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans in der
Opposition einig. Und nun endlich folgt die Regierung
dem auch.
Wichtiger jedoch als jeder Aktionsplan dieser Welt ist
politischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie jetzt endlich Frauen mit an die Tische bei
Friedensverhandlungen holt und Sicherheit für Menschen beiden Geschlechts in all den vielen Kriegs- und
Krisenregionen dieser Welt schafft. Soziale Sicherheit
und Sicherheit vor Krieg und Zerstörung, nur dann kann
auch ein Aktionsplan für die 1325 etwas nutzen.
Malala Yousufzai hat einen hohen Preis für ihren Mut
gezahlt - religiöse Fanatiker in Pakistan schossen Anfang Oktober auf die 14-Jährige auf ihrem Weg zur
Schule. Offen und mutig war sie seit Jahren im konfliktträchtigen Swat-Tal für das Recht von Mädchen auf
Schulbildung eingetreten; jetzt liegt sie schwerverletzt
im Krankenhaus. Erneut wurde ihr durch die Taliban der
Tod angedroht. Ich schicke ihr von hier aus unsere Solidarität und die besten Genesungswünsche.
Malalas Schicksal ist ein Beispiel von vielen dafür,
welchen Gefahren Mädchen und Frauen in Kriegs- und
Konfliktgebieten ausgesetzt sind.
Diese Einsicht führte im Jahr 2000 mit dazu, dass die
UN-Resolution 1325 unterzeichnet wurde, um die
Schlüsselrolle von Frauen bei gewalttätigen Konflikten
und beim Friedensaufbau zu unterstützen. Das war
wichtig. Aber hat sich danach viel bewegt? Die Mitgliedstaaten waren aufgefordert, einen Aktionsplan vorzulegen - Rot-Rot-Grün legten 2011 einen Antrag dazu
vor, der abgelehnt wurde. Dem SPD-Antrag mit dem
Versuch, einen Rechenschaftsmechanismus zu implementieren, droht jetzt ein ähnliches Schicksal durch die
Koalition von CDU/CSU und FDP.
Was meinte unser Kollege Jürgen Klimke bei der ersten Beratung am 10. Mai so schön? Dass doch die Kollegen von SPD und Grünen - Zitat - „aus lauter Profilierungssucht in UN-Fragen wieder einmal über das
Ziel hinausgeschossen“ seien! Weder sei eine Rechenschaftspflicht durch die Staaten notwendig noch ein Aktionsplan, weil diese - Zitat - „bis auf das politische
Zeichen keinen entscheidenden Mehrwert erzeugen“
würden.
Mit Verlaub, lieber Jürgen Klimke, da haben Sie sich
ganz schön vergaloppiert! Denn wenn ich mich nicht
täusche, dann arbeitet man jetzt gerade daran, einen
solchen Aktionsplan auf den Weg zu bringen. Wenn das
stimmt, dann müsste die schwarz-gelbe Koalition hier
und heute ihre Zustimmung zu diesem Antrag geben und
vor allem sich bei der Opposition dafür bedanken, dass
diese so hartnäckig das Thema Aktionsplan und Rechenschaftsmechanismus für die Resolution 1325 vorantreibt.
Wir Grünen finden es ausgesprochen wichtig, dass
auf der UN-Ebene mehr für Frauen getan wird. Auch
deshalb hatten wir diese Woche im Entwicklungsausschuss bei den Haushaltsberatungen für UN-Women
14 Millionen Euro mehr gefordert, was CDU und FDP
abgelehnt haben.
Die Gründe unseres Engagements für einen Aktionsplan führe ich Ihnen gerne noch mal auf - denn die ungeheuerliche Gewalt, die vor allem Frauen und Mädchen in Konflikten erleben, muss viel intensiver als
bisher bekämpft werden. Frauen sind konfrontiert mit
Ausbeutung, Unterdrückung, sexueller Kriegsgewalt bis
hin zu Massen- und Mehrfachvergewaltigungen, sexueller Sklaverei und Zwangsprostitution.
Vor diesem Hintergrund ist es unfassbar, dass Frauen
in Friedensverhandlungen kaum gehört und nicht eingebunden werden. Für Frauen gehen die Probleme im
Post-Konflikt-Kontext weiter: Gewalt und Traumatisierungen, vermehrte häusliche und öffentliche Gewalt
sind an der Tagesordnung. Schon daran merkt man, dass
der Weg zum Frieden nur über die Unterstützung der
Frauen und die Befriedung ihrer Situation führen kann.
Sonst bleibt es bei den Ursachen, die leicht zu erneutem
Ausbruch von gewalttätigen Konflikten führen können.
Mit der Resolution 1325 wurden zentrale Forderungen der Geschlechtergerechtigkeit völkerrechtlich verbindlich verankert. Die drei Schlagworte dafür heißen:
Prävention, Partizipation, Protektion. Dies war der Auftakt für die Verankerung von Gender-Aspekten in Friedensprozessen. Auf der Resolution 1325 aufbauend sind
weitere Resolutionen verabschiedet worden, zum BeiZu Protokoll gegebene Reden
spiel 2008 die UN-Resolution 1820 - sexuelle Gewalt
als Kriegsverbrechen und Gefahr für Frieden und
Sicherheit - oder 2009 die UN-Resolution 1888 - Präzisierung bisheriger Forderungen, Sonderberichterstatter
und Sanktionsmöglichkeiten - sowie die UN-Resolution
1889: Rolle von Frauen in friedensstabilisierenden
Maßnahmen in Post-Konflikt-Situationen aus dem Jahre
2009.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarzgelben Koalition, wollen Sie weiterhin dafür sorgen,
dass diese wichtige Rolle der Resolution 1325 durch
deutsche Drückebergerei vor einem Aktionsplan abgeschwächt wird?
Besser wäre es, Sie stimmten heute zu und unterstützten das Anliegen; denn wenn der Aktionsplan jetzt doch
käme, dann hätten Sie sich eine Verteidigung Ihrer lahmen Argumentation sparen können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10904, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8777 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, zur Änderung der
Verordnung zur Begrenzung der Emissionen
flüchtiger organischer Verbindungen beim
Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen,
Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie
zur Änderung der Verordnung zur Begrenzung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker,
Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung senken - Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung
- Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3,
17/9555, 17/11060 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulUte VogtDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea Steiner
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat in seiner Beschlussempfehlung den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9555 mit dem
Titel „Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung
senken - Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung
und Abfallmitverbrennung“ mit einbezogen. Über diese
Vorlage soll jetzt abschließend beraten werden. Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Umsetzung der Richtlinie für Industrieemissionen ({0}) in deutsches Recht ist eines der umfangreichsten
Gesetzgebungsvorhaben im Umweltrecht in dieser
Legislaturperiode. Die Richtlinie 2010/75/EU stellt das
zentrale europäische Regelwerk für die Zulassung und
den Betrieb von Industrieanlagen und damit für die Luftreinhaltung dar. Der Wirtschaftsstandort Deutschland
ist davon in besonderer Weise betroffen, schließlich
stehen von den europaweit durch die Richtlinie erfassten
circa 52 000 Anlagen rund 9 000 Anlagen in Deutschland. Es handelt sich zum Beispiel um Anlagen zur Energieerzeugung, Stahlwerke, Anlagen zum Gießen und
Walzen von Metallen, die Automobilindustrie, industrielle Chemieanlagen, Mineralölraffinerien und andere
mehr.
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben wir in
Deutschland ein im internationalen Vergleich sehr
hohes Umweltschutzniveau erreicht. Um dieses hohe
Umweltschutzniveau sicherzustellen, haben wir ein umfangreiches Regelungswerk, das der Zulassung und dem
Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen zugrunde zu
legen ist: das Bundes-Immissionsschutzgesetz ({1}) und die dazugehörigen Rechtsverordnungen. In
diesen Regelwerken sind zum Beispiel die technischen
Anforderungen an eine Anlage definiert und spezifische
Emissionsgrenzwerte vorgeschrieben. Auch wird die
Durchführung von Emissionsmessungen verlangt und
werden entsprechende Abnahmen und regelmäßige
Überprüfungen auferlegt.
Die europäische Industrieemissionsrichtlinie fußt
- wie auch bereits die Vorgängerrichtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, IVU-Richtlinie - auf einem Konzept,
welches die Verminderung und Vermeidung von Verschmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie
die Erreichung einer hohen Energieeffizienz integriert
betrachtet. Die IED legt dabei neue, engere Ziele zur
Verbesserung der Luftqualität und der Emissionsstandards auf EU-Ebene fest. Diese äußern sich insbesondere in strengeren Genehmigungs- und Grenzwertanforderungen, der Aufwertung der Merkblätter zur
bestverfügbaren Technologie, BVT, sowie in erweiterten
Berichts- und Überwachungspflichten für Betreiber und
Behörden. Die Umsetzung der IED in nationales Recht
muss bis 7. Januar 2013 erfolgen.
Sowohl aus Umweltsicht als auch aus Sicht des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist es positiv zu bewerten,
dass die Verbindlichkeit der besten verfügbaren Technik,
BVT, mittels der BVT-Merkblätter in Europa zunehmend
vereinheitlicht wird. Dass dadurch europaweit ein insgesamt höherer Umweltschutzniveau gewährleistet wird,
kann aus Sicht der Umwelt nur begrüßt werden. Einheitliche Rahmenbedingungen innerhalb der EU stärken
aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, da dann gleiche „Spielregeln“ für alle europäischen Anlagen gelten.
Die Umsetzung eines Teils der IED beraten wir heute:
die Zweite Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, die sich insbesondere mit den
Großfeuerungsanlagen ({2}) und mit der
Abfallverbrennung und -mitverbrennung ({3})
befasst. Ein anderer Teil der Umsetzung wird uns in wenigen Tagen hier beschäftigen, dabei geht es insbesondere um Änderungen des BImSchG. Ein dritter Teil
schließlich liegt zur Beratung und Beschlussfassung
dem Bundesrat vor. Es handelt sich also um ein Regelungspaket, das vielfältige Auswirkungen auf diese
Industrien hat.
Dabei ist die Änderung der Großfeuerungsanlagenverordnung im Kontext der Energiewende zu sehen.
Auch wenn wir im Jahr 2020 unsere Stromversorgung zu
40 Prozent aus erneuerbaren Energien decken, heißt das
im Umkehrschluss, dass 60 Prozent der Stromerzeugung
dann noch immer aus konventionellen Kraftwerken
stammen. Bestehende Anlagen werden weiterbetrieben
werden. Für diese bestehenden Anlagen wie auch für
neue Anlagen gilt es, einen gesetzlichen Rahmen zu
schaffen, der auf der einen Seite das hohe, nationale
Umweltschutzniveau erhält, auf der anderen Seite die
Möglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus fossilen
Energien nicht erdrosselt.
Dies ist auch die Grundlage, auf der wir die IED ins
deutsche Recht umsetzen: Die Grenzwerte und Vorgaben
aus der IED werden überall dort, wo sie strengere Maßnahmen verlangen, eins zu eins in das nationale Recht
übernommen. War der erreichte Umweltstandard in
Deutschland bereits höher, so wurde von diesem höheren
Standard nicht abgewichen. Es gibt also keine Reduzierung der nationalen Umweltstandards.
Allerdings gab es auch einige Punkte, an denen weitergehende Maßnahmen über die IED hinaus und auch
über den bisherigen nationalen Standard hinaus diskutiert wurden. Hier sind insbesondere die Grenzwerte für
Staub und Sickstoffoxide zu nennen. Gerade bei Staub
und Stickoxiden können mancherorts in Deutschland die
Umweltqualitätsnormen nicht eingehalten werden. Mit
Blick auf Staub gibt es in manchen Umweltzonen zu viele
Tage, an denen die Grenzwerte überschritten werden,
und bei den Stickoxiden können zum Teil die Immissionsjahresgrenzwerte nicht eingehalten werden. Ursache für
diese Grenzwertüberschreitungen sind in nahezu
gleichen Anteilen der Verkehr, die Heizungsanlagen der
privaten Haushalte sowie die Industrie. Bei den industriellen Anlagen haben die Großfeuerungsanlagen und
die Müllverbrennungs- und -mitverbrennungsanlagen
einen erheblichen Anteil. Deshalb wurde im Rahmen der
Umsetzung der IED in der 13. und 17. BImSchV für
diese Anlagen nationale Verschärfungen in Bezug auf
Staub- und Stickoxide aufgenommen, die sich an der
Leistungsfähigkeit der Anlagen orientieren.
Auch im Hinblick auf Quecksilber haben wir einen
neuen Emissionsgrenzwert eingeführt, der so nicht in
der IED vorgesehen ist. Aufgrund der toxischen Eigenschaften dieses Schwermetalls halten wir Maßnahmen
zur gezielten Emissionsminderung bei den Verbrennungsanlagen für geboten. Der neue im Jahresmittelwert einzuhaltende Emissionswert für Quecksilber ist
anspruchsvoll. Bei den Anlagen werden hierfür Nachrüstungen und zum Teil erhebliche Anpassungsmaßnahmen erforderlich. Es stellt sich die Frage, ob wir anspruchsvoll genug sind. Die jetzt eingeführte Regelung
ist als wichtiger Zwischenschritt zu sehen im Rahmen einer umfassenden Quecksilberminderungsstrategie.
Zusammenfassend möchte ich folgendes Fazit ziehen:
Die Vorgaben der Richtlinie über Industrieemissionen
heben die Anforderungen an den Betrieb von Großfeuerungsanlagen und Abfallverbrennungsanlagen europaweit auf ein hohes Niveau. Um die vorgeschriebenen
Grenzwerte einhalten zu können, müssen die betroffenen
Unternehmen meist erhebliche Maßnahmen ergreifen.
An einigen wichtigen Stellen legen wir die Messlatte
noch höher als in der europäischen Gesamtschau. Doch
dies halte ich vor dem Hintergrund der Vorsorge für notwendig und gegenüber der Wirtschaft für vertretbar.
Diese EU-Richtlinie ist wie eine Medaille. Sie ist von
zwei Seiten zu betrachten: Die eine ist die Umweltpolitik, die andere die Industriepolitik. Unsere Aufgabe ist
es, hier einen ausgewogenen Ausgleich zu erzielen.
Gerade wenn wir die Energiewende vernünftig gestalten wollen - und das heißt, die Kontinuität bei der
Stromerzeugung zu bezahlbaren Preisen zu sichern -,
müssen wir auch die Nutzung bestehender Anlagen und
den notwendigen Neubau von modernen Kraftwerken im
Auge behalten. Bestandskraftwerke stehen für einen entscheidenden Teil der Energiesicherheit gerade. Sie sind
zur Netzstabilisierung und Grundlastversorgung neben
den erneuerbaren Energien noch immer unverzichtbar.
Wie oft bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht gibt es Stimmen, die für uns in Deutschland gleich „noch eins draufsetzen möchten“ und weitere Verschärfungen - schärfere Grenzwerte - fordern.
Hiervor kann ich nur warnen. Deutsche Alleingänge
sind umweltpolitisch nur ein Tropfen auf den heißen
Stein, für die Wirtschaft und Verbraucher aber verheerend.
Bei der IED-Richtlinie - lndustrieemissionsrichtlinie gibt es vor allem zwei Punkte, bei denen ich Nachbesserungsbedarf sehe:
Zum Ersten geht es um die Grenzwerte für Gaskraftwerke. Gerade wegen der zunehmenden fluktuierenden
Einspeisung erneuerbarer Energien müssen die Kraftwerke in Zukunft flexibler gefahren werden. An- und
Zu Protokoll gegebene Reden
Abfahrvorgänge werden zunehmen, und dies ist ja auch
gewollt. Deshalb halte ich es für falsch, wenn bei den
Messungen - wie jetzt geplant - auch die An- und Abfahrvorgänge mit berücksichtigt werden sollen. Dies ist
eine Verschärfung, die über die IED-RL hinausgeht.
Also, das An- und Abfahren der Kraftwerke sollte herausgenommen werden, dieser Passus ersatzlos entfallen.
Zum Zweiten geht es um die Staubemissionswerte für
Altanlagen: Ab 2019 soll auch für Bestands- und Altanlagen nach § 11 Abs. 1 ein Staubjahresmittelgrenzwert
von 10 Milligramm pro Normkubikmeter gelten. Diese
Regel würde dazu führen, dass eine Reihe von alten
Kraftwerken vom Netz genommen werden müssten. Das
würde genau in die Zeit fallen, wo die letzten Kernkraftwerke vom Netz gehen. Mit Blick auf die Netzstabilität
könnte dies negative Folgen haben. Die Einhaltung von
schärferen Jahresmittelwerten für bestehende Anlagen
würde zu entsprechenden Nachrüstungen und Kosten
führen und am Ende weiter die Verbraucher zusätzlich
belasten. Ich plädiere dafür, hier eine Verschiebung des
Datums zu prüfen.
Insgesamt rege ich an, diese beiden Punkte nochmals
aufzugreifen und entsprechende Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen.
Zum Schluss: Ich sage: Wir müssen die Energiewende
sorgfältig, Schritt für Schritt und mit Augenmaß vornehmen. Resultat einer nationalen Verschärfung der Emissionsgrenzwerte bei den Kraftwerken nur bei uns in
Deutschland wären geringere Versorgungssicherheit
und mehr Stromimporte aus ausländischen Anlagen. Da
ausländische Anlagen lediglich die niedrigeren Vorschriften der EU-Richtlinie erfüllen müssen, hätte dies
unmittelbare Wettbewerbsnachteile für deutsche Kraftwerksbetreiber. Zudem würden Finanzmittel für aufwendige Nachrüstmaßnahmen nicht für Investitionen in die
Energiewende zur Verfügung stehen - man kann jeden
Euro nur einmal ausgeben.
Die Energiewirtschaft wird durch die laufende Kraftwerkserneuerung zukünftig ohnehin weniger Luftschadstoffe emittieren. Zusätzlich wird die wachsende Nutzung von erneuerbaren Energien dazu führen, dass
sämtliche Emissionen aus fossilen Kraftwerken zurückgehen werden, weil sie schlicht weniger eingesetzt werden.
Gerade in den nächsten Jahren sollte darauf verzichtet werden, zusätzliche Kraftwerkskapazitäten „aus dem
Markt zu regulieren". Dies unterstreicht auch der
Bericht der Bundesnetzagentur vom Mai 2012, in dem
explizit empfohlen wird, keine weiteren Kraftwerke stillzulegen.
Richtig ist, europäische Gemeinsamkeit zu praktizieren und mit allen politischen Möglichkeiten auch weltweit Verbesserungen einzufordern. Nur so können Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil Deutschlands
vermieden werden.
Soll die Stromversorgung sicher und vor allem noch
bezahlbar bleiben, müssen wir auch an den erforderlichen Neubau modernster Kraftwerke denken. Unsere
Wirtschaft, unser Wohlstand und unser Sozialstaat hängen vom Strom ab. Wir brauchen realistische Rahmenbedingungen. Sonst wird es keine Investoren geben.
Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, für eine verlässliche und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen,
die uns aber nicht die Basis unseres Sozialstaates
- Wirtschaft und Arbeitsplätze - unter unseren Füßen
wegzieht.
Ich will mal mit dem Erfreulichen beginnen: Die Bundesregierung scheint es mit dieser Vorlage zur Richtlinie
über Industrieemissionen, der sogenannten IED-Richtlinie, immerhin einmal zu schaffen, die EU-Vorgaben innerhalb der vorgegebenen Frist zum 6. Januar 2013
in nationales Recht umzusetzen. Die IED ist eine der
wichtigsten Richtlinien zur immissionsschutzrechtlichen
Regelung der Genehmigung und Überwachung von Industrieanlagen und der Sachverständigenrat der Bundesregierung in Umweltfragen nennt sie zu Recht das
„Grundgesetz des Anlagenlagenrechts“. Sie regelt die
integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung von Luft, Wasser und Boden durch industrielle Anlagen und bildet damit tatsächlich eine umfassende Grundlage, um die Industrie europaweit weiter an
umweltverträgliches Wirtschaften heranzuführen bzw.
dafür zu verpflichten.
Bereits die Vorgängerrichtlinie, Richtlinie zur integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, IVU, hatte die Harmonisierung des
Umweltschutzniveaus und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen in der EU zum Ziel. In der Praxis
wurde dieses Ziel bisher jedoch nicht erreicht. Gescheitert ist es bislang vor allem an der mangelnden Verbindlichkeit der dort festgelegten Vorgaben.
Die IED sorgt nun für eine solche Verbindlichkeit und dies in allen Ländern der EU. Genehmigungsfähig
ist demnach nur noch die Technologie, die dem der
Stand der Technik entspricht, eine Praxis, die wir aus
Deutschland bereits über die BVT-Merkblätter kennen,
BVT heißt „beste verfügbare Technik“.
Durch einzelne Rechtsetzungen wie zum Beispiel die
Vorgaben aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem
Wasserhaushaltsgesetz oder auch der TA Luft sind in
Deutschland in vielen Bereichen bereits Grenzwerte
umgesetzt, die ein hohes Umwelt- und Gesundheitsschutzniveau schaffen. Dies hat auch bewirkt, dass der
deutsche Anlagenbau eine gute Positionierung bei der
Produktion umweltverträglicher Industrieanlagen erreicht
hat und sich gegenüber europäischen Mitbewerbern einen Wettbewerbsvorsprung verschaffen konnte. Wenn
nun der Betrieb von Anlagen europaweit unter gleiche
Standards gestellt wird, ist dies zum einen eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen, birgt zum anderen
aber auch die Chance von neuen Absatzmärkten für umweltverträgliche Technologien. Deshalb begrüßen wir
die grundsätzliche Konzeption zur Umsetzung der IED.
Allerdings bleibt die Bundesregierung mit ihrem Verordnungsentwurf hinter den notwendigen Regelungen
Zu Protokoll gegebene Reden
zurück. Denn so erfreulich die europaweiten Verbesserungen zu bewerten sind, in Deutschland selbst wird
sich an der faktischen Lage leider rein gar nichts verändern. Nun kann man sich zurücklehnen und sagen, dies
liegt daran, dass Deutschland bisher bereits strenge
Grenzwerte festgelegt hatte, und die anderen ziehen
eben nun nach. Aber das ist doch eine mehr als defensive
Haltung.
Auch unsere Anhörung vergangenen Montag hat bestätigt, dass die Vorgaben für die deutsche Industrie alles andere als hart sind. Die Bundesregierung sollte die
Chance ergreifen, unsere Vorreiterrolle zu sichern und
auszubauen. Denn auch künftig überleben am Markt die
Unternehmen, die am effizientesten und fortschrittlichsten sind. Deshalb brauchen wir - wie bisher - ambitioniertere Ziele, zumindest zur Reduzierung der Quecksilberbelastung und auch bei den Feinstaubwerten. Denn
machen wir uns nichts vor: Freiwilligkeit führt leider in
den seltensten Fällen zu Verbesserungen. Besonders
schwer wiegt ihre Unterlassung in Sachen Quecksilberverschmutzung. Selbst in den USA, die bisher nicht dafür bekannt sind, die schärfsten Umweltgesetze zu haben, ist man uns weit voraus. Ab dem Jahr 2016 darf
dort kein bestehendes Kraftwerk im Monatsdurchschnitt
mehr als 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Quecksilber
emittieren. Für Neuanlagen ist sogar ein noch weit
schärferer Wert, 0,35 Mikrogramm pro Kubikmeter bei
5 Volumenprozent O2, vorgeschlagen. Man muss sich
das auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben in
Deutschland bisher nach bester verfügbarer Technik
keine Anlage, die über 20 Mikrogramm pro Kubikmeter
Quecksilber emittiert, nach Umsetzung der IED sollen
nun jedoch 30 Mikrogramm pro Kubikmeter erlaubt
sein. Und in den USA ist gleichzeitig die Reduzierung
auf ein Zehntel vorgesehen. Dies folgt keiner Logik und
schon gar nicht der Vorgabe, die beste verfügbare Technik einzusetzen. Da überzeugt auch der Bezug auf die
Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Vorgaben
nicht. Es verbietet uns schließlich niemand, mindestens
unsere bisherigen Standards zu halten. Im Gegenteil:
Die Richtlinie lässt dies sogar ausdrücklich zu. Und bei
uns in Deutschland existiert die dafür notwendige Technik bereits und wird genutzt, um die Emissionen von
Quecksilber auf sogar unter 1 Mikrogramm pro Kubikmeter zu senken. Das Umweltbundesamt, UBA, schlägt
deshalb vor, den deutschen Grenzwert auf zunächst
3 Mikrogramm zu senken. Und sie sollten dieser Empfehlung im Interesse der Gesundheit, der Umwelt, aber
auch der Standortsicherung folgen.
Ebenso wenig ambitioniert ist der Umgang mit dem
Thema Feinstaub. Wir sind bereits heute technisch in
der Lage, weit niedrigere Grenzwerte für Feinstaub einzuhalten. Und wir sind es den Menschen in Deutschland
auch schuldig - denn Feinstaub ist der Hauptverursacher von Luftverschmutzung. Die gesundheitlichen
Folgen sind immens - und auch die damit verbundenen
Kosten für unser Gesundheitssystem. Vor allem Kinder
leiden an den Auswirkungen und gesundheitlichen Folgeschäden. Die Verordnung hätte auch hier genutzt
werden müssen, eine Verbesserung herbeizuführen. Das
haben Sie bisher nicht getan. Nutzen Sie die verbleibende Zeit, unsere Änderungsvorschläge zu prüfen und
in das Gesetz einfließen zu lassen.
Mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf der Bundesregierung wird ein wichtiger Teil der europäischen Industrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt.
Durch die Richtlinie über Industrieemissionen - kurz:
IED - wird die bisherige Richtlinie über die integrierte
Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung von 1996 überarbeitet und mit sechs sektoralen
Richtlinien, die Anforderungen für bestimmte Anlagenarten enthalten, zusammengefasst. Insbesondere werden
in den Anhängen V und VI die Richtlinien für Großfeuerungsanlagen und zur Abfallverbrennung und zur Abfallmitverbrennung in die IED integriert. Diese beiden
Anhänge werden heute mit einer Novellierung der
13. und der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung in
deutsches Recht umgesetzt. Die Richtlinie stellt zukünftig das zentrale europäische Regelwerk für die Zulassung und den Betrieb von Industrieanlagen dar. Sie erfasst europaweit circa 52 000 Anlagen, in Deutschland
circa 9 000 Anlagen.
Zwei Prinzipien haben uns bei der Überarbeitung der
beiden Bundesimmissionsschutzverordnungen geleitet.
Zum einen haben CDU/CSU und FDP im Koalitionsvertrag vereinbart, EU-Vorgaben möglichst ein zu eins in
deutsches Recht zu übernehmen. Diesen Willen haben
die Koalitionspartner im Entschließungsantrag „Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland - Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft“ noch
einmal bekräftigt und beschlossen, „bei der Umsetzung
der europäischen Industrieemissionsrichtline auf unbürokratische und praxisnahe Regelungen zu setzen, keine
national einseitigen Verschärfungen vorzunehmen und
die europäischen Vorgaben im Verhältnis ein zu eins in
nationales Recht zu übernehmen“. Jede Abweichung
von dieser Vorgehensweise bedarf daher einer überzeugenden Begründung. Zum anderen hat uns das ungeschriebene parlamentarische Gesetz, dass die Integration von EU-Vorgaben nicht mit einer Aufweichung
nationaler Umweltstandards einhergehen darf, geleitet.
Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung wird
diesen Anforderungen weitestgehend gerecht. In zwei
wesentlichen Punkten, namentlich der Einführung eines
neuen Jahresmittelwertes für die Emissionen von Staub
und Quecksilber, geht der Regierungsentwurf über die
Vorgaben der IED hinaus. Diese Abweichung ist jedoch
zur Erfüllung der Ziele der Luftqualitätsrichtlinie und
zur Verringerung hochtoxischer Quecksilberimmissionen gut begründet und für die deutsche Industrie mit nur
geringem Aufwand erfüllbar.
Meine Fraktion hätte sich gewünscht, dass die zukünftig im Rahmen der Energiewende vermehrt notwendigen schnellen An- und Abfahrvorgänge insbesondere
für Gaskraftwerke zur Stabilisierung der fluktuierenden
Einspeisung erneuerbarer Energien eine stärkere Berücksichtigung in der Verordnung gefunden hätten. Aufgrund des engen Zeitrahmens zur Umsetzung der IED
war eine entsprechende Einigung mit dem KoalitionsZu Protokoll gegebene Reden
partner jedoch nicht möglich. Da es die begründete Annahme gibt, dass der Bundestag sich erneut mit dieser
Verordnung nach der Befassung des Bundesrates beschäftigen wird, werden wir dem Verordnungsentwurf
heute zunächst zustimmen.
Schwarz qualmende Schornsteine wecken Ängste vor
Gefahren, und wir alle werden vorsichtig - was wir
nicht sehen und riechen können, dem können wir nicht
ausweichen. Gerade die Abgase der Industrieproduktion
enthalten oft schädliche Bestandteile. Die anstehende
Verordnungsänderung bot die Chance, bewährte Umwelttechniken konsequent einzusetzen und zukünftig
mehr Schwermetalle, Stickoxide und Benzole aus der
Luft zu entfernen. Weniger Allergien, weniger Infektionskrankheiten, weil die Immunabwehr nicht durch
Quecksilber geschwächt wird - das wäre doch ein lohnendes Ziel und würde die gesamte Volkswirtschaft von
Gesundheitskosten entlasten.
Leider beschränkt sich diese Koalition auch bei diesem Thema auf Kostensenkung für ihre Klientel, die
Energie-, Chemie-, Zement- und Stahlindustrie. Die
verhältnismäßig hohen Schadstoffgrenzwerte bringen
diesen Industriebereichen Kosteneinsparungen zulasten
unser aller Gesundheit. Dabei opfern sie langfristig ihre
Wettbewerbsfähigkeit kurzfristigen Renditezielen, weil
international der Trend zu schadstoffarmer Produktion
zunimmt. Selbst China verweigert inzwischen oft die ungebremste Schadstoffemission.
Zu den Einzelheiten: Während Unternehmen in den
USA jetzt im Monatsmittel maximal 3 Mikrogramm
Quecksilber pro Kubikmeter Abluft ausstoßen dürfen,
soll das deutsche Jahresmittel bei maximal 10 Mikrogramm liegen. Dass jetzt sogar die USA mehr Wert auf
Umweltschutz legen, macht nachdenklich.
Auch am Beispiel Stickoxide wird deutlich, dass die
Bundesregierung je nach Betroffenem Unterschiede in
den Umweltstandards macht. Während im Verkehrsbereich der Ausstoß an Stickoxiden trotz steigenden Verkehrs sinkt, wächst er in der Industrie seit zwölf Jahren
an. Deshalb verfehlt Deutschland die Erfüllung seiner
Verpflichtung zur Senkung des Stickoxidausstoßes um
25 Prozent. Trotzdem legt diese Verordnung für die Industrie Grenzwerte fest, die mehr als das Doppelte über
dem technisch leicht Erreichbaren liegen.
Aus den Zementöfen emittieren durch Brennstoffe aus
Abfall Stäube mit gefährlichen Anhaftungen von Furanen und Dioxinen, die in einer Abfallverbrennunganlage
nicht in die Luft gelangen würden. Bereits 60 Prozent
der Energie für einen Zementofen wird aus sogenannten
Ersatzbrennstoffen gewonnen. Dies wird dann auch
noch als stoffliches Recycling verkauft. Weil man aber
die Abgase bei Zementöfen nicht so genau prüfen muss
wie in der Müllverbrennungsanlage, merkt keiner, welche Schadstoffe aus dem Schornstein quellen. Statt diesen bekannten Missstand zu beseitigen, steckt diese Regierung den Kopf in den Sand.
Die Linke fordert die Anwendung der Grenzwerte von
Abfallverbrennungsanlagen für die Mitverbrennung von
Abfall, egal ob in Zement- oder Stahlwerken. Wenn diese
Grenzwerte nicht eingehalten werden, muss die Mitverbrennung verboten werden. Wir unterstützen die SPD
bei ihrem entsprechenden Vorschlag.
Wir fordern für Deutschland Grenzwerte für Quecksilber wie in den Vereinigten Staaten. Dass ich das einmal im Umweltbereich sagen muss, ist traurig.
Die Linke fordert, dass die Stickoxidgrenzwerte halbiert werden.
Wir stimmen für die Gesundheit der Bevölkerung, und
deshalb stimmt die Linke der Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen nicht zu.
Mit der vorliegenden Verordnung hat die Bundesre-
gierung leider die Chance vertan, eine maßgebliche Ver-
besserung der Umweltsituation in Deutschland herbei-
zuführen und schädliche Emissionen langfristig zu
reduzieren. Die europäische Richtlinie hätte die Mög-
lichkeit eröffnet, bei wichtigen Schadstoffen die Grenz-
werte zu verschärfen und damit sowohl messbare Ver-
besserungen für die Luftqualität zu erreichen als auch
Anreize zur Weiterentwicklung neuer Technologien zu
setzen. Stattdessen machen Sie nur kleine Schritte bei
der Absenkung der Grenzwerte. Sie führen neue Rege-
lungen ein, die weitgehend wirkungslos bleiben werden.
Die formulierten Anforderungen an die Vermeidung und
Verminderung von Industrieemissionen gehen nicht über
den bereits erreichten Stand der Technik hinaus. Verra-
ten Sie mir bitte, wie dadurch Anreize zu neuen Innova-
tionen gesetzt werden sollen? Wie soll denn so die Belas-
tung mit Industrieemissionen maßgeblich verringert
werden, werte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition?
Und Sie vergeben auch die deutsche Vorreiterrolle im
Umweltschutz. Es ist ja nahezu peinlich, dass selbst die
USA, ja die USA, bisher nicht gerade bekannt für pro-
gressive Umweltpolitik, zukünftig strengere Grenzwerte
für Quecksilber in Großfeuerungskraftwerken haben
werden als die Bundesrepublik. Im Rahmen dieser Ver-
ordnung hätte man die Grenzwerte deutlich senken müs-
sen, technisch ist das schon lange kein Problem mehr.
Und selbst der Referentenentwurf des Umweltministe-
riums sah strengere Grenzwerte vor. Sie aber sind leider
mal wieder eingeknickt und lassen zu, dass alte Kohle-
kraftwerke nicht mal den Stand der Technik erfüllen
müssen. Sie sind eingeknickt vor der Industrielobby, die
ihre alten Kohlekraftwerke, die Dreckschleudern, nicht
kostenpflichtig modernisieren will. Dabei haben die ge-
nug Rendite, um das zu finanzieren. Die bekannten Ge-
fahren für die Gesundheit durch Quecksilber, insbeson-
dere für Kinder, ignorieren Sie dabei gekonnt. Hier geht
Rücksicht auf die Großindustrie vor verbesserten Ge-
sundheitsschutz von Bürgerinnen und Bürgern.
Auch in puncto Feinstaub hätte man deutliche Fort-
schritte erzielen können, wenn man nur gewollt hätte.
Die Feinstaubbelastung in unseren Städten ist bei un-
Zu Protokoll gegebene Reden
günstiger Witterungslage extrem hoch. Allein mit Maß-
nahmen im Verkehrssektor, die wir dringend brauchen,
werden wir das Feinstaubproblem aber nicht ausrei-
chend in den Griff kriegen. Wir müssen auch die perma-
nente Belastung durch Industrieemissionen verringern.
Auch hier vergibt die Bundesregierung die Chance, die
Schadstoffbelastung der Luft maßgeblich zu reduzieren,
mit allen daraus folgenden Risiken für die Gesundheit
vieler Menschen.
Genau das Gleiche bei den Stickoxiden. Auch hier sind
die vorgeschlagenen Grenzwerte noch immer deutlich zu
hoch. Sie wollen weiterhin die Braunkohle bevorzugen,
obwohl es keinen Anlass dazu gibt. Die verschiedenen
Brennstoffe müssen bezüglich der Stickoxidemissionen
endlich gleichgestellt werden. Wir brauchen sowohl für
die Kohlekraftwerke als auch für die Abfallmitverbren-
nung strengere Grenzwerte für Stickoxide, die eine sub-
stanzielle Verbesserung der Luftqualität zur Folge ha-
ben.
In Sachen Luftreinhaltung versagt Ihr Verordnungs-
entwurf auf ganzer Linie. Aber auch beim zweiten Teil
der Umsetzung der IED-Richtlinie, den wir hier in der
nächsten Woche diskutieren werden, sieht es nicht bes-
ser aus. Ich will den Details nicht vorgreifen, aber las-
sen Sie mich eins doch sagen: Sie, Herr Altmaier, haben
sich auf die Energiewende verpflichtet, es ist Ihr großes
Projekt. Wir alle wollen, dass die Energiewende klappt,
und wir alle wissen, das der Schlüssel dazu Energieeffi-
zienz ist. Die Umsetzung der IED-Richtlinie hätte die
Möglichkeit eröffnet, hier einen großen Schritt voranzu-
kommen. Die IED-Richtlinie erlaubt es den Mitglied-
staaten, Energieeffizienz als Grundpflicht der Betreiber
von Industrieanlagen festzulegen. Warum haben Sie die
Chance vergeben, hier klare Mindestwirkungsgrade für
die Energienutzung bei Industrieanlagen festzulegen?
Das hätte einen wirklichen Fortschritt bei der Energie-
effizienz im industriellen Bereich gebracht. Warum, frage
ich Sie, vergeben Sie auch diese Möglichkeit, einen maß-
geblichen Beitrag zur Energiewende zu leisten?
Mein Fazit kann nur heißen: Diese Verordnung ist
kein Beitrag zu angemessenen Umweltstandards und
kein Beitrag zum verbesserten Umweltschutz. Noch
haben Sie die Chance, beim Gesetzentwurf in Sachen
Energieeffizienz nachzubessern. Bitte tun Sie dies, damit
die Umsetzung der IED-Richtlinie nicht auch noch zu ei-
nem Reinfall für die Energiewende wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11060, der Verordnung der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/10605 zuzustimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9555. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Impulse für die Förderung des Radverkehrs setzen - Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 überarbeiten
- Drucksache 17/11000 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})-
Innenausschuss-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Tourismus-
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Radverkehrsplan 2020 - Den Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln
- Drucksache 17/10681 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Tourismus
Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben.1) - Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11000 und 17/10681 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
- Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen
- Drucksache 17/10960 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})-
Auswärtiger Ausschuss-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
1) Anlage 7
Lassen Sie mich zu Beginn auf die positive Entwicklung der rückläufigen Piratenangriffe zu sprechen kommen. Schon im Jahr 2011 ist die Zahl der Geiselnahmen
im Zusammenhang mit Angriffen durch Piraten weltweit
von 1181 im Jahr 2010 auf 802 zurückgegangen. Das International Maritime Bureau, IMB, verzeichnete bis
Ende Mai 2012 rund um das Horn von Afrika 60 Piratenangriffe. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier erneut ein
signifikanter Rückgang zu registrieren. Die Fachpresse
und Experten begründen diese guten Nachrichten unter
anderem mit dem verbesserten Selbstschutz, wie etwa
der Einhaltung der Best-Management-Practices-Verhaltensregeln der International Maritime Organization,
IMO, aber auch mit der effektiven Arbeit der internationalen Seestreitkräfte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
es sei an dieser Stelle erinnert, dass Sie vor einigen Monaten in diesem Hohen Hause der deutschen Beteiligung
am Atalanta-Einsatz ihre Zustimmung versagt haben.
Für Ihr wahlkampfgeleitetes Taktieren setzen Sie die Sicherheit der Besatzungen auf deutschen und allen anderen Handelsschiffen aufs Spiel. Sie haben sich offenkundig nicht nur von der Reformpolitik der Agenda 2010
des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder verabschiedet, sondern auch von Zeiten, als sich die SPD
noch um die maritime Wirtschaft bemühte. Ihr nicht
nachzuvollziehendes Abstimmungsverhalten offenbart
Ihr Desinteresse an der maritimen Branche. Der Gipfel
dieser beschämenden Gleichgültigkeit ist die Charterung des unter portugiesischer Flagge fahrenden Kreuzfahrtschiffes MS Princess Daphne durch eine Beteiligungsgesellschaft der SPD. Zulasten der deutschen
Flagge will sich Ihre Parteiführung im Willy-BrandtHaus die Wahlkampfkasse aufbessern, weil im MadeiraRegister die arbeits- und sozialrechtlichen Standards
weitaus geringer sind als in Deutschland. Ihr Antrag
„Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort“, dessen Forderungen nach einer Stärkung des maritimen Standortes Deutschland und der Verbesserung
der Situation von nautischem und technischem Personals wir hier schon diskutieren durften, ist in diesem Zusammenhang nicht nur fragwürdig, sondern beschämend. Bevor Sie die Bundesregierung mit Forderungen
konfrontieren, sollten Sie in Ihren Reihen zunächst einmal wieder ein Bewusstsein für maritime Fragen entwickeln.
Abgesehen davon, dass Sie mit Ihren aktuellen Forderungen nach Transparenz in Fragen von Nebeneinkünften der Bundestagsabgeordneten und der Parteienfinanzierung an dieser Stelle hier Ihr wahres Gesicht
offenbaren, verprellen Sie die Besatzungen auf den
Schiffen unter deutscher Flagge. Glaubwürdigkeit in
wichtigen Fragen der maritimen Politik sieht anders
aus.
Die Union hat in dieser Bundesregierung, aber auch
unter der großen Koalition bereits seit 2008 unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, etwa durch die Beteiligung der Bundeswehr im Zuge internationaler Einsätze, um die humanitären Hilfslieferungen für das
afrikanische Krisengebiet zu sichern und um natürlich
dem auftretenden Phänomen der Schiffs- und Besatzungsentführungen sowie der Lösegelderpressung wirksam entgegenzutreten. Der Aufbau staatlicher Strukturen
als Voraussetzung zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in
Somalia und der damit verbundenen Eindämmung von
Hunger und Armut ist ebenfalls eine wesentliche Maßnahme, der sich Deutschland verpflichtet fühlt. Die Bundesrepublik leistet hier einen wichtigen Beitrag: Deutsche Soldaten, die Sie durch Ihre Verweigerung bei
Atalanta offenbar nicht weiter beteiligen wollen, partizipieren beispielsweise auch an der EU-geführten Ausbildungsmission Eutm Somalia. Bislang konnten dadurch
1 800 Soldaten der somalischen Übergangsregierung in
Uganda ausgebildet werden. Bis Dezember dieses Jahres sollen es dann 3 000 somalische Soldaten sein.
Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweit
steigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventionszentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Holstein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschen
Reedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeugung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risikoanalysen, der Darstellung technischer Präventionsmaßnahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautische
Manöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsätzen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.
Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,
die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und die
Umsetzung der Best Management Practices zu gewährleisten. Sie sehen, die unionsgeführten Bundesregierungen haben in vielfältiger Weise zu Verbesserungen der
Gefahrenabwehr auf Handelsschiffen beigetragen.
Doch lassen Sie mich zum vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungskoalition kommen, die im Gegensatz zu Ihnen, geschätzte Mitglieder der Opposition, mit
sachlicher Arbeit und im Dialog mit den Betroffenen Lösungsvorschläge zur Abwehr von Piraterie vorlegt. Ich
möchte die Gelegenheit daher nutzen, mich bei den beteiligten Ressorts, dem Bundeswirtschaftsministerium
und dem Bundesministerium des Innern, zu bedanken,
dass es ihnen gelungen ist, trotz der schwierigen rechtlichen und inhaltlich komplexen Problematik bei der Zulassung von privaten Sicherheitsunternehmen einen unbürokratischen und für alle akzeptablen Gesetzentwurf
vorzulegen. Da uns bewusst war, dass die Anwesenheit
von privaten Sicherheitsunternehmen an Bord von Schiffen bereits Realität ist und auch ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet, bestand die Herausforderung
nun darin, allen Beteiligten Rechtssicherheit zu verschaffen.
Um es noch einmal festzuhalten: Bisher ist der Einsatz privater Sicherheitsunternehmen nicht verboten,
sondern bislang nur nicht geregelt, da wir es hier mit einer Sondersituation zu tun haben, deren Ausmaß und
Konsequenzen erst in den letzten Jahren deutlich wurden. Der Einsatz von Bewachungsunternehmen auf hoher See stellt aus sicherheitstechnischer Perspektive
eine Sondersituation dar, zumal, anders als auf dem
Festland, keine hoheitlichen Kräfte angefordert werden
können. Insofern müssen die privaten Sicherheitsunternehmen höchsten Anforderungen entsprechen. Das Erfordernis von Bewachungsunternehmen wird schnell
Zu Protokoll gegebene Reden
sichtbar, denn der Erfolg gibt ihnen Recht: Sofern Bewachungsunternehmen an Bord von Handelsschiffen waren, ließen die Piraten von ihrem geplanten Angriff ab
oder die Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt werden. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten in
enger Abstimmung mit Verbänden und Koalitionsabgeordneten nun ein Ergebnis präsentiert, das dem Anspruch Rechnung trägt, diese Maßnahmen auf ein
rechtssicheres Fundament zu stellen.
Der Gesetzentwurf wurde mit den Betroffenen diskutiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pirateriebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung dar.
Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen der
Branche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigen
auch die Würdigung der deutschen Reeder, die neben
anderen Interessenvertretungen und den Bundesländern
im Diskussionsprozess eingebunden waren und auch
weiterhin sind.
Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die Herausforderung zu meistern, der Besatzung den nötigen
Schutz vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei
aber die Gefahr zu minimieren, dass Menschen zu Schaden kommen. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht
ausschließlich durch die EU-geführte Atalanta-Mission
erfüllt werden. In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist
als Deutschland, ist die Bedrohung für die Schiffsbesatzung und den freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es
sei an dieser Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des internationalen Warenverkehrs und 90 Prozent der europäischen Güterexporte an Drittstaaten über den Seeweg erfolgen. Nach den Krisenjahren 2008 und 2009 hat sich
der Welthandel und damit auch die maritime Wirtschaft
erholen können. Das führt nun erfreulicherweise dazu,
dass der internationale Seeverkehr seinen Wachstumsprozess fortsetzt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Piratenüberfalls unter 1 Prozent liegt und wir 2011
einen Rückgang von Angriffen durch Piraten verzeichnen dürfen, ist der Anlass zur Sorge nach wie vor gegeben. Ein wachsender Schiffsverkehr bedeutet einerseits
wirtschaftlich positive Effekte, allerdings auch zusätzliche Angriffsmöglichkeiten für die Piraten. Insbesondere vor den Küsten Somalias, an denen 236 der 439 Attacken im Jahr 2011 erfasst wurden, muss also weiter aktiv
die Pirateriebekämpfung verfolgt werden. Auch wenn
die Erfolgsquote der Piraten in den letzten zwei Jahren,
insgesamt betrachtet, erheblich gesunken ist, besteht
also kein Grund zum Aufatmen.
Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zu
einer Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.
Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs bereits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen international agierende Bewachungsunternehmen ein, um in
risikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruch
zu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungsunternehmen eingesetzt werden, die über die nötige
Professionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Erfahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechtssicherheit geboten werden. Dieser Forderung der Reeder wird die Bundesregierung nachkommen, indem von
den Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern
eindeutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordert
werden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, der
besonderen Situation auf den Schiffen angepasste Qualifikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Sicherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss neben den sicherheitstechnischen Anforderungen auch
über maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungen
werden auf hoher See erbracht und bedürfen einer gewissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord eines
Schiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deutlich, dem die Bundesregierung nachkommt und sich dabei an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO orientiert. Die Bundesregierung richtet sich dabei auch nach
europäischen Nachbarn, die ebenso Bewachungsunternehmen zertifizieren. Mit der Orientierung an europäischen Standards bilden wir vergleichbare und rechtlich
verbindliche Normen für internationale Bewachungsunternehmen, die zügig zugelassen werden können. Für
unsere Seeleute und die deutschen Reeder wird eine notwendige Rahmenbedingung für zusätzliche Sicherheit an
Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewachungsunternehmen über das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mit Unterstützung der Bundespolizei erfolgen
zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion richtig.
Die ebenfalls notwendig gewordene Änderung des
Waffenrechts sowie deren über die Bundesländer zu
erfolgende Bearbeitung ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ebenfalls unbürokratisch gelöst: Dank der
erfolgreichen Abstimmung zwischen Bund und betroffenen Ländern ist es gelungen, die Erlaubniserteilung
hinsichtlich des Waffenrechts über die Freie und Hansestadt Hamburg abzuwickeln. Den Bewachungsunternehmen wird damit ein föderales und behördliches
Durcheinander erspart.
Abschließend möchte ich auf die Notwendigkeit hinweisen, dass die hierzu parallel ebenfalls erforderliche
Rechtsverordnung sobald wie möglich beschlossen wird.
Diese soll die verschiedenen Verpflichtungen für die Bewachungsunternehmen enthalten, etwa das Führen eines
Prozesshandbuches, das Verfahrensabläufe zur Planung
und Durchführung von Einsätzen auf See beschreibt und
dokumentiert.
Die Koalition unterstreicht erneut, dass sie verlässlicher Partner der maritimen Wirtschaft ist und es auch
bleiben wird. Die Opposition kann im Gesetzgebungsverfahren beweisen, ob sie der Branche mit über
400 000 Mitarbeitern in Deutschland ähnlich treu zur
Seite steht.
Der Gesetzentwurf nimmt die Forderungen aus unserem Antrag vom April im Wesentlichen auf und geht insgesamt in die richtige Richtung. Unsere Forderung, die
Befugnisse privater Sicherheitsdienste beim Einsatz gegen Piratenangriffe an Bord von Handelsschiffen unter
deutscher Flagge gesetzlich zu regeln und die Bestimmungen der Gewerbeordnung in Bezug auf einen internationalen Einsatz privater Sicherheitsdienste anzupassen, ist ebenso berücksichtigt wie die grundsätzliche
Vorgabe, dass die Zertifizierung nach den vorläufigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Leitlinien für Schiffseigner, Schiffsbetreiber und Schiffsführer der International Maritime Organization, IMO,
erfolgen soll, damit nur zuverlässige und ausreichend
geschulte Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen dürfen.
Mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle, BAFA, und der Unterstützung
durch die Bundespolizei wird die Zulassung auf eine solide Basis gestellt.
Der Einsatz hoheitlicher Sicherheitskräfte auf und
zum Schutz von Handelsschiffen soll auch in Zukunft
nicht der Regelfall werden. Wir fordern aber, dass eine
unmittelbare Zuständigkeit des Bundeskriminalamts und
die Einführung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur optimalen Durchführung von Ermittlungsverfahren geprüft
werden.
Zu klären bleibt die Ausgestaltung des Zulassungsverfahrens, zu der die konkrete Formulierung der
Rechtsverordnung von der Bundesregierung noch vorgelegt werden muss. Dies muss rasch geschehen: Zwar
orientieren sich heute bereits die meisten Sicherheitsdienste und Reeder an den Leitlinien der IMO, aber bis
für Handelsschiffe unter deutscher Flagge nach diesem
Gesetzentwurf verbindliche Regeln vorliegen und der
Einsatz von Bewachungsunternehmen beginnt, die eine
Zertifizierung durch die BAFA vorweisen können, wird
wohl mindestens ein weiteres Jahr verstreichen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt die von uns bereits im April geforderte Festschreibung, dass die Kommandokette an Bord beim Einsatz privater Sicherheitskräfte auf der Grundlage der im Seemannsgesetz
geregelten Stellung des Kapitäns, der Rechtsverhältnisse der Besatzung und der sonstigen im Rahmen des
Schiffsbetriebs an Bord tätigen Personen vertraglich
klar definiert und sichergestellt wird. Mit anderen Worten: Es muss klar sein, dass Sicherheitskräfte erst auf
Anweisung des Kapitäns tätig werden dürfen. Bei den
Verhaltensregeln für das Sicherheitspersonal muss
dabei insbesondere berücksichtigt werden, dass Schiffsführung und Sicherheitskräfte durchaus unterschiedliche Ansichten haben können, ob Maßnahmen notwendig
sind oder nicht.
Wir begrüßen, dass durch die Einführung des Zulassungserfordernisses den Reedern vorgeschrieben wird,
nur durch die BAFA zertifizierte Bewachungsunternehmen einzusetzen. Im Zuge der für diese Vorschrift benötigten Änderung der See-Eigensicherungsverordnung
muss darüber hinaus aber auch sichergestellt werden,
dass die umfassenden Informationsrechte der zuständigen Bundesbehörden und beauftragten Stellen auch
beim Einsatz privater Sicherheitskräfte gewahrt bleiben
und sie von diesen auf Verlangen alle notwendigen Auskünfte und erforderlichen Unterlagen erhalten.
Über die jetzt vorgelegten gesetzlichen Regelungen
hinaus bleibt die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Partnern des Maritimen Bündnisses
gegenüber den deutschen Reedereien für eine Rückflaggung des Schiffsbestandes unter deutsche Flagge einzutreten. Dies ist nicht nur Bestandteil der Vereinbarungen
im Rahmen der Nationalen Maritimen Konferenzen. Der
Gesetzgeber kann nach dem Prinzip der Flaggenhoheit
nur Regelungen treffen, die sich auf Schiffe unter deutscher Flagge beziehen. Es wird im Interesse auch der
Reeder sein, durch ein gesetzlich und durch Rechtsverordnung eindeutig geregeltes Zulassungsverfahren nicht
nur Sicherheit an Bord, sondern auch Rechtssicherheit
zu gewinnen.
Über 90 Prozent des Welthandels und fast 95 Prozent
des Außenhandels der Europäischen Union werden über
den Seeweg abgewickelt. Die Bundesrepublik Deutschland, als weltweit zweitgrößte Handelsnation, nutzt für
nahezu 70 Prozent des Im- und Exports maritime Transportwege. Rund 45 000 Handelsschiffe sind derzeit auf
internationalen Gewässern unterwegs und transportieren mehr als 7 Milliarden Tonnen Güter pro Jahr - mit
steigender Tendenz. Die Ozeane sind die mit Abstand
wichtigsten Verbindungswege unserer zunehmend globalisierten Welt.
Doch nicht nur die Industrienationen rund um den
Globus haben die Bedeutung maritimer Handelswege
erkannt, sondern auch Piraten. Wie schon in der Antike
wissen diese auch heute um den Gegenwert der wertvollen Fracht und die hohe Bedeutung eines möglichst ungehinderten Welthandels. Piraterie ist selbstverständlich kein neues Phänomen; sie hat aber in Bezug auf ihr
Ausmaß eine neue Dimension erreicht. Allein im Jahr
2011 ereigneten sich weltweit 439 derartige Attacken,
mehr als die Hälfte davon am Horn von Afrika. Insbesondere aufstrebenden und entwickelten Volkswirtschaften entstehen durch die weltweit stark gestiegene Zahl
von Übergriffen erhebliche wirtschaftliche Schäden.
Aber auch die erhebliche Bedrohung für Leib und Leben
der Seeleute zeigt deutlich, dass die Bekämpfung der Piraterie eine wichtige Aufgabe ist. Dafür müssen zweckmäßige und effiziente Maßnahmen ergriffen werden.
Erfreulicherweise ging die Anzahl der Überfälle in
diesem Jahr bisher um rund ein Drittel zurück. Die Ursache ist aber nicht etwa das nachlassende Interesse am
Kapern von Schiffen. Vielmehr zeigen die bisher ergriffenen Maßnahmen erste Wirkungen. Neben der starken
internationalen Militärpräsenz in den besonders betroffenen Seegebieten - die Deutsche Marine ist bekanntermaßen auch erfolgreich in die EU-geführte Operation
Atalanta eingebunden - heuern Reeder zunehmend bewaffnetes Sicherheitspersonal für ihre Schiffe an. Gerade diese Maßnahme hat sich offenbar als besonders
wirksam erwiesen. Allein die abschreckende Wirkung
bewaffneter Sicherheitskräfte und der einsetzende Widerstand haben dazu geführt, dass bisher keines der so
gesicherten Schiffe entführt wurde.
Diese Form der Selbsthilfe der Reeder zeigt aber
auch den Handlungsbedarf des Gesetzgebers. Den Befürchtungen der Branche, durch unangemessenes Handeln des angeworbenen Personals eine unkalkulierbare
Eskalation in Konfliktsituationen hervorzurufen, ist entsprechend zu begegnen. Reedereien brauchen in dieser
Frage Rechtssicherheit und müssen auf die Entscheidungen und Fähigkeiten des von ihnen beauftragten Sicherheitspersonals vertrauen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der erstmals ein transparentes und für die
Wirtschaft möglichst unbürokratisches Zulassungsverfahren für private bewaffnete Sicherheitsdienste auf
deutschen Schiffen etabliert. Das Verfahren orientiert
sich eng an den Leitlinien der Internationalen Schifffahrtsorganisation, IMO. Ziel ist es, dass nur zuverlässige, besonnene und fachkundige Sicherheitskräfte auf
deutschen Handelsschiffen zum Einsatz kommen. Zusätzlich sollen aber auch die Bewachungsunternehmen
hohen Qualitätsstandards und Überwachungsmechanismen unterliegen. Zukünftig wird das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, als zuständige
Behörde zentral für die Zulassung und Überwachung
von Sicherheitsunternehmen und deren Personal zuständig sein. Es wird diese Aufgabe in enger Kooperation
mit der Bundespolizei erfüllen. Ergänzend wird das
Land Hamburg als zentrale Waffenbehörde einheitlich
und transparent die Erteilung und Verwaltung der erforderlichen Waffenberechtigungen vornehmen. Damit
bleibt das hohe Schutzniveau des Waffenrechts auch bei
diesem speziellen Anwendungsfall erhalten.
Auf Schiffen unter deutscher Flagge ist immer auch
deutsches Recht anzuwenden. Die vorgesehenen Regeln
gelten deshalb selbstverständlich auch für im Ausland
niedergelassene Bewachungsunternehmen, sobald sie
entsprechende Aufträge auf deutschen Schiffen übernehmen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in
Deutschland und auch im internationalen Vergleich
neue Wege. Unsere einheitlichen und qualitätsorientierten Sicherheitsstandards könnten zu einem neuen Gütesiegel werden, das letztlich auch die deutsche Flagge in
der internationalen Handelsschifffahrt stärkt.
An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, dem
Bundeswirtschaftsministerium und insbesondere dem
Parlamentarischen Staatssekretär und maritimen Koordinator, Hans-Joachim Otto, zu danken, der mit persönlichem Einsatz und dem notwendigen Fingerspitzengefühl bei sensiblen Fragen Geschick und Kompetenz
bewiesen hat.
Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurf
zu unterstützen. Lassen Sie uns gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen, dass unsere Schiffe die Weltmeere ein Stück sicherer passieren können.
„Über den Wind können wir nicht bestimmen, aber
wir können die Segel richten.“
Die Tatsache, dass noch niemals Schiffe unter deutscher Flagge gekapert worden sind, auf denen sich bewaffnetes Sicherheitspersonal befand, führt nicht
zwangsläufig zu dem Ergebnis, die Sicherheit der
Seeschiffe privaten Bewachungsunternehmen anzuvertrauen. Der Schutz vor Kriminalität - also auch vor Piraterie - ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Gerade wenn es sich um schwerste Straftaten wie
Entführung und Erpressung handelt, ist die Abgabe des
hoheitlichen Handelns an private Sicherheitsdienste äußerst bedenklich und wird von der Linken strikt abgelehnt. Die Sicherheitsfirmen sollen militärisch ausgerüstet und für die Abwehr schwerster Verbrechen zuständig
sein. Andererseits dürfen sie nur im Rahmen der Jedermannsrechte wie Notwehr, Notstand und Selbsthilfe handeln. Es ist äußerst fraglich, inwieweit Privatfirmen ein
angemessenes Handeln gewährleisten können und wie
Vorfällen mit Schusswaffeneinsatz rechtlich aufzuarbeiten sein sollen. Was passiert mit Gefangenen? Haben
Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen die entsprechende
Ausbildung und rechtliche Befähigung? Mit dem im Gesetz vorgeschriebenen Zulassungsprozedere für geeignete Mitarbeiter und der Berichtspflicht bei Einsätzen
ist eine Angemessenheit im Handeln wohl kaum abzusichern.
Die Bundesregierung gibt an, dass weltweit 160 bis
180 Unternehmen diese spezielle Art maritimer Sicherheitsdienstleistungen anbieten, zehn von ihnen kommen
aus Deutschland. Einige internationale Sicherheitsfirmen waren in den letzten Jahren in den Schlagzeilen,
weil sie in Gebieten mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie im Irak völlig unverhältnismäßige Gewaltanwendungen zu verantworten hatten. Will die Bundesregierung sehenden Auges solche Situationen
heraufbeschwören? In der Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen zum Zulassungsverfahren für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen muss die Bundesregierung selbst eingestehen, dass eine Vor-Ort-Kontrolle
von ausländischen Bewachungsunternehmen nicht möglich ist. BAFA und Bundespolizei könnten nur die Plausibilität der zur Zertifizierung eingereichten Dokumente
überprüfen. Mit solcherlei Zulassungsverfahren will
man also Unternehmen legitimieren, Aufgaben aus dem
engsten Kreis hoheitlichen Handelns zu übernehmen?
Ein unglaublicher Vorgang!
Interessant ist auch der Zeitpunkt, zu dem das Gesetzt
verabschiedet werden soll. Laut dem letzten „Pirateriebericht der Bundespolizei See“ sind die Piraterieaktivitäten am Horn von Afrika um 67 Prozent und weltweit
um 33 Prozent zurückgegangen. Dies ist auf ein Bündel
von Maßnahmen zurückzuführen, insbesondere auf die
militärisch geschützten Konvoifahrten, die Sicherheitsteams auf Schiffen, die Verfolgung der Geldwäsche
von Lösegeldern und auf die Stärkung der somalischen
Zentralgewalt. Man könnte meinen, der Gesetzentwurf
aus dem Hause von Minister Rösler soll in letzter
Sekunde der Sicherheitsbranche Zugänge zu neuen
Märkten eröffnen, genau in dem Moment, wo das Problem seine hohe politische Relevanz verliert.
Es liegen sinnvolle Vorschläge auf dem Tisch, wie die
zivile Seefahrt geschützt werden könnte. Der Verband
Deutscher Reeder fordert hoheitliche Kräfte, konkret die
Bundespolizei, und kann sich sogar eine Seesicherheitsgebühr vorstellen, um die Reedereien an den Kosten zu
beteiligen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei schlägt die Umschulung von Bundeswehrsoldaten
vor, die durch die Bundeswehrreform freigesetzt werden.
Über die Eingliederung in eine zu schaffende Struktur
der Bundespolizei und nach gründlicher rechtlicher und
fachlicher Ausbildung könnte dann ein Einsatz auf Seeschiffen erfolgen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung hat zu Recht erkannt, dass zur
Regulierung des Tätigkeitsfeldes privater bewaffneter
Sicherheitsunternehmen die geltenden Anforderungen
der Gewerbeordnung nicht mehr ausreichen.
Lassen Sie mich noch einmal aus führen, welche Anforderungen dies zur Zeit sind: Wer ein Sicherheitsgewerbe eröffnen will, muss nachweisen, dass er zuverlässig ist und über die notwendigen Mittel verfügt.
Zusätzlich muss er sich von einer Industrie- und Handelskammer 80 Stunden unterrichten lassen, welche
rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Vorschriften
für ein solches Gewerbe zu beachten sind. Ob er das alles versteht, ist dabei unerheblich. Eine Prüfung ist nicht
vorgesehen. Bei seinen Angestellten ist dann diese Unterrichtung auf 40 Stunden verkürzt. Auch bei ihnen ist
keine Prüfung vorgesehen. Dies sind äußerst niedrige
Schwellen.
Seit Ende des Ost-West-Konflikts hat es im Sicherheitsbereich eine ungeahnte Privatisierungswelle gegeben. Die Anzahl von privaten Sicherheitsunternehmen
hat sich seit 1994 in Deutschland mehr als verdoppelt.
In demselben Maße ist der Umsatz der Branche gewachsen.
Wir Bündnisgrüne setzen uns seit Jahren dafür ein,
dass diese Schwellen erhöht werden, um gerade bei den
Sicherheitsunternehmen, deren Angestellte auch Waffen
tragen, stärker als bisher Zuverlässigkeit und Geeignetheit sowohl der Unternehmensführung als auch der Angestellten sicherzustellen. Hier gibt es schon gute Vorschläge der Länder. Das ist ein Ziel, das sowohl im
Interesse der Öffentlichkeit als auch im Interesse der
Auftraggeber und der Branche selbst liegt. Und die Länder haben in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf
zu Recht darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht auch
klarere gesetzliche Regelungen für deutsches Sicherheitspersonal auf ausländisch geflaggten Schiffen notwendig sind.
Ich finde es daher befremdlich, dass Sie sich geweigert haben, heute auch über den Antrag meiner Fraktion
zum selben Thema zu debattieren. Ich weiß ja, dass der
Antrag gut ist - dass er aber so gut ist, dass es Ihnen offensichtlich peinlich ist, ihn neben Ihrem Gesetzentwurf
aufzusetzen, überrascht mich dann doch.
Sie begnügen sich in Ihrem Gesetzentwurf damit, einen kleinen Tätigkeitsbereich privater Sicherheitsunternehmen strenger zu regulieren. Hier sind wir ja im
Grundsatz bei Ihnen, auch wenn der von Ihnen verwendete Begriff der Bewachungsunternehmen gegenüber
dem, was diese bewaffneten Sicherheitsteams bei Piratenangriffen an Bord leisten müssen, äußerst verniedlichend ist. Auch wird erst die Rechtsverordnung zum
Gesetz zeigen, wie ernst Sie es mit der Regulierung tatsächlich meinen. Und da ist es für uns sehr unverständlich, dass Sie sich bisher weigern, uns Einzelheiten über
die von Ihnen geplanten Zulassungserfordernisse mitzuteilen. Die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zum
Thema grenzen schon hart an eine Missachtung des parlamentarischen Fragerechts.
So antworten Sie auf die Frage, ob für eine Zulassung
Kenntnisse des Sicherheitspersonals zu Menschenrechten nachzuweisen sind, dass das Sicherheitspersonal die
Menschenrechte einhalten müsse.
Sie lassen uns im Unklaren, wie Sie bei Ihrem unternehmensbezogenen Ansatz sicherstellen wollen, dass
das von den Unternehmen eingesetzte Bewachungspersonal über die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt. Die Kriterien der International Maritime
Organization, IMO, sind zwar eine gute Grundlage.
Aber durch welche konkreten Unterlagen sollen sie belegt werden? Die Frage stellt sich vor allem bei ausländischen Unternehmen und vor allem vor dem Hintergrund, dass Sie nicht beabsichtigen, Vor-Ort-Kontrollen
durchführen zu lassen. So laufen Sie Gefahr, dass Ihr Zulassungsverfahren zu einem zahnlosen Papiertiger wird.
Sie wissen ja, Papier ist geduldig. Oder wollen Sie nur
die deutschen Sicherheitsunternehmen kontrollieren?
Als Ergebnis würde dieses Arbeitsfeld wohl ausländischen Sicherheitsunternehmen überlassen bleiben, die
sich effektiver Kontrolle entziehen.
Mir ist daher nicht klar, warum Sie sich bei all unseren Nachfragen immer wieder weigern, klare Zulassungskriterien auf europäischer Ebene zu entwickeln.
Dann hätten wir wenigstens auf dem europäischen
Markt klare Regelungen. Ich möchte an dieser Stelle
auch auf den International Code of Conduct for Private
Security Service Providers, ICoC, hinweisen. Auch wenn
sich bei dieser Selbstverpflichtung die Frage stellt, wie
ihre Einhaltung überprüft werden kann; sie zeigt jedoch,
dass sich die dazugehörigen Unternehmen zumindest
mit wichtigen menschen- und völkerrechtlichen Aspekten ihrer Arbeit auseinandergesetzt haben.
Wir hoffen, dass Sie uns in den anstehenden Ausschussberatungen mehr Details zum geplanten Zulassungsverfahren geben werden.
Aber nun zu dem, was man Ihrem Gesetzentwurf bereits entnehmen kann. Es beruhigt mich, dass Sie immer
wieder klarstellen, dass es keine Aufweichung des Waffenrechts geben wird. Weiterhin begrüßen wir, dass Sie
in dem Gesetzentwurf deutlich machen, dass die
Bordrechte des Kapitäns unangetastet bleiben. Eine
wichtige Klarstellung ist auch, dass die bewaffneten Sicherheitskräfte an Bord bei der Abwehr von Piraten auf
die Jedermannsrechte wie Notwehr, Notstand und
Selbsthilfe beschränkt sind. Ich wüsste allerdings gern,
wie Sie sicherstellen wollen, dass ausländische Sicherheitskräfte darüber informiert sind, was in Deutschland
unter „Jedermannsrechte“ fällt.
Etliche Fragen bleiben auch weiter noch offen: Wie
werden die Waffen des Sicherheitspersonals an Bord
verwahrt? Wie wird verhindert, dass sich das Sicherheitspersonal schwere Waffen aus schwimmenden Waffendepots besorgt?
Wichtig ist uns auch, dass die Dokumentationspflichten ausreichend ausgestaltet werden. Es muss möglich
sein, Zwischenfälle hinreichend nachzuverfolgen. Hier
sollte uns der Fall der in Indien verhafteten italienischen Soldaten zu denken geben, die beim Schutz eines
Zu Protokoll gegebene Reden
italienischen Frachters indische Fischer, die sie für Piraten hielten, erschossen. Ein Austausch dieser Dokumentationen könnte zudem im Rahmen der International
Maritime Organization wichtige Erkenntnisse im Kampf
gegen die Piraterie liefern.
Wir unterstützen jeden Schritt, der dazu führt, dass
klarere Regeln für die deutsche Sicherheitswirtschaft,
ihrem sensiblen Tätigkeitsfeld entsprechend aufgestellt
werden. Wir hoffen, dass die anstehende Rechtsverordnung, die die Zulassungskriterien für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen regeln soll, in diese Richtung
weist. Wir appellieren aber an Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalition: Bleiben Sie nicht dabei stehen! Nehmen Sie unsere Vorschläge auf! Sorgen Sie für
mehr Qualität im Sicherheitsgewerbe, indem Sie in der
Gewerbeordnung sicherstellen, dass es nicht dem Zufall
überlassen bleibt, ob im Sicherheitsgewerbe Zuverlässigkeit und Geeignetheit die grundlegenden Maßstäbe
darstellen! Die Vorlage dieses Gesetzentwurfs ist das
Eingeständnis einer Regelungslücke, die lange geleugnet wurde. Zur Schließung dieser Regelungslücke bedarf
es allerdings erheblich mehr, als der heute vorliegende
Entwurf leistet.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10960 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Remmers, Kersten Steinke, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bürgerbeteiligung stärken - Petitionsrecht
ausbauen
- Drucksache 17/10682 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})RechtsausschussPetitionsausschussInnenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Das Petitionsrecht hat sich in unserem Land bewährt
und hilft, Politikverdrossenheit abzubauen. Wir verstehen uns als Anlaufpunkt für viele Bürgerinnen und Bürger, die Sorgen und Nöte haben und für die Lösung ihres
Problems Hilfe benötigen.
Die Arbeit des Petitionsausschusses ist gerade im
Hinblick auf die Fortentwicklung im Bereich der öffentlichen Petitionen seit dem Jahr 2005 eine Erfolgsgeschichte. Inzwischen werden monatlich zwischen
30 und 80 neue Petitionen im Internetportal eingestellt.
Durch die Veröffentlichung im Internet werden einer
breiten Öffentlichkeit Themen von allgemeinem Interesse vorgestellt.
Vor einigen Wochen haben wir an gleicher Stelle den
Jahresbericht 2011 des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages debattiert. Die Diskussionen der
Abgeordneten belegten eindrucksvoll: Die Bürgerinnen
und Bürger haben Vertrauen in unsere Arbeit, und
obwohl es eine Vielzahl von Beauftragten in den verschiedensten Ministerien, Behörden oder Institutionen
gibt, ist die Zahl der Petitionen mit 15 000 bis 18 000 in
den letzten Jahren nahezu gleich geblieben. Im vergangenen Jahr haben den Deutschen Bundestag 15 191 Eingaben und Petitionen erreicht, das heißt täglich etwa
60 Petitionen als Neueingang. Nimmt man die Massenpetitionen aus dem im Internetportal veröffentlichten
Petitionen hinzu, so haben sich etwa 500 000 Bürgerinnen und Bürger am Petitionswesen im Jahr 2011 beteiligt. Die Zahlen belegen eindrucksvoll, dass sich das
Petitionsverfahren bewährt hat. Dort, wo die Abgeordneten Handlungsbedarf sahen, wurde eine Neufassung
unserer Verfahrensgrundsätze vorgenommen und von einer breiten Mehrheit im Ausschuss geteilt.
Die These der Fraktion Die Linke, dass die Petitionen
nicht immer die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen
erreichen, teilen wir nicht. Die Massenpetitionen, die
von allgemeinem öffentlichen Interesse sind und im
Internetportal des Deutschen Bundestages eine breite
Unterstützung erfahren, werden in aller Regel auch in
den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge
begleitet. Die Möglichkeit zur Überweisung in den jeweiligen Fachausschuss gibt uns § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Danach holt der
Petitionsausschuss eine Stellungnahme der Fachausschüsse ein, wenn die Petitionen einen Gegenstand der
Beratung in diesen Fachausschüssen betreffen. Die
Empfehlungen der Fachausschüsse fließen dann in die
Bearbeitung der Petitionen mit ein und helfen uns bei
den entsprechenden Votierungen.
Das Argument der Fraktion Die Linke in ihrem Antrag, der Grad des öffentlichen Interesses an einem
Thema kann leicht über die Zahl der Mitzeichnenden gemessen werden, lehnen wir ab. Bei der hier geführten
Diskussion darf der Einzelfall des „kleinen“ Bürgers
ohne Unterstützung aus dem Internet nicht ins Hintertreffen geraten. Die Mehrzahl der Petitionen eignen sich
eben nicht für eine breite öffentliche Diskussion im
Internet. Das Grundgesetz mit seinem Grundrecht in
Art. 17 verpflichtet uns Mitglieder des Petitionsausschusses, das Anliegen des Einzelnen besonders im Auge
zu behalten. Schon jetzt beobachten wir eine zunehmende Instrumentalisierung der öffentlichen Petitionen
durch Verbände und Lobbyisten. Schon jetzt bietet das
Instrument der öffentlichen Petitionen hier den Verbänden ein Podium, der Diskussion politischen Nachdruck
zu verleihen. Dem Ansinnen der Fraktion Die Linke,
diese Entwicklung noch auszubauen, würde dem Anliegen des einzelnen Petenten und seinem Grundrecht in
Art. 17 GG widersprechen. Die Behandlung einer Petition im nichtöffentlichen Petitionsverfahren ist keine
zweitrangige Bearbeitung. Für mich ist jede Petition,
jedes Anliegen gleichwertig, und ich möchte bei meiner
Petitionsbearbeitung keinerlei Unterscheidung zwischen öffentlicher und nichtöffentlicher Petition machen. Auch würde eine noch stärkere Bedeutung von
Quoren aus meiner Sicht das Individualgrundrecht aus
dem Grundgesetz noch weiter in den Hintergrund drängen. Wir als Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion messen auch den Wert einer Petition nicht nach der Anzahl
der Unterstützer.
Zusammenfassend möchte ich klarstellen: Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich mit den
Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfällen zu beschäftigen und leistet hier eine hervorragende
Arbeit. Für diese Arbeit haben wir gute Instrumente mit
dem Grundgesetz und unseren Verfahrensregeln. Unser
System der Bürgerbeteiligung wird in vielen Ländern
anerkannt, und bei Auslandsreisen hören wir immer wieder hohe Wertschätzung über unser Petitionswesen. Ich
erkenne keinen Grund, unser bewährtes System zu verändern oder ein Petitionsgesetz neu zu schaffen. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab.
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein
sehr gutes und bürgernahes Petitionsrecht, das sich in
den letzten Jahrzehnten bewährt hat, weshalb der hier
vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen
ist.
Der sukzessive Ausbau des Petitionswesens in
Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, die weltweit
Beachtung findet und auf reges Interesse stößt. Mit der
Einführung der sogenannten Onlinepetitionen im September 2005 haben wir die direkte Bürgerbeteiligung als
Teil des Petitionsrechtes weiter gestärkt. Seitdem können die Bürgerinnen und Bürger schnell und unkompliziert über das Internet Petitionen einreichen oder mitzeichnen, aber auch im Internet veröffentlichte
Petitionen diskutieren. Mehr als 5 000 Petitionen, das
sind rund ein Drittel aller eingereichten Petitionen, wurden im Jahr 2011 über das Webformular auf der Internetseite des Deutschen Bundestages eingereicht. Auch
die rege Beteiligung der Nutzer der Internetplattform
des Deutschen Bundestages in der Diskussion und Mitzeichnung veröffentlichter Petitionen zeigt, dass wir
über ein leicht zugängliches und unkompliziertes Petitionsrecht verfügen, dass einer aktiven Bürgerbeteiligung in keiner Weise entgegenwirkt.
Das System der E-Petitionen wurde daher auch im
Jahr 2010 durch die Aktion Mensch und die Stiftung Digitale Chancen mit dem Preis „BIENE“ ausgezeichnet.
Ich begrüße es sehr, dass nun auch der Thüringer Landtag das System der elektronischen Petitionen einführt.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ist
Vorbild auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene. In der vergangenen Sitzungswoche trafen sich
Mitglieder des Petitionsausschusses gleich mit zwei Delegationen aus Südafrika und Tadschikistan, die zu Gast
im Deutschen Bundestag waren, um mehr über die
Arbeit des Petitionsausschusses zu erfahren und unsere
Erfahrungen beim Auf- und Ausbau der eigenen Petitionssysteme zu berücksichtigen.
Gerade kehren wir von einer Delegationsreise des
Petitionsausschusses aus der Türkei zurück. Auch dort
zeigte man ein großes Interesse am deutschen Petitionssystem. Ich bin mir sicher, dass auch unsere türkischen
Kollegen zahlreiche Anregungen aus unserem Erfahrungsaustausch annehmen und das türkische Petitionsrecht weiter verbessern werden.
Beim Austausch mit unseren internationalen Kollegen, sei es nun im Rahmen der europäischen oder weltweiten Ombudsmannkonferenzen, stelle ich immer wieder fest, dass unser deutsches Petitionssystem für viele
Parlamente dieser Welt Vorbildcharakter besitzt. Das
bestehende Petitionsrecht hat sich in Deutschland bewährt.
Dies hat sich auch bei der Neufassung der Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses im vergangenen November gezeigt, die von einer breiten Mehrheit
getragen worden ist.
Die Darstellung unseres Petitionssystems im Antrag
der Linken ist realitätsfern. So heißt es in der Begründung des Antrages, die Petitionsanliegen erreichten
nicht die zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker. Dies ist schlichtweg falsch. Für die öffentlichen
Anhörungen des Petitionsausschusses werden häufig die
zuständigen Fachpolitiker als stellvertretende Mitglieder des Petitionsausschusses für ihre Fraktionen benannt, um an der Beratung der Petitionen teilzunehmen.
Nicht selten werden Petitionsanliegen aufgrund des
§ 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen, um
in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung finden zu können. Auch ohne die zwingende
Notwendigkeit einer Überweisung nach §109 der Geschäftsordnung überweist der Petitionsausschuss eine
Vielzahl der eingereichten Petitionen zur Mitberatung
und Abgabe einer Stellungnahme an die zuständigen
Fachausschüsse.
Nicht umsonst setzt sich der Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages aus einer bunten Mischung von
Fachpolitikern aus jedem Bereich zusammen. Als Berichterstatter setze ich mich beispielsweise überwiegend
mit Petitionen auseinander, die aus meinem Fachgebiet
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stammen. Die Kollegen aus dem Bereich Arbeit und Soziales kümmern sich
überwiegend um Petitionen, die das SGB betreffen usw. Bei der Bearbeitung von Petitionen bringt also jeder von uns seine eigene Fachexpertise ein.
Oft genug tragen wir als Mitglieder des Petitionsausschusses schnell und unbürokratisch Themen in unsere
Arbeitsgruppen und Fachausschüsse oder suchen das
persönliche Gespräch mit den zuständigen Kollegen.
Diese Praxis hat sich grundsätzlich bewährt, um vielen
Bürgerinnen und Bürgern rasch und kompetent zu helfen.
Unser Petitionsrecht muss sich auch weiterhin auf die
Einzelanliegen der Bürgerinnen und Bürger fokussieren.
Es handelt sich hierbei um das Kerngeschäft des Petitionsausschusses. In vielen Fällen kann der Petitionsausschuss schon durch das Einholen einer StellungZu Protokoll gegebene Reden
nahme bei den zuständigen Behörden Abhilfe schaffen,
da die Behörden vor Ort noch einmal genau prüfen, ob
sie ihren Ermessensspielraum angemessen ausgeschöpft
haben. Der Argumentation des Antrages, der Grad des
öffentlichen Interesses an einem Thema könne leicht
über die Zahl der Mitzeichnenden gemessen werden,
kann nicht gefolgt werden. Dies war sicherlich auch
nicht die Intention der Mütter und Väter des Grundgesetzes, als sie in Art. 17 des Grundgesetzes das Petitionsrecht für jedermann verankerten. Denn grundsätzlich kann sich jeder in Deutschland mit jedem Thema an
den Petitionsausschuss des Bundestages wenden, unabhängig von seinem Alter, seiner Staatsangehörigkeit und
seinem Wohnort. Das Petitionsrecht gilt also für Kinder
und für Erwachsene, für Ausländer und für Deutsche.
Das Anliegen einer Einzelperson kann von einem sehr
viel größeren öffentlichen Interesse sein als ein Anliegen, das eine Vielzahl von Mitzeichnern besitzt.
Einer zunehmenden Instrumentalisierung des Petitionswesens durch große Verbände sollten wir daher im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihren
zum Teil sehr persönlichen Anliegen an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages wenden, durch
eine Behandlung von sogenannten Massenpetitionen im
Plenum des Deutschen Bundestages nicht weiter Vorschub leisten, zumal durch unsere öffentlichen Ausschusssitzungen Petitionen von öffentlichem Interesse
bereits eine geeignete Plattform, um den Gegenstand einer Petition darzustellen und zu diskutieren, besitzen.
Der Wert einer Petition darf sich nicht allein durch
die Zahl der Unterstützer bemessen. Verbandsarbeit
muss Verbandsarbeit bleiben und darf nicht das bürgernahe Petitionswesen unterwandern.
Zusammenfassend betrachtet möchte ich noch einmal
betonen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
über ein sehr gutes Petitionswesen verfügen, das seiner
Aufgabe, sich den einzelnen Bitten und Beschwerden der
Menschen anzunehmen, mehr als gerecht wird. Daher
ist der Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Das Petitionswesen ist ein ganz besonders wichtiger
Teil unseres demokratischen Systems. Wir sollten immer
wieder darüber nachdenken, wie wir das Petitionswesen
und damit die direkten Einflussmöglichkeiten der Menschen auf unser Parlament und seine Entscheidungen
stärken können. Leider eignet sich jedoch der von der
Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu nicht. Sie
fordert die Bundesregierung dazu auf, ein Petitionsgesetz vorzulegen, welches die Behandlung von Massenund Sammelpetitionen im Plenum und in den zuständigen Fachausschüssen vorsieht.
Das Recht, Bitten und Beschwerden an den Bundestag zu richten, ist im Grundgesetz verankert. Für die
Frage, wie der Bundestag bestimmte Anliegen und Vorhaben bearbeitet und wie er seine Arbeitsabläufe intern
organisiert, gibt er sich selbst am Anfang jeder Legislaturperiode eine Geschäftsordnung. In Abschnitt IX der
GO-BT „Behandlung von Petitionen“ werden die Zuständigkeit des Petitionsausschusses, die Überweisung
von Petitionen, die Rechte des Petitionsausschusses, die
Übertragung von Befugnissen auf einzelne Petitionsausschussmitglieder sowie das Abfassen von Beschlussempfehlung und Bericht des Petitionsausschusses geregelt.
Die Befugnisse des Petitionsausschusses, Akten einzusehen, Auskünfte einzufordern und Amtshilfe zu verlangen, sind im Gesetz nach Art. 45 c GG, dem sogenannten Befugnisgesetz, festgelegt.
Das eigentliche Petitionsverfahren regelt der Ausschuss selbst, indem er nach § 110 Abs. 1 GO-BT Grundsätze über die Behandlung von Bitten und Beschwerden
aufstellt.
Vor diesem Hintergrund finde ich als Sprecherin für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung der
SPD-Bundestagsfraktion die Aufforderung der Fraktion
Die Linke an die Bundesregierung, ein Petitionsgesetz
vorzulegen, äußerst bedenklich. Die Abgeordneten sollten die Abläufe des Parlaments auch zukünftig unbedingt selbst bestimmen - dazu bieten Geschäftsordnung
und Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses genügend Möglichkeiten.
Ich begrüße es aber, dass Sie mit Ihrem Antrag dieses
Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. Es gibt
viele Stellen, an denen wir das Petitionswesen und den
Ablauf des Verfahrens noch verbessern könnten. Ein
wichtiger Punkt ist nach wie vor die lange Bearbeitungszeit. Meine Fraktion hat sich bereits für die Einführung der gleichzeitigen Berichterstattung eingesetzt.
Wir werden sehen, welche Verbesserungen durch dieses
Instrument in Zukunft erzielt werden. Teilweise werden
die Berichterstattungen absichtlich verzögert, was jedoch vertretbar ist, wenn dies im Interesse der Petenten
geschieht. Nicht vertretbar ist es, wenn die Verzögerungen auf Unstimmigkeiten innerhalb einer Fraktion oder
Koalition bzw. auf die Untätigkeit der Bundesregierung
zurückzuführen ist.
In dieser Woche haben wir in einer öffentlichen Sitzung endlich das Thema Vorratsdatenspeicherung beraten. Bereits letztes Jahr um diese Zeit hatte die dazugehörige öffentliche Petition 64 704 Mitzeichnungen
erreicht. Dreimal haben die Oppositionsparteien im Petitionsausschuss versucht, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Sie wurden jedesmal von CDU/CSU und
FDP blockiert. Die Regierungskoalition wollte eine öffentliche Debatte so lange wie möglich vermeiden, da
sie nach wie vor keine gemeinsame Position zu dem
Thema vorweisen kann. Hier brauchen wir Mechanismen, die sicherstellen, dass eine Beratung zeitnah
durchgeführt wird und Themen nicht ausgesessen werden können.
Unsere Demokratie braucht kritische und strittige öffentliche Debatten. Das Einreichen von Onlinepetitionen und deren öffentliche Beratung im Parlament ist
hierfür ein ausgezeichnetes Instrument, das wir weiter
ausbauen und verbessern sollten.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich bereits seit
Jahren für die Einführung direktdemokratischer EleZu Protokoll gegebene Reden
mente auf Bundesebene ein. Auf Länder- und Kommunalebene sehen die Verfassungen der Bundesländer Bürgerentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen
vor. In der Europäischen Union ist die Einführung der
Europäischen Bürgerinitiative in Vorbereitung. Auf Bundesebene fehlt ein vergleichbares plebiszitäres Element.
Deshalb finde ich jeden Antrag positiv, der mehr Bürgerbeteiligung fordert. Aber gut gemeint ist nicht immer
auch gut gemacht. Und das erkennt man bei diesem Antrag der Fraktion Die Linke „Bürgerbeteiligung stärken
- Petitionsrecht ausbauen“, Drucksache 17/10682.
Der Petitionsausschuss wirkt überwiegend im Verborgenen. Er ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, sich mit ihren Bitten und Beschwerden unmittelbar
und direkt an die Volksvertretung zu wenden. Jedermann
kann seine Anliegen schriftlich an den Petitionsausschuss richten. Das Petitionsverfahren ist in den
§§ 108 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, GO-BT, in den Grundsätzen des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden, Verfahrensgrundsätze, und in der Anlage zu
Ziffer 7.1 ({0}) Verfahrensgrundsätze, Richtlinie für die
Behandlung von öffentlichen Petitionen, öP, geregelt.
In dem Antrag der Linken soll ein Entwurf für ein Petitionsgesetz durch die Bundesregierung vorgelegt werden, der unter anderem die Behandlung von Massenund Sammelpetitionen im Plenum und in den zuständigen Fachausschüssen vorsieht. Das Parlament soll
das Petitionsrecht also aus seinen Händen in die Hände
der Regierung geben. Das unterstützen wir Liberale
nicht. Das Petitionswesen ist einer der parlamentarischen Grundpfeiler des Parlaments. Als Seismograph
der Gesellschaft können Massenpetitionen Fehlentwicklungen anzeigen und politische und mediale Prozesse in
Gang setzen. Der Petitionsausschuss kann dann auf die
Begehren der Petenten und Petentinnen schnell reagieren. Das geht aber nur, wenn das Petitionsrecht in der
Hand des Parlamentes bleibt. Denn nur so kann garantiert werden, dass das Verfahren reibungslos verläuft
und sich selbstständig an neue Gegebenheiten anpasst.
Aber in Ihrem Antrag der Fraktion Die Linke steckt
auch eine gute Idee. Ich stimme mit Ihnen überein, dass
die gegenwärtigen Regelungen zum Petitionsrecht nicht
ausreichen. Weil die Demokratie ein ständiges „Stirb
und werde“ ist, ist der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung
in aller Munde. Aufgrund der neuen Medien wird es
auch immer einfacher und wünschenswerter, die Bürger
durch innovative Art und Weise am Staat teilhaben zu
lassen. Der Bildungsstand der Menschen, ihre Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, nicht zuletzt
unter Nutzung moderner Medien, erlauben ein vielfaches Mehr an Zusammenwirken. 79 Prozent der Deutschen sind einer aktuellen Umfrage zufolge für mehr
Mitbestimmung.
Daher wollen wir Liberalen nicht nur die repräsentative parlamentarische Demokratie weiterentwickeln,
sondern auch die direkte Demokratie. Wir wollen nicht
einfach nur entweder parlamentarische oder direkte Demokratie, sondern eine Verknüpfung der beiden, wir
wollen ein Ineinandergreifen, eine Verzahnung.
In der 16. Legislaturperiode trat der Petitionsausschuss mit der Einrichtung öffentlicher Petitionen etwas
stärker ins Rampenlicht. Seither können Petitionen auf
einer eigenen Homepage des Petitionsausschusses unterstützt werden, in Diskussionsforen können die Bürger
an der Meinungsbildung mitwirken. Die Petitionsseiten
des Bundestages erzielen die höchsten Zugriffszahlen
aller Webseiten des Parlaments. Sechs Petitionen fanden
über 100 000 Unterstützer, zahlreiche weitere immerhin
noch über 50 000 Mitzeichner. Findet eine öffentliche
Petition bei Einreichung oder innerhalb von drei Wochen nach der Einreichung mindestens 50 000 Unterstützer, kann eine öffentliche Anhörung des Hauptpetenten im Petitionsausschuss stattfinden, wenn der
Ausschuss nicht mit Zweidrittelmehrheit etwas anders
beschließt.
Die FDP will nun einen weiteren Schritt tun. Nach
dem Willen der FDP sollen Petitionen im Rahmen des
Bürgerplenarverfahrens, die bei ihrer Einreichung oder
innerhalb von zwei Monaten seit Einreichung von mindestens 100 000 Menschen unterstützt werden, öffentlich
in einer Bürgerstunde im Plenum debattiert und zur
anschließenden Beratung in die zuständigen Fachausschüsse überwiesen werden. Erst nach dieser „Ehrenrunde“ sollen diese Petitionen in die öffentliche Anhörung des Hauptpetenten im Petitionsausschuss münden.
Abschließend werden die Petitionen vom Fachausschuss
zusammen mit einer inhaltlich begründeten Stellungnahme zurück an den Petitionsausschuss überwiesen,
wo die Petition gemäß Art. 45 c Grundgesetz abschließend beraten und behandelt wird.
In Zeiten, in denen es Mode geworden ist, sich von
den Parteien, der Politik und sogar der Demokratie
selbst abzuwenden, will sich das Parlament mit dieser
Geste den Menschen stärker zuwenden. Die Erweiterung des Petitionsverfahrens durch die Einführung des
Bürgerplenarverfahrens ermöglicht es Bürgerinnen und
Bürgern, Themen von öffentlichem Interesse direkt auf
der Tagesordnung des Plenums zu platzieren. Die Bürger sollen stärker in die parlamentarischen Vorgänge
eingebunden, ihre Themen unmittelbar den Weg ins Plenum des Deutschen Bundestages, die Kronkammer unserer parlamentarischen Demokratie, finden können. Es
macht in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unterschied, ob eine Bundestagsfraktion oder ob 100 000
Bürger eine Debatte auf die Tagesordnung einer Sitzungswoche bringen. Die Anliegen der Bürger werden
nicht im Schatten dunkler Ausschusssitzungssäle beraten, sondern unter dem Sonnenlicht der Reichstagskuppel. Diese Änderungen bewirken ein Stück unmittelbarer
Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist schon heute eines der transparentesten und durchsichtigsten Parlamente der Welt - in seiner Architektur und in seinen Verfahrensweisen. Er wird jetzt auch permeabler und
durchlässiger für die Bitten und Beschwerden der Menschen. Und dabei ist, wie gezeigt, die Idee so neu nicht:
Der Bundestag kehrt mit diesen Änderungen zu seinen
Wurzeln zurück.
Bei unserer Initiative bleibt das ureigene Recht der
Petitionen das Recht des Parlamentes. Der vorgeschlagene Weg erscheint als geeignete Möglichkeit, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Vorzüge der parlamentarischen Demokratie mit den
Vorzügen der direkten Demokratie zu paaren. Das Bürgerplenarverfahren setzt den im Jahr 2005 mit der Einführung der öffentlichen Petition beschrittenen Weg
konsequent fort und trägt bereits Züge eines Volksinitiativrechtes. Die Anregung wird aus der Mitte der Gesellschaft geboren, die Befassung und Beschlussfassung findet aber auf der parlamentarischen Ebene statt und
garantiert jenes Maß an Transparenz und Beteiligung
der betroffenen Kreise, die sich in der über 60-jährigen
Verfassungswirklichkeit unseres Landes herausgebildet
haben. Dabei wird die parlamentarische Behandlung aller anderen Petitionen wie bisher dadurch nicht verschlechtert.
Der vorliegende Antrag „Bürgerbeteiligung stärken - Petitionsrecht ausbauen“ kann dieses nicht sichern. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der
Fraktion Die Linke ab.
Es ist keine große Neuigkeit, dass Koalitionsverträge
mitunter nicht eingehalten werden. Schließlich verändern sich ja manchmal auch die äußeren Umstände, sodass die Politik schnell reagieren muss. Deswegen begrüße ich zum Beispiel auch den Ausstieg aus der
Kernenergie. Im Koalitionsvertrag war ja noch die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke vorgesehen. Ich frage mich allerdings, warum in der schwarzgelben Koalition die Angst vor der eigenen Bevölkerung
so schnell zugenommen hat, dass nicht mal die guten
Absichten zur besseren Bürgerbeteiligung und der Ausweitung des Petitionsrechts umgesetzt werden. Leider
lesen nicht alle Journalisten und interessierten Bürger
am Ende einer Legislaturperiode dieses 133 Seiten
starke Märchenbuch, um mal zu schauen, wie viele Vorhaben denn still und heimlich begraben worden sind.
Deswegen gibt es auch heute unseren Antrag.
Sie haben versprochen, das Petitionsrecht zu erweitern. Massenpetitionen mit mehreren Tausend Mitzeichnenden sollen auch im Plenum debattiert und in den
Fachausschüssen beraten werden, ein guter Plan.
Manchmal ist die Schwarmintelligenz der Bürgerinnen
und Bürger dem Gespür von uns Politikerinnen und
Politikern nämlich doch überlegen. Oder welche Fraktion hat das Thema Hebammenvergütung vor dem Eingang der fast 200 000 Unterschriften in einen der Ausschüsse gebracht? Warum diskutieren wir hier nicht mal
fraktionsübergreifend die Ideen für ein Grundeinkommen? Warum kann sich die Regierung um eine klare
Position zur GEMA herumdrücken? Weil es dazu keine
ordentliche Aussprache gibt, wo die Parteien und die
Regierung Farbe bekennen müssen und die vielen Tausend Petentinnen und Petenten die Debatte mitverfolgen
können.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde die öffentlichen Sitzungen des Petitionsausschusses zu den Massenpetitionen natürlich richtig. Wir können die Regierung
zu ihren Positionen befragen, aber es wird viel zu oft abgewiegelt, verschoben, verschleppt, und am Ende fühlt
sich kein Bürger ernst genommen, der sich für ein
Thema interessiert und engagiert. Schließlich dauert es
meistens mehrere Monate bis Jahre, bis der Ausschuss
nach einer Anhörung die Petition abstimmt und eine
Antwort der Regierung dazu vorliegt.
Stellen Sie sich vor, es gäbe zumindest eine halbe
Stunde Aussprache im Plenum zur Kernzeit, in der das
Anliegen von mehr als 50 000 Unterzeichnenden debattiert wird. Wäre das nicht ein hervorragender Bestandteil für mehr direkte Demokratie? Selbst wenn keine der
Fraktionen das Petitionsanliegen unterstützen würde,
dann kann das zumindest in den Reden dazu schlüssig
begründet werden. Was glauben Sie, wie intensiv die
Menschen die Anträge der Fraktionen in einem Fachausschuss lesen würden, die sich inhaltlich auf eine
Massenpetition beziehen? Deswegen ärgert es mich so,
dass die guten Absichten bei der Änderung der Verfahrensgrundsätze einfach unter den Tisch gefallen sind.
Der Kollege Thomae hatte per Pressemitteilung noch im
Juni 2011 angekündigt, dass die FDP-Fraktion für die
Behandlung von Massenpetitionen im Plenum und den
Fachausschüssen stimmen wird. In den Obleuteberatungen war dann plötzlich keine Rede mehr davon. Hat da
vielleicht der größere Koalitionspartner kalte Füße bekommen? Das ist mehr als traurig. Ich schlage den beiden Regierungsparteien folgenden Tausch vor: Die FDP
gibt ihren Widerstand gegen die Finanztransaktionsteuer auf und bekommt dafür die Erweiterung des Petitionsrechts. Glauben Sie mir, das würden die Wählerinnen und Wähler sicher eher honorieren als den
umgekehrten Deal! Und wenn Sie jetzt argumentieren,
dass die Regierung der falsche Adressat für solch einen
Antrag ist, weil er die Parlamentsrechte berührt, dann
kann ich nur antworten: Einem ausformulierten Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Änderung der Geschäftsordnung mit den genannten Inhalten würden wir ganz sicher zustimmen. Leider habe ich wenig Hoffnung, dass
das in dieser Legislaturperiode noch passiert. Wenn sie
nicht mehr Bürgerbeteiligung wollen, dann frage ich
mich nur, warum Sie es vorher in den Koalitionsvertrag
schreiben. Ich nenne das die reine Wählertäuschung.
Petitionen sind heute zu einem unverzichtbaren und
selbstverständlichen Bestandteil zivilgesellschaftlichen
Engagements der Bürgerinnen und Bürger geworden.
Rot-Grün hatte zu Beginn seiner Regierungszeit versprochen, das Petitionsrecht zu einem echten Instrument
politischer Mitbeteiligung für die Bürgerinnen und Bürger auszubauen. Und Rot-Grün hat dieses Versprechen
selbstverständlich gehalten. Insbesondere die von RotGrün gegen heftigen Widerspruch von CDU/CSU und
FDP eingeführten Instrumente der elektronischen und
öffentlichen Petitionen haben zu einer eindrucksvollen
Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger im Petitionsrecht beigetragen.
Ganz anders die jetzige CDU/CSU-FDP-Koalition.
Ginge es nach CDU/CSU und FDP, wäre der Petitionsausschuss auch heute noch immer ein wenig beachteter
Kummerkasten. Es ist peinlich, dass CDU/CSU und
FDP an ihr bisher nicht eingelöstes Versprechen erinZu Protokoll gegebene Reden
nert werden müssen, bei Massenpetitionen eine Behandlung des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundestages unter Beteiligung der zuständigen Ausschüsse zu
ermöglichen. Dabei würde dieser Vorschlag auch unsere
Zustimmung finden. Aber offenbar ist die Regierungskoalition selbst zu kleinsten Reformschritten im Petitionsrecht nicht fähig. Denn die stärkere Beachtung von Massenpetitionen kann nur ein Baustein der Reform des
Petitionsrechts hin zu mehr Offenheit und Bürgerbeteiligung sein.
Grundsätzlich sollten alle Petitionen öffentlich beraten werden. Dass Petitionen von einer öffentlichen Beratung ausgenommen sind, in denen der Petent keine
öffentliche Beratung wünscht, private oder datenschutzrechtliche Belange dem entgegenstehen, ist selbstverständlich. Heute ist es aber Praxis, dass selbst öffentliche Petitionen nichtöffentlich beraten und beschieden
werden. Dies ist absurd und nicht mehr vermittelbar.
Bündnis90/Die Grünen sehen die technischen und
grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts bei
weitem nicht ausgeschöpft. So ist die Frist von vier Wochen zur Mitzeichnung zu kurz, ist das Quorum von
50 000 Mitzeichnern zu hoch.
Bündnis 90/Die Grünen streben darüber hinaus einen
weiteren grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten und eine umfassende Transparenz des Verfahrens für die Bürgerinnen und Bürger im Petitionsrecht
an. Wir sind der Überzeugung, dass eine Stärkung des
Petitionsrechts ein richtiger Weg ist, repräsentative und
teilnehmende Demokratie auf neuartige Weise miteinander zu kombinieren.
Wir wollen darum das Instrument der öffentlichen Petition zu einer wirklich „Offenen Petition“ für die Bürgerinnen und Bürger machen. Petitionen sollten nicht
nur wie bisher gemeinsam im Onlineangebot des Petitionsausschusses diskutiert werden, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereicht werden können.
Diese Bitten zur Gesetzgebung sollten dann auch eine
angemessene Bearbeitung in den Fachausschüssen und
im Plenum finden.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ein Petitionsgesetz vorzulegen. Dies lehnen wir ab. Das Petitionsbehandlungsrecht ist ein Parlamentsrecht. Adressat
einer Petition ist die Volksvertretung, mit Rechten und
Pflichten des Parlamentes. Diese sind im Grundgesetz,
im Befugnisgesetz, in der Geschäftsordnung des Bundestages und in den Verfahrensgrundsätzen niedergelegt
und konkretisiert. Dieses Regelwerk eröffnet dem Parlament und dem Petitionsausschuss genau jene Spielräume und Möglichkeiten, die für flexibles Handeln und
Agieren und letztlich für eine erfolgreiche Arbeit auch
im Härte- und Ermessensfall günstig sind. Notwendige
Änderungen können und sollten in diesem Handlungsrahmen vorgenommen werden. Ein Petitionsgesetz, das
diese Handlungsspielräume einengt und dem Ermessen
Fesseln anlegt, brauchen wir nicht.
Geradezu absurd ist es, die Formulierung eines solchen Gesetzes und der Regularien der Petitionsbearbeitung in die Hände der Regierung zu legen. Das Petitionsrecht ist Instrument zur Kontrolle und Korrektur
der Exekutive durch das Parlament. Das Parlament darf
sich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wie es
zu handeln hat. Das Petitionsrecht gehört in die Hand
der Volksvertretung und nicht in die Finger der Regierung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freiheit für Mumia Abu-Jamal
- Drucksache 17/8916 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})Auswärtiger AusschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke „Freiheit für
Mumia Abu-Jamal“ kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen. Wir möchten juristische Fälle
nicht politisch instrumentalisieren. Dies lehnen wir sowohl im konkreten Fall als auch ganz generell ab. Die
Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das es permanent zu verteidigen gilt. Urteile dürfen nicht politisch
sein, und genauso wenig dürfen sie von der Politik für
politische Zwecke missbraucht werden. Alle politisch
Handelnden sollten die Unabhängigkeit der Justiz als
Teil der Gewaltenteilung anerkennen und respektieren.
Dies gilt nicht nur für unser eigenes Land, sondern auch
für andere Länder und selbstverständlich auch für die
Vereinigten Staaten.
Der Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz eines
jeden Landes ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir
das Strafverständnis einer jeden Rechtsordnung teilen
oder jeden Urteilsspruch für angemessen halten. Die
CDU/CSU lehnt genauso wie jede andere Fraktion des
Hohen Hauses die Todesstrafe ab. Wir sind froh, dass
hierüber in Deutschland ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens besteht. Wir werden auch nicht
müde, diese Rechtsauffassung gegenüber anderen Ländern kundzutun. Dies zeigt auch unser Verhalten in der
Entwicklungspolitik, wo wir Entwicklungshilfe mitunter
von der Abschaffung bzw. der Nichtanwendung der Todesstrafe abhängig machen. Ein weiteres Beispiel sind unsere regelmäßigen Proteste gegenüber der Vollstreckung
von Todesurteilen in China oder dem Iran oder unsere
konsequente Positionierung in dieser Frage gegenüber
den USA und anderen Verbündeten. Wir stehen auch voll
und ganz hinter dem Grundsatz, dass Mitgliedstaat der
EU nur sein kann, wer die Todesstrafe abgeschafft hat.
Diese eindeutige Positionierung gegen die Todesstrafe ist aber etwas völlig anderes, als einzelne Richtersprüche zu beurteilen und per Ferndiagnose Freisprüche zu fordern. Der Deutsche Bundestag kann - und
sollte auch nicht - über Schuld und Unschuld von Mumia
Abu-Jamal entscheiden. Es verwundert mich deshalb,
wie man sich anmaßen kann, in diesem juristisch offensichtlich höchst komplexen Fall über die Ablehnung der
Todesstrafe hinaus Position zu beziehen. Es ist nicht bewiesen, ob es sich im Fall Mumia Abu-Jamal um ein rassistisch motiviertes Urteil handelt. Jahrzehntelanges
Schweigen des Angeklagten wurde von widersprüchlichen Stellungnahmen abgelöst, unterschiedliche Zeugenaussagen wurden gemacht und später widerrufen.
Andere Personen behaupteten, die Mumia Abu-Jamal
zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Dies alles
scheint mir doch ein recht verwirrender juristischer
Sachverhalt zu sein. Ich kann deshalb den Deutschen
Bundestag nur warnen, sich entsprechend zu positionieren. Wir sind kein Gericht, uns stehen nicht die Mittel eines Gerichtes zur Erforschung des Tathergangs zur Verfügung und daher sollten wir uns auch kein Urteil
anmaßen. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftigt dieser
Fall die Gerichte in den Vereinigten Staaten, aber die
Fraktion Die Linke meint, wir könnten ihn per Antrag
hier und heute entscheiden. Mit der CDU/CSU-Fraktion
ist so etwas nicht zu machen.
Wir sollten uns vielmehr darauf beschränken, die
Aussetzung der Todesstrafe durch die Staatsanwaltschaft Philadelphia zu begrüßen. Dies ist meines Erachtens genauso weit wie ein Parlament gehen darf, ohne
die Unabhängigkeit der Justiz anzutasten. Die Frage
„Todesstrafe - Ja oder nein?“ hat nichts mit Schuld
oder Unschuld zu tun. Sie ist keine Frage der angemessenen, gebotenen und verhältnismäßigen Anwendung
des Strafmaßes. Es geht bei ihren Befürwortern und
Gegnern nie nur um einen konkreten Fall. Diese Frage
darf von der Bank des Richters und von der des Staatsanwaltes heruntergeholt werden hinein in die Gesellschaft und damit auch hinein in dieses Haus. Es ist eine
Wertefrage und eine Frage von verfassungsrechtlichem
Ausmaß sowie eine Frage der Menschenrechte und der
Menschenwürde. Zum Glück ist es auch eine Frage, die
in unserer deutschen Werte- und Rechtsordnung schon
seit 1949 entschieden ist. Die Antragsteller darf ich daran erinnern, dass die DDR erst 38 Jahre später, nämlich am 17. Juli 1987, so weit war.
Die CDU/CSU-Fraktion tritt weltweit für die Abschaffung der Todesstrafe ein, und die Bundesregierung
wird nicht müde, dies gegenüber allen Nationen, seien
wir eng mit ihnen verbündet oder nicht, zu betonen.
30 Jahre beschäftigen sich die Gerichte bereits mit dem
Fall Mumia Abu-Jamal. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt wird, nachdem er die Todesstrafe ausgesetzt
hatte, mit folgenden Worten zitiert: „Es gab für mich nie
einen Zweifel, dass Mumia Abu-Jamal den Polizisten
Faulkner erschossen und getötet hat.“ Der Verurteilte
bleibe für den Rest seines Lebens hinter Schloss und Riegel, „und da gehört er auch hin“, so der Bezirksstaatsanwalt weiter. Bei der von mir und meiner Fraktion geforderten Anerkennung der Unabhängigkeit der Justiz
nehme ich diese Wertung zur Kenntnis. Eine Beurteilung
kann ich mir nicht erlauben. Eine Beurteilung sollte sich
keiner von uns erlauben, der nicht mit juristischem
Sachverstand die Akten sorgfältig geprüft und alle Beteiligten gehört hat.
Worüber ich mir aber sehr wohl ein Urteil erlauben
kann, ist die Frage, ob wir eine Person, die von einem
zuständigen Staatsanwalt mit diesen Worten eingeschätzt worden ist, in einer deutschen Gebietskörperschaft zum Ehrenbürger ernennen sollen. Daran ändert
auch nichts die Tatsache, dass die Stadt Paris diesen
Schritt unternommen hat. Die Frage, ob wir den USA
anbieten sollen, Mumia Abu-Jamal in Deutschland Aufnahme zu gewähren, stellt sich für uns nicht. Mit Ehrenbürgerschaften sollten wir vorsichtig umgehen. Mumia
Abu-Jamal gehört sicherlich nicht zu den Personen und
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Taten so
unumstritten waren und sind, dass sie die Verleihung einer Ehrenbürgerschaft rechtfertigen. Die Stadt Paris ist
in ihrer Entscheidung frei, wen sie zum Ehrenbürger
macht und wen nicht. Wir respektieren zwar diese Entscheidung, nachvollziehen aber können wir sie nicht.
Es besteht nach unserer Auffassung überhaupt kein
Grund, den Vereinigten Staaten von Amerika die Aufnahme von Mumia Abu-Jamal anzubieten. Die Todesstrafe gegen den Verurteilten ist ausgesetzt. Damit ist
unsere Hauptforderung erfüllt. Weder Mumia AbuJamal noch sein Opfer noch die Tat als solche oder einer
der Zeugen stehen in irgendeinem Bezug zu Deutschland. Weshalb wir Mumia Abu-Jamal bei uns aufnehmen
sollen, ist für uns als CDU/CSU nicht nachvollziehbar.
Eine fundierte Begründung hierfür bleiben Sie in Ihrem
Antrag schuldig.
Mit Ihrer Forderung nach Freilassung Mumia AbuJamals und Aufnahme in Deutschland zeigen Sie Ihre
wahren Absichten. Es geht Ihnen in erster Linie nicht um
Gerechtigkeit bzw. ein gerechtes Urteil im konkreten
Fall. Ihnen geht es vor allem um die Diskreditierung des
Rechtssystems der Vereinigten Staaten, und es geht Ihnen um die Freiheit für eine Ikone der internationalen
Linken, losgelöst von der Frage „Schuldig oder unschuldig?“. Wir halten das US-amerikanische Rechtssystem gerade wegen der Todesstrafe durchaus für nicht
perfekt. Aber ein Rechtssystem ändert oder reformiert
man nicht, indem man sich Verurteilte herauspickt, mit
denen man politisch auf einer Wellenlänge liegt und sie,
losgelöst von der Frage, ob schuldig oder nicht schuldig, freispricht. Mit einem juristischen Freispruch hat so
eine Entscheidung nichts mehr zu tun. Das ist einzig und
allein ein politischer Freispruch. Deshalb lehnt die
Fraktion der CDU/CSU den Antrag der Linken ab.
Angelika Graf ({0}) ({1}):
„Wie kann ein Staat, der die gesamte Gesellschaft repräsentiert und die Aufgabe hat, die Gesellschaft zu
schützen, sich selbst auf die gleiche Stufe stellen wie ein
Mörder?“ Diese Frage stellte der damalige UN-GeneZu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({2})
ralsekretär Kofi Annan vor zwölf Jahren in New York.
Damals wurde ihm bzw. der UN eine weltweite Petition
mit 3,2 Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafe
überreicht.
Ich kann seinen Worten nur zustimmen: Ein Staat hat
zuvörderst die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu
schützen, ihr höchstes Gut, das Recht auf Leben, zu wahren und die Menschenwürde aller Bürger - dies gilt auch
für Verbrecher - zu verteidigen. Dies ist in zahlreichen
internationalen Übereinkommen festgelegt und bei der
Mehrheit der Staaten Konsens. Und dafür kämpft die
SPD seit langem und wird dies auch weiterhin mit aller
Kraft tun - zuletzt in unserem gemeinsamen Antrag mit
den Grünen „Todesstrafe weltweit abschaffen“ aus dem
Jahr 2010. Ich kann übrigens immer noch nicht verstehen, warum sich die Regierungskoalition damals einem
gemeinsamen Antrag verweigerte. In früheren Legislaturperioden scheiterten solche Initiativen nicht an der
beschämenden Kleinlichkeit einzelner Unionsabgeordneter.
58 Staaten bestrafen derzeit Verbrechen wie Mord,
Vergewaltigung oder Wirtschaftsdelikte mit dem Tod.
25 von ihnen haben bis ins letzte Jahr die Todesstrafe
auch noch vollstreckt. Im Iran steht die Todesstrafe sogar auf das „Verbrechen“ der politischen Meinungsäußerung. Dort wurden im vergangenen Jahr übrigens
auch drei Personen hingerichtet, die ihre Straftraten begingen, als sie noch minderjährig waren. Mancherorts
gilt die Todesstrafe auch für Drogendelikte, und nicht
vergessen sollten wir die Vielzahl von Todesurteilen
nach dem Scharia-Recht: wegen Homosexualität, Ehebruchs oder Apostasie, also dem Abfall vom angeblich
„wahren“ Glauben.
Im März dieses Jahres hat Amnesty International seinen Bericht „Todesstrafen und Hinrichtungen 2011“
veröffentlicht. China belegt den grausamen ersten Platz.
Wie viele Menschen jährlich exekutiert werden, ist nicht
ganz klar. Amnesty schätzt ihre Zahl auf mehrere Tausend. Der Iran mit 360 Hinrichtungen, Saudi-Arabien
mit 82 und der Irak mit 68 Hinrichtungen - allein im
vergangenen Jahr - folgen auf den Plätzen danach.
Als einziges westliches Land halten die USA, bzw. 34
ihrer 50 Bundesstaaten, an der Todesstrafe fest. Positiv
anzuerkennen ist aber, dass Illinois im vergangenen
Jahr die Todesstrafe abschaffte und der Gouverneur von
Oregon, John Kitzhaber, verkündete, dass er während
seiner Amtszeit in seinem Bundesstaat keine weitere
Hinrichtung zulassen werde.
Dennoch belegten die USA mit 43 Hinrichtungen im
letzten Jahr den fünften Platz der Liste. Nach den Angaben des Death Penalty Information Center saßen im April 2011 3 222 Personen im Todestrakt. Und dazu kommen 78 weitere, denn die US-amerikanischen Richter
verhängten in 78 Fällen erneut die Todesstrafe. Viele der
Verurteilten sitzen mehrere Jahre, manche jahrzehntelang, im Todestrakt. Die Justiz hält es dabei nicht für nötig, ihnen mitzuteilen, wann die Strafe vollstreckt werden
wird. Das ist eine unmenschliche Behandlung und meiner Meinung nach psychische Folter.
Besonders bedrückt mich die Tatsache, dass die USA
einerseits in der Spitzengruppe der Todesurteile sind
und andererseits als Vertreter der sogenannten aufgeklärten westlichen Welt global für die Entwicklung von
Menschenrechten und Demokratie eintreten wollen. Das
macht es auch für uns schwerer, weiterhin glaubwürdig
für die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe einzutreten.
Zuletzt sorgten die Fälle der zwei in den USA inhaftierten Afroamerikaner Troy Davis und Mumia AbuJamal für mediale Aufmerksamkeit und Empörung. In
beiden Fällen bestehen erhebliche Zweifel an ihrer
Schuld.
Der hier diskutierte Antrag der Linken widmet sich
Mumia Abu-Jamal und fordert die Freilassung des Verurteilten. 30 Jahre zieht sich nun bereits der Prozess um
den afroamerikanischen Journalisten hin. 1982 wurde
er wegen des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner
zum Tode verurteilt. Seit letztem Jahr steht nun fest:
Mumia Abu-Jamal wird nicht hingerichtet. Das Todesurteil wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Das macht deutlich, wie wichtig internationaler
Druck in diesen Fragen ist.
Die Schuldfrage ist aber immer noch nicht eindeutig
geklärt. Immer wieder wurden neue Zeugen angehört,
alte Zeugen revidierten ihre Aussagen oder behaupteten
im Nachhinein, von der Polizei erpresst worden zu sein.
Er selber hatte seine Unschuld immer wieder beteuert,
sich jedoch erst einige Jahre nach dem Vorfall überhaupt dazu geäußert. Unsere Forderung kann nur sein,
endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen.
Sicher ist nämlich: Die internationalen Standards für
ein faires Gerichtsverfahren wurden nicht eingehalten.
Um die mageren Fakten herum entbrannte in den letzten
30 Jahren ein hochpolitisierter Glaubenskampf entlang
ideologischer Fronten. Es wurde von Justizwillkür und
Rassismus gesprochen. Dabei mag es ja durchaus sein,
dass dies die treibenden Gründe im Prozess und für die
Verurteilung gewesen sind. Das Problem allerdings ist:
Es kann bislang anscheinend nicht wirklich nachgewiesen werden. Und deshalb kann ich Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrer Forderung, die
Verantwortlichen für rassistisch motivierte Urteile zur
Rechenschaft zu ziehen, nur ausdrücklich unterstützen.
Allerdings wird das ohne einen entsprechenden Nachweis nicht gelingen.
Die Umwandlung der Todesstrafe von Mumia AbuJamal in eine lebenslange Haft ist zu begrüßen - so bitter allerdings eine solche Strafe für einen ist, der seine
Schuld bestreitet. Dies eröffnet aber die Chance für die
USA, den Fall ehrlich aufzuarbeiten, daraus zu lernen
und Konsequenzen zu ziehen.
Etwas unlogisch erscheint mir Ihr Antrag bezüglich
der Forderungen zwei und drei. Hier fordern Sie zum einen die Freilassung von Mumia Abu-Jamal - Sie gehen
also von seiner Unschuld aus. Zum anderen bieten Sie
im nächsten Punkt an, Mumia Abu-Jamal in Deutschland aufzunehmen - als Verurteilten; hier gehen Sie also
von seiner Schuld aus. Diesen Widerspruch sollten Sie
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({3})
vielleicht bis zur nächsten Lesung noch einmal intern
diskutieren.
Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia AbuJamal macht mir aber Mut. Genauso wie die weltweiten
Stimmen, die seit einigen Jahren verstärkt gegen die Todesstrafe laut werden. Vielleicht gibt es ja Hoffnung auf
eine aufgeklärte Debatte über diese steinzeitliche Bestrafungsmethode. Wir können erfreut feststellen, dass
sich weltweit immer mehr Politiker, Präsidenten, Minister und Richter gegen diese grausame Form der Bestrafung aussprechen und dass die Anzahl der Länder, die
die Todesstrafe verhängen und vollstrecken, laut Amnesty-Bericht zurückgeht.
Allerdings - und das ist das Wasser im Wein der
Freude - nehmen die nackten quantitativen Zahlen eine
gegenläufige Entwicklung. Insgesamt ist die Anzahl der
offiziell registrierten Vollstreckungen angestiegen von
527 in 2010 auf 676 in 2011. Dies ist vor allem auf den
deutlichen Anstieg von Hinrichtungen im Mittleren Osten, im Irak, im Iran und in Saudi-Arabien zurückzuführen. Die Zahlen aus China - geschätzte mehrere Tausend
im Jahr - sind da allerdings nicht dabei.
Ich möchte noch einmal mein Eingangszitat von Kofi
Annan in Erinnerung rufen: Ein Staat, der die Todesstrafe durchführt, stellt sich auf die gleiche Stufe wie
ein Mörder. - Daher appelliere ich an die Bundesregierung, sich in kommenden Gesprächen mit der US-Regierung - wie immer sie nach dem 6. November aussehen mag - dafür einzusetzen, dass die Todesstrafe in
allen US-amerikanischen Bundesstaaten abgeschafft
wird, und darauf zu drängen, das alle zum Tode Verurteilten begnadigt werden. Außerdem fordere ich die Bundesregierung dazu auf, in bilateralen Gesprächen mit
allen Ländern, die den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte noch nicht ratifiziert haben, für eine schnelle Ratifizierung zu werben. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre wegen der Vorbildfunktion
Europas allerdings auch, wenn auch Polen als letztes
Mitglied der EU das Protokoll Nr. 13 zur Europäischen
Menschenrechtskonvention endlich verabschieden
würde.
Wir befassen uns heute in erster Beratung mit einem
Antrag der Linken zum Fall von Mumia Abu-Jamal. Zunächst möchte ich betonen, dass die FDP die Todesstrafe unter allen Umständen ablehnt, und zwar völlig
unabhängig von der Frage der Schuld oder Unschuld
der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen dieses
Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die Todesstrafe
ist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletzt
das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durch
nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie eine abschreckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung, noch
kann sie aus dem Motiv der Sühne oder der Gerechtigkeit heraus begründet werden. Darum ist die weltweite
Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ein erklärtes
Ziel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeitsschwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unser
Koalitionsvertrag hält dieses Ziel auf Seite 126 schriftlich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktive
Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese Praxis
in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf Aussetzung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Zu
diesen Ländern gehören leider auch die USA, mit denen
wir jedoch grundsätzlich sehr eng und freundschaftlich
verbunden sind. Die FDP-Bundestagsfraktion erhebt
daher die Stimme gegenüber sämtlichen Staaten, welche
die Todesstrafe vollstrecken, seien es nun demokratische
Staaten wie die USA oder autoritäre Staaten wie China,
Iran oder Belarus.
Selbst wenn sie wie im vorliegenden Fall von Mumia
Abu-Jamal letztendlich nicht vollstreckt wird, so ist
bereits die Verhängung der Todesstrafe unmenschlich,
wenn wir uns vergegenwärtigen, was schon allein die
Verurteilung zum Tode bei den betroffenen Menschen an
Leid und Existenzangst verursacht. So auch im Fall von
Mumia Abu-Jamal, der wegen Polizistenmord 1982 zum
Tode verurteilt wurde. Fast 30 Jahre beschäftigte der
Fall die Justiz, bis die Staatsanwaltschaft die Forderung
nach der Todesstrafe im Dezember 2011 endlich fallen
ließ. Dies war ein überfälliger Schritt, der weltweit begrüßt wurde.
Ihr nun vorliegender Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, geht jedoch einen Schritt weiter
und damit zu weit. Nicht nur fordern Sie darin die Bundesregierung unnötigerweise auf, etwas zu tun, was sie
bereits umsetzt, nämlich die weltweite Ächtung und
Abschaffung der Todesstrafe einzufordern und aktiv dafür einzutreten. Unter Punkt 2 fordern Sie außerdem die
Bundesregierung auf, sich gegenüber der US-Regierung
für die Freilassung von Mumia Abu-Jamal einzusetzen.
Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Einschätzung,
dass die Verurteilung von Mumia Abu-Jamal den rechtsstaatlichen Erwartungen, die wir an die USA stellen,
nicht voll entsprochen hat. Namhafte und unabhängige
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights
Watch und Amnesty International hatten wiederholt
darauf hingewiesen, dass juristische Standards in Bezug
auf faire Verfahren während seines Prozesses nicht eingehalten wurden. Natürlich ist das Justizsystem der USA
in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Angeklagten
nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und frei von jeglicher Diskriminierung behandelt werden. Als Freund der
USA ist es auch unsere Pflicht, unsere amerikanischen
Partner bei gegebenem Anlass darauf hinzuweisen.
Als Bundestagsabgeordnete ist es von hier aus jedoch
nicht möglich, eine Entscheidung anstelle des Justizsystems der USA über die Schuld oder Unschuld von
Mumia Abu-Jamal zu treffen. Ich möchte die zuständigen Behörden der USA jedoch auffordern, die seitens
vieler Nichtregierungsorganisationen bestehenden
Zweifel am rechtsstaatlichen Verfahren ernst zu nehmen
und auszuräumen.
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, darauf
hinzuweisen, dass dank breiten zivilgesellschaftlichen
Engagements die Todesstrafe in den USA auf dem
Rückzug ist. In den vergangenen fünf Jahren haben vier
US-Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, zuletzt
Connecticut Ende April dieses Jahres; dem waren OreZu Protokoll gegebene Reden
gon und Illinois vorausgegangen. Im November werden
die Bürger Kaliforniens in einer Volksabstimmung entscheiden, ob die Todesstrafe auch in dem bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat abgeschafft werden soll. Ich
hoffe inständig, dass sie dem Beispiel der genannten
Staaten folgen, und werde die Abschaffung der Todesstrafe im Gespräch mit unseren amerikanischen Partnern weiter mit Nachdruck thematisieren.
Seit fast 30 Jahren setzen sich weltweit viele Zehntausende Menschen für das Leben von Mumia Abu-Jamal
ein. Immer wieder war sein Hinrichtungstermin geplant,
konnte aber durch die bewundernswerte weltweite Solidarität verhindert werden. Der Einsatz für Mumia AbuJamal in der weltweiten Solidaritätsbewegung ist immer
auch ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen die Todesstrafe. Tausende von Institutionen, Organisationen und
Einzelpersonen haben sich für das Leben von Mumia
Abu-Jamal und gegen die Todesstrafe eingesetzt. Ihnen
allen gilt unser Respekt und Dank.
2003 wurde Mumia Abu-Jamal in Paris zum Ehrenbürger ernannt. Angela Davis, selbst eine prominente
ehemalige politische Gefangene in den USA, hatte stellvertretend für Mumia Abu-Jamal die Auszeichnung in
Paris entgegengenommen. Erst vor wenigen Tagen hat
die französische Stadt Bobigny eine Straße nach Mumia
Abu-Jamal benannt. Dies sind Beispiele, wie auch Kommunen und Parlamente ihre Solidarität zeigen können.
Ich hoffe, dass auch in Deutschland viele Städte und
Kommunen diesem Beispiel folgen.
Ein wichtiger Schritt in Deutschland waren der Beschluss der Bremischen Bürgerschaft „Einsatz für die
Abschaffung der Todesstrafe und ihrer Vollstreckung“
und ihre Solidarität mit der bundesweiten Kampagne zur
Abwendung der Vollstreckung des Todesurteils an
Mumia Abu-Jamal. Einen solchen Beschluss hätten wir
uns auch hier im Deutschen Bundestag gewünscht. Es
war jedoch auch in der Zeit von Rot-Grün nicht möglich,
einen solchen Beschluss zu fassen, da sich auch die rotgrüne Bundesregierung einem solchen Signal verweigert hat.
Jetzt ist Mumia Abu-Jamal nach 30 Jahren endlich
aus der Todeszelle in den „normalen Vollzug“ verlegt
worden. Mit seiner Verlegung hat Mumia Abu-Jamal
endlich die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen,
ohne mit einer Hinrichtung rechnen zu müssen. Dies ist
ein wichtiger Schritt. Trotzdem bleiben wir bei unsere
Forderung: „Lasst Mumia Abu-Jamal endlich frei!“
Wir bitten alle Fraktionen im Deutschen Bundestag,
unseren Antrag zu unterstützen, damit diese Forderung
endlich auch von der Bundesregierung gegenüber den
USA vorgetragen wird.
Durch seine aufrechte Haltung und seinen immerwährenden Einsatz gegen die Todesstrafe ist Mumia
Abu-Jamal zum Sinnbild für den Kampf gegen die
Todesstrafe geworden. Für viele Menschen wurde er
Vorbild und Hoffnung zugleich. Auch die Fraktion Die
Linke hat seinen Kampf gegen die Todesstrafe seit mehr
als 20 Jahren aktiv unterstützt und sich in vielen Anträgen hier im Deutschen Bundestag für seine Freilassung
eingesetzt.
Die Todesstrafe ist eine barbarische Strafe, die mit
humanitären und aufklärerischen Grundüberzeugungen
in keiner Weise vereinbar ist. Staaten nehmen sich das
Recht, Menschen legal zu töten, und negieren damit das
individuelle Menschenrecht auf Leben. Staaten, die die
Todesstrafe noch immer praktizieren, können nicht als
moderne Rechtsstaaten angesehen werden. Die Todesstrafe ist eine Siegerjustiz, die auf Rache aufbaut. Rache
als Grundmotiv von juristischen Entscheidungen ist jedoch mit einem modernen Rechtsstaat nicht vereinbar.
Die Fraktion Die Linke wird ihren Einsatz gegen die
Todesstrafe so lange fortsetzen, bis diese weltweit geächtet und verboten ist. Als Fraktion haben wir immer
die Anträge gegen die Todesstrafe in China, im Iran
oder in anderen Staaten begrüßt und unterstützt, selbst
wenn wir bei interfraktionellen Anträgen ausgegrenzt
wurden. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dass
die Regierungsfraktionen, aber auch die SPD gegen die
Anträge der Fraktion Die Linke, die gegen die Todesstrafe in den USA gerichtet waren, gestimmt haben. Es
macht die menschenrechtspolitische Arbeit der anderen
Fraktionen nicht glaubwürdig, wenn sie bei ihrem „Verbündeten“ USA keine klaren Worte gegen die Todesstrafe finden, aber bei Staaten wie Iran oder China
schon. Die Fraktion Die Linke lehnt die Todesstrafe ab,
gleich in welchem Land sie verhängt wird. Die gleiche
Klarheit wünschen wir uns auch von den anderen Fraktionen.
In den Todestrakten der USA sitzen in der Regel keine
Reichen, sondern die Armen, Ausgegrenzten und Opfer
des ungerechten rassistisch geprägten Justizsystems der
USA. Fast die Hälfte sind Afroamerikaner. Dazu kommen überdurchschnittlich viele Angehörige anderer ethnischer Minderheiten. Weiße US-Amerikaner werden in
den USA viel seltener zum Tode verurteilt. Das liegt
nicht zuletzt daran, dass sie aufgrund der Geschichte
von Sklaverei und Kolonialismus in der Mehrheit über
mehr materiellen Wohlstand verfügen und daher häufig
in der Lage sind, eine angemessene Verteidigung vor
Gericht zu organisieren. Aber auch in den USA wird der
Widerstand gegen die Todesstrafe immer stärker. Viele
Menschen verstehen die Zusammenhänge zwischen Rassismus und dieser Form der Klassenjustiz.
Mumia Abu-Jamal hat diese Tatsachen als Journalist
immer klar benannt. Daher wird er von vielen auch als
„Stimme der Unterdrückten“ bezeichnet. Er spricht
nicht nur für Gefangene oder für die Marginalisierten in
den USA, sondern für uns alle, die gegen die Todesstrafe
kämpfen. Die Forderungen von Mumia Abu-Jamal
werden von vielen verstanden und weitergetragen. Sie
motivieren Menschen in vielen Ländern der Welt, die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen und kämpferisch
dazu beizutragen, diese Verhältnisse zu ändern. Mumia
Abu-Jamal ist ein Symbol für den Kampf um Gerechtigkeit und gegen eine rassistisch motivierte Politik gegen
Minderheiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
In unserem Antrag fordern wir die weltweite Ächtung
und Abschaffung der Todesstrafe. Wir fordern die
Bundesregierung auf, sich nachdrücklich gegenüber der
Regierung der USA für die Freilassung von Mumia AbuJamal einzusetzen. Dies wollen wir mit einem Angebot
an die USA verbinden, Mumia Abu-Jamal in Deutschland Aufnahme zu gewähren. Mumia Abu-Jamal sitzt
seit 30 Jahren unschuldig im Gefängnis. Jetzt ist es an
der Zeit, dass er endlich in Freiheit leben kann. Bitte
unterstützen Sie dieses Anliegen.
Seitdem ich das letzte Mal im Bundestag eine Rede
zum Thema Todesstrafe gehalten habe, sind eineinhalb
Jahre vergangen. Heute stelle ich mit Bedauern fest,
dass sich die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu
befassen, seitdem keineswegs verringert hat. Nach wie
vor gilt es für Deutschland, sich auf bilateraler Ebene,
auf der Ebene der Europäischen Union und auf der
Ebene der Vereinten Nationen mit größten Anstrengungen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen. In diesem Sinne stimmt meine Fraktion dem Antrag der Linken zu.
Vor ein paar Tagen konnte man in der Presse einen
von Guido Westerwelle und anderen europäischen Außenministern verfassten Artikel lesen, der sich ebenfalls
mit dem Thema befasst. Darin ist von ermutigenden
Zahlen die Rede: In den vergangenen 20 Jahren hätten
über 50 Staaten der Todesstrafe „den Rücken gekehrt“.
Ich freue mich über jeden Staat mehr, der dies tut; jedoch gibt es auch andere Zahlen: Im Jahr 2011 wurden
mindestens 680 Personen hingerichtet, während es im
Jahr 2010 noch 527 waren; des Weiteren wurden annähernd 2 000 Todesurteile ausgesprochen, und mehr als
18 000 Menschen warteten auf die Vollstreckung ihres
Todesurteils. Diese Zahlen sind eher ernüchternd als
ermutigend. Unterm Strich zeigen sie nämlich zwei
Tendenzen. Die positive Tendenz wird in Herrn
Westerwelles Artikel hervorgehoben: Immer mehr Staaten schaffen die Todesstrafe ab. Die negative ist die, die
meiner Meinung weitaus mehr ins Gewicht fällt: Die
Zahl der Hingerichteten nimmt zu.
Jede Person, die durch die Todesstrafe ihr Leben verliert, erinnert uns daran, dass es der Menschheit seit
Hunderten von Jahren nicht gelungen ist, diesen menschenverachtenden Akt des Strafvollzugs abzuschaffen.
Die Todesstrafe gehört zu den ältesten Strafmaßnahmen
der Menschheit und scheint leider jede Gesellschaftsform, auch wenn sie sich für noch so aufgeklärt hält, zu
überleben. Wie das Beispiel einiger Bundesstaaten in
den USA zeigt, gilt das auch für die Demokratie. Und ein
Blick auf China, das weltweit die meisten Todesurteile
vollstreckt, reicht, um zu erkennen, dass es sich mit dem
Kommunismus genauso verhält.
Aber ganz gleich, von welchem Land oder welcher
Staatsform gesprochen wird - was ihnen allen gemeinsam ist, ist, dass die Verantwortlichen meinen, dass sie
andere Menschen aufgrund eines begangenen Verbrechens mit dem Tod bestrafen müssten, dass Personen,
die gegen Gesetze und Sittlichkeit verstoßen haben, das
Recht verlieren, weiterzuleben. Nein! Kein Staat hat das
Recht, über Leben oder Tod seiner Bürger zu entscheiden. Das Recht auf Leben erwirbt jeder Mensch mit der
Geburt. Niemand darf es ihm nehmen, egal was er oder
sie getan hat.
Diese Universalität des Rechts auf Leben gebietet es
jedem politischen Akteur, jeder Regierung, auch der
Bundesregierung, sich gegenüber allen Staaten, in denen die Todesstrafe praktiziert wird, mit der gleichen
Intensität für deren Abschaffung einzusetzen. Wirtschaftliche oder machtpolitische Interessen sollten dem
Engagement für Menschenrechte und Menschenwürde
nicht im Wege stehen. Länder wie Deutschland verlieren
ihr Gesicht, wenn ihre Regierungen bei Gesprächen mit
den USA oder China nicht immer wieder und bei jeder
Gelegenheit ihren Standpunkt und ihre menschenrechtlichen Errungenschaften betonen, nämlich den unbedingten Schutz der menschlichen Würde und des Lebens. Gerade stolze Nationen wie die USA und China, die auf
Gesichtswahrung großen Wert legen, sollten für dieses
Interesse Verständnis haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8916 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern
- Drucksachen 17/7645, 17/8681 Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachUllrich MeßmerMarina SchusterKatrin WernerVolker Beck ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
„Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des
Südkaukasus fördern“, so lautet der Titel des Antrags,
den wir heute abschließend beraten. Wie unterschiedlich
das Verständnis dessen ist, was unter einer solchen
Überschrift gefasst werden kann, wird klar, wenn man
diesen Antrag liest. Den Verfassern rate ich, die ideologische Brille einmal beiseite zu legen, das klärt den
Blick.
So wird behauptet, es erfolgte mithilfe der EUAktionspläne der Europäischen Nachbarschaftpolitik
eine Unterordnung der Menschenrechte unter einen neoliberalen Wirtschaftsumbau mit der Folge der Zementierung von Massenarmut. Mit einer solchen Aussage leiten
die Verfasser ihren Antrag ein.
Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Projekt der Östlichen Partnerschaft wird das Hauptziel verfolgt, die EU
und die Partnerländer unter dem Dach der Europäischen
Nachbarschaftspolitik politisch und wirtschaftlich einander anzunähern. Beziehungen sollen in den Bereichen
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur intensiviert
werden. Es geht auch darum, Kontakte zwischen den
Menschen in der EU und den Partnerländern zu fördern.
Das ist für die Länder, denen keine Beitrittsperspektive in die EU eröffnet wird, ein wichtiges Projekt. Denn
hier entsteht durch Austausch eine Annäherung an europäische Werte. Dabei spielen die Menschenrechte eine
wesentliche Rolle. Der Anstoß politischer Reformen in
diesen Ländern, die dringend notwendig sind, rangiert
weit vor wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Beispiel
im Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist der wichtigste Handelspartner für die drei Südkaukasus-Staaten.
Das steht dem Engagement der EU im Bereich der Menschenrechte in der Region nicht entgegen, sondern befördert es.
Dieser Tage wurde der Europäischen Union der Friedensnobelpreis für das Jahr 2012 verliehen. Das Nobelpreiskomitee begründete seine Entscheidung mit dem
Beitrag der Europäischen Union zu Frieden, Verständigung, Demokratie und Menschenrechten in den vergangenen 60 Jahren. Dieser Beitrag ist nicht hoch genug zu
schätzen.
So enthält auch der Aktionsplan, der im Rahmen der
Europäischen Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschan
im Jahr 2006 vereinbart wurde, wichtige Reformforderungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürgerrechte und demokratische Standards.
Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgenden staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren haben
Armenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungen
durchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren. Kriege
und Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen zählten
dazu. Es ist dringend notwendig, die Menschenrechtslage in den drei Südkaukasus-Staaten zu verbessern. Gerade weil die menschenrechtsverachtende Zeit vor der
Unabhängigkeit immer noch nachwirkt, ist das so
schwer. Im vorliegenden Antrag werden jedoch Ursache
und Wirkung verwechselt.
Sie erheben gern und immer wieder die Forderung,
die Bundesregierung müsse die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte den bürgerlichen
und politischen Menschenrechten gleichstellen. Die
Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte bekräftigte
1993, dass die WSK-Rechte untrennbarer und gleichrangiger Teil der allgemeinen Menschenrechte sind und in
einem unauflöslichen Zusammenhang mit den bürgerlichen und politischen Rechten stehen. Die Bundesregierung bekennt sich zur Gleichrangigkeit sowie zur Interdependenz aller Menschenrechte. Deshalb ist die
Menschenrechtspolitik Deutschlands in seiner Außenund Entwicklungspolitik darauf ausgerichtet, auch den
WSK-Rechten zur Umsetzung zu verhelfen. Tenor des Antrags ist jedoch, die WSK-Rechte den bürgerlichen und
politischen Rechten voranzustellen. Diesem Ansinnen
widerspreche ich vehement.
Die Europäische Union nutzt das Instrument des Menschenrechtsdialogs mit ihren Partnerländern Armenien
und Georgien. Die Bundesregierung thematisiert die
Menschenrechtslage in bilateralen Gesprächen mit allen
drei Südkaukasus-Staaten regelmäßig und mahnt die Einhaltung der entsprechenden internationalen Verpflichtungen an. Flankiert wird dies durch die Unterstützung im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Schwerpunktprogramm „Demokratie, Kommunalentwicklung
und Rechtsstaat“ durch die Rechts- und Justizberatung in
den drei Südkaukasus-Staaten.
Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des
Südkaukasus fördern Deutschland und die Europäische
Union bereits vielfältig. Den vorliegenden Antrag lehnen
wir ab, da er in bekannter Tradition der Verfasser ein unrealistisches Bild zeichnet und unterstellt, dass dem nicht
so sei.
Die Staaten des Südkaukasus, Georgien, Armenien
und Aserbaidschan, haben seit ihrer Unabhängigkeit
1991 schwierige Prozesse im Zuge der Konsolidierung
ihrer Staatlichkeit durchlaufen. Zwischenstaatliche Auseinandersetzungen und Nationalitätenkonflikte spielten
hierbei ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Not,
Flüchtlingselend und innenpolitische Instabilität. Und
auch wenn alle drei Länder mittlerweile ihre Staatlichkeit konsolidiert haben und Mitglied im Europarat und
Partnerländer der Europäischen Nachbarschaftsinitiative geworden sind, ist es richtig, sich auch weiterhin intensiv mit diesen Länder zu beschäftigen und Hilfe bei
der Weiterentwicklung von Demokratie und Menschenrechten anzubieten. Denn nach wie vor ist die Menschenrechtslage in allen drei Ländern problematisch.
Insofern ist der Antrag zu begrüßen.
Lassen Sie uns die einzelnen Länder ein wenig genauer betrachten. In Armenien harrt die gewaltsame
Niederschlagung der Massenproteste gegen die umstrittene Präsidentenwahl 2008 weiterhin der Aufklärung.
Der regierungskritische Sender „Gala TV“ hat unlängst
seine Sendelizenz verloren. Auch wird das Recht auf
Kriegsdienstverweigerung nicht eingehalten, obwohl es
in der Verfassung verankert ist. Besonders die Situation
der WSK-Rechte hat sich in Armenien verschärft. 34
Prozent der armenischen Bevölkerung leben in Armut,
weitere 20 Prozent gelten als unmittelbar armutsgefährdet. Ein weiteres gravierendes Problem stellt die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dar. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor stark
verbreitet, wobei es für betroffene Frauen kaum Schutzräume gibt.
In Georgien hat sich die Menschenrechtslage nach
dem Kaukasuskrieg 2008 weiter verschlechtert. Auch
hier gibt es bislang keine Aufklärung zu der GewaltanZu Protokoll gegebene Reden
wendung durch Sicherheitskräfte während der Proteste
gegen Präsident Saakaschwili. Auch die Aufklärung
möglicher Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht während des Kaukasuskrieges ist bislang unterblieben.
Umso mehr erfreut es, dass in Georgien mit den Präsidentschaftswahlen 2012 ein demokratischer Wechsel an
der Spitze geglückt scheint: Der Herausforderer
Saakaschwilis, der Milliardär Iwanischwili, hat die Präsidentschaftswahlen vom Oktober 2012 nicht nur klar
für sich entschieden, sondern er wurde auch durch den
unterlegenen amtierenden Präsidenten anerkannt, der
damit gleichzeitig seine Niederlage einräumte. Der neue
Präsident sieht sich allerdings großen Erwartungen und
Herausforderungen gegenüber. Das Land benötigt dringend Sozialprogramme, besonders die medizinische Versorgung muss verbessert werden. Auch die Versorgung
der Bevölkerung, von der 40 Prozent in Armut lebt, gilt
als große und entscheidende Herausforderung für den
neuen Präsidenten. Dabei gilt es auch die besonders
schlechte Situation der Binnenflüchtlinge im Auge zu behalten. Des Weiteren müssen der Minderheitenschutz
verbessert und die Korruptionsbekämpfung vorangebracht werden. Auch die Medienfreiheit muss weiter verbessert werden, damit regierungskritische Journalisten
nicht weiter Repressalien oder wirtschaftlichen Schikanen ausgesetzt werden.
In Aserbaidschan bleibt vor allem die Lage bei den
bürgerlichen und politischen Menschenrechten weiter
angespannt. Noch immer werden Demonstrationen der
Opposition in der Hauptstadt Baku verboten, werden regierungskritische Medien stark eingeschränkt und regierungskritische Journalisten und Blogger verfolgt und
mit Haftstrafen bedroht. Daneben ist die Korruption
weit verbreitet. Von den 200 000 Kriegsflüchtlingen aus
Armenien und den 800 000 Binnenvertriebenen als
Folge des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um
Berg-Karabach leben noch etwa 20 Prozent in unzureichenden Wohnverhältnissen und es gibt insgesamt Probleme mit ihrer Integration. Positiv lässt sich die Toleranz gegenüber Minderheiten und die religiöse Toleranz
hervorheben. Anders als in Armenien und Georgien sind
Erfolge bei der Armutsbekämpfung in Aserbaidschan erkennbar: Der Armutsanteil konnte von knapp 50 Prozent
2001 auf nunmehr 9 Prozent gesenkt werden. Die wirtschaftliche Dynamik des Landes, die vor allem von der
Erdöl- und Gasindustrie getragen wird, machte Sozialprogramme möglich, die zusammen mit staatlicher Umverteilungspolitik den Armutsanteil senken konnten.
Dies ist - auch im Sinne der WSK-Rechte - zu begrüßen.
Es darf jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass die
Menschenrechtslage allein dadurch in Aserbaidschan
um ein Vielfaches besser sei als in den anderen Ländern
des Südkaukasus. Gerade mit Blick auf die bürgerlichen
und politischen Rechte ist die Lage in Aserbaidschan sicherlich schlechter als in Georgien, wo zum ersten Mal
Wahlen nach demokratischen Standards stattgefunden
und damit zu einem demokratisch legitimierten Wechsel
an der Staatsspitze geführt haben. Auch wäre der
Schluss falsch, die WSK-Rechte höher als die bürgerlichen und politischen Rechte anzusetzen. Ebenso ist es
falsch, die bürgerlichen und politischen den WSK-Rechten vorzuziehen. Menschenrechte können immer nur in
ihrer Gesamtheit verwirklicht werden, da sie einander
unmittelbar bedingen und unmittelbar voneinander abhängen.
Die Darstellung der Situation in Aserbaidschan ist
daher im Antrag eindeutig zu positiv und teilweise
falsch, auch wenn - und das möchte ich hier ausdrücklich betonen - eine Verminderung von Armut natürlich
immer zu begrüßen ist. Ein ausschließliches Fokussieren
auf staatliche Umverteilung und Sozialprogramme und
die generelle Absage an Privatisierungen helfen nicht in
allen Situationen weiter. Häufig benötigen Länder zur
Verbesserung der Durchsetzung der WSK-Rechte ein
Bündel von Maßnahmen, und hierbei können Privatinvestitionen und private Initiativen durchaus ihren Beitrag leisten. In diesem Sinne ist der Antrag, der teilweise
richtige Analysen und Forderungen enthält, nicht mitzutragen. Die Unterstützung der einzelnen Länder selber
ist aber gleichwohl selbstverständlich wie auch politisch
geboten.
Es ist unbestreitbar, dass wir uns für eine Förderung
der Menschenrechte und der Demokratie in den Staaten
des Südkaukasus einsetzen müssen. Insofern kann ich
dem Titel - allerdings nur dem Titel - des vorliegenden
Antrags der Linken zustimmen. Inhaltlich zeigt sich jedoch eine Perspektive von Menschenrechten, die nicht
falscher sein könnte. Sie ist schlicht selektiv.
Die Linke hat bereits an anderer Stelle - ich erinnere
an die Debatten zu Kuba - ihre Auffassung gezeigt, die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte gegen bürgerliche und politische Rechte auszuspielen. Dieser Ansatz ist falsch. Wir unterscheiden eben
nicht nach Wertigkeit unterschiedlicher Menschenrechtsformen. Schutz und Wahrung aller Menschenrechte sind
und bleiben Priorität der Bundesregierung. Dabei sind
die WSK-Rechte untrennbarer und gleichrangiger Teil
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und
stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den
bürgerlichen und politischen Menschenrechten.
Der Antrag führt an, dass sich die Situation der WSKRechte im Südkaukasus aufgrund von Privatisierungspolitik verschlechtert habe. Diese Annahme stellt Ursache
und Wirkung in einen völlig falschen Zusammenhang.
Weiterhin fordert die Linke die Bundesregierung auf,
einer weiteren Privatisierung in den Ländern des Südkaukasus vorzubeugen, weil die Linken ihr Mantra wiederholen, jede Privatisierung sei des Teufels. Das ist
falsch, und es widerspricht nicht nur dem liberalen Geist
der Freiheit, für den wir als FDP-Fraktion engagiert
eintreten, sondern auch den Grundsätzen von wirtschaftlichem Freihandel, auf die sich zum Beispiel die
Europäische Union gründet.
In dem Antrag wird außerdem übersehen, dass eine
positive wirtschaftliche Entwicklung und eine positive
Menschenrechtsentwicklung, gerade der WSK-Rechte,
häufig einhergehen. Außerdem fehlt die historische Einbettung komplett: Der schlechte Zustand der WSKRechte im Südkaukasus ist natürlich auch auf den zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Teil desolaten Zustand der Wirtschaft zurückzuführen.
Dieser ergibt sich aber auch aus den postsowjetischen
Rahmenbedingungen und den Strukturen, die damals
aufgebaut wurden.
Für besonders gefährlich halte ich den selektiven
Blick des Antrags auf Aserbaidschan. Liebe Kollegen
und Kolleginnen von der Linken, bis heute ist mir nicht
klar, warum Sie die interfraktionelle Erklärung des
Menschenrechtsauschusses zu Aserbaidschan nicht mitgetragen haben. Schlimmer, in Ihrem Antrag loben Sie
die Innenpolitik des Landes. In keinem Wort wird erwähnt, dass Aserbaidschan bis heute seinen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschrechtskonvention
nicht voll nachkommt. Das Auftreten Aserbaidschans in
Straßburg hat eindrücklich bewiesen, dass wir auch in
Zukunft nicht auf große Veränderungen und demokratische Fortschritte hoffen dürfen.
Voraussetzung für den Beitritt Aserbaidschans war
unter anderem die Freilassung von politischen Gefangenen. Diese Verpflichtung hat das Land bisher nicht erfüllt. Trotz mehrmaliger Aufforderungen hat sich Aserbaidschan geweigert, dem Sonderberichterstatter bei
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates,
Christoph Strässer, ein Visum zur Einreise nach Aserbaidschan auszustellen. Nachdem vor wenigen Wochen
entsprechend einem aus Baku geäußerten Wunsch die
Beschränkung des Mandates allein auf politische Gefangene in Aserbaidschan fallen gelassen wurde, hat Aserbaidschan dem Sonderberichterstatter für politische Gefangene dennoch kein Visum ausgestellt, sodass eine
Reise abermals abgesagt werden musste. Das Verhalten
Aserbaidschans ist nicht akzeptabel.
Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt eingehen: Der Antrag versäumt eine grundsätzliche politische
und sicherheitspolitische Einbettung. Nach wie vor gibt
es schwelende Konflikte zwischen den Staaten des Südkaukasus. Auch das erlebe ich immer wieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Natürlich spielt der Berg-Karabach-Konflikt hier eine große
Rolle. Sicherheitspolitische Aspekte gehören aber zur
Diskussion der Entwicklung der betreffenden Länder
dazu. Und eine wichtige Prämisse der EU-Nachbarschaftspolitik ist ja gerade die Konfliktprävention. Auch
hierauf geht der vorliegende Antrag nicht ein.
Selbstverständlich wird sich die Bundesregierung
auch weiterhin energisch für eine Förderung der Menschenrechte in Armenien, Aserbaidschan und Georgien
einsetzen. Der Antrag der Linken ist hierzu jedoch nicht
der richtige Ansatz und ist deshalb schlichtweg abzulehnen.
Der jüngste Folterskandal in georgischen Gefängnissen unterstreicht die Aktualität unseres Antrags. Der
Menschenrechtslage in den Staaten des Südkaukasus
muss dringend größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Bilder und Videos der misshandelten, gefolterten, vergewaltigten und gedemütigten Häftlinge haben
mich tief erschüttert. Der Folterskandal zeigt exemplarisch, dass die jahrelangen Vorschusslorbeeren des
Westens für die vermeintlichen Demokratiefortschritte
in Georgien offenbar verfrüht und politisch unzutreffend
gewesen sind. Vor allem die deutsche Bundesregierung
hat die Menschenrechtsbilanz und den neoautoritären
Politikstil unter Präsident Saakaschwili stets beschönigt, da Georgien der engste Partner der USA, NATO
und EU in der Region ist. Das kennen wir schon zur
Genüge mit Blick auf die Menschenrechtsdefizite im eigenen Land und in anderen Ländern mit prowestlich
orientierten, autoritären Regimen. Wer sich gegenüber
dem Westen kooperativ verhält, wird hofiert, und wer
sich dazu eine in Widerspruch stehende, eigenständige
Politik leistet, wird häufig sanktioniert. Die Linke wird
nicht müde werden, die Bundesregierung aufzufordern:
Beenden Sie endlich ihre Politik der Doppelstandards
bei Menschenrechten!
Immerhin - und dies stimmt mich vorsichtig optimistisch - ist die Aufarbeitung des Folterskandals in Georgien selbst in vollem Gang. Mehrere Minister mussten
bereits ihren Hut nehmen und ein Großteil der Gefängnisleitungen und des Wachpersonals soll ausgetauscht
werden. Zumindest scheinen die Zeiten, in denen ein
solcher Skandal ohne nennenswerte Folgen blieb, endgültig vorüber zu sein. Hierzu gehört auch der von den
georgischen Wählerinnen und Wählern herbeigeführte
politische Wechsel bei den Parlamentswahlen am 1. Oktober 2012. Sofern der friedliche Machtwechsel gelingt,
kann dies als starkes Signal für die Demokratie mit
überregionaler Bedeutung verstanden werden. Auch
wenn zuletzt der Folterskandal viel Wasser auf die Mühlen des siegreichen Oppositionsbündnisses „Georgischer Traum“ gelenkt hat, bleibt die soziale Frage das
größte innenpolitische Problem Georgiens. Über die
Hälfte der georgischen Bevölkerung lebt seit der Unabhängigkeit vor über zwanzig Jahren in Armut.
Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt in unserem
Antrag. Wie in der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses steht, meinten einige Kolleginnen
und Kollegen aus anderen Fraktionen, wir würden in
unserem Antrag die WSK-Rechte einseitig in den Vordergrund stellen. Dazu kann ich nur sagen: Entweder
haben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen oder
nicht richtig verstanden. Die Linke fordert in dem
Antrag die Bundesregierung wörtlich auf, „in der Menschenrechts-, Entwicklungs- und Außenpolitik Deutschlands grundsätzlich den wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechten den GLEICHEN Stellenwert einzuräumen wie den bürgerlichen und politischen
Menschenrechten“. Von einer Besserstellung der WSKRechte gegenüber den bürgerlichen und politischen
Rechten kann folglich keine Rede sein. Die jeweiligen
Rechte ergänzen sich vielmehr gegenseitig und hängen
voneinander ab. Gerade deshalb müssen aber die
Aktionspläne der EU-Nachbarschaftspolitik mit den
Südkaukasus-Staaten dringend ergänzt werden, weil sie
bislang die wirtschaftlichen und sozialen Rechte stark
vernachlässigen und sich vornehmlich auf gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und neoliberalen Wirtschaftsumbau konzentrieren. Es ist jedoch in
diesen Ländern, vor allem in Georgien und Armenien,
eine stärkere staatliche Sozialpolitik erforderlich, um
Zu Protokoll gegebene Reden
die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerungsmehrheit zu stabilisieren und zu verbessern. Wenn
Sie dies ablehnen, dokumentieren sie damit nur, dass Sie
an der Ideologie des ungehemmten Marktradikalismus
festhalten wollen und dass Ihnen die Lebensbedingungen der Bevölkerung egal sind. Das sollten Sie dann an
dieser Stelle auch ehrlicherweise zugeben.
Ähnlich absurd ist die Behauptung, wir würden die
Situation bei den bürgerlichen und politischen Menschenrechten in Aserbaidschan schönreden. In unserem
Antrag steht unmissverständlich, dass in allen drei Südkaukasus-Republiken jegliche Formen repressiver
Gewaltausübung durch die dortigen Regierungen unterbleiben sollen, freie und faire Wahlen durchgeführt und
die Versammlungs-, Meinungs-, Medien- und Pressefreiheit uneingeschränkt garantiert werden müssen. Genauso müssen selbstverständlich in allen drei Ländern
umgehend alle gewaltlosen politischen Gefangenen freigelassen werden. Aserbaidschan bildet dabei keine Ausnahme.
Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene
es gibt und nach welchen Kriterien jemand als ein politischer Gefangener gilt, müssen aber stimmen. Ich
bedauere es sehr, dass der Europarat in dieser Frage
zutiefst gespalten ist. Dass es bei der Zahl von politischen Gefangenen erhebliche Unterschiede zwischen
den drei Ländern gibt, ist eine Tatsache, die von internationalen Menschenrechtsorganisationen bestätigt wird.
Menschenrechtsverletzungen und politische Strafjustiz
gibt es auch in christlichen Ländern.
Ein wichtiger Grund für ausbleibende Fortschritte
bei Menschenrechten und Demokratie sind die schwelenden Konflikte in der Südkaukasus-Region. Sie dienen
den dortigen Regierungen häufig als Rechtfertigung
dafür, dass die Verteidigungs- und Abwehrbereitschaft
gegen äußere Gegner zunächst wichtiger sei als die
Demokratieentwicklung in den Staaten selbst. Das
Gegenteil dessen wäre aber richtig: Fortschritte bei
Demokratie und Menschenrechten würden die Vertrauensbildung zwischen den verfeindeten Konfliktparteien
fördern und die Erfolgsaussichten für friedliche Lösungen der ethnoterritorialen Konflikte erhöhen. Die innerstaatlichen Konflikte in Georgien um die abtrünnigen
Provinzen Abchasien und Südossetien sowie der zwischenstaatliche Konflikt Armeniens und Aserbaidschans
um Berg-Karabach können nur nach den völkerrechtlichen Prinzipien der Gewaltfreiheit, der territorialen Integrität, der Staatensouveränität und dem inneren
Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten beigelegt
werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht gleichbedeutend mit einem Anspruch auf einen eigenen Staat.
Von den Konfliktparteien ist zu verlangen, dass sie alles
unterlassen, was diesbezügliche Spannungen unter ihnen anheizt und Vertrauen zerstört. Die Glorifizierung
von Mördern als Nationalhelden und die Tötung von
Zivilisten durch Heckenschützen, darunter selbst minderjährige Kinder, sind klarer Ausdruck von fortbestehendem Feinddenken, das Versöhnungsfortschritte und
Friedenslösungen massiv erschwert.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für
eine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Südkaukasus einzusetzen und hierfür in den verantwortlichen
Gremien wie der Minsker Gruppe der OSZE deutlich
aktiver mitzuarbeiten und zu diesem Zweck auch enger
mit Russland zu kooperieren. Zivile Konfliktlösungen
wären für die Situation der Menschen und die Demokratieentwicklung im Südkaukasus weitaus wichtiger als
neue Freihandelsabkommen mit der EU, von denen nur
europäische Großkonzerne und die politischen Eliten
profitieren. Aus diesem Grund werben wir um Zustimmung zu unserem Antrag und lehnen die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses ab.
Am 15. Dezember des letzten Jahres hielt ich die erste
Rede zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke.
Meine Kritik an Ihrem Antrag zielte vor allem auf die negative Einschätzung der Europäischen Nachbarschaftspolitik in Bezug auf die südkaukasischen Staaten ab, wogegen die Lage in Aserbaidschan deutlich zu unkritisch
dargestellt wurde. Deshalb werden und können wir dem
Antrag nicht zustimmen.
Heute möchte ich vor dem Hintergrund der aktuellen
Entwicklungen meine Thesen aus dem Vorjahr überprüfen. Ich beginne mit Georgien. Meine Fraktion hat in einem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache 17/8778,
im Februar 2012 für eine engere Kooperation mit Georgien plädiert. Zugleich haben wir aber auch auf die demokratischen und menschenrechtlichen Defizite im
Land hingewiesen, darunter unter anderem die prekäre
Lage in den georgischen Gefängnissen. Genau diese
Missstände, dazu noch die dort stattfindende Folter, waren ein entscheidender Grund für die Abwahl der Regierungspartei von Präsident Saakaschwili. Deshalb tut die
neue Regierung gut daran, nun - wie angekündigt glaubwürdige Reformen im Strafvollzug anzugehen. Die
Wahlen in Georgien haben zu einem Regierungswechsel
geführt. Am Mittwoch konstituiert sich das neue Parlament, danach wird der Ministerpräsident gewählt. Erstmals seit der Unabhängigkeit steht Georgien vor der
Herausforderung, eine Kohabitation zu gestalten, das
heißt, Präsident und Ministerpräsident gehören unterschiedlichen Parteien an. Mit der ersten Benennung von
Kabinettsposten setzte der künftige Ministerpräsident
Iwanischwili positive Signale. Er macht keine Zugeständnisse an die nationalkonservativen Kräfte, denen
er im Wahlkampf an einigen Stellen auf seiner Liste bedauerlicherweise Unterschlupf geboten hatte. Ebenso
positiv hervorzuheben ist, dass sich die zukünftige Regierung im Parlament auf eine Dreifraktionenkoalition
stützen wird.
Der Wahlgewinner hat mehrfach betont, am Ziel der
euroatlantischen Integration Georgiens festzuhalten.
Daran muss man ihn messen. Seine erste Auslandsreise
ist nach Washington geplant. Interessant erscheint mir
ferner, wie genau eine pragmatische Neugestaltung der
georgisch-russischen Beziehungen aussehen wird. Auf
jeden Fall sollte Deutschland diesen Annäherungsprozess an Russland aktiv unterstützen. Erst nach einer NeuZu Protokoll gegebene Reden
gestaltung der Russland-Politik wird auch wieder Bewegung in die festgefahrenen Konflikte um Abchasien und
Südossetien kommen. Einen konstruktiven Beitrag kann
hier sicherlich der neue Minister Paata Zakareischwili
von der Republikanischen Partei leisten. Wie kaum ein
anderer hat er sich seit dem Ausbruch der Konflikte zu
Beginn der 1990er-Jahre immer wieder für eine Aussöhnung eingesetzt und genießt auf beiden Seiten Vertrauen.
Deutschland und die EU müssen Georgien mit glaubwürdigen Ansätzen für eine Einbindung der Sezessionsgebiete in die Östliche Partnerschaft zur Seite stehen.
Berichte über das tatsächliche Ausmaß der Wahlfälschung zugunsten der bisherigen Regierungspartei liegen vor. Noch ist allerdings unsicher, wie mit diesen
Auswertungen umgegangen wird. Zusammenfassend
muss man konstatieren, dass der Machtwechsel bislang
vergleichsweise friedlich verlaufen ist, unter anderem
auch weil Saakaschwili bereits vor der Bekanntgabe der
Endergebnisse die Niederlage seiner Partei eingeräumt
hat. Das hat auf jeden Fall Respekt verdient, unabhängig davon, welche Motive ausschlaggebend für seine
Entscheidung gewesen sein mögen.
Kommen wir zu Aserbaidschan. Dieses Land bleibt
für Deutschland ein schwieriger Partner. Wir beschäftigen uns seit geraumer Zeit sehr intensiv mit den Verhältnissen in Baku, und das nicht nur, weil Aserbaidschan
als Gewinner im Eurovision Songcontest den Wettbewerb im eigenen Land austragen durfte. Aufgrund des
Songcontests stand Aserbaidschan mehrere Monate lang
im Licht der Weltöffentlichkeit. Kurzfristig hat das einigen Menschen im Land sicherlich geholfen, die mittelund langfristigen Folgen dürften kaum zu einer verbesserten Menschenrechtssituation in dem ölreichen Südkaukasus-Staat führen. Im Gegenteil. Nach Abreise der
internationalen Journalisten geht das Regime des Präsidenten Alijew härter denn je gegen Oppositionelle vor.
Im Zuge der Vorbereitung für den Wettbewerb ging die
Regierung unter anderem auch resolut gegen Hauseigentümer vor, Zwangsenteignungen wurden vorgenommen und Menschen aus ihren Häusern getrieben.
Immer härtere Bandagen werden gegenüber der oppositionellen Presse angelegt. Die bekannte kritische Journalistin Khadija Ismailowa sah sich sogar einer
Schmierkampagne ausgesetzt, weil sie wiederholt über
Korruption in großem Stil in Aserbaidschan geschrieben
hat. In jedem der größeren Korruptionsfälle war eine
Beteiligung des Präsidenten Alijew und seiner Familie
auszumachen. Investigativer Journalismus kann in Aserbaidschan tödlich oder im Gefängnis enden. Auf der
Rangliste der Pressefreiheit 2011 liegt das Land derzeit
auf Platz 162 von insgesamt 178 betrachteten Ländern.
Von einer Verbesserung im Jahr 2012 ist kaum auszugehen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die wenigen unabhängigen Nichtregierungsorganisationen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang sollte auch darüber
nachgedacht werden, den aus politischen Gründen
zwangsweise exmatrikulierten Studentinnen und Studenten schnell und unbürokratisch einen Studienplatz in
Deutschland oder in der Europäischen Union anzubieten. Ein ähnliches Verfahren ist bislang schon mit
Zwangsexmatrikulierten aus Belarus üblich. Schutz für
politische Oppositionelle sollte ebenso einen Vorrang in
der Zusammenarbeit mit Aserbaidschan haben. Bei meinem letzten Besuch hörte ich von Oppositionspolitikern,
wie insbesondere der Druck auf die eigene Familie
wächst. Viele sind diesem nicht gewachsen und haben
häufig den Wunsch, für eine bestimmte Zeit das Land zu
verlassen.
Ein besonders unschönes Beispiel für die Abschaffung der Pressefreiheit ist der staatlich gesteuerte Bankrott der beiden Oppositionszeitungen „Azadliq“ und
„Müsavat“. Mit einem sogenannten Stadtverschönerungsprogramm in Baku sorgt die Stadtverwaltung dafür, dass die alten bisherigen Zeitungskioske abgerissen
werden und an gleicher Stelle neue Verkaufsstände entstehen. Die Krux besteht jedoch nun darin, dass der
Eigentümer der neuen Kioske - ein enger Freund des
Präsidenten - den Pächtern „empfohlen“ hat, die beiden einzigen Oppositionszeitungen nicht mehr in das
Programm aufzunehmen. Damit bricht diesen faktisch
ihre gesamte wirtschaftliche Grundlage weg. Sie können
bereits jetzt ihre ausstehenden Schulden nicht begleichen und müssen Redakteure entlassen. An Werbung und
Anzeigen von Unternehmen ist nicht zu denken, denn seit
langem werden aus Angst vor staatlichem Druck keine
kommerziellen Anzeigen mehr in Oppositionszeitungen
geschaltet. Wenn der Straßenverkauf tatsächlich wegbricht, ist auch die letzte wirtschaftliche Grundlage verloren. Mit diesem Politikstil belastet Aserbaidschan die
bilateralen Beziehungen, die auch besonders zur Lösung
des sich verschärfenden Konflikts um Berg-Karabach
von Bedeutung sind.
Ich möchte hier nicht lange auf den in Ungarn verurteilten Mörder eingehen, der überstellt nach Aserbaidschan trotz eines völkerrechtlichen Vertrags nicht weiter inhaftiert, sondern als Held gefeiert und befördert
wurde. Ein solches Verhalten Aserbaidschans ist aus unserer Sicht vollkommen inakzeptabel.
In diesem Zusammenhang hat sicherlich auch die armenische Seite reagiert, indem sie aus innenpolitischen
Erwägungen umgehend die diplomatischen Beziehungen zu Ungarn abbrach und Teilnehmer aus internationalen Schulungen abberief. Die Bundesregierung sollte
auch auf die armenische Seite einwirken, ihre verschärfte Kriegsrhetorik zu beenden, die gerade den Eindruck erweckt, als habe sie nur darauf gewartet, die Eskalation voranzutreiben. Armenien steht nach wie vor in
der Pflicht, seine Truppen aus den besetzten Gebieten
rund um Berg-Karabach abzuziehen. Ein erster Schritt
in diese Richtung könnte einen Großteil des Konfliktstaus lösen. Stattdessen wird aber der Nationalismus
auch von den moderaten Politikern in Armenien weiter
befeuert. Deshalb muss diesem auf beiden Seiten unbedingt Einhalt geboten werden. Wenn es zu einer Lösung
im Karabach-Konflikt kommen soll, dann sind vor allem
Kompromissfähigkeit und Vertragstreue gefragt.
Die Madrider Prinzipien stellten an dieser Stelle eine
wichtige Etappe dar. Nun muss die OSZE-Minsk-Gruppe
aufpassen, dass die Verhandlungsbereitschaft der beteiligten Staaten nicht gänzlich versiegt. Derzeit laufen alle
Zu Protokoll gegebene Reden
internationalen Bemühungen ins Leere, weil die Konfliktparteien kein echtes Interesse an einer Kooperation
haben, sie gefangen sind in ihrer jahrelangen Kriegsrhetorik und jegliche Kompromisse als innenpolitische
Schwäche ausgelegt werden. Das einzige Mittel, das
langfristig helfen wird, sind die Step-step-Maßnahmen
der zivilen Konfliktlösung. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, diese Maßnahmen im Südkaukasus signifikant zu erhöhen.
Auch im Bundestag können wir mit unserem IPS-Programm einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung einer demokratischen Kultur leisten. Ich habe im Oktober
jeweils fünf hochqualifizierte und motivierte junge Menschen aus Georgien und Aserbaidschan für das Praktikum im Bundestag ausgewählt. Herr Börnsen wählte
drei Stipendiaten aus Armenien aus. Lassen wir diese
jungen Menschen im nächsten Jahr teilhaben an unseren
Entscheidungsprozessen, die sie zu Multiplikatoren für
Offenheit und Kompromissfähigkeit in beiden Staaten
werden lassen können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8681, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7645
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.