Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: nationale Engagementstrategie.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Frau Dr. Kristina Schröder.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der heutigen Kabinettssitzung hat die Bundesregierung eine nationale Engagementstrategie verabschiedet,
also eine nationale Strategie für bürgerliches Engagement in Deutschland. Das ist insofern etwas Neues, als
wir hier erstmals eine gemeinsame, aufeinander abgestimmte Strategie aller Bundesressorts zum bürgerschaftlichen Engagement vorlegen. Darin sind aber nicht
nur die verschiedenen Maßnahmen und Schwerpunkte
aller Bundesressorts eingeflossen: Auch das Nationale
Forum für Engagement und Partizipation wurde einbezogen. In diesem Forum haben sich wichtige zivilgesellschaftliche Akteure organisiert. Insofern sind auch deren
Maßgaben in die nationale Engagementstrategie eingeflossen.
Wir greifen mit der nationalen Engagementstrategie
zwei wichtige positive Entwicklungen auf. Wenn man
schaut, wie groß die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem
Engagement ist, dann erkennt man, dass sie nach wie vor
groß und sogar etwas gewachsen ist: 36 Prozent aller
Deutschen engagieren sich bürgerschaftlich. Zudem sagt
ein weiteres Drittel aller Deutschen: Wir würden uns
gerne engagieren, wenn wir eine passende Gelegenheit
fänden. - Gerade der Anteil derjenigen, die sich gerne
engagieren würden, hat zugenommen. Hier ist insbesondere die Gruppe der jüngeren Älteren interessant, derer
zwischen 65 und 80. Gerade diese Gruppe engagiert sich
bereits, und ihre Bereitschaft, sich zu engagieren, nimmt
weiter zu. Ich denke, dass hier ein wirklicher Schatz zu
heben ist und ein sehr großes Potenzial besteht.
Auch das Potenzial, das wichtige gesellschaftliche
Herausforderungen, denen wir zu begegnen haben, in
sich bergen, ist groß, beispielsweise beim Thema des demografischen Wandels. Hier spielen die schon eben erwähnten jüngeren Älteren eine große Rolle. Deswegen
plädiere ich dafür, dass wir bei allen Gedanken, die wir
uns zur Nachfolge des Zivildienstes machen - wenn
denn die Wehrpflicht ausgesetzt wird -, nicht nur überlegen, wie wir die Engagementbereitschaft Jüngerer wecken können, sondern immer auch schauen, wie wir die
steigende Engagementbereitschaft Älterer in unseren
Plan integrieren können.
Das Thema Engagement spielt auch bei der Integration
von Migranten eine wesentliche Rolle. Sämtliche Projekte in diesem Bereich - das sind inzwischen einige -,
die auf Patenschaftsmodellen basieren, sind ausgesprochen erfolgreich und funktionieren ausgesprochen gut.
Beispielsweise gibt es das Modell „Integrationslotsen“,
bei dem junge Migranten als Experten für Integration jüngere Migranten an die Hand nehmen. Ich glaube, hier
können wir für die Integration wirklich viel erreichen.
Schließlich geht es auch um das Engagement für bildungsferne Schichten. Es gibt bereits im Rahmen der Jugendfreiwilligendienste sehr interessante Ansätze auf
Länderebene. Hier ist vorgesehen, dass jemand, der für
längere Zeit einen Freiwilligendienst übernimmt, zugleich auch den Schulabschluss nachmachen kann.
Ich glaube, dass dies eine wesentliche Anregung für
Überlegungen sein kann, die sich mit der Frage beschäftigen, was nach dem Zivildienst kommt. Es muss uns gelingen, bildungsfernen Schichten die Möglichkeit zu geben,
über bürgerschaftliches Engagement den Berufseinstieg
zu schaffen. Man muss ihnen die Chance geben, sich bei
Arbeitgebern zu beweisen, bei denen sie aufgrund ihrer
Zeugnisse niemals eine Chance gehabt hätten. In diesem
Bereich haben wir großes Potenzial. All das sind Themen,
die sich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft dreRedetext
hen. Generell gesprochen: Darum geht es beim bürgerschaftlichen Engagement.
Gleichzeitig brauchen wir angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen Bürgerinnen und Bürger, die
sich verantwortlich fühlen und die mit ihren Ideen und ihrer Eigeninitiative in ihrem Umfeld etwas bewegen wollen. Ebenso brauchen wir Bürgerinitiativen, Bürgerstiftungen, Unternehmen und die klassischen Vereine. Wir
wollen das vorhandene Potenzial stärker nutzen. Das ist
das Ziel unserer nationalen Engagementstrategie. Es muss
uns gelingen, nach neuen Wegen zu suchen und gleichzeitig die Rahmenbedingungen zu verbessern, vor allen Dingen was das Nebeneinander von Strukturen anbelangt.
Man muss zugeben, dass wir bisher ein Nebeneinander
der Ressorts auf den verschiedenen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - hatten. Wenn es uns gelingt, diese
Ebenen zu verzahnen, aufeinander abzustimmen und eine
gemeinsame Engagementstrategie zu entwickeln, dann
ist sehr viel erreicht.
Zum Abschluss möchte ich Ihnen ein Projekt meines
Hauses vorstellen - ich will nicht die unterschiedlichen
Maßnahmen der einzelnen Ressorts vorstellen -, das
heute gestartet wird. Es handelt sich um ein Pilotprojekt
für außerberufliches Engagement der Mitarbeiter des
Bundesfamilienministeriums. Wir nehmen uns ein Beispiel an ähnlichen Initiativen aus der Wirtschaft, wo das
ehrenamtliche Engagement der eigenen Mitarbeiter bereits gefördert wird. Schon jetzt engagieren sich 32 Prozent aller Mitarbeiter des Familienministeriums ehrenamtlich. Das ist deutlich mehr als im Bundesschnitt. Wir
haben heute dieses Pilotprojekt gestartet, um für unsere
Mitarbeiter weitere Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements zu entwickeln und sie dabei zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Die erste Frage stellt die Kollegin Heidrun Dittrich.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für Ihren
Vortrag. - Ich bin Mitglied im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“, wo Sie die nationale Engagementstrategie vorgestellt haben. Nach dem Verständnis
der Linken ist das Ehrenamt zunächst einmal die Vertretung der eigenen Interessen. Viele kennen den Klassensprecher oder die Klassensprecherin, gewerkschaftliche
Vertrauensleute oder Sprecher bzw. Sprecherinnen einer
Erwerbsloseninitiative, seit neuestem auch Parkschützer,
die sich gegen die Abholzung von Bäumen im Stuttgarter Schlosspark wenden. Solche Aufgaben verdrängen
keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Solche ehrenamtlichen Aufgaben haben Sie mit Ihrer nationalen Engagementstrategie aber nicht gemeint. Bei Ihnen steht die Vermittlung der Ehrenamtlichen im Alter
von 16 bis 70 Jahren in bestehende Institutionen im Vordergrund, damit diese kostenlos soziale Arbeit leisten.
Frau Ministerin, sehen Sie nicht die Gefahr, dass wir damit den Sozialstaat abschaffen, weil dann nicht mehr mit
Beschäftigten gearbeitet, sondern vorrangig auf der Arbeit von Ehrenamtlichen aufgebaut wird?
In der Tat haben wir, die Linke und die Bundesregierung, prinzipiell ein unterschiedliches Verständnis von
bürgerschaftlichem Engagement. Das ist auch gut so. Es
geht überhaupt nicht darum, dass durch bürgerschaftliches Engagement reguläre Arbeitsplätze ersetzt werden
sollen. Im Rahmen des Zivildienstes beispielsweise - darüber haben wir uns schon öfter unterhalten - wird die
Arbeitsplatzneutralität der einzelnen Einsätze strikt überprüft, und bei all unseren Planungen zur Anschlusskonzeption ist ein wesentliches Element, dass die Arbeitsplatzneutralität selbstverständlich gegeben sein muss.
Schauen Sie sich die anderen Engagementformen in dem
Bericht an. Was ist beispielsweise mit den jungen Migranten, die sich als Integrationslotsen zur Verfügung
stellen? Ich frage Sie: Wo werden da Arbeitsplätze verdrängt?
Schauen Sie sich an, welche Möglichkeiten es für Senioren gibt, die in Rente sind und sich nebenbei noch um
die Bildungsförderung von jungen Menschen kümmern
möchten. Dadurch werden keine Arbeitsplätze verdrängt.
Hier kommt das völlig unterschiedliche Staatsverständnis
von Ihnen und der Bundesregierung zum Ausdruck. Das
ist eben so.
Danke schön. - Ihre Nachfrage.
Frau Ministerin, Sie haben auf meine Anfrage zum
Ehrenamt in Bezug auf ein ähnliches Thema geantwortet, es lägen keine Erkenntnisse darüber vor, ob reguläre
Beschäftigungsverhältnisse verdrängt werden. Wenn Sie
darüber - im Unterschied zum Zivildienst - keine Erkenntnisse haben, kann dies natürlich auch heißen, dass
sie durchaus verdrängt werden. Meine Frage: Betrachten
Sie es nicht als Entwertung der Berufsbilder der Altenpflegerin, der Erzieherin und der Sozialarbeiterin, wenn
jeder eine ehrenamtliche Aufgabe in der sozialen Arbeit
mit kürzeren oder längeren Einarbeitungsmöglichkeiten
übernehmen kann? Hierbei handelt es sich außerdem um
Berufe, die zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt werden
und deshalb dazu geeignet sind, die Arbeitslosigkeit bei
jungen Frauen zu beseitigen. Sehen Sie das nicht als Gefahr?
Sie müssen sich die Formen des Engagements in den
sozialen Bereichen ansehen. Sie stoßen dort nicht auf Arbeit, die zum Beispiel die Altenpflege im engeren Sinne
beschreibt. Es handelt sich dabei nicht um originär pflegerische Tätigkeiten. Schauen Sie sich doch an, was dort
genau gemacht wird. Es geht zum Beispiel darum, täglich
die Tageszeitung vorzulesen. Es geht darum, mit älteren
Menschen in den Park zu gehen, was diesen vielleicht
sonst nicht möglich wäre. Es geht darum, dass behinderte
Kinder in die Schule begleitet werden, was unter anderen
Umständen nicht möglich wäre. All diese Dinge verdrängen keine Arbeitsplätze. Es sind aber Dinge, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken, die unser Leben lebenswerter machen und die Menschlichkeit in diese
sozialen Berufe bringen. Würde das alles staatlich organisiert, dann würde unsere Gesellschaft ein hohes Maß an
Zusammenhalt und Lebensqualität verlieren. Wir wollen
das nicht staatlich organisieren. Wir glauben auch nicht,
dass das durch eine staatliche Organisation besser wird.
Sie haben noch eine weitere Nachfrage. Bitte sehr.
Meine zweite Nachfrage: Ich komme aus dem öffentlichen Dienst, und zwar aus dem Jugendamt. Ich bin dort
zehn Jahre lang Sozialarbeiterin gewesen, bevor ich in
den Bundestag gewählt wurde. Wenn es nicht so ist, wie
Sie es gerade dargestellt haben, dann frage ich mich:
Warum stellen Sie Infrastrukturen bzw. Einrichtungen
wie Jugendämter und andere Institutionen, in denen öffentliche soziale Arbeit geleistet wird, auf den Prüfstand
und fragen, inwieweit Ehrenamtliche dort die Arbeit ersetzen können? Als Beispiel nenne ich eine Tagung des
Deutschen Instituts für Urbanistik, die sich an die Führungskräfte der Jugendämter und des öffentlichen Dienstes richtet und die Frage, in welchen Bereichen Ehrenamtliche Arbeit übernehmen können, aufgreift.
Frau Ministerin.
Kein Mensch stellt Jugendämter infrage oder will Jugendämter von jetzt an ehrenamtlich organisieren. Es
gibt aber immer ein begleitendes Engagement, von dem
alle profitieren und das die Jugendämter selbst gar nicht
leisten können. Nehmen Sie doch das eben von mir präsentierte Beispiel der jungen Migranten, die selbst als Integrationslotsen tätig werden. Wie wollen Sie diese Tätigkeit durch ein Jugendamt ersetzen? Was Sie außerdem
komplett verkennen, ist der Mehrwert für diejenigen, die
sich ehrenamtlich engagieren, weil sie dadurch Bildung,
Fähigkeiten und Kompetenzen für den gesamten weiteren Lebensverlauf erwerben. Dies zu ignorieren, zeugt
meines Erachtens von ausgesprochener Blindheit. Wir
wollen das ehrenamtliche Engagement genau in den Bereichen stärken, in denen beide Seiten davon profitieren.
Nur zur Erklärung: Natürlich soll es so sein, dass die
Fragen abwechselnd gestellt werden. Es gab Schwierigkeiten mit der Einteilung der Schriftführerinnen und
Schriftführer. Deswegen ist es zu dieser Ausnahme gekommen. Die Fragen werden jetzt abwechselnd gestellt.
So kann auch Frau Drittrich dort sitzen bleiben, wo sie
gerne Fragen stellen wollte. - Dies nur zur Erklärung für
Sie alle.
Jetzt ist Herr Grübel an der Reihe.
Frau Bundesministerin, Sie haben die nationale Engagementstrategie als gemeinsame Strategie unterschiedlicher Ministerien vorgestellt, die bisher nebeneinander,
also getrennt, agiert haben. Mit welchem Instrument sollen die Ministerien diese nationale Engagementstrategie
künftig gemeinsam umsetzen?
Sie sprachen auch von Ihrem Pilotprojekt. Was heißt
das konkret? Erstreckt sich das auch auf andere Ministerien?
Mein Ministerium wird die verschiedenen Engagementstrategien der einzelnen Häuser in Zukunft koordinieren. Wenn Sie genau hinschauen, entdecken Sie eine
Fülle von unterschiedlichen Aktivitäten. Fast jedes
Ministerium hat eigene Freiwilligenprogramme. Das ist
in Ordnung. Jedes Ministerium soll das machen, wofür
es die Kompetenz besitzt. Beispielsweise organisiert das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung sehr viele Jugenddienste im Ausland.
Das kann dort viel besser organisiert werden als bei uns;
denn dort ist die dafür notwendige Kompetenz vorhanden. Es ist aber wichtig, die unterschiedlichen Projekte
miteinander zu verzahnen und aufeinander abzustimmen, damit es keine Doppelungen gibt. Diese Arbeit
wird in Zukunft von meinem Haus übernommen. Es
wird sich auch um die Koordination zwischen Bund,
Ländern und Kommunen kümmern.
Unser Pilotprojekt, das heute startet, enthält zum einen das Modul „Wissenstransfer“. Wir haben überlegt,
wie man das Wissen der Mitarbeiter, die aus dem Bundesministerium ausgeschieden sind, weil sie die Altersgrenze erreicht haben, weiterhin nutzen kann. Diese Mitarbeiter können sich nachberuflich engagieren, und so
können wir ihr Wissen weiterhin nutzen. Dies ist übrigens ein Wunsch der Mitarbeiter, der im Rahmen einer
Befragung an uns herangetragen wurde. Zum anderen
geht es bei diesem Projekt um verschiedene Engagementformen. Zum Beispiel können Patenschaften für
Schüler aus bildungsfernen Schichten übernommen werden. Das BMI macht etwas Ähnliches. Daran haben wir
uns orientiert.
Kollegin Ute Kumpf, bitte.
Frau Ministerin, in diesem Hohen Haus wird nicht
erst seit heute über das Thema Engagementpolitik diskutiert. Ich glaube, der Redlichkeit halber ist es wichtig,
darauf hinzuweisen, dass seit 1999 viele Vorarbeiten geleistet wurden: Enquete-Kommission, Einsetzung des
Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ und
Gründung des Bundesnetzwerks BBE, das mittlerweile
ein Nationales Forum für Engagement und Partizipation
eingerichtet hat. All diese Vorarbeiten hatten das Ziel,
dass im Dialog mit der Bürgergesellschaft eine nationale
Strategie entwickelt wird.
Mit dem Stichwort „nationale Strategie der Bundesregierung“ haben Sie große Erwartungen geweckt. Der
Beschluss, den Sie heute gefasst haben, liegt uns nur in
Ansätzen vor. Was wir aber haben, ist ein Sammelsurium
von Projekten, die wir schon zu früheren Zeiten begonnen haben. Wir vermissen ein bisschen die klare Linie,
die man hinter einer Strategie vermutet. Von daher frage
ich: Von welchem Leitbild gehen Sie aus, wenn Sie von
einer „nationalen Engagementstrategie“ sprechen? Warum finden die Vorschläge des Nationalen Forums für
Engagement und Partizipation keinen Eingang in Ihr
Konzept? Dieses Forum wurde schließlich extra konstituiert, um im Dialog mit dem Ministerium die Vorbereitung einer nationalen Strategie zu übernehmen. Wenn
ich so große Worte höre, frage ich mich - das ist die
dritte Frage -, was mit dem Geld ist und wie die Koordinierung zwischen Bund, Land und Kommune konkret
aussieht. In der letzten Sitzung des Unterausschusses haben wir erfahren, dass Sie keinen Wert darauf legen, dass
die Infrastruktur vor Ort durch den Bund gefördert wird.
In irgendeiner Form - das wird sehr schwammig formuliert - wird zwischen Bund, Ländern und Kommunen
koordiniert. Doch auch das ist bislang schon gemacht
worden. Ich möchte gerne von Ihnen erfahren, was konkret geplant ist. Welche Konzepte haben Sie? Wie wollen Sie das in Zahlen - Stichwort: Geld - gießen? Welche Maßnahmen planen Sie in diesem Zusammenhang?
Frau Kumpf, ich glaube, ich kann in Ihrer Frage einen
grundsätzlichen Unterschied zu uns erkennen. Wenn wir
über bürgerschaftliches Engagement sprechen, reden wir
in erster Linie nicht über Geld. Gerade das ist der fundamentale Unterschied. Bei bürgerschaftlichem Engagement geht es in erster Linie nicht um bezahlte Tätigkeiten,
sondern es geht darum, bürgerschaftliches Engagement
als Selbstzweck und als Mehrwert ohne finanzielle Aspekte zu fördern.
Bürgerschaftliches Engagement ist für uns alle eine
große Chance, um die Potenziale der Menschen, die sich
ehrenamtlich engagieren wollen - diese Potenziale sind
in der Bevölkerung eindeutig vorhanden -, zu nutzen.
Gerade bei den älteren Menschen gibt es ein besonders
großes Potenzial. Was planen wir? Bei bürgerschaftlichem Engagement geht es beispielsweise immer um die
Frage, wie man es anerkennen kann. Es gibt den Deutschen Engagementpreis; diesen werden Sie kennen. Wir
wollen eine weitere Engagementauszeichnung der Bundesregierung einführen, um vor Ort Engagierte auszuzeichnen, deren Engagement in der Öffentlichkeit bisher
eine geringere Rolle spielte.
Wir müssen aber auch weiter darüber nachdenken,
wie wir ehrenamtliches Engagement quasi zertifizieren
können, welche Möglichkeiten es gibt, dass Menschen,
die sich ehrenamtlich engagieren, bei Bewerbungen ihre
Kompetenz nachweisen können. Sie wissen, dass es
dazu schon ein Projekt der Bundesregierung gibt. Solche
Projekte wollen wir fortsetzen.
Rechtlich wichtige Fragen sollen im Freiwilligendienst-Statusgesetz geregelt werden. Dabei geht es um
die Absicherung von Freiwilligendiensten und auch um
versicherungsrechtliche Fragen. Bei diesem Freiwilligendienst-Statusgesetz geht es darum, einen gemeinsamen Rahmen für Freiwilligendienste zu schaffen. Dieser
Rahmen darf nicht zu starr sein; denn sonst würde freiwilliges Engagement abgewürgt. Gewisse Grundanforderungen müssen aber festgelegt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der nationalen Engagementstrategie ist das Engagement, bei dem es um bildungsferne Schichten und Migranten geht. Bei jeder
Neukonzeption des freiwilligen ehrenamtlichen Engagements, zum Beispiel wenn der Zivildienst ausgesetzt
werden sollte, möchte ich besonders darauf achten, wie
man bildungsferne Schichten für bürgerschaftliches Engagement gewinnen kann, weil sie auch selbst sehr stark
davon profitieren. Ein besonderes Augenmerk lege ich
dabei auf die Möglichkeit der Erlangung von Schulabschlüssen im Rahmen von Freiwilligendiensten.
Eine Nachfrage?
Frau Ministerin, das war nicht der Kern meiner Frage.
Wenn Sie einen Schatz heben wollen, brauchen Sie
Schatzsucher; ab und zu brauchen Sie auch einen Spaten, vielleicht eine Taucherglocke oder einen Kran. Es
geht um den Kran, die Taucherglocke, den Spaten und
die Schatzsucher. Wir reden ganz konkret über die Infrastruktur. Es geht nicht darum, dass die Menschen Geld
haben wollen. Sie wollen aber Hauptamtliche an ihrer
Seite haben, sie wollen Anlaufstellen haben, sie wollen
Menschen haben, die sie in ihrem Engagement unterstützen, die Wege zeigen, die vermitteln und ihnen vielleicht
die entsprechende Qualifizierung geben. Darüber reden
wir. Es geht darum, Infrastruktur vor Ort aufzubauen und
die Kommunen zu unterstützen, wie wir es mit Verkehr,
Straßen und sonstigen Dingen tun. Wir haben das in dem
Programm „Soziale Stadt“ gemacht, um Gemeinwesenarbeit zu fördern.
Wir finden in Ihrem Konzept keine Antwort und auch
keinen Hinweis darauf, wie Sie das zukünftig gestalten
wollen. Wir finden auch keinen Hinweis, wie Sie die Koordinierung zwischen Bund, Land und Gemeinde gestalten wollen, um tatsächlich eine abgestimmte Strategie zu
entwickeln und auf den Weg zu bringen, wie Sie es versprochen haben. Wie sind Ihre Konzepte? Wir finden keinen Hinweis, wie das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches
Engagement und auch die nationale Plattform, ein Zusammenschluss von über 270 Organisationen, die Ihnen
zugearbeitet haben, zukünftig weiter gefördert werden
sollen. Darauf fehlt eine Antwort. Auf diese warten die
Leute, die darauf vertraut haben, dass ihre Vorschläge
und Konzepte zu unterschiedlichen Bereichen auch in
Ihr Konzept aufgenommen werden.
Zunächst einmal: Hinsichtlich des Bundesnetzwerks
Bürgerschaftliches Engagement empfehle ich einen Blick
in unseren Haushalt und in die Ansätze, die wir für 2011
beantragt haben. Wir hatten für 2010 für das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement eine Förderung von 390 000 Euro, als Ansatz 2011 wurden von uns
393 000 Euro beantragt. Ferner gibt es die Woche des
bürgerschaftlichen Engagements, die vom BBE organisiert wird. Dafür haben wir 2010 350 000 Euro und im
Ansatz 2011 ebenfalls 350 000 Euro. Außerdem gibt es
das Projekt „BBE für Europa“. Der Haushaltsansatz
2011 beträgt 71 000 Euro, der Haushaltsansatz 2012 beläuft sich auf 72 000 Euro. Die Förderung ist also klar
geregelt.
Wenn es Ihnen im Hinblick auf das bürgerschaftliche
Engagement um die konkrete Hilfe vor Ort geht,
({0})
kann ich Ihnen einen wichtigen Hinweis geben: Wir haben uns vorgenommen, für die Mehrgenerationenhäuser
ein Anschlussprogramm aufzulegen.
({1})
Da wir die Mehrgenerationenhäuser nicht unverändert
weiterfördern können, plant mein Ministerium, im Rahmen dieses Anschlussprogramms die Regelung zu treffen, dass in Zukunft jedes Mehrgenerationenhaus nachweisen muss, dass es Ansprechpartner für freiwilliges
Engagement ist und konkrete Hilfen und Schulungen
- all das, was Sie genannt haben - anbietet; manche
Mehrgenerationenhäuser haben das schon in der Vergangenheit getan, andere nicht. Diese Regelung wollen wir
zu einer Grundbedingung für jedes Mehrgenerationenhaus machen. Das ist ein wichtiger Schritt, um zu erreichen, dass es in Deutschland in der Fläche, in den einzelnen Kommunen, Ansprechpartner für bürgerschaftliches
Engagement gibt.
({2})
Der Kollege Kai Gehring.
Vielen Dank. - Auch wir haben das Gefühl, dass die
nationale Engagementstrategie eher ein Sammelsurium
altbekannter Projekte ist und dass dabei eher eine Topdown-Strategie statt einer Bottom-up-Strategie, bei der
sozusagen von unten, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft Unterstützung geleistet werden könnte, verfolgt
wird. Der Begriff „nationale Engagementstrategie“ legt
nahe, dass der Bund Strategien und Strukturen, die es
vor Ort gibt, besser unterstützt und auch finanziell besser
fördert.
Angesichts der sehr knappen finanziellen Mittel der
Kommunen in unserem Land würde ich Sie gerne fragen, wie eine kommunale engagementfördernde Infrastruktur künftig am Leben erhalten werden soll, zum
Beispiel Mehrgenerationenhäuser oder Freiwilligenagenturen. Wie wollen Sie diese Strukturen in Zukunft
absichern? Das ist in der ganzen Debatte um bürgerschaftliches Engagement eigentlich die Kernfrage.
Ich stelle diese Frage auch deshalb, weil Sie sich in
der Vergangenheit offenbar die Einschätzungen des Bundesfinanzministeriums und des Bundesrechnungshofes
zu eigen gemacht haben, wonach der Bund überhaupt
keine Kompetenz hat, wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement und Engagement im Allgemeinen zu
fördern. Was gaukeln Sie uns hier eigentlich vor? Oder
ist es so, dass Sie die Engagementstrukturen vor Ort jetzt
tatsächlich absichern wollen, was dringend notwendig
wäre?
({0})
Es ist eindeutig nicht die Aufgabe des Bundes, vor
Ort beispielsweise eine Freiwilligenagentur zu fördern;
hier ist unsere föderale Struktur glasklar. Gerade im
Rahmen der letzten Föderalismuskommission haben wir
uns bemüht, die Kompetenzverteilung deutlicher zu regeln.
Es gibt in Deutschland den Hang, immer dann, wenn
uns etwas besonders wichtig ist, zu sagen: Das muss der
Bund machen. - Ich halte dies für verhängnisvoll. Ich
glaube, dass der Bund, wenn er anfangen würde, einzelne Freiwilligenagenturen vor Ort zu fördern, nur dilettieren könnte, weil er gar nicht die notwendigen
Kenntnisse der einzelnen Strukturen vor Ort hat.
Bestimmte Leuchtturmprojekte und Modellprojekte
können wir natürlich anschieben. Aber auch Sie, Herr
Gehring, kennen das Problem, das mit Modellprojekten
verbunden ist. Nach einigen Jahren stellt sich immer die
Frage: Wie geht es mit dem Modellprojekt jetzt weiter?
Ich glaube, das ist ein Dilemma, das wir über alle Parteigrenzen hinweg kennen und das auch hier eine Rolle
spielt.
Sie selbst haben das Thema Mehrgenerationenhäuser
angesprochen; auch hier besteht dieses Problem. In diesem Zusammenhang mache ich mir auch nicht die Einschätzungen anderer zu eigen. Vielmehr ist in Deutschland finanzverfassungsrechtlich glasklar geregelt, dass
die Mehrgenerationenhäuser nicht unverändert weitergefördert werden dürfen. Ich kenne niemanden, der in dieser Frage eine andere Position vertritt, sondern das ist
einfach so.
Wenn wir jetzt also ein Anschlussmodellprojekt vorlegen, muss dies anders als das bisherige ausgerichtet
sein, weil es sonst eine verdeckte Weiterförderung durch
die Hintertür wäre.
Wir können aber - das ist auch der Wunsch der einzelnen zivilgesellschaftlichen Akteure - die verschiedenen Programme und die verschiedenen Aktivitäten auf
kommunaler Ebene miteinander vernetzen. Wir können
auch Möglichkeiten des Erfahrungsaustauschs bieten
und auch rechtliche Rahmenbedingungen - Stichwort:
Freiwilligendienst-Statusgesetz - schaffen.
Die große Frage ist: Wie geht es weiter nach dem Zivildienst? Wir sollten versuchen, zu Regelungen zu
kommen, dass alle davon profitieren. Das kann der
Bund; dafür ist er zuständig. Aber er ist für die Förderung einzelner Infrastrukturprojekte vor Ort nicht zuständig.
Noch eine Nachfrage, bitte schön.
Wir sind der festen Überzeugung, dass man durchaus
ein Freiwilligendienst-Statusgesetz einführen kann. Das
wurde bei Ihnen bisher anders kommentiert und kommuniziert, weil Sie sich auch die Auffassung zu eigen machen, dass man sowohl für Freiwilligendienste als auch
für bürgerschaftliches Engagement und für Engagementförderung insgesamt auf Bundesebene nicht zuständig
sei. Sie müssten sich einmal entscheiden, was denn zutrifft.
({0})
Ich möchte Ihnen empfehlen, das Igl-Gutachten zu lesen
- darin ist eine andere Rechtsauffassung enthalten -, um
zu sehen, inwiefern Engagementförderung auch von
Freiwilligendiensten geleistet werden kann.
Ich möchte in diesem Zusammenhang fragen, wie Sie
sich eigentlich eine Ausbauoffensive für Freiwilligendienste vorstellen. Sie wollen eine Zivildienstkonversion
einleiten. Dafür werden Mittel im Bundeshaushalt frei.
Sie schreiben das auch in Ihrer Engagementstrategie.
Wir wüssten schon gerne: In welcher Größenordnung
werden künftig frei werdende Mittel aus dem Zivildiensthaushalt für den Ausbau von Freiwilligendiensten
verwendet? Stimmen die Gerüchte, dass ein relevanter
Teil dieser frei werdenden Mittel zur Finanzierung des
Elterngeldes verwendet wird? Wir hätten gern eine klare
Aussage von Ihnen: Welche Höhe haben diese Finanzmittel? Wie soll die Ausbaustrategie vonstattengehen?
Zunächst haben Sie mir das Igl-Gutachten zur Lektüre empfohlen. Ich empfehle Ihnen die glasklare Reaktion auf das Igl-Gutachten durch den Bundesrechnungshof und durch das Bundesfinanzministerium zur
Lektüre.
({0})
Das rundet das Bild sehr entscheidend ab.
Der zweite Punkt in Ihrer Frage war, wie es mit den
Freiwilligendiensten weitergeht. Völlig klar ist, dass dies
im Moment eine politisch sehr brisante Frage ist. Denn
das Parlament hat noch keine grundsätzliche Entscheidung über die Aussetzung der Wehrpflicht getroffen.
({1})
Herr Gehring, Sie und ich wissen, wie die politische
Debatte läuft. Dennoch möchte ich Sie bitten, dass wir
die Reihenfolge einhalten und erst einmal das Parlament
entscheiden lassen. Danach können wir in die konkrete
Konzeption gehen.
Ich habe Ihnen bereits vorgestellt, welche Überlegungen und Erwägungen es bei mir für einen bundesweiten
freiwilligen Zivildienst gibt. Ich weiß, dass Ihnen die
Beantwortung folgender Frage ein wichtiges Anliegen
ist: Warum kann man nicht direkt die Freiwilligendienste
der Länder unterstützen, nämlich das Freiwillige Soziale
Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr? Dieser Weg
scheint zunächst einmal gangbar zu sein. Aber Sie müssen sehen: Die Freiwilligendienste fallen glasklar in die
Kompetenz der Länder.
({2})
Was wir im Moment freiwillig dazugeben - ich nenne
die 72 Euro für das Freiwillige Soziale Jahr und die anderen Pauschalen -, ist sozusagen eine Pauschale aus pädagogischen Gründen.
({3})
Einige Rechtsauffassungen gehen davon aus, dass schon
das problematisch sei.
Was eindeutig in die Länderkompetenz fällt, können
Sie nicht zu 100 Prozent oder zu 80 Prozent durch den
Bund fördern. Sie können es wahrscheinlich - darüber
wird juristisch gestritten - zu 10 Prozent fördern. Vielleicht können Sie den Förderanteil noch auf 20 Prozent
ausweiten. Aber Sie können es nicht komplett durch den
Bund fördern.
({4})
Wenn wir das Geld, das wir im Moment für den Zivildienst einsetzen, komplett in die Freiwilligendienste geben würden, dann würde dies mit Blick auf das Geld, das
die Länder dazugeben, bedeuten, dass die Freiwilligendienste fast ausschließlich oder zu einem ganz hohen
Anteil vom Bund gefördert würden. Dies geht finanzverfassungsrechtlich nicht.
({5})
- Doch, das stimmt.
Was finanzverfassungsrechtlich ginge, wäre zum Beispiel, den Ländern Geld über Umsatzsteuerpunkte zu geben, und die sollen sich dann halt um die Freiwilligendienste kümmern. Aber ganz ehrlich: Gerade auch aus
haushaltsrechtlichen Gründen finde ich es schon problematisch, quasi eine Mischfinanzierung oder eine solche
verdeckte Umkehrfinanzierung durchzuführen. Außerdem wissen wir ja auch aus den Erfahrungen mit dem
Kita-Ausbau, dass man, wenn man versucht, etwas über
Umsatzsteuerpunkte zu finanzieren, nie eindeutig sagen
kann, ob das Geld für den entsprechenden Zweck eingesetzt wird.
Ich sage es jetzt einmal vorsichtig: Wir haben nicht
immer genau den Überblick darüber, wie die Länder mit
diesen Mitteln umgehen und inwiefern sie dort ankommen, wo wir sie haben wollen. Deswegen muss ich Ihnen einfach sagen: Das ist für mich kein gangbarer Weg.
({6})
Frau Bär.
Vielen herzlichen Dank, Frau Ministerin, für die Vorstellung der nationalen Engagementstrategie.
Mich würde jetzt in Bezug auf unsere Stiftungen noch
einmal interessieren, inwieweit die Stiftungen mit einbezogen werden und inwieweit mit ihnen Konzepte abgesprochen werden.
({0})
Die Stiftungen waren selbstverständlich auch am Nationalen Forum für Engagement und Partizipation beteiligt. Ein sehr wichtiger und sehr florierender Teil der
Stiftungen sind vor allen Dingen die sogenannten Bürgerstiftungen.
({0})
Für alle Fragen zu diesem Thema gibt es die Initiative
Bürgerstiftungen. Das ist eine anerkannte, bundesweit
tätige Organisation, die beinahe jede Bürgerstiftung, die
neu gegründet wird, begleitet, in rechtlichen Fragen berät und beim Aufbau unterstützt. Diese Initiative Bürgerstiftungen haben wir bisher jedes Jahr sehr stark gefördert, und es gibt jetzt gerade Verhandlungen darüber,
dass diese Förderung auch im Jahr 2011 weiterläuft.
Damit sind wir nicht am Ende der Fragen, aber am
Ende der Zeit für die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/3113, 17/3168 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß
Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die
dringliche Frage auf, die Sie auf Drucksache 17/3168
finden. Es geht um den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister
Dr. Werner Hoyer bereit.
Ich rufe also die dringliche Frage der Kollegin Inge
Höger auf:
Welche juristische und politische Bewertung nimmt die
Bundesregierung vor angesichts der Tötung von bis zu acht
deutschen Staatsangehörigen durch den Angriff eines unbemannten US-amerikanischen Flugkörpers im pakistanischen
Nordwaziristan am 4. Oktober 2010?
Herr Hoyer, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Höger, das Auswärtige Amt prüft derzeit Medienberichte zu diesem Fall, insbesondere auch zu den Fragen,
ob es sich um deutsche Staatsangehörige handelt und ob
das Datum, das in den Medien erscheint, zutreffend ist
oder nicht. Selbst diese Frage können wir gegenwärtig
noch nicht beantworten.
Hierzu hat die deutsche Botschaft in Islamabad die
zuständigen pakistanischen Behörden informell, aber natürlich auch formell - das heißt per Verbalnote - um genaue Auskunft über den Sachverhalt gebeten. Wir haben
von den pakistanischen Kolleginnen und Kollegen hierauf noch keine Antwort erhalten. Die Ermittlungen laufen. Eine Bewertung wird erst auf der Grundlage belastbarer Fakten möglich sein.
Frau Höger, Sie haben eine Nachfrage, bitte schön.
Sie sagen, Sie haben noch keine konkreten Informationen, obwohl die Medien seit gestern zunächst von
fünf, dann von zehn deutschen Opfern berichten. Ich
fasse meine Nachfrage ein bisschen weiter: Haben deutsche Stellen - Geheimdienste, Polizei und andere - Informationen über deutsche Islamisten in dieser Region
Pakistans? Geben sie solche Informationen an amerikanische Stellen weiter?
Wir gehen davon aus, dass es in dieser Region Pakistans auch deutsche Islamisten gibt. Weitere präzise Informationen, die zum Beispiel Grundlage von Entscheidungen der amerikanischen Streitkräfte gewesen sein
könnten, kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht geben. Ich
verfüge nicht über entsprechende Erkenntnisse. Wenn
Menschen - erst recht, wenn es deutsche Staatsbürger
sind - bei solchen Vorkommnissen ums Leben kommen,
dann ist das ein sehr ernster Vorgang, den man moralisch, politisch und rechtlich bewerten muss. Das ist aber
nur auf einer ganz präzisen Faktengrundlage möglich.
Auch wenn sich bestimmte Medienmeldungen vervielfa6720
chen, finde ich es aus dem genannten Grund nicht verantwortbar, bereits jetzt Bewertungen abzugeben.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ich teile Ihre Einschätzung, dass es eine ernste Angelegenheit ist, wenn deutsche Staatsbürger getötet worden
sind. Aber Sie müssten die Vorfälle völkerrechtlich bewerten können, unabhängig davon, ob die Informationen
zutreffen. Eine gezielte Tötung ist gewissermaßen eine
Tötung ohne Todesurteil. Zivilisten sind zu verschonen
und dürfen nicht ohne ein Verfahren mit anschließendem
Urteil getötet werden.
Diese Frage hypothetisch zu beantworten, ist ebenfalls ausgesprochen problematisch. Wir haben in der
Fragestunde des Bundestages schon eine sehr intensive
grundsätzliche Debatte über das Thema gezielte Tötungen geführt, die ich jetzt nicht noch einmal aufrollen
will. Es geht vielmehr darum, welche Rechtsgrundlagen
bestehen könnten, zum Beispiel ob das Recht auf Selbstverteidigung herangezogen werden könnte. Das kann ich
aber nicht beantworten, ohne konkrete Fakten und Daten
zu diesem Einzelfall zu kennen, so schwerwiegend er
sein mag. Die Sache ist zu brisant, als dass man sich mit
Bewertungen aus dem Fenster lehnen könnte.
Herr Ströbele.
Herr Staatsminister, Sie reden immer nur von Pressemeldungen. Den Pressemeldungen kann man aber auch
entnehmen, dass ein deutscher Staatsangehöriger, der in
Gewahrsam der US-Streitkräfte ist und sich in einem
Foltergefängnis in Bagram befindet, Aussagen gemacht
haben soll, nach denen sich die betreffenden Personen
dort befanden, die mit von einer Drohne abgefeuerten
Raketen angegriffen worden sind.
Nun hat eine Bundesregierung andere Informationsmöglichkeiten als Presseerklärungen. Sowohl das Bundesinnenministerium als auch das Bundeskanzleramt
und das Verteidigungsministerium verfügen über Informationsquellen gerade auch für den Raum Afghanistan.
Haben Sie sich denn auch einmal bei Ihren Kollegen erkundigt und sachkundig gemacht, ob dort Informationen
vorliegen, und zwar erstens, ob es eine entsprechende
Aussage gibt, und zweitens, ob sie aufgrund der Informationen, die sie bekommen bzw. ermitteln - für diese
Tätigkeit werden sie hoch bezahlt -, zu entsprechenden
Erkenntnissen gekommen sind? Oder sagen Ihre Kollegen: „Wir wissen auch nur, was in der Zeitung steht“?
Die Frage, ob ich mich mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ressorts auseinandergesetzt habe,
beantworte ich klar mit Ja. Die zweite Frage beantworte
ich auch mit Ja: Wir haben auch nach diesen Gesprächen
zwischen den Ressorts noch kein klares Lagebild.
Das war keine Antwort auf meine Frage.
Entschuldigung, ich möchte keine Frage unbeantwortet lassen.
Ich habe nach Informationen gefragt.
Wir haben keine Informationen, die wirklich belastbar
wären und aufgrund derer wir eine Bewertung abgeben
könnten. Sie kennen sich in den Zusammenhängen bestens aus, weil Sie dem Gremium des Deutschen Bundestages angehören, in dem solche Themen diskret behandelt werden, und wissen, welche Qualität solche
Informationen haben müssen, damit man darauf bauen
kann. Diese Informationen haben wir noch nicht. Wir
bemühen uns aber mit Hochdruck darum, weil wir ein
sehr großes Interesse daran haben, Klarheit darüber zu
schaffen, was dort passiert ist.
Frau Dağdelen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Hoyer,
ich möchte gerne wissen, welche Anstrengungen die
Bundesregierung unternimmt, Kenntnis darüber zu erlangen, welcher Tat sich die getöteten deutschen Staatsbürger schuldig gemacht haben sollen, ob sie nicht einfach Touristen waren, die sich zu diesem Zeitpunkt dort
aufgehalten haben. Ich mache mir Sorgen, dass das Prinzip der Unschuldsvermutung nicht mehr gilt, wenn jemand erst einmal unter dem Generalverdacht steht, Islamist oder Terrorist - das wird mittlerweile zumeist
gleichgesetzt - zu sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch wissen,
welche Anstrengungen die Bundesregierung unternimmt,
um die US-Drohnenangriffe, deren Zahl sich in letzter
Zeit mehr als verdoppelt hat, abzuweisen, zu verhindern
oder zu beenden. Ich weise darauf hin, dass wir - auch die
Menschen in Deutschland - dazu aufgerufen haben, den
wegen der Flutkatastrophe notleidenden Menschen in Pakistan zu helfen, dass wir aber gleichzeitig Drohnenangriffe zulassen, durch die Hunderte Menschen sterben.
Auch diese Fragen sind nur hypothetisch zu beantworten, sowohl was die Faktenlage als auch was die Legitimation solcher Drohnenangriffe angeht. Es ist völlig klar,
dass nach unserer Auffassung grundsätzlich die pakistanische Regierung gegebenenfalls über Angriffe oder Militäreinsätze auf ihrem Territorium zu entscheiden hätte.
Ob sie das gegenüber den amerikanischen Streitkräften
getan hat, ist uns schlicht und ergreifend nicht bekannt.
Ich bin auch nicht sicher, dass sie es uns sagen würde.
Welche Anstrengungen unternehmen Sie?
Wir unternehmen alle Anstrengungen. Wir haben
diese Sache sowohl gegenüber Pakistan als auch gegenüber den Vereinigten Staaten auf bilateraler Ebene aufgegriffen. Wir haben die Befassung der NATO gar nicht
erst anregen müssen, weil sie automatisch stattgefunden
hat. Daran haben wir uns engagiert beteiligt.
Frau Buchholz.
Meine Frage bezieht sich auf die Aussage des Politikwissenschaftlers Herrn Hippler, der in einem Gespräch
mit tagesschau.de eindeutig feststellt, dass der US-Drohnenangriff natürlich eine Verletzung des pakistanischen
Luftraums darstellt. Wie stellt sich die Bundesregierung
dazu, und was wird sie - auch im Rahmen der Vereinten
Nationen - tun, um diesen Vorfall aufzuklären?
Ich wage mich nun in eine hypothetische Debatte, die
ich an sich ablehne. Ob das Eindringen in den pakistanischen Luftraum legitim war oder nicht, hängt davon ab,
ob sich die Streitkräfte der Vereinigten Staaten oder der
NATO auf das Selbstverteidigungsrecht berufen können
oder nicht. Wenn die pakistanische Regierung zugestimmt hat, hätten wir sowieso eine andere Lage. Zur
Beantwortung solcher Fragen muss man die Fakten kennen. Genau das ist - ich kann es nur noch einmal versichern - nicht der Fall. Das ist auch in Brüssel nicht der
Fall.
Frau Buchholz, eine Nachfrage.
Meines Erachtens liegen die Fakten klar auf dem
Tisch. Offensichtlich ist es so, dass sich die Bundesregierung auch in diesem Fall die Realität wieder sozusagen zurechtlügt.
Das weise ich strikt zurück. Wir haben die Faktenlage
nicht, die wir brauchten, um solche Fragen präzise zu beantworten. Auf weitere hypothetische Analysen werde
ich mich hier nicht einlassen.
Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet ist, rufe ich jetzt die Fragen auf Drucksache 17/
3113 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner steht zur Beantwortung zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Kirsten Lühmann
auf:
Welche Informationen gibt es zum Beispiel vom Bundeskriminalamt, BKA, über die zunehmende Nutzung der sich
entvölkernden ländlichen Räume insbesondere im Osten
Deutschlands durch organisierte Kriminalität als Rückzugsräume?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Abgeordnete Lühmann, ich beantworte Ihre
Frage wie folgt: Dem Bundeskriminalamt liegen keine
Erkenntnisse über die zunehmende Nutzung der sich entvölkernden ländlichen Räume insbesondere im Osten
Deutschlands durch organisierte Kriminalität als Rückzugsräume vor.
Sie möchten eine Nachfrage stellen.
Herzlichen Dank. - Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um den Informationen, die von den Länderpolizeien zu dieser Thematik kommen, nachzugehen,
um hierzu ein einheitliches Lagebild zu bekommen?
Frau Kollegin Lühmann, zunächst einmal muss ich
darauf hinweisen, dass alle Lagebilder zur organisierten
Kriminalität, die das Bundeskriminalamt bisher vorgelegt hat und die auch in einer gewissen Korrespondenz
zu den Erkenntnissen auf Länderebene stehen, keine
Hinweise darauf geben, dass Räume mit rückläufiger
Bevölkerungsdichte - so will ich es einmal etwas vorsichtiger umschreiben -, die natürlich insbesondere in
Teilen der neuen Bundesländer zu finden sind, bevorzugte Rückzugsräume der organisierten Kriminalität
sein sollten.
Haben Sie noch eine zweite Nachfrage? - Bitte schön.
Was sind denn die bevorzugten Rückzugsräume organisierter Kriminalität, wenn es diese nicht sind?
Dies richtet sich jeweils nach den Deliktbereichen.
Ich will zumindest so viel sagen, dass es durchaus auch
im Bereich der Ballungsräume Rückzugsszenarien für
organisierte Kriminalität gibt. Das heißt, der kausale Zusammenhang, der in Ihrer Frage unterstellt wird, ist jedenfalls in ermittlungstechnischer Hinsicht sehr schwer
aufzustellen und nachzuweisen.
Die Frage 2 des Kollegen Memet Kilic und ebenso
die Fragen 3 und 4 des Kollegen Winfried Hermann werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut
Koschyk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Welche schriftlichen und mündlichen Absprachen/Vereinbarungen/({0})Verträge/Term Sheets etc. hat es in dieser Legislaturperiode zwischen der Bundesregierung und den vier
großen Energieversorgern - einzeln oder gemeinsam - gegeben?
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Höhn, ich darf Ihre
Frage wie folgt beantworten: Das Bundesministerium
der Finanzen hat mit den Betreibergesellschaften der
Kernkraftwerke in Deutschland im Zusammenhang mit
der Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke
entsprechend den Festlegungen im Koalitionsvertrag
eine vertragliche Vereinbarung verhandelt, die die Abschöpfung eines wesentlichen Teils der Zusatzgewinne
aus der Laufzeitverlängerung sicherstellt. Die Einnahmen aus dieser Vereinbarung werden vollständig dem
neuen Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“ zufließen und zur Verstärkung von Maßnahmen insbesondere in den Bereichen Energieeinsparung und erneuerbare Energien eingesetzt.
Der Vertrag wurde am 28. September 2010 von den
beauftragten Anwaltskanzleien paraphiert und den Fraktionen zugeleitet. Darüber hinaus ist er wie auch das sogenannte Term Sheet vom 6. September 2010 im Internet
einzusehen. Die Fragen der Gewinnabschöpfung sind mit
diesem Vertrag geregelt. Es gibt zu diesem Vertrag über
den üblichen Begleitschriftverkehr hinaus - zum Beispiel
Benennung des Kontos, Adressen, Beispielsrechnungen,
Fixierung von Auslegungsfragen - keine Nebenabsprachen mit den Energieversorgungsunternehmen.
Die Frage, ob es darüber hinaus schriftliche oder
mündliche Absprachen, Vereinbarungen, Vorverträge,
Term Sheets usw. in dieser Legislaturperiode zwischen
der Bundesregierung und den vier großen Energieversorgungsunternehmen einzeln oder gemeinsam gegeben
hat, habe ich sämtlichen Ressorts und dem Kanzleramt
vorgelegt. Bezogen auf die obersten Bundesbehörden
und unter Ausklammerung der üblichen Energiebezugsverträge kann ich Ihnen mitteilen, dass es einzelne Vereinbarungen gegeben hat, so zum Beispiel die der Bundesregierung mit Vattenfall im Zusammenhang mit dem
Bau des Kraftwerks Hamburg-Moorburg; zudem wurde
eine Vereinbarung über die Beendigung des Schiedsverfahrens Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Weltbankschiedsgericht geschlossen.
Aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden
Zeit für die Beantwortung Ihrer Frage kann ich nicht
ausschließen, dass es außerhalb dieses Bereichs der
Laufzeitverlängerung weitere Vereinbarungen ähnlicher
Art gegeben hat.
Eine Nachfrage, Frau Höhn.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Es hat im
Umfeld der Veröffentlichung dieser Geheimvereinbarungen Aussagen von Politikern gegeben, es dürften keine
Geschäftsgeheimnisse öffentlich gemacht werden. Können Sie hier noch einmal deutlich darstellen, ob die Antwort, die Sie mir eben gegeben haben, es habe keinerlei
weitere Absprachen oder Vereinbarungen außer den von
Ihnen eben genannten gegeben, auch bedeutet, dass es
daneben keine weiteren Vereinbarungen gegeben hat, die
man jetzt nicht benennt, weil darin Geschäftsgeheimnisse enthalten sind?
Frau Kollegin, ich habe deutlich gemacht, dass es sich
bei diesem Vertrag nach seiner Paraphierung in keiner
Weise um irgendein Geheimdokument gehandelt hat;
vielmehr ist dieser Vertrag den Fraktionen zugeleitet
worden. Außerdem ist er mit dem sogenannten Term
Sheet im Internet einsehbar. Es gibt keine in diesem Zusammenhang getätigten Nebenabreden, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden sind.
Frau Höhn, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte
sehr.
Der Geheimvertrag mit den Energiekonzernen ist ein
rechtsverbindlicher Vertrag, in dem geregelt wird, dass
die Unternehmungen Zahlungen leisten und dafür eine
Gegenleistung des Staates bekommen: Laufzeitverlängerungen, eine unternehmensfreundliche Gesetzgebung.
Hat es so etwas - Zahlungen und als Gegenleistung eine
unternehmensfreundliche Gesetzgebung - bisher jemals
gegeben, oder ist das ein verfassungsrechtliches Novum?
Wir sehen in diesem Sachverhalt kein verfassungsrechtliches Novum. Es hat auch zu früheren Zeiten vertragliche Abmachungen zwischen den damaligen Bundesregierungen mit der Energiewirtschaft in Deutschland
gegeben.
({0})
Vor diesem Hintergrund kann man das nicht als Novum
ansehen.
Wir kommen zur Frage 6 des Abgeordneten HansChristian Ströbele:
Inwieweit bestätigt die Bundesregierung die Angaben des
Vorsitzenden des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung,
Florian Toncar, wonach der Bund von den allein 2009 in die
Hypo Real Estate Holding, HRE, investierten 6 Milliarden
Euro nun 4,75 Millionen Euro bzw. 80 Prozent abgeschrieben
habe und von den gesamten Kapitalhilfen des Bundes für die
HRE 8 Milliarden Euro verloren seien ({0}), und wie bewertet die Bundesregierung angesichts der von der EU-Kommission geäußerten Zweifel an der
längerfristigen Überlebensfähigkeit der HRE das Risiko für
die Staatsfinanzen und den Steuerzahler, dass zusätzlich Kapitalhilfen aus Steuermitteln verloren sind und die Garantiezahlungen an die HRE von inzwischen 142 Milliarden Euro zulasten des Bundeshaushalts fällig werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ströbele, vorab möchte ich darauf hinweisen - das soll jetzt nicht belehrend sein, sondern nur
informativ -, dass der Kollege Toncar nicht SoFFinVorsitzender ist; Herr Kollege Toncar ist vielmehr der
Vorsitzende des auf Grundlage von § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes eingerichteten parlamentarischen Gremiums, das vom Bundesministerium der Finanzen stets über sämtliche den SoFFin betreffenden
Fragen unterrichtet wird. Die Verwaltung des SoFFin
obliegt der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung,
die wiederum von einem dreiköpfigen Leitungsausschuss geführt wird. Dessen Sprecher ist Herr Professor
Dr. Hannes Rehm.
Es ist zunächst nicht Aufgabe der Bundesregierung,
Aussagen des Vorsitzenden eines parlamentarischen Gremiums zu kommentieren. Zutreffend ist jedoch, dass die
Beteiligung des SoFFin an der HRE und deren Tochter
Deutsche Pfandbriefbank AG von rund 6,3 Milliarden
Euro im Jahr 2009 insgesamt um 4,75 Milliarden Euro
gemindert wurde. Dies entspricht einer Abschreibung
von rund 75 Prozent. Diese Wertberichtigung wurde bereits am 21. Mai 2010 in einer Pressemitteilung des
SoFFin öffentlich mitgeteilt.
Zu Ihrer zweiten Teilfrage. Das Gesamtergebnis des
Engagements des Bundes bei der HRE kann erst nach
der vollständigen Verwertung der im Rahmen der Übertragung in die Abwicklungsanstalt übernommenen Vermögenswerte sowie nach der Reprivatisierung der Deutschen Pfandbriefbank beziffert werden. Zum heutigen
Zeitpunkt ist hierzu keine seriöse Aussage möglich. Die
Bundesregierung wird jedoch einen möglichen Verlust
des Bundes im Interesse des Steuerzahlers so gering wie
möglich halten. Die durch den SoFFin garantierten, von
der HRE zur Liquiditätsbeschaffung emittierten Wertpapiere haben aktuell ein Volumen von rund 124 Milliarden Euro und wurden vollständig auf die Abwicklungsanstalt der HRE übertragen. Der HRE stehen keine
SoFFin-Garantien mehr zur Verfügung. Damit entstehen
aus der weiteren Entwicklung der HRE insoweit keine
Risiken für den SoFFin.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Erst einmal danke für die Korrektur; ich übernehme
sie gerne.
Mir kam es darauf an, die Sachkunde des Kollegen zu
betonen, der Aussagen zu dieser HRE-Übertragung gemacht hat. Er hat Zweifel an der längerfristigen Überlebensfähigkeit der HRE geäußert. Es ist doch eine ziemlich bedrohliche Aussage, wenn jemand sagt, dass es
möglicherweise nicht mehr um Garantieerklärungen im
Zusammenhang mit dem SoFFin geht, sondern um Garantien, die der Bund als Eigentümer zu tragen hat. Das
heißt, der Bund ist damit nicht aus dem Schneider, sondern eher noch stärker verpflichtet. Wenn sich diese
Aussage also bewahrheiten sollte, dann sind der Bund
und damit der Steuerzahler finanziell noch unmittelbarer
als nur durch die Garantieerklärung betroffen.
Ich darf vielleicht nochmal darauf hinweisen: Am
letzten Wochenende fand eine der größten Finanztransaktionen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland statt, nämlich die Auslagerung der schlechten Assets, der sogenannten toxischen Produkte, von der HRE
auf eine sogenannte Bad Bank. Diese Transaktion ist erfolgreich abgeschlossen. Es verbleibt jetzt die „RestHRE“, die Deutsche Pfandbriefbank. Wir gehen davon
aus, dass es hier eine entsprechende Begleitung durch
den SoFFin, aber auch den Bundestag geben wird. Auch
als Bundesregierung werden wir unseren Beitrag dazu
leisten, dass diese „gesunde Restbank“ Deutsche Pfandbriefbank eine gute Zukunftsperspektive hat. Es ist dann
ja auch deren Privatisierung vorgesehen.
Im Übrigen, Herr Kollege Ströbele, darf ich auch darauf hinweisen, dass die Maßnahmen, die Voraussetzung
für diese Auslagerung der schlechten Assets aus der
HRE auf diese sogenannte Bad Bank gewesen sind, von
der Europäischen Kommission genehmigt worden sind.
Natürlich steht jetzt noch eine Entscheidung der Kommission im Hinblick auf die weitere Begleitung dieser
Restbank aus. Aber auch hier sind wir zuversichtlich,
dass wir Einvernehmen mit der Europäischen Kommission herstellen werden.
Herr Ströbele.
Geben Sie mir recht, dass die Europäische Kommission im Hinblick auf die Frage, ob sie das richtig oder
falsch findet, genehmigt oder nicht genehmigt, weniger
als die Bundesregierung die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Steuerzahler in Deutschland
im Auge hat?
Herr Ströbele, aus allen vergleichbaren Vorgängen
- auch den Vorgängen um die HRE - kann ich Ihnen nur
die Erfahrung vermitteln, dass die Europäische Kommission all diese Verfahren sehr, sehr kritisch begleitet. Es
geht auch um eine Beihilfeproblematik. Insofern gehen
wir mal nicht davon aus, dass der Eindruck, den Sie
durch Ihre Frage vermitteln, dass die Europäische Kommission hier im Hinblick auf das Interesse des deutschen
Steuerzahlers vielleicht weniger kritisch als die Bundesregierung und das Parlament ist, zutreffend ist. Die Europäische Kommission geht sehr kritisch, sehr sensibel
und sehr penibel mit all diesen Vorgängen um.
Die Fragen 7 und 8 der Abgeordneten Britta Haßelmann,
die Frage 9 des Abgeordneten Stefan Schwartze, die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Klaus Hagemann, die
Frage 12 der Abgeordneten Dr. Barbara Höll sowie die
Frage 13 der Abgeordneten Sabine Zimmermann werden
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Frage 14 des Abgeordneten Heinz Paula, die Fragen 15 und
16 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert sowie die Frage 17
der Abgeordneten Lisa Paus werden ebenfalls schriftlich
beantwortet.
Damit kommen wir zu den Fragen 18 und 19 des Kollegen Oliver Krischer. - Der Kollege Krischer ist nicht
anwesend.
({0})
- Er kommt gerade herein. Dann wollen wir das noch
gelten lassen.
({1})
Damit rufe ich die Frage 18 des Abgeordneten Oliver
Krischer auf:
Welche Kriterien bezüglich Wirkungsgrad und CCS-Fähigkeit - CCS: Carbon Capture and Storage - müssen erfüllt
sein, damit ein Kraftwerk nach Kapitel C. 2 des Energiekonzeptes durch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds förderfähig ist, und welche Unternehmen sind der Bundesregierung
bekannt, die solche Kraftwerke gegenwärtig bauen oder über
eine fortgeschrittene Planung verfügen?
Der Kollege Hintze steht zur Beantwortung bereit.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Herr Kollege
Krischer, bei der Förderung CCS-fähiger fossiler Kraftwerke müssen die Vorgaben des EU-Beihilferechts beachtet werden, das einen europaweit einheitlichen Rahmen für diese Art der Förderung vorgeben soll. Die
Europäische Kommission wird entsprechende Leitlinien
erarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass die Kommission die Aussagen ihrer Erklärung zu Art. 10 Abs. 3 der
Emissionshandelsrichtlinie zum Klima- und Energiepaket des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008
als Ausgangspunkt der Regelung nehmen wird. Die in
diesem Kontext erfolgenden weiteren Konkretisierungen
der Kommission werden ein zentraler Baustein des nationalen Förderkonzeptes sein.
Abschließende Aussagen zu den in Ihrer Frage genannten einzelnen Förderkriterien - Wirkungsgrad und
CCS-Fähigkeit - sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt
noch nicht möglich. Konkrete Projekte, die absehbar sicher unter die Förderfähigkeit fallen, können aus diesem
Grunde heute auch noch nicht benannt werden.
Herr Krischer, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte.
Da in der Energiewirtschaft durch die Laufzeitverlängerung eine erhebliche Verunsicherung besteht und etliche Projekte aus den Bereichen Kraftwärmekopplung,
konventionelle Kraftwerke und Gaskraftwerke infrage
gestellt worden sind - diese Teile der Energiewirtschaft
werden nicht von der Laufzeitverlängerung profitieren -,
wird man sehr genau darauf gucken, was nun in den anderen Bereichen von der Regierung geplant ist.
Dazu würde mich interessieren: Wann ist damit zu
rechnen, dass diese Vorgaben konkretisiert sind, damit
wieder ein Mindestmaß an Planungssicherheit erreicht
werden kann?
Zunächst einmal ist die Bundesregierung zuversichtlich, dass die Entscheidungen, wenn sie denn auf der europäischen Ebene getroffen sind, entsprechend genutzt
werden. Sie wissen: Die Bundesregierung beabsichtigt,
die im europäischen Energie- und Klimapaket vereinbarten Möglichkeiten gerade für diesen Kreis zu nutzen,
nämlich für den Kreis der Kraftwerksbetreiber, die zu
der deutschen Erzeugungskapazität zu weniger als
5 Prozent beitragen. Das sind im Wesentlichen die Stadtwerke, die kleineren Unternehmen. Wenn diese besondere Fördermöglichkeit konkretisiert ist, wird sie auch
Wirkung entfalten.
Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das gesamte Verfahren schildern und darstellen, wie in Brüssel der technische Ablauf ist. Aber ich weiß nicht, ob Sie das weiter
beruhigt. Wir leisten jedenfalls jeden Beitrag dazu, dass
es so schnell wie möglich geht. Aber es liegt jetzt in der
Hand der Europäischen Kommission. Wir brauchen eine
Regelung, nach der eine Beihilfe genehmigt werden
kann; das ist die Voraussetzung.
Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte sehr.
Deutschland ist in dem Zusammenhang kein unwichtiges Land. Wann konkret werden nach Einschätzung der
Bundesregierung die Förderregularien vorliegen? Das
frage ich vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass es
bereits CCS-Förderungen der Europäischen Union gibt
und alle Regularien eigentlich schon abgestimmt sind.
Wird das also Monate oder Jahre dauern? Wann wird insofern Klarheit herrschen?
Ich kann Ihnen eine konkrete Einschätzung nicht geben. Aber bei der Alternative „Monate oder Jahre“ sage
ich: Es wird sich sicher um den erstgenannten Zeitraum
handeln. Ich könnte Ihnen genau darstellen, wie das in
Brüssel entwickelt wird. Das dauert eine gewisse Zeit.
Alles, was wir dazu beitragen können, dass es zügig geht
und dass Rechtsklarheit geschaffen wird, leisten wir.
Aber das liegt eben in der Hand von Brüssel.
Dann kommen wir zur Frage 19 - sie wird ebenfalls
vom Kollegen Krischer gestellt -:
Welchen Zeitplan verfolgt die Bundesregierung gegenwärtig bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Demonstration
der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid, CCS-Gesetz,
und welche Auswirkungen hätte eine Verabschiedung des Gesetzes erst im Jahr 2011 auf die Förderfähigkeit des CCS-Demonstrationsprojektes in Jänschwalde durch Mittel aus dem
europäischen Emissionshandel?
Herr Kollege Krischer, die Bundesregierung wird
kurzfristig einen CCS-Gesetzentwurf beschließen. Wir
gehen davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahren im
Frühjahr 2011 abgeschlossen werden kann. Damit wäre
die notwendige Voraussetzung für eine mögliche Förderfähigkeit des von Ihnen angesprochenen Projektes gegeben. Unabhängig davon ist die europäische CCSRichtlinie bis zum 25. Juni 2011 in nationales Recht umzusetzen. Es sind also zwei verschiedene Fristen, die
man im Blick haben muss.
Herr Krischer.
Herr Staatssekretär, danke für die Auskunft. - Es war
ursprünglich vorgesehen, das Bundeskabinett am
28. September dieses Jahres mit dem CCS-Gesetzentwurf zu befassen. Sie haben eben gesagt, Sie rechneten
damit, dass das Gesetzgebungsverfahren im Frühjahr 2011
abgeschlossen werden kann. Das ist aber etwas, was im
Wesentlichen der Bundestag entscheidet. Meine Frage
ist jetzt: Für wann ist die Beschlussfassung im Kabinett
vorgesehen?
Die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung befindet sich in der abschließenden Phase. Ich hoffe, dass
wir das Kabinett sehr bald mit dem Gesetzentwurf befassen können, kann Ihnen aber heute noch kein genaues
Datum nennen.
Sie haben noch eine Frage. Herr Krischer.
Ich habe noch eine Nachfrage zum Zeitplan. Sie haben eben von einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens im Frühjahr gesprochen. Ich habe das so verstanden, dass damit die Beschlussfassung im Bundestag
gemeint ist. Dieses Gesetz bedarf aber in jedem Fall der
Zustimmung durch den Bundesrat. Bezog sich die Angabe „im Frühjahr“ auch auf den Bundesrat oder nur auf
den Bundestag?
Sie haben sich in Ihrer Ursprungsfrage danach erkundigt, ob das Projekt noch in die entsprechende europäische Förderung hineinkommt und welcher Zeitablauf dafür notwendig ist; das hängt inhaltlich zusammen. Um in
die Förderung hineinzukommen, muss das Gesetzgebungsverfahren im Frühjahr abgeschlossen sein. Hintergrund ist folgender: Ein Antrag auf Mittel der Europäischen Investitionsbank muss innerhalb eines halben
Jahres nach dem Call, also nach dem Aufruf, gestellt
werden. Der Aufruf ist noch nicht erfolgt. Aber wir können davon ausgehen, dass er noch im Oktober erfolgt,
vielleicht ein bisschen später. Ein halbes Jahr später
müssen wir, wenn es möglich sein soll, diese Mittel in
Anspruch zu nehmen, das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen haben. Das ist eine auf den Sachverhalt bezogene Stellungnahme. Wenn das Gesetzgebungsverfahren bis dahin abgeschlossen ist, wie wir es erhoffen,
dann besteht diese Fördermöglichkeit. Wenn es länger
dauert, gibt es diese spezielle Fördermöglichkeit nicht.
Davon unabhängig ist Deutschland aufgefordert, um
sich vertragsgemäß zu verhalten, die CCS-Richtlinie bis
zum 25. Juni 2011 in nationales Recht umzusetzen.
Wenn wir das erst zu diesem letztmöglichen Zeitpunkt
täten, der Call aber jetzt im Oktober noch käme, dann
wäre das im Sinne Ihrer Frage zu spät, um noch Fördermöglichkeiten zu eröffnen.
Die Frage 20 des Abgeordneten Dr. Konstantin von
Notz, die Fragen 21 und 22 des Abgeordneten Garrelt
Duin sowie die Frage 23 des Abgeordneten Hans-Josef
Fell werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Frage 24 der Abgeordneten Sabine Zimmermann
wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zur Frage 25 der Abgeordneten
Anette Kramme:
Zu welchen Ergebnissen für die Höhe der Regelbedarfe - in
Euro - kommt die Bundesregierung auf Grundlage der beim
Statistischen Bundesamt in Auftrag gegebenen Sonderauswertungen für ein Perzentil von 10 Prozent, 15 Prozent und
20 Prozent der nach dem Nettoeinkommen geschichteten
Haushalte sowie der Einkommensgruppe unterhalb von
60 Prozent des Medians der Nettoeinkommen?
Frau Kollegin Kramme, für die Einpersonenhaushalte
wurden lediglich die Referenzgruppen von 15 und 20 Prozent der zu berücksichtigenden Haushalte detailliert ausgewertet und die übrigen Referenzgruppen nicht mehr
betrachtet. Daraus ergibt sich der Regelbedarf für alleinlebende Erwachsene ab 1. Januar 2011 in Höhe von
364 Euro bei Nutzung der 15-Prozent-Referenzgruppe,
die zu einer Gesamtberücksichtigung von etwas mehr als
dem gesamten unteren Quintil führt.
Bei den Familienhaushalten wurden lediglich die Daten der 20-Prozent-Referenzgruppe detailliert berechnet. Von einer genauen Prüfung der übrigen Referenzgruppen wurde abgesehen, da bereits überschlägige
Berechnungen zeigten, dass die anderen drei Referenzgruppenabgrenzungen zu niedrigeren Regelsätzen geführt hätten.
Eine Nachfrage? - Keine Nachfrage.
Dann sind wir schon bei Frage 26 der Abgeordneten
Anette Kramme:
Nach welchem methodischen Verfahren werden die Referenzhaushalte nach § 3 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
({0}) gebildet, und wie begründet es die Bundesregierung, dass für die Einpersonenhaushalte die unteren
15 Prozent und für die Familienhaushalte die unteren
20 Prozent der nach der Einkommenshöhe geschichteten
Haushalte als Referenzhaushalte verbleiben?
Frau Kollegin Kramme, wie bei allen vorhergehenden
Neubemessungen wurden zur Bestimmung der Referenzhaushalte zunächst die Haushalte aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgeschlossen, für die
die Ermittlung der Regelbedarfe erfolgt, und dann die
Referenzgruppe festgelegt. Das ist auch nachzulesen in
den Erläuterungen im konsolidierten Referentenentwurf
auf den Seiten 82 f. und 129 ff.
Bei der Festlegung der Referenzgruppe sind nicht nur
deren Umfang, sondern auch deren Lage innerhalb der
Einkommensschichtung und die Höhe der durchschnittlichen Konsumausgaben der Referenzgruppe zu berücksichtigen. Beides wird durch die Zahl der vorab ausgeschlossenen Haushalte wesentlich mitbestimmt. Da sich
die relative Zahl dieser ausgeschlossenen Haushalte bei
den Einpersonen- und Familienhaushalten deutlich unterscheidet, ist es gerechtfertigt, dies beim Umfang der
Referenzgruppen zu berücksichtigen.
Sowohl die Referenzgruppe der Einpersonenhaushalte als auch diejenige der Familienhaushalte liegen unter Einrechnung der ausgeschlossenen Haushalte mit ihrer Obergrenze über der Grenze des unteren Quintils der
nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte.
Frau Hiller-Ohm, bitte.
Herr Staatssekretär, ich habe eine Nachfrage dazu:
Können Sie ausführen, wie sich die Referenzgruppen zusammensetzen, also wie viele Männer und Frauen, wie
viele Rentnerinnen und Rentner oder wie viele Studentinnen und Studenten darin zum Beispiel enthalten sind?
Wie stellen Sie - nachvollziehbar - sicher, dass es keine
Zirkelschlüsse gibt und dass verdeckte Armut herausgerechnet wird?
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie können davon ausgehen, dass wir, wie auch erläutert, Zirkelschlüsse ausgeschlossen haben, indem wir die Haushalte herausgerechnet haben, die nur von Transfereinkommen leben, weil
diese ja genau die Zielgruppe der Maßnahme sind, die
wir ergriffen haben. Es wird auch im Referentenentwurf
dargestellt, dass aus unserer Sicht das von Ihnen angesprochene Thema der sogenannten verdeckten Armut
nach allem, was wir wissen, wenn es denn eine Rolle
spielen sollte, jedenfalls keine statistisch signifikante
Rolle an dieser Stelle spielt.
Wir können das alles mit den uns zur Verfügung stehenden Methoden nicht im Einzelnen untersuchen.
Wenn beispielsweise ein Haushalt über weniger Einkommen verfügt, als ihm nach den Regelsätzen zustünde, müsste dann ja erst einmal geprüft werden, ob
beispielsweise Vermögen vorhanden ist, das dazu führt,
dass eben keine ergänzenden Leistungen nach dem
SGB II zur Verfügung gestellt werden.
Im Ergebnis gehen wir aufgrund der Untersuchung,
die ja nicht wir durchgeführt haben, sondern die zuständigen Experten beim Statistischen Bundesamt, davon
aus, dass die von Ihnen angesprochenen Zirkelschlüsse
genau vermieden werden.
Herr Straubinger, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass für
die unteren Einkommensgruppen auch Berufe mit niedrigen Tarifeinkünften zugrunde gelegt worden sind und
damit letztendlich die reale Arbeitswelt widergespiegelt
wird?
Das kann ich bestätigen, Herr Kollege Straubinger. Es
geht bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe,
die diesen Regelsätzen zugrunde liegt, genau nicht, anders als beim früheren Warenkorbmodell, darum, welche
Ausgaben wir uns wünschen würden. Im Ausschuss hat
es beispielsweise einmal die Kritik gegeben, dass Ausgaben für bestimmte Güter rund um das Fahrrad nicht
einzeln aufgeführt worden sind. Der Grund lag darin,
dass nur relativ wenige Haushalte diese Ausgabe getätigt
haben. Dann entscheiden wir nicht normativ, dass es
mehr Radfahrer in Deutschland geben muss; vielmehr
akzeptieren wir dieses Konsumverhalten, weil es eben
das ist, was sich real widerspiegelt und wo das zum Ausdruck kommt, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbstständige und viele andere, die ihr Einkommen aus eigener Kraft erarbeiten, zur Verfügung haben
oder eben nicht.
Frau Kramme.
Herr Brauksiepe, ich habe noch eine weitere Frage.
Wir haben das Problem, dass der Niedriglohnsektor in den
letzten Jahren sehr intensiv gewachsen ist. Sie nehmen bei
den Einpersonenhaushalten nur noch die untersten 15 Prozent als Bezugsgruppe. Wie wollen Sie sicherstellen, dass
deren Einkommen tatsächlich bedarfsdeckend ist? Welche Vorkehrungen haben Sie diesbezüglich getroffen?
Frau Kollegin Kramme, ich habe darauf hingewiesen,
dass wir zur Vermeidung von Zirkelschlüssen
({0})
die Haushalte herausgerechnet haben, die ausschließlich
von Transfereinkommen leben. Das ist eine klare Abgrenzung, die in der Vergangenheit nicht in dieser Trennschärfe vorgenommen worden ist. Bei der Auswertung
der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe im Jahr
2003 sind nur 0,5 Prozent der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen herausgenommen worden. Das heißt, wir
haben damals praktisch nur das unterste Quintil abgebildet, 20,4 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte. Indem wir jetzt die untersten 8,6 Prozent der Haushalte herausgerechnet haben, da diese ausschließlich von
Transfers leben, und von den dann verbleibenden Einkommen die untersten etwa 15 Prozent zugrunde gelegt
haben, haben wir deutlich mehr als das unterste Einkommensquintil für die Berechnung herangezogen, nämlich
bis zu 22,3 Prozent der Einkommen.
Das heißt, mit der heutigen Referenzgruppe sind
mehr, auch höhere, Einkommen berücksichtigt worden
als in der Vergangenheit. Aber auch das von der früheren
Leitung gewählte Verfahren ist bei Ihnen nach meiner
Erinnerung auf keinerlei Kritik gestoßen.
Frau Kramme, Sie wollen noch eine Frage stellen? Bitte schön, das dürfen Sie.
Vielen Dank. - Herr Brauksiepe, ich denke, es besteht
Konsens darüber, dass für die Berechnung einer Sozialleistung dem Grunde nach keine Sozialleistungsempfänger herangezogen werden können. Einerseits sagen Sie,
die Gruppe sei größer geworden; andererseits betrachten
Sie aber nur noch 15 Prozent, während es in der Vergangenheit 20 Prozent waren. Aber methodisch ist das doch
die gleiche Vergleichsgruppe; sowohl damals als auch
aktuell sind die Sozialleistungsempfänger herausgenommen worden. Nur das kann man aber doch im Prinzip
miteinander vergleichen, wenn ich das richtig verstehe.
Da würde ich noch einmal um nähere Erläuterung bitten.
Frau Kollegin Kramme, ich habe nicht gesagt, dass die
Gruppe größer geworden ist. Vielmehr habe ich Sie darauf hingewiesen, dass wir mit der Referenzgruppe dadurch, dass jetzt die einkommensschwächsten 8,6 Prozent bei der Betrachtung außen vor bleiben, während es
damals nur die schwächsten 0,5 Prozent waren, in Einkommensschichten vorstoßen, die mehrere Prozentpunkte
oberhalb des untersten Einkommensquintil liegen, wo wir
eben höhere Einkommen berücksichtigen, als das vor
fünf Jahren der Fall war. Nicht mehr und nicht weniger
habe ich gesagt.
Herr Herzog.
Herr Staatssekretär, Sie haben mehrfach betont, dass
Sie die Personen, die ausschließlich von Transfereinkommen leben, aus der Referenzgruppe ausgeschlossen
haben, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Können Sie mir
methodisch begründen, warum Sie Menschen, die ein
zusätzliches Transfereinkommen bekommen haben - die
sogenannten Aufstocker -, in der Referenzgruppe belassen haben?
Weil das Personen sind, die nicht die Zielgruppe des
Gesetzes sind, das wir einbringen. Wir bringen ein Gesetz
ein, mit dem wir die Vorgaben des Bundesverfassungsge6728
richts zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums umsetzen. Die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums sollte jedoch schon in
der Vergangenheit und soll bis heute im Wesentlichen auf
den gesetzlichen Vorgaben basieren, die die Regierung
Schröder seinerzeit verabschiedet hat. Auf Grundlage
dieser Vorgaben soll auch heute das Existenzminimum im
Wesentlichen sichergestellt werden; wir nehmen jetzt die
Korrekturen vor, die das Bundesverfassungsgericht vorgibt. Das heißt, die Zielgruppe des Gesetzentwurfs sind
die Menschen, die von Transfereinkommen leben; deren
menschenwürdiges Existenzminimum ist sicherzustellen.
Darum berücksichtigen wir in der Referenzgruppe diejenigen, deren Einkommen und damit deren Konsummöglichkeiten größer sind als in der Personengruppe, die wir
bei der Berechnung ausschließen. Wir berücksichtigen
natürlich die von Ihnen angesprochenen sogenannten
Aufstocker und ihr Konsumverhalten.
Der Kollege Straubinger.
Herr Staatssekretär, die Kollegin Kramme fragt immer wieder nach der Methode und nach dem Umfang der
Gruppe, die die Grundlage der Auswertung darstellt. Ist
es nicht methodisch und vom Ergebnis her besser, die
Gruppe bei der Berechnung auszuschließen, die von Sozialleistungen leben, damit hier ein reelles Ergebnis zustande kommt, auch wenn die Referenzgruppe dadurch
insgesamt vielleicht ein bisschen kleiner ist?
Herr Abgeordneter, Sie haben vollkommen recht. Es
geht darum - das steht selbstverständlich im Einklang
mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts -, hier
einen Lohnabstand zu gewährleisten. Das heißt, dass
diejenigen, deren Einkommen oberhalb des Transferbezugs liegt, größere Konsummöglichkeiten haben sollen
als diejenigen, die ausschließlich von Transfereinkommen leben und die - ich sage es noch einmal - Zielgruppe dieses Gesetzentwurfes sind, für die wir dieses
Gesetz also machen.
Frau Mattheis.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie ergänzend fragen:
Sind in der Bezugsgruppe auch Aufstocker, die - ich
sage das ganz bewusst - rein theoretisch eine zusätzliche
Einnahme von 1 Euro erzielen?
Frau Kollegin, ich persönlich kenne keinen Aufstocker, der eine Zusatzeinnahme von 1 Euro hat; möglicherweise ist Ihr Kenntnisstand hier anders. In der Tat:
Weil wir - ich habe das schon gesagt - nur diejenigen aus
der Referenzgruppe herausnehmen, die ausschließlich
von Transfereinkommen leben, und damit nur diejenigen
als Referenzgruppe betrachten, deren Einkommen oberhalb des ausschließlichen Transfereinkommens liegt,
würde - um Ihr Beispiel weiterzuführen - auch jemand,
der nur einen 1-Cent-Job hat - vielleicht kennen Sie im
Gegensatz zu mir auch solche Menschen -, nicht ausgenommen.
({0})
Der 1-Cent-Jobber wäre dann also nicht ausgenommen;
auch er wäre in der Referenzgruppe, deren Konsumverhalten wir zur Ermittlung des Regelbedarfs herangezogen haben.
Frau Mast.
Herr Staatssekretär, inwiefern ist bei der Referenzgruppe dafür Sorge getragen worden, dass die Menschen, die in verdeckter Armut leben - diejenigen, deren
monatliches Einkommen unter dem Niveau der Transfermittel liegt -, nicht in der Statistik berücksichtigt werden?
Frau Kollegin Mast, ich sagte schon, dass wir nach
den uns vorliegenden Informationen - wie in der Begründung des Referentenentwurfs ausgeführt - keine
Anhaltspunkte dafür haben, dass es sich hier um eine
statistisch signifikante Gruppe handelt. Insbesondere haben wir keine Daten zu dieser Gruppe. Wir generieren
die Daten nicht selber, sondern wir bekommen sie vom
Statistischen Bundesamt geliefert. Vor diesem Hintergrund haben wir entsprechende Ausführungen im Referentenentwurf gemacht, die ich Ihnen kurz zusammengefasst habe.
Herr Juratovic.
Herr Staatssekretär, wie hoch ist der prozentuale Anteil der Aufstocker in der Bezugsgruppe?
Herr Kollege Juratovic, die Frage kann ich Ihnen
nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob bereits differenzierte Daten darüber vorliegen, welche Berufsgruppen in
diese Referenzgruppe eingeflossen sind. Nach meinem
Kenntnisstand war es so, dass wir aus zeitlichen Gründen - für das Gesetzgebungsverfahren wurde uns eine
Frist gesetzt - das Statistische Bundesamt darum gebeten haben, uns die Daten möglichst schnell zu liefern.
Ich weiß nicht, ob solche differenzierten Daten vorliegen. Mit sind sie jedenfalls nicht bekannt.
Die Fragen 27 und 28 der Abgeordneten Elke Ferner
sowie die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Anton
Schaaf werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 31 des Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann auf:
Warum verzichtet die Bundesregierung darauf, dafür zu
sorgen, dass - unter Beteiligung der Bundesländer und Kommunen - Leistungen für Bildung und Teilhabe von Kindern
über die Schulen und Kindertagesstätten unter Einbeziehung
der Jugendämter organisiert werden, zumal so alle Kinder
- und nicht nur diejenigen in Bedarfsgemeinschaften nach
dem SGB II und SGB XII - erreicht werden können?
Ich antworte Ihnen wie folgt: Die Leistungen für Bildung und Teilhabe sind bedarfsauslösend ausgestaltet,
das bedeutet: Kinder aus Familien, die ihren Bedarf
grundsätzlich aus eigenen Kräften und Mitteln decken
können, nicht aber die Leistung für Bildung und Teilhabe, haben ebenfalls einen Anspruch auf diese Leistung. Das ist ein großer Gewinn für die Kinder aus Familien, deren Einkommen knapp oberhalb der bisherigen
Bedürftigkeitsschwelle liegt. Dadurch wird eine Besserstellung von Kindern und Jugendlichen aus Familien, die
Leistungen nach SGB II beziehen, gegenüber anderen
Familien aus dem unteren Einkommenssegment vermieden.
Des Weiteren handelt es sich bei den Bildungs- und
Teilhabeleistungen um existenzsichernde Leistungen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der
Bund für einlösbare Ansprüche zu sorgen. Zusätzliche
Leistungen und Angebote der Länder und Kommunen
sind dabei sehr willkommen, um eine breite Förderung
von Kindern und Jugendlichen zu erreichen.
Herr Rossmann, könnten Sie mit Ihrer Frage kurz
warten? Die Kollegin Kramme hat eine Nachfrage.
Herr Brauksiepe, wie wollen Sie sicherstellen, dass
das Teilhabepaket von Kindern, deren Eltern Leistungen
nach dem SGB II beziehen, tatsächlich in Anspruch genommen werden kann, wenn über dieses Teilhabepaket
beispielsweise nicht auch die Kosten für Sportausrüstung, Mobilitätskosten oder die Anschaffung eines Musikinstruments finanziert werden können?
Frau Kollegin Kramme, ich stelle mit Interesse fest,
dass Sie sich und mir Fragen stellen, die Sie in der Vergangenheit nach meiner Kenntnis nicht beschwert haben.
Wir gewährleisten Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche in einem Gesamtumfang von ungefähr 620 Millionen Euro. Wir stellen im Wesentlichen - bis auf das
Schulstarterpaket, das es schon gab - zusätzliche Leistungen bereit. Natürlich können Sie fordern: Das muss noch
mehr sein! Aber die Kinder des Maurergesellen, der Verkäuferin oder der Kellnerin, die ein Musikinstrument erlernen wollen, haben auch keinen Anspruch darauf, dass
Ihnen das Klavier oder andere Instrumente vom Steuerzahler bezahlt werden.
Wir unterbreiten einen konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen.
Es muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass diese Leistungen auch in Anspruch genommen
werden. In der Vergangenheit hat es einen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und anderen Steuerzahlern
zu finanzierenden Anspruch auf das Erlernen eines bestimmten Musikinstruments, sei es die Orgel oder das
Klavier, auch nicht gegeben. Er ist auch nicht vorgesehen,
weil wir - das betone ich noch einmal - vom tatsächlichen Konsumverhalten der einkommensschwächeren
Haushalte ausgehen, die ihr Einkommen durch eigene
Arbeit erwirtschaften, aber Einschränkungen unterliegen
und sich nicht alles leisten können, was sie gerne wollen.
Wir sind nicht der Meinung, dass man sich ohne Arbeit mehr leisten können soll als mit Arbeit.
Herr Rossmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben auf eine Frage, die
exakt gestellt war, allgemeinpolitisch geantwortet. Das
entspricht auch ein bisschen der Melodie, die die Arbeitsministerin den ganzen Sommer über angeschlagen
hat. Da war zwar uneingeschränkt von Musikinstrumenten und anderem die Rede, aber ausdrücklich nicht von
Orgeln. An dieser Stelle wählen Sie Vergleiche und Unterstellungen, die abseitig sind. Das sollten Sie bei diesem gemeinsamen Anliegen nicht tun.
Ich stelle deshalb meine Frage nicht rückwärtsgewandt, sondern beziehe sie auf das, was das Bundesverfassungsgericht uns allen zum 1. Januar 2011 aufgegeben hat. Wie wollen Sie organisatorisch dazu beitragen,
dass die Argen nicht nur reine Zahlstellen sind, sondern
tatsächlich eine Unterstützung und Beratung für Familien darstellen, die die Teilhabeleistung für ihre Kinder
bekommen sollen? Glauben Sie, dass dies mit dem Hinweis auf die Argen allein schon erreicht ist? Muss an
dieser Stelle nicht eher der Sachverstand der kreisbezogenen Jugendämter bzw. anderer sachkundiger Stellen
hinzugezogen werden? Wie haben Sie diese einbezogen?
Herr Kollege Rossmann, zunächst einmal will ich Ihnen sagen: Nicht nur ich habe Musikunterricht mit Instrumenten gehabt, die man bei der Musikschule kostenlos leihen konnte. Ich habe gehört, dass es so etwas auch
heute noch gibt. Ich glaube nicht, dass das menschenunwürdig ist. Ich selbst habe es als Musikschüler nicht als
menschenunwürdig empfunden, dass mir leihweise ein
Musikinstrument kostenlos zur Verfügung gestellt
wurde. Ich halte es für sinnvoll, dass wir uns bei unseren
Forderungen auch immer ein bisschen am realen Leben
der arbeitenden Menschen orientieren.
Sie haben völlig recht, was die Vernetzung mit Jugendämtern angeht. Es geht hier um eine große Gemeinschaftsanstrengung. Ich wäre dankbar, wenn wir mehr
darüber reden könnten. Es geht nicht darum, dass die
Jobcenter alles machen sollen. Die Familien sind weiterhin gefordert. Die Schulen sind gefordert. Die Jobcenter
sind gefordert. Die kommunalen Akteure sind gefordert.
Sie haben gemeinsam mit dem Rathaus, den Jugendämtern, den Sozialämtern und anderen Ämtern die gemeinsame Aufgabe, Kindern Bildungs- und Teilhabechancen
zu ermöglichen. Das ist völlig richtig.
Ich sage es noch einmal: Das zusätzliche Engagement
von Ländern und Kommunen ist willkommen. Wir machen diesen Gesetzentwurf aber, weil wir klare Vorgaben
vom Bundesverfassungsgericht über unsere Aufgabe haben. Unsere Aufgabe ist es beispielsweise nicht, dafür zu
sorgen, dass alle Kinder in Deutschland ein Mittagessen
in Kitas und Schulen bekommen, in denen eigentlich
kein Ganztagsunterricht vorgesehen ist. Unsere Aufgabe
ist es, dafür zu sorgen - das ist der Unterschied zwischen
unserer Aufgabe und der der anderen Institutionen -,
dass niemand aufgrund von Einkommensarmut davon
ausgeschlossen ist. Wir sind sehr für eine breite Vernetzung.
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir trotz
des Zeitdrucks vor Jahresende mit den gesetzgeberischen Arbeiten naheliegenderweise erst am Anfang stehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frist auf den
1. Januar 2011 in dem Wissen gesetzt, dass die Daten
aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erst zu
Beginn des Herbstes in der Form vorliegen, dass wir einen entsprechenden Referentenentwurf erstellen können.
Der Gesetzentwurf ist noch nicht beschlossen. Es gibt
jetzt schon Ankündigungen, man wolle diese Leistung
für Kinder im Bundesrat blockieren. Der Respekt vor
dem Gesetzgeber gebietet aber natürlich, dass man nicht
schon alles macht, bevor das Gesetzgebungsverfahren
stattfindet. Sie können aber sicher sein, dass wir in den
nächsten Wochen und Monaten sehr viel Zeit darin investieren werden, die jetzt anstehenden Dinge mit den
Akteuren vor Ort zu bereden und sie im Interesse der
Kinder einzubeziehen. Wir hoffen, dass diese zusätzliche
Leistung am Ende weder im Bundestag noch im Bundesrat blockiert wird.
Herr Dr. Rossmann.
Ich finde es sympathisch, dass Sie jetzt nicht mehr auf
dem Orgelniveau diskutieren, sondern das Beispiel eines
Instrumentenpools sachlich eingeführt haben. Sie haben
durchaus eine Bringschuld und eine Gesamtverantwortung in Bezug auf die Teilhabe, nicht nur monetär, sondern auch aufgrund der Gelegenheit. Meine Rückfrage
bezieht sich auf die bisherigen Gespräche zwischen der
Bundesregierung und den kommunalen Spitzenverbänden, die über Kinder- und Jugendämter die Expertise in
Bezug auf die Leistungsvermittlung haben. Was wurde
besprochen, und was hat man Ihnen empfohlen, um in
Bezug auf die Kinder- und Jugendteilhabe zu einer guten
Kooperation bei der Leistungsverwaltung zu kommen?
Das ist nichts, was erst noch passieren wird, sondern das
wird die Regierung sicherlich schon geleistet haben.
Herr Kollege Rossmann, meines Wissens finden auch
in diesen Tagen Gespräche über dieses Thema und über
andere Themen mit den Vertretern der von Ihnen angesprochenen kommunalen Spitzenverbände statt.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Mittagessen in Kitas und Schulen angesprochen. Wir alle wissen, dass es
leider kein flächendeckendes Ganztagsschulangebot in
Deutschland gibt. Das Bundesverfassungsgericht hat einen individuellen Rechtsanspruch der Kinder auf Teilhabe festgestellt. Aber nur 20 Prozent der Kinder werden
ein Mittagessen erhalten können, weil nur in diesem
Maße Plätze in Ganztagseinrichtungen vorhanden sind.
Wie bewerten Sie dieses Verhältnis? Ist es Ihrer Einschätzung nach im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, dass einige Kinder partizipieren können und andere nicht? Wäre es aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll, die
Kommunen zu unterstützen und mit ihnen gemeinsam
- Bund, Länder und Kommunen - ein Ausbauprogramm
für Kitas und Ganztagsschulen in Angriff zu nehmen?
Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich wiederhole, was ich
bereits ausgeführt habe. Wir tun das, was das Verfassungsgericht von uns verlangt. Das bedeutet: Teilhabe
ermöglichen. Zusätzliche Initiativen von Ländern und
Kommunen, auch private Initiativen, sind durchaus erwünscht.
Ich sage aber noch einmal: Zur Teilhabe gehört, dass
etwas vorhanden ist, an dem man teilhaben kann. Es gibt
nach wie vor Einrichtungen zur Kinderbetreuung - die
Bundesregierung nimmt hier keine Wertung vor, sagt
nicht, ob das gut oder schlecht ist -, in denen das Mittagessen nicht zum Standardangebot gehört, weil sich die
Betreuung auf den Vormittag konzentriert. Die frühere
nordrhein-westfälische Landesregierung beispielsweise
hat einen gesetzlichen Rahmen geschaffen, nach dem die
Eltern von Kindern im Kindergartenalter zwischen 25,
35 und 45 Stunden Betreuung wählen können. Da gibt es
diejenigen, die sagen: Mein Kind soll 45 Stunden betreut
werden. Das schließt nach meiner überschlägigen Rechnung in der Regel die Mittagsstunden ein. Es gibt aber
auch diejenigen, die sagen: 35 oder 25 Stunden reichen
uns aus. Diese Bundesregierung schreibt den Menschen
nicht vor, wie sie zu leben haben.
({0})
Wenn Eltern sich für eine Kinderbetreuung entscheiden,
die am Mittag endet, und ihre Kinder zu Hause Mittag
essen, dann ist das in Ordnung. Ich kenne solche Kinder.
Ich muss zugeben: Meine gehören dazu. Wenn Eltern
das so entscheiden, dann schreibt die Bundesregierung
ihnen nicht vor, dass sie anders zu leben haben.
Ich sage es noch einmal: Da, wo Betreuungsbedarf
besteht, ist die Politik insgesamt gefordert, diesen Betreuungsbedarf zur Verfügung zu stellen. Da, wo eine
Betreuungsinfrastruktur einschließlich Mittagessen zur
Verfügung steht, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass niemand aufgrund von Einkommensarmut davon
ausgeschlossen wird. Genau das ist unsere Aufgabe,
nicht weniger und nicht mehr.
Frau Kramme, bitte.
Herr Brauksiepe, aus den Argen wird uns berichtet,
dass eine Umsetzung des Teilhabepakets zum 1. Januar
2011 nicht möglich ist. Welche diesbezüglichen Vorkehrungen haben Sie getroffen?
Frau Kollegin Kramme, die Frage stellt sich für uns
so nicht, weil sich die Ansprüche der Kinder - nebenbei
bemerkt: unabhängig davon, welches Schicksal der zu
erarbeitende Gesetzentwurf am Ende hat - vom 1. Januar an unmittelbar aus der Verfassung bzw. dem Verfassungsgerichtsurteil ergeben. Das heißt, dass die Politik
aufgefordert ist, diese Leistungen dann zur Verfügung zu
stellen. Über die Methoden wird dann zu reden sein.
Auch die Chipkarte, über die in diesem Zusammenhang
viel diskutiert wird, ist nicht mehr und nicht weniger als
ein technisches Mittel zum Zweck. Der Anspruch der
Kinder ergibt sich vom nächsten Jahr an aus der Verfassung bzw. aus dem Verfassungsgerichtsurteil, und er
wird dann - gegebenenfalls auf dem provisorischen
Wege - zu erfüllen sein. Dafür werden wir Vorkehrungen treffen.
({0})
Jetzt kommt die Nachfrage des Kollegen Lemme.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Brauksiepe, meine Frage lautet: Wie hoch schätzen Sie
die finanziellen Kosten für dieses Teilhabepaket, die ja
die Bundesagentur für Arbeit zu schultern hat?
Wir gehen davon aus, dass die Bildungs- und Teilhabeleistungen ein finanzielles Volumen von insgesamt
circa 620 Millionen Euro ausmachen. Das wird dann
aufgeteilt in das Schulbasispaket, in die soziokulturelle
Teilhabe und die entsprechenden Mehrbedarfsleistungen
für Schulessen, Lernförderung und eintägige Klassenfahrten.
Ich liste es Ihnen einmal im Einzelnen auf: Bei den
eintägigen Klassenfahrten gehen wir von 48 Millionen
Euro aus, bei der Lernförderung, also Nachhilfe, von
79 Millionen Euro. Das ist etwa das Doppelte von dem,
was die von uns betrachtete Referenzgruppe in diesem
Bereich ausgibt. Beim Schulessen sind es 117 Millionen
Euro, bei der soziokulturellen Teilhabe - auf das Kind
bezogen 120 Euro im Jahr - gehen wir von insgesamt
244 Millionen Euro aus. Beim Schulbasispaket gehen
wir, wenn es die volle Wirkung entfaltet, von 125 Millionen Euro aus. Meinen Hinweis, dass diese Angabe gilt,
wenn es die volle Wirkung entfaltet, habe ich gemacht,
weil wir den Vorschlägen der Experten folgen, die
100 Euro in Zukunft nicht mehr in einer Summe am
Schuljahresanfang auszuzahlen, sondern 70 Euro zum
Schuljahresanfang und 30 Euro zu Beginn des zweiten
Schulhalbjahres. Das bedeutet konkret, dass im nächsten
Jahr, zum Beginn des Schuljahres 2011/2012, nur
70 Euro ausgezahlt werden, weil wir für das Schuljahr
2010/2011 die 100 Euro schon ausgezahlt haben. Vom
Jahr 2012 an, wenn das Paket die volle Wirkung entfaltet, gehen wir von 125 Millionen Euro aus.
Frau Mattheis.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bitte in Ergänzung
Ihrer Antwort auf die letzte Frage ausführen, wie hoch
die Kosten der Bundesagentur für Arbeit sind und wie
hoch in dem Zusammenhang die Verwaltungskosten
sind?
Frau Kollegin Mattheis, die von Ihnen angesprochenen Verwaltungskosten sind natürlich schwer zu schätzen. Eine Quantifizierung dieser Kosten ist mir nicht bekannt.
({0})
Jetzt ist erst einmal Frau Mast an der Reihe. Sie dürfen sich noch einmal melden, Frau Mattheis; Sie haben
noch eine Nachfrage gut. - Frau Mast.
Herr Staatssekretär Brauksiepe, wir haben in der Großen Koalition das Schulbasispaket in Höhe von
100 Euro eingeführt. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns mit auf den Weg gegeben, eine Berechnungsgrundlage für dieses Schulbasispaket zu entwickeln. Wo finde
ich diese bei den Berechnungen des Regelsatzes?
Frau Kollegin Mast, ich darf unter Bezug auf die vorherige Frage noch einmal das bekräftigen, was ich vorhin ausgeführt habe und was sich auch aus dem Ihnen
bekannten Referentenentwurf ergibt, wonach der Mehraufwand für den Vollzug bisher nicht quantifiziert werden kann. Ich denke, wir stimmen darin überein, dass
eine solche Quantifizierung höchst schwierig ist.
Frau Kollegin Mast, hinsichtlich des Schulbedarfspakets - ich denke, es geht Ihnen um die 100 Euro - ist es
in der Tat so gewesen, dass wir uns in der Großen Koalition auf diese Summe politisch verständigt haben, ohne
sie wissenschaftlich herzuleiten.
Das Bundesarbeitsministerium hat, wie es seinem
Auftrag entspricht, selbstverständlich auch zu diesem
Thema Gespräche mit Experten geführt. In diesen Gesprächen wurde deutlich, dass die Summe in Höhe von
100 Euro aus Expertensicht angemessen ist. Diese Zahl
ist jetzt also nicht mehr aus der Luft gegriffen, sondern
im Rahmen von Expertengesprächen und Anhörungen
bestätigt worden.
Die Experten haben uns allerdings den Rat gegeben,
diesen Betrag, wie schon erläutert, nicht auf einmal auszuzahlen, sondern Rücksicht darauf zu nehmen, dass
zwar der Großteil des Bedarfs am Schuljahresanfang
entsteht, ein Teil aber erst zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres. Deswegen schlagen wir im Einklang mit dem
Rat der Experten die Aufteilung 70 : 30 vor.
Noch einmal Frau Mattheis.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin ausgeführt, dass
Sie großen Wert darauf legen und die Bundesregierung
ihr Augenmerk darauf richtet, allen Kindern Möglichkeiten zu Teilhabe zu eröffnen. Ich frage Sie: Könnten
Sie sich bzw. könnte sich die Bundesregierung vorstellen, das Recht auf Teilhabe im SGB VIII oder in einem
anderen Sozialgesetzbuch festzuschreiben?
Frau Kollegin Mattheis, ich wiederhole: Wir setzen
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem die
Ansprüche von Kindern niedergelegt wurden, um. Wir
werden dies im Sozialgesetzbuch II regeln, wie es uns
das Bundesverfassungsgericht nahegelegt hat.
Ich rufe jetzt die Frage 32 des Kollegen Rossmann
auf:
Wie viele Kinder, die gegenwärtig das sogenannte Schulbedarfspaket erhalten, werden keinen Anspruch mehr auf
diese Leistung besitzen, wenn § 6 a Abs. 4 a des Bundeskindergeldgesetzes gestrichen wird ({0}) und stattdessen der Anspruch im § 7 Abs. 2
SGB XII ({1}) geregelt
wird?
Herr Kollege Rossmann, ich antworte Ihnen wie
folgt: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
hat den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten
und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch erarbeitet. Es ist
beabsichtigt, am 20. Oktober 2010 einen Beschluss des
Bundeskabinetts herbeizuführen.
In Art. 10 Abs. 2 des Entwurfes werden derzeit als
Zwischenstand nur die systematischen Folgerungen aus
der in Art. 2 enthaltenen Einführung des Bildungs- und
Teilhabepakets für Kinder abgebildet. Eine abschließende fachpolitische Bewertung des Sachverhalts steht
hingegen noch aus. Deshalb hat die Bundesregierung
keine Berechnung von Fallzahlen im Hinblick auf die
betroffenen Kinder vorgenommen.
Herr Rossmann, bitte.
Das war für den Außenstehenden sehr kryptisch; man
wusste eigentlich gar nicht, worum es geht. Deshalb
würde ich das gerne wie folgt übersetzen: Für die Kinder, deren Eltern Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld II beziehen, gibt es einen echten, unbezweifelten Bedarf. Außerdem gab es bisher über den Kinderzuschlag hinaus
rund 300 000 Kinder, die das Schulbedarfspaket bekommen haben. Nach dem Referentenentwurf der Regierung
wären diese 300 000 Kinder vom Bezug dieser Leistungen ausgeschlossen gewesen. Diese Regelung ist von der
Ministerin schnell korrigiert worden. Sie sagte, dass sie
das nicht so gemeint habe.
Vor diesem Hintergrund stelle ich Ihnen eine zweigeteilte Frage:
Erstens. Bestätigen Sie, dass die 300 000 Kinder, von
denen ich gerade sprach, voll im Bezug des Schulbedarfspaketes bleiben?
Zweitens. Bestätigen Sie, dass die Ministerin gesagt
hat, darüber hinaus wolle man für Kinder aus Geringverdienerfamilien mehr tun, und was konkret will die
Ministerin für diese Kinder und Jugendlichen tun? Oder
war das nur Verschleierungsrhetorik?
Herr Kollege Rossmann, wir verschleiern nichts. Ich
wiederhole: Eine abschließende fachpolitische Bewertung des von Ihnen angesprochenen konkreten Sachverhalts steht noch aus.
Zu Ihrer weitergehenden Frage will ich an das erinnern, was ich schon gesagt habe: Die Leistungen, die wir
an dieser Stelle zusätzlich gewähren, sind bedarfsauslösend. Um das deutlich zu machen - da Sie eben den Begriff „kryptisch“ verwendet haben -: Das Kind von jemandem, der im Arbeitslosengeld-II-Bezug ist, hat in
Zukunft beispielsweise den Anspruch darauf, dass eintägige Klassenfahrten finanziert werden. Wir gehen von
einer Summe von 30 Euro aus. Dies könnte bedarfsauslösend sein. Das heißt, dass derjenige, der 20 Euro mehr
hat, als es der jetzigen Bedürftigkeitsschwelle entspricht,
diese 30 Euro nicht aus eigener Tasche bezahlen muss,
während derjenige, der 20 Euro weniger hat, die 30 Euro
vollständig bekommt, sondern dass diese 30 Euro bedarfsdeckend sind. Das heißt, alle, die unter ansonsten
gleichen Umständen bis zu 30 Euro über der Bedürftigkeitsschwelle liegen, haben diesen Anspruch, damit diejenigen nicht benachteiligt werden, die knapp über der
Bedürftigkeitsschwelle liegen.
Darum haben wir das genau so konstruiert. Wir wissen, dass dies auch Kosten bedeutet. Aber wir machen
diese Reform nicht nach Kassenlage, sondern unter Gerechtigkeitsaspekten.
({0})
Dazu gehört, dass, wenn man arbeitet und nur wenig
mehr als die Hilfebedürftigen hat, nicht am Ende unter
Berücksichtigung dieser Teilhabeleistungen mit weniger
dasteht als diejenigen, die die Teilhabeleistungen in Anspruch nehmen können.
Frau Hiller-Ohm.
Herr Staatssekretär, haben nicht auch Menschen, insbesondere Kinder, in anderen Rechtskreisen, zum Beispiel im Asylbewerberleistungsgesetz, Ansprüche auf
die vom Bundesverfassungsgericht zuerkannten Teilhabechancen?
Frau Kollegin Hiller-Ohm, wie auch heute Morgen
schon im Ausschuss seitens der Bundesregierung ausgeführt, wird über die Bedeutung dieses Urteils mit Blick
auf die Asylbewerber noch zu reden sein.
Frau Brehmer.
Herr Staatssekretär, Sie haben angeführt, dass zum
Beispiel für Klassenfahrten Geld zur Verfügung gestellt
werden soll. Wie stellt das Bundesministerium sicher,
dass diese Leistungen ab Anfang des Jahres unbürokratisch zu den Kindern kommen, die sie benötigen?
Wir werden mit den Leistungen aus dem Schulbasispaket so wie bisher verfahren, außer dass wir die
100 Euro aufsplitten.
Was die Klassenfahrten angeht, ist das eine sogenannte Mehrbedarfsleistung, die gezahlt wird, wenn die
entsprechende Fahrt ansteht. Sie wird nicht auf Verdacht
im Vorhinein gewährt. Wenn keine Klassenfahrten anstehen, wird eine entsprechende Leistung nicht erbracht.
Wir kalkulieren dafür eine aufgrund von Gesprächen mit
Experten bestimmte Summe ein, die dafür anzusetzen
ist.
Aber wir werden sicherstellen, dass das Geld durch
die Art der Organisation dieser Hilfeleistungen tatsächlich zielgenau bei den Kindern ankommt, damit Schluss
mit einer Situation ist, in der sich Kinder für eintägige
Klassenfahrten abmelden, krankmelden oder in der die
Lehrer Eintrittsgelder für Besichtigungen oder für Besuche von Einrichtungen aus eigener Tasche aufbringen
müssen. Wir werden dafür sorgen, dass diese Notwendigkeit nicht mehr besteht, sondern dass das Geld tatsächlich bei den Kindern ankommt.
Herr Rossmann.
Herr Staatssekretär, wenn Sie das ehemalige „Schulbedarfspaket“ als „Schulbasispaket“ umdefinieren, denkt
man daran, dass es noch etwas dazugeben kann; denn
sonst ist dieser neue Begriff „Schulbasispaket“ nicht
sinnvoll.
Ich verstehe es so, dass Sie das, was dazukommen
kann, im Sinne von Klassenfahrten, Essenszuschuss und
anderem sehen. Ist das so richtig? Sind Sie deshalb auf
den Begriff „Basispaket“ gekommen?
Dann bleibt umgekehrt die Frage: Weshalb wollen Sie,
wenn es dieses Basispaket sein soll, das eine, die klassischen 100 Euro, garantieren - Sie wollen doch niemandem etwas wegnehmen; so darf man Sie verstehen -,
während Sie bei dem anderen noch so viele Fragezeichen
machen?
Herr Kollege Rossmann, ich weiß nicht, wo ich nach
Ihrer Beobachtung ein Fragezeichen gemacht habe.
Die Grundlage für das Schulbasispaket ist in der Sache das Gleiche, was uns in der Großen Koalition zur damaligen 100-Euro-Lösung geführt hat. Wir haben festgestellt, dass die Grundausstattung mit Schulmaterial, die
in der Vergangenheit aus dem Regelsatz bestritten werden sollte, in vielen Fällen nicht aus dem Regelsatz bestritten wurde. Das heißt, dass dieses Material nicht zur
Verfügung stand. Eine Grundausstattung - das ist für
mich ein anderes Wort für Basis - wird auf diese Weise
sichergestellt.
Es gibt sicherlich Taschenrechner, die so gut und so
teuer sind, dass sie allein daraus nicht finanziert werden
können, sondern durch Umschichtungen innerhalb des
Regelsatzes finanziert werden müssten, wenn man sie
denn anschaffen wollte. Das ist aber natürlich genau das,
was mit „Basis“ gemeint ist: Es geht darum, eine Ausstattung zu ermöglichen, die notwendig ist, um mit Erfolg am Schulleben teilzunehmen.
Frau Mast.
Herr Staatssekretär Brauksiepe, ich möchte noch einmal an meine Frage anschließen, die ich vorhin zum
Schulstarterpaket gestellt habe. Ich begrüße es ausdrücklich, dass das Ministerium mit Fachexperten über die
Höhe des Schulbedarfspakets von 100 Euro diskutiert
hat, allerdings bitte ich Sie, mir als Parlamentarierin und
damit eben auch der Öffentlichkeit zu erklären, nach
welchen Kriterien Sie auf 100 Euro kommen.
Frau Kollegin Mast, ich verweise zunächst einmal darauf, dass wir gut 900 Seiten an ausgewählten Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur
Verfügung gestellt haben. Es war ja auch Ihr Wunsch,
mehr Informationen zu erhalten. Der Wunsch ist zwar
erst entstanden, seit Sie in der Opposition sind, aber das
ist in Ordnung, und wir erfüllen ihn ja auch.
Ich sage Ihnen noch einmal: Das ist nicht das Ergebnis aufgrund irgendeiner Stichprobe, sondern das ist das
Ergebnis von Gesprächen, die wir mit Experten geführt
haben. Diese haben uns bestätigt, dass Minister Scholz
seinerzeit zusammen mit der Großen Koalition mit den
100 Euro ganz richtig lag. Das ist doch ein schönes Ergebnis, finde ich.
Die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Sönke Rix
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 35 des Kollegen SteffenClaudio Lemme:
Warum hat die Bundesregierung darauf verzichtet, die
Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf nach § 28 Abs. 3
SGB II und § 34 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII in der Fassung des Referentenentwurfes eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch in der Höhe zu begründen, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010
genau die fehlende Herleitung kritisiert hat?
Herr Kollege Lemme, ich antworte Ihnen wie folgt:
Die im Referentenentwurf des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales vorgesehene Leistung für den persönlichen Schulbedarf orientiert sich der Höhe nach an
der bisherigen zusätzlichen Leistung für die Schule nach
Maßgabe des § 24 a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des § 28 a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch.
Im BMAS sind zahlreiche Gespräche mit Wissenschaftlern und Praktikern geführt worden, in denen bestätigt wurde, dass diese Leistung betragsmäßig ausreicht. Auf Anraten der Praktiker hat sich das BMAS
dazu entschieden, die Leistung aufzuteilen. Zu Beginn
des Schuljahres werden 70 Euro und zu Beginn des
zweiten Schulhalbjahres dann nochmals 30 Euro geleistet werden.
Es ist richtig, dass die Höhe der Leistung nicht so exakt begründet ist, wie dies bei den Regelbedarfen der
Fall ist. Das ist aber auch nicht erforderlich. Die Bundesregierung will mit den 100 Euro für den persönlichen
Schulbedarf eine Leistung erbringen, die zum überwiegenden Teil zusätzlich zu den folgerichtig und transparent ermittelten Regelbedarfen gewährt wird.
Daran sieht sich die Bundesregierung durch den Richterspruch aus Karlsruhe nicht gehindert. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar
2010 lediglich kritisiert, dass die Begründungsdefizite
hinsichtlich der Kinderregelleistung nicht durch die zusätzliche Leistung für die Schule ausgeglichen werden
können. Inzwischen haben wir aber altersspezifisch begründete Kinderbedarfe, die den Anforderungen des
Bundesverfassungsgerichtes genügen. Für die Heilung
von Begründungsdefiziten sind sie nicht mehr erforderlich.
Wir kommen zur Frage 36 des Kollegen Lemme:
Hält die Bundesregierung es für eine angemessene Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, den Bedarf
auf Lernförderung zu sichern, wenn nach § 28 Abs. 4 SGB II
bzw. § 34 Abs. 4 SGB XII in der Fassung des Referentenentwurfes eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch nur ein Anspruch besteht, wenn das „wesentliche
Lernziel“ - nämlich die Versetzung - verfehlt wird?
Herr Kollege Lemme, ich antworte Ihnen wie folgt:
Mit der Vorschrift wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 nach Auffassung der
Bundesregierung voll umgesetzt. Es handelt sich bei der
zu erbringenden Lernförderung um eine existenzsichernde
Leistung. Um das Existenzminimum sicherzustellen, ist
aber nicht eine optimale, sondern lediglich eine ausreichende Lernförderung sicherzustellen.
Um das vielleicht auch noch einmal für die Zuhörer
zu erläutern: Die Frage war, warum nur ein Anspruch
besteht, wenn das wesentliche Lernziel, nämlich die Versetzung, gefährdet ist.
Auch Bezieher unterer Einkommen sind vielfach
nicht in der Lage, Nachhilfeunterricht zu bezahlen, damit sich ihr Kind in einem Fach beispielsweise von einer
guten auf eine sehr gute Note verbessert.
Keine Nachfrage.
Die Fragen 37 und 38 des Kollegen Swen Schulz sowie die Frage 39 des Kollegen Stefan Schwartze und die
Frage 40 der Kollegin Dr. Carola Reimann werden
schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich die Frage 41 der Kollegin Hilde
Mattheis auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die
vorgeschlagene Regelung zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28 a SGB XII ({0}) die Veränderungen der Löhne und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Preise im Vergleich des Vorjahres zum Vorvorjahr berücksichtigt, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, dass „der
Gesetzgeber daher Vorkehrungen zu treffen hat, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des
aktuellen Bedarfs sicherzustellen“ ({1})?
Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Mattheis, Sie kritisieren in Ihrer Frage,
dass wir aus Ihrer Sicht nicht zeitnah auf Preisentwicklungen reagieren. Ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Die benötigten Daten zur Preis- und Lohnentwicklung
liegen immer erst zeitverzögert vor. Wenn wir eine Anpassung vornehmen, die zum 1. Januar 2011 wirksam
wird, dann liegen an diesem Tag noch nicht die kompletten Daten für die Preisentwicklung des Jahres 2010 vor.
Das ist aus meiner Sicht eine Selbstverständlichkeit. Insofern hat das statistische Gründe.
Die Bundesregierung wird aber darüber hinaus die für
die Leistungsempfänger maßgebliche Preisentwicklung
im Blick behalten und bei Bedarf kurzfristig handeln.
Dies bezieht sich aber immer nur auf das maßgebliche
Preisniveau insgesamt und kann nicht kurzfristige besondere Preisschwankungen einzelner Güter betreffen.
Ihre Zusatzfrage? - Sie haben keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 42 der Kollegin Mattheis auf:
Warum sind die für das Jahr 2008 ermittelten regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben nicht nach der immanenten Logik
des § 28 a SGB XII ({0}) mit den Veränderungsraten der Jahre 2008 zu 2007
und 2009 zu 2008 fortgeschrieben worden, sondern ausweislich der Begründung zu § 7 des Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ({1}) nur mit der Veränderungsrate des
Jahres 2009?
Frau Kollegin, auch in dieser Frage geht es darum,
was als Bezugszeitraum für Veränderungen anzusehen
ist. Ich beantworte die Frage wie folgt: Der regelsatzrelevante Verbrauch wird auf Basis der EVS 2008 für den
Jahresdurchschnitt 2008 ermittelt. Diese Zahlen können
nur mit der darauf folgenden Entwicklung fortgeschrieben werden, also zum 1. Januar 2011 mit der Veränderungsrate von 2008 auf 2009. Andere Kalenderjahresdaten liegen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor.
Gibt es eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, könnten Sie ausführen, wie sich
die Änderung der Bezugsgröße für die Leistungsempfänger im Unterschied zu der bisherigen Bezugsgröße gestaltet?
Frau Kollegin Mattheis, ich kann Ihnen dazu jetzt
keine Zahlen nennen. Denn in der Vergangenheit, eingeführt durch die rot-grüne Bundesregierung, erfolgte die
Orientierung an der Entwicklung der Renten. Das war
seit der Einführung des SGB II der Fall. Ich möchte hinzufügen: Auch sämtliche anderen Regelungen, die das
Bundesverfassungsgericht kritisiert hat, stammen weder
aus der Zeit der christlich-liberalen noch aus der Zeit der
Großen Koalition, sondern aus der Zeit der rot-grünen
Bundesregierung.
Wir haben jetzt eine neue Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die die Basis für alle weiteren Entwicklungen bietet. Vom 1. Januar 2011 an gelten die Ihnen bekannten neuen Regelsätze. Wir wollen mittelfristig
für die Jahre zwischen den sehr umfangreichen und aufwendigen Einkommens- und Verbrauchsstichproben zu
der sogenannten Laufenden Wirtschaftsrechnung übergehen. Das ist sozusagen die kleine Schwester der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Bis sie zur Verfügung
steht, wollen wir zu einem Anpassungsmechanismus
kommen, der zu 70 Prozent die Entwicklung der Preise
widerspiegelt, weil in den Regelsätzen in erster Linie das
physische Existenzminimum zu berücksichtigen ist, und
der zu 30 Prozent die Lohnentwicklung widerspiegelt,
weil mit der Lohnentwicklung die allgemeine Wohlstandsentwicklung zusammenhängt. Welche Zahl sich dann
konkret ergibt, bleibt abzuwarten.
Die Fragen 43 und 44 der Kollegin Bärbel Bas werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Josip Juratovic
auf:
Welche Personen bzw. welche „anderen Sozialleistungen“
sind gemeint, wenn in der Begründung zu den §§ 2 bis 4 des
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen nach § 28 des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ({0}) formuliert ist, dass „Personen zur Vermeidung von Zirkelschlüssen nicht in der Referenzgruppe berücksichtigt werden, die
neben anderen Sozialleistungen aufstockende existenzsichernde Leistungen erhalten“?
Herr Kollege Juratovic, Sie fragen nach anderen Sozialleistungen. Ich antworte Ihnen wie folgt: Es handelt
sich hierbei um Personen, die insgesamt lediglich Einkommen auf Höhe des Regelbedarfs beziehen, diese
Einkommenshöhe aber nicht alleine durch Leistung des
SGB II oder des SGB XII erzielen, sondern zum Beispiel eine Rente wegen Erwerbsminderung erhalten, die
durch Leistung des SGB XII aufgestockt wird.
Haben Sie eine Nachfrage? - Nein.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dann kommen wir zu Frage 46 des Kollegen Josip
Juratovic:
Hält die Bundesregierung es mit der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Transparenz bei der Ermittlung der
Regelsätze für vereinbar, dass einerseits Konsumausgaben,
die von höchstens 25 Haushalten in der EVS 2008 getätigt
worden sind, nicht veröffentlicht, doch diese andererseits als
regelbedarfsrelevante Position anerkannt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Hier geht es um Transparenz bei der Ermittlung der
Regelsätze. Ich antworte Ihnen wie folgt, Herr Kollege:
Das Statistische Bundesamt weist in seinen Veröffentlichungen bzw. Fachserien zu den EVS-Ergebnissen Daten nicht aus, wenn weniger als 25 Haushalte dazu Angaben machen; ich habe eben Ausgaben im Bereich
Fahrrad als Beispiel genannt. An diese Praxis hält sich
auch das BMAS. In den Summen der einzelnen Abteilungen und im gesamten regelsatzrelevanten Verbrauch
werden die nicht veröffentlichten regelsatzrelevanten
Positionen selbstverständlich eingerechnet. Diese Praxis
wendet das Statistische Bundesamt ebenfalls bei der Veröffentlichung der Ergebnisse zum privaten Verbrauch an.
Eine Nachfrage der Kollegin Hiller-Ohm.
Herr Staatssekretär, in welcher Höhe haben Sie die
Verbrauchspositionen, die mit einem Strich in der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
gekennzeichnet sind, in die Pauschale eingerechnet? Wo
und in welcher Höhe finde ich zum Beispiel die Ausgaben für Kinderfahrräder wieder?
Sie finden es nicht, weil dort aus den genannten Gründen ein Strich ist. Aber eingerechnet ist es voll. Wenn
zum Beispiel 24 Haushalte Ausgaben im Bereich Fahrrad getätigt und darüber Buch geführt haben, dann gehen
diese Ausgaben, gewichtet mit der Zahl 24 - weil eben
24 Haushalte solche Ausgaben getätigt haben -, in die
Bedarfsermittlung ein. Nur steht diese Summe nicht an
der entsprechenden Stelle im Bericht. Wenn 24 Personen
jeweils 10 Euro ausgegeben haben, dann werden 24 mal
10 Euro als Ausgaben eingerechnet. Wenn 23 Personen
10,03 Euro ausgegeben haben, dann werden 23 mal
10,03 Euro berücksichtigt.
({0})
Wir führen hier keine Debatte.
({0})
Das stimmt, Frau Hiller-Ohm. Auch ich sehe es nicht,
weil das Statistische Bundesamt das nicht ausweist. Dieses Schicksal teilen wir, Frau Kollegin.
Wir kommen zu Frage 47 der Kollegin Katja Mast:
Wie lässt es sich rechtfertigen, dass für Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger nach dem SGB II zwar einerseits der Besitz eines Personenkraftwagens angemessen
ist, um auch eine Erwerbstätigkeit aufnehmen bzw. ausüben
zu können, andererseits der Unterhalt bei der Regelsatzbemessung nicht berücksichtigt wird, und müsste alternativ zur
Sicherung der Mobilität nicht auf jeden Fall eine Monatskarte
für den öffentlichen Personennahverkehr garantiert sein, anstatt nur auf die durchschnittlichen Verbrauchsausgaben von
Haushalten, die keine Ausgaben für Kraftstoff und Schmiermittel tätigen, abzustellen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Mast, Sie fragen nach der Pkw-Nutzung. Dazu antworte ich Ihnen wie folgt: Nach § 12
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch gehört ein angemessenes Kraftfahrzeug für jeden
zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten zum Schonvermögen. Daran soll
sich nach dem Willen der Bundesregierung auch in Zukunft nichts ändern. Die Vermögensfreistellung bedeutet
aber nicht, dass im Rahmen der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums die Aufwendungen
für die Bewegung des Kraftfahrzeugs übernommen werden müssten. Auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 sieht darin ausdrücklich keinen Wertungswiderspruch. Zweck der Freistellung eines
angemessenen Fahrzeugs bei der Vermögensanrechnung
ist es, die Mobilität des Leistungsberechtigten im Hinblick auf seine Eingliederung in Arbeit zu erhalten. Dies
wird dadurch ausreichend sichergestellt, dass der Leistungsberechtigte im Fall der Arbeitsaufnahme die Ausgaben für Kraftstoff als Werbungskosten vom Einkommen absetzen kann.
Es ist nach Ansicht der Bundesregierung nicht erforderlich, Leistungsberechtigten eine Monatskarte für den
öffentlichen Personennahverkehr zu garantieren. Dies
würde über die durch die Leistung nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch zu gewährleistende Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums hinausgehen. Auch Bezieher unterer Einkommen verfügen nicht
in jedem Fall über eine Monatskarte für den ÖPNV. Die
Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 bestätigt dies.
Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Nein.
Dann kommen wir zu Frage 48 der Kollegin Katja
Mast:
Wie begründet es die Bundesregierung, dass für die Berücksichtigung der regelbedarfsrelevanten Ausgaben für Verkehr eine Sonderauswertung durchgeführt worden ist, wonach
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
hier nur Haushalte berücksichtigt wurden, die keine Ausgaben
für Kraftstoff und Schmiermittel getätigt haben, während andere Verbrauchspositionen, die als nicht regelsatzrelevant bezeichnet werden, einfach nicht berücksichtigt werden, und
hätten bei diesen „unerwünschten“ Verbrauchsausgaben dann
nicht ebenfalls nur die Haushalte betrachtet werden dürfen,
bei denen diese Ausgaben nicht anfallen, um zu verhindern,
dass auch Personen eine Minderung ihres Regelbedarfes erfahren, die selber gar nicht beabsichtigen, entsprechende Produkte zu kaufen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Mast, bei dieser Frage geht es um Sonderauswertungen im Zusammenhang mit Ausgaben für
Verkehr. Ich antworte Ihnen wie folgt: Die Bundesregierung hat die Sonderauswertung zu den Verkehrsausgaben
von Personen ohne Kraftfahrzeug bzw. ohne Ausgaben
für Kraftstoff und Schmiermittel beim Statistischen Bundesamt entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom 9. Februar 2010 in
Auftrag gegeben. Dabei ging es vornehmlich darum, den
vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Wertungswiderspruch zu beseitigen, der aus der auf Schätzungen
beruhenden Kürzung der Ausgabeposition „Ersatzteile
und Zubehör für Privatfahrzeuge“ um 80 Prozent resultierte. Dies ist mit der vorgelegten Ermittlung des Regelbedarfs gelungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat keine generelle
Pflicht von Zusatzsonderauswertungen angemahnt, es sei
denn, existenzsichernde Grundbedarfe wären nicht gedeckt. Daher besteht auch aus methodischen Überlegungen grundsätzlich kein Zwang hierzu. Die Nichtberücksichtigung einzelner, nicht zum Grundbedarf gehörender
Verbrauchspositionen rechtfertigt keine Sonderauswertung, da es gerade Absicht des Gesetzgebers ist, durch
Nichtberücksichtigung zum Beispiel von Urlaubsreisen
die Höhe des regelsatzrelevanten Konsums etwas niedriger anzusetzen, als er bei der Referenzgruppe angesetzt
wird.
Weitere Sonderauswertungen, wie sie von Ihnen gefordert werden, sind daher für eine transparente und folgerichtige Ermittlung der Regelbedarfe nicht erforderlich.
Sie würden auch dem vom Bundesverfassungsgericht
dem Grunde nach unbeanstandeten Statistikmodell zuwiderlaufen. Dies baut gerade auf durchschnittlichen Ausgaben der Referenzgruppe bei regelbedarfsrelevanten
Ausgabepositionen auf. Dem Leistungsberechtigten wird
ein Budget an die Hand gegeben, mit dem er nach den eigenen Bedürfnissen frei haushalten kann.
Keine Nachfrage? - Die Fragen 49 und 50 des Kollegen Thomas Oppermann, die Fragen 51 und 52 der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller sowie die Fragen 53
und 54 der Kollegin Dagmar Ziegler werden schriftlich
beantwortet.
Ich rufe die Frage 55 des Kollgen Gustav Herzog auf:
Bis zu welchem Nettoeinkommen erstrecken sich die von
der Bundesregierung als Referenzhaushalte betrachteten
Herr Kollege Herzog, Sie fragen nach dem Nettoeinkommen der Referenzhaushalte. Ich antworte Ihnen wie
folgt: Das obere Grenzeinkommen betrug 2008 bei den
Einpersonenhaushalten 901 Euro im Monat. Bei den
Paaren mit Kind sind es bei denjenigen mit einem Kind
von 0 bis unter 6 Jahren 2 178 Euro, mit einem Kind von
6 bis unter 14 Jahren 2 476 Euro und mit einem Kind
von 14 bis unter 18 Jahren 2 544 Euro. Das alles, Herr
Kollege, ist aber auch nachzulesen, beispielsweise auf
der Homepage unseres Ministeriums, auf der diese Statistiken ebenfalls veröffentlicht sind.
({0})
Herr Kollege Herzog, haben Sie eine Nachfrage? Nein.
Dann rufe ich die Frage 56 des Kollegen Herzog auf:
Wie hoch wären die Regelbedarfe auf Grundlage der Ergebnisse der EVS 2008 ausgefallen, wenn die Bundesregierung den methodischen Weg verfolgt hätte, die EVS 2008 um
die Haushalte zu bereinigen, die existenzsichernde Leistungen
erhalten, und anschließend die verbleibenden Haushalte in
Quintile eingeteilt hätte, um dann das unterste Quintil als Referenzgruppe zu betrachten?
Herr Kollege Herzog, die Bundesregierung hat selbstverständlich wie bei allen vorhergehenden Neubemessungen zunächst diejenigen Haushalte aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgeschlossen, für die
die Neubemessung erfolgt, und anschließend die Referenzgruppe festgelegt. Das können Sie auch in den Erläuterungen im konsolidierten Referentenentwurf auf
den Seiten 82 f. und 129 ff. nachlesen. Ich habe darüber
bereits bei vorhergehenden Antworten berichtet.
Bei der darauf folgenden Bildung der Referenzgruppen sind die zuvor herausgerechneten Haushalte mit zu
berücksichtigen, da sie Lage und durchschnittlichen Verbrauch der Referenzgruppe mitbestimmen. Bei der jetzt
gewählten Abgrenzung werden sowohl für Einpersonenhaushalte als auch für Paare mit Kind mehr als das untere Quintil abgedeckt.
Keine Nachfrage.
Die Frage 57 der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann
wird schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung der vielen Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Die Frage 58 der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann
wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zur Beantwortung der Fragen aus dem
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Dazu steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Christian Schmidt zur Verfügung.
Die Frage 59 des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele
wird schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zur Frage 60 der Kollegin Christine
Buchholz:
Aufgrund welcher Verdienste hat die Bundeswehr Georg
Klein, rund ein Jahr nach seiner Entscheidung zur Bombardierung am 4. September 2009 im Raum Kunduz, bei der bis zu
142 unbeteiligte Personen getötet wurden, in eine höhere Besoldungsgruppe befördert, wie Presseberichten ({0}) zu entnehmen
war, und ist es korrekt, dass mit der Beförderung eine monatliche Gehaltserhöhung von rund 600 Euro einhergeht?
Frau Präsidentin! Kollegin Buchholz, auf Ihre Frage
antworte ich wie folgt: Oberst Klein ist in Besoldungsgruppe B 3 eingewiesen worden; die Oberstbesoldung
ist A 16 oder B 3. Er hat diesen Dienstposten - Chef des
Stabes der 13. Panzergrenadierdivision - seit dem
1. Juni 2008 besetzt; dieser Dienstposten ist nach Besoldungsgruppe B 3 bewertet. Mit seiner Versetzung und
damit bereits vor seinem Einsatz in Afghanistan war
somit die grundsätzliche Entscheidung verbunden, den
Offizier in die zugehörige Besoldungsgruppe einzuweisen. Vor dem Hintergrund der Planstellensituation ist
diese Einweisung nicht erfolgt. Infolge der Ereignisse
vom 4. September 2009 ist diese Einweisung ausgesetzt
worden, bis die Generalbundesanwaltschaft zu dem Ergebnis kam, dass dem Offizier weder völkerstrafrechtlich noch strafrechtlich ein Vorwurf gemacht werden
kann.
Die zuständige Wehrdisziplinaranwaltschaft - sie ist
unabhängig; ich weise vorsorglich darauf hin - ist im
Hinblick auf mögliche Dienstvergehen zu dem gleichen
Ergebnis gekommen. Mithin hat die Personalführung
mit der Einweisung eine seit der Versetzung ausstehende, zu diesem Zeitpunkt rechtlich gebotene Maßnahme vollzogen. Die damit verbundene Erhöhung beläuft sich brutto auf 803 Euro im Monat.
Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass die Einweisung in eine Planstelle in einem Rechtsstaat Ansprüche
entstehen lässt, die seitens des Betroffenen möglicherweise durchsetzbar sind. Das muss man bei allen politischen Bewertungen, die sich aus solchen Fragen eventuell herausfiltern ließen, berücksichtigen.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Danke, Herr Staatssekretär. - Eine Nachfrage meinerseits: Ist es üblich, dass Soldaten auch dann, wenn sie
militärisch nicht angemessen gehandelt haben, befördert
werden, wie Sie es eben beschrieben haben?
Man muss scharf unterscheiden: Befördert worden ist
dieser Mann nicht. Sie müssen unterscheiden zwischen
Planstellen, Dienstposten und Einweisung. Stellen Sie
sich vor, Sie wären in einer bestimmten Funktion und
bekämen weniger bezahlt, als es Ihrem Anspruch eigentlich entspräche. Bei Oberst Klein war dies schon im Jahr
2008 der Fall. Ich glaube, es ist nachvollziehbar, dass
dieser Anspruch realisiert wird, ohne dass er in seinem
Dienstgrad eine Veränderung erfahren hat. Er war Oberst
und ist Oberst und bekommt Geld und hat Geld bekommen. Die Bundeswehr pflegt nämlich ihre Obersten zu
besolden, und zwar korrekt nach dem Bundesbesoldungsgesetz.
Damit kommen wir zur Frage 61 der Kollegin
Buchholz:
Hält die Bundesregierung die Beförderung Georg Kleins
angesichts seiner Rolle bei der Bombardierung vom 4. September 2009 für angemessen, und wie schätzt die Bundesregierung die Wirkung dieser Entscheidung auf die Soldaten im
Einsatz ein?
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Kollegin, ich will festhalten: Diese Frage steht
im Zusammenhang mit der Frage 60. Ich erlaube mir,
dass ich sie in diesem Zusammenhang unter Bezug auf
meine vorherige Antwort beantworte.
Ich meine bei aller Diskussion über die Entscheidungen von Oberst i. G. Klein, die wir auch hier im Hause
erlebt haben und die sich an die Ereignisse vom
4. September 2009 angeschlossen hat, dass, wenn sich
weder eine strafrechtliche noch eine völkerstrafrechtliche noch eine disziplinarrechtliche Verfehlung ergeben
hat, es Nobile Officium einer rechtsstaatlich orientierten
Verwaltung, des öffentlichen Dienstes ist, nicht in irgendeiner Weise aus politischen Erwägungen weniger
oder mehr Geld zu zahlen. Das muss der Rechtsstaat
schon aushalten. Ich glaube, er hat auch den Anspruch,
dass sich die obersten Verfassungsorgane diesem Denken entsprechend anschließen. Die Generalbundesanwaltschaft ist zwar kein oberstes Verfassungsorgan, aber
sie ist beim obersten Gericht angesiedelt. Wir können
daher zumindest in diesem Bereich von einer sehr nachhaltigen rechtlichen Klärung ausgehen. Wir haben keinerlei Veranlassung, anders zu handeln, als wir gehandelt haben.
Ihre Zusatzfrage.
Meine Frage bezog sich auf die Einschätzung der
Bundesregierung in Bezug auf die Wirkung, die dieser
Fakt auf die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz hat.
Nur um das noch einmal kurz auszuführen: Die öffentliche Wahrnehmung, aber auch die Wahrnehmung unter
den Soldatinnen und Soldaten ist die, dass man, auch
wenn man - wie Karl-Theodor zu Guttenberg gesagt
hat - „militärisch nicht angemessen gehandelt“ hat,
trotzdem noch entsprechend behandelt wird. Das ist,
glaube ich, in der öffentlichen Wahrnehmung tatsächlich
ein Problem. Ich bitte Sie, auf den Punkt einzugehen.
Vielleicht können Sie dann auch noch auf die Frage
der Mehrbezahlung eingehen. Sie haben das jetzt hier
korrigiert; in den Pressemitteilungen war ja von
600 Euro im Monat zusätzlich die Rede. Gleichzeitig
wird den Opfern der Bombardierung von Kunduz pro
Familie - nicht pro Fall - gerade mal eben 3 900 Euro
gezahlt. Das ist doch eine Diskrepanz, die in der öffentlichen Wahrnehmung berechtigterweise zu Irritationen
führt. Wie bewerten Sie die Auswirkungen auch auf die
Bundeswehr und die Soldaten im Einsatz?
Vorneweg bitte ich um Nachsicht, dass ich in der Tat
diesen Aspekt Ihrer Frage noch nicht beantwortet habe.
Ich werde das gerne tun. Die Diskrepanz zwischen den
von Ihnen in einen Zusammenhang gebrachten Zahlen
will ich für mich so beantworten: Ich halte es für eine
unwahrscheinlich große intellektuelle Diskrepanz, beide
Themen überhaupt in einen näheren Zusammenhang zu
bringen, und sehe keine Veranlassung, zu dieser eigenartigen Vermischung irgendwelche Antworten zu geben.
Die Position der Bundesregierung ist hier klar und ist beantwortet worden.
Zum Zweiten. Ich glaube, ich gebe - ohne dass ich
das statistisch nachweisen kann, ohne dass es hierzu eine
Position der Bundesregierung gibt - nur das wieder, was
wir von dem Eindruck der Soldaten der Bundeswehr im
Einsatz und ihrer Familien gewonnen haben: Ihre
schwierige Tätigkeit bringt auch mit sich, dass man unter Umständen - Sie haben den Bundesminister zitiert nicht angemessen handelt und doch schnell handeln
muss. Wenn eine indirekte Bestrafung durch Gehaltsabzug möglich wäre, dann würden unsere Soldaten - diesen Eindruck habe ich - ein hohes Maß ihrer Motivation
verlieren, den gefährlichen Dienst, in den wir sie stellen,
dann nicht nur nach Auftrag und Recht, sondern auch
mit einem inneren Engagement zu erledigen.
Die Fragen Nr. 62 und 63 des Kollegen Dr. h. c.
Gernot Erler werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, auch Ihnen danke ich herzlich für
die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Hier werden die Fragen 64 und 65 der Kollegin Petra
Crone schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 66 und
67 der Kollegin Caren Marks.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Hier werden die Fragen
68 und 69 des Kollegen Harald Weinberg schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung.
Die Fragen 70 und 71 der Kollegin Silvia Schmidt werden schriftlich beantwortet. Dann kommen wir zu den
Fragen 72 und 73 des Kollegen Uwe Beckmeyer. Den
sehe ich aber nicht. Dann wird nach unserer Geschäftsordnung verfahren. Die Frage 74 der Kollegin Marianne
Schieder wird schriftlich beantwortet. Die Fragen 75 und
76 der Kollegin Birgitt Bender sowie die Frage 77 des
Kollegen Peter Friedrich werden gemäß Nr. 2 Abs. 2 der
Richtlinien schriftlich beantwortet. Die Fragen 78 und
79 der Kollegin Daniela Wagner und die Fragen 80 und
81 der Kollegin Bettina Herlitzius werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche zur Verfügung.
Die Fragen 82 und 83 der Kollegin Sylvia KottingUhl werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 84
des Kollegen Hans-Josef Fell.
Ich rufe die Frage 85 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Besteht nach Auffassung des BMU nach geltender Gesetzeslage ein dynamischer Sicherheitsstandard für Atomkraftwerke, nach dem jeweils diejenige Vorsorge gegen Schäden
getroffen werden muss, die nach neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnissen erforderlich ist?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Frau Kollegin Höhn, ich beantworte Ihre Frage nach
dem Sicherheitsstandard wie folgt: Die rechtlichen
Pflichten des Betreibers ergeben sich aus Gesetz und
Verordnungen. Sie werden durch Genehmigungen, nachträgliche Auflagen und aufsichtliche Anordnungen konkretisiert. Es ist bisher umstritten, ob nachträgliche Auflagen zur Anpassung der Kernkraftwerke an den sich
dynamisch fortentwickelnden Stand von Wissenschaft
und Technik erteilt werden können. Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich diese Rechtsfrage durch
die vorgesehene Änderung des Atomgesetzes erledigt.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Höhn? - Bitte.
Herzlichen Dank. - Frau Staatssekretärin, Sie haben
in der letzten Sitzung des Umweltausschusses gesagt,
das kerntechnische Regelwerk sei ein dynamisches Instrument, weil man mit den Ländern verhandele, und natürlich verhandele man auch über den Stand der Technik,
die sich weiterentwickelt. Können Sie die Aussage bestätigen, die Sie im Umweltausschuss getätigt haben,
nämlich dass damit das kerntechnische Regelwerk natürlich etwas Dynamisches ist, das man mit den Ländern
entwickelt. Dieses kerntechnische Regelwerk liegt bei
Ihnen auf dem Tisch und muss nur noch in Kraft gesetzt
werden. Wenn dies geschieht, dann haben wir einen dynamischen Sicherheitsstandard, der sich dem Stand der
Technik anpasst. Können Sie das bestätigen?
Frau Kollegin Höhn, wir wollen einen neuen § 7 d in
das Atomgesetz einfügen. In diesem § 7 d ist von weiterer Vorsorge gegen Risiken die Rede. Das sind zusätzliche Maßnahmen, die in das Atomgesetz eingebracht
werden.
Die Behauptung, da ändere sich nichts, es sei alles
schon in Ordnung, ist also nicht richtig. Im bestehenden
System kann eine Behörde Auflagen erteilen. Wir wollen jetzt die Verpflichtung für die Betreiber einführen,
selber etwas zu tun, und das ist ein qualitativer Fortschritt.
Haben Sie eine weitere Frage? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass ich auch diese
zweite Frage noch stellen darf. - Frau Staatssekretärin,
wie gehen Sie mit dem Vorwurf der Umweltverbände
um? Dieser Vorwurf lautet: § 7 d ist nicht zusätzliche Sicherheit, sondern dynamische Unsicherheit. Im geltenden Gesetz steht der Begriff der größtmöglichen Sicherheit. Sie wollen das durch Ihren neuen Sicherheitsbegriff
ersetzen und damit de facto den höchsten Standard, der
jetzt gilt, absenken.
Im Übrigen will ich noch kurz bemerken, dass Sie um
meine erste Nachfrage geschickt herumgeschlittert sind.
Die Frage war: Warum setzen Sie das kerntechnische
Regelwerk nicht in Kraft? Das garantierte nämlich dynamisch mehr Sicherheit.
Wir sind in einem permanenten Kontakt mit den Ländern, haben auf den Seiten des Bundesumweltministeriums
auch eine ganze Liste von Vorschlägen veröffentlicht.
Noch einmal: Neu ist, dass wir Pflichten für die Betreiber einführen wollen. Bisher können die Behörden Auflagen erteilen. Jetzt sollen die Unternehmen verpflichtet
werden, selbst nach dem Stand von Wissenschaft und
Technik nachzurüsten. Das ist ein qualitativer Fortschritt. Insofern teile ich die Kritik der Verbände nicht.
({0})
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Fragen 86 und 87
des Kollegen René Röspel werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Die Frage 88 wird nach unserer Geschäftsordnung behandelt.
Damit rufe ich die Frage 89 der Kollegin Sabine
Stüber auf:
Welches sind die offenen Fragen, die den Bundesminister
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk
Niebel, veranlassten, dem Dschungel-statt-Öl-Modellprojekt
- Yasuní-ITT-Initiative - im Yasuní-Nationalpark in Ecuador
zum Schutz der biologischen Vielfalt die Unterstützung zu
entziehen?
Für die Beantwortung der Fragen steht Frau Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Verfügung.
Danke sehr, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Stüber,
Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Bundestag und Bundesregierung haben die Yasuní-ITT-Initiative seit ihrer
Vorstellung im Juni 2007 mit großem Interesse verfolgt,
ohne sich jedoch auf einen konkreten Beitrag zum ITTFonds festzulegen. Die von der Bundesregierung und
dem Bundestag gestellten Fragen, die wiederholt an die
ecuadorianische Regierung herangetragen wurden,
konnten bislang noch nicht zufriedenstellend und hinreichend beantwortet werden.
Am 28. September hat die ecuadorianische Ministerin
für Natur- und Kulturerbe dem BMZ ein Schreiben mit
Einlassungen zu diesen Fragen überreicht. Das BMZ
wird sorgfältig prüfen, ob damit die offenen Fragen beantwortet sind. Wesentlich erscheinen dabei folgende
Punkte: Erhöhung des Einflusses der Zivilgesellschaft,
Kohärenz mit international vereinbarten Konzepten zum
Klimaschutz und zur Walderhaltung - das betrifft gerade
das REDD-Programm -, Spezifizierung der Schätzungen über Ölvorkommen, Präzedenzwirkung für andere
Länder und insbesondere die Einpassung des ITT-Projektes in eine Entwicklungsplanung, die nachhaltiges
Wachstum ermöglicht.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Nein.
Aber eine Nachfrage hat die Frau Kollegin Höhn.
Frau Staatssekretärin, es gibt eine Initiative aus den
Reihen der Bundestagsabgeordneten, die sich sehr intensiv für genau diesen Fonds einsetzen, also dass Gelder gegeben werden, damit in Ecuador nicht nach Öl gebohrt
wird und der Regenwald erhalten bleibt, damit etwas für
den Klimaschutz getan wird. Diese Initiative ist ja von der
letzten Regierung aufgegriffen worden. Es wäre weltweit
ein einmaliger Vorgang, ein solches Projekt auf den Weg
zu bringen. Das hätte hervorragende Präzedenzwirkung.
Viele andere könnten sich dem anschließen. Warum will
das Bundesentwicklungsministerium diese Initiative so
weit hinauszögern? Damit steht Deutschland als ein Land
da, das eine Zusage, die de facto schon gegeben worden
ist, wieder zurückzieht. Damit verursacht die Bundesregierung letzten Endes Schaden für Deutschland in der
ganzen Welt.
Frau Kollegin Höhn, die Bundesregierung hat bislang
keine Zusage gegeben. Es handelt sich um einen Betrag
von 650 Millionen Euro; über 13 Jahre sind 50 Millionen Euro jährlich anvisiert. Aber wohlgemerkt: Bisher
liegen hierfür keine Zusagen vor.
Zielsetzungen wie Erhalt des Nationalparks und mit
Blick auf die Biodiversität insbesondere Erhalt des Waldes weiß auch das BMZ in besonderer Weise zu schätzen. Wir wollen aber - es ist notwendig, das genau zu
prüfen -, dass vorher folgende Fragen beantwortet werden, nämlich ob eine solche Fondsfinanzierung wirklich
verlässlich und seriös darstellbar ist und inwieweit wir
hier möglicherweise einen Negativpräzedenzfall schaffen könnten. Bedenken Sie bitte, dass es in 13 weiteren
Ländern ähnliche Situationen gibt und eine Unterstützung dieses Projektes damit Folgewirkungen haben
könnte. Das heißt, wir als BMZ müssen dieses Projekt
einschließlich der Fondsabsicherung im Detail prüfen.
Nach dieser Prüfung werden wir unsere abschließende
Entscheidung treffen.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, vielen Dank für Ihre Ausführungen. Diese führen mich zu der Frage, ob der Bundesregierung bewusst ist, welch labiler Zustand im Moment
in dem sich doch auf einem demokratischen Weg befindlichen Land Ecuador herrscht.
Wir haben ja in der letzten Woche mitbekommen, welche Konsequenzen Einschnitte bei den Sicherheitskräften in einem im Aufbau befindlichen demokratischen
System haben. Ist der Bundesregierung bewusst, welche
enorme Wirkung damit gerade in einem zum Schwellenland werdenden Land wie Ecuador verbunden ist?
Herr Kollege, gerade weil wir uns bewusst sind, dass
die gesamtpolitische Lage, aber auch die ökologische
Lage in Ecuador in einem sehr fragilen Zustand sind, ist
eine wirklich detaillierte Vorprüfung in Bezug auf dieses
Projekt zum Schutze aller notwendig. Bitte geben Sie
uns die Zeit, diese Prüfung vorzunehmen.
Nun rufe ich noch die Frage 90 der Kollegin Sabine
Stüber zum gleichen Sachverhalt auf:
Was will der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, unternehmen, damit
die Fragen geklärt und die Bedenken bezüglich einer Einzahlung in den Treuhandfonds für die Yasuní-ITT-Initiative ausgeräumt werden können?
Frau Kollegin Stüber, die Antwort lautet wie folgt:
Die Yasuní-ITT-Initiative ist eine interessante und wirklich innovative Idee Ecuadors und damit eine souveräne
Entscheidung der dortigen Regierung. Das BMZ hat die
ecuadorianische Regierung in der Anfangsphase bei der
Formulierung der Initiative unterstützt, und die Bundesregierung wird auch weiterhin engagiert die Umstände
und ihre Unterstützung der Initiative im Detail prüfen.
Nach Abschluss der Prüfung wird Ihnen das BMZ das
Ergebnis übermitteln.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ja.
Bitte sehr.
Ich hätte gern gewusst, wie lange Sie brauchen, um
die Antworten von Frau Espinosa zu prüfen, und wann
wir über das Ergebnis informiert werden.
Frau Kollegin Stüber, das hängt davon ab, wie umfangreich die vorliegenden Antworten sind und ob weitere Nachfragen nötig sind. Ich verweise auch darauf,
dass Staatspräsident Correa Anfang November nach
Deutschland kommen wird. Bei diesem Besuch sind detaillierte Gespräche auch zu diesem Projekt geplant.
Damit haben wir den zeitlichen Rahmen der Fragestunde voll ausgeschöpft. Die restlichen Fragen werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Projekt Stuttgart 21
Diese Aktuelle Stunde wurde von allen Fraktionen
verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Peter Friedrich für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am leichtesten wäre es jetzt, die aufgeheizte Stimmung
um Stuttgart 21 in den Bundestag zu übertragen. Die
Vorkommnisse der letzten Tage bieten genug Material
für wechselseitige Anschuldigungen, um eine ganze Aktuelle Stunde zu füllen. Meine Bitte ist: Lassen wir das
bleiben! Der Streit um Stuttgart 21 ist eine Herausforderung für die Demokratie. Es ist unsere parlamentarische
Verantwortung, hier und heute kein Klischee von Parlament zu liefern, sondern einen vernünftigen Umgang mit
diesem komplexen Thema.
({0})
Zu Beginn der Debatte möchte ich all denen, Polizisten wie Demonstranten, die letzten Donnerstag Schaden
an Körper und Seele genommen haben, gute Besserung
wünschen. Was ihnen widerfahren ist, bedauern wir alle
zutiefst.
Es gab Fehler auf beiden Seiten. Diese Fehler sind
nicht rückgängig zu machen. Gerade deshalb muss die
politische Verantwortung für die Vorkommnisse des letzten Donnerstags übernommen werden. Mit Verlaub: Ein
Ministerpräsident, der, nachdem er in den letzten Wochen selbst den Konflikt verbal massiv angeheizt hat,
jetzt bei sich selbst keinen Fehler sehen kann oder keinen Fehler sehen will, scheint mir dieser Verantwortung
nicht gewachsen.
({1})
Es ist die Aufgabe der Politik - nicht der Polizei -, einen
gesellschaftlichen Konflikt zu lösen. Deswegen bedauern wir außerordentlich, dass die Polizei genauso wie die
Demonstranten zu den Leidtragenden der Unfähigkeit
geworden sind, den Konflikt in Baden-Württemberg aufzulösen.
Der Satz „Es ist doch nur ein Bahnhof“ ist schon
lange nicht mehr wahr. Stuttgart 21 ist durch das Verfahren und durch die Eskalation der letzten Woche für die
Bürger zu einem Symbol dafür geworden, wie die Regierenden mit den Bürgern umgehen. Sie selbst - allen
voran die Bundeskanzlerin - haben es zum Symbol über
die Zukunftsfähigkeit des Landes, zumindest über Ihre
Vorstellung von Zukunftsfähigkeit, erhoben.
Diese Überhöhung wirkt wie ein Brandbeschleuniger
für den Konflikt. Deswegen ist es der erste Schritt zur
Beruhigung des Konfliktes, die Fragen in Ruhe auszudiskutieren und die Diskussion nicht weiter zu überfrachten. Schlagstöcke und Pfefferspray ersetzen keine
Argumente, genauso wenig wie Sitzblockaden und Feuerwerkskörper.
({2})
Um über die sachlichen Fragen und die Fragen der
Legitimation diskutieren zu können, fordern wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, einen Baustopp und einen Vergabestopp für Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstimmung. Man kann nicht dauernd neue Fakten schaffen
und den Entscheidungsspielraum der Bürgerinnen und
Bürger Tag für Tag einschränken.
({3})
Das Versprechen, den Südflügel derzeit nicht abzureißen, ist eine hohle Geste.
({4})
Die Einsetzung des Bundesministers a. D. Heiner
Geißler als Schlichter ist ein guter Vorschlag; aber wenn
der Ministerpräsident zugleich erklärt, dass über alles
geredet werden darf, nur nicht über das Projekt selbst,
zeigt er, dass er den Konflikt in der Sache noch immer
nicht verstanden hat.
({5})
Damit entwertet er seinen Vorschlag in dem Moment, in
dem er ihn macht. Denk- und Sprechverbote sind genau
die Zutaten, die in Stuttgart zu der Situation geführt haben, in der wir uns heute befinden.
Ein demokratischer Beschluss enthebt uns nicht der
Möglichkeit und auch nicht der Notwendigkeit, weiter
darüber zu diskutieren. Ich war letzten Donnerstag
nachts, als die Bäume fielen, im Schlossgarten in Stuttgart. Ich kann Ihnen sagen: Trotz der emotionalen Aufgewühltheit, trotz der Wut und der Betroffenheit der
Menschen kann man weiterhin mit ihnen diskutieren.
Kein Zweifel: Stuttgart 21 hat alle formalen Bedingungen demokratischer Legitimation erfüllt. Aber auch
wenn alle notwendigen demokratischen Anforderungen
erfüllt worden sind, kann man nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies eben nicht ausreicht, um tatsächlich die
Akzeptanz der Menschen für dieses Projekt zu gewinnen.
Die stärkste Form demokratischer Legitimation, nämlich
durch einen positiven Volksentscheid, hat Stuttgart 21
nicht. Es ist möglich, auf Landesebene nachzuholen, was
damals durch OB Schuster in Stuttgart versäumt wurde.
Das wäre nötig, um Frieden in diesen Konflikt zu bringen.
({6})
Das ist für uns Parlamentarier keine unproblematische Wahrheit: Die Verfahren der parlamentarischen Demokratie allein reichen nicht mehr aus, um genug Akzeptanz für solch ein Projekt zu schaffen. Deswegen
muss man seine Meinung in der Sache nicht ändern; aber
gerade wenn man von der Sache überzeugt ist und
Stuttgart 21 für die bessere Alternative hält, muss man
für eine neue, eine breitere Legitimationsgrundlage streiten. Das geht nur mit einer Volksabstimmung.
Wenn Sie von der Sache so überzeugt sind, warum
haben Sie dann Angst, mit dieser Frage vor das Volk von
Baden-Württemberg zu treten?
({7})
Wenn Sie - wie auch wir - Ihrer Sache sicher sind, warum fürchten Sie sich dann vor dem Urteil der mündigen
Bürger? Warum bauscht die Landesregierung juristische
Scheinargumente auf, anstatt das Volk selbst seinen Willen bestimmen zu lassen? Eine Volksabstimmung macht
das Parlament nicht überflüssig. Sie ist auch kein Angriff auf die Demokratie, im Gegenteil.
Herr Kauder, Sie werden mir sicherlich zustimmen:
Die Schweiz ist kein Land des Rückschritts und Österreich in keiner Weise wirtschaftsfeindlich,
({8})
obwohl es ihnen gelingt, mit direkter Demokratie die
Akzeptanz zu schaffen, die man braucht, um ein solches
Projekt durchzusetzen.
({9})
Deswegen ist es der Weg der Vernunft und der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass der Frieden in die Stadtgesellschaft Stuttgarts und das Land Baden-Württemberg zurückkehrt. Deswegen fordern wir Sie auf - Herr
Ramsauer, Sie können das auf den Weg bringen -: Sorgen Sie für einen Baustopp! Sorgen Sie für einen Vergabestopp! Lassen Sie uns eine Volksabstimmung in Baden-Württemberg durchführen, damit die Menschen
entscheiden können und nicht weiter über ihre Köpfe
hinweg entschieden wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stefan Kaufmann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Stuttgarterinnen und Stuttgarter an den Bildschirmen!
({0})
Tief bestürzt habe ich die Bilder aus dem Stuttgarter
Schlossgarten, Teil meines Wahlkreises, verfolgt, Bilder,
die ich in dieser Form in meiner Heimatstadt noch nicht gesehen habe. Wie konnte es nach vielen Wochen des ganz
überwiegend friedlichen Protestes gegen Stuttgart 21
dazu kommen? Zunächst geht es doch um nicht mehr als
um einen Durchgangsbahnhof, eine neue Flughafenanbindung und eine neue Schnellbahnstrecke von Stuttgart
nach Ulm als Teil der transeuropäischen Magistrale
Paris-Wien.
({1})
Alles zusammen birgt eine einmalige Zukunftschance
für die international führende Wirtschaftsregion Stuttgart
und den Industriestandort Baden-Württemberg - ein Infrastrukturprojekt von nationaler Bedeutung.
({2})
Zwischen dem Grundsatzbeschluss für das Projekt im
Jahr 1995 und heute liegen 15 Jahre intensiver Diskussion und Planung.
An der Legitimation des Projekts können angesichts
zahlreicher parlamentarischer Entscheidungen mit deutlicher Mehrheit auf Ebene von Bund, Land, Region und
Stadt keine Zweifel bestehen;
({3})
Herr Kollege Friedrich hat es eben gesagt. Die Notwendigkeit zur Neuordnung des Bahnknotens und zur Anbindung des Stuttgarter Bahnhofes an das europäische
Hochgeschwindigkeitsnetz war zudem über alle Parteien
hinweg stets Konsens in diesem Hause. Noch 2005 haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD im Bundestag einen Antrag gestellt, in dem Sie forderten, der Magistrale
Paris-Budapest und somit der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm höchste Priorität einzuräumen.
({4})
Dies alles wurde nun auf dem Altar der grünen Verhinderungsstrategie geopfert. Eine Neubaustrecke soll es
nicht mehr geben und damit auch keine Verlagerung des
Individualverkehrs auf die Schiene. Als Gegenentwurf
zu Stuttgart 21 bleibt eine milliardenteure Ertüchtigung
des bestehenden Kopfbahnhofs samt marodem Gleisvorfeld und der Bestandsstrecke nach Ulm übrig. Das sogenannte Alternativkonzept K 21, das Grüne und Linke
seit Jahren propagieren und das Tausende auf die Straße
gelockt hat, existiert nur auf dem Papier. Es ist und
bleibt nichts anderes als ein Phantom.
({5})
Sicherlich: Den Projektpartnern wie auch uns Befürwortern aus CDU/CSU, FDP und bis zuletzt auch SPD
sind Fehler unterlaufen. Der Kardinalfehler war, nicht
alle Bürger frühzeitig und ausreichend über die herausragenden Vorteile von Stuttgart 21
({6})
für die Zukunft unseres Landes informiert und für das
Projekt begeistert zu haben. Somit wurde den bestens organisierten Projektgegnern lange Zeit und viel Raum gelassen, um die Bevölkerung mit immer neuen Meldungen und Halbwahrheiten zu verunsichern.
({7})
Der Protest ist dabei längst über das Projekt hinaus zu einer politisch instrumentalisierten Machtprobe zwischen
„denen da unten“ und „denen da oben“ geworden
({8})
und stellt damit auch die Rolle von uns Parlamentariern
als demokratisch gewählten Volksvertretern infrage. Das
müssen wir ernst nehmen.
Versuchen wir vor diesem Hintergrund eine Analyse
der Vorkommnisse vom vergangenen Donnerstag: Nicht
überraschen kann, dass die Polizei angesichts der Zahl
der zu erwartenden Demonstranten und der Art der angekündigten Proteste - Sitzblockaden, Baumankettungen
usw. - entsprechend vorbereitet und präsent war. Allerdings hat sich der Einsatz nach allem, was wir heute wissen, anders entwickelt als geplant. Dabei können wir die
in der Öffentlichkeit teilweise unterstellte vorsätzlich angeordnete Gewaltausübung definitiv ausschließen. Die
Polizei hat unser aller Vertrauen verdient.
({9})
Die dennoch bestehenden Zweifel, ob der Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Wahl der polizeilichen Mittel insbesondere gegenüber Kindern und
Jugendlichen im Laufe des schwierigen Einsatzes hinreichend berücksichtigt wurde, werden gegebenenfalls gerichtlich überprüft. An Klarheit haben auch das Land
und die Einsatzleitung der Polizei ein Interesse; denn es
gibt fundierte Berichte und Bilder über das Verhalten
von Demonstranten, die zur Eskalation beigetragen oder
diese billigend in Kauf genommen haben.
({10})
Hinzu kommt, dass Schutzbefohlene möglicherweise bewusst großen Gefahren ausgesetzt wurden. Auch dieses
Fehlverhalten muss aufgearbeitet werden.
({11})
Jedenfalls war die Parallelität von Schülerdemonstration
und polizeilich geschützter Baumfällaktion höchst unglücklich. Wir sind uns einig, dass so etwas nicht noch
einmal passieren darf.
Zurück zum Projekt. Ich will in Erinnerung rufen,
was ein Projektabbruch bedeuten würde: immens hohe
Schadenersatzzahlungen und Rückabwicklungskosten,
({12})
erneute jahre- oder gar jahrzehntelange Planungen und
Finanzierungsverhandlungen mit höchst ungewissem
Ausgang und neuen Betroffenheiten. Angesichts dessen
kann, Herr Kollege Friedrich, auch der von der SPD geforderte Volksentscheid über Stuttgart 21 mit Ausstiegsszenario kein probates Mittel sein; er ist im Übrigen
- wie wir seit gestern aufgrund des Gutachtens von Professor Kirchhof wissen - auch verfassungswidrig.
({13})
Stuttgart 21 ist ein komplexes Projekt. Deshalb müssen
wir die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Aber: Stuttgart 21 macht Sinn. Deshalb steht die Union weiterhin
geschlossen hinter dem Projekt, ohne Wenn und Aber.
({14})
Welche Schritte sind nun als Nächstes notwendig?
Wir brauchen eine Deeskalation in Wort und Tat, und
zwar auf beiden Seiten. In diesem Zusammenhang ist es
das richtige Zeichen, dass der Südflügel des Bahnhofs
zunächst nicht abgerissen und im Schlossgarten kein
weiterer Baum gefällt wird. Lassen Sie uns in gegenseitigem Respekt vor der Meinung des anderen und ohne
populistisch provozierende Begleittöne zunächst eine
neue Verständigungs- und Gesprächsebene finden. Lassen Sie uns die Arbeit des von Ministerpräsident Mappus
angeregten runden Tisches durch eine Art Bürgerbeirat
begleiten. In ihm sollen Gegner und Befürworter des
Projekts aus der Bürgerschaft an der konkreten Ausgestaltung von Stuttgart 21
({15})
und insbesondere an der Planung des neu entstehenden
Stadtteils auf den frei werdenden Gleisflächen direkt beteiligt werden. Lassen Sie uns dort, wo in zehn Jahren
Tausende neue Arbeitsplätze, 20 Hektar zusätzlicher Park
und bis zu 11 000 neue Wohnungen entstehen sollen, ein
Stadtquartier der Zukunft planen, eine Mustersiedlung
- wie schon die Weißenhofsiedlung in Stuttgart - für
nachhaltiges Bauen und urbanes Wohnen. Stuttgart hat
es verdient, dass wieder Vernunft, Besonnenheit und
Mäßigung die Oberhand gewinnen. Das ist es nämlich,
was uns Schwaben schon immer auszeichnet und über
Jahrzehnte zu einem hohen Lebenswert und großer Geschlossenheit in unserer Stadt beigetragen hat.
Vielen Dank.
({16})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch in Berlin interessiert man sich für Stuttgart. Man interessiert sich aber vor allen Dingen für dieses Land. Ich glaube, Sie haben überhaupt nicht begriffen, dass wir es mit einem neuen Zeitgeist zu tun haben.
({0})
Ich will Ihnen beschreiben, woran das liegt und woran
man das messen kann.
Sie stellen sich hier hin und sagen: Alle Genehmigungen für Stuttgart 21 sind erteilt. Alle Verträge sind geschlossen. Es lässt sich juristisch nichts mehr machen. Wenn man das früher unserer deutschen Bevölkerung
gesagt hätte, wäre sie zu Hause geblieben. Da hätte ich
stundenlang zu einer Protestdemo aufrufen können; es
wären vielleicht 100 Leute gekommen. Diesmal interessiert die Bevölkerung nicht, was Sie sagen. Warum
nicht? Was hat sich verändert? Weshalb werden es von
Demo zu Demo mehr Menschen, obwohl Sie versuchen,
das mit diesen Argumenten zu verhindern? Der Grund
ist: Der Zeitgeist hat sich verändert. Sie haben recht: Es
gibt eine neue Distanz zwischen der Regierung und den
Regierten. Das spüren alle. Das liegt mitunter auch an
dieser Bundesregierung; denn Sie stimmen die gesamte
Politik in Bezug auf die Banken mit der Bankenlobby
ab,
({1})
Sie stimmen die gesamte Gesundheitspolitik mit den privaten Krankenversicherungen ab, Sie stimmen die gesamte Energiepolitik mit der Energielobby ab. Aber
einen Friseurmeister, einen Hartz-IV-Empfänger oder
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer allgemein fragen
Sie nie, welche Entscheidungen Sie in Bezug auf sie
treffen sollen. Das merken die Leute. Deswegen entsteht
ein neuer Zeitgeist, so etwas wie ein rebellischer Geist.
({2})
Das ganze Projekt ist nicht zu erklären. Eine Strecke
nach Ulm kann man bauen, eine Anbindung an den
Flughafen kann man bauen. Deswegen braucht man keinen wahrscheinlich 10 Milliarden Euro kostenden unterirdischen Bahnhof. Das ist einfach Wahnsinn, was Sie
vorhaben.
({3})
Damit komme ich zu meinem nächsten Argument. Sie
sagen der Hartz-IV-Empfängerin, Sie hätten kein Geld
mehr, es gebe nicht mehr als 5 Euro. Sie sagen ihr, dass
das Elterngeld gestrichen werden muss. Auf der einen
Seite beschließen sie in großem Umfang Sozialkürzungen, und auf der anderen Seite sagen Sie: Natürlich haben
wir 10 Milliarden für einen unterirdischen Bahnhof. - Das
verstehen die Leute einfach nicht mehr. Ich glaube, das
ist auch nachvollziehbar.
({4})
Wir haben die Demonstrationen erlebt. Sie waren
friedlich. Es gab ein gutes Einvernehmen zwischen den
Demonstrantinnen und Demonstranten und der Polizei;
aber plötzlich kommt diese völlig unverhältnismäßige
Gewaltanwendung durch die Polizei. Ich sage Ihnen:
Dafür gibt es politisch Verantwortliche. Wenn Sie nicht
dafür sorgen, dass da aufgeräumt wird und die Verantwortlichen dafür verantwortlich gemacht werden, dann
zerstören Sie das Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung,
und zwar nicht nur in Stuttgart.
({5})
Ich sage Ihnen noch etwas: Viele der Demonstrantinnen
und Demonstranten haben die CDU gewählt. Sie leisten
gerade den größten Beitrag dazu, dass sie es nie wieder
tun werden.
({6})
Das ist das Einzige, was ich daran begrüße.
({7})
Jetzt haben wir eine neue Situation. Die Bundeskanzlerin hat sich dieses Themas angenommen. Manchmal
ist es eben auch falsch, wenn man sich eines Themas annimmt.
({8})
Sie hat hier erklärt, die Landtagswahl sei der Volksentscheid über Stuttgart 21 - mal abgesehen davon, dass
eine Landtagswahl kein Volksentscheid ist; das möchte
ich jetzt aber gar nicht erklären.
({9})
- Warten Sie doch einmal! - Wenn es denn ein Volksentscheid sein soll, dann müssen Sie ein Minimum an Logik
aufbringen. Ein Volksentscheid macht doch nur Sinn,
wenn Sie einen sofortigen Baustopp verhängen. Dann ist
noch etwas zu entscheiden. Wenn Sie einfach weiterbauen und sagen, dass im März entschieden werden soll,
veralbern Sie das Volk. Das geht doch nicht zusammen.
({10})
- Ich weiß, dass ein halbes Gebäude stehen bleiben soll.
Aber ein Baustopp ist ein Baustopp. Ich kann dann nicht
da weiterbauen und da weiterbauen und nur an diesem
Stück nicht mehr weiterbauen. Sie schaffen Tatsachen,
und wenn Sie neue Tatsachen geschaffen haben, ist darüber nicht mehr zu entscheiden. Das merken die Demonstrantinnen und Demonstranten, und das merkt auch
die übrige Bevölkerung.
({11})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie gefährden damit die Demokratie. Heiner Geißler als Vermittler einzusetzen - der ist
in Ordnung -, ist keine schlechte Idee, aber nicht, wenn
Sie weiterbauen. Er kann doch nur vermitteln, wenn Sie
einen Baustopp einlegen. Nur dann kann vermittelt werden und eine gemeinsame Lösung gefunden werden.
({12})
Ich glaube, Sie haben eines nicht gemerkt: Die Bevölkerung wird täglich unzufriedener. Ich sage gar nicht,
dass sie dadurch so wird, wie ich sie mir vorstelle, oder
so, wie Sie sie sich vorstellen. Nein, es ist viel schlimmer. Es könnten unbeherrschbare Prozesse in Erscheinung treten.
({13})
- Meinen Sie?
({14})
- Sie haben keine Ahnung von mir. Sie quatschen nur
dummes Zeug, wenn ich Ihnen das einmal ganz deutlich
sagen darf.
({15})
Es geht um etwas ganz anderes. Ich sage Ihnen: Die
Zeit ist reif; wir müssen etwas ändern. Es geht nicht
mehr an, dass Sie sich einmal, bei der Bundestagswahl,
wählen lassen und die Bevölkerung dann vier Jahre lang
nicht befragen. Die Zeit ist reif für Volksentscheide. Geben Sie sich einen Ruck. Wir brauchen eine attraktivere
Demokratie. Genau dafür streiten wir.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Patrick Döring für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir brauchen eine lebhafte und intensive Auseinandersetzung mit
der betroffenen Bevölkerung und den betroffenen Kommunen über das Projekt, und zwar auch in diesem Haus.
Ja, man kann sich auch Volksentscheide zu Infrastrukturprojekten vorstellen, aber nicht, wenn die Planfeststellungsverfahren abgeschlossen sind.
({0})
Der Grundsatzbeschluss wird vorher gefällt. Das ist die
Reihenfolge, in der man das machen kann.
({1})
Geschätzter Kollege Friedrich, Sie haben recht: Es
geht um mehr als nur um einen Bahnhof. Nur, glaubt irgendjemand in diesem Hause ernsthaft, dass Planfeststellungsverfahren überhaupt noch in Gang gesetzt
würden, wenn die Ergebnisse der Verfahren - es gab
Tausende von Bürgereinwendungen, die ordentlich behandelt wurden, und mehrere Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichtsurteile in dieser Sache - am Ende
durch einen von welcher politischen Richtung auch immer initiierten Volksentscheid vom Tisch gewischt werden können? Glauben Sie, dass das den Rechtsstaat
stärkt? Ich nicht.
({2})
Der Gedanke zum Zeitgeist, den der geschätzte Kollege Gysi hier vorgetragen hat, ist gar nicht so falsch. Es
ist aber nicht Zeitgeist, dass die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Meinung kundtun wollen. Zeitgeist ist vielmehr, dass bewusst, in diesem Fall insbesondere von der politischen Linken und den Grünen,
versucht wird, mit falschen Gutachten
({3})
und völlig aus der Luft gegriffenen Vorwürfen, durch
eine Diskreditierung des Planfeststellungsverfahrens
({4})
und dadurch, dass Risiken aufgezeigt werden, die es gar
nicht gibt, die Menschen zu verunsichern und einen
Konflikt herbeizureden.
({5})
Das ist auch nicht verantwortungsbewusst.
Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens sind
60 Alternativen geprüft worden.
({6})
Im baden-württembergischen Landtag ist 150 Mal, im
Rat der Stadt Stuttgart über 200 Mal seit Mitte der 90erJahre über diese Maßnahme strittig diskutiert worden.
({7})
Es gibt kaum ein Infrastrukturprojekt, das in den dafür
zuständigen Gremien und weit darüber hinaus größere
Beachtung gefunden hat. Das gehört zur politischen Verantwortung. Ich sage, weil die Opposition von heute irgendwann einmal die Regierung von morgen sein wird:
({8})
Es gehört auch zur politischen Führung, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, dass man die rechtstaatlichen
Prozesse verteidigt und nicht verballhornt.
({9})
Immer wieder - wir werden das im Laufe der Debatte
noch hören - wird der Eindruck vermittelt, dieses Projekt sei eine gigantomanische Kopfgeburt früherer Bahnchefs oder früherer Bundesverkehrsminister.
({10})
Zur Erinnerung: Der Finanzierungsvertrag trägt die Unterschrift von Wolfgang Tiefensee, nicht die von Peter
Ramsauer.
({11})
Das Gegenteil ist der Fall: Die sogenannten Alternativen, die sogenannte oberirdische Strecke K 21 mit Erhalt
des Kopfbahnhofes ist schon 2006 vom Oberverwaltungsgericht als nicht planfeststellungsfähig eingestuft
worden. Deshalb hat man das nicht weiter verfolgt. Auch
daran muss man sich erinnern dürfen. Man sollte nicht
den Eindruck erwecken, dass könne man von heute auf
morgen umsetzen.
({12})
Das Verhältnis zur direkten Demokratie ist bei einigen Kolleginnen und Kollegen ohnehin ambivalent. Der
geschätzte Kollege Özdemir
({13})
hat nach dem Volksentscheid der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg zur Schulreform schwer beklagt, dass
das Ergebnis so war, wie es war. In einem Zeitungsartikel beklagt er, es sei bedauerlich, dass immer die Falschen zur Abstimmung bei einem Volksentscheid gehen.
({14})
Ja, so kann man das sehen. Man kann auch lieber einen
Hubschrauber nehmen, der nur 8 Minuten in die Innenstadt braucht, statt eine S-Bahn-Strecke zu bauen, auf
der man ebenfalls nur 8 Minuten brauchen würde.
({15})
Das kann man machen, wenn man so durch die Welt gehen will.
({16})
Wir haben eine Verantwortung dafür, dass wir Infrastrukturprojekte, politische Projekte mit dem Regelwerk,
das wir haben und kennen, erklären und transportieren.
Wir haben als Politik - das erwarte ich auch von der Opposition - die Verantwortung der politischen Führung.
Man darf diese Instrumente, nur weil einem etwas nicht
passt, nicht verballhornen und diskreditieren.
Vielen Dank.
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Döring, über Demokratie haben Sie so Ihre Vorstellung, wir haben eine andere. Demokratie ist nicht etwas,
das irgendwann einmal stattfindet und schon deshalb legitim ist, weil vor 15 Jahren eine Mehrheitsentscheidung
dazu stattgefunden hat.
({0})
Demokratie findet in diesem Land 365 Tage im Jahr
statt. Jeden Tag darf man in diesem Land eine Meinung
haben.
({1})
Wenn die Menschen in Stuttgart, in ganz BadenWürttemberg von ihrer Meinung und von ihrem gesunden Menschenverstand öffentlich Gebrauch machen,
dann sagen Sie, CDUler und FDPler, das seien alles Berufsdemonstranten,
({2})
das seien Aufgehetzte, das seien Zukunftsverweigerer
und das sei Wahlkampf. Ich sage an dieser Stelle: Demokratie heißt auch, ein wenig Respekt vorm Souverän und
seiner Meinung zu haben.
({3})
Wenn die Geschäftsgrundlage einer Entscheidung, die
man vielleicht einmal legal getroffen hat, abhanden
kommt, dann kann es passieren, dass diese Entscheidung
nicht mehr legitim ist. Wenn die Kosten nach oben gehen, wenn man im Haushalt gar keine Möglichkeiten
mehr hat, zum Beispiel Bildung zu finanzieren, und jeden Cent dreimal umdrehen muss, dann gehört es zur
Demokratie, einmal innezuhalten und sich zu fragen, ob
diese einmal getroffene Entscheidung haushalterisch,
verkehrspolitisch und städtebaulich im Jahr 2010 und
den folgenden Jahren überhaupt zu verantworten ist. Das
ist Demokratie, und darum geht es bei Stuttgart 21.
({4})
Haben Sie Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern!
Nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger ernst! Sie können nicht beklagen, dass die Leute nicht wählen gehen,
und fordern: „Engagiert euch doch politisch, habt doch
eine Meinung!“ - um sich danach zu wundern, dass die
Leute Sie ernst nehmen -, gleichzeitig aber auch sagen:
Macht das nur alle vier bis fünf Jahre! Das geht nicht. In
meinem Grundgesetz steht: Erstens. Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus. Zweitens. Das Volk übt diese
Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen aus.
Nächster Punkt. Im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes stehen die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Wenn in diesem Land gewünscht ist, dass
sich die Bürger äußern, dann muss man auch respektvoll
zur Kenntnis nehmen, dass Zehntausende, teilweise sogar 50 000 Menschen in Stuttgart auf dem Schlossplatz
stehen und sagen: Wir wollen, dass diese Entscheidung
überdacht wird. - Dann sind das Parlament, die Landesregierung und die Bundesregierung gefordert, dem respektvoll zu begegnen und darüber nachzudenken.
({5})
Sie sagen an dieser Stelle, das alles sei ganz neu.
Nein. Ich weiß zum Beispiel, dass die Grünen in BadenWürttemberg 1995 ein Konzept mit Alternativen zur
S-21-Planung vorgelegt haben. Wir haben immer gefragt: Ist das finanziell, verkehrspolitisch und städtebaulich zu verantworten? Wir haben immer gefordert: Legt
die Konzepte komplett offen! Die Bürger wollen darüber
diskutieren. Als Allererstes geht es um die Fragen: Ist es
richtig? Ist es plausibel?
Diskussion und Dialog sind keine Einbahnstraße, wo
der Bund und Herr Mappus sagen: Wir können zwar miteinander reden; aber im Wesentlichen wird alles so bleiben, wie es ist. - Meine Damen und Herren, hier im
Bundestag, an diesem Rednerpult, hat Angela Merkel
angekündigt, man wird die Wahl in Baden-Württemberg
zur Volksabstimmung machen.
({6})
Das können Sie haben, das wird so sein. Anders als
Gregor Gysi mache ich mir keine Sorgen darüber, wie
viele Stimmen Sie bekommen; ich mache mir Sorgen um
die gesamte Demokratie.
({7})
Denn wenn Sie glauben, es geht an dieser Stelle um
Macht und Gesichtswahrung, und deshalb Großprojekte
auf Teufel komm raus durchdrücken, dann tun Sie der
Demokratie in Deutschland keinen Gefallen.
({8})
Es ist gut, dass Herr Mappus nun Heiner Geißler als
Moderator vorgeschlagen hat; wir halten eine ganze
Menge von ihm. Aber es muss auch etwas zu moderieren
geben.
({9})
Eines ist ganz klar: Die Bürgerinnen und Bürger werden
sich nicht damit abfinden, wenn man ihnen die Frage
stellt, welche Farbe in Zukunft die Wände im S-21Hauptbahnhof haben sollen. Nein, meine Damen und
Herren, jetzt muss ein wirklicher Gesprächsprozess stattfinden. Heiner Geißler muss als Vermittler tätig werden,
und es muss eine Öffnung vorgenommen werden. Wir
brauchen einen gutachterlichen Prozess. Darüber, wer
das macht, können sich Gegner und Befürworter einigen.
Alle Zahlen, alle Fakten, alle verkehrspolitischen und
städtebaulichen Fragen müssen auf den Tisch. Damit es
auch etwas zu moderieren gibt, fordern wir einen Vergabe- und Baustopp; denn nur dann macht dieses Gespräch Sinn.
({10})
Ich fordere nicht nur von Herrn Ramsauer, sondern
auch von der Bundeskanzlerin: Sagen Sie Ja zu einem
solchen Gesprächsprozess, der wirklich offen ist! Frau
Bundeskanzlerin, sagen Sie als Chefin einer Regierung,
die sozusagen Anteilseignerin, Eigentümerin der Deutschen Bahn AG ist, ganz klar: Die Deutsche Bahn AG
wird dieses Projekt nicht auf Teufel komm raus durchdrücken. Sagen Sie klar: Der Satz von Herrn Grube, dass
niemand sonst entscheidet, wird zurückgezogen. Sagen
Sie: Auch die Deutsche Bahn AG wird unter dem Dach
des Grundgesetzes mit den Bürgern reden.
Sie haben die Chance, die Bürger ernst zu nehmen
und ihnen den Inhalt des Projektes zu erläutern. Dazu
gehört aber, dass Sie nicht nur sagen, der 27. März
nächsten Jahres ist ein Volksentscheid, sondern dass Sie
auch wirklich mit dem Volk ins Gespräch kommen. Deshalb fordern wir: Vergabestopp, Gutachten, Gespräche;
nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Maag für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Künast, ich will die Diskussion jetzt gern etwas
versachlichen; Sie waren ja gerade sehr laut.
({0})
Meine Heimatstadt Stuttgart macht Schlagzeilen, die
sich keiner wünscht. Es gab in Stuttgart Szenen, die sich
nicht wiederholen dürfen.
Unsere Polizei leistet gute und wichtige Arbeit.
({1})
Aber Bilder können auch machtvoll sein und vor allen
Dingen auch eine manipulierende Wirkung entfalten.
Wer das Bild dieses älteren Mannes gesehen hat, der mit
blutenden Augen weggeführt wurde, anschließend denselben Mann sieht, wie er sich offenbar absichtlich mit
nackter Brust und ausgebreiteten Armen vor den Wasserwerfer stellt, und nun liest, er habe andere schützen
wollen, lernt eines: auf eine saubere Aufarbeitung der
Ereignisse zu warten. Ärger, Wut und vor allem Hass
machen blind und sind schlechte Ratgeber.
({2})
Ich habe Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Der Polizeieinsatz muss und wird zügig aufgeklärt werden. Auch
mir ist jeder Verletzte einer zu viel.
({3})
- Frau Künast, Sie haben gerade geredet, jetzt bin ich
dran.
({4})
Stuttgart 21 bedeutet die Anbindung meiner Stadt
- ich komme aus Stuttgart - und meines Landes an eine
europäische Schnellbahntrasse und zusätzlich die Ertüchtigung des Hauptbahnhofs.
({5})
Ich will den Stuttgartern einige ihrer Ängste nehmen.
Stuttgart bleibt weiterhin eine grüne Stadt mit hoher Lebensqualität. Bisher stehen 35 Prozent der Gemarkung
unter Natur- und Landschaftsschutz. Nach der Realisierung gibt es circa 20 Hektar mehr grünen Park mitten in
Stuttgart.
({6})
Ich habe das Projekt seit 1995 persönlich begleitet.
Ich habe damals wie heute Stuttgart 21 und die Neubaustrecke als Glücksgriff für das Land und für die Stadt
empfunden. Europa, der Bund und das Land investieren
bei uns die Milliarden. Kurz gesagt: Stuttgart und Baden-Württemberg erwecken Vertrauen und haben deshalb Zukunft. Stuttgart 21 geht nicht - das ist immer ein
Vorwurf - auf Kosten anderer Projekte in BadenWürttemberg oder in Deutschland.
({7})
Weil das so ist, stehen auch die Kollegen im Land und
beim Bund hinter diesem Projekt und hinter uns.
({8})
Die Gründe derjenigen, die auf die Straße gehen, sind
unterschiedlich. Um den Hauptvorwurf vorwegzunehmen: Selbstverständlich wurden die Bürgerinnen und
Bürger - Herr Döring hat es vorhin angesprochen - beteiligt. 200-mal war das Projekt im Gemeinderat.
10 000 Bürger haben sich schriftlich im Planfeststellungsverfahren beteiligt. 60 Alternativen wurden geprüft. Der
Bürgerentscheid - auch das ist Wahrheit in einem Rechtsstaat - war aus Rechtsgründen nicht möglich.
Jetzt kommt das dicke Aber für uns: In der Folgezeit
haben wir, der Projektträger Bahn, Stadt und Land es
versäumt, sich mit denjenigen auseinanderzusetzen, die
nicht von Anfang an dabei waren. Für viele war das Projekt groß und vielleicht auch übermächtig. Es gibt Menschen, denen sich die Sinnhaftigkeit des Projekts nicht
automatisch erschließt. Derjenige aber, der nicht gehört
wird, wird wütend. Derjenige, der das Gespräch sucht
und nicht findet, wird laut. Genau deshalb versammeln
sich unter anderem die Bürger im Park. Das habe ich
mittlerweile gelernt. Ich habe im August mit den demonstrierenden Menschen vor dem Hauptbahnhof gesprochen. Ich habe ihnen zugehört. Ich weiß nicht, wie
viele von Ihnen nicht zum Demonstrieren, sondern zum
Hören dort waren.
({9})
Ich erkenne an, dass die überwiegende Mehrheit der Demonstranten ihrem Anliegen friedlich Ausdruck verleihen möchte.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, richtig ist aber
auch eines: Wir sind an einem Punkt, an dem sich Ablehnung und Zustimmung nicht mehr nur auf das Projekt
beziehen, sondern verselbstständigt haben. Einigen Menschen an der Spitze der Bewegung geht es um einen anderen Staat.
Frau Künast, liebe Grüne, ich wende mich jetzt ausdrücklich an Sie. Ich bin ziemlich enttäuscht von der
Spitze der Grünen im Bund; zum Land sage ich jetzt
nichts.
({10})
Es wäre aber schön, wenn Sie sich mit uns in einem normalen Stil auseinandersetzen würden. Sie sind gegen
Stuttgart 21. Das ist eine politische Entscheidung, die
ich respektiere. Ich kann sie nicht nachvollziehen, aber
Respekt ist vorhanden.
({11})
- Jetzt sehen Sie, wie wichtig Sie uns sind, Frau Künast.
Frau Künast, Sie tragen die parlamentarische Auseinandersetzung jetzt, nach zehn Jahren, auf die Straße.
({12})
Das ist schwierig, wenn nicht gar unverantwortlich.
Selbstverständlich ist es das Recht jedes Einzelnen,
zu demonstrieren. Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind Grundrechte und Teil unseres Rechtsstaats. In
Ihrem Aktionsbündnis haben Sie sich aber auch mit
Menschen gemein gemacht, deren Ziel nicht die ernsthafte Auseinandersetzung ist. „Lügenpack“ und „Mörder“ als Ausdrucksweisen gehören nicht zu meinem Verständnis von Rechtsstaat.
({13})
Ich erwarte, dass Sie sich distanzieren, und ich erwarte,
dass Sie konkret informieren.
Frau Künast, zu Ihrem Thema Baustopp und zu Moratorien bzw. zu der Entscheidung, die Bautätigkeit zu verschieben: Es gehört zur Verantwortung eines Parlaments
und der Parlamentarier, einmal getroffene Entscheidungen auch in Vollzug zu setzen.
({14})
Der Ministerpräsident dieses Landes hat Ihnen heute
die Hand gereicht. Uns ist der Dialog wichtig.
({15})
Ich setze auf uns, und ich setze auch auf Sie als gute Demokraten. Ich werde mich gerne einbringen, und ich
wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dasselbe auch tun
würden.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man der Debatte hier aufmerksam folgt
und versucht, zuzuhören, dann, glaube ich, wird deutlich, wo der Kern des Problems liegt. Die ganze Debatte
hat sich nämlich von der eigentlichen Sachfrage entfernt.
({0})
Es ist in Stuttgart und darüber hinaus eine Situation
entstanden, durch die das Zuhören, das gegenseitige Verständnis und der verantwortungsvolle Umgang miteinander sehr schwierig gemacht werden.
Die entscheidende Frage ist jetzt nicht - das bestreite
ich auch überhaupt nicht -, ob Stuttgart 21 legitim ist.
Niemand bestreitet, dass alle Beschlüsse zu Stuttgart 21
bisher legitim gefasst worden sind. Das alles ist rechtsstaatlich sauber und einwandfrei gelaufen.
({1})
Das ist so. Trotzdem haben wir in Stuttgart und darüber
hinaus eine Situation, die einen schweren Schaden für
die Demokratie bedeutet; denn man sagt einfach: Wir
haben recht, mir san mir, und es bleibt so. - Das kenne
ich aus 1986: Wackersdorf. - Das ist genau dieselbe Haltung, die es auch dort gab.
Wenn man keinen Schaden für die Demokratie hervorrufen will, dann sollte man nicht, wie der Mappus das
gemacht hat,
({2})
den strammen Max markieren, sondern dann sollte man
vor allem kein Angsthase sein, wenn es darum geht, einen echten Volksentscheid zuzulassen.
({3})
Wenn die Argumente so gut sind, dann kann man damit
auch überzeugen.
Ich sehe in einem Volksentscheid die einzige Möglichkeit, dass es dort wieder ein Zusammenkommen gibt,
weil der Volksentscheid die Voraussetzung dafür ist, dass
man tatsächlich wieder über die Sache redet, dass Argumente ausgetauscht werden und dass zwei Seiten beleuchtet werden.
Die eine Seite ist die Kostenentwicklung des aktuellen Projektes. Davor darf man sich nicht drücken, und
für die haben auch wir als Bundestag - zumindest für die
Strecke Ulm-Wendlingen - die Verantwortung. Dort
müssen wir hinschauen. Es gibt hier eine ganze Menge
Fragezeichen, die in der letzten Sitzung des Verkehrsausschusses nicht beantwortet worden sind.
Auf der anderen Seite stellen sich aber auch die Fragen, was ein Ausstieg kostet, was Alternativszenarien
sind und was sie bedeuten. Darüber wird doch viel zu
wenig geredet.
Beide Dinge müssen in einem Volksentscheid tatsächlich behandelt werden.
({4})
- Ich sage gleich etwas zum Volksentscheid, den die
Frau Bundeskanzlerin an diesem Platz hier auch angesprochen hat.
({5})
- Ja, ich weiß das; ich gehe gleich darauf ein.
({6})
Wenn man will, dass es dort wieder zu einer Verständigung kommt, dann muss man auch eine echte Entscheidung in der Sache zulassen.
Der Herr Ministerpräsident Mappus
({7})
- gell? ({8})
hat Law and Order bei den Demonstrationen mit RamboMentalität durchgesetzt und ist politisch verantwortlich
für den Einsatz. Wenn er jetzt auf Sozialpädagoge macht
und sagt: „Wir reden mal miteinander. Es ist aber
wurscht, was wir da besprechen. Wir bleiben dabei,
Stuttgart 21 wird so und so gebaut“, dann ist das doch
kein echter Entscheid. Dann fühlen sich doch alle verhohnepiepelt, um keinen härteren Ausdruck dafür zu
verwenden.
({9})
Der Kollege Peter Friedrich hat einen schweren Fehler
begangen: Er hat die Bundeskanzlerin ernst genommen,
als sie hier davon gesprochen hat, dass die Landtagswahlen zum Volksentscheid über Stuttgart 21 werden.
({10})
Dann hat er die Bundesregierung gefragt - die schriftliche Antwort ist heute gekommen -, was denn passiert,
wenn der Volksentscheid, sprich: die Wahl, so aussieht,
dass Schwarz-Gelb dort abgewählt wird. Die Antwort
der Bundesregierung lautet: Die Projektbeteiligten streben nach wie vor an, die beiden Vorhaben 2019 in Betrieb gehen zu lassen. - Das ist doch kein echter Volksentscheid. Also, nicht einmal die Wahlen ändern etwas
daran.
({11})
Ich kann nur an Sie appellieren: Machen Sie einen
Bau- und Vergabestopp! Lassen Sie echte Demokratie
zu!
({12})
Herr Mappus hat davon gesprochen, dass Ruhe und Vernunft jetzt das Gebot der Stunde sind. Ruhe heißt: Bauund Vergabestopp. Vernunft heißt: echte Volksabstimmung.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Stephan Thomae für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist niemandem egal, es lässt niemanden kalt, niemand pfeift darauf, wenn Menschen zu Schaden kommen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle zunächst
einmal denen, die am Donnerstag verletzt worden sind,
mein Bedauern ausdrücken.
Verhältnismäßigkeit muss immer das oberste Gebot
allen Handelns des Staates sein. Aber wir vertrauen sehr
darauf, dass unsere Kollegen im Landtag von BadenWürttemberg in der Lage sind, die Verhältnismäßigkeit,
die dort angewandt worden ist, zu prüfen. Das muss
nicht unsere Aufgabe sein.
({0})
Es sind noch viele Fragen offen, wie es zu den Ereignissen am letzten Donnerstag in Stuttgart gekommen ist.
Deswegen ist es vorschnell, schon jetzt Schuldfragen zu
klären, die Schuld abzuwälzen und sie anderen in die
Schuhe schieben zu wollen. Aber es muss klar sein: Es
ist Aufgabe der Behörden und der Veranstalter einer solchen Demonstration, schon bei der Veranstaltungsplanung darauf zu achten, dass Eskalation vermieden wird.
({1})
Auch der Veranstalter ist dafür verantwortlich, dass er
seine Verbündeten sorgfältig auswählt, und er muss immer die Kontrolle behalten, mit wem er sich verbündet.
Es ist auch unser berechtigtes Interesse, zu wissen, wer
alles am Donnerstag auf der Straße gewesen ist.
({2})
Nun ist es so, dass in Stuttgart die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohen. Deswegen ist der Vorschlag unserer Fraktionsvorsitzenden Birgit Homburger, der auch
schon von vielen anderen übernommen worden ist, völlig richtig, an ein Mediationsverfahren zu denken, wie es
auch in Frankfurt erfolgreich angewandt worden ist.
({3})
Deswegen ist es jetzt völlig in Ordnung und geht auch
weit genug, eine Einstellung der Abrissarbeiten am
Bahnhofsgebäude und der Baumfällarbeiten anzubieten.
Denn wenn nach 15 Jahren Planfeststellungsverfahren,
Gerichtsverfahren und Anhörung von Bürgereinwendungen jetzt endlich einmal mit dem Bauvorhaben begonnen
werden kann, dann muss es doch jedem Menschen einleuchten, dass man dann nicht erwarten kann, dass es
gleich wieder von heute auf morgen ganz und gar auf unbestimmte Zeit unterbrochen wird.
Es war wirklich jede Menge Zeit, Einwendungen vorzubringen, und sie sind auch vorgebracht worden. Über
10 000 Einwendungen wurden diskutiert und abgehandelt. Es ist bis zum Bundesverwaltungsgericht geklagt
worden. Auch danach ist es natürlich das gute Recht eines jeden Menschen, auf der Straße für seine Meinung
zu demonstrieren, aber man muss dabei eben auch Rücksicht auf die Rechte anderer nehmen, zum Beispiel auch
auf das Baurecht eines Bauherrn wie hier der Deutschen
Bahn.
({4})
Wenn nun Morddrohungen gegen den Bahnchef und
seine Familie vorgebracht werden und deswegen die Familie an einen geheimen Ort verbracht werden muss,
wenn der Eindruck entsteht, dass hier Kinder und Jugendliche instrumentalisiert werden,
({5})
dann muss sich auch der Veranstalter fragen lassen, ob
ihm nicht die Kontrolle über seine Veranstaltung entgleitet. Wir dürfen fragen, ob sich der Protest gegen ein Bauvorhaben richtet oder gegen unseren demokratischen
Rechtsstaat.
({6})
Wir fragen uns allerdings selbstkritisch - das machen
wir als FDP ständig -, ob die Hürden für die Beteiligungsrechte der Bürger gesenkt werden müssen, ob wir
sowohl parlamentarische Verfahrensweisen als auch direktdemokratische Instrumente weiterentwickeln müssen. Ein Volksentscheid lässt immer nur Spielraum zwischen Ja und Nein. Er enthält wenig Spielraum für
deliberative Elemente. Im parlamentarischen Verfahren
haben wir den Vorteil, die Kunst der Kompromissfindung anwenden zu können. Die Vorteile beider Verfahren stärker zu verbinden, sollte unser Anliegen sein.
Dazu können wir die jetzigen Ereignisse zum Anlass
nehmen.
Im konkreten Fall, bei Stuttgart 21, ist es allerdings
meines Erachtens für eine Volksabstimmung über die
Grundsatzfrage, ob überhaupt gebaut werden soll, zu
spät.
({7})
Aus dem Gutachten von Professor Kirchhof geht hervor,
dass es verfassungsrechtlich unklar ist, ob in einem Landesvolksentscheid über ein Bauvorhaben des Bundes
überhaupt befunden werden kann; denn Bahnstrecken
baut der Bund und nicht das Land. Des Weiteren ist zu
beachten, dass ein Baustopp oder eine Rücknahme von
Baugenehmigungen Schadensersatzansprüche gegen die
öffentliche Hand auslösen kann und damit unmittelbar
haushaltsrelevant werden kann. In einem solchen Fall
kann eine solche Frage nicht Gegenstand einer Volksabstimmung sein.
Alle Beteiligten sollten - ich knüpfe an das an, was
Herr Kollege Friedrich eingangs sagte - zur Besonnenheit zurückkehren. Wenn es um berechtigte Interessen
und sachliche Argumente der Bürger geht, sind wir immer gesprächsbereit. Aber Verächter des Rechtsstaats
und Verächter mehrheitsdemokratischer Verfahren müssen mit unserem Widerstand rechnen.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Heike Hänsel ist nun die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Stuttgart ist seit letztem Donnerstag nicht mehr dieselbe
Stadt. Wir haben einen der brutalsten Polizeieinsätze, die
Stuttgart jemals gesehen hat, erlebt. Viele Menschen
sind schlichtweg traumatisiert. Dass gerade die Bürgerrechtspartei FDP dazu gar nichts sagt, ist wirklich ein
Skandal.
({0})
Es gibt laut Demo-Sanitäterdienst mehr als 400 Verletzte. Ich selbst zum Beispiel wurde beim Vermitteln
mit Wasserwerfern angegriffen. Ein linker Stadtrat
wurde mit Pfefferspray attackiert. Die Tochter meines
Kollegen Michael Schlecht wurde ebenfalls mit Pfefferspray attackiert.
({1})
Viele wurden verletzt. Einer meiner Freunde liegt mit einem Netzhautriss im Krankenhaus und musste operiert
werden. Trotzdem spricht Innenminister Rech noch immer von einem verhältnismäßigen, angemessenen Polizeieinsatz. Das ist schlichtweg zynisch.
({2})
Herr Mappus spricht nun von Dialog. Ich muss sagen:
Als seine schlagkräftigsten Argumente habe ich bislang
nur Wasserwerfer und Pfefferspray erlebt, nichts anderes.
({3})
Wenn er sich als Ministerpräsident an dem Tag, an dem
er weiß, dass ein solcher Einsatz läuft und dass dabei
Leute zusammengeknüppelt werden, in ein Bierzelt auf
dem Cannstatter Volksfest setzt, dann hat er sich als Ministerpräsident völlig diskreditiert.
({4})
Die Demonstranten im Nachhinein in die Gewaltecke zu
stellen, wie es in den letzten Tagen und auch heute passiert ist, ist unglaublich. Das müssen wir zurückweisen.
Wenn sich die Union gegen eine „richtige“ Diskussion
im Innenausschuss sperrt, dann brauchen wir eben einen
Untersuchungsausschuss dafür; dann wird das geklärt.
({5})
Ich zitiere den Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes,
der in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung gesagt
hat:
Dass die Polizei gleich mit Wasserwerfern angerückt ist, war darauf angelegt, Stärke zu zeigen. …
Man hat das Gefühl, die Politik wollte diesen Konflikt.
Dann ist das aber auch der Konflikt von Angela Merkel.
Hierzu muss sich auch die Kanzlerin äußern. Es geht
nicht, am 3. Oktober Bürgerrechte zu zelebrieren und
keinen Satz dazu zu sagen, dass in Stuttgart die Bürgerrechte mit Füßen getreten werden.
({6})
Daran, wie Sie diese Leute diskreditieren, merkt man,
wie weit weg Sie von den Menschen sind, die sich dort
in dem Park engagieren, davon, dass Leute wochenlang
in Kälte und bei schlechtem Wetter dort übernachten. Sie
sehen nachts ältere Frauen, die vor ihren Bäumen sitzen,
um sie zu beschützen. Dahinter steht viel Ernsthaftigkeit.
Leute informieren sich, während sie von Ihnen nur manipuliert werden. Meinen Sie, das sei alles vergnügungssteuerpflichtig, monatelang jeden Tag in den Park und an
den Bahnhof zu gehen?
({7})
Hier besteht ein ernsthaftes Engagement, das einmal gewürdigt werden muss.
({8})
Dass jetzt auch noch die Kultusministerin gegen die
Schüler und Schülerinnen disziplinarisch vorgehen will,
die sich engagiert haben, ist ja wohl das Allerletzte.
({9})
Ich bin stolz, dass diese Schülerinnen und Schüler auf
die Straße gegangen sind und sich einmischen, dass es
ihnen nicht egal ist, was hier passiert. Das wollen Sie
doch sonst immer.
({10})
Was Sie sich hier erlauben, ist unglaublich.
Herr Brüderle spricht jetzt von der Beschädigung der
Parlamente. Dazu muss ich aber einmal fragen: Wer beschädigt denn hier die Parlamente? Wenn hier Entscheidungen trotz fehlender Fakten getroffen werden, wenn
hier Geheimakten vorliegen, wenn viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht einmal darüber informiert sind, worüber sie eigentlich abstimmen, und ihnen
viele Informationen vorenthalten werden, dann beschädigt dies die Parlamente. Das ist eine Gefahr für die Demokratie.
({11})
Deswegen verteidigen die Stuttgarterinnen und Stuttgarter diese Demokratie. Es ist ein Beitrag zur Demokratisierung des Landes, dass die Menschen in Stuttgart auf
die Straße gehen.
({12})
Insofern können wir auch nicht von einem demokratisch
legitimierten Projekt sprechen. Mich wundert durchaus,
dass hier überhaupt niemand von all den Papieren, die
zum Beispiel im Stern auftauchen, spricht. Darauf gibt
es keine Reaktion.
({13})
Ich möchte einmal einen Insider zitieren, der Stuttgart 21 unterstützt hat. Er sagt: „Wir sind wie Fallschirmspringer bei diesem Projekt, aber wir haben keine
Fallschirme dabei. In Stuttgart wird ein Bahnhof gebaut,
ein riesiger Verkehrsknoten geschaffen, der nicht funktionieren wird, und die Verantwortlichen wissen das.“
({14})
Deswegen kommen wir gar nicht daran vorbei, eine
Neubewertung vorzunehmen. Wir fordern, dass endlich
alle Fakten auf den Tisch gelegt werden und dass neu
über dieses Projekt diskutiert wird. Der Verkehrsausschuss führt dazu eine Anhörung durch. Ich fordere auch
Angela Merkel auf: Stoppen Sie sofort das Projekt! Wir
brauchen einen Baustopp; anders kann es gar nicht zu einer politischen Lösung kommen.
({15})
Ich habe selber erlebt, wie nachts um halb zwei in
dem Park bei starkem Scheinwerferlicht Bäume gefällt
wurden; das war gespenstisch. Da muss man sich fragen,
wo man eigentlich lebt. Aber die Menschen lassen sich
davon nicht entmutigen. Es wird am 26. Oktober einen
Sonderzug aus Stuttgart nach Berlin geben. Mit ihm
werden viele der Leute hierherkommen und dieser Politik die rote Karte zeigen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Clemens Binninger
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Debatte geht es um zwei Fragen, die
grundsätzlicher Natur sind. Erstens: Wie zuverlässig
sind Beschlüsse von Parlamenten zukünftig noch für Investoren und Unternehmer, wenn sie ständig wieder infrage gestellt werden? Zweitens: Wie gehen wir mit dem
staatlichen Gewaltmonopol um?
({0})
Es ist gar keine Frage, dass, als die Bilder vom Einsatz letzte Woche kamen, sie betroffen machten. Als ich
am Donnerstagnachmittag die Bilder gesehen habe, die
man auf Youtube betrachten konnte, wurde ich durchaus
nachdenklich. Sicherlich wird man bei der Einsatznach6754
bereitung und zum Teil auch auf gerichtlichem Wege die
eine oder andere Frage noch zu klären haben; auch das
wird kommen.
Ich glaube, wir sind uns fast alle in diesem Hause einig - ich sage bewusst: fast alle -, dass sich solche Bilder nicht wiederholen dürfen
({1})
und wir eine weitere Radikalisierung dieses Themas
nicht zulassen dürfen.
({2})
Warum die SPD jetzt nicht klatscht, muss sie selber
wissen.
({3})
Gemünzt war meine Botschaft eher auf die ganz linke
Seite dieses Hauses.
({4})
Der Beitrag meiner Vorrednerin war nämlich kein Beitrag zur Deeskalation, sondern das Gegenteil.
Wir haben die Bilder mit Wasserwerfern gesehen.
Diese Bilder können uns eigentlich nicht in Ruhe lassen.
Wir wollen damit ehrlich umgehen, damit sich das
Ganze nicht wiederholt. Zum Umgang mit diesem
Thema gehört aber auch, dass wir uns die Frage stellen:
Wie konnte es dazu kommen? Was ist in den zweieinhalb Stunden vor dem Wasserwerfereinsatz passiert, dass
die Polizei sich entschieden hat, diese Mittel anzuwenden?
Wir müssen uns diese Fragen auch deshalb stellen,
weil die Stuttgarter Polizei seit Monaten bei großen Einsätzen im Zusammenhang mit diesem Projekt bewiesen
hat, dass sie deeskalieren kann, dass sie große Demos
mit 50 000 oder 60 000 Gegnern völlig harmonisch und
friedlich abwickeln kann.
({5})
Es gab kaum einmal Ausschreitungen; es waren kaum
einmal Festnahmen notwendig. Die Stuttgarter Polizei
hat seit Monaten gezeigt, dass sie in der Lage ist, mit
diesem Protest umzugehen.
({6})
- Die Demonstranten natürlich auch, gar keine Frage. Deshalb gilt, an dieser Stelle der Stuttgarter Polizei einmal unseren Respekt für die vielen Stunden Arbeit, die
sie in den letzten Wochen und Monaten geleistet hat, zu
zollen.
({7})
Wir müssen schon den Mut und auch die Objektivität
haben, zu fragen: „Was war in den zweieinhalb Stunden
vor dem Wasserwerfereinsatz?“, ohne zu verallgemeinern, ohne schnelle Pauschalurteile zu fällen. Die Demonstranten, diese Gruppe, gibt es nämlich nicht. Jede
Demonstration ist sehr heterogen. Ganz unterschiedliche
Menschen sind dabei, etwa ein Rentner, der vielleicht
eine Sitzblockade macht und dann die Aktion für beendet erklärt. Aber es sind - leider - immer auch Leute dabei, die austesten, wie weit sie gehen können, die die
rote Linie immer wieder bewusst überschreiten.
Die Bilder, die die Polizei uns gestern gezeigt hat,
sind schon hilfreich. Von 10.30 Uhr bis zum Wasserwerfereinsatz gab es verschiedene Formen einer zunehmenden Aggression, nicht aller Demonstranten, aber doch eines Teiles. Es gab Sitzblockaden. Es wurden Barrikaden
gebaut. Es wurde auch gegen die Polizei Pfefferspray
eingesetzt.
({8})
Es wurden Gegenstände auf die Polizei geworfen.
({9})
Es gab eine Aggression, an deren Ende die Polizei sich
in die Lage versetzt sah, diesen Einsatz nur noch mit unmittelbarem Zwang zu Ende zu bringen. Ich habe gesagt:
Wir wollen ehrlich mit diesen Bildern umgehen. Zu einem ehrlichen Umgang gehört auch diese Vorgeschichte.
Sie ist ganz entscheidend für die Bewertung dieses Einsatzes.
({10})
Ich glaube, wir müssen uns auch darüber klar werden,
was wir wollen. Wenn wir wollen, dass sich solche Bilder nicht wiederholen, dann ist es mit schnellen, abfälligen Kommentaren zu der politischen Verantwortung
nicht getan. Beispielsweise wurde unterstellt, man
„wollte Blut sehen“. Die SPD will den baden-württembergischen Innenminister zu Putin schicken, weil er dahin besser passt.
({11})
Einmal abgesehen davon, dass es Ihr Bundeskanzler
war, der Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnet
hat: Solche Beiträge sind allesamt nicht hilfreich.
({12})
An die Adresse der Grünen, weil ich glaube, dass solche Dinge dort eher auf fruchtbaren Boden fallen: Wir
sind unterschiedlicher Meinung bei diesem Projekt. Das
gehört in einer Demokratie dazu. Auch Protest gehört
dazu. Aber er muss friedlich in einem klaren Rahmen
ablaufen.
({13})
Friedlich war er in der Vergangenheit. Vor kurzem war er
es einmal nicht. Das festzustellen, gehört auch dazu. Unsere Verantwortung ist es, dass wir den richtigen Ton in
dieser Debatte treffen, dass wir einen Ton treffen, der es
ermöglicht, dass sich Befürworter und Gegner wieder
treffen, dass nicht immer von „Lügenpack“ die Rede ist
- das ist ebenfalls kein Beitrag zur Deeskalation -, sondern dass wir in der Sache vernünftig miteinander reden.
({14})
Die Regierungserklärung von Ministerpräsident Mappus
war ein guter, wichtiger Schritt. Heiner Geißler als Mediator, als Vermittler, wird ebenfalls einen guten Beitrag
leisten. Dann sind wir gefordert, diese Debatte entsprechend zu begleiten.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Der Kollege Winfried Hermann von Bündnis 90/Die
Grünen ist der nächste Redner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollegin Maag hat in ihrer Rede gesagt: Wut
und Hass machen blind. - Seit letzter Woche wissen wir,
dass auch die Wasserwerfer der Polizei blind machen
können.
({0})
Ich finde es schon etwas beschämend, wie Sie hier einerseits Betroffenheit signalisieren und auf der anderen
Seite nicht bereit sind, wenigstens zu sagen, dass dieser
Polizeieinsatz in jedem Fall unverhältnismäßig war.
({1})
Es ist absolut inakzeptabel, dass man auf friedlich auf
dem Boden sitzende junge Menschen und ältere Menschen
({2})
Wasserwerfer wie Kanonen draufhält, weil völlig klar
ist, dass das zu Verletzungen führt. Wer zu verantworten
hat, dass diese Kanonen auf die Menschen gerichtet wurden, der hat billigend in Kauf genommen, dass sie sich
schwer verletzen, dass sie unter Umständen ihr Augenlicht verlieren. Es wäre das Mindeste gewesen, was ich
erwartet hätte, dass man auch dazu heute etwas sagt und
dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
({3})
Ich habe heute von verschiedenen Leuten gehört: Ja,
wir haben kommunikative Fehler gemacht. - Das stimmt;
aber Sie haben immer noch nicht begriffen, welchen
kommunikativen Fehler Sie gemacht haben.
Ich habe vor kurzem beim Umzug eine ganze Kiste
Propagandamaterial zu Stuttgart 21 entsorgt. Für kein
anderes Projekt ist in den 90er-Jahren so viel Geld ausgegeben worden. Man hat versucht, die Leute mit Werbematerial sozusagen zu überreden und sie propagandistisch zu bearbeiten. Alle Stuttgarter Zeitungen waren
Feuer und Flamme und immer für dieses Projekt. Man
hat immer positivste Geschichten darüber geschrieben.
Erstaunlich nur, dass das nicht verfangen hat. War das
ein Kommunikationsproblem? Haben sie die falschen
Broschüren geschrieben? Oder könnte es eventuell daran
liegen, dass dieses Projekt so grundschlecht ist, dass man
die besten Broschüren machen kann und trotzdem jeder
merkt, dass es Mist ist?
({4})
Man muss kein Bahnexperte sein, um zu erkennen,
dass dieses Projekt hochriskant ist und dass nicht besonders einleuchtend ist, dass man die Menschen unter die
Erde führt, dass es nicht besonders intelligent ist, dass
eine Stadt, die Mittelpunkt einer ganzen Region ist, alles
tut und viel Geld dafür ausgibt, dass die Leute möglichst
schnell unten durchfahren und nichts von der Stadt sehen. Was für eine absurde Form von Reise- und Bahnpolitik!
({5})
Das ist die Logik der Geschwindigkeit unten durch. Sie
haben nicht erkannt, dass ein Bahnhof wie der Stuttgarter Bahnhof das Zentrum eines integralen Taktfahrplans
ist. Das ist das, was wir von einer guten Bahn erwarten:
eine gut vernetzte Bahn, eine Bahn für Nahverkehr und
für Regionalverkehr. Darum verteidigen die Leute diesen Bahnhof - und nicht, weil sie einfach blind gegen
Fortschritt sind.
({6})
Immer wieder behaupten Sie, alle Entscheidungsprozesse wären korrekt abgelaufen. Tausend Debatten, tausend Entscheidungen in allen Parlamenten - alles formal
korrekt. Und dann noch die Planfeststellung! Dazu kann
ich Ihnen nur sagen: Erstens reicht es heutzutage nicht
aus, nur formal korrekt zu sein. Zweitens war es nicht
einmal formal korrekt; denn in keinem dieser Parlamente
lagen die ordentlichen Zahlen auf dem Tisch. Auch im
Deutschen Bundestag lagen die entsprechenden Gutachten nicht auf dem Tisch.
({7})
- Patrick Döring, du warst selber dabei, als vor zwei Jahren im Deutschen Bundestag mit falschen Zahlen diesem
Projekt grünes Licht gegeben wurde. Stuttgart 21 und
die Neubaustrecke mit falschen, tief gerechneten Zahlen!
({8})
Zum Planfeststellungsprozess behaupten Sie nach wie
vor steif und fest, das wäre alles durch. Es ist nicht
durch. Die Neubaustrecke ist überwiegend nicht rechtskräftig planfestgestellt. Nicht einmal Stuttgart 21 ist in
allen Bereichen rechtskräftig planfestgestellt. Wenn Sie
das Planfeststellungsverfahren wirklich ernst nehmen,
dann muss es auch einen Punkt geben, wo es heißt: So
geht es nicht.
Heute hat Ministerpräsident Mappus in seiner Rede
im Rahmen der Aktuellen Stunde im Landtag von Baden-Württemberg ein putziges Beispiel gebracht. Er hat
gesagt: Wo kämen wir denn dahin, wenn einer eine Baugenehmigung hat, einen roten Punkt, in seinem Garten
die Bäume fällt - interessant, wie er da den Eigentümer
verwechselt -, anfangen will zu bauen, und dann kommt
plötzlich eine Demonstration, die das verhindert?
({9})
Aber wie ist es denn hier? Wir haben keine Baugenehmigung für das ganze Projekt.
({10})
Es ist doch ungefähr so, als ob jemand im mittleren
Stock baut, aber der Keller noch nicht genau geplant ist,
es noch keine rechtskräftige Planfeststellung gibt, die
Zufahrt für die Tiefgarage noch nicht geklärt ist. Trotzdem fängt man an zu bauen. Das ist Ihre Logik. Die
bringt die Leute wirklich so durcheinander, dass sie sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass Politik so denkt
und dann noch behauptet, dass das Verfahren korrekt ist.
({11})
Es ist also für die Leute nicht nachvollziehbar. Patrick
Döring, dieses Projekt ist nie offen diskutiert worden.
Nie ist K 21 offen und alternativ diskutiert worden.
({12})
- Nein, dieselben Gutachter, die Stuttgart 21 gemacht
haben, haben Sie beim Bund und beim Land als Berater
gehabt. Die haben dann gesagt: Das geht nicht, das ist
viel zu teuer, das funktioniert nicht.
({13})
- Warum schreien Sie durch die Gegend? Weil Sie es
nicht ertragen können.
({14})
Das ist die Wahrheit, die in dieser Geschichte eine Rolle
spielt.
({15})
Offene Debatten, transparente Strukturen, Transparenz der Gutachten, Transparenz der Kosten - wer das
alles ausblendet, braucht sich nicht zu wundern, dass
Tausende und Abertausende immer wieder auf die
Straße gehen.
({16})
Zu guter Letzt. Heute ist viel über die Verantwortung
von Ministerpräsident Mappus gesprochen worden.
Aber auch Sie haben hier eine Verantwortung als Koalitionsmehrheit; die Bundesregierung hat hier eine Verantwortung. Denn es geht im Wesentlichen um das Geld des
Bundes und darum, was der Bund im Schienenbereich
überhaupt noch leisten kann. Sie wissen so gut wie ich
- jedenfalls diejenigen, die im Verkehrsausschuss sind,
wissen es -, dass dieses Projekt zusammen mit der Neubaustrecke mit der Summe von 10, 11 oder noch mehr
Milliarden Euro
({17})
den Schienenverkehrsetat in den nächsten zehn Jahren in
unglaublicher Weise plündert, ruiniert,
({18})
sodass zahlreiche andere, vernünftige Projekte nicht
möglich sind. Das ist doch der Grund, warum wir gegen
dieses Projekt kämpfen: weil es unglaublich viel Geld
kostet und nichts bringt.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Simmling für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sollten uns dessen bewusst sein, dass wir
den Ausnahmezustand, der in der Stuttgart-21-Debatte
- wie auch jetzt wieder in diesem Hohen Hause herrscht, unmittelbar beenden sollten. Er führt zu nichts.
Auch solche Bilder, wie wir sie am vergangenen Donnerstag sehen mussten, darf es nicht mehr geben.
Herr Hermann, vielleicht kann ich Ihr Erinnerungsvermögen etwas stärken.
({0})
Es war, glaube ich, im Mai 2005, als Ihre Fraktion noch
mehr Geld und das Verfahren noch beschleunigen
wollte.
({1})
- Das ist aber nachzulesen.
({2})
Der heutige Vorschlag von Ministerpräsident
Mappus, einen Vermittler einzusetzen, ist ein wichtiger
Schritt auf diesem Wege. Die baden-württembergische
Landesregierung hat damit einmal mehr bewiesen, dass
sie zum Dialog bereit ist. Die Landesregierung genießt
dabei unser vollstes Vertrauen. Daher mein Appell an
alle Demokraten, sich schnellstens wieder eines würdigen und respektvollen Diskussionsklimas zu befleißigen.
Wir müssen die Diskussion und den Dialog fortführen. Es gibt im Rahmen von Stuttgart 21 noch viele
Punkte, die gemeinsam ausgestaltet werden können.
Gleichwohl dürfen wir nicht an den getroffenen Entscheidungen zweifeln. Ein Baustopp oder eine Volksabstimmung sind deswegen auch keine Voraussetzung für
den Dialog.
({3})
Erst am 29. September, also vor wenigen Tagen, hat
sich der Regionalverband Stuttgart mit 68 von
88 Stimmen gegen ein Moratorium entschieden. Na, was
sagen Sie dazu?
({4})
Meine Damen und Herren, über was reden wir denn
hier? Wir reden über ein bedeutendes Infrastrukturprojekt für die nächste Generation. Nur zu Ihrer Information: Ich habe Jahrzehnte in Stuttgart gelebt. Seit einiger
Zeit wohne ich auf der Schwäbischen Alb, genau da, wo
die Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm nach Verlassen
des Steinbühltunnels wieder ans Tageslicht kommt. Ich
kenne die dortigen Voraussetzungen also sehr gut.
Stuttgart 21 und die Schnellbahnstrecke Wendlingen-Ulm sind ein Verkehrsprojekt mit großer Bedeutung
für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für das Land
Baden-Württemberg, für Stuttgart selbst und für die Region. Dies ist eine Riesenchance für die städtische Entwicklung Stuttgarts und für eine Verkehrsinfrastruktur
der Zukunft. Übrigens - nur zur Information -: Der
Bahnhof ist planfestgestellt.
Der heutige Kopfbahnhof in Stuttgart ist an der
Grenze seiner Leistungsfähigkeit; dies ist auch bei den
Grünen unstrittig.
({5})
Der heutige Bahnhof, seit 1927 in Betrieb, wird außerdem in seiner Charakteristik als Wahrzeichen mit Bahnhofsturm und Schalterhalle erhalten bleiben.
Wir reden auch über eine unzureichende Infrastruktur.
Die Gleise sind teilweise 150 Jahre alt. Wir fahren heute
noch mit 70 Kilometern pro Stunde über die Schwäbische Alb; ich habe das schon einmal gesagt: Das ist die
Realität. Solche Situationen finden Sie auf dem gesamten TGV-Netz in Frankreich nicht.
In der Zukunft wird Stuttgart einen modernen Durchgangsbahnhof haben, der den Bahnknoten Stuttgart fit
für die Zukunft macht. Nur halb so viele Gleise, die
hauptsächlich in Tunneln verlaufen, ermöglichen, dass
hier künftig deutlich mehr Züge in den Bahnhof ein- und
ausfahren können, ohne sich gegenseitig zu blockieren.
Damit schaffen wir Kapazitätsreserven und eine größere
Flexibilität. Verspätungen gehören damit der Vergangenheit an. Stuttgart ist dann nicht mehr Endstation, sondern
Durchgangsstation, insbesondere auf der für Europa
wichtigen Magistrale Paris-Budapest.
Mit der Anbindung des Flughafens und der Messe an
die Innenstadt wird regional eine in Deutschland einmalige Verkehrsinfrastruktur geschaffen, die Schiene,
Straße und Luft optimal verbindet.
({6})
Dies dient den Bürgerinnen und Bürgern und unserer
Wirtschaft. Wirtschaft ist doch keine virtuelle Veranstaltung; das muss in dieser Debatte einmal gesagt werden.
Wirtschaft bietet den Bürgern Arbeitsplätze. Gerade
nach der überstandenen Finanz- und Wirtschaftskrise
sind wir uns der Wichtigkeit von Arbeitsplätzen mehr
denn je bewusst.
({7})
Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke wollen wir das
ökologische Verkehrsmittel Schiene stärken. Ich frage
mich, was dagegenspricht. Diese Verkehrsinfrastruktur
bringt erhebliche Vorteile. Wir haben doch schon heute
den Verkehrskollaps in und um Stuttgart. Mit der Optimierung der Schiene entlasten wir die Straße. Außerdem
werden auch die regionalen Verbindungen deutlich attraktiver, also - das wurde schon vorhin angesprochen von Stuttgart-City zum Flughafen nur noch 8 Minuten
statt 27 Minuten, von Tübingen nach Stuttgart 41 Minuten statt 61 Minuten und von Ulm nach Stuttgart 28 Minuten statt 54 Minuten, um nur einige Beispiele zu nennen.
({8})
Damit wird die Schiene attraktiver und eine wirkliche
Alternative zu Pkw und Flugzeug. Wir rücken als Land
näher zusammen.
({9})
Meine Damen und Herren, die frei werdenden Gleisflächen - es ist wahrlich kein ansprechendes Bild, wenn
Sie von der sogenannten bürgerlichen Stuttgarter Halbhöhe auf das riesige Gleiswirrwarr am Stuttgarter Hauptbahnhof blicken - ermöglichen ein einmaliges Wachstum
innerhalb der bestehenden Stadtgrenzen. Wir können
neue ökologische Quartiere im Herzen der Stadt entwi6758
ckeln. Die Stadt wächst endlich zusammen. Urbanes Leben entsteht auf 100 Hektar frei werdender Gleisfläche.
Es wird mehr Grün- und Parkflächen geben. Der
Schlossgarten und der Rosensteinpark sind wichtige Naherholungsgebiete für die Stuttgarter Bürger. Wir schaffen
mit der Erweiterung der Parkflächen um 20 Hektar eine
deutliche Vergrößerung der grünen Lunge im Stuttgarter
Talkessel.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen: Stuttgart 21 ist ein Symbol für die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Hier geht es nicht nur um Fahrzeiten
und weniger Umsteigen. Es geht vielmehr darum, dass
wir uns für die Zukunft fit machen. Deshalb bitte ich Sie,
sich für die Verwirklichung dieses Projekts einzusetzen.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Simmling und Herr Kollege Binninger,
wenn es Ihnen so ernst ist mit der Verlässlichkeit in Bezug auf Unternehmen und Investoren, dann müssen Sie
sich die Frage gefallen lassen, warum Sie den Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung aufkündigen und
damit Arbeitsplätze vernichten.
({0})
Ihrem Hinweis, Herr Kollege Binninger, dass Stuttgart 21 den Unternehmen und den Investoren Verlässlichkeit bieten muss, halte ich entgegen: Eine Konzentration auf Unternehmen und Investoren bei solch einem
Großprojekt mitten im Herzen einer Großstadt ist zu wenig. Es geht auch um das Vertrauen und die Akzeptanz
der Bürgerinnen und Bürger. Es geht auch um die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger,
({1})
gerade jetzt in unserer weiterentwickelten Demokratie.
({2})
Herr Binninger, Sie fragen: Was ist passiert, dass es
von dem fast freundschaftlichen Miteinander von Polizei
und Demonstranten auf einmal zu solch gewalttätigen
Bildern kommen konnte? Ich kann es Ihnen vielleicht
ein Stück weit skizzieren,
({3})
indem ich Ihnen ein paar Zitate vor Augen halte.
Am 20. September sagt Ministerpräsident Stefan
Mappus den Gegnern des Bahnhofprojekts den Kampf
an. Wörtlich:
Mir ist der Fehdehandschuh hingeworfen worden,
ich nehme ihn auf.
Am 27. September verkündet er: Es gibt
einen nicht unerheblichen Teil von Berufsdemonstranten … die der Polizei das Leben … schwer machen.
Er spricht davon, dass diese Berufsdemonstranten aggressiv sind und eine große Gewaltbereitschaft an den
Tag legen.
Das war zu einer Zeit, zu der noch überhaupt nichts
an gewalttätigen Ausschreitungen im Schlosspark vorgefallen war.
({4})
Er wird begleitet von Herrn Strobl - einem Kollegen,
der gleich noch zu Wort kommen wird -, der am
27. September, drei Tage vor dem harten Durchgreifen
der Polizei, verkündet, einen Teil der Demonstranten
brauche man nicht zu kriminalisieren, er sei bereits kriminell geworden ({5})
zu einem Zeitpunkt, zu dem noch überhaupt keine Straftat verübt worden war, Herr Kollege Strobl.
({6})
Ich denke, durch solcherlei Zuspitzung ist diese Eskalation bewusst politisch herbeigeredet worden,
({7})
zu einem Zeitpunkt, zu dem der Ministerpräsident gespürt hat, dass er zwar die Demonstrantinnen und Demonstranten nicht mehr auf seine Seite bekommt, dass er
aber vielleicht die konservative Klientel noch erreichen
kann, die an starke Führung und unnachgiebige Härte
glaubt.
({8})
Den starken Mann machen, das war das Ziel. Der Ministerpräsident hat Verletzte in Kauf genommen und die
Polizei missbraucht, um dieses Großprojekt durchzuprügeln.
({9})
Er steht damit in einer schlechten Tradition konservativer Regierungen: Wenn bei Großprojekten die politischen Argumente ausgehen, dann muss die Polizei herhalten.
Ich bin, Herr Kollege Kauder, für Stuttgart 21. Wir
befürworten dieses Projekt;
({10})
daran will ich keinen Zweifel lassen. Da streite ich mich
auch. Aber ich streite mich mit Worten. Ich benutze
nicht die Polizei, um meinen Argumenten Geltung zu
verschaffen.
({11})
Es geht darum, dass wir deutlich machen, dass Großprojekte in der heutigen Zeit so nicht mehr durchgesetzt
werden können. Wir müssen doch sehen, was sich in der
Stadt abspielt. Herr Mappus sagt selbst: Wir müssen uns
fragen, ob Großprojekte nicht anders vermittelt werden
müssen.
Ich sage Ihnen: Das nehmen wir gerne auf. Wir brauchen in Stuttgart einen Ausweg. Es hilft doch nicht, die
Zäune immer höher zu machen und immer mehr Polizei
zusammenzuziehen. Wir merken, dass wir einen Neuanfang brauchen, auch was die Dialogfähigkeit angeht.
({12})
Jetzt geht es um die Frage: Wie finden wir einen
Kompromiss? Ich muss ehrlich sagen: Sosehr ich Herrn
Geißler mit mancher Position auch schätze, ist mir nicht
klar, wie er einen Kompromiss finden will. Die einen
wollen, dass der Bahnhof oben bleibt, und die anderen
wollen, dass er unterirdisch gebaut wird.
({13})
Wie soll da ein Kompromiss gefunden werden?
({14})
Ich glaube, der Ausweg kann nur darin liegen, dass
wir die Menschen in einer solchen Situation, in der sie
sich so unversöhnlich gegenüberstehen, direkt und unmittelbar selbst entscheiden lassen. Wir sollten anerkennen, dass eine Volksabstimmung als einzig korrekte
Möglichkeit bleibt.
({15})
Eine Volksabstimmung brächte uns die Chance, Pro und
Kontra tatsächlich wieder auf sachlicher Ebene zu diskutieren. Eine Volksabstimmung ergänzt die parlamentarische Demokratie. In der Landesverfassung wäre diese
Möglichkeit doch überhaupt nicht vorgesehen, wenn wir
nicht wollten, dass die Bevölkerung das Wort haben
kann.
Sie haben jetzt eine juristische Bewertung vornehmen
lassen. Wie immer, wenn es schwierig wird, bezahlt man
Herrn Kirchhof; der sagt dann schon, was die Regierung
gerne hören möchte.
({16})
Wenn der Herr Kirchhof recht hätte mit der Argumentation, dass das Land mangels Kompetenz in Bezug auf
das Eisenbahnwesen nicht mehr aus der Teilfinanzierung
aussteigen darf, dann würde das doch bedeuten, dass das
Land am Anfang auch nicht die Kompetenz gehabt hätte,
den Vertrag überhaupt abzuschließen. Das, was uns in
diesem Gutachten vorgetragen wird, ist doch irrwitzig.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Es ist eine rein politische Argumentation.
Ich denke, das, was Sie betreiben, ist obrigkeitsstaatliches Handeln von ganz alter Denke.
({0})
Das wird spürbar, wenn man sieht, wie Sie mit den
Schülerinnen und Schülern umgehen, die an der Demonstration teilgenommen haben. Jemand, der Demokratie
ernst nimmt, der Beteiligung will und erkennt, dass man
in solch einer Stadt einen Schritt weiter gehen muss, der
würde jetzt nicht die Schülerinnen und Schüler disziplinarrechtlich verfolgen und schauen, welcher Lehrer
möglicherweise beteiligt war, sondern sich bei den Jugendlichen für die Verletzungen entschuldigen, die sie
dort erlitten haben.
({1})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich möchte mit einem aus meiner Sicht sehr treffenden Fazit schließen, das die Süddeutsche Zeitung gezogen hat.
Kommen Sie bitte zügig zum Schluss. Sie haben Ihre
Redezeit weit überzogen.
Dort hieß es:
Für einen Dialog ist es jetzt viel zu spät, nicht aber
für einen Baustopp und einen Volksentscheid.
In diesem Sinne bitte ich Sie:
({0})
Helfen Sie mit, dass man in Stuttgart wieder vernünftig
miteinander reden kann, dass sich die Menschen nicht
mehr unversöhnlich gegenüberstehen! Machen Sie den
Weg frei für eine Volksabstimmung!
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Bilger für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte auch ich mein Bedauern über die Vorkommnisse am vergangenen Donnerstag zum Ausdruck
bringen. Allen verletzten Demonstranten und Polizisten
wünsche ich baldige und umfassende Genesung.
Liebe Frau Kollegin Vogt, ich bin froh, dass wir diese
Debatte heute führen anstatt am vergangenen Freitag, als
wir hier ohne ausreichende Sachkenntnis eine kurze Diskussion geführt haben und als die SPD noch zu ganz anderen Ergebnissen gekommen ist als gestern die Abgeordneten der SPD-Landtagsfraktion im zuständigen
Gremium, dem Innenausschuss des Landtags von Baden-Württemberg.
({0})
Ich fordere die SPD auf, ihre Position zu klären. Die
SPD-Fraktion in der Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart bringt einen Antrag gegen einen
Baustopp ein,
({1})
die SPD-Landtagsfraktion äußert sich einmal so und einmal so, die Bundestagsfraktion genauso. Bitte klären Sie
einmal Ihre Position!
({2})
Am Wochenende war ich in der Region Stuttgart
- Frau Hänsel, nicht in der letzten Woche, als hier Präsenzpflicht bestand - und habe dort mit vielen Menschen
gesprochen, mit Befürwortern und Gegnern von
Stuttgart 21, auch mit Demonstranten und mit Augenzeugen der Ereignisse vom Donnerstag. Nach all diesen
Gesprächen ist für mich klar: Ja, es gab friedliche Demonstranten, die unbewusst in diese Auseinandersetzung geraten sind. Aber so einfach, wie es sich Linke
und Grüne gerne machen würden, ist es nicht; es gab
sehr wohl gezielte Provokationen, Beleidigungen und
Angriffe gegen die Polizei. Dazu liegen uns seit gestern
Videoaufnahmen vor.
({3})
Am Wochenende habe ich auch vielfach Berichte
über den Umgang einiger Gegner von Stuttgart 21 mit
politisch Andersdenkenden gehört. Es muss auch einmal
gesagt werden, dass es mittlerweile an der Tagesordnung
ist, dass Befürworter von Stuttgart 21 bedroht, angepöbelt und beleidigt werden, dass ihre Autos demoliert und
sie teilweise verletzt werden. All das geschah auch am
vergangenen Donnerstag am Rande der Demonstrationen.
Es fällt auch einem interessierten Baden-Württemberger mittlerweile schwer, zu verstehen, was die Grünen
eigentlich wollen. Wer spricht denn eigentlich für die
Grünen: die Fraktion im Gemeinderat der Stadt Stuttgart,
die Landtagsfraktion, Herr Hermann oder der in Tübingen offensichtlich gelangweilte Oberbürgermeister Palmer? Wenn ich beispielsweise an die unterschiedlichen
Aussagen zu Ihrem Gutachten vor wenigen Wochen
denke, komme ich zu dem Schluss: Sie scheinen sich untereinander nicht ganz grün zu sein. Sind die Grünen nun
für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm oder dagegen?
Bis vor kurzem waren Sie noch dafür; jetzt sind Sie dagegen, weil es einfacher ist.
({4})
Sind die Grünen für das Alternativkonzept K 21 oder dagegen?
({5})
Eigentlich sind sie dafür - Ihre Werbeagentur hat schon
die K-21-Materialien farblich passend zum Landtagswahlkampf in grün gestaltet -, aber es lässt sich nur zusammen mit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm umsetzen. Auch für K 21 müssten Platanen gefällt werden,
und die Gleise müssten mitten durchs Neckartal zwischen der Wohnbebauung hindurchgeführt werden.
({6})
Mittlerweile sind die Grünen gegen jede Veränderung,
weil es einfacher ist.
({7})
Stuttgart 21 ist ein Zukunftsprojekt. Besonders viele
junge Menschen machen sich Sorgen um die Zukunft
unseres Landes, gerade weil sie daran zweifeln, ob wir
überhaupt noch in der Lage sind, wichtige Projekte auch
gegen Proteste durchzusetzen. Stuttgart 21 ist daher ein
Prüfstein für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.
({8})
Weil das alles viele junge Menschen wissen, sind es besonders die jungen Menschen, die sich für Stuttgart 21
stark machen.
({9})
Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Viele von ihnen demonstrieren für dieses Projekt seit einigen Wochen jeden Donnerstag.
({10})
Mittlerweile sind es mehrere Tausend. Viele bringen ihre
Meinung im Internet zum Ausdruck. Über 60 000 Menschen haben sich mittlerweile der Facebookseite „FÜR
Stuttgart 21“ angeschlossen.
({11})
Auch das muss einmal gesagt werden.
({12})
Daher: Auch und gerade im Interesse der jungen Generation lohnt sich der Einsatz für Stuttgart 21, und deshalb
werben wir für dieses wichtige Zukunftsprojekt.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Beckmeyer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Hier hat jemand sein Manuskript liegen lassen.
({0})
Die CDU/CSU muss sich fragen, ob sie will, dass die
Legitimation durch das Parlament hergestellt wird oder
durch Facebook.
({1})
Diese Frage habe ich mir eben gestellt. Was die Legitimation durch Parlamente anbelangt - ich erinnere an die
Ausführungen von Herrn Dr. Grube von der DB AG -,
so muss man unsere Entscheidung, die wir im Jahre
2005 getroffen haben, erklären. Immer wieder wird das
Argument angeführt, dass die andere Seite des Parlamentes Stuttgart 21 mit beschlossen hat. Der vorliegende
Beschluss ist konditioniert, und zwar dergestalt, dass uns
die Verantwortlichen die Wirtschaftlichkeit dieses Projektes erläutern. Diese Wirtschaftlichkeitsberechnung ist
bis zum heutigen Tage nicht vorgelegt worden.
({2})
Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG hat im Dezember letzten Jahres getagt und einen merkwürdigen
Beschluss auf der Basis eines Aufsichtsratspapiers gefasst - zum damaligen Zeitpunkt war der Ausstieg der
DB AG noch möglich -: Wir als Deutsche Bahn AG haben alle Preissteigerungen berücksichtigt. Die Kosten
sind von 3 auf 4 Milliarden Euro gestiegen. Als Spitzenabdeckung haben wir noch 430 Millionen Euro obendrauf gepackt. - In der Öffentlichkeit denkt jeder: Wunderbar! Super! Klasse Ergebnis! Es ist noch eine
Sicherheitsreserve für die Planer da.
Was ist in Wirklichkeit passiert? Wir haben Hinweise,
dass die eigenen Planer der Deutschen Bahn AG - ohne
dass das das Eisenbahn-Bundesamt in irgendeiner Weise
genehmigt hat - 900 Millionen Euro herausgerechnet
haben.
({3})
- Nichts ist genehmigt!
({4})
- Lassen Sie mich ausreden, vielleicht werden Sie dadurch ein bisschen klüger, Herr Kauder. - 900 Millionen Euro: 600 Millionen Euro kamen durch Planungsverbesserungen und 300 Millionen Euro dadurch zustande, dass man ein anderes Druckverhältnis im Gestein
angenommen hat, ohne dass das Eisenbahn-Bundesamt
einen Haken daran gemacht und dies gebilligt hätte. Das
waren eigene, interne Berechnungen. Das korrespondiert
mit der Aussage, die Herr Grube in der damaligen Zeit
gemacht hat. Er hat gesagt: „Wir bauen Tunnels, keine
Bunker“. Aber wir alle wollen doch hoffentlich sichere
Tunnel haben. Das ist der entscheidende Punkt.
({5})
Wir wollen in dieser Frage Klarheit und Transparenz;
denn in dieser Frage sind Klarheit und Transparenz nötig.
({6})
Das Argument kann nicht der Wasserwerfer sein. Sie
greifen hier und heute in die Streusandbüchse, um dem
deutschen Volk Sand in die Augen zu streuen. Wir wollen Transparenz; das ist das Entscheidende. Bei Ihnen
sollte Nachdenklichkeit einkehren. Sie sollten darüber
nachdenken, wie das zustande gekommen ist.
Die Fernsehbilder von unsäglichen Szenen haben
dazu beigetragen, dass die Menschen in ganz Deutschland betroffen sind. Diese Bilder haben unsägliche Vorgänge und das Verhalten eines Staates gezeigt, wie ich
ihn mir nicht vorstelle. Das kann nicht unser Verständnis
eines demokratisch verfassten Staates sein, eines Staates,
der demokratische Prinzipien hat, die wir in diesem
Hause verteidigen und für die wir eintreten. So nicht!
Sorgen Sie bitte schön dafür, dass die Verantwortlichen
in Baden-Württemberg diese Vorgehensweise sein lassen. Das ist der erste entscheidende Punkt.
({7})
Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Herr Hundt,
der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, hat in der Stuttgarter Zeitung gesagt,
die Kosten von S 21 könnten kein Kriterium sein.
({8})
Da frage ich mich: Wo leben wir eigentlich? Ist S 21 sakrosankt? Kann es kosten, was es wolle?
({9})
Nein! Legitimation, Transparenz und vor allen Dingen
Wirtschaftlichkeit sind bei diesem Projekt notwendig. In
erster Linie ist die Bundesregierung gefordert; denn im
Hinblick auf die DB AG ist sie dafür zuständig, dass die
Kontrollfunktion des Bundes in dieser Angelegenheit
wahrgenommen wird.
({10})
Das ist Aufgabe der Bundeskanzlerin, aber auch des Verkehrsministers und des Finanzministers.
Sorgen Sie dafür, dass die Kriterien der Wirtschaftlichkeit und der Transparenz eingehalten werden! Dann
werden wir uns mit Ihnen unterhalten. Hoffentlich werden uns, Herrn Geißler und all denen, die jetzt diskutieren, endlich die richtigen Zahlen genannt, damit wir uns
mit dem Projekt ordentlich auseinandersetzen können.
Herzlichen Dank.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Projekt Stuttgart 21 ist zunächst ein Schienen- und Bahnhofsprojekt in Baden-Württemberg. Es ist
aber gleichsam zu einer Chiffre geworden, die für Fragestellungen steht, die unsere parlamentarische Demokratie, unseren Rechtsstaat und die Zukunft unseres Landes
betreffen.
In einer parlamentarischen Demokratie entscheiden
frei gewählte Parlamente,
({0})
Gerichte überprüfen. Über Stuttgart 21 haben Parlamente hundertfach und Gerichte zigfach entschieden.
Die Zahl der Einsprüche von Bürgerinnen und Bürgern,
die behandelt worden sind, ist nicht vier-, sondern fünfstellig. Was aber ist, wenn demokratisch gefällte und gerichtlich überprüfte Entscheidungen bei nicht wenigen
Menschen keine Akzeptanz finden, Demonstrationen eskalieren, die Fronten sich verhärten, ein Dialog unmöglich wird, die Stimmung zunehmend vergiftet wird? Ich
möchte Ihnen ehrlich sagen: Auch ich habe keine Patentlösung. Was ist zu tun, wenn demokratische Entscheidungen bei vielen in der Bevölkerung nicht den hinreichenden Widerhall finden? Ich finde, die beste Antwort
hat Joachim Gauck gegeben. Er hat gesagt:
Und diese Entscheidungen jetzt nicht zu vollziehen,
das wäre ja fast eine Straftat. Die Politiker, die jetzt
sagen, ich baue einfach nicht weiter, die dürfen das
gar nicht tun, wenn sie sich selbst ernst nehmen.
Ich weiß keine bessere Antwort als Joachim Gauck.
({1})
Es muss bei dem, was tausendfach entschieden und gerichtlich überprüft worden ist, bleiben, und zwar nicht
nur, weil es beschlossen worden ist, sondern auch, weil
wir nach wie vor von der Richtigkeit des Projekts überzeugt sind.
({2})
Über die Sinnhaftigkeit des Projekts darf freilich gestritten werden - das ist keine Frage -, aber die Legitimation der gefundenen Entscheidung darf nicht infrage
gestellt werden. Das wäre, um noch einmal mit Gauck zu
sprechen, „eine Straftat“,
({3})
und zwar nicht wegen der Schiene und des Bahnhofs,
sondern weil das ein Angriff auf unsere parlamentarische Demokratie wäre. Wer sich über die Parlamente,
wer sich über die Gerichte stellt, wer sozusagen eine höhere Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, der hat nicht
begriffen, dass eine Demokratie eine solche höhere
Wahrheit schlichtweg nicht kennt.
({4})
Weil die Demokratie letztlich davon lebt, müssen wir
wieder zu einem Diskurs, zu Gesprächen zwischen Befürwortern und Gegnern kommen. Deswegen akzeptieren wir - das hat Ministerpräsident Mappus heute Mittag
im Landtag von Baden-Württemberg gesagt - den vom
Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg vorgeschlagenen Vermittler Heiner
Geißler. Der baden-württembergische Ministerpräsident
und jener Fraktionsvorsitzende der Grünen haben übrigens schon einmal zu Gesprächen eingeladen - erfolglos. Es geht nämlich nicht, dass von einer Seite Vorbedingungen diktiert werden.
Thomas Strobl ({5})
({6})
Diese Vorbedingungen werden diktiert, weil manche in
Wahrheit gar keinen Dialog wollen.
({7})
Nicht allen, aber manchen geht es nicht um Dialog und
Auseinandersetzung. Einigen geht es um Krawall, um
das Dagegensein, um das Diskreditieren von Parlamenten und das Brüskieren von gewählten Regierungen;
aber das akzeptieren wir nicht.
({8})
Wir setzen auf die Kraft des Arguments. Lassen Sie uns
alle mithelfen - ich spreche all diejenigen an, die gute
Argumente nicht zu fürchten brauchen -, dass es zu einem Dialog kommt.
Lassen wir die Kirche einmal im Dorf. Bei
Stuttgart 21 geht es um die Modernisierung eines Eisenbahngleises aus dem vorletzten Jahrhundert. Um 1850
wurde diese Schiene verlegt. Heute sollen darauf Intercityzüge mit 10 000 PS fahren. Sie fahren zwischen Paris
und Wien mit 300 Stundenkilometern, und die Schwäbische Alb hinauf schnaufen sie mit 50, 60 Stundenkilometern. Dazu kommt der Umbau eines 100 Jahre alten,
heruntergekommenen Kopfbahnhofs. Wenn wir es in
Deutschland nicht schaffen, so etwas zu modernisieren,
dann ist es um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes
schlecht bestellt.
({9})
Eine letzte Bemerkung, die zur Wahrheit gehört:
Manche sind etwas früh in den Landtagswahlkampf eingestiegen. Für die SPD war das ein Fehlstart. Sie wissen
jetzt gar nicht mehr, ob Sie für oder gegen das Projekt
sind. Der Beitrag meines Vorredners hat das sehr deutlich gezeigt. Jetzt flüchten Sie sich in den Populismus
und fordern eine Volksbefragung,
({10})
die die Verfassung von Baden-Württemberg aber leider
- das ist schade - nicht vorsieht.
({11})
Andere, die die Verfassung von Baden-Württemberg offensichtlich etwas besser kennen als Sie, Herr Friedrich,
streben jetzt ein Volksbegehren zur Auflösung des Landtags an. Das lässt tief blicken. Das zeigt, dass es längst
nicht mehr nur um Stuttgart 21 geht, sondern auch um
die nächste Landtagswahl.
({12})
Es geht darum, eine bürgerliche Regierung zu schleifen,
die seit Jahrzehnten so erfolgreich ist, dass das Land Baden-Württemberg nicht nur an der Spitze Deutschlands,
sondern ganz Europas steht.
({13})
Sie missbrauchen und instrumentalisieren Stuttgart 21
für billige Wahlkampfzwecke. Das ist die Wahrheit.
({14})
Im Übrigen verteidigen die Befürworter des Projekts
eine Infrastrukturmaßnahme, die vor 20 Jahren auf den
Weg gebracht wurde. Damals hatte noch niemand den
27. März 2011 auf dem Schirm. Die Befürworter könnten es sich einfach machen und einknicken; aber die Befürworter stehen zu ihren Überzeugungen. Lassen Sie
uns alle, auch wenn wir in der Sache streiten, nicht so
sehr an die nächste Landtagswahl denken, sondern lieber
an die nächste Generation.
Vielen Dank.
({15})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. Oktober, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.