Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Einsprüche gemäß § 39 der Geschäftsord-
nung der Abgeordneten Herbert Behrens,
Heidrun Dittrich, Annette Groth, Heike
Hänsel, Inge Höger und Michael Schlecht ge-
gen den am 17. September 2010 erfolgten Sit-
zungsausschluss
In der letzten Plenarsitzung habe ich die genannten
Abgeordneten auf der Grundlage des § 38 unserer Ge-
schäftsordnung von den beiden Sitzungstagen heute und
morgen ausgeschlossen. Um dennoch zu den Sitzungen
des Plenums und der Ausschüsse an diesen Tagen zuge-
lassen zu werden, haben fünf der ausgeschlossenen Ab-
geordneten beim Bundesverfassungsgericht einen
Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Vor dem
Hintergrund dieses Verfahrens - auch zur Wahrung mög-
licher Rechtsansprüche - habe ich mich entschlossen,
den Vollzug der Ausschlüsse auszusetzen, um eine Klä-
rung der Frage, die gegebenenfalls im Hauptsache-
verfahren erfolgt, abzuwarten. Damit hat sich nach Auf-
fassung des Bundesverfassungsgerichts der Antrag auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erledigt.
Unabhängig davon ist gemäß § 39 unserer Geschäfts-
ordnung über die Einsprüche der Abgeordneten zu ent-
scheiden. Ihnen liegt die Unterrichtung vor, der Sie auch
den Wortlaut der Einsprüche entnehmen können.1) Nach
§ 39 unserer Geschäftsordnung entscheidet der Bundes-
tag ohne Aussprache über die Einsprüche. Ich gehe da-
von aus, dass über die sechs Einsprüche gemeinsam ab-
gestimmt werden kann. Gibt es dazu eine andere
Auffassung? - Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir
so.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Einsprüchen
stattgeben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme?
1) Anlagen 2 bis 7
({0})
Damit sind die Einsprüche mit großer Mehrheit des
Bundestages zurückgewiesen.
Wir kommen nun zu den übrigen vereinbarten Tagesordnungspunkten.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
({1})
- Nach dem Bericht dürfen Sie sich dazu selbstverständlich melden.
({2})
Wir nehmen das aber schon einmal als angemeldetes Interesse zu Protokoll. Es ist interessant, dass es noch vor
der Unterrichtung der Bundesregierung über das voraussichtliche Thema eine lebhafte Anmeldung von Nachfragen gibt.
Ich warte jetzt noch einen Augenblick und bitte diejenigen, die an der Befragung der Bundesregierung wegen
anderer Sitzungsverpflichtungen nicht teilnehmen können oder wollen, den Plenarsaal zügig zu räumen.
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Energiekonzept der Bundesregierung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat zunächst der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
({3})
Dr. Norbert Röttgen, und anschließend der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer
Brüderle. - Bitte sehr, Herr Minister Röttgen.
Redetext
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte gerne einen Bericht über die Kabinettssitzung und die dort getroffenen Beschlüsse, insbesondere in Bezug auf das Energiekonzept, geben. Ich
möchte zu Beginn hervorheben, dass nunmehr - seit
Jahrzehnten erstmalig - ein Energiekonzept vorliegt.
({0})
Für jede entwickelte Gesellschaft, für jedes Industrieland - das wollen wir bleiben, weil es zu unserem Vorteil
ist -, sind die Energieversorgung und deren langfristige
Sicherung eine wichtige Lebensader,
({1})
die man ertüchtigen und gesund erhalten muss, wenn
sich ein Land weiterhin gut entwickeln will. Dementsprechend haben wir die Entscheidungen getroffen.
Es handelt sich um ein Energiekonzept, das langfristig angelegt ist. Energiepolitik kann nicht anders als
langfristig betrieben werden. Deshalb haben wir uns für
einen Planungshorizont von 40 Jahren bis zum Jahr 2050
entschieden. Das ist notwendig, um Energiepolitik zu
machen. Bei den Energieunternehmen geht es immer um
Investitionen in Milliardenhöhe. Ein Kohlekraftwerk
wird für 30, 40 oder 50 Jahre gebaut. Eine Windparkanlage wird für mindestens 20 Jahre konzipiert. Deshalb
gibt es eine politische Bringschuld. Diese politische
Bringschuld heißt Verlässlichkeit. Mit unseren Entscheidungen haben wir die Grundlage gelegt, dass Verlässlichkeit herrscht und die Energieversorgung weiterhin
gewährleistet ist.
Welches sind die langfristigen Ziele, die wir mit diesem Energiekonzept verfolgen? Wir verfolgen drei große
Ziele, für deren Erreichen wir jetzt die Grundlagen gelegt haben. Das erste Ziel ist die Energiesicherheit.
({2})
Es geht um die Sicherheit der Energieversorgung; diese
wird durch unsere Entscheidungen gewährleistet. Das
zweite Ziel ist die Klimaverträglichkeit, weil Klimaschutz einschließlich CO2-Reduzierung eine Bedingung
nicht nur für wirtschaftliche, sondern auch für menschliche Entwicklung ist. Das dritte Ziel ist: Durch die damit
einhergehende technologische Entwicklung und die
wirtschaftliche Modernisierung wird gerade unser Land
seine Wachstumspotenziale und seine Wettbewerbsfähigkeit steigern. Deshalb ist die von uns verfolgte Strategie eine wirtschaftliche Modernisierungs- und Wertschöpfungsstrategie.
Die drei genannten Ziele drücken sich auch in konkreten Zahlen aus. Wir haben einen Zeithorizont von
40 Jahren und das Ziel definiert, innerhalb dieses Zeitraums die CO2-Emissionen um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Bis 2050 wollen wir einen Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung von 80 Prozent
erreichen. Wir wollen die Energieproduktivität um
2,1 Prozent pro Jahr steigern, sodass wir in 40 Jahren
den Primärenergieverbrauch halbiert haben werden. Wir
wollen die Gebäudesanierungsrate von 1 auf 2 Prozent
verdoppeln.
Das sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben. Sie sind
notwendig, um eine sichere, klimaverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung zu realisieren. Diese
Ziele werden über Zwischenetappen erreicht werden.
Für sie haben wir ein Monitoring, einen Überprüfungsprozess, fest verabredet. Das heißt, wir entlasten unser
heutiges Handeln nicht durch weitreichende Ziele, sondern wir definieren Zwischenziele, deren Erreichen
überprüft wird, damit wir wissen, ob wir auf dem Zielpfad sind. 2013 wird die erste Überprüfung erfolgen. Es
wird ein lebendiger politischer Prozess stattfinden, der
alle Sektoren umfasst: Wärme, Verkehr, Strom und Industrie. Sektorenübergreifend und die damit verbundenen technologischen Innovationen umfassend - das ist
eine nüchterne Feststellung - ist dieses Konzept ein Meilenstein in der Wirtschaftsgeschichte unseres Landes.
Wir haben dieses Konzept glaubwürdig erarbeitet.
Wir haben es mit rund 60 Maßnahmen handfest unterlegt.
({3})
Das fängt bei der Finanzierungsgewährleistung für Offshore-Windenergieanlagen in der Nord- und Ostsee an.
Das sind Risikoinvestitionen. Die KfW wird einen Sonderkreditfonds auflegen und Mittel in Höhe von 5 Milliarden Euro für die Finanzierung von Offshore-Windenergieanlagen zur Verfügung stellen. Wir werden in der
Nordsee Clusteranbindungen schaffen, genauso wie eine
bundesrechtliche Planung für Stromnetze, die dafür
sorgt, dass der Strom durch die Verteilnetze, sogenannte
intelligente Netze, und durch intelligente Zähler beim
Verbraucher ankommt. Das zeigt, dass es sich um eine
ganz neue Infrastruktur handelt. Wir haben neue Potenziale und neue Technologien, mit denen wir unsere Ziele
erreichen. Es ist eine Sache, vor zehn Jahren den Ausstieg aus der Kernenergie mit einer Überbrückungszeit
von 20 Jahren beschlossen zu haben. Es fehlte aber bislang der Einstieg in eine neue, moderne und effiziente
Versorgung mit regenerativen Energien.
({4})
Das ist die zweite Seite der Medaille. Mit Aussteigermentalität, Ideologie und Verantwortungsverweigerung
kann man kein modernes Industrieland führen. Das müssen Sie endlich verstehen. Wir haben das verstanden und
ziehen die Konsequenzen daraus.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt doch
auf Folgendes aufmerksam machen: Wir debattieren im
Präsident Dr. Norbert Lammert
Augenblick nicht, auch wenn das vielleicht reizvoll
wäre.
({0})
Die für die Berichterstattung vorgesehene Zeit ist abgelaufen.
({1})
Eigentlich ist diese Zeit für die Berichterstattung insgesamt vorgesehen. Ich schlage aber vor, dass der Kollege
Brüderle, wenn er möchte, das Gesagte mit einigen Hinweisen ergänzt und wir die Befragungszeit entsprechend
verlängern, damit die Zeit, die für die Berichterstattung
in Anspruch genommen wird, nicht zulasten der Fragemöglichkeiten geht. Können wir so verfahren? - Danke
schön.
Herr Kollege Brüderle zur Ergänzung.
Im Jahr 1973 wurde das letzte Energiekonzept von einer Bundesregierung erarbeitet. Dieses wurde 1991 fortgeschrieben. Jetzt hat die Bundesregierung ein umfassendes und langfristig ausgerichtetes Energiekonzept für
die Zeit bis 2050 vorgelegt. In der gestrigen Kabinettssitzung wurde es verabschiedet. Es hat zum Ziel, das
Zeitalter regenerativer Energien schneller herbeizuführen. Ja, als Endziel streben wir alle regenerative Energien als Hauptversorgungsquelle an. Aber der Weg dahin
muss überbrückt werden. Dafür braucht man Brückentechnologien wie Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke und
Kernkraftwerke. Deshalb wurde im Zusammenhang mit
diesem Energiekonzept vereinbart, die Nutzungszeit der
Kernkraftwerke im Durchschnitt um zwölf Jahre zu verlängern. Etwa die Hälfte der sogenannten Windfall Profits, der Zusatzgewinne, die durch längere Nutzung der
Kernkraftanlagen entstehen, soll - das war die klare Vorstellung - abgeschöpft werden. Ein Teil dieses Geldes
soll zur Haushaltskonsolidierung verwendet werden;
aber der überwiegende Teil soll genutzt werden, um den
Umstieg zu beschleunigen und zu finanzieren.
Wir haben noch keine geeignete Speichertechnologie,
um Windenergie oder Solarenergie grundlastfähig machen zu können. Wir haben noch nicht die Netze, die wir
für eine effektive, dezentrale Versorgung mit regenerativen Energien in unserem Land brauchen. Wir müssen
den Netzausbau vorantreiben. Wir müssen auch Schritte
in Richtung mehr Umweltfreundlichkeit machen. Ich
nenne zum Beispiel die CCS-Technologie für Kohlekraftwerke. Wir haben konzeptionell exakt beschrieben,
welche Schritte notwendig sind.
Wir haben noch mehr getan, da wir sofort anfangen
wollen. Wir haben gleichzeitig ein Zehnpunkteprogramm verabschiedet, das den Einstieg in die Umsetzung dieser Strategie bedeutet. Für uns sind in der Energiepolitik drei Ziele gleichrangig: Klimafreundlichkeit,
sichere Versorgung, Bezahlbarkeit. Diesen drei Prämissen entspricht das Konzept.
Ich darf mich hier vor dem Parlament ausdrücklich
beim Kollegen Röttgen dafür bedanken, dass wir, Umweltministerium und Wirtschaftsministerium, in großem
Einvernehmen auf den Weg gebracht haben, was andere
Regierungen nicht geschafft haben.
({0})
Weil wir eine Fülle von Wortmeldungen haben,
schlage ich vor, dass Sie erstens sich bemühen, knapp
und präzise zu fragen - ich werde bei den Antworten darauf achten, dass sie ebenfalls knapp und präzise sind -,
und Sie zweitens, sofern es erwünscht ist, die Frage direkt an einen der beiden Minister richten. Ansonsten
sollten sich die Minister verständigen, wer die jeweilige
Frage beantworten will. Jedenfalls sollten wir im Interesse einer möglichst effizienten Nutzung der verfügbaren Zeit versuchen, Doppelungen zu vermeiden.
({0})
Die erste Frage stellt die Kollegin Höhn.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte meine
Frage an den Minister Röttgen richten.
Wir haben heute eine Pressekonferenz der DUH erlebt. Sie hat schwere Vorwürfe gegen die von der Bundesregierung vorgelegte Novelle zum Atomgesetz erhoben. Es wurde gesagt:
AtG-Novelle zur Flankierung der Laufzeitverlängerung verwässert Sicherheitsmaßstäbe und schränkt
Klagerechte von Betroffenen ein - Neuer Paragraph
7 d durchlöchert „bestmögliche Schadensvorsorge“
und schützt AKW-Betreiber vor teuren Nachrüstungen.
Können Sie den Vorwurf entkräften, dass Klagemöglichkeiten für Einzelne durch § 7 d abgeschafft werden,
und können Sie den Vorwurf entkräften, dass die Vorschriften zur Nachrüstung alter Atomkraftwerke ausgehöhlt werden?
Ich bedanke mich für die Frage. - Ich glaube, dass
man das sehr nachvollziehbar entkräften kann; denn es
kann überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass der im
geltenden Recht vorhandene Sicherheitsstandard - mit
allen dazugehörigen materiellen Vorschriften, Verfahren
und Klagemöglichkeiten - völlig unangetastet bleibt. Es
gibt nirgendwo einen Abstrich am geltenden Recht. Vielmehr kommt zum geltenden Sicherheitsrecht eine neue
Sicherheitsstufe hinzu. Es kommt also ausschließlich etwas dazu, und selbstverständlich wird nichts verringert.
Hinzu kommt eine neue Qualität an Sicherheit im Atomrecht. Diese besteht darin, dass die Fortentwicklung von
Wissenschaft und Technik auf dem Gebiet der Sicherheit
nun berücksichtigt wird und eine rechtliche Nachrüstungspflicht - auch gegenüber dem einzelnen Betreiber über das bisherige sogenannte Erforderlichkeitsmaß hinaus durchgesetzt werden kann.
({0})
Es kommt also „nur“ etwas dazu. Alle Klagemöglichkeiten, die bislang vorhanden sind, bleiben selbstverständlich erhalten.
({1})
Zu dem, was bislang im Gesetz vorhanden ist, kommt etwas hinzu. Das bedeutet mehr Sicherheit als bislang. Das
ist nicht das, was Ihr Partei- und Fraktionskollege Trittin
mit der Kernenergiewirtschaft verabredet hat; das ist
richtig. Herr Trittin als mein Amtsvorvorgänger hat der
Kernenergiewirtschaft vertraglich zugesichert, dass die
Bundesregierung keine Initiative ergreifen wird, um den
Sicherheitsstandard zu ändern, also zu erhöhen.
({2})
Wir machen das nicht. Wir erhöhen den Sicherheitsstandard. Das ist auch geboten und richtig.
({3})
Kollege Kauch.
Die Bundesregierung hat in ihrem Energiekonzept
den unbegrenzten Einspeisevorrang verankert und sorgt
daher dafür, dass erneuerbare Energien und Kernkraft
nicht miteinander in Wettbewerb stehen. Ich hätte von
der Bundesregierung gerne gewusst, welche weiteren
Maßnahmen sie zur Förderung erneuerbarer Energien,
insbesondere im Bereich der Offshore-Windkraft, und
des Netzausbaus ergreifen will.
Bei der Förderung der Windenergie im Offshore-Bereich sowie dem Netzausbau und der Förderung der
Speichertechnologien sind Handlungsdefizite aufgetreten, die leider wegen des Fixierens auf den Ausstieg
nicht beseitigt wurden. Deshalb liegen wir dort zurück.
Mit dem vorliegenden Energiekonzept werden die Bundesregierung und die Koalition die Handlungsdefizite
der Vorgängerregierungen abbauen. Das fängt damit an,
dass wir die Finanzierungsprobleme bei der OffshoreWindenergie lösen werden. Es besteht dringender Bedarf, die Finanzierung abzusichern. Die Errichtung eines
Windparks mit 60 bis 80 Windkraftanlagen hat ein Investitionsvolumen von bis zu 1,5 Milliarden Euro. Hier
gibt es eine Zurückhaltung der Banken gegenüber neuen
Technologien, und es bestehen Materialunsicherheiten.
Deshalb sieht es die Bundesregierung als ihre Aufgabe
an, diesen Wirtschaftszweig durch ein KfW-Sonderprogramm mit einem Volumen von 5 Milliarden Euro - das
ist eine große Summe - zu entwickeln. Wir müssen einen Durchbruch bei der Offshore-Windenergie erzielen
und recht bald die ersten zehn Windparks realisieren.
Der Netzausbau ist im Grunde ein Schwerpunkt sowohl des 10-Punkte-Sofortprogramms als auch des
Langfristprogramms betreffend die Bundesfachplanung
für Stromleitungen. Die Stromautobahnen müssen von
Norden, wo der Strom entsteht, in die Gebiete mit
Stromnachfrage, also in den Westen und Süden des Landes, führen. Wir brauchen neue Rahmenbedingungen für
die Regulierung, damit das Kapital, das vorhanden ist,
dort seinen Investitionspunkt findet. Wir werden den
Ausbau der Distributionsnetze, die Verteilnetze, weiter
fördern, sodass der Verbraucher in der Lage ist, von den
neuen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Netzausbau
ist ein Schwerpunkt und steht im Zentrum unseres Programms.
Kollege Miersch.
Meine Frage richtet sich an die Minister Brüderle und
Röttgen. Das einzig Konkrete, was wir bislang aus dem
Energiekonzept kennen, ist die Laufzeitverlängerung,
die im sogenannten Förderfondsvertrag, umgangssprachlich auch Geheimvertrag genannt, festgeschrieben
ist. Wir haben diesen Vertrag heute Vormittag im Umweltausschuss mit Kanzleramtsminister Pofalla, der
Staatssekretärin Reiche und dem beamteten Staatssekretär des Finanzministeriums erörtert. Auf die Frage, ob es
weitere Vereinbarungen, Verträge oder Nebenabsprachen mit den vier großen Energiekonzernen gibt, konnten diese drei Personen der Bundesregierung nicht antworten.
({0})
Insofern frage ich Sie beide: Können Sie ausschließen,
dass es weitere Verträge, Vereinbarungen oder Nebenabsprachen mit den vier großen Konzernen gibt?
({1})
Über den Vertrag ist unter Federführung des Finanzministeriums verhandelt worden. Der Vorvertrag war bereits bekannt. Seit gestern steht der Vertrag auch im
Netz. Es handelt sich um eine im Wahlprogramm und im
Koalitionsvertrag angekündigte Vereinbarung.
({0})
Das ist wohl eine spezielle Form von Geheimhaltung.
Wir haben immer gesagt: Es gibt eine Gewinnabschöpfung. - Wenn Sie diese nicht wollen, können Sie das bekunden. Laufzeitverlängerungen führen jedenfalls zu
Sondergewinnen, und diese Sondergewinne wollen wir
für die erneuerbaren Energien abschöpfen.
Im Augenblick geht es, Herr Minister, aber nicht um
die Frage des Inhalts solcher möglicher Verabredungen,
sondern um die Frage, ob es weitere Verabredungen gibt.
Okay. - Das ist in dem Vertrag, der nun publiziert
worden ist, geregelt. Von weiteren Regelungen und Absprachen ist mir nichts bekannt.
({0})
Das hätte man doch auch gleich sagen können.
Herr Kollege Brüderle.
Für die Bundesregierung hat Staatssekretär Beus in
der Ausschusssitzung, die Sie ansprechen, zweifelsfrei
erklärt, dass es keine Nebenabsprachen mit den EVUs
gibt.
({0})
Das bestätigt ausdrücklich auch der Chef des Bundeskanzleramts. Alle Vereinbarungen mit den EVUs sind
offen, transparent und liegen auch den Oppositionsfraktionen vor.
Kollege Fell.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Frage an die
Bundesregierung, in diesem Fall an Herrn Röttgen, bezieht sich auf die arbeitsmarktpolitischen Aspekte des
Energiekonzeptes. Wir alle wissen: Wenn eine große
Branche wie die der erneuerbaren Energien, die zurzeit
300 000 Personen in Deutschland beschäftigt, gewaltige
Absatzeinbußen hat, dann wird das Arbeitsplatzverluste
und wahrscheinlich auch Konkurse zur Folge haben.
Aus dem Gutachten von EWI, Prognos und GWS, das
uns als Grundlage für dieses Energiekonzept vorliegt, ist
klar erkenntlich: Der jährliche Zubau von OnshoreWindkraft wird in den nächsten zehn Jahren, ausgehend
vom aktuellen Wert, um 60 Prozent gekürzt. In der Solarwirtschaft wird um 75 Prozent gekürzt, bei den Bioenergien um 85 Prozent. Dies wird unweigerlich Arbeitsplätze vernichten.
Herr Kollege Fell, debattieren wollen wir über dieses
Thema am Freitag.
Ich komme zu meiner Frage.
Schön.
Welche Strukturprogramme sehen Sie vor? Ich habe
im Energiekonzept keine gesehen. Herr Schlesinger von
Prognos, der gestern dieses Gutachten vorgestellt hat,
hat eindeutig gesagt, dass die Arbeitsplatzverluste durch
einen Strukturwandel in anderen Branchen aufgefangen
werden müssen. Damit hat er zugegeben, dass es massive Arbeitsplatzverluste geben wird. Wie anders soll
auch der Rückgang in dieser Branche wirken?
Wir schätzen die wirtschaftliche Entwicklung absolut
gegenläufig ein. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die erneuerbaren Energien weiter einen Boom
erleben werden. Alle Zahlen belegen das. Bei der
Onshore-Windenergie wird ein Repowering stattfinden.
In den nächsten Jahren steht uns eine Verdoppelung bzw.
Verdreifachung der Anlagekapazitäten bevor. Der Prozess läuft bereits. Wir fangen gerade an, die OffshoreWindenergie zu entwickeln; vom entsprechenden KfWSonderprogramm habe ich eben schon gesprochen.
Ich will ein anderes Beispiel nennen: die Photovoltaik. Wir haben hier über die Kürzung der staatlichen
Vergütung gestritten, die ich vorgeschlagen habe und die
vom Parlament beschlossen worden ist, weil die Marktpreise um 40 Prozent zurückgegangen sind. Da haben
Sie behauptet, das würde zum Exodus der Photovoltaikbranche führen. Jetzt gibt es erste Hinweise darauf, dass
möglicherweise noch in diesem Jahr nahezu eine Verdoppelung der bisherigen Gesamtkapazität der Photovoltaik zu verzeichnen sein wird.
({0})
Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Anteil
der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch in zehn
Jahren 35 Prozent betragen wird; eine Quote von
80 Prozent ist das Ziel für 2050. Die volkswirtschaftlichen Effekte, die Wertschöpfungspotenziale und die Arbeitsmarktentwicklung - die Zahl von 300 000 Beschäftigten in dieser Branche haben Sie genannt; sie ist völlig
richtig - werden weiterhin positiv sein. Das ist der ökonomische Grund, warum wir so handeln. Das ist eine
Wachstumsstrategie und auch eine Arbeitsplatzwachstumsstrategie, die mit konkreten Maßnahmen und Geld
unterlegt wird.
({1})
Nächste Frage, Frau Dr. Enkelmann.
Nach dem, was Sie gerade erklärt haben, bin ich fast
versucht, zu fragen: Wozu brauchen wir dann die Verlängerung der Laufzeiten?
Ich würde gerne eine Frage zur Braunkohleverstromung stellen. Die Zweifel hinsichtlich der Zukunft der
Braunkohleverstromung wachsen auch in meinem Bundesland, in Brandenburg. Vor wenigen Tagen hat die Industrie- und Handelskammer Brandenburg erklärt, dass
wir uns auf eine Zukunft der Lausitz ohne Kohlestrom
einstellen sollten. Das bedeutet natürlich - ich knüpfe
hier an die Frage des Kollegen Fell an - einen großen
Strukturwandel in der Region. Was will die Bundesregierung tun, um einen solchen Strukturwandel künftig
nachhaltig zu unterstützen?
({0})
Kollege Brüderle.
Wir verfolgen aus genau diesen Gründen ein anderes
Konzept. Wir sagen: Wir brauchen die Kohle, genauso
wie die Kernkraft, noch für eine längere Zeit, und zwar
als Brückentechnologie. Es gibt dazu keine Alternative.
({0})
Weil wir die Kohle noch für geraume Zeit nutzen müssen, betreiben wir die CCS-Technologie. Wir wollen
vom Deponieren von CO2 in der Luft wegkommen und
dies stattdessen in komprimierter Form in der Erde lagern.
Ich darf darauf hinweisen, dass allein durch das Abfackeln der großen Kohleflöze in China mehr CO2 emittiert wird als durch den Straßenverkehr in ganz Nordamerika. Insofern sind wir mit diesem ausgewogenen
Konzept unter Einbeziehung der Kohle, auch der Braunkohle, auf dem richtigen Weg.
({1})
Kollege Becker.
Vielen Dank. - Ich habe eine Frage an Herrn Bundesminister Röttgen. Sie haben eben gesagt, Ihnen seien
weitere Nebenabreden, Verhandlungen und Vereinbarungen nicht bekannt. Ich habe ein kleines Problem, festzustellen: Was ist Ihnen bekannt? Wovon wissen Sie wirklich?
Vor zwei Wochen haben Sie im Umweltausschuss die
Frage, ob Sie oder Ihr Haus an den Verhandlungen im
Kanzleramt beteiligt waren, verneint. Kanzleramtsminister Pofalla hat heute im Umweltausschuss erklärt, dass
Herr Hennenhöfer sehr wohl zeitweilig an den Verhandlungen teilgenommen hat.
Mir stellt sich die ganz einfache Frage: Wer hat entweder willentlich die Unwahrheit gesagt oder wer
wusste nicht, was tatsächlich dort passierte? Es kann
nicht sein, dass Herr Pofalla sagt, Herr Hennenhöfer sei
dabei gewesen, und dass Sie im Umweltausschuss erklären, Ihr Haus sei nicht beteiligt gewesen.
({0})
Würden Sie das bitte aufklären?
({1})
Das ist sehr leicht aufklärbar. Es hat im Kanzleramt
keine Verhandlungen gegeben, sondern im Kanzleramt
haben wir über das Energiekonzept gesprochen, es entwickelt und verabredet. An diesen Verhandlungen, politischen Gesprächen war ich, wie ich auch im Umweltausschuss gesagt habe, selbstverständlich beteiligt. Dort
haben wir die Schlussfassung des Energiekonzepts vereinbart bzw. die Schlussredaktion durchgeführt. Dort hat
also die Befassung des Kabinetts bzw. der zuständigen
Minister stattgefunden. Dabei ging es, wie gesagt, um
das Energiekonzept.
Darüber hinaus hat es Verhandlungen mit den Energieversorgungsunternehmen gegeben. Diese Verhandlungen - das hat heute auch der Kanzleramtschef so gesagt - habe ich nicht geführt. Das BMU hat sie nicht
geführt, übrigens auch nicht das Wirtschaftsministerium,
sondern zuständigkeitshalber das Bundesfinanzministerium. Insofern habe ich keine Verhandlungen mit der Energieversorgungswirtschaft geführt.
Es war in der Tat so - auch das habe ich gesagt; ich
habe damals sogar den Plural verwendet -, dass ein Beamter eine Fachfrage beantwortet hat, für die er hinzugezogen worden war. Er hat die Gespräche dann wieder
verlassen und war nicht bis zum Abschluss dabei. Er hat
eine Fachfrage zur Strommengenberechnung beantwortet. Er hat aber keine Verhandlungen geführt, sondern
nur eine Frage beantwortet.
({0})
Kollege Breil.
Ich habe eine Frage an Herrn Bundesminister
Brüderle zur Kernenergie. Wie hängen Laufzeitverlängerung und Entwicklung der Strompreise zusammen?
({0})
Es ist klar: Wenn man die Kapazitäten länger nutzen
und damit am Markt eine größere Menge zur Verfügung
stellen kann, so wirkt es preisdämpfend bis preissenkend.
({0})
Für die erneuerbaren Energien gibt es nach wie vor den
Einspeisevorrang, die Festpreisvergütung, sodass sie
nicht verdrängt werden. Wenn Strommengen aus anderen Quellen das Angebot vergrößern, hat das dagegen
eine preisdämpfende bzw. preissenkende Wirkung.
({1})
Für mich ist der beste Mieterschutz immer ein Überangebot an Wohnungen. Der beste Arbeitnehmerschutz ist,
wenn die Arbeitskräfte knapp sind und sich alle um sie
bemühen müssen. So ist es in der Analogie auch hier.
Kollege Kelber.
Herr Minister Brüderle hat sich als bisher einziges
Mitglied der Bundesregierung dahin gehend festgelegt,
dass es keine weiteren Nebenabsprachen, Verabredungen oder Vereinbarungen mit den Atomkonzernen gibt.
Deswegen erweitere ich meine Frage an Herrn Minister
Röttgen. Nachdem die Umweltorganisation Greenpeace
vor drei Wochen die Verabredung mit den Atomkonzernen aufgedeckt hat - sie ist seit gestern auf der Website
der Bundesregierung zu lesen ({0})
und gestern Nacht nach dem Vorbericht des Magazins
Spiegel über ein Papier über verringerte Sicherheitsanforderungen an die Atomkraftwerke auch dieses Papier
online gestellt wurde, frage ich: Gibt es weitere Papiere
aus Ihrem Fachbereich zum Bereich der Atomtechnologie, die auf Veröffentlichung warten, nachdem Medien,
Opposition oder Zivilgesellschaft sie entdeckt haben?
Herr Kollege Kelber, wir werden weitere Informationen, alle Unterlagen herausgeben, die besprochen worden sind, in denen sich Entscheidungen wiederfinden.
Das ist ein ganz normaler Vorgang. Ich finde den untauglichen Versuch, da irgendetwas zu skandalisieren, völlig
abwegig.
({0})
Ich finde ihn auch deshalb sehr bedenklich, weil Sie
diesen unzutreffenden Eindruck auf dem Gebiet der Sicherheit, glaube ich, bewusst schüren. Vielleicht sollte
man sich als Oppositionsabgeordneter einmal fragen
- man kann das alles politisch anders sehen -, ob die damit verbundene Angstmache in der Bevölkerung wirklich ein verantwortungsvolles parlamentarisches Verhalten ist.
({1})
Hier wird nichts verborgen gehalten. Es gibt nichts im
Geheimen. Die Verabredungen beim Thema Sicherheit
beziehen sich auf Maßnahmen, die zusätzlich erfolgen.
Sie hätten vielleicht schon früher erfolgen können. Wir
machen sie jetzt, und wir machen das alles in transparenter Weise.
({2})
Man kann politisch unterschiedlicher Auffassung sein.
Aber ich gebe zu bedenken, ob Sie diese Angstkampagnen nicht einstellen sollten.
({3})
Frau Kollegin Nestle.
Danke schön. - Meine Frage richtet sich ebenfalls an
die beiden Minister, Herrn Röttgen und Herrn Brüderle.
Die Klimaschutzziele im Energiekonzept basieren im
Wesentlichen darauf, dass auch im Gebäudebereich sehr
hohe Einsparungen erzielt werden. Sie wollen die Sanierungsrate verdoppeln. Die Frage richtet sich an Sie
beide: Wie, denken Sie, kann dieses Ziel noch erreicht
werden, nachdem Minister Ramsauer die ordnungsrechtlichen Maßnahmen im Gebäudebestand abgelehnt hat,
aber die Fördergelder, die bisher vorgesehen sind, nur
die Hälfte dessen betragen, was wir im letzten Jahr gehabt haben? Wie soll da noch die Verdoppelung der Sanierungsrate möglich sein? Akzeptieren Sie die Position
Ihres Kollegen Ramsauer, der nur über Fördermittel gehen will und nicht auch im Ordnungsrecht betreffend
den Gebäudebestand etwas machen will?
Ich habe die gleiche Frage schon heute Vormittag im
Ausschuss beantworten können. Ich wiederhole die Antwort gerne. Wir haben in der Tat davon abgesehen,
Zwangssanierungen durchzusetzen. Nehmen Sie einmal
den Fall eines älteren Ehepaars! Sie sind Rentner mit einem kleinen Einkommen und haben ein Haus. Denen
würden Sie eine aufwendige Sanierung aufzwingen - sie
müssten sich hoch verschulden -, die sie gar nicht durchführen könnten.
Deshalb ist eine anreizorientierte Konzeption vorgesehen: Man gibt eine Hilfestellung, damit es zur Sanierung kommt.
({0})
In vielen Fällen ist das ja auch rechnerisch überzeugend,
weil man Energie einspart, wenn man entsprechende
Maßnahmen durchführt. Deshalb setzen wir darauf, dass
die Anreize bei dem herrschenden Energiepreisgefüge
wirken.
Es gibt entsprechende Programme, die beim Kollegen
Ramsauer ressortieren,
({1})
und es gibt entsprechende KfW-Programme. Sie helfen,
dies genau so umzusetzen, wie wir es uns vorgenommen
haben. Zwangssanierungen, durch die die Menschen in
ihrer Existenz gefährdet werden, können von einer Regierung, die anderen Zielen verpflichtet ist, nicht erwartet werden.
({2})
Zur Ergänzung, Herr Röttgen.
Ich möchte das noch einmal bestätigen: Wenn man
dort etwas erreichen will, dann wird man es nur mit den
Bürgern und nicht durch Überwachung und Bevormundung der Bürger erreichen, und darum, glaube ich, ist
das genau das Richtige.
({0})
Ich will noch eine ergänzende Anmerkung machen:
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm war ein bis 2011
befristetes Programm. Durch die Entscheidung dieser
Koalition wird es eine Verstetigung genau dieses Programms über 2011 hinaus geben,
({1})
mit Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von insgesamt 500 Millionen Euro für diesen Zeitraum.
Einer der großen Vorteile - darüber ist heute noch gar
nicht gesprochen worden - ist, dass zur Erreichung der
Ziele, die wir definiert haben, die entsprechenden Instrumente und Maßnahmen durch ein gesetzlich geregeltes
und mit Förderzielen verknüpftes Sondervermögen, wodurch ab 2013 rund 3 Milliarden Euro pro Jahr genau für
diese Zwecke zur Verfügung stehen, auch finanziell abgesichert sind.
({2})
Einer der größten Erfolge überhaupt ist, dass die Klimaschutzpolitik, die Energiepolitik, die Förderung von erneuerbaren Energien und die Förderung von Energieeffizienz aus den üblichen jährlichen Haushaltskämpfen
herausgenommen werden und eine verlässliche und
langfristige finanzielle Grundlage bekommen.
Kollege Lenkert.
({0})
Herr Präsident, ich habe eine Frage an die beiden
Minister. - In der Sondersitzung in der letzten Sitzungswoche sagte der Sachverständige des EWI, dass die
Grenzkosten für die Herstellung einer Megawattstunde
Atomstrom bei 11,4 Euro liegen. In einer Pressemitteilung des Deutschen Atomforums vom selben Tag erklärten die Atomenergieerzeuger, dass die Kosten für die
Herstellung einer Megawattstunde Atomstrom bei
47 Euro liegen würden. Ich wundere mich über die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen.
Zur nächsten Frage. Das Deutsche Atomforum erklärte weiter, bei einem Verkaufspreis von 50 Euro
würde sich das bei weiteren Steuern wie der Brennelementesteuer nicht mehr rechnen. Deshalb lautet meine
Frage an die Bundesregierung: Wieso zwingen Sie die
Atomenergieerzeuger dazu, die Laufzeiten zu verlängern, obwohl sich das doch nach deren eigener Pressemitteilung nicht rechnet?
({0})
Wir haben deshalb ja unabhängige Sachverständige
gewählt, die ihre eigenen Prämissen gesetzt haben, und
keine Prämissen vorgegeben. In einer Marktwirtschaft
entwickeln sich die Preise nach Angebot und Nachfrage
und nicht nur gemäß den Kostenstrukturen.
({0})
Die Konsequenz ist ja auch - Sie sehen das, wenn Sie
die Börse beobachten -: Die Börsenkurse der EVUs sind
nicht nach oben gegangen. RWE muss drastische Sparmaßnahmen zusätzlich ergreifen, um sich entsprechend
anzupassen.
({1})
Das heißt doch nicht, dass sie damit Riesengewinne machen.
({2})
- Wenn Sie die Antwort nicht hören wollen, dann kann
ich auch aufhören.
Wir sagen, dass wir etwa die Hälfte der Windfall Profits durch Steuern abschöpfen werden. Das halte ich im
Grundsatz für eine faire Basis. Die zusätzlichen Einnahmen verwenden wir zur Erreichung unserer Ziele. Unternehmen müssen in einer Marktwirtschaft aber auch Gewinne machen, damit sie die Arbeitsplätze erhalten
können und nicht unsozial Arbeitsplätze gefährden.
({3})
Kollege Ostendorff.
Herr Präsident! Ich habe nicht den Eindruck, dass
diese Regierungsbefragung wirklich der Wahrheit dienlich ist. Wir haben von den beiden Ministern nichts gehört, wodurch die Vorgänge um diesen geheimen Atomdeal weiter aufgeklärt werden.
Weil Kollege Brüderle die Antwort auf die Frage, die
eben schon einmal gestellt worden ist, abgelesen hat,
stelle ich diese Frage noch einmal an den Kollegen
Röttgen, und ich bitte, kein instrumentelles Verhältnis
zur Wahrheit zu zeigen. Ich habe eine ganz einfache
Frage: Sind Ihnen weitere Absprachen zwischen der
Bundesregierung und den Atomenergieunternehmen bekannt?
({0})
Es reicht mir nicht, dass Sie sagen, es sei allein der
Atomfördervertrag wichtig. Ich möchte das von Ihnen
wissen. Wenn weitere geheime Absprachen herauskommen, werden wir Sie darauf festnageln.
Ich kann die Frage erneut mit Nein beantworten, Herr
Kollege.
({0})
Frau Kollegin Bulling-Schröter.
Ich habe eine Frage zu den Strompreisen. Ich habe
von Minister Brüderle gehört, Strompreise sollten bezahlbar bleiben. Vonseiten der Koalition heißt es: Vielleicht sinken die Preise schon aufgrund dieses tollen
Energiekonzepts. - Wie kommen Sie überhaupt darauf,
dass die Preise bezahlbar bleiben könnten und sie nicht
erhöht werden? Ich war im Bundestag, als unter Kohl die
Liberalisierung des Energiemarkts beschlossen wurde.
({0})
Damals hieß es, die Preise würden sinken. Inzwischen
stellen wir fest, dass die Energiepreise für Otto Normalverbraucher - natürlich nicht für die Großkonzerne - um
40 Prozent erhöht wurden. Wie kommen Sie also darauf,
dass die Preise gesenkt werden könnten?
Sie haben die Zusatzgewinne angezweifelt. Was ist
denn mit den kostenlosen Zertifikaten, die nach wie vor
eingepreist werden und die natürlich den Energiekonzernen zugutekommen? Das sind Sonderprofite. Sie waren
nicht bereit, diese abzuschöpfen. Auch beim Atomstrom
werden diese Sonderprofite neben sonstigen Sonderprofiten erzielt und nach wie vor nicht abgeschöpft. Noch
einmal: Wie kommen Sie darauf, dass die Preise sinken
könnten?
({1})
In der Marktwirtschaft richten sich Preise nach Angebot und Nachfrage.
({0})
Ich kann nicht vorhersehen, wie sich die Wirtschaft entwickelt, ob der Strom zukünftig oft oder weniger oft eingeschaltet wird. Das unterliegt individuellen Entscheidungen, die wir nicht vorhersehen können. Aber eines
kann man sagen, und zwar aufgrund logischer Überlegungen: Wenn die Angebotsmenge höher ist, weil Kapazitäten länger genutzt werden,
({1})
unbeschadet des Einspeisevorrangs und der Festpreisgarantie für erneuerbare Energien, spricht nach der Logik
alles dafür, dass das preisdämpfend bis preissenkend
wirkt. Mehr kann Ihnen jemand, der nicht Prophet oder
Hellseher ist, in einer marktwirtschaftlichen Ordnung
nicht sagen.
({2})
Ich möchte gern einen Verfahrensvorschlag machen. Ich habe noch Wortmeldungen der Kollegen Pfeiffer,
Frau Kotting-Uhl, Hempelmann, Frau Menzner, Frau
Golze und Frau Dittrich. Alle diese würde ich gerne
noch aufrufen. Ich bitte darum, dass wir einvernehmlich
die in der Geschäftsordnung vorgesehene Befragungszeit verlängern und die verfügbare Zeit der Fragestunde
entsprechend verkürzen, um den angemeldeten Frage6332
Präsident Dr. Norbert Lammert
stellern Gelegenheit zu ihren Fragen zu geben. Ich
würde gleichzeitig gerne mit Ihrer Zustimmung diese
Frageliste schließen. Können wir so verfahren? - Das ist
der Fall. Dann bedanke ich mich.
Nächste Wortmeldung, Kollege Pfeiffer.
Vielen Dank. - Da hier mehrfach unterstellt wurde,
dass diese vertraglichen Verhandlungen geheim, außergewöhnlich, unrecht oder gar undemokratisch wären
- es wurde schon gesagt, dass sie transparent und nachvollziehbar waren -, frage ich die Bundesregierung: War
es nicht vielmehr so, dass auch die rot-grüne Bundesregierung in der gleichen Art und Weise Verhandlungen
mit den Energieversorgungsunternehmen mit dem Ziel
geführt hat, die Laufzeiten willkürlich zu verkürzen, und
sie damit volkswirtschaftliche Werte vernichtet hat? Ist
es nicht jetzt so, dass diese Bundesregierung Verhandlungen mit dem Ziel führt, den volkswirtschaftlichen
Nutzen, den die Kernenergie hat, zu heben und die
Schritte hin zu den erneuerbaren Energien zu beschleunigen - Stichwort: Brücke -, und dass sie über
30 Milliarden Euro zusätzlich in den Umbau der Energieversorgung investiert, die sonst nicht zur Verfügung
stehen würden?
({0})
Das kann am Freitag in aller Ruhe, vermutlich streitig, weiterverfolgt werden.
Bitte.
Herr Kollege, es ist richtig. Ich halte hier die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 in Händen.
({0})
- Ich werde diese Vereinbarung immer wieder vortragen; das kann ich hier ankündigen.
({1})
In jeder Debatte werde ich vortragen, was der damalige
Bundesminister Trittin ausgehandelt hat.
Ich habe eben schon die Verabredung zur Sicherheit
zitiert. Ich weise darauf hin, dass wir das anders gemacht
haben; wir haben nicht Sicherheit verhandelt. Darum hat
der für Reaktorsicherheit zuständige Minister dieser Regierung mit den Energieversorgungsunternehmen keinen
Vertrag geschlossen, keine Verhandlung geführt. Der
Minister für Umwelt und Reaktorsicherheit Trittin hat
den Adressaten seiner Amtstätigkeit Zusagen dazu gemacht, wie er seine Amtstätigkeit ausführt. Das kam und
kommt für diese Bundesregierung nicht infrage.
({2})
Für diese Bundesregierung kommt ebenfalls nicht infrage, was der Reaktorsicherheitsminister Trittin mit seiner Unterschrift - er hat ja die Verhandlungen mit den
Energieversorgungsunternehmen geführt, obwohl er für
Sicherheit zuständig war - für die gesamte Bundesregierung zugesagt hat. Ich darf eine weitere Passage zitieren.
({3})
Das ist übrigens eine Fundgrube, aus der ich Ihnen immer wieder - wir haben ja noch ein paar Debatten zu
diesem Thema - etwas vortragen werde. Ich zitiere:
({4})
Die Beteiligten
- das sind die Vertragsbeteiligten schließen diese Vereinbarung auf der Grundlage,
dass das zu novellierende Atomgesetz einschließlich der Begründung die Inhalte dieser Vereinbarung umsetzt.
Das Parlament ist sozusagen der Umsetzungsgesetzgeber für die Vereinbarungen, die die Regierung abgeschlossen hat. - So viel zum Parlaments- und Demokratieverständnis der Herren, die heute kritisieren,
({5})
zum Beispiel der Fraktionsvorsitzende Trittin.
Es geht aber noch weiter.
Ja, aber ich kann jetzt - Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Einen Satz darf ich vielleicht noch sagen.
Aber nur den einen.
({0})
Den einen Satz.
Gut.
Er ist auch nicht kommentierungsbedürftig.
Über die Umsetzung in der AtG-Novelle wird auf
der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der KaBundesminister Dr. Norbert Röttgen
binettsbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten.
Bevor das Kabinett entscheiden darf, wird mit den Verhandlungspartnern beraten. - Das ist das Amtsverständnis der damaligen Regierung gewesen. Das unterscheidet sich grundsätzlich von unserem Amts- und
Staatsverständnis.
({0})
Der Kollege Hempelmann ist der nächste Fragesteller.
Meine Frage richtet sich an den Wirtschaftsminister
Brüderle. Herr Brüderle, Sie sind als Wirtschaftsminister
sozusagen auch oberster Wettbewerbshüter innerhalb
des Kabinetts. Die obersten Wettbewerbshüter dieser
Republik, der Präsident des Bundeskartellamts und der
Präsident der Monopolkommission, haben sich äußerst
kritisch zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke geäußert, insbesondere was die Folgen für den
Wettbewerb im Erzeugungsbereich angeht. Vor allem
der Präsident des Bundeskartellamts hat gefordert, dass
es kompensatorische Maßnahmen gibt. Konkret wurde
die Veräußerung von Kapazitäten in anderen Kraftwerken an Wettbewerber oder die Schließung der ältesten,
ineffizientesten Anlagen vorgeschlagen, was ja auch einen ökologischen Effekt hätte. Davon findet sich - übrigens zum Bedauern des Bundeskartellamtspräsidenten
Mundt - in Ihrem Konzept nichts. Deswegen die Frage:
Ist etwas geplant, was in diesem Konzept nicht steht, um
die negativen wettbewerblichen Auswirkungen, die vom
Bundeskartellamt, von der Monopolkommission und
auch von den Wettbewerbern aufgezeigt werden, zu
kompensieren?
Herr Kollege Hempelmann, Sie haben mir die gleiche
Frage heute Morgen im Wirtschaftsausschuss gestellt.
({0})
Ich kann Ihnen nur die gleiche Antwort wie heute Morgen geben. Sie müssen verschiedene Marktstrukturen
sehen: die Erzeugerstrukturen und daneben den
Strommarkt. Eine Wettbewerbssituation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass mehr Kapazitäten länger im
Strommarkt vorhanden sind, stärkt die Position der Abnehmer, also der Verbraucher, weil ein höheres Angebot
vorhanden ist.
({1})
Wir haben uns nach einer Abwägung - es gab Anhörungen und Erörterungen - für den Weg entschieden, der im
vorliegenden Energiekonzept dargestellt ist. Das spiegelt
die Auffassung der Bundesregierung wider.
({2})
Frau Kollegin Kotting-Uhl.
Herr Röttgen, ich möchte Sie jetzt fragen, welches
neue Sicherheitsniveau Sie über die bestehende Gesetzeslage hinaus eigentlich anstreben. Bisher gilt § 7
Abs. 2 Nr. 3 des Atomgesetzes. Die Genehmigung darf
nur erteilt werden, wenn - ich zitiere - „die nach dem
Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist“.
Nun treten Sie mit dem Anspruch an, mit einem
neuen § 7 d diese Vorsorgeverpflichtung zu erweitern.
Das ginge naturgemäß nur, wenn die derzeitige Vorsorgeregelung des Atomgesetzes eine Lücke aufwiese. Das
ist aber zumindest nach Aussagen von Gerichten nicht
der Fall. Spätestens mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. April 2008 ist klargestellt, dass
es bei der erforderlichen Vorsorge entgegen der Auffassung einiger Länder keine Lücke gibt. Ich zitiere die beiden entscheidenden Sätze:
Der weite Begriff der nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen Schadensvorsorge ist die Konsequenz des Grundsatzes der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge.
Mit diesem Grundsatz wird die erforderliche Schadensvorsorge von dem Restrisiko abgegrenzt, das
als unentrinnbar hinzunehmen ist …
Ich frage Sie jetzt - Sie haben sich ja offensichtlich
der damaligen Auffassung einiger Länder angeschlossen, dass da Lücken seien -, wie Sie über diesen umfassenden Vorsorgepflichtsbegriff, der nach dem Stand von
Wissenschaft und Technik definiert war - damit ist
schon immer, um das gleich vorwegzunehmen, eine Dynamisierung verbunden; der „Stand von Wissenschaft
und Technik“ ist nichts Statisches -, hinausgehen wollen.
Frau Kollegin Kotting-Uhl, Sie haben Ihre Frage zum
Teil selbst beantwortet, als Sie gesagt haben, es gebe hier
eine andere Auffassung einiger Länder. Das sind immerhin die Länder, die die Aufsicht machen. Darum, finde
ich, ist zumindest - es ist meines Erachtens mehr als das eine rechtliche Klarstellung der Meinung, die man hat,
({0})
dann auch gegenüber denen, die das Gesetz vollziehen,
sinnvoll; so besteht über diese Frage kein Streit mehr.
Sie selber sagen: Es ist eine Streitfrage.
({1})
Die, die das Gesetz anwenden, sehen es zum Teil anders.
({2})
Also wird das jetzt zumindest geklärt.
Es wird aber mehr als geklärt. Hier wird ein zusätzlicher Maßstab eingeführt. Es geht dabei nicht um die
Frage des Standes von Wissenschaft und Technik, sondern um den Erforderlichkeitsmaßstab. Der Maßstab,
den wir jetzt einführen, ist strenger als der, der bislang
im Gesetz verankert war.
({3})
Nun mögen Sie ja sagen, sie fänden es nicht so wichtig, dass wir wirklich das Äußerste an Präzision und Sicherheitsanforderungen festlegen.
({4})
Wir legen jedoch den höchsten Wert darauf, dass Sicherheitsfragen auf dem maximalen Niveau und mit rechtlicher Durchsetzbarkeit gesetzlich geklärt werden. Darum
verankern wir das bisherige Sicherheitsniveau steigernde
zusätzliche Regelungen.
({5})
Frau Kollegin Dittrich.
Sehr geehrter Herr Umweltminister Röttgen, Ihr
Staatssekretär erklärte vorhin ganz freundlich, dass die
Bundesregierung sehr gerne die Ziele in dieser Demokratie mit den Bürgern erreichen möchte. Daher meine
Frage: Interessiert es die Bundesregierung und vor allem
den Umweltminister, dass am 18. September über
100 000 Bürger in Berlin gegen Atomkraft und gegen
das Energiekonzept der Bundesregierung demonstriert
haben? Wie nimmt die Bundesregierung zum Beispiel
die Darlegungen der Ihnen bekannten Bürgerinitiative
Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, die sich auch an
dieser Demonstration beteiligt hat, auf, dass es auf der
ganzen Welt keinen sicheren Ort für die Lagerung von
Atommüll gibt und dieser auch auf 100 000 Jahre nicht
gesichert werden kann? Deutlicher noch: Welche
Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Zunächst haben Sie darauf hingewiesen, dass es eine
Demonstration gegen diese Pläne gegeben hat. Ich
glaube zwar, dass die Zahl 100 000, die Sie genannt haben, ein bisschen eine Wunschzahl ist. Aber darauf
möchte ich gar nicht so sehr eingehen. Vielmehr möchte
ich darauf verweisen: Das Parlament ist der legitime Ort
der Entscheidung. So funktioniert parlamentarische Demokratie. Politik muss sich zwar rechtfertigen und diskutieren und auf Transparenz achten, aber es geht nicht,
dass das Parlament nach jeder Demonstration seine Entscheidung wieder ändert.
Ich glaube, dass wir hier Zukunftssicherung betreiben. Darüber muss öffentlich diskutiert werden. Aber
eine Demonstration mit deutlich weniger Menschen, als
Sie gesagt haben, kann die Legitimation dieses Parlaments zur Entscheidung nicht infrage stellen.
Zweite Anmerkung: Atommüll, Endlagerung. Ich bin
schon wieder versucht, aus der Vereinbarung von 2000
zu zitieren. Ich billige jedem selbstverständlich zu,
Kernenergie grundsätzlich abzulehnen bzw. schon immer abgelehnt zu haben. Nicht akzeptabel ist aber, dass
eine Regierung negiert, dass über 40 Jahre hinweg in
Deutschland Kernenergie wirtschaftlich genutzt worden
ist und auch heute noch wirtschaftlich genutzt wird und
dass die rot-grüne Regierung den weiteren Betrieb über
zwei Jahrzehnte zugesichert hat. Mit diesem wirtschaftlichen Betrieb von Kernkraftwerken ist jedoch Atommüll verbunden.
Deshalb besteht auch für diejenigen, die Kernenergie
möglicherweise ablehnen, die Verpflichtung, für eine sichere Entsorgung insbesondere des hochradioaktiven
Mülls zu sorgen. Darum bleibe ich dabei, dass das sogenannte Moratorium für Gorleben nichts anderes war als
der Ausdruck einer Verantwortungslosigkeit, ein Kneifen vor dieser Aufgabe.
Man kann zwar gegen Kernenergie sein, aber man
kann nicht negieren, dass Kernenergie wirtschaftlich genutzt werden kann und genutzt wird
({0})
und dass dadurch Atommüll entsteht. Wir stehen in der
Pflicht, für eine sichere Entsorgung dieses Atommülls zu
sorgen. Auch das gehört zum Energieprogramm dieser
Regierung.
({1})
Die letzte Frage zum Energiekonzept der Bundesregierung stellt Frau Kollegin Menzner.
Danke, Herr Präsident. - Ich habe an beide Minister
eine Frage, die sich an das vorhin Gesagte anschließt.
Dieses Thema ist von großem öffentlichem Interesse.
Nach mehrmaligem Nachfragen ist uns mitgeteilt worden, dass es außer diesem Förderfondsvertrag plus dem
Papier zur Sicherheit offensichtlich keine weiteren Abreden, Nebenabsprachen, Verträge etc. gebe.
Meine Frage an Sie beide: Ist es aus Ihrer Sicht ein
normales und der Demokratie und dem Parlamentarismus würdiges Vorgehen, wenn die Öffentlichkeit und die
Parlamentarier in Ausschusssitzungen trotz mehrmaliger
Nachfragen gegenüber drei Staatssekretären keine Antwort bekommen, wenn solche Papiere erst durch Medien
bekannt werden, wenn solche Papiere nur nach der Salamitaktik veröffentlicht werden? Meinen Sie, dass das ein
adäquates und dem Parlamentarismus würdiges Vorgehen ist? Müssen wir davon ausgehen, dass zukünftig
auch in anderen Bereichen so mit uns umgegangen wird?
Herr Minister Röttgen, bitte.
Die Linkspartei bzw. die Linksfraktion steht aufgrund
ihrer parteipolitischen Vergangenheit natürlich in einer
ganz besonderen Tradition von Transparenz und Öffentlichkeit. Insofern haben Sie das Recht, diese Frage hier
im Parlament zu stellen.
({0})
- Wegen der Vergangenheit arbeiten Sie Ihre Vergangenheit auch in sehr transparenter Weise auf.
({1})
Um das klar zu beantworten: Hier herrscht völlige
Transparenz. Was hier betrieben wird, ist meines Erachtens eine Mischung von Falschbehauptungen und Stimmungsmache bis hin zur Angstmache.
Dass es eine Gewinnabschöpfung gibt, ist geradezu
programmatisch verkündet worden. Dies als ein Geheimnis darzustellen, das war ein Wahlkampfthema. Das
stand tagelang in den Zeitungen, und zwar auch im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Energiekonzepts. Würden Sie regelmäßig Zeitung lesen, dann wären
Sie vollständig informiert gewesen. Wir werden uns aber
speziell um Ihre Information noch weiter sehr bemühen.
Vereinbarungsgemäß ist die Regierungsbefragung
nun beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/3007 Zunächst kommen wir zum Geschäftsbereich des
Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur
Verfügung. Es geht zunächst um ein Rechtsgutachten zur
Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Jerzy Montag
auf. - Ich höre gerade, dass schriftliche Beantwortung
beantragt worden ist.
({0})
Dies gilt auch für die Frage 2 der Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, die Fragen 3 und 4 der Abgeordneten Bärbel
Höhn und die Frage 5 des Abgeordneten Hans-Josef
Fell. Ebenso werden die Fragen 6 und 7 der Abgeordneten Dr. Eva Högl zur gesetzlichen Regelung von Geodatendiensten sowie die Fragen 8 und 9 der Abgeordneten
Viola von Cramon-Taubadel schriftlich beantwortet.
Ich rufe somit die Frage 10 des Abgeordneten Andrej
Hunko auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Entwicklung diskriminierender und feindseliger Einstellungen gegenüber Roma
und Sinti in der Europäischen Union, und was hat die Bundesregierung unternommen, um dem Antiziganismus in Deutschland zu begegnen?
Wer von der Bundesregierung antwortet?
Ich kann gerne antworten.
({0})
- Mir wurde gesagt, dass Ihre Frage schriftlich beantwortet wird. Ich fange einmal mit der Frage 10 des Kollegen Hunko an.
Die Bundesregierung teilt die vom Deutschen Bundestag mit Beschluss vom 17. Januar 2008 in der Ausschussfassung vom 16. Januar 2008 vorgenommene Einschätzung der Lage der Roma und Sinti in Europa und
die dort gegebenen Empfehlungen. In diesem Beschluss
wird unter anderem dargelegt, dass Roma in vielen Staaten Europas Diskriminierungen und Benachteiligungen
ausgesetzt seien, wozu auch eine undifferenzierte Berichterstattung in den Medien beitragen könne. Sie seien
stark von sozialen Problemen, Bildungsdefiziten und Arbeitslosigkeit betroffen, nicht mit angemessenem Wohnraum versorgt und hätten bei hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit teilweise eine geringe Lebenserwartung.
Auch die schulische Versorgung sei in manchen Staaten
unzureichend. Eine von der EU-Grundrechteagentur veröffentlichte Umfrage zu europäischen Minderheiten und
Diskriminierungen von 2009 teilt diese Einschätzung.
Die Bundesregierung unterstützt alle von der Europäischen Union, vom Europarat und von der OSZE initiierten Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der
Roma und Sinti in Europa. Die Bundesregierung verfolgt bei der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einen ganzheitlichen Ansatz. Dieser zielt
darauf, alle gesellschaftlichen Ebenen zu erreichen, und
geht davon aus, dass eine wirkungsvolle Prävention von
Gewalt und Diskriminierung insbesondere durch die
frühe Förderung und die Stärkung des gesellschaftlichen
Zusammenhalts erreicht werden kann. Entsprechend fördert die Bundesregierung Maßnahmen zur politischen
Bildung, beispielsweise über die Bundeszentrale für
politische Bildung. Diese beschäftigt sich mit dem
Thema Vorurteile und Diskriminierung, um diesen entgegenzuwirken. Spezifische Inhalte zum Thema Antiziganismus bzw. zur Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber
Sinti und Roma finden sich im Rahmen verschiedener
Publikationen.
Nachfrage, bitte?
Vielen Dank. - Nun ist das Roma-Thema in den letzten Wochen aufgrund der Massenabschiebungen aus
Frankreich innerhalb der Europäischen Union sehr durch
die Medien gegangen. Es ist die Aufgabe der EU-Kommission als Hüterin der Verträge, hier auf die Einhaltung
der Grundrechtecharta zu pochen. Meine Frage: Wie beurteilen Sie die heutige Entscheidung der EU-Kommission, kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einzuleiten?
Die Bundesregierung beurteilt nicht die Entscheidungen der Kommission. Die Kommission ist Hüterin der
Verträge, und somit ist dem, was die Kommission hier
entschieden hat, nichts hinzuzufügen.
({0})
Weitere Nachfrage?
In Deutschland leben über 100 000 Roma, und auch
hier sind Massenabschiebungen von Roma geplant nicht in einem Schwung, aber scheibchenweise. Die
letzte Abschiebung von Roma-Familien, deren Kinder in
Deutschland geboren sind, in den Kosovo hat am
2. September über den Flughafen Düsseldorf stattgefunden. Die EU-Kommission fordert auch die Bundesregierung auf, die Abschiebung von Roma in den Kosovo zu
stoppen. Wie stehen Sie zu dieser Forderung? Können
Sie dazu etwas sagen?
Die Behauptung, dass es Massenabschiebungen von
Roma aus Deutschland in den Kosovo gibt, ist falsch. Es
wird in den Kosovo zurückgeführt, unabhängig von der
Ethnie; darunter sind auch Roma. Das machen wir sehr
maßvoll und in Absprache mit dem Staat Kosovo. Wir
setzen hier auf Freiwilligkeit, was durch viele Programme unterstützt wird. Es gibt keine Massenabschiebung.
Es gibt noch einen Fragewunsch des Kollegen
Ströbele.
Meine Zusatzfrage: Sehen Sie einen Unterschied zwischen der Abschiebung oder Rückführung - wie immer
Sie das nennen wollen - eines Angehörigen oder einer
Angehörigen des Volkes der Roma in den Kosovo und
der Abschiebung oder der Rückführung von anderen
Personen in den Kosovo? Die Tatsachen sind doch bekannt - das können Sie jeden zweiten Abend in Fernsehdokumentationen sehen und in Presseveröffentlichungen
nachlesen -: Die Roma sind im Kosovo in Lagern untergebracht, leben dort häufig unter sehr menschenunwürdigen Verhältnissen und sind dort allen möglichen Repressalien ausgesetzt.
Im Allgemeinen wird bei der Abschiebung nicht unterschieden, um welche Ethnie es sich handelt. Im Fall
des Kosovo wird es natürlich berücksichtigt, weil wir
uns der schwierigen Situation der Roma, was die wirtschaftliche Lage und ihre Eingliederung betrifft, bewusst
sind. Deshalb findet nur eine sehr behutsame Rückführung statt.
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Hunko:
Wie viele Roma wurden seit 2009 gezwungen, Deutschland zu verlassen, und ins Kosovo abgeschoben, und warum
ist die Bundesregierung nicht bereit, die Abschiebepraxis für
Roma zumindest auszusetzen, wie beispielsweise vom Hohen
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, vom Europäischen Parlament sowie vom Kommissar für Menschenrechte
des Europarates gefordert wird?
Im Jahr 2009 bis einschließlich Ende August 2010
wurden insgesamt 949 Personen verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten in die Republik Kosovo zurückgeführt. Hierunter befanden sich 184 Kosovo-Roma.
In Deutschland erfolgt die Feststellung der Ausreisepflicht durch die hierfür zuständigen Ausländerbehörden
der Länder bzw., soweit ein Asylverfahren durchgeführt
wird, durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach den Maßgaben des Aufenthaltsgesetzes. Dieses sieht eine Einzelfallprüfung vor. Anknüpfungspunkt
für die Frage einer Rückführbarkeit ist grundsätzlich nur
die Staatsangehörigkeit einer Person, nicht aber deren
ethnische Zugehörigkeit.
Ebenfalls sind nach den Vorgaben des Gesetzes soziale und wirtschaftliche Aspekte im Zielstaat für die
Frage der Rückführbarkeit einer Person grundsätzlich
nicht von Belang, auch wenn die Bundesregierung nicht
verkennt, dass die ökonomische und soziale Lage in der
Republik Kosovo nicht mit westeuropäischen Standards
vergleichbar ist. Hiervon sind jedoch viele der im Kosovo lebenden Menschen betroffen, unabhängig von der
ethnischen Zugehörigkeit.
Die Bundesregierung hat vor Beginn der Rückführungen von Kosovo-Roma im Frühjahr 2009 eine eigene
Einschätzung der Sicherheitslage vorgenommen. Dabei
ist sie zum Ergebnis gelangt, dass keine unmittelbare
Gefährdung nur aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit
mehr besteht. Diese Einschätzung haben auch andere
westeuropäische Aufnahmestaaten, die ethnische Minderheiten, darunter auch Roma, in die Republik Kosovo
zurückführen, getroffen. Zu diesen Staaten gehören unter anderem die Schweiz, Österreich, Frankreich und das
Vereinigte Königreich.
Herr Kollege Hunko, eine Nachfrage?
Unabhängig davon, dass ich es nicht für zielführend
halte, sich in dieser gegenwärtigen Debatte auf Frankreich zu berufen, möchte ich nachfragen.
Sie sagten vorhin, dass es keine Massenabschiebungen gibt. Das sogenannte Rückführungsabkommen mit
dem Kosovo ist seit dem 1. September in Kraft. Die
Welt, nicht unbedingt eine linke Zeitung, titelt dazu:
„Deutschland will 10 000 Roma ins Kosovo abschieben.“ Frage: Wie soll das geschehen, ohne dass es eine
Massenabschiebung gibt?
Noch einmal: Es findet keine Massenabschiebung
statt. Aus der Zeit des Krieges dort gibt es immer noch
sehr viele Menschen, die sich in Deutschland aufhalten.
Zum Stichtag 30. Juni 2009 hielten sich circa 14 900 Ausreisepflichtige aus dem Kosovo in Deutschland auf. Seit
1999 kehrten circa 92 370 Personen freiwillig zurück. Es
geht also vorwiegend um eine freiwillige Rückkehr, und
es geht nicht um eine Massenabschiebung.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Die Organisation Amnesty International hat heute in
einer Pressemitteilung den sofortigen Stopp von Abschiebungen von Roma in das Kosovo gefordert. Zitat:
Diese Menschen landeten „dort buchstäblich auf
der Müllkippe“.
Halten Sie es für ausgeschlossen, sich dieser Forderung von Amnesty International anzuschließen?
In diesem Zusammenhang stelle ich zunächst richtig,
dass der in der Fragestellung angeführte Kommissar für
Menschenrechte des Europarats, Thomas Hammarberg,
sich nicht generell gegen eine Abschiebung, sondern
prioritär gegen Massenabschiebung ausgesprochen hat.
Genau das machen wir auch nicht.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Ich komme auf
die Beantwortung der Fragen 1 bis 5 zurück, Herr
Montag: Weil das Thema, das Sie ansprechen, schon unter einem anderen Tagesordnungspunkt in dieser Sitzungswoche behandelt werden wird, werden diese Fragen nach der Geschäftsordnung schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler zur Verfügung. Zunächst die Frage 12 des Kollegen Burkhard
Lischka:
Plant die Bundesregierung für die Neuregelung des Sorgerechts nicht verheirateter Väter eine Widerspruchslösung, sodass ledige Väter künftig automatisch das gemeinsame Sorgerecht erhalten würden, oder eine Antragslösung, sodass Väter
auf Antrag das Sorgerecht für ihr Kind bekommen können,
und wann ist mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs für die
Neuregelung des Sorgerechts zu rechnen?
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lischka, Sie weisen in Ihrer Frage zu
Recht darauf hin, dass die Bundesregierung derzeit an
einer Neuregelung des Sorgerechts nicht miteinander
verheirateter Eltern arbeitet. Wir tun dies nicht nur aufgrund höchstrichterlicher Entscheidungen, sondern auch
aus der Überzeugung heraus, dass es dem Kindeswohl
entspricht, wenn Väter stärker als in der Vergangenheit
in die Verantwortung für das Kind einbezogen werden.
Mit welchem Modell man dies erreicht, ist aber derzeit noch in der Diskussion. Die Überlegungen im
Ministerium sind schon sehr weit fortgeschritten, und in
der Diskussion wird, wie es in Ihrer Frage angesprochen
ist, tatsächlich zwischen der Möglichkeit einer sogenannten Antragslösung, bei der die Väter bei Gericht einen Antrag auf gemeinsame Sorge stellen müssten, und
der Möglichkeit einer Widerspruchslösung, bei der erst
eine gemeinsame Sorge entsteht und die Mütter dann bei
Gericht dagegen Widerspruch einlegen können, unterschieden.
Die Vor- und Nachteile beider Regelungsmodelle
werden derzeit sorgfältig gegeneinander abgewogen.
Deshalb lässt sich Ihre Frage, wann genau mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs zu rechnen sei, derzeit noch
nicht präzise beantworten. Wir hoffen aber, möglichst
noch im Herbst 2010 einen Gesetzentwurf vorstellen und
beraten zu können.
Bitte schön, Kollege Lischka, eine Nachfrage.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, Sie haben die Vorund Nachteile der verschiedenen Modelle angesprochen.
Welche gravierenden Vorteile oder Nachteile sehen Sie
bei dem einen oder anderen Modell, das derzeit diskutiert wird? In verschiedenen europäischen Staaten gibt es
Vorbilder oder Beispiele für diese unterschiedlichen Modelle. Werden sie derzeit auch durch das BMJ ausgewertet?
Selbstverständlich werten wir auch die Beispiele aus
anderen europäischen Ländern aus. Wir beziehen in unsere Überlegungen auch ein, dass bei dem schon möglichen gemeinsamen Sorgerecht nach Scheidung oder
Trennung durchaus gute Erfahrungen gemacht worden
sind. Dies hat sich sehr wohl bewährt.
Für die unterschiedlichen Modelle gibt es natürlich
eine Fülle von Gesichtspunkten, wobei man zunächst darauf hinweisen muss, dass wir dann, wenn sich die beiden Elternteile einvernehmlich auf die gemeinsame
Sorge einigen, ohnehin keine Problemfälle haben. Es
geht also nur um die streitigen Fälle.
Dabei könnte man zugunsten des Antragsmodells ins
Feld führen, dass es damit eine klare Entscheidung der
Väter wäre, dass sie sich um die gemeinsame Sorge bemühen. Es ist nicht unzumutbar, dies zum Ausdruck zu
bringen, indem man im Streitfall bei Gericht hierfür einen Antrag stellt.
Auf der anderen Seite hat das Widerspruchsmodell
selbstverständlich auch Vorteile. Da entsteht zunächst
eine gemeinsame Sorge kraft Gesetzes. Man kann die
Hoffnung hegen, dass diese Phase dazu genutzt wird,
dass sich die Elternteile im Laufe der Zeit - womöglich
einvernehmlich - auf die gemeinsame Sorge einigen.
Umgekehrt muss es für die Frauen die Möglichkeit eines
Widerspruchs geben, weil die Lebenssachverhalte sehr
unterschiedlich sind und somit durchaus Konstellationen
denkbar sind, in denen es nicht dem Kindeswohl entsprechen würde, wenn der Vater gemeinsam mit der
Mutter die Sorge ausüben würde. All dies muss bedacht
werden.
Am Ende ist es auch ein Kriterium, dass man vermeiden möchte, dass zu viele Fälle zu Gericht gehen. Eine
Einigung zwischen den Beteiligten ist selbstverständlich
vorzugswürdig.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben in Ihrer Antwort von der „Überzeugung“ gesprochen, „dass es dem Kindeswohl entspricht, wenn
Väter stärker als in der Vergangenheit in die Verantwortung für das Kind einbezogen werden“. Das hat sich
vonseiten der heutigen Bundesjustizministerin, als sie im
vergangenen Jahr noch auf den Oppositionsbänken saß,
anders angehört: Sie hat damals gesagt, dass ein gemeinsames Sorgerecht ohne die Zustimmung der Mutter eigentlich untunlich sei. Darf ich Ihre erste Antwort so
verstehen, dass dies nicht mehr Auffassung des BMJ ist,
unabhängig von den gerichtlichen Entscheidungen?
Herr Kollege Lischka, jedenfalls gibt es höchstrichterliche Entscheidungen - sowohl auf europäischer
Ebene als auch vom Bundesverfassungsgericht -, die
zum Inhalt haben, dass es den Vätern möglich sein muss,
die Mitsorge zu erlangen, auch ohne Einverständnis der
Mutter. Dabei kann selbstverständlich nur das Kindeswohl das Kriterium sein. Wir diskutieren jetzt über die
Frage, welches Verfahren wir für die Streitfälle vorsehen
sollten. Beide Modelle, die Sie in der Frage angesprochen haben - Antragsmodell und Widerspruchsmodell -,
haben etwas für sich. Darüber wird politisch zu entscheiden sein; die endgültige Entscheidung wird hier vom
Parlament zu treffen sein.
Vielen Dank. - Dann kommen wir zur Frage 13 des
Kollegen Jerzy Montag:
Ist es aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz in irgendeiner Weise zu beanstanden, dass der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. HansJürgen Papier im Auftrag der Bundesregierung ein Rechtsgutachten zu einer aktuellen verfassungsrechtlichen Frage erstellt
und in einer Fachzeitschrift veröffentlicht hat ({0})?
Bitte schön.
Herr Professor Papier ist als Präsident des Bundesverfassungsgerichts am 16. März 2010 in Ruhestand getreten. Er lehrt jetzt als Hochschullehrer an der LudwigMaximilians-Universität München. Das Bundesministerium der Justiz hatte und hat keinen Anlass, in irgendeiner Weise den Umstand zu bewerten, dass sich Professor Papier Ende Mai und im September 2010 zu einer
aktuellen verfassungsrechtlichen Frage wissenschaftlich
geäußert hat.
Eine Nachfrage? - Bitte schön.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, ich
danke Ihnen für diese klare Einschätzung. Sie führt mich
zu meiner Nachfrage. Es ist unstreitig: Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes über die Nutzung der
Atomenergie resultiert aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG, die
Zustimmungspflicht des Bundesrates ergibt sich aus
Art. 87 c des Grundgesetzes.
({0})
Nun liegen uns zwei Formulierungshilfen der Bundesregierung zu den Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen in Bezug auf die Verlängerung der Laufzeiten
der Atomkraftwerke vor. In der ersten Formulierungshilfe steht nichts zu der Frage der Zustimmungspflicht.
Die zweite Formulierungshilfe enthält ausschließlich
eine Bezugnahme auf Art. 87 d des Grundgesetzes, der
für das Atomrecht ohne Bedeutung ist.
Nun hat sich Herr Papier - auf Anforderungen der
Bundesregierung hin - zu genau dieser Problematik geJerzy Montag
äußert. Ich frage Sie: Warum findet sich in der neuesten
Formulierungshilfe der Bundesregierung zu dieser so
komplexen und schwierigen Materie keine Auseinandersetzung mit den äußerst gewichtigen Argumenten für
eine Zustimmungspflicht des Bundesrates? Herr Professor Papier und viele andere haben sich mit genau dieser
Frage auseinandergesetzt. Die Bundesregierung schreibt
dazu in ihrer Formulierungshilfe kein einziges Wort.
Warum eigentlich nicht?
Herr Kollege Montag, die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit einer Laufzeitverlängerung war bereits vor
einigen Monaten Gegenstand vieler Fragen in der Fragestunde. Schon damals habe ich dazu Stellung genommen. Seither hat sich allerdings ein Faktum geändert. Ich
habe damals ausgeführt, dass es unter Gutachtern in der
wissenschaftlichen Lehre unterschiedliche Meinungen
gibt. Es gibt die Auffassung, jede Verlängerung bedürfe
der Zustimmung des Bundesrats, und es gibt die Auffassung, dass dies nur in bestimmten Ausgestaltungen der
Fall sein sollte. Es gibt außerdem die Auffassung, eine
neue Zustimmung sei entbehrlich, weil der Bundesrat ursprünglich schon einmal der Übernahme der Zuständigkeit für die Verwaltung der Atomkraftwerke zugestimmt
hat.
Nunmehr gab es nach unserer damaligen Fragestunde
eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu
- wie Sie zu Recht sagen - Art. 87 d des Grundgesetzes,
und zwar zum Thema Luftsicherheitsgesetz. In dieser
Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in großer Klarheit ausgeführt, dass eine rein quantitative Ausweitung einer Aufgabe nicht zu einer neuerlichen Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrats führt. Auf diese
Entscheidung nimmt die Bundesregierung jetzt Bezug,
weil wir der Überzeugung sind, dass die Grundsätze aus
dieser sehr neuen und ganz aktuellen Entscheidung eben
auch in Bezug auf Art. 87 c gelten. Das ist der Grund für
diese neue Situation. Selbstverständlich sind Argumente
insbesondere von Herrn Professor Papier, der von allen
Seiten - selbstverständlich auch von mir persönlich hochanerkannt ist, gewichtig. Gewichtig ist aber auch
die ganz aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
Eine weitere Nachfrage. - Bitte.
Herr Staatssekretär Dr. Stadler, das Bundesverfassungsgericht hat zwischenzeitlich Stellung genommen.
Dies hat es allerdings ausdrücklich in Bezug auf
Art. 87 d getan, während sich das Atomrecht und die Zustimmungspflicht in Atomrechtsfragen nach Art. 87 c
richten. Genau zu dieser Problematik hat Herr Professor
Papier gesagt - dies wurde auch veröffentlicht -: Die
Gedankengänge und Regelungen zu Art. 87 d und insoweit auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien nach seiner Auffassung für das Atomrecht
und für Art. 87 c Grundgesetz nicht einschlägig; das Gegenteil sei der Fall. Deswegen frage ich Sie noch einmal:
Warum hat die Bundesregierung zu dieser weiterhin
hochstreitigen Problematik in ihrer neusten Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen mit keinem einzigen Wort Stellung genommen, obwohl Herr Professor
Papier sein Gutachten im Auftrag der Bundesregierung
erstellt hat?
Lieber Kollege Montag, über diese Rechtsfrage wird
in der weiteren parlamentarischen Debatte sicherlich
noch trefflich gestritten werden. Gleichwohl darf ich darauf aufmerksam machen, dass es in der Juristerei keine
Seltenheit ist, dass es zu verschiedenen Fragen unterschiedliche Auffassungen gibt, die jeweils mit beachtlichen Argumenten begründet werden. Es gilt aber doch
auch ein wenig die alte Erkenntnis: Roma locuta, causa
finita. Das heißt, wenn das Bundesverfassungsgericht
eine Entscheidung trifft und man der Auffassung sein
kann, diese sei einschlägig, dann ist das aus Sicht der
Bundesregierung ein entscheidender Faktor.
Ich habe in meiner vorherigen Antwort wie Sie darauf
hingewiesen, dass die Entscheidung zu Art. 87 d ergangen ist und wir uns jetzt im Bereich des Art. 87 c des
Grundgesetzes befinden. Nur, die ganz klare Aussage
lautete, dass „die Wiederholung oder Konkretisierung
bereits früher erfolgter Aufgabenzuweisungen den Aufgabenbestand der Länder nicht vergrößern“ und daher
keine neue Aufgabenübertragung darstellen wird. In der
Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts, die am
11. Juni 2010 veröffentlich wurde, steht unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom Mai, dass eine lediglich quantitative Erhöhung der Aufgabenlast für die Länder keine neue Zustimmungspflicht auslöst. Das sind
Kernsätze einer Entscheidung, die sehr klar und sehr
deutlich sind. Ich wiederhole: Die Bundesregierung ist
der Auffassung, dass diese Grundsätze auch bei
Art. 87 c GG zu beachten sind.
Die Fragen 14 der Kollegin Hönlinger und 15 der
Kollegin Steiner sollen aus den gleichen Gründen wie
bei den Fragen 1 bis 5 schriftlich beantwortet werden.
Ich bedanke mich bei Herrn Staatssekretär Stadler für
seine guten Ausführungen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Frage 16 des Kollegen
Werner Schieder, die Frage 17 des Kollegen Hacker, die
Frage 18 der Kollegin Dr. Bunge, die Fragen 19 und 20
der Kollegin Dr. Höll sowie die Fragen 21 und 22 des
Kollegen Nord, die zu diesem Geschäftsbereich gehören,
sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Hans-Joachim Otto zur Verfügung. Die Frage 23 des Kollegen Hacker wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Krischer auf:
Was hat die Bundesregierung seit dem Steinkohlekompromiss 2007 zwischen Bund, Ländern, der RAG AG und der IG
BCE und dem dort vereinbarten Ende der Steinkohlesubventionen bis 2018 in Deutschland konkret auf EU-Ebene unternommen, um dies EU-rechtlich abzusichern?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Krischer, seit Ende des Jahres 2007 hat
die EU-Kommission offiziell Kenntnis von den deutschen Vereinbarungen zum Auslaufen des Steinkohlebergbaus. Seitdem befindet sich die Bundesregierung sowohl auf fachlicher als auch auf politischer Ebene zu
diesem Thema in einem ständigen Dialog mit der EUKommission.
Nachfrage?
Herr Staatssekretär, Sie sagen, dass Sie sich seit drei
Jahren in Brüssel darum bemühen, das Ansinnen der
Bundesregierung bekannt zu machen. Wie kann es dann
sein, dass wir im Sommer einen Beschluss der EU-Kommission zur Kenntnis nehmen mussten, der diese Rechtslage überhaupt nicht wiedergibt; vielmehr war von einem um vier Jahre verringerten Zeitraum die Rede?
Damit stehen wir vor der Situation, dass deutsches Recht
- wenn es wie vorgesehen umgesetzt werden würde den Regeln der EU deutlich wiedersprechen würde.
Herr Kollege Krischer, ich vermag zwischen meiner
Aussage und Ihrer Frage keinen Widerspruch zu erkennen. Der EU-Kommission war und ist die deutsche Position bekannt. Uns beiden ist bekannt, dass es innerhalb
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehr unterschiedliche Auffassungen über die Frage gibt, inwieweit
Steinkohlebeihilfen europarechtlich zustimmungsfähig
sind. Im Klartext: Die EU-Kommission hat in Kenntnis
der deutschen Position diesen Vorschlag unterbreitet.
Zweite Nachfrage? - Bitte.
Wie erklären Sie es sich dann, dass der deutsche EUKommissar, Herr Günther Oettinger, der als Energiekommissar für diese Frage fachlich zuständig ist, bei der
entscheidenden Sitzung, in der diese Frage erörtert
wurde, nicht anwesend war?
Es ist zutreffend, dass der deutsche EU-Kommissar
Oettinger bei dieser Sitzung nicht anwesend war. Das
habe ich der Presse entnommen. Im Übrigen kann ich Ihnen bestätigen, dass Herr EU-Kommissar Oettinger zur
selben Zeit an einer Konferenz in Washington teilgenommen hat, an der auch ich teilgenommen habe. Er hat
also nicht geschwänzt. Ich will hinzufügen: Es handelte
sich um eine energiepolitische Tagung auf der Ebene der
G-20-Energieminister, er war also auf keiner fachfremden Tagung.
Ob Herr Oettinger, wenn er in Brüssel gewesen wäre,
die Entscheidung anders hätte beeinflussen können, entzieht sich meiner Kenntnis. Es entzieht sich nicht meiner
Kenntnis, dass Herr Oettinger öffentlich erklärt hat, dass
es, selbst wenn er dabei gewesen wäre und die deutsche
Position, die ohnehin bekannt ist, nochmals erläutert
hätte, nichts an der Entscheidung geändert hätte.
Ich rufe die Frage 25 des Kollegen Krischer auf:
Wie begründet die Bundesregierung die Genehmigung der
Verlagerung von hochradioaktiven Brennelementen aus dem
ehemaligen Forschungsreaktor in Rossendorf/Sachsen, die
zurzeit in Ahaus lagern, nach Russland, und wie bewertet sie
die Sicherheit der Lagerung in Russland?
Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, das ist eine etwas umfänglichere Antwort. Sie erlauben deshalb bitte,
dass ich sie, um präzise und schnell zu sein, ablese.
Die USA und die Russische Föderation haben in den
vergangenen Jahrzehnten hochangereichertes Uran in
zahlreiche Länder geliefert. Die USA haben im Jahr
1996 ein nationales sowie im Jahr 2004 zusammen mit
der Russischen Föderation ein bilaterales Programm initiiert, das sogenannte Russian-Research-Reactor-FuelReturn-Programm mit der schönen Abkürzung RRRFRProgramm, um das hochangereicherte Uran zurückzunehmen. Im Rahmen der dritten Überprüfungskonferenz
zum Gemeinsamen Übereinkommen über die Sicherheit
der Behandlung abgebrannter Brennelemente und über
die Sicherheit der Behandlung radioaktiver Abfälle im
Jahr 2009 wurde die Rückführung von bestrahlten
Brennelementen aus hochangereichertem Uran als - Zitat - „gute Praxis“ identifiziert. Die Russische Föderation ist Vertragsstaat dieses Übereinkommens.
Aus nichtverbreitungspolitischen Aspekten ist die
Rückführung zu begrüßen. Die Verarbeitung in der Russischen Föderation würde dem Material die Waffenfähigkeit nehmen. Die hiermit verbundene Stärkung der
nuklearen Sicherheit entspricht auch den Zielen des Gipfeltreffens zur nuklearen Sicherheit in Washington im
April dieses Jahres.
Der Freistaat Sachsen beabsichtigt, bestrahlten Kernbrennstoff, der ursprünglich aus der Russischen Föderation an den Forschungsreaktor Rossendorf geliefert
wurde, dort eingesetzt wurde und zurzeit im Transportbehälterlager Ahaus lagert, in sein Ursprungsland, also in
die Russische Föderation, zu überführen. Die USA und
die Internationale Atomenergie-Organisation, IAEO, unterstützen diese Rückführung nachdrücklich. DeutschParl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto
land hat sich bereits früher an den genannten Projekten
beteiligt. Aus verschiedenen deutschen Forschungsreaktoren wurden bestrahlte Brennelemente in die USA verbracht.
Aus dem konkreten, stillgelegten Forschungsreaktor
Rossendorf wurde bereits im Jahre 2006 unbestrahltes
hochangereichertes Uran in die Russische Föderation
verbracht. Bedenken, die gegen die Erteilung einer Genehmigung zur Verbringung dieser Brennelemente aus
dem Forschungsreaktor Rossendorf in die Russische Föderation im Rahmen des RRRFR-Programms sprechen,
sind bei den Prüfungen des Bundesumweltministeriums
nicht zutage getreten.
Vor dem Hintergrund des besonderen nichtverbreitungspolitischen Interesses an der Verbringung hat das Bundesumweltministerium die Beförderungsgenehmigung erteilt und beabsichtigt, auch die Genehmigung zur
Verbringung nach der atomrechtlichen Abfallverbringungsverordnung zu erteilen, wenn die Voraussetzungen
erfüllt sind. Dazu gehört unter anderem, dass das Abkommen zwischen der Russischen Föderation und Deutschland geschlossen ist.
In den empfangenden kerntechnischen Einrichtungen
der Russischen Föderation wurden, wie die IAEO und
die USA bestätigten, erhebliche Anstrengungen zur Verbesserung der Sicherheit und der Sicherungsmöglichkeiten unternommen. Ebenfalls wurde mit der Sanierung
der Altlasten begonnen. Die Russische Föderation betonte im Rahmen der bilateralen Verhandlungen, dass
ein Teil der Einnahmen aus dem Programm in die Sanierung der Standorte fließt.
Herr Kollege, das war eine umfangreiche Antwort.
Aber vielleicht ist es für Sie ganz interessant, das alles
im Zusammenhang zu erfahren.
Nachfrage? - Bitte.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Otto, für die
ausführlichen Erläuterungen. Ich habe eine Nachfrage:
Trifft es zu, dass das Material in die Atomanlage Majak
in der Russischen Föderation verbracht werden soll?
Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung dann in diesem Zusammenhang den Umstand, dass wir es in dieser
Region noch vor wenigen Wochen mit schwersten Waldbränden zu tun hatten, welche in ganz Europa die Sorge
vor einer radioaktiven Kontamination der Luft, der Atmosphäre auslösten? Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Verbringung des hochradioaktiven Materials
aus Ahaus nach Majak?
Herr Kollege Krischer, zunächst bestätige ich, dass
eine Verbringung in die russische Wiederaufbereitungsanlage Majak im Südural geplant ist.
Ihre Befürchtung, dass nach den Waldbränden, die es
im vergangenen Sommer bedauerlicherweise in großem
Umfang in Russland gegeben hat, auch in Zukunft eine
erhöhte Gefahrenlage besteht, teilen wir nicht. Im Gegenteil: Nachdem es vor Jahrzehnten dort einige Probleme gegeben hat, die ich nicht leugnen möchte, entsprechen die Sicherheitsstandards dieser Anlage heute
den internationalen Anforderungen. Das wird von der
Internationalen Atomenergiebehörde und den USA ausdrücklich bestätigt. Sie sollten vielleicht auch wissen,
dass die USA aus Gründen der Nichtverbreitungspolitik,
die wir vermutlich beide teilen, finanzielle Zuwendungen gegeben hat, um diese Anlage sicherer zu machen.
Daher glauben wir, dass das alles gut zu verantworten
ist.
Die Gefahr von Waldbränden und die Gefahr, dass dadurch Kontaminierungen entstehen, ist bedauerlicherweise keinem Land der Erde ganz genommen. Nachdem
diese Brände jetzt im Sommer stattgefunden haben, was
wir sicherlich alle gemeinsam sehr bedauert haben, ist
wohl die Gefahr, dass sich ein solches Unglück in der
nächsten Zeit wiederholt, nicht überdurchschnittlich,
sondern unterdurchschnittlich hoch. Deswegen hat sich
die Bundesregierung nach sorgfältiger Überprüfung und
der Überlegung, die Ihnen vermutlich auch nicht fernliegt, dass wir hoch angereichertes Uran nicht an Drittländer weitergeben wollen und die Waffenfähigkeit dieses
Materials verhindern wollen, im Rahmen aller Vereinbarungen und unter Zugrundelegung aller internationalen
Standards zu diesem Schritt entschlossen. Wir werben
auch um Ihre Zustimmung.
Zweite Nachfrage.
Über die Frage, ob das Material in der russischen Anlage Majak sicher aufgehoben ist - auch jenseits der Gefahr von Waldbränden -, kann man sehr trefflich streiten. Ich kenne viele Berichte aus dieser Anlage, die mich
erheblich daran zweifeln lassen, dass dort eine gute Lagerung möglich ist. Aber wenn man die Einschätzung
teilt, dass das Material in Majak gut gelagert ist, und
man auch sicher sein kann, dass es von dort nicht weiterverbreitet wird, dann stellt sich doch die Frage, warum
dieses Material im Jahre 2005 auf Antrag des Freistaates
Sachsen - wenn ich richtig informiert bin - nicht gleich
nach Russland verbracht wurde, sondern erst ins Brennelementezwischenlager nach Ahaus mit der Folge, dass
wir es jetzt mit zusätzlichen unfallträchtigen, aufwendigen und auch kostenträchtigen Transporten zu tun haben.
Offen gesagt, Herr Kollege, erschließt sich mir Ihre
Frage nicht. Wir haben genau das getan, was Sie von der
Bundesregierung zu Recht erwarten, nämlich eine Klärung der Frage, ob die Sicherheitsanforderungen in Majak erfüllt sind. Wir haben also nicht leichtfertig sofort
einen Transport von Rossendorf nach Majak organisiert,
sondern wir haben zunächst einmal alle sicherheitstechnischen Überprüfungen angestellt. Wir haben sozusagen
eine Begutachtung der Situation in Majak angefordert.
Erst danach sind wir zu der Auffassung gelangt, dass es
sicherheitstechnisch vertretbar ist.
Nachdem die IAEO und die USA grünes Licht dafür
gegeben haben und die Sicherheit der Anlage als gewährleistet ansehen, sehen wir uns jetzt in der Lage, in
Zusammenarbeit mit dem Bundesumweltministerium,
das ja auch zu einem entscheidenden Teil hier zuständig
ist, die entsprechenden Genehmigungen dafür zu erteilen.
Wir haben es uns also nicht leicht gemacht. Wir haben
eine Untersuchung durchgeführt. Wir haben Prüfungen
durchgeführt. Herr Kollege, ich respektiere Ihre Auffassung zur Sicherheit in Majak. Aber die Bundesregierung
hat sich unabhängiger Organisationen bedient, um die
Sicherheitsfrage zu beantworten, sie hat sie nicht nur
subjektiv beantwortet. Deswegen sind wir auch der
Überzeugung, dass wir gerade im Hinblick auf Ihre Forderungen nach einem hohen Sicherheitsniveau alles getan haben, was notwendig ist.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Die Fragen 26 des
Kollegen Duin und 27 der Kollegin Nestle werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen 28
und 29 der Kollegin Silvia Schmidt, die Fragen 30 und
31 des Kollegen Dr. Seifert, die Fragen 32 und 33 des
Kollegen Dreibus sowie die Fragen 34 und 35 der Kollegin Zimmermann werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf.
Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Julia Klöckner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 36 des Kollegen Friedrich
Ostendorff auf:
Trifft die vom Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd
Müller in der Pressekonferenz am 14. September 2010 gemachte Aussage, dass die Bundesregierung die Verdopplung
der deutschen Agrarexporte innerhalb von fünf Jahren zum
Ziel hat, auch auf die Exporte von Fleischprodukten zu?
Bitte schön, Frau Klöckner.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Ostendorff, ich darf auf Ihre Frage, die
sich auf meinen Kollegen, Staatssekretär Müller, bezieht, wie folgt antworten: Die Politik der Bundesregierung ist natürlich darauf ausgerichtet, nachhaltiges
Wachstum zu unterstützen. Denn davon erhoffen wir uns
zum einen einen Abbau der Arbeitslosigkeit und zum anderen eine Sanierung unseres Haushaltes. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller hat in einer Pressekonferenz am 14. September dieses Jahres angesichts
der wachsenden weltweiten Nachfrage nach hochwertigen Lebensmitteln seine Zuversicht geäußert, dass
Deutschland mit den Lebensmitteln, die wir hier produzieren, durchaus dazu beitragen kann, diese Nachfrage
zu decken.
Wir produzieren unter sehr hohen Standards, unter
hohen Umwelt-, Tierschutz- und Verbraucherschutzstandards. Deshalb hat er seinen Wunsch ausgedrückt, dass
in den kommenden fünf Jahren eine solche Steigerung
möglich ist. Er hat dies aber nicht, wie Sie unterstellen,
als Ziel der Bundesregierung dargestellt; denn Export ist
Sache der Wirtschaft, und wir haben keine Planwirtschaft.
Nachfrage, Kollege Ostendorff?
Danke, Frau Staatssekretärin, für die Antwort. Es erstaunt ja schon, mit welcher Präzision Ihr Kollege in der
Pressekonferenz geantwortet hat. Denn er hat wenige
Wochen zuvor auf die Kleine Anfrage der Grünen geantwortet, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist,
Angaben über die Quantität der Exportzuwächse zu machen. Woher kommt der Erkenntnisgewinn, sodass man
jetzt davon ausgeht, dass man die Agrarexporte in fünf
Jahren verdoppeln kann, nachdem man vor wenigen Wochen noch nicht in der Lage war, zu sagen, wie der Exportzuwachs aussehen wird?
Herr Kollege Ostendorff, Mitglieder der Bundesregierung sind zuversichtliche Personen; denn sie wissen,
dass die Bundesregierung hart und nachhaltig arbeitet.
Wenn diese Arbeit so weitergeführt wird, wir also die
Rahmenbedingungen entsprechend setzen, können wir
zuversichtlich sein, dass wir erheblich dazu beitragen,
dass unsere Wirtschaft boomt. Man muss Ziele haben,
damit man weiß, wohin man will.
({0})
Weitere Nachfrage?
Ja. - Man muss Ziele haben - da sind wir natürlich Ihrer Meinung -, aber nicht dieses Ziel. Frau Staatssekretärin, das führt mich zu meiner anschließenden Frage, die
wir heute auch schon im Ausschuss behandeln mussten.
Die EU-Kommission hat die Bundesregierung am 7. Juli
dieses Jahres gerügt bzw. darauf hingewiesen, dass wir
die NEC-Richtlinie - so heißt das Konstrukt - nicht einhalten, dass die Ammoniakemissionen Deutschlands den
Rahmen, den Deutschland eingeräumt bekommt, deutlich überschreiten.
Wir werden das gleich noch in einer Frage an das
Umweltministerium behandeln. Aber ich muss auch hier
nachfragen, weil Staatssekretär Müller heute im Ausschuss verkündet hat - das war falsch -, dass Deutschland die Werte nicht überschreiten wird. Die Werte
werden überschritten. Ammoniakemissionen kommen
zu 90 Prozent aus der Landwirtschaft. Staatssekretär
Müller hat aber ausgeblendet, dass 10 Prozent auch aus
anderen Quellen stammen. Er hat nur die landwirtschaftliche Zahl beleuchtet.
Wenn man die Agrarexporte verdoppeln will, dann
beinhaltet das ja sicherlich - das unterstelle ich jetzt eine Verdoppelung der Fleischexporte. Wenn Fleisch einer der wichtigsten Ammoniakemissionsträger ist und
wir heute schon die Ammoniakemissionsgrenzen reißen
- nicht zum ersten Mal, sondern schon seit längerer Zeit -,
dann führt mich das im Fachbereich BMELV zu der
Frage: Wie wollen Sie - Sie sind ja aufgefordert gewesen,
der EU-Kommission bis Ende September Handlungsrahmen mitzuteilen - die Ammoniakemissionen angesichts
einer Exportstrategie, die darauf zielt, noch mehr Fleisch
zu erzeugen - sprich: noch mehr Ammoniakemissionen
zu erzeugen -, senken? Wie soll das gehen?
Sehr geehrter und geschätzter Kollege, unsere Landwirtschaft hat mehr zu bieten als Fleisch, und unsere
landwirtschaftliche Produktion ist so vielfältig und weltweit so gefragt, dass wir die anderen Länder natürlich
daran teilhaben lassen möchten. Dazu gehört die ganze
Produktpalette. Das ist das eine.
Zum anderen unterstellen Sie erneut, obwohl ich das
eben korrigiert habe, dass die Bundesregierung planwirtschaftlich vorgeht und sagt: Wir werden die Agrarexporte in fünf Jahren verdoppeln. Es ging um die Zuversicht, dass wir dazu beitragen können, die Nachfrage,
die vorhanden ist, mit unserer Kapazität zu decken. Ich
persönlich maße mir nicht an, anderen Ländern den Lebensstandard, den wir haben, abzusprechen.
Ein weiterer Aspekt, Stichwort Produktion. Herrn
Gerd Müller ist es als Exportbeauftragtem unseres Hauses auch gelungen, für Produkte, die bei uns nicht verzehrt werden, in anderen Ländern Märkte zu schaffen.
Es gibt nämlich unterschiedliche Verzehrgewohnheiten.
Zum Beispiel werden manche Bestandteile eines
Schweins, die hierzulande - vielleicht kulturell bedingt nicht gegessen werden, in Asien sehr stark nachgefragt.
Insofern wird es nicht zu der von Ihnen unterstellten Verdopplung der Ammoniakemissionen kommen.
Ich bedanke mich für die Beantwortung, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 37 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des US-Generals David Petraeus, der in der Bild-Zeitung vom 21. September 2010 unter Hinweis auf die US-Bewunderer deutscher
Schlachtfeldhelden aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
und deren Tradition betont, dass die guten Teile dieser Tradition bewahrt würden und dass die deutschen Soldaten das
Handwerk des Krieges beherrschten sowie dass der deutsche
Kommandeur im Feld das Konzept der Aufstandsbekämpfung
jetzt verstanden habe, und hält die Bundesregierung - gegebenenfalls mit welcher Begründung - die Auffassung des USGenerals ({0}) für richtig, dass
die Bundeswehr auf Aktionen von zwei Einheiten der Bundeswehr - Task Force Kunduz - stolz sein kann, die gegen die
Aufständischen mit beeindruckendem Erfolg in Baghlan und
nach und nach auch in Kunduz durchgeführt werden?
Herr Kollege Ströbele, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Bundesregierung teilt die Auffassung des
COMISAF, dass die militärischen Führer und die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ihren Auftrag in
Afghanistan unter schwierigen Bedingungen in hervorragender Weise bewältigen und wir daher zu Recht stolz
auf sie sein können.
({0})
Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen ihren
schwierigen Auftrag mit großer Entschlossenheit und
mit persönlicher Tapferkeit. Sie stellen sich dabei mit
Nachdruck dem Terror und allen anderen Einschüchterungsversuchen in den Weg, und sie helfen gemeinsam
mit den afghanischen Partnern und den internationalen
Verbündeten, die afghanische Bevölkerung zu schützen.
Im Hinblick auf einen weiteren Punkt, den Sie angesprochen haben, möchte ich darauf hinweisen, dass die
Haltung der Bundesregierung zur Traditionswürdigkeit
bzw. - in Bezug auf die Tradition der Bundeswehr - Traditionsunwürdigkeit der Wehrmacht eindeutig ist. Die
militärischen Leistungen der Wehrmacht können nicht
von der politischen Zielsetzung des nationalsozialistischen Regimes getrennt werden, auch dann nicht, wenn
diese Leistungen von ehemaligen Kriegsgegnern fallbezogen als beispielhaft hervorgehoben werden. Auf solche Leistungen können sich, ungeachtet ihrer militärfachlichen Bewertung, keine Traditionslinien zwischen
Wehrmacht und Bundeswehr gründen.
Eine Nachfrage, Herr Kollege Ströbele?
Ja.
Bitte.
Danke erst einmal, Herr Staatssekretär. Sie haben allerdings nur den ersten Teil meiner Frage beantwortet.
Zu diesem ersten Teil will ich die erste Nachfrage stellen.
Ihre Distanzierung von diesem Teil der Aussage, die
General Petraeus in dem Interview getroffen hat, reicht
mir nicht ganz. Er sprach von den deutschen Schlachtfeldhelden aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Dann
fuhr er fort: Ich glaube, dass die guten Teile dieser Tradition bewahrt werden. - Das sagte er in Bezug auf die
Aufstandsbekämpfung der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan.
Wäre es nicht angemessen, dass die Bundesregierung
nicht nur die Erklärung abgibt, dass sie ihre Auffassung
bekräftigt, wie Sie es gerade formuliert haben, sondern
sich in diesem Zusammenhang auch vom Lob der deutschen „Helden“ im Ersten und Zweiten Weltkrieg und
von dieser Tradition klar distanziert und deutlich macht:
„Das hat mit dem, was in Afghanistan getan wird, nichts
zu tun; jedenfalls sollte es damit nichts zu tun haben“?
Herr Kollege, ich denke, ich habe dazu das Notwendige gesagt. Die Bundesregierung kommentiert keine Interviews von Angehörigen der Streitkräfte anderer Nationen, auch dann nicht, wenn sie in militärisch wichtigen
Funktionen und Positionen sind.
Wenn man das Interview mit General Petraeus liest,
stellt man fest, dass er sich im Kern auf die Strategie, die
er in Afghanistan implementiert hat und anwendet, bezogen hat. Gegen die Anwendung der COIN-Strategie und
die mit Begrifflichkeiten aus der Tierwelt und anderen
Bereichen verbundene Sichtbarmachung dieser Strategie
bestehen keine Einwände. Wir haben keine Veranlassung, das in irgendeiner Weise infrage zu stellen.
Herr Kollege Ströbele, wollen wir einmal mit Herrn
Petraeus nicht gar zu streng schulmeisterlich deutsch
sein und nicht im Einzelnen auseinandernehmen, was er
wie wo gemeint haben könnte. Er hat von den guten Teilen der Tradition gesprochen. Ich habe Ihnen gesagt,
dass das nicht traditionsbegründend sein kann. Das ist
aber kein Anlass für eine Regierungskontroverse, sondern unter kulturell gebildeten Menschen allenfalls eine
Frage des Verständnisses von „gut“.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Jetzt komme ich auf den zweiten Teil meiner Frage,
den Sie mir überhaupt nicht beantwortet haben. Dabei
geht es darum, dass Herr Petraeus zwei Einheiten der
Bundeswehr lobt. Er sagt, wir könnten stolz auf diese
zwei Einheiten sein, weil sie Aktionen mit beeindruckendem Erfolg durchgeführt hätten. Ich habe die Bundesregierung gefragt, ob sie diese Auffassung teilt und,
wenn ja, womit sie das Lob begründet, dass wir auf die
Einheiten stolz sein können. Erstens. Welche Einheiten
sind das? Zweitens. Was war denn dieser außerordentliche Erfolg, auf den wir stolz sein können?
Wenn ich die Aussage oder dieses Zitat aus einem Interview von General Petraeus einordnen soll, dann stelle
ich fest, dass er damit ein Lob für die Umsetzung des sogenannten Partnering-Konzepts im Rahmen der Counter
Insurgency - entschuldigen Sie den englischen Ausdruck -, also der Aufstandsbekämpfung, und der diesbezüglichen Strategie ausgesprochen hat. So wertet die
Bundesregierung das. Das ist ein Lob, über das sie sich
freut. Das Partnering wird in dieser Region in diesen
Wochen implementiert. Partnering bedeutet aus unserer
Sicht das gemeinsame Planen, Vorbereiten, Durchführen
und Nachbereiten von Operationen, um die afghanischen
Sicherheitskräfte schneller zur eigenständigen Aufgabenwahrnehmung zu befähigen. Das ist ein Lob - das
hatte ich eingangs gesagt -, auf das sich der Stolz auf die
Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan gründet. Ich habe dem nichts wegzunehmen.
Dann kommen wir zur Frage 38 des Kollegen
Ströbele:
Bestätigt die Bundesregierung, dass bei einer Zugriffsoperation im September 2009 im Norden Afghanistans ein Dutzend vermeintliche Aufständische von der Bundeswehr
- Task Force 47 - festgenommen, in drei Hubschraubern ins
PRT-Lager Kunduz gebracht, dort vom frühen Morgen bis
nach 19 Uhr abends festgehalten, durch den Feldnachrichtendienst der Bundeswehr vernommen bzw. befragt und danach
nach Kabul geflogen und an afghanische Stellen übergeben
wurden, und wie vereinbart sie solche Festnahmen durch die
Bundeswehr mit ihrer Antwort zu den Fragen 16 und 17 auf
Bundestagsdrucksache 17/2884 vom 6. September 2010 in
der Kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vom 16. August 2010 auf Bundestagsdrucksache 17/2757,
wonach Angehörige der Task Force 47 keine Personen in Gewahrsam genommen haben?
Herr Staatssekretär.
Herr Präsident, die Frage 38 des Kollegen beantworte
ich wie folgt: Die im ISAF-Regionalkommando Nord als
Task Force 47 eingesetzten Spezialkräfte der Bundeswehr haben bisher keine regierungsfeindlichen Kräfte in
Gewahrsam genommen. Insofern gehe ich auch auf die
von Ihnen angesprochene potenzielle Diskrepanz bei der
Beantwortung der Kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - ich glaube, sie war aus dem August
dieses Jahres - ein: Diese Diskrepanz besteht nicht.
Am 10. Oktober 2009 unterstützte die Task Force 47
afghanische Sicherheitskräfte bei der Durchsuchung eines
Anwesens in der Provinz Kunduz, das mit Aktivitäten der
regierungsfeindlichen Kräfte in Verbindung gebracht
wurde. Bei dieser Durchsuchung wurden 15 verdächtige
Personen durch die verantwortlichen Beamten der afghanischen Sicherheitskräfte in Gewahrsam genommen.
Der Transport der Gewahrsamspersonen zur weiteren
Personenüberprüfung nach Kunduz wurde durch die
Task Force 47 unterstützt. Die anschließende Befragung
der Gewahrsamspersonen erfolgte in Verantwortung der
zuständigen afghanischen Sicherheitsbehörden. Die bei
ISAF eingesetzten und von Ihnen angefragten Feldnachrichtenkräfte der Bundeswehr können im Rahmen ihres
Auftrags zur Gewinnung von Informationen über die
Lage, Fähigkeiten und Absichten der regierungsfeindlichen Kräfte an Befragungen von Personen im Gewahrsam von afghanischen Sicherheitsbehörden teilnehmen.
Dies ist in diesem Falle auch geschehen.
Nachfrage, Herr Ströbele.
Meine erste Nachfrage: Heißt das, dass in dem Lager
in Kunduz - ich nehme an, das ist das Lager der Bundeswehr in Kunduz gewesen - diese 15 Personen festgehalten worden sind? Ist es auch zutreffend, dass sie den
ganzen Tag dort waren und dass ständig Bewachungspersonal der afghanischen Armee anwesend gewesen ist,
das heißt, dass sie in Gewahrsam der afghanischen Armee gewesen sind und dass Deutsche allenfalls in der
Nähe oder dabei waren? Ist das so zu verstehen?
Herr Kollege, zur genauen Örtlichkeit würde ich Ihnen gerne eine schriftliche Antwort geben; ich bin gegenwärtig nicht in der Lage, Ihnen dies genügend präzise zu sagen.
Bei den festgenommenen 15 Personen wurde eine
weitere Personenüberprüfung am gleichen Tage durchgeführt. Acht von ihnen sind aufgrund vorliegender Verdachtsmomente im Gewahrsam der zuständigen afghanischen Sicherheitsbehörden in Kunduz geblieben. Ich
sage: „geblieben“. Es mag eine Verlegung erfolgt sein.
Aber ich bitte, wie gesagt, um Zustimmung, dass ich Ihnen das nachliefere.
Der Umgang der Behörden mit diesen Gewahrsamspersonen erfolgte gemäß der nationalen Rechtsordnung
Afghanistans. Die ressortübergreifend abgestimmten
Grundsätze für die Befragung im Ausland Inhaftierter
durch nachrichtengewinnende Einrichtungen des Bundes
wurden gemäß den Anforderungen des Parlamentarischen Kontrollgremiums vom 25. Januar 2006 diesem
Gremium gegenüber berichtet. Demzufolge können neben den zuständigen Nachrichtendiensten MAD, also
Militärischer Abschirmdienst, und Bundesnachrichtendienst grundsätzlich auch sogenannte Feldnachrichtenkräfte an der Befragung von Personen im Gewahrsam
der Sicherheitsbehörden des Einsatzlandes teilnehmen.
Um solch einen Vorgang hat es sich hier gehandelt.
Weitere Nachfrage?
Ja. - Trifft es zu - das steht schon in der Frage; auch
dazu haben Sie sich nicht konkret geäußert -, dass die
Festgenommenen bzw. Festgehaltenen anschließend in
Luftfahrzeugen der Bundeswehr nach Kabul überführt
und dort an die afghanische Armee übergeben worden
sind?
Ich hatte berichtet, dass die Task Force 47 und die
Bundeswehr beim Transport unterstützend tätig gewesen
sind.
Ich muss noch einmal Bezug auf meine Bitte nehmen,
die Örtlichkeiten - Kabul, Kunduz - nachliefern zu dürfen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Frage 39 der Kollegin Veronika Bellmann und die
Fragen 40 und 41 der Kollegin Caren Marks werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Harald Weinberg
und die Frage 44 der Kollegin Dr. Martina Bunge werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Wie ist der Stand der Vorbereitungen für die Novellierung
des Personenbeförderungsgesetzes, und wann ist nach aktuellem Stand mit einem entsprechenden Beschluss der Bundesregierung über einen Gesetzentwurf bzw. mit der Einbringung
in den Deutschen Bundestag zu rechnen?
Bitte schön.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Geschätzter Kollege Dr. Hofreiter, ich beantworte die
Frage wie folgt:
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung arbeitet an einem Gesetzentwurf, mit dem
unter anderem das Personenbeförderungsgesetz an die
Verordnung ({0}) Nr. 1370/2007 angepasst werden soll.
Zurzeit finden intensive Beratungen mit den für die Ausführung des Personenbeförderungsgesetzes zuständigen
Ländern statt. Ein genauer Zeitpunkt für die Vorlage des
Regierungsentwurfs und die Behandlung im Kabinett
kann noch nicht genannt werden.
Ich füge hinzu, dass die beteiligten Verbände, wie Sie
wissen, verschiedene Meinungen haben, die wir in diesen Prozess einbeziehen wollen.
Eine Nachfrage, bitte schön.
Mich würde in dem Zusammenhang insbesondere interessieren, ob es bereits Lösungen für das Problem des
sogenannten ausschließlichen Rechts gibt. In der Verordnung ({0}) Nr. 1370/2007 wird festgehalten, dass sie gilt,
wenn eine Ausgleichsleistung und/oder ein ausschließliches Recht gewährt wird. Da geht es um die Linienverkehrsgenehmigung. Jetzt ist die Meinung vieler Beteiligter, die Sie gerade angesprochen haben, dass die
Linienverkehrsgenehmigung nicht mehr als ausschließliches Recht angesehen wird. Die andere Seite aber sagt:
Wenn die Linienverkehrsgenehmigung kein ausschließliches Recht mehr ist, dann können auf einer Linie mehrere fahren. - Das führt letztendlich zu Rosinenpickerei.
Hat das Ministerium eine Idee, wie es mit der Problematik des ausschließlichen Rechts umzugehen gedenkt?
Wir haben die Arbeitsgruppe mit den Ländern und
den drei Verbänden, nämlich VDV, bdo und Städtetag,
um diese Fragen zu klären. Diese sind äußerst komplex.
Es gibt verschiedene Rechtsauffassungen an dieser
Stelle, wie Sie richtig sagen. Deswegen sind wir sehr engagiert bei der Sache. Es liegt aber nicht am BMVBS,
dass diese Ausarbeitung Zeit in Anspruch nimmt. Diese
Rechtsfragen sind äußerst kompliziert.
Eine weitere Nachfrage, bitte.
Sie haben bereits erläutert, dass noch nicht absehbar
ist, in welchem Zeitrahmen es zu einem Gesetzgebungsverfahren kommt. Die Verordnung ({0}) Nr. 1370 ist bereits im letzten Jahr in Kraft getreten und direkt geltendes Recht. Nach fast übereinstimmender Auffassung
widerspricht die Verordnung ({1}) Nr. 1370 unserem bestehenden Personenbeförderungsgesetz. Deswegen muss
es novelliert und angepasst werden. Gilt denn jetzt nach
Ansicht der Bundesregierung das Personenbeförderungsgesetz oder die dem momentan gültigen Personenbeförderungsgesetz widersprechende Verordnung ({2})
Nr. 1370, die am 3. Dezember 2009 in Kraft getreten ist?
Nach unserer Auffassung kann die momentane Lage
hingenommen werden, bis der Regierungsentwurf das
parlamentarische Verfahren durchlaufen hat. Diese Meinung teilen auch die einbezogenen Länder und Verbände.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Hofreiter:
Aus welchem Grund hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag keinen Bericht zur Bearbeitung des besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrages für Straßenbauprojekte im Straßenbauplan vorgelegt, und wie will sie der
Begründung zum Fünften Fernstraßenausbauänderungsgesetz
entsprechen, in der gefordert wird, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dem Deutschen
Bundestag so rechtzeitig berichtet, dass dieser das Ergebnis
bei der Einstellung der Projekte in den Straßenbauplan als Anlage zum Bundeshaushalt berücksichtigen kann?
Herr Kollege Dr. Hofreiter, eine Öko-Stern-Maßnahme wird grundsätzlich erst nach Vorliegen des Baurechts sowie der haushaltsrechtlichen Voraussetzungen
in den Entwurf des Straßenbauplans als Anlage zum
Haushaltsentwurf der Bundesregierung aufgenommen.
Hierdurch erhält das Parlament entsprechend der Begründung des Fünften Fernstraßenausbauänderungsgesetzes rechtzeitig vor Verabschiedung des Haushaltsgesetzes
die Gelegenheit, sich über die Abarbeitung des besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrags zu informieren. Zu diesem Zweck werden die Erläuterungen im
Straßenbauplan sinngemäß wie folgt ergänzt - ich zitiere -: Maßnahmen des Bedarfsplans für die Bundesfernstraßen mit rechtlich umfassend abgearbeitetem, besonderem naturschutzfachlichen Planungsauftrag sind mit
Stern gekennzeichnet. Nur in Ausnahmefällen können
Öko-Stern-Maßnahmen nachträglich in den Straßenbauplan aufgenommen werden. Der Deutsche Bundestag
wird in diesen Fällen vor der nachträglichen Einstellung
mit einer entsprechenden Begründung über die Abarbeitung des besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrags in Kenntnis gesetzt.
Eine Nachfrage, Herr Hofreiter.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. - Der mit dem Öko-Sternchen verbundene besondere naturschutzrechtliche Planungsauftrag
sollte nach der Begründung im Gesetz so ausgearbeitet
werden, dass zu den einzelnen Maßnahmen dem zuständigen Ausschuss jeweils ein Bericht über die Abarbeitung vorgelegt wird. Dass ein solches Projekt selbstverständlich erst bei Vorliegen des Baurechts usw.
aufgenommen wird, ist klar. Das gilt für alle Projekte des
Bundesverkehrswegeplans bzw. des Fernstraßenausbaugesetzes. Meine konkrete Nachfrage: Werden diese Berichte - keinen einzigen von ihnen habe ich in der letzten
Haushaltsberatung gesehen - in künftigen Haushaltsberatungen vorgelegt, ja oder nein?
Kollege Dr. Hofreiter, zur Erlangung von Baurecht
haben wir, wie Sie wissen, ein sehr intensives Verfahren.
Bei Vorhaben, die mit einem Öko-Stern gekennzeichnet
sind, sind die Umweltrisikoeinschätzung und die FFHVerträglichkeitsabschätzung abzuarbeiten. Auf diese
Sachverhalte wird bis zur Erlangung von Baurecht ohnehin
sehr offen, in einem transparenten Verfahren, hingewiesen. An diesem Verfahren können auch die Bürgerinnen
und Bürger teilnehmen. Durch die Auftragsverwaltungen der Länder haben wir bis zur Erlangung von Baurecht ohnehin die Möglichkeit, darüber eine Diskussion
zu führen. Daher existiert in diesem Verfahren schon
eine Art Bericht.
Eine weitere Nachfrage.
Die Frage bezog sich nicht auf den in unserem Verwaltungsrecht vorgesehenen Ablauf, also auf das Linienfindungsverfahren, die Bauplanfeststellung, die Erlangung von Baurecht usw. Das findet bei allen Projekten
statt. Bei den Projekten mit einem besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrag ist vorgesehen, dass
- nur zu diesen Projekten - ein gesonderter Bericht darüber, wie der naturschutzfachliche Planungsauftrag
abgearbeitet wurde, an den Ausschuss geliefert wird.
Gedacht war, dass der Ausschuss aufgrund dieser Projektberichte - es geht nur um diese Projekte; es geht
nicht um all die anderen Projekte; Sie haben das Verfahren korrekt dargestellt - entscheiden sollte. Die Frage
ist: Wann bekommen wir diese Berichte?
Herr Dr. Hofreiter, das rechtliche Verfahren zur Erlangung des Baurechts ist ja dadurch gekennzeichnet, dass
dann, wenn die naturschutzfachliche Relevanz abgearbeitet ist und alle Bedenken ausgeräumt worden sind,
Baurecht erwirkt wird. Das heißt, es gibt dann ohnehin
das Recht zur Umsetzung des Projektes. Daher verstehe
ich Ihren Hinweis nicht, wenn Sie sagen, Sie wollen
schon vorher eingebunden werden. Bevor das Baurecht
erlangt werden kann, gibt es ohnehin ein rechtsstaatliches Verfahren, das alle Bedenken ausräumen und offenlegen soll.
Vielen Dank. - Frau Herlitzius, Sie haben das Wort zu
einer weiteren Nachfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, da muss ich einmal nachfragen.
Wir wissen, dass in den normalen Planverfahren - von
der Linienbestimmung bis zur Erlangung von Baurecht die naturschutzfachlichen Belange ganz klar geprüft
werden; das hat mein Kollege Toni Hofreiter ja gerade
gesagt, und Sie haben es auch bestätigt. Uns ging es aber
damals, bei der Festlegung der naturfachlichen Vorprüfung für Maßnahmen des Bundesverkehrswegeplans, darum, dem etwas voranzustellen, damit die Straßen, die in
besonders sensiblen Naturbereichen geplant sind, dann
nicht Teil des Verfahrens werden, wenn man keine Sicherheit darüber hat, dass die naturschutzfachlich kritischen
Bereiche geschützt werden können. Das heißt, es müssen
eine vorgelagerte Prüfung und eine Berichterstattung bei
den Maßnahmen des Bundesverkehrswegeplans stattfinden; sonst ist das Ganze eigentlich eine Nullnummer.
Das normale naturschutzfachliche Prüfungsverfahren
gibt es ja sowieso.
Frau Kollegin Herlitzius, Ihre Forderung, für ein doppeltes Berichtsverfahren zu sorgen, ist eigentlich an den
Haaren herbeigezogen; schließlich gibt es ohnehin ein
Verfahren zur Erlangung des Baurechts.
Wenn wir den Straßenbauplan aufstellen, ist uns als
Fachpolitikern klar, welche Straßen und Projekte naturschutzfachlich besonders relevant sind. Auch Sie und
Ihre Fraktion nutzen die Gelegenheit, durch Fragen an
das Ministerium weitere Informationen über Einzelprojekte zu bekommen. Wir geben also ohnehin Auskunft
über naturschutzfachlich relevante Projekte. Aufgrund
Ihrer Anfragen wird Ihnen aus der Auftragsverwaltung
und aus dem BMVBS ja auch berichtet.
({0})
Die Frage ist beantwortet.
Die Frage 47 der Kollegin Veronika Bellmann, die
Frage 48 des Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier und die
Frage 49 des Kollegen Heinz Paula werden schriftlich
beantwortet.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Fragen, die sich
mit der energetischen Gebäudesanierung befassen.
Zunächst Frage 50 des Kollegen Dr. Hermann Ott:
Welche Energiestandards sollen Neubauten und Sanierungen im Bestand ab 2011 und darüber hinaus nach den Planungen der Bundesregierung zu einer Vorbildfunktion bei der Reduzierung des Energieverbrauchs konkret erfüllen?
Bitte schön.
Speziell für Bauvorhaben des Bundes sollen bereits
jetzt die jeweiligen EnEV-Anforderungen unterschritten
werden, soweit dies wirtschaftlich vertretbar ist. Das
Energiekonzept der Bundesregierung vom 28. September 2010 betont die Bedeutung der Vorbildfunktion der
Bundesgebäude bei der Reduzierung des Energieverbrauchs. Weiterhin wird mit dem Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien, mit dem die Richtlinie 2009/28/EG in deutsches Recht umgesetzt wird,
eine Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude für den Einsatz erneuerbarer Energien festgeschrieben.
Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Wir hatten nach den
konkreten Planungen der Bundesregierung gefragt. Ihr
Kollege Jan Mücke hat ja zum Beispiel vorgeschlagen,
den Mittelansatz des Gebäudesanierungsprogramms der
KfW Bankengruppe auf ungefähr 3 Milliarden Euro zu
erhöhen. Das wäre ja vielleicht eine Möglichkeit.
Ganz spezifisch gefragt: Wie wollen Sie denn, wenn
Ihr Haus die Förderung für energetische Sanierungen so
massiv zurückfährt, wie das jetzt im Haushaltsentwurf
für das nächste Jahr geplant ist, eine Quote von mindestens 2 Prozent, besser noch 3 Prozent der Erneuerung im
Bestand erreichen? So viel wäre ja notwendig, um die
Klimaziele Ihrer Regierung zu erreichen.
Herr Kollege Dr. Ott, Ihre Kollegin Herlitzius, die
hinter Ihnen sitzt, lächelt schon, weil sie eine ähnliche
Frage zum Thema gestellt hat.
Faktisch gilt jetzt auch für das für die Bundesbauten
zuständige BMVBS der Beschluss vom 28. September.
Ich selber bin wie meine Staatssekretärskollegen sehr
viel unterwegs und stoße dabei viele energetische Sanierungsvorhaben in höchster Qualität an, auch aus dem
Konjunkturpaket. Sie können gerne eine Liste haben, aus
der hervorgeht, wie viele Mittel aus dem Konjunkturpaket beispielsweise in die energetische Sanierung fließen
und welche Standards wir haben. Ich könnte konkrete
Maßnahmen nennen, die auch als Innovationstreiber für
den Standort Deutschland wichtig sind.
Im Zuge der Haushaltsberatungen greifen wir das
Thema im weiteren parlamentarischen Verfahren noch
einmal neu auf und beschließen in ein paar Wochen hier
im Plenum den Haushalt. Wir begleiten diesen Prozess
der konkreten Ausformulierung der Energieziele zusammen mit den Partnerhäusern, die sich auch mit diesem
Thema befassen.
Zweite Nachfrage.
Noch einmal nachgefragt: Mit welchen Prozentsätzen
planen Sie denn bei der Erneuerung im Bestand? Wir
wissen, wie wichtig Maßnahmen im Altbestand für die
Erreichung der Klimaziele sind. Es gibt ja Gebäude, die
noch 30 Liter pro Quadratmeter brauchen. Möglich wären 5 bis 6 Liter nach einer Sanierung. Da der Gebäudebestand 30 Prozent unserer klimawirksamen Emissionen
ausmacht, könnte das einen wirklich sehr großen Einfluss haben. Welche Planungen hat Ihr Haus? In welchen
Raten soll sich der Bestand an sanierten Gebäuden tatsächlich erhöhen?
Sie haben ja gefragt, inwieweit wir für eine Vorbildfunktion der Bundesbauten sorgen. Die konkreten Projekte der energetischen Sanierung, die im Titel der Bundesbauten enthalten sind, werden abgearbeitet. Das sind
zum Teil sehr schwierige Bauten, die sehr viel Geld binden. Deshalb wollen wir mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln diese möglichst schnell fertigstellen und somit der Vorbildfunktion der Bundesregierung gerecht
werden. Wir sind täglich unterwegs, um Schecks auszureichen.
Wir haben eine weitere Frage, diesmal von der Kollegin Dorothée Menzner.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, noch
einmal die konkrete Nachfrage: Bei Neubauten ist der
Passivhausstandard ja inzwischen durchaus üblich. Sie
haben eben auch ausgeführt, welche Vorbildfunktion die
Bundesbehörden wahrnehmen. Wie hoch ist der Anteil
der Gebäude an den Neubauten des Bundes, die in Passivbauweise ausgeführt werden, bzw. der Anteil derer,
die in Planung sind?
Frau Kollegin, diese Zahlen würde ich Ihnen gerne
nachreichen, wenn Sie erlauben. Damit hätten Sie dann
einen Überblick über die Bundesbauten.
Fakt ist, dass wir nicht nur im Bereich der Passivhäuser Überlegungen anstellen, sondern vor allem auch im
Bereich Wohnen und Bauen. Wir überlegen, wie Plusenergiestandards als Innovation für die Bürgerinnen und
Bürger realisiert werden können, damit man es vor Ort
erfahren kann und damit man dieses Thema auch mit
Elektromobilität verbindet. An dieser Stelle sind wir
sehr erfinderisch und sehr kreativ und wollen deutsche
Innovationen auch ins Ausland bringen. Dabei werden
wir die Vorbildfunktion ausüben, Herr Kollege Dr. Ott.
Wir sorgen nicht nur für sehr gute Standards bei Bundesbauten, sondern geben auch Privatleuten eine Handreichung, wie sie im Bereich von Passivhäusern und Plushäusern agieren können.
Die Zahlen reiche ich Ihnen nach.
Wir haben jetzt eine Frage der Kollegin Ingrid Nestle.
Ich habe noch eine Nachfrage zu den Energiestandards. Die EU-Gebäuderichtlinie sieht vor, dass ab 2020
nur noch Nullenergiehäuser gebaut werden sollen. Werden Sie diese Forderungen schon in der EnEV 2012 umsetzen? Wenn nein, warum nicht?
Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel werden wir möglichst weit gehen und - wenn ich
bei der Begrifflichkeit von Herrn Dr. Ott bleiben darf die Vorbildfunktion der Bundesregierung so umsetzen.
Jetzt hat die Kollegin Bettina Herlitzius eine weitere
Frage.
Die hätte dann auch die nächste Frage.
Wir sind aber gerade bei den Energiestandards. Insofern passt das jetzt etwas besser.
Ich hätte gerne eine Information zu den Konjunkturprogrammen. Sie haben das heute Morgen im Ausschuss
schon erwähnt und jetzt wieder. Diese Programme konzentrieren sich natürlich schwerpunktmäßig auf die öffentliche Infrastruktur. Mithilfe dieser Programme wurden Straßen gebaut, aber auch viele Schulen sind saniert
worden.
Worum es uns bei der KfW-Gebäudesanierung geht,
ist der private Hausbesitzer, der Wohnungen vermietet
oder auch selbst nutzt und der dringend Unterstützung
braucht.
Minister Brüderle hat vorhin so schön gesagt, er wolle
keinen Zwang zur Sanierung. Dabei hat er aber vergessen, dass es einen Zwang für die Mieter gibt, die die hohen Nebenkosten bezahlen müssen. Diese können nicht
daran vorbei. Insofern muss man eine Lösung finden, um
beiden Interessen gerecht zu werden.
Sie haben gerade die Frage meiner Kollegin bezogen
auf Neubaustandards beantwortet. Ich frage Sie, wie Sie
sich Standards für den Altbaubestand vorstellen. Auch in
diesem Bereich muss etwas passieren, damit wir die
Ziele für die Gebäude erreichen können.
Die Heizverordnung sieht vor, dass Heizkessel ausgetauscht werden. Das ist auch passiert. Es gab ganz eindeutig einen Zwang hierzu. Es gab dafür einen großen Zeitraum; es gab große Umsetzungsmöglichkeiten. Dann sind
aber alle Heizungen in Gebäuden ausgetauscht worden.
Diese Möglichkeiten müssen wir auch weiterhin eröffnen; denn ohne einen gewissen Zwang gekoppelt mit einer Förderung wird nichts passieren. Genau das sehen wir
bei dieser Regierung im Moment aber nicht.
Frau Kollegin Herlitzius, wir haben das Energiekonzept mit Bundesminister Brüderle und Bundesminister
Röttgen intensiv diskutiert. Diese Regierung steht für
Anreize und freie Entscheidungen, aber nicht für Zwang.
Es sollen Anreize für eine energetische Sanierung für die
Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden. Wenn Sie
sich die Zahlen und die Programme anschauen, dann
stellen Sie fest, dass das in der Vergangenheit hervorragend funktioniert hat. Es bestehen Anreize für Privateigentümer, aber auch für große Wohnungsbaugesellschaften, energetische Sanierungen durchzuführen. Das ist ein
Erfolgsmodell. Daher steht diese Regierung nicht für
zwanghafte Maßnahmen, sondern für Anreize und freie
Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank.
Wir kommen zu Frage 51 der Kollegin Bettina
Herlitzius:
Mit welchen Mitteln will die Bundesregierung in Anbetracht der Reduzierung des CO2-Gebäudesanierungsprogramms
die Sanierungsquote wie angekündigt auf 2 Prozent steigern
und auf diesem Niveau halten?
Bitte schön.
Wie schon gesagt: Am 28. September wurde vom
Bundeskabinett das Energiekonzept beschlossen. Dieses
sieht ein Bündel von Maßnahmen zur Steigerung der
Energieeffizienz und zur Realisierung einer deutlich höheren Sanierungsquote im Gebäudebereich vor. Dazu
gehört die finanzielle Förderung unter anderem mit Mitteln des CO2-Gebäudesanierungsprogramms und des
Marktanreizprogramms zur Förderung von Maßnahmen
zur Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmemarkt.
Den Orientierungsrahmen setzt dabei ein langfristiger
Sanierungsfahrplan für Gebäude. Weitere Maßnahmen
sind die Entwicklung und Förderung des Marktes für
Energiedienstleistungen, eine qualifizierte Information
und Beratung privater Verbraucher sowie die Stärkung
der Energieausweise zur Erhöhung der Transparenz über
den Energiebedarf von Gebäuden.
Verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen, wie etwa
im Mietrecht, für energetische Sanierungen oder aber die
Schaffung eines einheitlichen rechtlichen Rahmens für
Wärmeliefercontracting können ebenso einen Beitrag
zur Verdopplung der Sanierungsquote leisten. Das bezieht sich auch auf die Frage, die Sie vorher gestellt haben.
Nachfrage, Frau Kollegin Herlitzius?
Nein.
Dann kommen wir zur Frage 52 der Kollegin
Herlitzius:
Wie wurden die Kosten in Höhe von 2 bis 2,4 Billionen
Euro für die Sanierung aller Wohngebäude auf den Nullemissionsstandard bis 2050 berechnet, von denen das BMVBS
nach einem Artikel der Zeitschrift Der Spiegel vom 13. September 2010 ausgeht, und wurden dabei auch die Kosten für
die Gebäudeinstandhaltung eingerechnet?
In Deutschland gibt es derzeit rund 18 Millionen Wohngebäude mit rund 40 Millionen Wohnungen. Die durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung beträgt 86 Quadratmeter. Damit ergibt sich eine Gesamtwohnfläche von
rund 3,4 Milliarden Quadratmetern. Nullemissionsstandard bedeutet, dass hierfür ein bau- und anlagentechni6350
sches Niveau erreicht werden muss, das energetisch
noch deutlich anspruchsvoller ist als das derzeit anspruchsvollste von der KfW geförderte Sanierungsniveau. Die spezifischen Kosten für einen solchen Standard hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, ausgehend vom heutigen Sanierungstechnologiestandard und von den heutigen Kosten, grob
auf 500 bis 700 Euro pro Quadratmeter geschätzt. Damit
würden energetische Gesamtkosten in Höhe von 2 bis
2,4 Billionen Euro verursacht werden. Kosten für die Instandhaltung wie auch die kostenmindernden Effekte
durch eine parallele Durchführung von energetischen
Sanierungsmaßnahmen zusammen mit ohnehin anstehenden Instandsetzungen sind dabei nicht berücksichtigt.
Es gibt natürlich inzwischen verschiedene Gutachten.
Aber das Bundesministerium hat diese Berechnung auf
der Basis der Gesamtquadratmeterzahlen vorgenommen.
Nachfrage?
Ja. - Was bezwecken Sie mit diesen Zahlen, die gerade für Hausbesitzer sehr erschreckend sind? Die Darstellung von Millionensummen, die bei der Sanierung
anfallen, und zwar bei einem Zeithorizont bis 2050, ist
im Moment nicht zielführend. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass wir die Gebäudebesitzer mitnehmen.
Deswegen frage ich Sie: Was ist in dieser Hinsicht Ihre
Strategie? Wie wollen Sie die Häuslebesitzer, die Eigentümer, zur Sanierung bewegen, wenn Sie sie mit solchen
Zahlen erschlagen?
Frau Kollegin Herlitzius, Sie haben nach den Zahlen
gefragt, die das BMVBS berechnet hat.
({0})
Ich habe nur, um für größtmögliche Transparenz zu sorgen, Ihre Frage beantwortet, wie die Zahlen zustande gekommen sind. In der Antwort auf die Frage 50 habe ich
das Maßnahmenpaket der Bundesregierung in Bezug auf
Sanierungen dargestellt. Durch die Antworten auf die
Fragen 50 und 51 müsste ein guter Überblick gegeben
worden sein.
Weitere Nachfrage?
Ja. - Meine Nachfrage bezog sich natürlich darauf,
dass es einen generellen Investitionsbedarf bei Immobilien gibt, zum Beispiel auch mit Blick auf Barrierefreiheit oder Modernisierung. Nicht alles, was heute investiert werden muss, bezieht sich nur auf die energetische
Sanierung. Man kann Ihre Zahlen aber so lesen, als beträfen sie nur die energetische Sanierung. Deswegen die
Nachfrage: Wie wollen Sie Ihre Ziele erreichen? Das ist
nach wie vor nicht erkennbar.
Frau Kollegin Herlitzius, ich glaube, dass alle Fraktionen im Deutschen Bundestag den Bedarf bei den genannten 40 Millionen Wohnungen sehen; nur so kommen wir bei der Sanierung unserer Wohngebäude
gemeinsam weiter. Über die Strategie werden wir weitgehend streiten; das ist klar. Aber im Energiekonzept
und in den verschiedenen Sanierungsprogrammen sind
die Anreize gesetzt. Die Erfolgsgeschichte der Sanierungsprogramme können Sie auch daran erkennen, dass
wir von der Finanzlinie etwas heruntergegangen sind,
weil die Töpfe von den Privaten und den Wohnungsbaugesellschaften in Rekordzeit ausgeschöpft worden sind.
Wir haben uns jetzt geeinigt, das Paket um die 500 Millionen Euro zu erweitern, um dem Bedarf Rechnung zu
tragen. Wenn Sie sehen, wie schnell und gut die Programme vor Ort ankommen, können Sie feststellen, dass
die Strategie der Bundesregierung, die Sanierungen mit
einem Bündel von Maßnahmen über Anreizsysteme und
nicht über Zwang zu forcieren, genau die richtige ist.
Eine weitere Nachfrage der Kollegin Ingrid Nestle.
Herzlichen Dank. - Ich habe eine konkrete Nachfrage: Sind in Ihren Berechnungen nur die Mehrkosten
für die energetische Sanierung enthalten oder auch die
Kosten für diejenigen Sanierungen, die im Zeitraum bis
2050 sowieso durchgeführt werden müssen? Ich frage
dies vor dem Hintergrund, dass mir für die Kosten der
energetischen Sanierung eine sehr viel niedrigere Zahl
bekannt ist - nämlich 400 Milliarden Euro -, die, so
glaube ich, auf das Institut für Wohnen und Umwelt zurückgeht.
Auf der Grundlage der derzeit bekannten Sanierungstechnologien habe ich vorhin die Gesamtkosten der energetischen Sanierung mit 2 bis 2,4 Billionen Euro beziffert. Ich sage aber dazu, dass es unterschiedliche
Gutachten gibt. Unter dem Strich können wir fraktionsübergreifend feststellen, dass es absolut gesehen einen
Sanierungsbedarf gibt. Dieser Tatsache trägt die Bundesregierung Rechnung, indem sie intelligente Sanierungsprogramme aufstellt.
Die Fragen 53 und 54 der Kollegin Daniela Wagner
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun - es handelt sich um den gleichen
Themenbereich - zur Frage 55 der Kollegin Ingrid
Nestle:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wie will die Bundesregierung ohne den Nullemissionsstandard im Gebäudebestand sicherstellen, dass der gesamte
Gebäudebestand bis 2050 80 Prozent weniger klimaschädigendes Kohlendioxid als heute verbraucht?
Bei dieser Frage geht es um den Nullemissionsstandard im Gebäudebestand, der vorhin schon Gegenstand
einer Ihrer Nachfragen war, Frau Kollegin.
Im Gebäudebestand stellt die Bundesregierung wirtschaftliche Anreize in den Mittelpunkt ihrer Politik. Der
langfristige Sanierungsfahrplan hin zum klimaneutralen
Gebäudebestand soll den Hauseigentümern einen verlässlichen Orientierungsrahmen für Investitionen geben.
Sanierungszwang ist mit dieser Regierung nicht zu machen. Wir setzen auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit
und unterstützen im Übrigen weitere Maßnahmen mit einer wirksamen staatlichen Förderpolitik.
Danke schön. - Nachfrage?
Wenn Sie Zwang kategorisch ausschließen und wenn
es sowieso keinerlei Standards zu beachten gilt, frage
ich, warum wir dann noch verlässliche Rahmenbedingungen für Hausbesitzer brauchen.
Ich habe nicht davon gesprochen, dass es keine Standards gibt, sondern davon, dass die Maßnahmen auf Investitionsanreize und nicht auf Zwang basieren.
Weitere Nachfrage?
Sie merken aufgrund der vielen Nachfragen zu diesem Punkt, wie sehr uns dieses Thema auf den Nägeln
brennt. Einmal überspitzt gefragt: Habe ich Sie richtig
verstanden, dass Sie nur fördern und nicht fordern wollen, dass Sie also in diesem Bereich nur öffentliche Gelder einsetzen wollen? Sie haben zwar gesagt, Sie würden
Standards setzen. Aber dann haben Sie davon gesprochen, Sie wollten nur mit investiven Anreizen arbeiten.
Ich habe es an dieser Stelle noch nicht richtig verstanden: Setzen Sie im Altbaubereich nun Standards - ja
oder nein? Wenn Sie Zwang komplett ablehnen, müssten
Sie dann nicht eigentlich auch die Vorschrift ablehnen
- denn auch das ist ein Zwang -, dass der Schornsteinfeger in regelmäßigen Abständen kommen muss? Sie können doch nicht generell jeglichen Zwang in diesem Bereich ablehnen.
Ich habe vorher von den Standards gesprochen. Diese
Programme beinhalten natürlich gewisse Regeln, die beachtet werden müssen, damit die Gelder abgerufen werden können. Das verstehe ich unter den Anforderungen,
die es für solche Programme gibt. Ich möchte an dieser
Stelle hinzufügen, dass bis dato die Sanierungsprogramme sehr gut gelaufen sind, und ich möchte den investitionswilligen Eigentümern von Wohnungen und
Häusern meinen Dank dafür aussprechen, dass sie diese
Programme so zahlreich nachgefragt haben. Das zeigt,
dass diese Strategie erfolgreich ist.
Eine weitere Nachfrage der Kollegin Dorothée
Menzner.
Danke. - Herr Staatssekretär Scheuer, es gibt ja auch
einen umfänglichen Gebäudebestand des Bundes. Wie
groß ist der Anteil der Gebäude im Besitz des Bundes,
die nach einem Umbau den Nullemissionsstandard erfüllen oder bei denen diese Maßnahme in der konkreten
Planung oder Umsetzung ist?
Frau Kollegin Menzner, wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie ein paar Fragen zuvor Ähnliches gefragt.
({0})
Ich bitte darum, an dieser Stelle die konkreten Zahlen
nachreichen zu dürfen, die die Vorbildfunktion der Bundesregierung, was die Bundesbauten angeht, unterstreichen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir kommen zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula
Heinen-Esser zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 56
des Kollegen Friedrich Ostendorff:
Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die vom Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz geplanten
Maßnahmen zur Einhaltung des NH3-Grenzwertes von
550 kt NH3 ab 2010 gemäß der NEC-Richtlinie?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter
Herr Kollege Ostendorff, diese Frage folgt quasi der
Frage, die Sie vorhin meiner Kollegin Julia Klöckner aus
dem Landwirtschaftsministerium gestellt haben. Ich
kann Ihnen sagen, dass unsere Antworten identisch sind;
wir gehen in dieser Frage Seit’ an Seit’.
Wir haben Ihnen bereits in der Beantwortung der
Kleinen Anfrage vom August dieses Jahres sehr ausführlich dargelegt, dass die Bewertung der genannten möglichen Maßnahmen im Hinblick auf die Notwendigkeit
einer zusätzlichen Emissionsminderung, das Emissionsminderungspotenzial der einzelnen Maßnahmen, die
rechtlichen Möglichkeiten der Implementierung und die
kurzfristige Umsetzbarkeit sowie die Minderungskosten
noch nicht abgeschlossen ist. Wie wir in der Antwort auf
die Kleine Anfrage ebenfalls angesprochen haben, hat
dies damit zu tun, dass wir zurzeit unsere Emissionsprognosen zwar regelmäßig anpassen und überprüfen, aber
die Emissionsprognose für das Jahr 2010 auf Basis der
vorhandenen Datenlage aus dem Jahr 2009 erst Anfang
Dezember dieses Jahres zur Verfügung stehen wird. Anschließend werden wir sie natürlich an die Europäische
Kommission übermitteln. Selbstverständlich zielt dieses
Programm darauf - ich glaube, hier sind wir gar nicht
auseinander -, die Emissionshöchstmengen ab dem genannten vorgegebenen Termin einzuhalten.
Eine Nachfrage?
Schönen Dank, geschätzte Kollegin Ulla Heinen. Wir
haben es hier natürlich mit demselben Themenkomplex
zu tun wie eben im Fachbereich Ernährung und Landwirtschaft. Aber das Bundesumweltministerium ist hier
fachlich zuständig. Adressat der Rüge oder des Briefes
der EU-Kommission - wie auch immer man es nennen
will - ist das Bundesumweltministerium. Bis Ende September mussten Maßnahmen nach Brüssel gemeldet
werden. Wir haben bisher keine Kenntnis, was die Bundesregierung gemeldet hat, was sie aktiv tun will, damit
die Ammoniakgrenzwerte in der Zukunft eingehalten
und nicht wie in diesem Jahr wieder um 11 Prozent überschritten werden.
Wir fragen natürlich vor dem Hintergrund, dass wir
aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium immer wieder hören, man wolle mehr Fleisch erzeugen. Fleisch ist
eine wichtige Eintragsquelle für Ammoniakemissionen.
In Deutschland sind circa 900 Ställe in Beantragung;
wenn wir dies auf Hähnchen umlegen, könnten im Jahr
ungefähr 200 Millionen Hähnchen mehr in diesen Ställen gehalten werden. Angesichts dessen fragen wir uns
als Oppositionspartei, wie man die Richtlinien, die heute
schon überschritten werden, in Zukunft einhalten will,
wenn die wesentliche Eintragsquelle, die landwirtschaftliche Fleischproduktion, noch so stark ausgedehnt werden wird. Da muss ich doch das Bundesumweltministerium fragen, was Sie denn nun zusammen mit den
Ländern - sie sind hier gefordert - tun wollen und was
Sie ihnen an Hausaufgaben aufgegeben haben. Es wäre
für uns wichtig, zu erfahren, was hier im Einzelnen angemahnt wird.
Das war jetzt gleich eine ganze Fülle von Fragen und
Anmerkungen. Lassen Sie mich eines voranstellen: Sie
haben recht, das Bundesumweltministerium ist in der Tat
für die Umsetzung der Richtlinie zuständig. Aber Sie haben vorhin bei Ihrer Frage an die Kollegin Klöckner sehr
wohl auch selber formuliert, dass der größte Teil der
Ammoniakemissionen von der Landwirtschaft verantwortet wird.
({0})
Sie sind selber Landwirt und wissen, woher der Ammoniak kommt. Das hat nicht nur etwas mit der Fleischproduktion oder den Schweinen zu tun, sondern natürlich
auch mit dem gesamten Bereich der Düngung etc.
Zu dem Schreiben der Europäischen Kommission: Es
gab eine Anfrage an uns, die wir in den nächsten Tagen
beantworten werden. Ich bitte Sie, Ihr Augenmerk auf
die Antwort auf Frage 4 Ihrer Kleinen Anfrage zu richten. Darin steht, dass es eine Anfrage der Kommission
gibt, in der wir aufgefordert wurden, „Angaben über jegliche Aktualisierung des Nationalen Programms sowie
über ergriffene und/oder vorgesehene Maßnahmen vorzulegen, die die Einhaltung der Nationalen Emissionshöchstwerte bis 2010 und darüber hinaus gewährleisten
sollen“.
Wir befinden uns in der Revision der Prognose zu den
tatsächlichen Emissionsmengen in Deutschland; sie wird
erst Anfang Dezember vorliegen. Natürlich wird auch zu
prüfen sein, ob wir bestimmte Maßnahmen kurzfristig
umsetzen, beispielsweise im Hinblick auf die Aktualisierung und Verbesserung der Emissionsinventare oder
Ähnliches; auch das ist schon in der Kleinen Anfrage angesprochen worden. Wir werden unter Berücksichtigung
der Umsetzungsmöglichkeiten und in enger Abstimmung mit dem Landwirtschaftsministerium darüber entscheiden.
Eine zweite Nachfrage? - Bitte schön.
Eine kurze Nachfrage: Beinhaltet das auch, dass Sie
darüber nachdenken, endlich eine Verschärfung der
Düngeverordnung vorzunehmen?
Ich warte jetzt erst einmal relativ gelassen ab, welche
Werte sich ergeben. Dann werden wir prüfen, welche
Stellschrauben es gibt, beispielsweise bei der Düngeverordnung. Es kann sich aber auch um schlichtere Maßnahmen handeln, beispielsweise um die Abdeckung von
Schweinegüllelagern.
Wir werden gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium darüber diskutieren und nehmen natürlich
auch Ihre Hinweise, die Sie uns als Kenner der Materie
geben, gerne entgegen. Wie gesagt: Lassen Sie uns jetzt
Zeit, um uns die tatsächlichen Emissionen genau anzuschauen.
Vielen Dank. - Die Frage 57 des Kollegen Hans-Josef
Fell, die Frage 58 der Kollegin Dorothea Steiner und die
Frage 59 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen dann zur Frage 60 der Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl:
Welche Auswirkungen hat eine verzögerte Inbetriebnahme
des Endlagers Schacht Konrad - zum Beispiel im Jahr 2019 in Verbindung mit den geplanten Laufzeitverlängerungen für
Atomkraftwerke für die Kapazitäten der AKW-Standort-Zwischenlager, und wie hoch - bitte möglichst exakte Darlegung ist der Einsatz von Kernbrennstoffen pro Megawattstunde
Bruttostromerzeugung in den deutschen AKW?
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - An dieser und der
vorherigen Frage erkennt man die Bandbreite der Komplexe, die das Bundesumweltministerium bearbeitet.
Wir haben das Bundesamt für Strahlenschutz beauftragt, den Terminplan so zu überarbeiten, dass wirklich
alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Ablaufpläne für die Errichtung des Endlagers zu optimieren.
Ziel ist es, im Endlager Schacht Konrad so zügig wie
möglich mit der Einlagerung der radioaktiven Abfälle
mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung zu beginnen.
Durch die Laufzeitverlängerung werden in den
Kernkraftwerken in Deutschland insgesamt über
10 000 Kubikmeter radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung zusätzlich anfallen, die im
Endlager Schacht Konrad gelagert werden sollen. Weiterhin werden durch die Laufzeitverlängerung insgesamt
4 400 Tonnen Schwermetall in Form von bestrahlten
Brennelementen zusätzlich anfallen, die allerdings an
den Standorten zwischengelagert werden; denn es liegt
keine Genehmigung für eine Endlagerung dieser wärmeentwickelnden bestrahlten Brennelemente im Endlager
Schacht Konrad vor.
Wechselwirkungen zwischen dem Beginn der Einlagerung im Endlager Schacht Konrad und der Lagerung
der bestrahlten Brennelemente an den Standorten der
Kernkraftwerke bestehen grundsätzlich nur dort, wo Bereiche von Standort-Zwischenlagern für die Transportbereitstellung von radioaktiven Abfällen für das Endlager
Schacht Konrad verwendet werden. Die Wahrscheinlichkeit von dadurch verursachten Engpässen bei der Entsorgung der bestrahlten Kernbrennstoffe kann abschließend
erst bewertet werden, wenn feststeht, ob es bei der Inbetriebnahme des Endlagers Schacht Konrad zu wesentlichen Verzögerungen kommt, mit welcher Auslastung die
betroffenen Kernkraftwerke in den nächsten Jahren betrieben werden und in welchem Umfang die einzelnen
Anlagen die Konditionierung der Abfälle für das Endlager Schacht Konrad betreiben.
Die Menge des erzeugten Stroms pro Masseneinheit
des Kernbrennstoffs hängt vom Abbrand und damit indirekt auch von der Anfangsanreicherung ab. Bei den
heute üblichen Abbränden beträgt die benötigte Kernbrennstoffmenge pro Megawattstunde etwa 2,7 Gramm.
Eine Nachfrage? - Bitte, Frau Kotting-Uhl.
Danke schön, Herr Präsident. - Danke schön, Frau
Staatssekretärin, für die ausführliche Antwort. Es hatte
sich ein Fehler in meine schriftliche Frage eingeschlichen. Wir haben versucht, den Fehler zu berichtigen;
aber das Ministerium hat es zurückgewiesen, die berichtigte Frage aufzunehmen. Wenn es auf der einen Seite
um Schacht Konrad geht, geht es auf der anderen Seite
natürlich nicht um die AKW-nahen Standort-Zwischenlager, sondern um Gorleben; denn logischerweise werden die schwachaktiven und mittelaktiven Abfälle nicht
in den AKW-nahen Standorten zwischengelagert. Meine
Frage also korrigiert, wie wir eigentlich auch einreichen
wollten: Was bedeutet die Menge, die zwischengelagert
werden muss, für Gorleben?
Die Beantwortung dieser Frage - darum muss ich bitten - werde ich Ihnen schriftlich zügig nachreichen.
Gut. Das ist nett. - Vielen Dank.
Ich habe noch eine zweite Nachfrage: Ist inzwischen
bekannt, worauf die Verzögerung der Inbetriebnahme
von Schacht Konrad um fünf Jahre zurückzuführen ist?
Ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, woran das liegt. Ich habe eingangs bereits gesagt:
Wir haben das Bundesamt für Strahlenschutz gebeten,
sich darum zu kümmern und alle Möglichkeiten eines
optimalen Ablaufs auszuschöpfen. Ich werde Ihnen sehr
zügig darüber berichten, sobald mir alle bekannten Daten vorliegen.
Gut. Vielen Dank.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Die Fragen 61 und 62 des Kollegen Uwe
Kekeritz und die Frage 63 des Kollegen Garrelt Duin
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Fragen 64 und 65 des Kollegen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rolf Mützenich, die Frage 66 des Kollegen Omid
Nouripour und die Frage 67 der Kollegin Sevim
Dağdelen werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich frage die Geschäftsführer der Fraktionen: Gibt es
Bedenken, sofort mit der Aktuellen Stunde zu beginnen? Es gibt keine Bedenken.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Einen fairen Interessensausgleich zwischen
Beschäftigten und Arbeitsuchenden mit bedarfsgerechten Regelsätzen schaffen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Ursula von der Leyen das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zu den neuen Regelsätzen liegt vor. Diese
Aktuelle Stunde ist jetzt die Stunde des Parlaments. Anlass sind die Hartz-Gesetze, die Rot-Grün vor sieben
Jahren konstruiert hat, damals unterstützt von der Union.
Ich sage heute ganz deutlich: Die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, also der Gedanke,
Menschen zu mobilisieren und niemanden in staatlicher
Abhängigkeit abzuschreiben, war damals richtig und ist
es heute auch noch.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aber im Februar ins Stammbuch geschrieben, dass die Gesetzgebung dazu damals hastig war und zum Teil - O-Ton des
Bundesverfassungsgerichts - „ins Blaue“ geschätzt
wurde. Das hat das Bundesverfassungsgericht gerügt.
Wir haben jetzt nach seinen Vorgaben in den letzten sieben Monaten harter Arbeit detaillierte Berechnungen,
Rohdaten und Entscheidungswege dargelegt. In den vergangenen Tagen habe ich von der Opposition gehört
- wortwörtlich -: geschachert, gekungelt, gemauschelt
und getrickst. Dazu kann ich nur sagen: Moment einmal!
Sie sollten vielleicht nicht von sich auf andere schließen. Sie haben das vielleicht 2003 getan.
({1})
Wir aber legen Ihnen umfassende Berechnungen vor.
Alle Entscheidungswege sind dargelegt. Ich finde, dass
wir auf dieser Datenbasis jetzt sachlich miteinander diskutieren sollten.
({2})
Die Regelsätze sind vom Verbrauchsverhalten der
Haushalte im unteren Einkommensfünftel hergeleitet.
Das wurde von Rot-Grün 2003 so eingeführt und ist
auch ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Das haben wir auch getan. Zusätzlich muss
der Gesetzgeber - ich betone: er muss - Wertentscheidungen fällen, schlüssig und sachgerecht begründet, welche Positionen existenzsichernd sind und welche nicht.
Wir müssen die Entscheidungen dazu beiden Seiten erklären: Wir müssen sie denen erklären, die 364 Euro Lebensunterhalt plus Warmmiete durch Hartz IV bekommen
und jeden Cent umdrehen müssen. Wir müssen es aber
genauso denen erklären, die das erarbeiten und ebenfalls
jeden Cent umdrehen müssen. Beide Seiten haben ein
Recht auf begründete Entscheidungen.
({3})
Zu den Wunschvorstellungen, die ich in den letzten
Tagen von den Linken gehört habe: 500 Euro im Monat
plus Warmmiete für jeden. Wie kommen Sie eigentlich
auf diesen Betrag?
({4})
Wenn Sie sich nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts richten und die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zugrunde legen, dann kommen Sie
nicht einmal in die Nähe dieser Summe, auch wenn Sie
Glücksspiel, Alkohol, Zigaretten, illegale Drogen, Pauschalurlaube oder Flugreisen einrechneten.
({5})
Die Verfassungsrichter haben uns zu Recht aufgetragen,
die Regelsätze transparent zu gestalten. Wir haben uns
an dieses Gebot gehalten. Jeder, der jetzt höhere Forderungen stellt, muss diese Forderungen nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts begründen, und
zwar im Detail.
({6})
Mehr noch: Sie würden mit Ihrer Forderung nach
500 Euro Lebensunterhalt im Monat plus Warmmiete
({7})
auf einen Schlag 2 Millionen Menschen zusätzlich in das
System der passiven Leistung ziehen. Eine Politik, die
sich darauf beschränkt, die Abhängigkeit vom Staat auszubauen und Passivität zu zementieren, ist kraftlos und
muss scheitern.
({8})
Hartz IV darf kein Dauerzustand sein. Das Versprechen,
dass sich Arbeitsuchende und die Gemeinschaft als Pakt
für die Not in die Hand gegeben haben, muss weiterhin
gelten.
({9})
Joschka Fischer hat 2004 bei Einführung der HartzGesetze, die genau diesem Grundsatz folgen, gesagt
- ich zitiere -:
Die Ängste der Menschen nehme ich sehr ernst.
Aber wir können sie entkräften. Hartz IV wird nicht
massenhafte Verarmung hervorrufen, sondern bei
Erhalt einer sozialen Grundsicherung mehr Chancen für den Zugang in den Arbeitsmarkt bieten.
({10})
Damit hat er die Aufgabe, an der wir weiterhin hart arbeiten müssen, treffend beschrieben. Die OECD hat uns
diese Woche ins Stammbuch geschrieben, dass nicht die
Regelsätze zu gering sind, sondern die Anreize, auf dem
Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
({11})
Das müssen wir beachten. Eine verantwortungsvolle Sozialpolitik fördert eben nicht die Abhängigkeit von Menschen, sondern sie fördert die Chancen, unabhängig zu
werden. Das ist die Politik, die wir verfolgen wollen.
({12})
Es geht nicht nur darum, die Existenz abzusichern.
({13})
Geld allein ist kein Allheilmittel gegen Ausgrenzung
und Hilflosigkeit. Es geht auch darum, dass das Vertrauen der Menschen an die Aufstiegsmöglichkeiten in
der Gesellschaft nicht verloren geht. Dafür ist das Bildungspaket ein deutliches Zeichen. Es sind 620 Millionen Euro zusätzlich vorgesehen, nicht als Bargeld, sondern als Bildungsleistung, damit den Kindern der Start
ins Leben gelingt, und zwar unabhängig davon, ob ihre
Eltern Arbeit haben oder nicht, damit sie Erfolgserlebnisse haben, damit sie erfahren: Du kannst etwas. Du
wirst gebraucht. Du hast eine Zukunft, und zwar unabhängig von Hartz IV.
({14})
Ich weiß, dass die Aufgabe, der wir uns mit dem Bildungspaket stellen, ein logistischer Kraftakt ist. Viele
müssen anpacken: zuallererst der Bund, aber auch in den
Ländern und Kommunen, in den Vereinen, Verbänden
und in der Zivilgesellschaft. Aber diese Anstrengung
sollten wir uns abverlangen. Das ist ein Gewinn für die
Kinder. Das ist es, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hier lohnt sich der Einsatz, hier lohnt sich die
Mühe, tatsächlich einen Paradigmenwechsel herbeizuführen.
({15})
Die Konjunktur springt wieder an. Die Unternehmen
bekommen mehr Aufträge und suchen Arbeitskräfte,
und zwar längst nicht mehr nur unter den Hochqualifizierten. Jetzt öffnen sich - was schon lange nicht mehr
der Fall gewesen ist - die Türen auch für diejenigen, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt bisher verschlossen
war. Das heißt, jetzt ist es Zeit für eine Politik, die den
Menschen etwas zutraut, die sie ernst nimmt und die
Perspektiven schafft. Wir investieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in Kinder, damit sie aus dem Kreislauf der vererbten Armut herauskommen. Wir investieren in Brücken in den Arbeitsmarkt, zum Beispiel die
Bürgerarbeit.
({16})
Wir investieren in die passgenaue Vermittlung durch die
Jobcenter. Wir investieren in die Unterstützung von Alleinerziehenden, die arbeiten wollen. Wir investieren in
effizientere Arbeitsmarktinstrumente.
({17})
Wir haben zwei große Reformen vor uns: zum einen
die Jobcenterreform, die bereits gesetzlich verankert ist,
aber noch umgesetzt werden muss, und zum anderen die
Reform der Regelsätze und das Bildungspaket. Ich stelle
fest: Bedenkenträger gibt es genug - ich bin tagtäglich
von unendlich vielen umzingelt -,
({18})
aber ich lade alle diejenigen, die über den Tag hinaus
denken können, ein, auch einmal darüber nachzudenken,
wie man mit uns gemeinsam den Gestaltungsspielraum,
die Möglichkeit, die sich uns eröffnet, nutzen kann.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt die Ministerin für Soziales und Gesundheit von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela
Schwesig.
({0})
Manuela Schwesig, Ministerin ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! In meinem Bundesland,
Mecklenburg-Vorpommern, kennen wir das Problem der
Armut leider nur zu gut. Insbesondere für viele Kinder
ist sie bitterer Alltag.
Letzte Woche haben mir Schüler tausend Karten überreicht mit der Bitte, sie der Bundeskanzlerin zu überreichen. Die Karten haben die Aufschrift: „Kinderarmut Gemeinsam Barrieren überwinden“. Darauf steht: Häufig haben Kinder in Armut einen schlechten Gesund6356
Ministerin Manuela Schwesig ({2})
heitszustand, sind sozial und kulturell ausgegrenzt. Ihre
Chancen auf einen guten Bildungsabschluss und somit
ihre Lebenschancen sind gering. Wir können uns Kinder
in Armut nicht erlauben und fordern Sie, Frau Bundeskanzlerin, auf, den Kampf dagegen endlich beherzt anzugehen und ein umfangreiches Konzept gegen die Armut von Kindern zu verwirklichen. - Sehr geehrte Frau
Bundesministerin von der Leyen, genau diesen beherzten Kampf und genau dieses umfangreiche Konzept vermisse ich bei Ihnen.
({3})
Frau von der Leyen, Sie haben eine große Chance
vertan. Die Vorschläge, die Sie hier eben mit warmen
Worten präsentiert haben, werden die Situation von Kindern und Eltern nicht spürbar verändern. Das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, in dem viel Hoffnung
steckt, war eine mutige Aufforderung, in unserem Land
einmal wieder klarzumachen, was eigentlich Kern des
Sozialstaates ist. Die Verfassungsrichter erinnern uns an
Art. 1 der Verfassung:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Dazu gehört ein menschenwürdiges Existenzminimum,
dessen Höhe nicht politisch verhandelbar sein kann, dessen Höhe nicht in Hinterzimmern ausgekungelt werden
darf.
({4})
Das Wegweisende an diesem Urteil ist, dass es nicht
nur um den Anspruch auf ein Dach über dem Kopf und
ausreichend Lebensmittel geht, sondern auch um die soziokulturelle Teilhabe, um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
({5})
Die Menschen, die Erwachsenen, aber vor allem die
Kinder, wollen nicht mit Sozialleistungen abgespeist und
zu Hause isoliert werden. Sie wollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
({6})
Dazu gehören vor allem für Kinder Bildung, Sport, Musik, Freizeit und ein gesundes warmes Mittagessen.
({7})
Art. 1 des Grundgesetzes fordert auch Respekt gegenüber den Menschen ein, die von Armut betroffen sind.
({8})
Genau an diesem Respekt, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete der FDP und der CDU/CSU, haben Sie
es in der Diskussion in den letzten Tagen mangeln lassen.
({9})
- Wissen Sie, diese Parteigezänkdebatte brauchen Sie
mit mir nicht zu führen.
({10})
Rot-Grün hat das Gesetz gemacht, Union und FDP haben im Bundesrat zugestimmt, und selbst die Linke war
in einem Bundesland an der Regierung beteiligt.
({11})
Es muss Schluss sein mit dem Parteigezänk. Wir müssen
uns um die Kinder in Deutschland kümmern.
({12})
Ich habe den Eindruck, dass Sie überhaupt nicht wissen, wie es den Menschen, über die wir hier reden, geht.
Wissen Sie eigentlich, dass auch die alleinerziehende
Verkäuferin, die in Schwerin zwei Jobs hat, Sozialleistungen beziehen muss? Sie muss aufstocken, weil in
Deutschland Billiglöhne gezahlt werden, gegen die Sie
nichts machen. Wir brauchen deshalb den gesetzlichen
Mindestlohn.
({13})
Es geht auch um die alleinerziehende Bibliothekarin, die
mich angesprochen hat. Vor 13 Jahren ist sie aus ihrem
Beruf ausgestiegen, um ihrem Kind, das eine Behinderung hat, zu helfen. Nun, nach 13 Jahren, ist die Ehe gescheitert, und sie steht alleine da. Auch sie ist auf Sozialleistungen angewiesen.
Wer glaubt denn, dass diese Bibliothekarin so einfach
in den Job zurückkann? Sie haben in den letzten Tagen
so getan - auch heute haben Sie so getan, Frau von der
Leyen; das enttäuscht mich sehr -, als ob alle Langzeitarbeitslosen faule Leute wären,
({14})
Ministerin Manuela Schwesig ({15})
die rauchen und trinken und nicht in den Job wollen.
({16})
Es geht nicht um Tabak und Alkohol. Es geht darum,
wie diese Menschen wieder in den Job kommen. Dazu
habe ich von der Arbeitsministerin heute keine Antwort
gehört. Ich habe auch keine Antwort darauf gehört, wie
wir es mit den vielen Menschen machen - Frau von der
Leyen, da haben Sie recht -, die arbeiten gehen und nicht
einmal so viel haben wie Hartz-IV- oder Sozialleistungsempfänger, sondern die aufstocken müssen, und was wir
mit den Menschen machen, die arbeiten gehen und nur
100 Euro mehr haben. Es ist doch perfide, dass diese Bevölkerungsgruppen in Deutschland, denen es allen
schlecht geht, systematisch gegeneinander ausgespielt
werden.
({17})
Sie spielen die Geringverdiener gegen die Arbeitslosen
aus, und parallel dazu stecken Sie der Pharmalobby und
den Atomkonzernen das Geld in den Rachen. Das ist die
Realität in Deutschland.
({18})
Frau von der Leyen hat gesagt, wir sollten uns alle anstrengen, uns Mühe geben und uns an der Diskussion beteiligen. Das tun wir, gerade die Länder. Ich kann Ihnen
sagen: Wir in Mecklenburg-Vorpommern versuchen, viel
gegen Kinderarmut zu tun. Wir haben ein gesundes Mittagessen in Kitas. Wir haben gerade unsere Beteiligung
für Kitas in sozialen Brennpunkten aufgestockt. Aber die
Experten schreiben mir als Sozialministerin immer wieder ins Stammbuch: Die Armut von Kindern ist die Armut ihrer Eltern durch Arbeitslosigkeit oder durch Billiglöhne. Deswegen brauchen wir gute Arbeit und den
gesetzlichen Mindestlohn.
({19})
Wir müssen das Urteil ernst nehmen. Was sagt denn
das Urteil? Es sagt, dass alle Kinder in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Bildung und soziokulturelle
Teilhabe haben. Dazu gehört für mich ein echtes Bildungspaket und nicht ein Bildungspäckchen. Dazu gehören die Ganztagskitas, die Ganztagsschulen mit einem
guten Angebot an Musik und Sport, mit einem gesunden
warmen Mittagessen.
Klar, die beste Kita, die beste Schule kann die Eltern
nicht ersetzen. Deswegen brauchen wir auch gute Förderung für Eltern, die es schwer haben, ihrer Erziehungsarbeit nachzukommen. Wir müssen über Eltern-KindZentren reden. Wir müssen über Familienhebammen
reden.
({20})
All diese Vorschläge der Länder liegen auf dem Tisch.
Das Beispiel Familienhebammen wird durch den Gesundheitsminister in der Bundesregierung blockiert.
Von Ihnen, Frau Bundesministerin, habe ich auf diese
ganze Bildungsfrage, die uns die OECD auch ins
Stammbuch schreibt - lesen Sie die Berichte vollständig -,
heute nicht eine Antwort gehört.
({21})
Sie haben die Chance vertan, sich mit Ländern und
Kommunen an einen Tisch zu setzen und genau dieses
große Bildungspaket zu schnüren. Was haben wir stattdessen erlebt? Mit dem Rechenschieber in den Hinterzimmern sind die Regelsätze zustande gekommen.
({22})
Warum denken wir denn, dass gekungelt wird? Das
kann ich Ihnen sagen: Weil es Herr Westerwelle war, der
gesagt hat, der Satz darf nicht steigen; weil die Bundeskanzlerin gesagt hat, hier ist ein guter Kompromiss zustande gekommen. Welcher Kompromiss? Das Urteil
sagt, das menschliche Existenzminimum, die Regelsätze
sind eben nicht politisch verhandelbar. Wenn Sie das
Lohnabstandsgebot ins Spiel bringen, dann müssen Sie
endlich zur Kenntnis nehmen: Das Urteil verbietet zu
Recht, dass die Sozialleistungen allein wegen des Lohnabstands nach unten geschraubt werden. Wir müssen
endlich die Löhne erhöhen. Dann geht es allen besser.
({23})
Ganze 5 Euro sind herausgekommen. Ich finde, ehrlich gesagt, es ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen,
wenn man davon redet, dass diese 5 Euro ein großer
Schritt, ein Meilenstein sind. Ich fordere die Bundeskanzlerin auf, einmal vor das Kanzleramt zu gehen, um
zu sehen, dass man sich für 5 Euro gerade einmal einen
Latte Macchiato kaufen kann. So zu tun, als ob sich für
diese Menschen etwas ändert, wird der Realität überhaupt nicht gerecht. Diese Menschen brauchen Arbeit,
vor allem gut bezahlte Arbeit.
Packen wir einmal das Bildungspaket aus, das vor uns
liegt. In den letzten Monaten ist viel davon geredet worden - auch von Frau von der Leyen -, dass Kinder viel
Teilhabe haben sollen. Wenn wir das Bildungspaket auspacken, dann bin ich ein bisschen an Julklapp erinnert;
denn da packt man ein Paket aus, in dem wieder ein Paket ist, und dann kommt noch einmal ein Paket zum Vorschein. Schließlich kommt ein kleines Päckchen heraus.
Darin ist ein Schulstarterpaket von 100 Euro im Jahr.
Das gibt es schon. Das hat die SPD erfolgreich durchgesetzt, inklusive für Abiturienten.
({24})
Ministerin Manuela Schwesig ({25})
Am Ende bleiben 10 Euro für Musik, Sport und gesellschaftliches Engagement übrig. Mein Sohn geht mit den
anderen Kindern der Kita in eine städtische Musikschule, die öffentlich gefördert wird. Ein stinknormaler
Musikunterricht kostet 20 Euro im Monat. Wie davon
der von Ihnen vielgepriesene Geigenunterricht bezahlt
werden soll, Frau von der Leyen, weiß ich nicht. Vielleicht bekommt man dafür zehn Minuten im Monat.
({26})
Kommen wir zum warmen, gesunden Mittagessen.
Den Zuschuss von 2 Euro finde ich sehr gut, aber das ist
zu kurz gesprungen. Denn es wird nicht gesagt, wie alle
Kinder in Deutschland dieses Mittagessen bekommen
können. Nur 20 Prozent der Kinder in Kitas und Schulen
profitieren derzeit vom gesunden Schulessen.
({27})
Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns gemeinsam reden. Wir brauchen eine Gesamtdebatte über Mindestlöhne, über ein Infrastrukturprogramm, darüber, wie
wir Schulessen und Ganztagsschulen gewährleisten. Ich
kann Ihnen heute sagen, dass die sozialdemokratisch regierten Länder diesem Vorschlag, der jetzt vorliegt, dieser Minilösung, nicht zustimmen können.
({28})
Wir müssen gemeinsam über ein Gesamtpaket reden, damit wir am Ende zustimmen können. Lassen Sie uns die
Chance nutzen, die Eltern und die Kinder wirklich aus
der Armut herauszuholen. Dafür benötigen wir vernünftige Vorschläge und nicht nur warme Worte.
Vielen Dank.
({29})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Schwesig, ich wundere mich doch sehr über
Ihre Rede - das muss ich sagen ({0})
und frage mich, wo Sie die letzten elf Jahre eigentlich
gewesen sind.
({1})
Deswegen einmal zum Mitschreiben, Frau Schwesig: Es
ist Ihr Scherbenhaufen, es ist der Scherbenhaufen der
SPD, den wir jetzt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wegräumen müssen.
({2})
Deswegen, Frau Ferner, finde ich es höchst unangebracht - ich muss es sogar unanständig nennen -, wenn
Sie sich, bildlich gesprochen, mit den Händen in den Hosentaschen neben uns, die wir Ihre Arbeit nachbessern,
stellen und uns auch noch wohlfeile Ratschläge - etwa:
nehmt doch eine größere Schippe - geben wollen. Ich
finde, wer den Scherbenhaufen selbst verursacht hat, der
muss - das gehört sich so - dann auch die Ärmel hochkrempeln und nach Kräften mithelfen, wenn es darum
geht, die Baustelle zu beräumen.
({3})
In diesem Sinne, Frau Kollegin Ferner, sollten Sie mit
gebotener Demut und konstruktiv das anstehende Gesetzgebungsverfahren begleiten und unterstützen und es
nicht noch unnötig erschweren. Die Zeit ist ohnehin kurz
genug.
({4})
Frau Schwesig, die Menschen erinnern sich sehr
wohl, dass es die SPD-Bundesregierung war, die
Hartz IV ausgedacht und eingeführt hat, mit den ins
Blaue hinein geschätzten Regelsätzen,
({5})
mit dem jetzt verworfenen Anpassungsmechanismus
und ohne die Bildungschancen von Kindern auch nur im
Ansatz zu berücksichtigen, Frau Ferner.
({6})
Es war ein SPD-Minister, der 2009 die dann im Februar
2010 vom Bundesverfassungsgericht verworfene Regelsatzverordnung erlassen hat. Auch daran muss man erinnern dürfen. Das ist der Grund, Frau Ferner, warum die
SPD so eiert. Ich habe das heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesehen.
({7})
Herr Oppermann, Herr Beck, Sie tragen Schuld, die SPD
ist Täter. Das ist die Wahrheit.
({8})
Sie sollten nicht durchs Land laufen nach dem Motto:
Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken. Das
funktioniert nicht, das werden Ihnen die Menschen in
diesem Lande auch nicht durchgehen lassen, weil es im
höchsten Maße unanständig ist, Herr Oppermann.
({9})
Merken Sie denn nicht, Herr Oppermann, Frau Ferner,
wie Sie sich lächerlich machen?
({10})
Die aktuell geltenden Regelsätze wurden noch von einem SPD-Minister ermittelt. Das ist kaum etwas mehr
als ein Jahr her. Wenn die Regelsätze heute angeblich zu
niedrig sind, dann müssen Sie sich doch fragen lassen,
warum Sie zu Zeiten Ihrer Regierungsverantwortung die
Regelsätze nicht einfach auf das Niveau erhöht haben,
das Sie heute für erforderlich halten. Das ist doch der
Punkt.
({11})
Dann jammert Frau Schwesig hier wegen der Bildungschancen.
({12})
Sie haben, Frau Schwesig, die SPD hat in den Jahren, in
denen sie den Kanzler in diesem Land gestellt hat, null,
niente, gar nichts getan, um die Chancen von Kindern
aus Hartz-IV-Haushalten zu gewährleisten.
({13})
Jetzt, da wir 620 Millionen Euro in die Hand nehmen,
um die Bildungsteilhabe von Kindern - dieses Thema ist
uns wirklich sehr wichtig; das will ich betonen - zu finanzieren, sagen Sie: Das, was Sie da jetzt machen, ist
uns aber viel zu wenig. - So kann man Politik wirklich
nicht machen, und das ist auch nicht verantwortlich,
Frau Ferner.
({14})
Sie null, SPD null, wir 620 Millionen Euro - ich
finde, Sie sollten in sich gehen, Sie sollten sich schämen.
Sie sollten auch nicht anstehen, zu loben und anzuerkennen, was wir jetzt, auch in Zeiten gebotener Haushaltskonsolidierung, zu tun bereit sind.
({15})
Gerade weil Sie selbst damals nicht die Kraft dazu hatten, Frau Ferner, sollten Sie dies heute tun.
({16})
Ich habe mich gefragt, wie Sie eigentlich auf die Idee
kommen, bei der Berechnung des Regelsatzes könne getrickst worden sein,
({17})
und das umso mehr, als wir uns wirklich allergrößte
Mühe gegeben haben, ein offenes, transparentes Verfahren auf den Tisch zu legen.
({18})
Mir ist die Lösung eingefallen, Frau Kollegin Ferner. Sie
gehen davon aus, wir hätten so gearbeitet wie Sie 2006
bei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003.
({19})
Der damals geltende Regelsatz betrug 345 Euro.
({20})
Sie hatten die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
auszuwerten, haben gerechnet und gerechnet, und siehe
da: Es kamen 344,60 Euro heraus, die Sie auf 345 Euro
aufgerundet haben. Damals wurde kräftig geschoben.
({21})
Ich muss sagen: Wir haben uns damals gewundert, wie
mit Abschlägen und Sonstigem operiert wurde, um genau diese Zahl zustande zu bekommen.
({22})
Sie sollten wirklich nicht davon ausgehen, dass wir so
arbeiten wie Sie. Wir haben einen vollkommen anderen
Anspruch, und dem werden wir auch gerecht.
({23})
Bei allem Streit sollten wir uns über eines einig sein:
Die Leistungen nach dem SGB II sollten nie als auf
Dauer in Anspruch zu nehmende Leistungen angesehen
werden. Sie sind angelegt als Hilfe auf Zeit.
({24})
Wir müssen alles daransetzen, auch Langzeitarbeitslosen
die Chance zu eröffnen, wieder eine Arbeitsstelle zu finden und in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
({25})
Deswegen sind aus unserer Sicht auch Verbesserungen
der Hinzuverdienstregelungen erforderlich. Diese dürfen
kein Anreiz sein, den Transferbezug zu optimieren, wie
es derzeit der Fall ist, sondern sie müssen Anreiz sein,
möglichst eine voll sozialversicherungspflichtige Arbeit
aufzunehmen. Denn wir wissen: Bei Personen, die mehr
als 800 Euro im Monat verdienen, besteht die große
Chance, dass sie sich in den nächsten zwei Jahren vollständig vom Transferbezug lösen.
({26})
In diesem Sinne: Geben Sie Ihre destruktive Haltung
auf, Frau Ferner und Herr Oppermann!
({27})
Helfen Sie mit, den kurzen und engen Zeitpfad zu
nutzen und eine Regelung zu verabschieden, die zum
1. Januar nächsten Jahres als verfassungsfeste Regelung
im Bundesgesetzblatt steht! Dazu sind wir aufgefordert,
und das ist auch Ihre Pflicht.
Danke schön.
({28})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Nach der lautstarken bisherigen Debatte will
ich versuchen, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
({0})
Ich kann an dieser Stelle auch ruhig bleiben. Denn im
Gegensatz zu allen anderen Fraktionen hat die Linke
Hartz IV an keiner Stelle zugestimmt.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat aufgefordert: Wer das Konzept von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen
kritisiere, müsse sagen, an welcher Stelle man etwas für
falsch halte und wo man noch etwas drauflegen wolle.
Diesem Wunsch will ich sehr gerne nachkommen.
Beginnen möchte ich mit dem, was Sie als „Anhebung der Regelsätze“ bezeichnen. Das, was Sie mit sagenhaften 5 Euro pro Monat auch noch als wohltätige
Großzügigkeit verkaufen, deckt noch nicht einmal im
Ansatz den Kaufkraftverlust, den der Regelsatz seit der
letzten statistischen Erhebung 2003 erlitten hat. Das ist
also kein Draufsatteln. Es ist nicht einmal im Ansatz ein
Ausgleich für den erlittenen Wertverlust.
Doch damit nicht genug. Was Sie als großzügiges
Draufpacken bezeichnen, nehmen Sie den Hartz-IV-Betroffenen an anderer Stelle weg,
({2})
denn im Haushalt ist gleichzeitig die Streichung - es
heißt zwar Anrechnung, aber es ist eine Streichung - des
Elterngeldes für junge Familien im ALG-II-Bezug geplant. Das ist ein Skandal. Sie sagen, Sie packen etwas
drauf, nehmen es den Menschen aber an einer anderen
Stelle weg. In Wirklichkeit ist es so, dass jetzt die jungen
Familien mit kleinen Kindern unter einem Jahr in
Hartz IV für die Bildungsgutscheine für Hartz-IV-Kinder, die Sie jetzt ausgeben wollen, bezahlen. Das ist
keine sozial gerechte Politik. Das ist Sparen bei den
Ärmsten.
({3})
Doch damit beginnen die Manipulationen leider nur.
Sie, Frau Ministerin, berufen sich in Interviews und hier
gerne auf das Bundesverfassungsgericht und beteuern,
Sie hätten sich an die Vorgaben gehalten. Bei genauerem
Hinsehen stellt man aber sehr schnell fest, dass Sie die
Regelsätze heruntergerechnet haben. Sie haben Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, in die
Berechnungsgrundlage eingeschlossen. Das heißt, Sie
berechnen auf Grundlage von armen Menschen die Existenzgrundlage der Ärmsten. Das kann nicht die Wahrheit
sein.
({4})
Ich fordere Sie deshalb noch einmal auf, Frau Ministerin: Machen Sie die Rohdaten und die alternativen Berechnungen öffentlich! Dann werden wir das volle Ausmaß der Manipulation sehen können. Die Regelsätze
müssten nämlich deutlich höher ausfallen.
({5})
Sie haben das im Ausschuss für Arbeit und Soziales erst
heute wieder abgelehnt. Damit zeigen Sie, dass Sie keine
Öffentlichkeit wollen.
({6})
Fast überzeugend mitfühlend erklären Sie hier auch,
was sich die Verkäuferin, der Maler und der Pförtner alles nicht leisten können. Sie bemühen althergebrachte
Vorurteile. Ich höre, dass es nicht sein könne, dass ein
Langzeiterwerbsloser mehr haben könne als jemand, der
Vollzeit arbeiten gehe. Im Klartext: Sie nehmen für den
Regelsatz Maß an den Menschen, die zu Hungerlöhnen
arbeiten und damit nur etwas weniger arm sind als diejenigen, die keine Erwerbsarbeit haben. Doch wer Dumpinglöhne zum Maßstab für das Lohnabstandsniveau
nimmt, schafft nichts als noch größere Armut.
({7})
Wer den Gering- und Normalverdiener gegen Erwerbslose ausspielt, schafft sozialen Unfrieden. Wer zudem
noch über eine Debatte um Tabak und Alkohol alte Vorurteile heraufbeschwört, verschärft die stigmatisierende
Debatte der letzten Wochen.
({8})
Dann würden die Kritiken an Herrn Westerwelle und
Herrn Sarrazin völlig unglaubwürdig; denn wenn Sie die
Genussmitteldebatten auf dem Rücken der Ärmsten führen, gießen Sie das Theater der beiden Herren auch noch
in Gesetzesform, und das müssen Sie sich vorwerfen lassen.
({9})
Es gibt allerdings einen Vorwurf an alle, die seit 2003
an dieser Arbeitsmarktreform mitgewirkt haben. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen, zu
Ihrer Kritik von heute an diesem Gesetz muss die Kritik
am eigenen Tun von gestern dazugehören. Sie haben dieses Gesetz geschaffen, das das Bundesverfassungsgericht
zu Recht kassiert hat. Aber - auch das gehört natürlich
dazu - Union und FDP haben munter daran mitgewirkt,
diese Regelsätze verfassungswidrig auszugestalten.
({10})
Meine Damen und Herren, unsere Kritik am vorgelegten Entwurf zur Neuberechnung der Regelsätze
bleibt. Wer hinter verschlossenen Türen und ohne Beteiligung der Öffentlichkeit einen Regelsatz zusammenzimmert, sollte das Wort „Transparenz“ nicht benutzen.
({11})
Wer nicht bereit ist, verdeckte Armut als wachsendes
Problem anzuerkennen, sondern sie stattdessen zum Berechnungsgegenstand macht, sollte nicht von einem
sachgerechten Verfahren sprechen.
Schaffen Sie mit gesetzlichen Mindestlöhnen eine
existenzsichernde Basis für Beschäftigte, damit Sie
überhaupt wieder von einem Lohnabstandsgebot sprechen können! Sorgen Sie mit einer ehrlichen Berechnungsmethode endlich für Regelsätze, die eine wirkliche
Grundsicherung darstellen! Wir werden Sie bei Ihrem
Tun beobachten.
Vielen Dank.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beginnen wir einmal mit Herrn Kolb.
({0})
Hier von anderen großartig etwas zu verlangen, ohne
selber einmal darüber zu reden, wer eigentlich seit Jahr
und Tag mit viel sozialer Kälte dafür kämpft, dass die
Regelsätze möglichst niedrig bleiben, das ist schon ein
Stück aus dem Tollhaus.
({1})
Wir mögen vielleicht nicht alles behalten, aber eine
Menge von Ihrer Partei haben wir behalten. „Menge“
heißt dann immer „Steuern senken für die, die reich
sind“ und nie „existenzsicherndes Minimum für die, die
arm sind“. Das kennen wir.
({2})
Ich sage Ihnen ganz klar: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Auftrag erteilt, der heißt: transparente Berechnung, den tatsächlichen Bedarf ermitteln und dabei
natürlich Wertentscheidungen treffen. Es hat von eigenen Regelsätzen für Kinder gesprochen und auch davon,
dass Kinder einen Anspruch auf individuelle Förderung
haben, und zwar ab sofort.
({3})
Frau von der Leyen hat daraufhin einen Riesenwindbeutel gebacken. Das sind die, die, wenn man sie in den
Backofen tut, so aufgehen. Wenn man die Klappe zu
früh aufmacht, ist die warme Luft raus, und das Ding ist
platt.
({4})
Das nennt sich bei von der Leyen „Chipkarte“. Mit der
Chipkarte haben Sie versucht, uns zu suggerieren, die
Kinder würden im ganzen Land eine umfassende Förderung bekommen. Das ist aber gar nicht der Fall.
({5})
Vielmehr haben Sie trickreich eine Berechnung gemacht, bei der das Ergebnis schon vorher feststand.
({6})
Sie haben suggeriert, es gebe eine detaillierte Berechnung. Warum legen Sie sie dann nicht vor?
({7})
- Nein, es ist nicht vorgelegt. - Die Alternativberechnungen, die man haben möchte, um die Wertentscheidung und die Berechnung nachvollziehen zu können,
wurden dem Ausschuss heute verweigert.
({8})
Frau von der Leyen hat angerufen und - ich danke dafür angeboten, Details, Rechnungen und Zahlen in Hintergrundgesprächen mit den Fraktionen noch bekannt zu
geben.
Auch schön, das mutet aber an, als seien die Informationen beim Statistischen Bundesamt über Art und Umfang des Lebensmittelverzehrs ungefähr so geheim einzustufen wie das Wissen des BND über Terrorismus.
Das ist nicht die Transparenz, die das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.
({9})
Sie haben die Bezugsgrößen heruntergerechnet, damit es
passt, zum Beispiel - dafür sehe ich keine Begründung -,
indem Sie sagen: Wir betrachten nicht mehr die unteren
20 Prozent, sondern die unteren 15 Prozent. - Meine
These ist, dass Sie die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts schlicht und einfach nicht zum Gegenstand der
Beratung und Berechnung gemacht haben, sondern für
Sie war nur das Lohnabstandsgebot sachleitend.
Ich verstehe ja, dass die Menschen, die arbeiten gehen, sagen: Ich möchte auch sehen, dass da ein Unterschied ist. - Ohne Zweifel. Diesen Unterschied erreicht
man aber nicht, indem man erbärmliche Ressentiments
der Armen gegen die Ärmsten schürt, weil ja auch die
Geringverdiener nicht über die Runden kommen, sondern dafür muss man den flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn einführen. Das wäre Würde für beide.
({10})
Frau Schwesig hat es gesagt: Wie kommt denn die
Verkäuferin klar? Wie kommt in diesem Land denn eine
Friseurin klar? - Das muss man nicht nur in den Ländern
regeln, sondern das muss man bundesweit regeln, um
nicht noch eine Bundesländerkonkurrenz aufzubauen.
Der gesetzliche Mindestlohn muss her!
Wir wissen, dass es jetzt einen Abstand gibt. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Verdienst von
1 700 Euro brutto hat noch immer 460 Euro mehr als die
gleiche Familie im Hartz-IV-Bezug.
({11})
- Ja, wenn Sie das Kindergeld, den Kinderzuschlag und
das Wohngeld dazurechnen, dann ist das so.
({12})
Ich sage Ihnen von der CDU/CSU: Sie brauchen keine
Sitzungen, bei denen Sie sich fragen, für was das „C“
steht und welche Bedeutung das „C“ hat. Singen Sie einfach das Hohe C; treten Sie nicht auf der Hühnerleiter
nach unten.
({13})
Frau Merkel sagt - Frau von der Leyen sagt das auch -,
der Hartz-IV-Bezug solle kein Dauerzustand sein, die
Menschen sollen wieder in Arbeit. - Ja, das wäre Würde
und Teilhabe für einen selbst und um dem Land etwas
zurückzugeben. Tun Sie dann aber auch etwas dafür,
dass das sozusagen eine Übergangsperiode ist; Sie kennen sich im Brückenbau doch so gut aus. Sie müssen
dann dafür sorgen, dass bei der BA in den nächsten Jahren nicht 16 Milliarden Euro gestrichen werden. Die
Wiedereingliederung und den Übergang bekommt man
nur hin, wenn man das Geld hat und sinnvoll einsetzt.
({14})
Frau Merkel ist seit fünf Jahren Kanzlerin. Reden wir
jetzt einmal nicht nur darüber, dass die SPD elf Jahre am
Stück regiert hat. Sie ist seit fünf Jahren Kanzlerin. Wo
ist denn die Offensive für die Qualifizierung älterer Beschäftigter? Wo ist die Offensive für die Qualifizierung
und Beschäftigung von Alleinerziehenden? Wo ist das
Erwachsenen-BAföG für die Spätzünder oder für die,
die früh Kinder bekommen haben und mangels Infrastruktur keine Ausbildung erhalten konnten? Meine Damen und Herren, so nicht!
({15})
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme zum letzten Satz. - Es geht auch nicht, so
zu tun, als würde jedes Kind 250 Euro im Jahr an Sachleistungen bekommen. Nur 20 Prozent der Kinder sind
überhaupt an Schulen, an denen es eine Kantine gibt sprich: 80 Prozent bekommen kein Essen und auch kein
Geld dafür. Die 20 Prozent, die das Essensgeld bekommen, erhalten ungefähr 360 Euro im Jahr. Das ist mehr
als der Durchschnitt von 250 Euro.
Meine Damen und Herren, es reicht hinten und vorne
nicht. Wie sollen die Eltern ihre Kinder zur Musikschule
in die nächste Stadt fahren, wenn sie nicht einmal einen
Fahrschein haben, um legal dahin zu fahren?
({0})
Frau Kollegin, Sie haben die Redezeit jetzt schon länger überschritten.
Ihre Struktur ist falsch, weil eine wirkliche Infrastruktur fehlt. Diese Infrastruktur muss sein: Mindestlöhne
her, Kooperationsverbot weg und endlich Maßnahmen
für Langzeitarbeitslose!
({0})
Der Kollege Karl Schiewerling ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hört man die Reden der Opposition, dann meint man:
Das blanke Elend ist in Deutschland seit längerer Zeit
ausgebrochen, Deutschland liegt danieder, die Menschen
sind nur noch arm, nichts ist da.
({0})
Frau Künast, Sie haben in einer bemerkenswerten
Verwirrungsaktion lauter Nebelbomben hier in diesen
Saal geworfen und versucht, den Menschen klarzumachen, was alles nicht passiert.
({1})
Ich sage Ihnen, was passiert ist: Wir haben gemeinsam
2003/2004 - damals gab es einen großen Konsens - die
beiden Leistungen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende mit der Erwartung zusammengelegt, dass wir den Menschen helfen,
dass wir Gelder einsparen und dass wir vor allen Dingen
dafür sorgen, dass wir mit diesem Instrumentarium Menschen aktivieren. Frau von der Leyen hat vorhin, wie ich
finde, sehr richtig Ihren früheren Außenminister Joschka
Fischer zitiert, der genau diese Erwartungshaltung, um
die es ging und die wir für richtig gehalten haben, präzise
formuliert hat.
Dass damals, als die beiden Hilfeleistungen zusammengelegt worden sind, mehrere Fehler unterlaufen sind,
hat uns das Bundesverfassungsgericht in zwei Urteilen
attestiert. Den einen Fehler haben wir behoben, indem
wir die Jobcenterreform durchgeführt haben. Das war der
erste Schritt. Die zweite Maßnahme, die wir auf den Weg
bringen, betrifft die Bedarfssätze der Erwachsenen und
der Kinder, von denen das Verfassungsgericht gesagt hat,
sie seien nicht transparent. Das Verfassungsgericht hat
nicht gesagt, die Bedarfssätze seien nicht hoch genug,
sondern sie seien nicht nachvollziehbar. Es hat nicht gesagt, wir müssten mehr Geld obendrauflegen, weil von
dem Betrag keiner leben könne. Das Verfassungsgericht
hat vielmehr gesagt: Analysiert das Ganze und legt die
Kriterien vernünftig dar!
({2})
Das Zweite, was das Bundesverfassungsgericht gesagt
hat, war: Legt eigene Bedarfssätze für die Kinder fest!
Das Dritte: Beachtet, dass Kinder Bildungs- und Teilhabechancen haben!
Genau das ist passiert. Über viele Monate hat das
Bundesarbeitsministerium sehr sorgfältig die Daten erhoben. Es ist genau das nicht eingetreten, was Sie von
den Linken und den Grünen behaupten, nämlich dass im
Hinterzimmer Daten zusammengetragen worden seien.
({3})
Das stimmt nicht. Noch nie gab es bei der Darlegung der
Bedarfssätze so viel Transparenz wie jetzt.
({4})
Ich halte es für falsch, zu sagen, die Bedarfssätze seien
gedeckelt worden. Das ist nicht der Fall. Wenn 1 Euro
mehr herausgekommen wäre, dann wäre es eben nur
1 Euro gewesen, wenn 50 Euro mehr herausgekommen
wären, dann wären es diese 50 Euro gewesen. Das jetzige Ergebnis ist aufgrund der Bewertung des Ganzen
herausgekommen.
Jetzt komme ich zum Kern. Der Kern des Ganzen ist,
dass wir erstens dafür sorgen, dass Menschen wieder in
Beschäftigung kommen, und dass wir zweitens wollen,
dass die Kinder Perspektiven haben. Frau Schwesig, genau das, was Sie gefordert haben, macht Frau von der
Leyen. Sie macht das vielleicht anders, als Sie es wollen.
Hätten Sie nur einen Teil davon in Mecklenburg-Vorpommern umgesetzt, dann ginge es dort in mancher Hinsicht deutlich besser.
({5})
- Wir stellen nicht den Sozialminister.
Zu der Frage, wie das Ganze weitergeht, sage ich Ihnen: Wir werden die jetzige Reform durchführen müssen. Ich bitte sehr herzlich die SPD und die Grünen, die
mit dafür gesorgt haben, dass Hartz IV, die Grundsicherung für Arbeitsuchende, auf den Weg gekommen ist,
jetzt auch mitzuhelfen, das, was das Bundesverfassungsgericht als falsch kritisiert hat, gemeinsam mit uns wieder in Ordnung zu bringen, so wie wir das mit der Jobcenterreform gemeinsam gemacht haben. Im nächsten
Jahr geht es dann um die arbeitsmarktpolitischen Instrumente und darum, wie wir Menschen helfen können,
wieder in Beschäftigung zu kommen.
({6})
Ich sage Ihnen, dass wir wesentlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, wenn wir, wie es im Augenblick
Gott sei Dank der Fall ist, keinen Aufwuchs von Arbeitslosigkeit haben. Wir werden hören, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt. Heute konnten wir feststellen: Wir haben den höchsten Beschäftigungsstand in Deutschland
seit langem und das Niveau vor der Krise übertroffen.
Ich glaube, dass wir allen Grund haben, die Kräfte zu
bündeln, um den Menschen, die sich schwertun, wieder
Perspektiven zu eröffnen. Ich glaube, dass wir Chancen
haben, den Kindern Hilfe und Unterstützung angedeihen
zu lassen.
Tun Sie doch nicht so, als ob die Hilfe, die wir organisieren - Mittagsbetreuung, Mittagessen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben -, nichts sei. Alles das hat es vor
dem Entwurf unserer Bundesarbeitsministerin Frau von
der Leyen nicht gegeben. Das ist etwas, was wir einführen.
({7})
Wir machen Ernst mit der Förderung und Unterstützung
der Kinder. Darauf legen wir den Fokus. Verschweigen
wir bitte nicht: Es geht nicht um 5 Euro.
({8})
Es geht um die Transparenz der Sätze. Wir werden Kindern über 30 Euro im Monat mehr zukommen lassen.
Wir werden denen die Unterstützung geben, die sie dringend benötigen. Wir handeln, Sie reden nur. Wir laden
Sie aber ein, mit uns gemeinsam an die Lösung der Probleme heranzugehen.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Elke
Ferner.
({0})
Ich gucke gern mit Ihnen zusammen in die Vergangenheit.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Ich glaube, wir sollten hier nicht immer wieder
mit dem Finger auf andere zeigen; denn wenn man mit
einem Finger auf jemand anderen zeigt, zeigen drei Finger auf einen selbst zurück.
({1})
Herr Kolb, die FDP und die Union, Sie alle waren im
Vermittlungsausschuss dabei. Wie ich von meinen Kollegen, die damals im Vermittlungsausschuss waren,
weiß, konnten Ihnen die Regelsätze gar nicht weit genug
sinken. Sie wollten mit aller Gewalt durchsetzen, dass
die Regelsätze heruntergehen und der Niedriglohnsektor
ausgeweitet wird. Dass man, um einen Minijob auszuüben, bis zu 400 Euro verdienen darf, hat die Union gewollt. Vor allen Dingen ging es um die Einführung und
Ausweitung von Kombilöhnen. Das ist es, was Sie als
Regierungskoalition auch heute noch proklamieren.
({2})
Wir sollten uns vielleicht noch einmal vergegenwärtigen, was das Verfassungsgericht gesagt hat: Das Existenzminimum darf nicht unterschritten werden. Man darf
an dieser Stelle nicht beliebig Änderungen vornehmen.
Was haben wir allerdings in der letzten Woche erlebt?
Das Verfassungsgericht hat im Übrigen auch Transparenz, Nachvollziehbarkeit und eine bedarfsgerechte Ausgestaltung der Regelsätze gefordert.
In der letzten Woche haben wir von den Finanzpolitikern der Koalition gehört, die Neugestaltung der Regelsätze dürfe keine Mehrkosten nach sich ziehen. Herr
Seehofer hat gesagt: Null Euro zusätzlich. Herr
Westerwelle hat gesagt: Ein bisschen mehr Geld, aber
um Gottes willen nicht so viel. Am Donnerstag haben
wir gehört, die Kanzlerin habe sich mit den Ministerpräsidenten der CDU-geführten Länder auf deutlich unter
20 Euro geeinigt. Am Sonntag ist dann beschlossen worden, dass die Regelsätze um 5 Euro erhöht werden. Das
war doch der Ablauf der letzten Woche.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann kommt
man - je nachdem, welche Zahlen man addiert, nämlich
die Einzelbeträge oder die Summen - mal auf 357 Euro
und mal auf 368 Euro. Das ist weder transparent noch
nachvollziehbar, Herr Kolb.
({3})
In diesen Fällen genügen Sie dem Verfassungsgerichtsurteil nicht. Ihr Gesetzentwurf enthält ein Zahlenwirrwarr. Das Ganze ist eine Blackbox und alles andere als
eine transparente Ermittlung der Regelsätze.
Außerdem wird durch Ihren Gesetzentwurf das
Grundproblem überhaupt nicht gelöst. Das Grundproblem ist nämlich: Menschen sind arm, weil sie arbeitslos
sind oder weil sie zu Hungerlöhnen arbeiten müssen und
am Ende des Monats auch noch eine Transferleistung
beziehen müssen.
({4})
Sie kürzen die Ausgaben für arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen. Das heißt, Sie verkleinern die Chancen der
Menschen, wieder in Arbeit zu kommen.
({5})
Darüber hinaus weigern Sie sich nach wie vor, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Im Gegenteil, Sie
wollen mit der Erhöhung der Zuverdienstgrenzen den
Kombilohn auch noch ausweiten. Das werden wir nicht
mitmachen; das sage ich Ihnen. Ohne die Einführung des
Mindestlohns ist dieser Weg der Wahnsinn. Die Spirale
geht dann noch viel weiter nach unten, als sie es ohnehin
schon ist.
({6})
Ich möchte ein Beispiel dafür geben, dass die vom
Verfassungsgericht eingeforderte Realitätsgerechtigkeit
nicht gegeben ist. Frau von der Leyen hat eben von
Wertentscheidungen gesprochen, die getroffen worden
sind, nachdem bestimmte Sachen herausgerechnet worden waren. Es geht hier nicht um viel Geld, sondern einfach um die Denkweise, die hinter Ihrem Gesetzentwurf
steht. Eine Position lautet etwa: chemische Reinigung.
Unterlegt ist diese Position mit etwas mehr als 1 Euro. In
der Begründung steht, eine solche Reinigung komme nur
für teure Bekleidung infrage; die brauche man eigentlich
nur, wenn man arbeite; wenn man ein Vorstellungsgespräch habe, könne man sich die Reinigungskosten von
der Arbeitsagentur oder von der Arge über irgendeinen
zur Verfügung stehenden Haushaltstitel erstatten lassen.
Ich frage mich, in welcher Welt Sie eigentlich leben. Ich
habe in meinem ganzen Leben noch keinen Wintermantel gehabt, den ich in die Waschmaschine stecken
konnte.
({7})
Ich weiß nicht, warum die Rentnerin, die von Grundsicherung lebt und sich sowieso nirgendwo bewerben
kann, ihren Mantel nach Ihrer Auffassung nicht mehr in
die Reinigung tragen darf. So könnte man noch viele
Einzelbeispiele aufführen. Das zeigt, wes Geistes Kind
Sie eigentlich sind.
({8})
Ich möchte zum Schluss noch einmal etwas zur Bildungsteilhabe sagen. Der Zuschuss zum Schulessen
nutzt nur 20 Prozent der Kinder, die im SGB-II-Bezug
sind. Die anderen 80 Prozent haben keinen Zugang zum
Schulessen, weil es keine Angebote gibt. Auch für andere Dinge, die im Teilhabepaket enthalten sind, gibt es
wahrscheinlich nicht genug Angebote.
Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Es sind nun acht
Monate tatenlos ins Land gegangen, statt mit den Ländern und den Kommunen an vernünftigen Umsetzungskonzepten zu arbeiten.
({9})
Dafür brauche ich keine EVS und keine Neuregelung der
Regelsätze; dafür muss ich nur meinen gesunden Menschenverstand einschalten, werter Herr Kollege.
({10})
Deshalb fordern wir einen Rechtsanspruch auf Teilhabe an Bildungs-, Sport-, Freizeit- und Kulturangeboten für alle Kinder.
({11})
- Dann hätten Sie früher auch einmal etwas machen sollen. Mir ist nicht bekannt, dass in der Großen Koalition
von Ihrer Seite gesagt worden wäre: Die Regelsätze sind
nicht transparent ermittelt. Wir müssen da etwas machen.
({12})
Nichts davon! Im Gegenteil, Sie wollten immer weiter
herunter.
({13})
Sie haben sogar noch die Chuzpe gehabt, das Schulbedarfspaket im ersten Schritt nur für Kinder bis zur
10. Klasse zu gewähren.
({14})
Wir mussten dann durchdrücken, dass auch die Kinder,
die ein Gymnasium besuchen, davon etwas bekommen.
({15})
- Das ist wirklich ungeheuerlich gewesen, Herr Kollege,
und zwar von Ihrer Fraktion.
Schönen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Ihre
Reaktion auf die Regelsatzbemessung der Bundesregierung war so vorhersehbar wie die Tatsache,
({0})
dass auch dieses Jahr Heiligabend auf den 24. Dezember
fallen wird. Das Einzige, was mich ein bisschen verwundert hat, ist das Maß an Pathos, Frau Schwesig, mit dem
Sie hier Ihre angebliche Betroffenheit zum Ausdruck gebracht haben.
({1})
Es war doch völlig klar und völlig vorhersehbar: Reflexartig rufen Sie nach mehr. Sie wissen, dass es zu wenig ist. Das wussten Sie schon am 9. Februar. Das wissen Sie auch heute, obwohl Sie, Frau Ferner, gestern
Abend in einem Radiointerview zugegeben haben, dass
Sie die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe noch gar nicht gesehen haben.
({2})
Aber Sie wissen, dass es mehr sein muss.
Dabei durchschaut jede und jeder, die bzw. der uns
heute hier zuhört, das Spiel, das hier gespielt wird.
({3})
Wären wir bei der Regelsatzbemessung auf 400 Euro gekommen, dann hätten Sie 420 Euro gefordert. Wären wir
auf 420 Euro gekommen, wären Sie auf 440 Euro gekommen. Das durchschaut jeder. Dieses Hase-und-Igel6366
Spiel machen wir nicht mit. Uns geht es um seriöse Politik.
({4})
Deshalb hat diese Bundesregierung auf die Daten der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe gewartet und
mit ihnen klar und nachvollziehbar dargelegt, was Bestandteil der Regelleistung ist und was nicht. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, begründet die Bundesregierung sogar, warum sie
zu dieser ihrer Beurteilung kommt. Das unterscheidet
gute, vertrauensbildende Politik von Willkür und, wie
wir seit dem 9. Februar auch wissen, von verfassungswidriger Politik.
Vor allem haben wir eines gemacht, was Sie in der
Vergangenheit geflissentlich ignoriert haben: Wir haben
den Regelsatz von Kindern und Jugendlichen eigenständig berechnet. Somit ist der Bedarf von Kindern und Jugendlichen erstmals nachvollziehbar.
({5})
Nun höre ich von Ihnen in den vergangenen Tagen immer die Kritik, dass der Regelsatz für Kinder und Jugendliche nicht steigen würde. Damit erzählen Sie bewusst nur die halbe Wahrheit. Nein, ich würde sogar
sagen, Sie erzählen sie ganz falsch. Zum einen haben die
Berechnungen des Kinderregelsatzes ergeben, dass er
sogar unter dem bisherigen Satz liegen müsste. Dies hat
die Koalition jedoch absichtlich so nicht umgesetzt. Wir
zeigen damit, welche Bedeutung Kinder und ihre Chancen für uns haben.
({6})
Erstmals berücksichtigen wir auch den Bedarf der Kinder und Jugendlichen für Bildung und stärken so ihre
Entwicklungschancen und ihre Teilhabechancen. 620 Millionen Euro pro Jahr investieren wir in die Zukunft der
Kinder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Diese
christlich-liberale Koalition ist die erste, die die Zukunft
von Kindern im Arbeitslosengeld-II-Bezug in den Blick
nimmt und Möglichkeiten der Bildung verwirklicht.
({7})
Durch das Sachleistungsprinzip an dieser Stelle sorgen
wir auch dafür, dass die Leistungen direkt bei den Kindern ankommen und dass sich die Chancen auf Verwirklichung von Teilhabe deutlich erhöhen.
Es ist gut, dass Kindern jetzt die Möglichkeit gegeben
wird, am warmen Mittagessen in der Schule teilzunehmen.
({8})
Es ist gut, dass Kinder jetzt ohne großen bürokratischen
Aufwand oder sogar rechtliche Streitigkeiten an Schulausflügen teilnehmen können. Es ist gut, dass sie je nach
persönlichem Bedarf Zugangsmöglichkeiten zu Nachhilfe haben, sodass sie nicht aufgrund der Situation ihrer
Eltern in ihren Lernfortschritten massiv benachteiligt
werden.
({9})
Wobei auch hier klar sein muss, dass wir die Länder
nicht aus der Pflicht für gute Bildung entlassen dürfen.
Das ist und bleibt Aufgabe guter Landespolitik. Die
Bundesregierung unterstützt sie aber dabei.
Ich finde, das ist der richtige Weg, und wir tun das im
Interesse der Kinder. Das sollte auch die Opposition akzeptieren und nicht reflexartig schlechtmachen.
Darüber hinaus ist aber auch die Zivilgesellschaft gefordert. Wir als Politik sollten offensiv dafür werben,
dass sich jeder - Unternehmen, Verbände, Vereine und
auch jeder Einzelne - einbringen kann und soll. Die Zukunft aller Kinder in unserer Gesellschaft sollte es uns
wert sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Oma hat immer gesagt, über Kleinigkeiten solle man sich nur ein ganz klein wenig aufregen.
Aber über diese winzige Kleinigkeit von 5 Euro muss
man sich richtig aufregen.
({0})
Liebe Frau von der Leyen, ich nehme Ihnen nicht ab,
dass Sie an diesen Betrag von 5 Euro glauben, so dünnhäutig wie Sie sind.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es gibt eindeutige Indizien für die Verfassungswidrigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat mit
seinem Urteil erstmals klare Maßstäbe gesetzt. Wir wissen jetzt, was wir machen müssen. Vor dem Hintergrund
der Vergangenheit aller Parteien, die hier vertreten sind,
müssen wir sorgsam damit umgehen. Das wollen wir als
SPD auch tun.
({1})
Fangen wir mit dem ersten Grundsatz an, den das
Bundesverfassungsgericht angeführt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass es einen Gestaltungsspielraum gibt. Das ist gut. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch ganz klar und deutlich gesagt, der
Regelsatz dürfe nicht evident zu niedrig sein. InsbesonAnette Kramme
dere das physische, aber auch das soziokulturelle Existenzminimum müsse gewährleistet werden. Was beobachten wir aber?
Erstens verkleinern Sie die Bezugsgruppe. Als Bezugsgruppe nehmen Sie die untersten 15 Prozent der
Haushalte - dies bei einer rasanten Entwicklung im Niedriglohnsektor. Ist denn überhaupt noch sichergestellt,
dass dieses Existenzminimum ausreichend ist?
Zweitens haben Sie die Aufstocker in der Statistik.
Ich kann keine Sozialleistung berechnen, indem ich auf
Menschen verweise, die Sozialleistungen beziehen.
Auch das ist ein Zirkelschluss, der unzulässig ist.
({2})
Lieber Herr Kolb, es gibt einen dritten Punkt, der
klarmacht, wie leichtfertig Sie mit diesem Urteil umgehen. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, bei der
letzten Berechnung sei es noch angemessen gewesen,
die verdeckt Armen in der Statistik zu belassen. Das
Bundesverfassungsgericht hat aber auch klar aufgegeben, dass die Statistik an diesem Punkt verfeinert werden
muss. Jetzt befinden sich Menschen in der Statistik, die
weniger haben als Sozialleistungsempfänger.
Wenn man alle diese Aspekte zusammennimmt, dann
kann man nur sagen: Es gibt intensive Bedenken betreffend die Verfassungswidrigkeit.
({3})
Auch Transparenz erreichen Sie nicht. Sie erläutern
nicht, warum bei Einpersonenhaushalten nur 15 Prozent
als Bezugsgruppe gelten und in den anderen Bereichen
20 Prozent. Sie geben keinerlei Erläuterungen hierzu.
Die nächste Frage ist: Warum haben wir heute im
Ausschuss keine Alternativberechnung erhalten? Warum
sind Sie nicht bereit, zu zeigen, zu demonstrieren, was es
bedeuten würde, wenn wir 20 Prozent als Bezugsgruppe
nähmen?
Ich kann dazu nur sagen: Ein Schelm, wer Böses vermutet.
({4})
- Genau, Sie sehen es.
Frau von der Leyen, im Sommer ist mir richtig warm
ums Herz geworden,
({5})
als Sie vom Reit- und vom Musikunterricht geredet haben. Letztlich hat sich aber alles ergeben. Sie besitzen
keinerlei Durchsetzungskraft. Sie haben keine Durchsetzungskraft gezeigt gegenüber Frau Merkel, gegenüber
Herrn Seehofer und gegenüber Herrn Westerwelle.
Was ist denn in dem Paket der sozialen Teilhabe enthalten?
({6})
Es bleibt das Schulstarterpaket, das Sie im Übrigen noch
nicht einmal neu berechnet haben, obwohl das Bundesverfassungsgericht das vorgegeben hat. Das Schulstarterpaket hatten wir schon.
Was steht sonst noch an Leistungen für alle Kinder
zur Verfügung? Da ist das Paket der sozialen Teilhabe
als solches - 10 Euro im Monat. Ich frage mich: Wie viel
Reitunterricht, wie viel Musikunterricht kann davon tatsächlich bezahlt werden? Der Nachhilfeunterricht ist
streitbefangen, weil die Voraussetzungen nicht klar geregelt sind. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass es
nicht Sache dieses Hauses ist, Geld für die flächendeckende Finanzierung privater Nachhilfeinstitute zur Verfügung zu stellen. Wir wollen, dass Leistungen für alle
zur Verfügung stehen.
({7})
Das funktioniert nur bei einem Ausbau der Infrastruktur,
wie wir es in der Vergangenheit mit dem Ganztagsschulpaket gemacht haben. An dieser Stelle müssen wir weiterarbeiten.
Warum haben Sie nicht in den letzten Monaten das
Gespräch mit den Bundesländern gesucht?
({8})
Warum haben Sie nicht versucht, mit ihnen Finanzierungsabkommen zu treffen? Zu Ihrem berühmten Einsatz für Kinder kann ich nur sagen: Damit ist es offensichtlich nicht weit her.
({9})
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zum Lohnabstandsgebot sagen. Das Lohnabstandsgebot hält jeder in
diesem Hause für richtig. Jeder sagt: Wer arbeitet, muss
mehr verdienen als jemand, der nicht arbeitet. Aber
wenn wir einen Mindestlohn haben, brauchen wir Regelsätze nicht künstlich niedrig zu hängen.
({10})
Frau von der Leyen, Sie sparen bei den Armen und entlasten Hoteliers, Erben und die Atomwirtschaft.
({11})
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun die Kollegin Ingrid Fischbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schwesig, ich weiß nicht, was Sie meinten; ich
habe Sie gar nicht verstanden. Ich kann mir aber nicht
vorstellen, dass Sie Ihren eigenen Kollegen, die dieses
Gesetz 2003 auf den Weg gebracht haben, vorhalten
wollten, sie hätten nicht verhandelt, sondern das Gesetz
hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Meinten Sie
das wirklich so? Denn das würde bedeuten, dass das,
was das Bundesverfassungsgericht bemängelt hat - nämlich ins Blaue hinein zu schätzen, wie viel Prozent des
Ansatzes für die Erwachsenen für Kinder genommen
wird, um auf 50 Cent an die Summe heranzukommen,
die schon vorher eingestellt worden ist -, so geschehen
ist. Aber das haben Sie sicher nicht gemeint.
Wir gehen nicht so vor, und das ist wirklich neu. Sie
sollten sich ein Beispiel daran nehmen, auch mit Blick
auf die Dinge, die zukünftig auf den Weg gebracht werden sollen. Wir wollen Transparenz. Sie haben recht: Es
geht nicht um Tabak und Alkohol. Diese Entscheidung
haben wir politisch getroffen. Es geht darum, die Menschen in Arbeit zu bringen. Deswegen haben wir die Internetkosten und die Praxisgebühr mit aufgenommen.
({0})
Das gab es bei Ihnen nicht; das ist neu, und das muss
man wissen.
Wir brauchen Menschen auch nicht gegeneinander
auszuspielen. Deswegen bitte ich Sie, endlich mit den
Worten von der guten Arbeit aufzuhören. Ich weiß nicht,
was Sie sich unter guter Arbeit vorstellen.
({1})
Was ist denn schlechte Arbeit?
({2})
Diese Diskussion sollten Sie einmal mit denjenigen führen, bei denen Sie schlechte Arbeit vermuten. Wenn Sie
gut bezahlte Arbeit meinen, dann müssen Sie es sagen.
Aber eine Diskussion über gute Arbeit und schlechte Arbeit sollten wir nicht zulassen.
Frau Golze hat, genau wie Frau Kramme, gesagt, wir
hätten bei den untersten Einkommen etwas weggelassen
und wollten die Beträge nur niedrigrechnen. Wir haben
genau das getan, was 2003 die rot-grüne Regierung getan hat: Wir haben das unterste Einkommensfünftel genommen. Aber wir haben 8,6 Prozent der untersten Einkommen herausgerechnet, was Sie nicht getan haben.
Das heißt, wir gehen bei Einpersonenhaushalten von einem Grenzwert von 901 Euro netto aus. Bei den Eckregelsätzen für Kinder gehen wir bei einem Paarhaushalt
mit Kindern - das ist unterschiedlich gestaffelt, je nachdem, wie alt die Kinder sind - von einem Grenzwert von
im Schnitt 2 327 Euro netto aus. Da sagen Sie mir, das
seien die untersten Einkommen? Welche Familie, in der
jemand tagtäglich acht Stunden arbeitet, kommt auf
2 400 Euro netto?
({3})
Zeigen Sie mir einmal solche Familien, um mir zu beweisen, dass das das unterste Einkommensviertel in unserem Lande ist. Das wage ich zu bezweifeln.
Auch Frau Künast hat nicht richtig zugehört; denn
keiner hat behauptet, dass wir mit der Chipkarte eine
umfassende Bildung erreichen wollen. Wir gehen den
Weg, den Sie nicht eingeschlagen haben.
({4})
Ich habe es schon in der Haushaltsdebatte gesagt: Auch
Sie haben bei den Kinderregelsätzen den zu geringen
Anteil für Bildung und kulturelle Teilhabe nicht gesehen. Seien Sie doch froh, dass wir das Problem erkannt
haben und den ersten Schritt gehen.
({5})
- Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen: Das kennen wir von den drei Affen. Die sind heute aber nicht
hier.
({6})
Wir gehen den ersten Schritt, indem wir sagen: Wir
wollen die Förderung ausbauen. Seien Sie so fair und erkennen Sie an, dass wir diesen ersten Schritt, der zugebenermaßen noch nicht ausreichend ist, gehen. Das
würde der Sache guttun.
Frau Ferner, ich möchte eine letzte Bemerkung zu Ihrer Rede machen. Wenn ich vor dem Fernseher gesessen
und diese Debatte verfolgt hätte, hätte ich mich durch
das von Ihnen angeführte Beispiel von der chemischen
Reinigung verhöhnt gefühlt. Alle Kleidung, die man
trägt, kann in der Waschmaschine gewaschen werden.
Sie hängen sie tropfnass auf, bügeln von innen das Futter
und dann ist sie wieder sauber.
({7})
Darum geht es aber überhaupt nicht. Sie sollten konkret sagen - das haben Sie aber nicht getan -, was Sie
zusätzlich haben wollen. Sie sagen nur pauschal: Wir
brauchen mehr. - Sagen Sie doch genau, an welchen
Stellen Sie mehr haben wollen. Wollen Sie den Satz für
die chemische Reinigung erhöhen? Dann stellen Sie einen entsprechenden Antrag.
({8})
Aber ich sage Ihnen: Damit ist den Menschen nicht geholfen.
Wir haben zum allerersten Mal in transparenter Weise
öffentlich gesagt, welche Warenkörbe wir berücksichtigen. Wir haben die politische Entscheidung getroffen,
was herausgenommen und was mit hineingenommen
werden soll.
({9})
- Das ist doch unsere Aufgabe.
({10})
Das ist das Einzige, worüber wir politisch entscheiden
können. An allen anderen Punkten, Frau Ferner - das hat
uns und Ihnen doch das Bundesverfassungsgericht ins
Stammbuch geschrieben -, können wir mit Blick auf die
Existenzsicherung nichts ändern. Diese Vorgaben können von niemandem verändert werden. Die einzigen
Positionen, bei denen wir politisch Akzente setzen können, beziehen sich auf Positionen, die nicht zur Existenzsicherung gehören. Wir haben zu Recht gesagt, dass
Alkohol und Zigaretten aus dem Warenkorb herausgenommen werden müssen. Das Geld wollen wir für die
Kinder einsetzen. Das soll ein Schwerpunkt sein. Auch
wenn es wenig ist: Es ist richtig, diesen Schwerpunkt zu
setzen. Diesen Weg werden wir gemeinsam weitergehen.
({11})
Ihnen kann ich nur ganz deutlich sagen: Sie helfen
niemandem, wenn Sie einfach nur fordern: mehr, mehr,
mehr. - Qualifizierte Angebote, genau auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten, zu machen und die
Kinder zu fördern, ist christlich-soziale Politik.
({12})
Das kennzeichnet unsere Regelsätze.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben eine aufgeregte Debatte über ein Thema, bei
dem die Bundesregierung angesichts des Fehlverhaltens
von Rot-Grün nachbessern muss. Wir reparieren nämlich
ein Gesetz, das Rot-Grün so ausgestaltet hat, sodass das
Bundesverfassungsgericht urteilen musste, dass die nötige Transparenz und Nachvollziehbarkeit nicht gegeben
ist.
({0})
Diesem Auftrag kommen wir mit dem von der Bundesministerin vorgelegten Gesetz nach. Es zeigt sehr
deutlich, dass wir Transparenz und Nachvollziehbarkeit
in den Mittelpunkt dieses Gesetzgebungsverfahrens stellen.
({1})
Es ist natürlich entscheidend, die Grundsicherung der
Menschen und vor allen Dingen ihre Teilhabe zu gewährleisten. Dies ist in dem Gesetzentwurf enthalten. Es
bringt nichts - da gebe ich meiner Vorrednerin Frau
Fischbach ausdrücklich recht -, immer nur nach höheren
Sätzen zu rufen, sondern es geht darum, die Grundlage
für ein menschenwürdiges Leben zu legen. Das werden
wir leisten.
Darüber hinaus ist es entscheidend, dass die Menschen wieder die Chance bekommen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, um so ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
({2})
Dass das unser Ziel ist, haben wir in der Vergangenheit
mit entsprechenden Reformen bewiesen. Diese Reformen zeitigen jetzt Erfolge. Ich weiß gar nicht, warum
sich die SPD davon verabschieden will.
({3})
Wir haben mehr Beschäftigung in unserem Land, und
vor allen Dingen über den Niedriglohnsektor, der hier
immer etwas falsch dargestellt wird, haben wir erreicht,
dass viele Menschen in ordentliche Beschäftigung
gekommen sind. Wenn wir jetzt - Kollege Karl
Schiewerling hat darauf hingewiesen - in unserem Land
Höchstbeschäftigung wie von vor der Krise wieder erreicht haben, dann zeigt dies sehr deutlich, dass die Reformen der vergangenen Zeit durchaus greifen und wir
auf einem guten Weg sind.
({4})
Auf diesem Weg werden wir voranschreiten. Aber
man muss auch darstellen, dass Hartz-IV-Bezug nicht
mit Armut gleichzusetzen ist, wie es Frau Landesministerin Schwesig in ihrer Rede heute wieder behauptet hat,
sondern die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben
mit Teilhabe ist. Dies wurde so auch in der Begründung
des rot-grünen Gesetzentwurfs im Jahre 2003 formuliert.
Davon soll man sich hier nicht verabschieden. Vielmehr
ist es eine großartige Leistung unseres Sozialstaates,
dass wir diese Mittel erbringen und dass viele Menschen
auch mit geringstem Einkommen durch ihre Beitragsleistung die Grundlage dafür legen, dass letztendlich diesen sozialen Anforderungen nachgekommen werden
kann.
({5})
Deshalb, werte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ist es schon entscheidend, auch darauf
hinzuweisen, dass es nicht nur um den finanziellen Teil,
also die 359 Euro oder die 364 Euro ab 1. Januar 2011,
sondern um eine Betrachtung der Gesamtleistung geht,
die die Empfänger bekommen. Die Leistungen des Staates erschöpfen sich eben nicht in der Regelleistung sowie
im Kostenersatz für Wohnung und Heizung. Enthalten
ist zum Beispiel auch der Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag in Höhe von 164 Euro. Auch dies leisten
die Steuerzahler für die Absicherung der ALG-II-Bezieher.
({6})
Auch ist es mit entscheidend, darzustellen, dass Kommunen und Länder den ALG-II-Beziehern Vergünstigungen im öffentlichen Personennahverkehr zusätzlich
zur Grundleistung geben. Außerdem sind sie auch von
den Fernseh- und Radiogebühren befreit, was zeigt, dass
sie zumindest unter Unterhaltungsgesichtspunkten am
gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wir müssen
dies also in der Gesamtheit betrachten.
Angesichts dessen frage ich mich schon, ob die SPD
wirklich will, dass ein Alleinstehender, der Vollzeit arbeitet und einen Stundenlohn von 7,50 Euro erhält - das
war ja einmal das Modell der SPD; jetzt werden Sie
wohl etwas aufstocken -, mit 1 250 Euro brutto nach
Hause geht. Er hat dann Abzüge von 250 Euro für Sozialbeiträge und von 50 Euro für Steuern und bekommt
letztendlich 950 Euro ausbezahlt, während derjenige, der
auf ALG-II-Leistung ist, immerhin auch 800 bis 850 Euro
erhält.
({7})
Ich glaube, dass es durchaus entscheidend ist, dass wir
ein entsprechendes Lohnabstandsgebot wahren.
({8})
Derjenige in unserer Gesellschaft muss mehr haben, der
arbeitet. Das ist entscheidend, damit unser Sozialstaat
auch weiterhin funktionieren kann.
In diesem Sinne danke ich herzlich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die SPD hat schon im März einen umfangreichen Antrag zur Bemessung der Regelsätze und zur Bekämpfung
von Armut vorgelegt. Warum, so frage ich Sie, Frau
Ministerin, haben Sie unsere Anregungen nicht aufgegriffen? Warum haben Sie so viel wertvolle Zeit mit
Luftnummern wie dem Bildungschip und dem Basisgeld
verstreichen lassen?
Auch Sie wissen spätestens seit Februar, dass uns das
Urteil vor große Herausforderungen stellt. Sie, die Bundesregierung, und wir, der Gesetzgeber, sind jetzt in der
Verantwortung, gerechte Teilhabechancen für Kinder
von langzeitarbeitslosen Eltern sicherzustellen. Bisher
haben Bund, Länder und Kommunen die Finanzverantwortung für Kinder gern von einer Ebene auf die andere
geschoben. Was ist dabei herausgekommen? Ein
Flickenteppich in der Bildungs- und Betreuungslandschaft, der vielen Kindern nicht die Chancen sichert, die
sie brauchen. Das Bundesverfassungsgericht sagt jetzt
klipp und klar: Damit muss Schluss sein.
Frau Ministerin, Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam mit
uns, den Ländern und den Kommunen Lösungen zu entwickeln, mit denen der Rechtsanspruch der Kinder auf
Bildung und soziokulturelle Teilhabe eingelöst werden
kann. Wo aber bleiben Ihre Vorschläge? Der Gesetzentwurf ist schlampig gemacht; an vielen Stellen ist fraglich, ob die Regelungen überhaupt grundgesetzkonform
sind.
Herr Kollege Straubinger und Herr Kollege Kolb,
({0})
der Gesetzentwurf wird auch nicht dadurch besser, dass
die Koalitionsfraktionen auf Versäumnisse in der Vergangenheit verweisen und mit dem Finger auf uns zeigen. Heute haben Sie die Regierungsverantwortung;
({1})
heute gibt es die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
Auch ich frage Sie: Wie wollen Sie allen Ernstes mit
einem Minibetrag von 120 Euro pro Kind und Jahr gerechte Teilhabe an Bildung, Sport und Kultur sicherstellen? Privatunterricht ist teuer. Sie sagen: Dann müssen
Ehrenamtliche herangezogen werden. - Frau Ministerin,
ich finde diesen Vorschlag beschämend;
({2})
Ehrenamt darf in einem so wichtigen Bereich Pflichtaufgaben nicht ersetzen.
Sie bleiben auch Antworten schuldig, wie Mittagsverpflegung, Förderunterricht oder Musikstunden abgerechnet werden sollen. Was Sie uns vorlegen, ist ein bürokratisches Monstergesetz.
({3})
Lesen Sie unseren Antrag! Es liegt auf der Hand: Wir
müssen Krippen, Kitas und Schulen zu echten Förderund Betreuungseinrichtungen ausbauen; dorthin gehört
das.
({4})
Alle Kinder sollen die Einrichtungen nutzen können.
Diskriminierende Sonderstrukturen für Hartz-IV-Kinder
lehnen wir ab.
({5})
Privatisierung von Bildung ist der falsche Weg. Wir
brauchen in Deutschland ein nationales Programm zum
Ausbau von Betreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen. Bringen Sie das auf den Weg, Frau Ministerin!
Dafür haben Sie unsere Unterstützung.
Zu den Regelsätzen. Als ich den Gesetzentwurf gelesen habe, ist mir die Brille von der Nase gesprungen.
Bisher wurden die unteren 20 Prozent der einkommensschwachen Haushalte aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe als Referenzgruppe bei der Berechnung der Regelsätze zugrunde gelegt. Schon das
empfand ich als ein gewagtes Unternehmen, gerade auch
in Bezug auf die Ermittlung der Bildungsbedarfe. Sie haben das jetzt aber noch getoppt, indem Sie nur die unteren 15 Prozent als Referenzgruppe heranziehen. Frau
Ministerin, Sie bleiben mit der Größe der Referenzgruppe selbst hinter Ihrem großmauligen Koalitionspartner zurück, der sich in einem vergangenen Wahlkampf
zumindest eine 18 unter seine Schuhsohlen geklebt hat.
({6})
Sie legen Ihrer Berechnung der Regelsätze das Verbrauchsverhalten der Menschen mit sehr kleinen Einkommen
zugrunde. Sie scheuen sich nicht einmal, Aufstocker und
Sozialleistungsbezieher in die Referenzgruppe aufzunehmen. Kein Wunder, dass die Regelsätze so niedrig ausfallen!
({7})
Sie haben uns übrigens heute Morgen im Ausschuss die
Basiszahlen zur Regelsatzbemessung verweigert. Herr
Kolb, so viel zum Thema Transparenz.
({8})
Frau Ministerin, was Sie uns hier vorlegen, entspricht
nicht den Anforderungen der Verfassungsrichter.
({9})
Zu den Aufstockern: Wenn Sie einen Blick in unseren
Antrag vom März geworfen hätten, wären Sie auf Vorschläge gestoßen, wie man die Themen Aufstocker und
Armut wirkungsvoll vom Tisch bringen kann. Es ist bedauerlich, dass Sie diese Chance vertan haben und uns
einen so schlechten Gesetzentwurf vorlegen. Aber es ist
bekanntlich nie zu spät, zu neuen Einsichten zu kommen. Springen Sie also endlich über Ihren Schatten - er
ist nicht sehr groß ({10})
und führen Sie in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn ein, von dem die Menschen leben können!
({11})
Dann müssen Sie nicht mehr Geringverdiener gegen
Menschen in der Grundsicherung ausspielen. Leider argumentieren Sie in die entgegengesetzte Richtung. Den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern muten Sie prekäre Löhne zu, und weil diese so wenig haben, streichen
Sie auch bei den Arbeitslosen. Das ist unwürdig und beschämend.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der
letzte Redner in dieser Debatte. Frau Schwesig, man hat
den Eindruck, dass Sie diese Debatte machtpolitisch ein
bisschen ausnutzen und sie letztlich auf dem Rücken
derjenigen austragen, die eigentlich Hilfe brauchen.
({0})
Erstens erzeugen Sie in diesem Land seit Wochen und
Monaten eine Stimmung, die bei den Menschen die Erwartung weckt, dass die Regelsätze auf jeden Fall signifikant steigen.
({1})
Auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind Sie
überhaupt nicht eingegangen.
Zweitens. In der gesamten Debatte sprechen Sie über
den Regelsatz in Höhe von 364 Euro und tun so, als sei
dieses Geld das Geld zum Leben. Ich kann Ihnen nur
empfehlen: Gehen Sie einmal in eine Arge und fragen
Sie dort einen Familienvater oder einen Single, wie hoch
die Mietsätze sind. Man kommt auf 364 Euro plus Miete
plus Heizkosten. Dann kommen Sie zu dem Ergebnis,
dass in fast jeder Stadt in Deutschland eine Familie mit
zwei Kindern mindestens 1 600 Euro netto bekommt.
({2})
Wenn Sie die Arge dann verlassen, sind Sie in der Lebenswirklichkeit dieses Landes angekommen.
({3})
Ich sage es noch einmal: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Höhe der Regelsätze infrage gestellt.
Es ging um das Verfahren. Es ist inzwischen transparent
geregelt worden. Auf der entsprechenden Homepage
können das alle Menschen, auch alle Besucher, die heute
hier sind, nachvollziehen.
({4})
- Frau Künast, als Maßstab haben wir eine Familie mit
einfachem Einkommen genommen. Wir sind nämlich
der Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit auch die soziale Balance betrifft: die Balance zwischen denjenigen,
die in das System einzahlen, und denjenigen, die alimentiert werden. Genau das ist für uns soziale Gerechtigkeit,
nichts anderes.
({5})
- Sie tun so, als gäbe es in diesem Land keine soziale
Gerechtigkeit mehr. Es gibt leider immer noch Familien,
die seit mehreren Generationen von der Sozialhilfe leben.
({6})
Wir nehmen jetzt den Ball vom Bundesverfassungsgericht auf. Die entscheidende Frage lautet doch: Was
können wir für die Kinder, die SGB-II-Leistungen erhalten, tun? Wenn Sie sich die Ergebnisse der Shell-Studie
anschauen, stellen Sie fest, dass die Kinder, die von
SGB-II-Leistungen leben, sagen: Im Vergleich zu den
anderen Kindern habe ich keine gute Zukunft zu erwarten. - Warum werden denn so wenige Kinder aus HartzIV-Familien Ingenieure, Professoren oder Arbeitnehmer?
({7})
Wir müssen diese Kinder aus dieser Situation herausholen. Deswegen leiten wir jetzt einen Paradigmenwechsel
ein - das hätten übrigens auch Sie tun können -, indem
wir uns den Sachmitteln zuwenden. Wir werden den
Kindern zielgenau helfen, um sie in die Lage zu versetzen, später in ihrem Leben selbstständig klarzukommen
und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
({8})
Zu den Eltern. Ich habe in den letzten Monaten von
Ihnen nicht einen Vorschlag gehört, wie wir die Eltern in
Beschäftigung bringen. Nicht einen Vorschlag!
6,8 Millionen Menschen leben von SGB-II-Leistungen.
1,8 Millionen davon sind Kinder. Es bleiben also
5 Millionen Menschen übrig, die arbeiten könnten.
({9})
Die, die nicht arbeiten können, beziehen Leistungen
nach SGB XII. Aber um diese 5 Millionen Menschen
müssen wir uns kümmern. Das machen wir, indem wir
die arbeitsmarktpolitischen Instrumente nutzen.
Ich sage Ihnen: Hören Sie mit der Aufstockerdiskussion auf!
({10})
Sie wird nämlich völlig falsch geführt, auch in jeder
Talksendung. Die meisten Menschen sind Aufstocker,
nicht weil sie zu wenig verdienen, sondern weil sie zu
wenig arbeiten bzw. keine Vollzeitbeschäftigung haben.
Das ist das Problem.
({11})
Allein 140 000 Hartz-IV-Empfänger verdienen genau
100 Euro hinzu, weil sie diesen Betrag behalten dürfen.
Man kann diesen Menschen auch nicht böse sein, weil
sie sich völlig rational und ökonomisch verhalten. Sie
stellen sich nämlich die Frage: Was kann ich tun, um
besser zurechtzukommen? - Wir wollen Anreize schaffen, um diese Menschen in Arbeit zu bringen, nichts anderes.
({12})
- Nein. - Noch einmal: Die Frage ist, wie wir Anreize
schaffen können, um die Menschen in Beschäftigung zu
bringen. Darüber denken Sie aber überhaupt nicht nach.
Sie wollen die Menschen in der Sozialhilfe belassen.
Hartz IV darf kein Lebensmodell sein, sondern höchstens eine Episode.
Vielen Dank.
({13})
Nun ist die Aktuelle Stunde beendet. Damit sind wir
auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 30. September, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.