Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zur ersten Plenarsitzung des Bundestages nach
der Weihnachtspause und dem Jahreswechsel.
In den sitzungsfreien Wochen haben die Kolleginnen
Mechthild Dyckmans und Ulrike Flach sowie der Kollege Holger Ortel ihre 60. Geburtstage gefeiert. Dazu
möchte ich im Namen des gesamten Hauses auch auf
diesem Wege noch einmal herzlich gratulieren.
({0})
Die guten Wünsche für das begonnene neue Jahr haben wir mehrfach in vielfältiger Weise, schriftlich und
mündlich, wechselseitig ausgetauscht. Sie sollten aber
der guten Ordnung halber für das Protokoll ausdrücklich
noch einmal festgehalten werden.
Interfraktionell gibt es eine Vereinbarung, die heutige
Tagesordnung um eine Regierungserklärung der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu erweitern, die jetzt gleich im Anschluss als Erstes aufgerufen werden soll. Außerdem ist
vorgesehen, nach der Fragestunde eine von der SPDFraktion verlangte Aktuelle Stunde zum neuen ungarischen Mediengesetz durchzuführen. Sind Sie mit dieser
Ergänzung der Tagesordnung einverstanden? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
Verbraucher konsequent schützen - Höchstmaß an Sicherheit für Lebensmittel gewährleisten
Ich mache darauf aufmerksam, dass zu diesem Tagesordnungspunkt je ein Entschließungsantrag der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegt.
Bevor Sie, Frau Ministerin, mit Ihrer Regierungserklärung anfangen, brauchen wir auch noch die übliche
Vereinbarung über die Gesamtdebattenzeit: Vorgeschlagen wird, im Anschluss an die Regierungserklärung eine
Debattenzeit von 90 Minuten vorzusehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das
so vereinbart.
Ich erteile nun der Bundesministerin das Wort zu ihrer
Regierungserklärung.
({1})
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. Auch von
meiner Seite natürlich ganz persönlich die besten Wünsche für ein gutes neues Jahr. Heute sind wir allerdings
aus einem anderen Anlass hier zusammengetreten, der
leider nicht so erfreulich ist.
Ich will einen Blick in die Vergangenheit werfen: Fast
auf den Tag genau vor zehn Jahren, nämlich am
22. Januar 2001, haben wir in Deutschland ein Bundesministerium für Verbraucherschutz eingerichtet. Damals
hatte die BSE-Krise unser Land, aber auch ganz Europa
erschüttert. Die Verbraucher waren in Sorge um ihre Gesundheit, und die Landwirte fürchteten um ihre Existenz.
Die Politik bekämpfte die Ursachen der Krise und änderte Strukturen: Sie regelte die Bestimmungen für das
Tierfutter neu, auf das die Erkrankungen zurückgeführt
wurden, und sie verschärfte die Überwachung. Das war
die Geburtsstunde des Verbraucherschutzministeriums
auf Bundesebene.
Heute, zehn Jahre später und nach wechselnder politischer Verantwortlichkeit, sind wir mit einer ähnlichen
Situation konfrontiert: Wieder sind die Verbraucher in
Sorge um ihre Gesundheit, und die Landwirte fürchten
um ihre Existenz. Ursache sind Dioxinfunde in Futtermitteln und danach auch in Lebensmitteln. Ausgangspunkt war verunreinigtes Futterfett eines Unternehmers:
Dort wurden - völlig unverantwortlich - technische
Fette, die für die Industrie bestimmt waren, dem Tierfutter beigemischt. Was nur zur Produktion von SchmierRedetext
mitteln taugt, ist in die Nahrungsmittelkette gelangt. Und
das ist ein echter Skandal!
Dioxin gehört nicht in Futtermittel, und Dioxin gehört
schon gar nicht in Lebensmittel.
({0})
Die Beimischung verstößt gegen geltende Gesetze. Ja,
mehr noch: Wir müssen zum gegenwärtigen Zeitpunkt
davon ausgehen, dass hier schlicht unverantwortlich und
mit Vorsatz gehandelt wurde.
Zu den Meldungen in der heutigen Presse, nach denen
die kriminellen Machenschaften vermutlich schon vor
März 2010 längere Zeit praktiziert worden seien, sagte
das federführende Ministerium in Kiel heute Vormittag,
dass derzeit keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die eine
solche Annahme bestätigen.
({1})
Ich will den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht
vorgreifen. Aus meiner Sicht besteht aber Grund zur Annahme, dass wir es mit einem hohen Maß an krimineller
Energie zu tun haben.
Die Täter waren und sind skrupellos. Eines ist klar
und war auch damals jedem klar, nämlich, dass sich das
belastete Futtermittel mit einer extrem großen Streuwirkung über die Republik verteilen würde. Auf dem Höhepunkt mussten deshalb in unserem Land 4 760 Höfe vorsorglich gesperrt werden, zugunsten des vorsorgenden
Verbraucherschutzes. 931 Höfe sind noch immer gesperrt. Eier, Schweine und Legehennen durften und dürfen während der Sperre nicht in die Lebensmittelkette
gelangen. Die Sperre gilt, bis die Unbedenklichkeit festgestellt ist.
Zur nüchternen Bestandsaufnahme gehört aber auch,
dass in einigen Fällen Lebensmittel, die vor der Sperre
erzeugt wurden und vielleicht belastet sein könnten, in
die Ladenregale gelangt sind. So etwas darf nicht passieren.
({2})
Die bisher ermittelten Dioxingehalte bei Eiern und
Fleisch liegen bei einigen wenigen Proben über dem
Grenzwert. Dies stellt nach Einschätzung unserer Experten zwar keine unmittelbare gesundheitliche Gefährdung
für Verbraucher dar, trotzdem gilt: Dioxin ist ein Umweltgift, dessen Eintrag in Lebensmittel, egal woher und
egal in welcher Konzentration, soweit wie möglich begrenzt werden muss.
({3})
Gerade weil jede zusätzliche Belastung unterbunden
werden muss, sage ich den Verbraucherinnen und Verbrauchern: Dieser Skandal wird Konsequenzen haben.
({4})
- Darauf können Sie sich verlassen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass wir ein
föderales System haben. Aber egal wer zuständig ist:
Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Entscheidungen für ein Höchstmaß an Sicherheit bei Lebensmitteln. Ich sage ganz klar: Vorsorgender Verbraucherschutz
liegt im gemeinsamen Interesse aller, vor allem im Interesse der 82 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland. Vorsorgender Verbraucherschutz
muss deshalb unser gemeinsames Interesse sein. Dieses
gemeinsame Interesse muss über allen Einzelinteressen
stehen. Die Sicherheit unserer Lebensmittel geht uns alle
an.
Nach der gestrigen Sitzung mit den Verbraucher- und
Agrarministern der Länder kann ich sagen: Wir ziehen
an einem Strang und auch in dieselbe Richtung.
({6})
Das hat Kraft gekostet - das ist wohl wahr -, aber wir
stehen zusammen. Von dem gestrigen Tag ist ein Signal
der Geschlossenheit und der Entschlossenheit ausgegangen. Das ist eine gute Botschaft für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({7})
Vorsorgender Verbraucherschutz muss vor allen wirtschaftlichen Interessen stehen. Der Schutz der Gesundheit hat die höchste Priorität. Das gilt und galt auch bei
der Aufarbeitung dieses Falls.
({8})
Das galt und gilt auch weiter bei den Untersuchungen in
den noch gesperrten Betrieben. Erst wenn alles untersucht und geklärt ist, dürfen gesperrte Betriebe und deren Produkte wieder freigegeben werden. Sicherheit geht
vor Schnelligkeit.
({9})
Und Gründlichkeit geht auch vor Schnelligkeit.
Ich habe die Lage von Anfang an ernst genommen.
Ich habe einen Krisenstab eingerichtet, ein Bürgertelefon
eingerichtet,
({10})
mich eng mit der EU abgestimmt, mich um die internationalen Märkte gekümmert, und ich habe täglich mit
den Ländern die aktuelle Lage geklärt. Ich habe zudem
parallel an den Konsequenzen gearbeitet, damit sich so
ein Fall in Zukunft nicht wiederholt. Das ist ein solides
Vorgehen, und das ist das Gegenteil von blindem Aktionismus.
({11})
Ergebnis der soliden Arbeit in meinem Haus ist ein
Aktionsplan für Sicherheit und Transparenz, der die
wichtigsten Maßnahmen bündelt. Er ist umfassend, konkret und konsequent, und er stellt die gesamte Futtermittelkette auf den Prüfstand: vom Stall bis auf den Teller.
Wir werden die Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe verschärfen. Strenge Auflagen müssen her, und
die Länder müssen diese umfassend und regelmäßig
kontrollieren.
Wir werden die Produktionsströme trennen. Es darf
künftig nicht mehr sein, dass Stoffe für Futter und Stoffe
für die industrielle Produktion in derselben Anlage verarbeitet werden.
({12})
Wir werden vorschreiben, dass die Futtermittelkomponenten auf die Gesundheit gefährdende Stoffe untersucht werden.
Und schließlich: Alle Prüfungsergebnisse müssen
nicht nur den Futtermittelherstellern mitgeliefert, sondern auch den Behörden zur Verfügung gestellt werden.
Als weitere Sicherheitsmaßnahme müssen die Labore
den Behörden Grenzwertüberschreitungen von sich aus
melden.
Die Kontrollen vor Ort müssen funktionieren. Die
Verbraucher müssen sich auch darauf verlassen können.
Deshalb sind Verbesserungen in der Kontrollpraxis für
mich ein elementarer Punkt dieses Aktionsplans.
({13})
Hundertprozentige Sicherheit kann es zwar nicht geben.
Aber das Sicherheitsnetz muss so eng geknüpft sein,
dass allein die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden,
abschreckt.
({14})
Nur so können wir für Sicherheit sorgen, Transparenz
schaffen und das Vertrauen der Verbraucher wiedergewinnen.
Bei allen Vorteilen des Föderalismus: Es kann doch
nicht sein, dass heute zwar die EU die Befugnis hat, in
einzelnen Bundesländern zu prüfen, der Bund aber bisher außen vor bleibt. Wir haben gestern beschlossen,
dass wir eine gemeinsame Auditierung der Überwachungsbehörden vornehmen und sich alle zusammen die
Qualität der Kontrollen anschauen. Ich freue mich, dass
wir damit einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben.
Das ist ein großer Schritt für die Verbrauchersicherheit.
({15})
- Ja, in der Tat: Es ist wichtig, dass wir diesen Plan
schnell in die Tat umsetzen. Vieles wird noch in diesem
Jahr geschehen; das kündige ich an.
({16})
- Genau, ja. - Ein konkreter Zeitplan liegt vor. Mit Ihrer
Unterstützung, der des Parlaments und des Bundesrates,
werden wir diesen Plan umsetzen.
({17})
- Ich weiß nicht, warum Sie sich immer so aufregen. Es
ist in jeder politischen Debatte ein normaler Vorgang,
dass man sich ein Ziel setzt, es ankündigt und dann auch
umsetzt. Das machen wir jetzt auch; das ist ganz normal.
({18})
Übrigens, meine Damen und Herren, setzen wir auf
das, was Deutschland in Branchen wie dem Maschinenbau und der Automobilindustrie stark gemacht hat: Wir
wollen hohe Qualität gewährleisten.
({19})
Das Qualitätssiegel „Made in Germany“ muss auch hier
gelten.
({20})
Am morgigen Tag steht die Eröffnung der Internationalen Grünen Woche auf der Tagesordnung. Die weltgrößte Ernährungsmesse begrüßt hier in Berlin Hunderttausende Besucher. Ich werde bei der diesjährigen Messe
den Wert von Lebensmitteln in den Mittelpunkt stellen;
denn es geht um einen verantwortlichen Umgang mit unseren Lebensmitteln. Lebensmittel sind Mittel zum Leben;
({21})
Lebensmittel sind keine Industriegüter. Deswegen müssen wir hier den Anfang machen. Deswegen müssen hier
die Anforderungen an die Sicherheit und Qualität ganz
besonders hoch sein.
Wir sind zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, und wir
sind zu Transparenz verpflichtet. Der Verbraucher muss
wissen und verstehen können, was er isst. Vor diesem
Hintergrund habe ich die Initiative „Klarheit und Wahrheit“ gestartet,
({22})
und gestern ist eine überarbeitete Fassung des Verbraucherinformationsgesetzes in die Ressortabstimmung gegangen,
({23})
ein Verbraucherinformationsgesetz, das Sie, Frau
Künast, nicht zustande gebracht haben,
({24})
das von der Großen Koalition umgesetzt wurde
({25})
und das wir nun im Sinne der Verbraucher noch besser
und verbindlicher gestalten werden. All das gehört zur
umfassenden Verbraucherinformation dazu.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 5 Millionen
Beschäftigte gibt es in der Land- und Ernährungswirtschaft. Wenige Einzelne haben offensichtlich mit hoher
krimineller Energie gehandelt und gegen alle gesetzlichen, aber auch moralischen Regeln verstoßen. Es trifft
die ganze Branche und ganz besonders unsere Landwirte. Sie sind diejenigen, die von harter und ehrlicher
Arbeit leben. Sie sind unverschuldet Opfer in diesem
ganzen Skandal geworden.
({26})
Auch für sie wollen wir schnell das Vertrauen der Verbraucher zurückgewinnen, indem wir an der politischen
Aufarbeitung arbeiten, aber auch, indem wir den Wert
von Lebensmitteln hochhalten.
In diesen Tagen steht die Landwirtschaft besonders
im Fokus der Öffentlichkeit. Ich sehe darin auch eine
Chance für eine breite gesellschaftliche Debatte um die
Rolle der Landwirtschaft. Die Ansprüche und Wünsche
der Verbraucher sollen dabei die Richtschnur sein. Es
geht darum, unterschiedliche Zielvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen: das Streben nach Nahrungssicherheit, die verstärkte Produktion nachwachsender Rohstoffe und den Schutz unseres Klimas und der
Umwelt. Das sind die großen Zukunftsthemen, die diskutiert werden müssen. Ich habe deshalb einen Prozess
in meinem Haus angestoßen. Am Ende soll eine Charta
für Landwirtschaft und Verbrauchervertrauen stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie die heutige moderne Landwirtschaft funktioniert, weiß in der breiten
Bevölkerung leider eigentlich niemand so recht. Da herrschen Vorstellungen von einem Idyll, und da kursieren
allerhand Klischees. Was aber hat die Land- und Ernährungswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten nicht
alles geleistet? Jeder achte Arbeitnehmer in Deutschland
arbeitet heute in dieser Branche. Produktivität, Ertrag
und Nachhaltigkeit sind mithilfe moderner Technik
enorm gestiegen. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland haben davon profitiert. Hier hat
sich also viel getan.
Übrigens würde heute niemand mehr im Haushalt so
arbeiten wie vor 50 Jahren. Niemand nimmt heute noch
den Teppichklopfer, wenn der Staubsauger zur Verfügung steht, und die wenigsten brauchen im Garten noch
den eigenen Obstbaum, um Marmelade einzumachen.
({27})
Landwirtschaft geht nun auch einmal mit der Zeit.
Moderne Technik und eine stärkere Spezialisierung gehören auch hier dazu. Der Weg zwischen Acker und Teller ist heute länger: Futterwirtschaft, Landwirtschaft,
Verarbeitung und Handel arbeiten in einer Wertschöpfungskette. Die Dioxinfunde haben es deutlich gemacht:
Allein Futtermittel gehen einen langen und komplizierten Weg.
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn unsere Landwirte das Futter wieder mehr auf den eigenen Höfen oder
in der eigenen Region produzieren würden; das will ich
auch befördern. So sind Eiweißstrategie und regionale
Wertschöpfungsketten in Ordnung, jedoch weiß auch
ich: Wir können uns nicht zu 100 Prozent unabhängig
von Zukäufen machen. Deshalb müssen auch diese Produkte allerhöchsten Sicherheitsmaßstäben gerecht werden und in der Qualität unantastbar sein.
Damit nicht genug: Es ist auch wichtig, dass wir die
regionale Herkunft stärken und „Region“ zur Marke machen. Deshalb will ich ein regionales Herkunftskennzeichen befördern.
Ich will eine unternehmerische bäuerliche Landwirtschaft, damit Landwirtschaft bei uns dauerhaft leistungsfähig sein kann.
({28})
Ich will auch in Zukunft eine flächendeckende Landwirtschaft. Deshalb wird in Deutschland nur noch die
Bewirtschaftung der Fläche gefördert und nicht mehr die
Produktion. Deshalb bekommt nach der jetzt laufenden
Umstellungsphase bei den Direktzahlungen ein Betrieb,
der keine Fläche mehr bewirtschaftet und zum Beispiel
ausschließlich mästet - auch wenn es Hunderte Tiere
sind -, ab 2013 keinen einzigen Eurocent Förderung
mehr.
Das System verändert sich. Auch sonst hat sich viel
verändert. Auch wenn vieles immer noch fälschlicherweise in den Köpfen der Menschen ist: Die Butterberge
sind abgeschmolzen, die Milchseen sind ausgetrocknet,
und ich bin mir mit dem zuständigen EU-Kommissar
Ciolos vollkommen einig: Wir setzen auf eine Landwirtschaft, die für Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen
Verantwortung übernimmt und Wissen und Können mit
Sicherheit und Qualität zusammenbringt.
({29})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaft
gehört in die Fläche. Sie schafft dort Arbeitsplätze, sie
produziert unser täglich Brot, sie belebt den ländlichen
Raum. Ja, sie gehört in die Mitte der Gesellschaft.
({30})
Dafür braucht sie Akzeptanz. Landwirte und Verbraucher sind natürliche Verbündete. Für all das lohnt es sich
zu kämpfen.
Herzlichen Dank.
({31})
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Priesmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Frau Ankündigungsministerin!
({0})
„Wir müssen“, „wir wollen“, „wir werden“: Nichts
Neues aus dem Hause Aigner. Wo konkrete Vorschläge
und Maßnahmen gefordert sind, hört man nur wieder unverbindliche Phrasen, die uns letztendlich nicht weiterbringen. Ich höre Ihre Worte, Frau Ministerin, allein mir
fehlt der Glaube.
Der Markt für Geflügelfleisch ist zusammengebrochen, der Markt für Schweinefleisch und für Eier ebenfalls. Die Kosten gehen mittlerweile weit über
300 Millionen Euro hinaus und steigen täglich. Die
Krise hat Folgen über Deutschland hinaus. Der russische
Minister fragt besorgt, warum er seit Tagen keine Antwort aus Berlin auf konkrete Fragen bekommt, und in
den Niederlanden planen die Bauern Protestdemonstrationen.
Die Frage ist: Wer hat das verursacht? Kriminelle Machenschaften sind sicherlich ein Grund. Ein anderer
Grund ist die hausgemachte Krise bei der Bewältigung
dieser Dioxinkrise.
({1})
Das ist die Folge Ihres persönlichen Führungsstils in Ihrem Hause, und das ist die Folge einer fehlenden und unzureichenden Lagebeurteilung und vor allen Dingen einer mangelhaften Kommunikation nach außen in dieser
Krise.
({2})
Das Vertrauen in das System, das bisher selbst unter
dem Minister Seehofer bei dem Gammelfleischskandal
noch leidlich aufrechterhalten werden konnte, haben Sie
gründlich vernichtet.
({3})
Die deutschen Verbraucher sind zutiefst verunsichert
und fragen sich natürlich: Was gedenken Sie zu tun?
Mit Ihren bisherigen Äußerungen und dem, was Sie
heute hier vorgetragen haben, haben Sie keinen konstruktiven Beitrag geleistet.
({4})
Es hagelt Schlagzeilen wie: „UNGEAIGNERT! Wer
schützt uns Verbraucher vor dieser Ministerin?“ Frau
Ministerin, das sind die Folgen Ihres konkreten Handelns: Zaudern, zögern, ankündigen. Das ist weiß Gott
keine Strategie. Wo Ruhe, Übersicht und Führungsstärke
gefordert sind, haben Sie in den letzten Wochen das konkrete Gegenteil abgeliefert.
({5})
Erlauben Sie mir einige Worte, auch kritische Worte,
zum Ablauf dieses Krisenmanagements. Wir als SPDFraktion haben bereits am 8. Januar 2011 einen Katalog
mit 15 Forderungen vorgelegt,
({6})
um die Konsequenzen aus diesem Skandal zu ziehen. Ich
bin nicht in den Urlaub gefahren, sondern habe mir die
Mühe gemacht, konkret an diesem Katalog zu arbeiten.
({7})
Der von Ihnen angekündigte und im Zusammenhang mit
der Bekanntgabe der Ergebnisse der gestrigen Konferenz
veröffentlichte Plan enthält im Wesentlichen 14 dieser
Forderungen. Eine ist offengeblieben, nämlich der Informantenschutz.
({8})
Darüber kann ich mich natürlich freuen. Wir wollen hierauf kein Copyright haben.
Wenn es bei diesem Problem um konkretes Handel
und auch um konkrete Vorschläge geht, stehe ich für den
Sachverstand meiner Fraktion, der SPD-Bundestagsfraktion. Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Pressekonferenz
am letzten Freitag behauptet, dass das, was von der SPD
vorgeschlagen wurde, abgeschrieben worden ist. Damit
treffen Sie mich persönlich. Das ist eine Unverfrorenheit. Das muss ich Ihnen deutlich sagen.
({9})
Die Behauptung, dass das, was vorgeschlagen wird, die
SPD abgeschrieben habe, haben Sie am letzten Freitag
auf Ihrer Pressekonferenz gemacht. Dies stimmt nicht.
Frau Aigner, die Menschen haben kein Verständnis
mehr für das föderale Kompetenzgerangel, wenn es um
Gesundheit und Wohlergehen geht. Daher fordere ich
Sie auf, bei der Novelle zum Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch endlich einen klaren, konkreten Rahmen mit gesetzlichen Bestimmungen vorzugeben, die
die Futtermittel- und Lebensmittelkontrollen dezidiert
regeln, entsprechende Quoten vorschreiben, strafbewehrt sind und nach denen die Eigenkontrollen der Betriebe in die gesetzlichen Kontrollen mit einbezogen
werden sowie für betriebliche Kontrollen die gleichen
Voraussetzungen wie für staatliche Kontrollen gelten.
Anders kommen wir in dieser Frage nicht weiter.
({10})
Egal ob die Bürger in Konstanz, Flensburg, Aachen oder
Görlitz wohnen: Sie haben einen Anspruch darauf. Sie
haben kein Verständnis dafür, dass die erforderlichen
Maßnahmen im föderalen Kompetenzwirrwarr untergehen.
Sie müssen jetzt konkrete Kontrollstandards vorlegen.
Das erwarten wir von Ihnen. Sie müssen das auch durchkämpfen. Sie haben ja vorhin gesagt, dass alle an einem
Strick ziehen. Wie das aussieht, wissen wir: Auf der einen Seite steht die Bundesministerin, auf der anderen
Seite stehen beispielsweise die Landesminister, und irgendwann reißt der Strick. Wir haben das vielfach erlebt.
Sie stehen an demselben Punkt, an dem schon der Kollege Seehofer gestanden hat, und Sie verfangen sich in
denselben Bedingungen.
({11})
Die Kosten der Kontrollen für dieses System sind
selbstverständlich nicht aus den öffentlichen Kassen,
sondern von den Unternehmen bzw. Betrieben zu bezahlen.
({12})
Ein Landrat in Niedersachsen hat mir gesagt, dass er in
dem Bereich allenfalls 55 Prozent der Kosten vom Land
ersetzt bekommt. Den Rest tragen die Kommunen. Solange sich daran nichts ändert, wird dieses System nicht
funktionsfähig sein. Wir können so auch nicht den Kontrollumfang darstellen, der nötig wäre.
Ihre Wettbewerbsidee à la PISA, was die Kontrollen
betrifft, finde ich gut. Mein Vorschlag wäre aber: PISA
für die Regierung, PISA für die Kanzlerin, PISA für die
Minister, vor allen Dingen PISA auch für die Agrarministerin.
({13})
Ich glaube, wir würden aus der PISA-Bewertung das Fazit ziehen, dass Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
gerade gut aussehen.
Ich wünsche an dieser Stelle vor allen Dingen dem
neuen niedersächsischen Agrarminister Gert Lindemann
viel Erfolg. Gert Lindemann ist ein sach- und fachkompetenter Spezialist für den Agrarbereich. Das hat er immer wieder unter Beweis gestellt.
({14})
Aus meiner persönlichen beruflichen Erfahrung weiß ich
noch, welche dramatischen Folgen damals die Schweinepestkrise hatte. Er hat maßgeblich dazu beigetragen,
diese Krise und auch die BSE-Krise in den Griff zu bekommen, und zwar für Niedersachsen. Den Sachverstand hatten Sie bis letztes Jahr in Ihrem Hause. Sie haben dem Sachverstand einen Tritt versetzt und Ihren
damaligen Staatssekretär vor die Tür gesetzt. Dass es Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Sachverstand fehlt,
hätten Sie vielleicht vermeiden können. Dann hätten Sie
vielleicht nicht ganz nackt dagestanden, was Vorschläge,
Alternativen und vor allen Dingen das Krisenmanagement betrifft.
Die SPD ist zum Dialog bereit. Es macht keinen Sinn,
diesen Konflikt auf der Ebene der Parteien politisch weiter eskalieren zu lassen. Denn dafür haben die Bürger
kein Verständnis. Wir reichen Ihnen die Hand für konkrete Vorschläge. Deshalb bitten wir Sie alle in diesem
Hause: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Das ist der
erste Schritt dazu.
Vielen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. HappachKasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Fachverstand von Herrn Priesmeier kennen wir alle.
Leider hat er uns davon keine Kostprobe gegeben.
Schade eigentlich. Ich finde, er hätte etwas Vernünftiges
sagen sollen.
({0})
Er hat vergessen, was wirklich unser Problem ist: Die
Verbraucherinnen und Verbraucher sind verunsichert. Es
ist auch unsere Aufgabe - nicht nur die der Wirtschaft,
sondern auch die der Politik -, das verloren gegangene
Verbrauchervertrauen wieder zu stärken. Dazu haben Sie
nichts beigetragen.
({1})
Es ist auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
nicht diejenigen die Zeche zahlen, die nicht daran beteiligt waren, nämlich die kleinen und mittelständischen
landwirtschaftlichen Betriebe, die jetzt Einnahmeverluste haben und in ihrer Existenz gefährdet sind. Auch
für die haben Sie absolut nichts getan. Ich finde das
schmählich.
({2})
Wie wir alle wissen, ist die Qualität unserer Lebensmittel hoch. Wenn sie kriminell - wie in diesem Fall oder fahrlässig gefährdet wird, dann müssen diejenigen
zur Verantwortung gezogen werden, die dafür verantwortlich sind. Das sind wir den Verbraucherinnen und
Verbrauchern schuldig. Das sind wir aber auch den Unternehmen schuldig, die darunter leiden.
({3})
Wir alle sind uns darin einig,
({4})
dass Dioxine nicht in das Frühstücksei und nicht in das
Kotelett gehören. Wir wissen aber auch, dass es eine latente Umweltbelastung mit Dioxinen gibt und dass deswegen das, was die Grünen immer fordern, nämlich
Nulltoleranz, in diesem Fall nicht umzusetzen ist, obwohl es wünschenswert wäre. Ich frage in Richtung der
SPD: Sie haben einmal den Umweltminister gestellt. Erinnern Sie sich noch? Das ist noch gar nicht so lange her.
Was hat er denn eigentlich gemacht, um die Dioxinbelastung in der Umwelt zu mindern? Wie sah seine Vermeidungsstrategie aus? - Es ist so still bei euch. Ich verstehe
das gar nicht.
({5})
Wir wollen genauso wenig Dioxine in Weiderindern.
Auch deswegen ist eine Strategie zur Vermeidung von
Dioxinen wichtig. Futtermittel sind Lebensmittel für
Tiere. Abfallbeseitigung durch den Tiermagen war und
ist nicht akzeptabel.
({6})
Am 21. Dezember waren erstmals erhöhte Dioxinwerte durch Eigenkontrollen festgestellt worden. Heute,
am 19. Januar, legen wir einen bereits zwischen Bund
und Ländern abgestimmten Aktionsplan vor. Das ist zügiges Handeln.
({7})
Ich bitte Sie herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der linken Seite, sich im Bundesrat dafür einzusetzen, dass der Maßnahmenkatalog, der von Bund und
Ländern erarbeitet wird, umgesetzt wird. Auch Sie sind
hier in der Pflicht.
({8})
Ich finde, es ist nach wie vor ein Skandal, dass wir in
einem hochtechnologisierten Land immer noch nicht
wissen, woher in diesem konkreten Fall die Dioxine
kommen. Nach allen Analysen haben wir ein Dioxinmuster, das vollkommen unbekannt ist. Das heißt, dass
wir in Dioxinforschung, -vermeidung und -analytik weiter verstärkt investieren müssen. Wir müssen aber auch
zur Kenntnis nehmen und den Verbrauchern bewusst
machen: Das BfR hat festgestellt, dass keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch den Verzehr von belasteten Eiern zu erwarten sind.
({9})
Wir sollten auch darauf hinweisen, dass die Dioxinbelastung seit den 90er-Jahren auf ein Drittel gesunken ist.
Ursache dafür war das konsequente Handeln der letzten
christlich-liberalen Regierung in den 90er-Jahren.
({10})
- Sie waren nicht dabei, liebe Frau Höhn. Das müssen
wir schlicht und ergreifend feststellen.
({11})
Opfer des Vertrauensverlustes der Bürgerinnen und
Bürger sind die kleinen und mittelständischen Betriebe.
Deswegen haben wir als Liberale von Anfang an gefordert, dass alle Betriebe, die mit Futtermitteln handeln,
eine Haftpflichtversicherung haben, die so ausgestaltet
ist, dass die Betriebe, die in Not geraten, die entsprechenden Gelder bekommen; das ist wichtig. Wer angesichts dieser für die kleinen und mittelständischen Betriebe existenziellen Krise von einer industrialisierten
Landwirtschaft spricht, der verfolgt eindeutig eigene
Parteiinteressen und hat nicht das Wohl der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der betroffenen Betriebe
im Sinn.
({12})
- Ich weiß gar nicht, warum du zuckst, Wilhelm; du bist
gar nicht gemeint.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Betriebe, die unter
der momentanen Krise leiden, ohne dass sie in irgendeiner Weise schuldig geworden sind, nicht existenziell gefährdet werden.
Blicken wir auf die Dioxinfälle in der Vergangenheit
zurück. 1999 ging es in Belgien um Verunreinigungen
durch Transformatoröl. 2003 - daran erinnere ich mich
gut; damit habe ich angefangen - gab es Fälle in Thüringen. Frau Ministerin Künast war zwar da, hatte aber
nichts umzusetzen.
({13})
- Sie hat nicht mehr gemacht, sondern hat schlicht und
ergreifend andere mehr beschimpft, als Frau Aigner das
gemacht hat. Was Sie sagen, Frau Höhn, ist nicht wahr.
({14})
Schauen wir uns die Lebensmittelskandale im letzten
Jahr an. Damals gab es sieben Tote durch Listerien. Was
haben die Grünen gesagt? Nichts. 2 500 Tonnen dioxinbelasteter, aber biozertifizierter Mais wurden an Biobetriebe geliefert. Was haben die Grünen dazu gesagt?
Nichts. Es sieht doch so aus: Ihr sagt prinzipiell nichts;
und euer Versagen,
({15})
insbesondere auf der linken Seite dieses Hauses, ist der
Grund, dass sich die Öffentlichkeit sehr viel mehr mit
Problemen beschäftigt, die gar keine sind.
Sie verschärfen die GVO-Analytik, statt sich mit Dioxinanalytik zu beschäftigen.
({16})
Sie interessieren sich für Pflanzenschutzmittelrückstände. Dioxin hingegen steht bei Ihnen überhaupt nicht
auf dem Programm. Sie beschäftigen sich nicht mit der
größten Gefahr für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({17})
- Herr Präsident, ich kann mein eigenes Wort nicht mehr
verstehen.
Das ist sicherlich richtig. Sie wissen allerdings auch,
dass Ihre Redezeit eigentlich vorbei ist,
({0})
sodass wir vielleicht auf beiden Seiten ein bisschen - ({1})
- Einen Augenblick, bitte.
Ich möchte noch meinen letzten Satz sagen. - Wir als
Politiker sind, auch gegenüber den Verbraucherinnen
und Verbrauchern, gefordert, das Hauptaugenmerk auf
die realen Gefährdungen zu legen. Das sind im Bereich
der Lebensmittelsicherheit zum einen die Dioxine; zum
anderen sind es aber auch bakterielle Verunreinigungen
in größerem Umfang. Das hat das Beispiel aus dem letzten Jahr gezeigt. Wir sollten uns nicht von Skandalen
treiben lassen, sondern von einem selbstbewussten und
verantwortlichen Handeln für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Bartsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Aigner, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung sehr
viele, sehr wohlfeile Worte gefunden. Klarheit und
Wahrheit, wer kann dem schon widersprechen? Da sind
wir alle sehr dafür. Sie haben das Tempo gelobt. Sie sagen, Sie wollen die Maßnahmen schnell umsetzen.
Die Realität ist aber eine andere. Sie mussten sogar zu
dieser Regierungserklärung getragen werden. Erst aufgrund der Aktuellen Stunde haben Sie sich dazu entschlossen. Das ist schlicht die Wahrheit.
({0})
Sie müssen zum Jagen getragen werden. Sie haben zunächst zögerlich agiert und sind dann in Aktionismus
verfallen. Dann sagen Sie so schöne Sätze wie: Sicherheit vor Schnelligkeit. Das ist ganz großes Kino. Das sagen auch die Formel-1-Manager nach einem Unfall.
Dann wird aber sofort weitergerast. Das ist die Praxis.
Wer ist denn schuld am Dioxinskandal? Da gibt es die
Firmen, die sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben; da gibt es die Kontrollbehörden der einzelnen Länder, die die Schuld jeweils in den anderen Ländern suchen. Am Ende kommt heraus: Es gibt schwarze Schafe.
Das haben Sie hier auch so dargestellt. Es gibt skrupellose Täter. Das stimmt, aber das ist nicht die Ursache.
Die Realität sieht anders aus.
Fest steht allerdings eines: Leidtragende sind die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Landwirte in
diesem Land. Auch Ihr Agieren hat das Vertrauen in saubere Lebensmittel erschüttert.
({1})
Das Highlight allerdings war Niedersachsen. Hier fordert die Bundesministerin personelle Konsequenzen.
Diese hat es aber nicht gegeben. Es stellt sich die Frage:
War die Forderung falsch, oder sind Herr McAllister und
seine Regierung Futtermittelskandalvertuscher?
({2})
- Das ist ja nur eine Frage. - Frau Merkel musste sich
einschalten, damit CDU-Ministerpräsident McAllister
und Bundesministerin Aigner mit dem Schwarzer-PeterSpiel aufhören. Das ist die Realität: Machtspiele und
Schuldzuweisungen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher wären froh, wenn die Regierung endlich damit
anfinge, sie konsequent und wirksam vor kriminellen
Futterpanschern zu schützen. Vielleicht ist sogar ein eigenes Verbraucherschutzministerium sinnvoll.
Wir müssen aber vor allem die eigentlichen Ursachen
benennen. Diese liegen nicht allein in den kriminellen
Handlungen. Gründe sind auch der unkontrollierte Weltagrarmarkt und der gnadenlose Preiskampf, der stattfindet. Lebensmittel werden zum Sicherheitsrisiko, wenn
Niedriglöhne und global gehandelte Billigrohstoffe den
Ton angeben. Allein durch mehr Kontrolle und höhere
Strafen sind die grundlegenden Ursachen nicht zu bekämpfen.
({3})
Nun haben Sie den mit den Landesministerinnen und
Landesministern erarbeiteten 14-Punkte-Plan hier vorgestellt. Dieser ist durchaus vernünftig.
({4})
Daran haben auch linke Minister aus den Ländern mitgearbeitet sowie Grüne und Sozialdemokraten.
({5})
Dabei kommt manchmal etwas Gutes heraus. Das ist gar
keine Frage, um Gottes Willen, wenn man auch über Details streiten kann.
Die Linke aber fordert, dass die Bundesregierung
nicht nur die Symptome behandelt, sondern auch die Ursachen bekämpft. Das ist das Entscheidende.
({6})
Es sieht doch jetzt so aus, dass eines gilt: Nach dem
Skandal ist vor dem Skandal. Schauen wir einmal zurück. Unter Seehofer gab es den Gammelfleischskandal,
unter Frau Künast gab es BSE,
({7})
unter Frau Aigner gibt es den Dioxinskandal. Alle Ministerinnen und Minister haben bessere Kontrollen versprochen, wie auch Sie heute. Aber alle sind vor der
Nahrungsmittelindustrie eingeknickt. Das ist die Realität.
({8})
Die Skandale werden doch durch die Bank zufällig entdeckt.
({9})
Deswegen sage ich: Legen Sie zügig hier im Hause
Gesetze vor! Es waren die Länder, die gestern bei den
Beratungen durchgesetzt haben, dass schon 2011 etwas
geschieht. Sie hingegen wollten erst 2012 Gesetze vorlegen.
({10})
Der Druck der Landesminister unterschiedlicher Parteien hat dafür gesorgt, dass Sie in diesem Jahr mit der
Arbeit anfangen. Das ist die Realität. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben kein Verständnis für das Hin
und Her zwischen Bund und Ländern. Man kann ihnen
ein solches Hin und Her auch nicht zumuten. Sie müssen
von der Ankündigungsministerin zu einer Handlungsministerin werden. Das wäre notwendig.
({11})
Damit könnten das Krisenmanagement vom Kopf auf
die Füße und die Verbraucherschutzinteressen wirklich
auf Platz eins gestellt werden. Das wäre nötig. Ich hoffe,
dass wir in diesem Hause darin einig sind.
Danke schön.
({12})
Peter Bleser ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder gute
Feuerwehrleiter löscht erst das Feuer und spricht dann
über die notwendigen Brandschutzmaßnahmen. So hat
auch unsere Ministerin zusammen mit ihren Kolleginnen
und Kollegen aus den Ländern gehandelt: ruhig, entschlossen, zielstrebig. Sie hat als Erstes die Quellen für
die Dioxineinträge verstopft. Sie hat als Zweites die betroffenen Bauernhöfe ermittelt, die das verseuchte Futter
erhalten haben konnten. Dann hat sie als Drittes die Lebensmittel, die schon auf dem Markt waren, zurückrufen
lassen.
({0})
Das war genau die richtige Reihenfolge, um im Interesse
der Verbraucher gesundheitliche Gefahren ausschließen
zu können.
({1})
Weil Frau Ministerin Aigner in der Öffentlichkeit sehr
beschimpft und unter Druck gesetzt worden ist - Sie waren sich nicht zu schade, den Rücktritt der Frau Ministerin zu fordern -, will ich ihr ganz formal Lob und Dank
für die Vorgehensweise in dieser Krise aussprechen.
({2})
Ich weiß, dass gerade in den Tagen nach Weihnachten,
als viele von Ihnen ihren verdienten Urlaub und ihre
Freizeit genossen haben, eine ganze Reihe von Mitarbeitern in den Untersuchungsämtern in Niedersachsen und
in den Ministerien durchgearbeitet haben, um diese
Krise in den Griff zu bekommen
({3})
und sofort Maßnahmen vorzuschlagen, die wir jetzt zügig umsetzen können, um ein derartiges Geschehen in
der Zukunft zu verhindern.
Ich will aber nicht verschweigen, dass auch der Futtermittelwirtschaft eine große Verantwortung zukommt.
({4})
Auch sie muss mithelfen, dass möglichst alle erfasst
werden, die durch diese Futterlieferung geschädigt worden sind.
({5})
Ich sage es ganz offen: Ich bin es langsam leid, dass einige wenige in einer Branche das ganze Umfeld der
Agrar- und Ernährungswirtschaft in Verruf bringen. Das
lassen wir uns nicht mehr bieten.
({6})
Das werden wir mit dem 14-Punkte-Plan verhindern.
Alle Punkte, die gestern einvernehmlich mit den Ländern festgelegt worden sind, sorgen in voller Schärfe dafür, dass in Zukunft Derartiges nicht mehr geschieht. Ich
habe mir alle Punkte angesehen. Es sind wesentlich
mehr, als von der Opposition bisher vorgeschlagen wurden.
({7})
- Es sind wesentlich mehr! - Ich war Gott sei Dank
- das gehört auch zum Führungsstil unserer Ministerin bei der Erarbeitung der Punkte involviert. Sie hat sehr
engen Kontakt mit den Koalitionsfraktionen gehalten,
um sicherzustellen, dass diese Punkte unser aller Zustimmung finden,
({8})
damit sie in den nächsten Monaten möglichst schnell
umgesetzt werden können.
({9})
Herr Bartsch, es ist in der Tat so - auch wenn es nicht
in meinem Sinne ist -: Alle hier vertretenen Parteien
sind in den Ländern in Verantwortung. Wir werden sehen, ob die Länder bei der konkreten Umsetzung auf
ihren Kompetenzen bestehen, ob sie das Audit der Futtermittelkontrollen, das der Bund jetzt einführen will,
mittragen, ob sie sich gemeinsamen Standards stellen.
Das werden wir in den nächsten Monaten sehen. Ich bin
sehr hoffnungsvoll, dass der Maßnahmenkatalog, der in
der Kürze der Zeit erstellt worden ist, im Laufe dieses
Jahres in konkretes Regelwerk umgesetzt werden kann.
Meine Damen und Herren, es ist auch richtig, dass
wir darüber hinaus die Verbraucherinformation verbessern wollen.
({10})
Das steht übrigens schon in unserem Koalitionsvertrag.
Auch durch viele öffentliche Erklärungen haben wir unsere Forderung dokumentiert: Wir werden in der Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes vorsehen,
dass Gesetzesverstöße - und das sind solche Überschreitungen von Grenzwerten - unverzüglich ins Netz gestellt
werden. Da braucht dann niemand mehr nachzufragen,
ob das der Fall gewesen ist oder nicht.
({11})
Des Weiteren werden wir die von Bayern beantragte
Homepage Lebensmittelwarnung.de endlich auf den
Weg bringen. Da waren die Bundesländer jetzt die
Reichsbedenkenträger, die ihre Kompetenzen nicht so
schnell wahrgenommen haben, wie es notwendig gewesen wäre. Auf dieser Homepage werden alle beanstandeten Lebensmittel für jeden nachlesbar sein. Auch das ist
Teil des Fortschritts, den wir für die nächsten Jahre anstreben.
Ich will hier aber noch einen anderen Punkt ansprechen, weil gerade dieser Skandal - das ist vorhin schon
mehrfach angesprochen worden - wiederum Unschuldige trifft. Die Preise für Schweine und für Eier sind zusammengebrochen. Man fragt sich: Warum musste das
sein? Auf der linken Seite des Hauses wird immer wieder die Generalforderung gestellt, möglichst alles mit
ökologischer Landwirtschaft zu betreiben, denn dort
komme das nicht vor.
({12})
Ich sage Ihnen eines: Wir hatten im letzten Jahr auch
dort einen Skandal. Ich erinnere an dioxinverseuchten
Mais aus Ungarn, der in ökologisch-landwirtschaftliche
Betriebe geliefert worden ist.
({13})
- Frau Höhn, wir werden uns - jetzt bin ich dankbar,
dass Sie doch noch wach geworden sind ({14})
in Deutschland und auch in der Welt nicht mehr von einer arbeitsteiligen Landwirtschaft und von einer arbeitsteiligen Produktion in Industrie und Handwerk trennen
können. Diese Zeiten sind vorbei; ein Zurück wird es
nicht geben.
({15})
Ob ökologisch oder konventionell, alles muss sicher
sein.
({16})
Die Verbraucher müssen darauf vertrauen können, dass
die Lebensmittel, die sie erhalten, absolut in Ordnung
sind. Das werden wir unter anderem mit diesem Maßnahmenkatalog sicherstellen.
Es hat mich schon auf die Palme getrieben, dass es
hier Rücktrittsforderungen und eine Skandalisierung des
Vorfalls - den ich nicht verniedlichen will, ganz im Gegenteil - gab. Aber ich will in Erinnerung rufen, dass das
Bundesinstitut für Risikobewertung erklärt hat, dass von
den hier genannten Überschreitungen beim Dioxingehalt
keine gesundheitlichen Gefahren ausgehen.
({17})
Damit will ich nicht beschwichtigen; aber es wäre nicht
notwendig gewesen, durch eine Skandalisierung die
Märkte zusammenbrechen zu lassen.
({18})
Ich will das noch einmal verdeutlichen: Es wird jetzt
auch in den Medien immer wieder darauf hingewiesen,
dass nur die biologische Landwirtschaft die richtige ist.
Ich selber bin Landwirt und habe überhaupt keine Präferenzen für die eine oder andere Form. Jeder soll die Nische bedienen, in der er glaubt, seinen wirtschaftlichen
Erfolg erzielen zu können. Wer hier aber ständig den
Eindruck erweckt, dass man mit dieser Form der Landbewirtschaftung die Menschheit ernähren kann, der betrügt die Leute; er macht den Menschen etwas vor. Nach
Angaben der FAO können über diese Art der Produktion
nur 4 Milliarden Menschen ernährt werden; auf der Erde
leben aber über 6 Milliarden Menschen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben
eine Krise vorgefunden, die durch kriminelle Machenschaften verursacht wurde. Es wurde konsequent gehandelt, und es wurde sehr schnell ein Maßnahmenkatalog
beschlossen - das ist in dieser Krise ein Glücksfall; sonst
ist so etwas oft nicht möglich; das sage ich ganz offen -,
der eine Form von Lebensmittelsicherheit erwarten lässt,
die auf der ganzen Welt nicht vorzufinden ist. Es besteht
die Möglichkeit, dass wir nach dieser Krise besser dastehen als vorher.
Ich bedanke mich.
({19})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön.
Herr Kollege Bleser, Sie haben eben ganz stolz darauf
hingewiesen, die Koalition habe den Verbraucherschutz
in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben. Da steht in
der Tat etwas davon; aber im Regierungshandeln können
wir nichts davon erkennen.
({0})
Ich darf da einmal nachfassen. Auch die Ministerin
hat gesagt: Wer die Verbraucher schützen will, wer verhindern will, dass wir Gift im Essen haben, der muss die
kriminellen Machenschaften in der Futtermittelindustrie
und auch in der Lebensmittelindustrie beseitigen. Wer
die kriminelle Energie, die da ganz offenkundig vorhanden ist, wirklich bekämpfen will, der muss dann aber
auch wirksame Maßnahmen ergreifen.
Es ist schon schlimm genug, dass wir ein Kontrollsystem haben, das so viele Mängel und Lücken hat, dass wir
derartige Vorgänge nicht feststellen können. Aber noch
schlimmer ist doch, dass Sie, die CDU/CSU-Fraktion,
eine Maßnahme verhindert haben, über die Frau Zypries,
Herr Scholz und Herr Seehofer in der letzten Wahlperiode schon eine Einigung erzielt hatten. Wir wollten
die Arbeitnehmer in solchen Unternehmen ermutigen,
Meldungen zu machen und zu berichten, wenn in ihrem
Betrieb Gift beigemischt wird, wenn Unzulänglichkeiten
vorhanden sind. Beim Gammelfleisch war das so, und
beim Dioxin ist es jetzt wieder so. In den Unternehmen
gab es viele, die das gewusst und gesehen haben. Wir
müssen diese Personen ermutigen, Unzulänglichkeiten
zu melden. Sie haben genau das verhindert.
({1})
Sagen Sie uns doch, ob Sie mit uns gemeinsam die
Whistleblower-Regelung in das Gesetz einführen wollen, um diejenigen Arbeitnehmer zu schützen, die solche
Meldungen machen, damit sie nicht hinterher dafür bezahlen müssen.
Gift in Lebensmitteln ist das eine. Das müssen wir
verhindern. Aber die Kompetenz im Ministerium muss
hinzukommen. Gift im Essen und Inkompetenz im Verbraucherschutzministerium sind die zwei Seiten einer
Medaille, Frau Ministerin. Sie müssen die Missstände
endlich abstellen, indem Sie tatkräftig handeln.
({2})
Herr Bleser, zur Erwiderung.
Herr Kollege Oppermann, ich freue mich, dass Sie
unseren Koalitionsvertrag gelesen haben. Dort steht,
dass wir eine Evaluierung, die wir bei der Verabschiedung des VIG, des Verbraucherinformationsgesetzes,
durch die Große Koalition gemeinsam beschlossen haben, in diesem Jahr vornehmen. Es hat entsprechende
Gutachten gegeben. In Kürze liegen Referentenentwürfe, die innerhalb der Regierung abgestimmt werden,
vor. Wir werden das VIG im Laufe dieses Jahres entsprechend unseren Wünschen ändern.
Außerdem haben Sie angesprochen, dass kriminelle
Energie vorhanden gewesen ist. Ich als Abgeordneter
darf mit aller Vorsicht, was Beschuldigungen angeht, sagen: Es gab wohl einen Betrieb, der überhaupt nicht zugelassen war, Futtermittel herzustellen, und der infolgedessen nicht registriert war. So etwas können Sie auch
dann nicht vermeiden. Allerdings müssen wir - das ist
mit der Abprobung von Futterzusatzstoffen, bevor sie in
die Nahrungskette kommen, sichergestellt - die Hürden
erhöhen, um so etwas zu verhindern.
Sie haben verlangt - das ist der Kern Ihrer Botschaft -,
dass wir den Denunziantenschutz in Deutschland einführen.
({0})
Das bedeutet, dass Mitarbeiter ihren eigenen Betrieb bei
Behörden denunzieren, indem sie entsprechende Ereignisse melden.
({1})
Ich will Sie über Folgendes in Kenntnis setzen, Herr
Oppermann: Schon jetzt hat jeder Mitarbeiter, der eine
Straftat meldet, Kündigungsschutz. Das wäre im vorliegenden Fall so gewesen. Der Mitarbeiter hätte es also
melden können. Das betroffene Unternehmen ist allerdings bereits insolvent; insofern hätte er seinen Arbeitsplatz ohnehin verloren.
({2})
Das ist aber nicht der Kern meiner Aussage. In keiner
Forderung der SPD-geführten Länder ist ein solcher Ansatz enthalten. Warum wurde er gestern nicht vorgetragen? Diese Frage müssen Sie sich selber beantworten.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Skandals fragen sich die Menschen: Warum
sind schon wieder Dioxine in Eiern und Fleisch gefunden worden? Die Antwort des Bauernverbandes und
auch die Antwort, die wir von Frau Ministerin Aigner
und anderen Politikern bekommen haben, lautet: Das
sind Einzelfälle. Das war ein Krimineller aus SchleswigHolstein. Im Übrigen ist alles gar nicht so schlimm; denn
die gefundenen Mengen sind nicht akut gesundheitsgefährdend, und nur wenige Proben lagen über dem Grenzwert. Eigentlich ist alles gar nicht so schlimm. - Durch
diese Antworten versuchen Sie, den Skandal zu verharmlosen, aber damit kommen Sie nicht mehr durch.
({0})
Die Verbraucher wollen mehr Antworten. Die Verbraucher merken, dass etwas anderes dahintersteckt und dass
man viel intensiver diskutieren muss. Deshalb ist es
sinnvoll, hier im Bundestag die Grundsatzfrage zu stellen: Welche Landwirtschaft wollen wir in Deutschland?
Das ist die entscheidende Frage, über die wir debattieren
müssen.
({1})
Unter Rot-Grün hat Renate Künast nach der BSEKrise einen deutlichen Schwenk in der Agrarpolitik eingeleitet und klargestellt: Wir brauchen mehr Klasse und
weniger Masse. Die Politik unter Schwarz-Gelb - leider
auch schon vorher unter Seehofer - ist darauf ausgerichtet, in Deutschland immer mehr Fleisch zu produzieren,
vor allen Dingen immer mehr Schweinefleisch. Die
ganze Welt soll mit deutschem Schweinefleisch beglückt
werden. Das ist die Politik, die Sie in den letzten fünf
Jahren gemacht haben.
({2})
Deshalb muss man sich nicht über das wundern, was
momentan geschieht. Vielmehr muss man sich fragen:
Was ist die Voraussetzung, wenn man in die ganze Welt
Schweinefleisch exportieren will? Die Voraussetzung
sind möglichst niedrige Schweine- und Geflügelfleischpreise;
({3})
denn nur dann lässt sich das Fleisch gut verkaufen.
Eine solche Entwicklung bedeutet Arbeitsteilung. Die
Betriebe werden immer größer. In den neuen Bundesländern gibt es mittlerweile einzelne Betriebe mit Zehntausenden von Schweinen. Die Arbeitsteilung ist wichtig,
weil die großen Betriebe das Futter für ihre Tiere nicht
mehr selber anbauen können. Arbeitsteilung heißt: Es
gibt eine Futtermittelwirtschaft. Diese Futtermittelwirtschaft handelt an vielen Stellen anonym. Da Futter der
größte Kostenfaktor ist, wird durch den Wunsch nach
immer mehr Schweine- und Geflügelfleisch auch der
Druck auf den Futtermittelpreis erhöht. Die derzeitige
Politik erhöht also das Risiko, dass im Futtermittelbereich Panscher tätig werden. Mit Ihrer Politik erhöhen
Sie das Risiko von Lebensmittelskandalen.
({4})
Wenn man technische Fette, die nur halb so teuer sind, in
das Futtermittel mischt, dann kann man die Konkurrenz
gnadenlos unterbieten und fette Gewinne machen. Genau das hat das Unternehmen in Uetersen in SchleswigHolstein gemacht.
Seehofer hat damals das Signal gegeben: Wir kehren
zur alten Landwirtschaftspolitik zurück; die Förderung
des Ökolandbaus wird zurückgeschraubt. Für die
Fleischhändler bedeutete das: Wir können weitermachen
wie damals. Der Gammelfleischskandal war eine logische Folge dieser Politik. Deshalb müssen wir zurück zu
einer anderen Landwirtschaftspolitik.
({5})
Ihr Krisenmanagement, Frau Ministerin, ist hart zu
kritisieren. Im Rahmen der vorhandenen Struktur haben
Sie sogar richtig gehandelt. Sie haben sich erst gar nicht
blicken lassen. Ich habe zwischen Weihnachten und
Neujahr wenig von Ihnen gehört. Da haben die Behörden in Nordrhein-Westfalen gearbeitet, die Behörden in
Niedersachsen weniger.
({6})
Die Behörden in Nordrhein-Westfalen haben die Eier
untersucht. Erst dann, als wir in Nordrhein-Westfalen
festgestellt hatten: „Die Eierwerte liegen über den
Grenzwerten“, ist Niedersachsen tätig geworden.
({7})
Das heißt, es ist gut, dass wir in Nordrhein-Westfalen
jetzt einen grünen Landwirtschafts- und Verbraucherschutzminister haben.
({8})
Es war natürlich im Sinne des Agrarsystems, dass die
Ministerin gesagt hat: Die Verantwortung liegt bei den
Ländern. Gar nicht so viel darüber reden! Am besten
runterkochen!
Spannend ist, wie Niedersachsen da gehandelt hat.
Spannend ist, dass der Staatssekretär bei uns im Ausschuss gesagt hat: Kein belastetes Schweinefleisch ist
auf dem Markt. - Am nächsten Tag musste er zugeben:
Das war doch der Fall. - Er hat die Ministerin nicht informiert, obwohl er schon mehr wusste.
Spannend ist auch, dass es sich dabei um ein Unternehmen in Damme handelte, ein Unternehmen, das zum
Raiffeisenverband gehört, für das am Ende jemand verantwortlich ist, der Bauernpräsident in Westfalen ist, einer der höchsten Bauernfunktionäre in Deutschland,
nämlich Herr Möllers. Ich frage mich: Wo sind da die
Äußerungen des Bauernverbands? Auch in Damme haben Leute offensichtlich kriminell gehandelt; denn sie
haben nicht gesagt, dass sie verseuchtes Futtermittel bekommen haben.
({9})
Am Ende, Frau Aigner, haben Sie McAllister eine
Frist gegeben, um personelle Konsequenzen zu ziehen.
Die Frist ist verstrichen. McAllister hat das abtropfen
lassen. Damit haben Sie Ihre Autorität vollkommen verspielt; denn in Zukunft können die Länder sich sagen:
Wenn es Forderungen von der Bundesministerin gibt,
dann machen wir den McAllister, das heißt, wir lassen
das einfach abtropfen.
Frau Höhn.
Damit haben Sie Ihre Macht vollkommen ausgehöhlt.
Sie sind nicht mehr in der Lage, den Ländern wirklich
Zugeständnisse abzutrotzen und etwas für den Verbraucherschutz zu tun.
({0})
Frau Höhn, Sie müssten schon zum Ende gekommen
sein.
Ich komme zum Schluss. Letzter Satz. - Frau Ministerin, Sie haben gesagt, es gebe seit zehn Jahren das Verbraucherschutzministerium. Das war hart erkämpft.
Frau Höhn.
Renate Künast war die erste Verbraucherschutzministerin. Handeln Sie endlich als Verbraucherschutzministerin und nicht als Vertreterin der Futtermittelindustrie und
der industriellen Landwirtschaft!
({0})
Michael Goldmann hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Höhn - seien Sie so nett, mir zuzuhören! -,
damit wir da gar keinen Zweifel aufkommen lassen: Es
ist ganz schlimm, was hier passiert ist. Es ist ganz
schlimm für die Bauern. Ich bin bei Bauern gewesen, deren Höfe gesperrt sind, die jeden Tag Tausende von Eiern weggeworfen haben. Es ist ganz schlimm für die
Bauern, die im Moment bei jedem Kilo Schweinefleisch
40, 50, 60 Cent zusetzen müssen und daran pleitegehen.
Und es ist ganz schlimm für die Verbraucher, die total
verunsichert sind, nicht zuletzt durch eine Kampagne,
die im Zusammenhang mit diesem Skandal läuft und zu
der Sie eben entscheidend beigetragen haben, Frau
Höhn.
({0})
Sie haben skizziert, dass diese Branche im Kern versifft ist. Das ist sie nicht. Diese Branche hat wie alle anderen Branchen in unserer Gesellschaft schwarze
Schafe.
({1})
Alle anderen in unserer Gesellschaft haben auch mit diesem Problem zu tun.
({2})
- Frau Künast, das ist nicht ein Problem der Agrarwirtschaft oder der Ernährungswirtschaft, das ist ein grundsätzliches Problem mangelnder ethischer Verantwortung
in bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft.
({3})
Ich bin ein überzeugter Liberaler, aber ich verstehe Liberalität nicht so, dass ich in diesem Markt tun und lassen
darf, was ich will, koste es den Verbraucher, was es
wolle.
({4})
Frau Höhn, Sie liegen völlig daneben. In der Sondersitzung des Ausschusses am Dienstag hätten Sie der Frau
Ministerin die Füße geküsst, wenn sie gesagt hätte:
Diese 14 Punkte setzen wir um.
({5})
Da bin ich wirklich sauer auf Sie. Diese 14 Punkte sind
fast identisch mit den 10 Punkten, die unter anderem Ihr
grüner Landwirtschaftsminister aus Nordrhein-Westfalen in die Diskussion gebracht hat.
({6})
Diese 14 Punkte - das wissen Sie genauso gut wie ich sind keine Erfindung der Ministerin, keine Erfindung der
derzeitig amtierenden Landwirtschafts- und Verbraucherschutzminister, sondern sie sind im Grunde genommen eine sehr alte Forderung an diesen Bereich.
({7})
Frau Künast, was die Umsetzung angeht, so haben Sie
nicht den Erfolg gehabt, und wir hatten ihn bis jetzt auch
nicht. Jetzt werden wir darangehen.
({8})
- Ganz ruhig, Frau Künast! - Wir werden das Punkt für
Punkt abarbeiten
({9})
- langsam, Frau Höhn! -, weil wir Fairness in diesem
Markt wollen, weil wir wollen, dass in diesem Markt die
Machtverhältnisse richtig geordnet werden, weil wir
nicht wollen, dass einige wenige dieses System missbrauchen und im Grunde genommen Arbeitsplätze zerstören. Ich wundere mich darüber, wie die Linken, die
Sozialdemokraten und andere mit diesem Phänomen
umgehen. Das Problem, das wir haben, kostet jede
Menge Arbeitsplätze.
({10})
Dafür übernehmen wir Verantwortung.
Sie sollten sich einmal die Zeit nehmen, auf folgende
Frage einzugehen - vielleicht tut es auch eine nachfolgende Rednerin aus Ihrer Fraktion -: Was stört Sie an
diesen 14 Punkten? Welcher von Ihnen gewünschte
Punkt ist in diesem Papier nicht drin?
({11})
- Da können Sie ruhig noch weiter dazwischenrufen. Sie
können mir keinen Punkt nennen.
({12})
Alle Punkte sind drin. Wir werden sie umsetzen.
({13})
Herr Goldmann, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Miersch zulassen?
Ja bitte, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Goldmann, Sie haben eben gefragt, welche Punkte uns nicht gefallen. Wir müssen nicht darüber
reden, wer der Urheber dieser Punkte ist. Als Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses möchte ich Sie dennoch etwas fragen.
Ministerin Aigner hat uns hier und heute erklärt, dass
es wahrscheinlich um vorsätzliches Handeln und um kriminelle Energie in der Futtermittelindustrie geht. Es gibt
augenblicklich einen Vorschlag, der eine Haftpflichtversicherung für alle vorsieht. Wir alle, die wir mit diesem
Bereich zu tun haben, wissen, dass keine Versicherung
bei Vorsatz eintreten wird. Ich habe bisher von Mitgliedern der Koalition und auch von der Frau Ministerin
noch kein Wort darüber gehört, wie es den Landwirten,
die geschädigt wurden, augenblicklich geht. Sie werden
ihren Schaden nicht ersetzt bekommen; das ist jedenfalls
meine rechtliche Einschätzung. Wenn sie irgendwann
den Urheber des Schadens nennen können, geht dieser
wahrscheinlich in die Insolvenz.
Müssen wir alle nicht viel ehrlicher mit dem Fakt umgehen, dass die Landwirte und die Verbraucherinnen und
Verbraucher nach dem derzeitigen Haftungssystem die
Gekniffenen sind? Müssen wir nicht zusammen mit dem
Bauernverband, der ja zum Großteil in den Aufsichtsgremien der Futterindustrie vertreten ist, und mit der Industrie überlegen, wie wir verhindern können, dass das
letzte Glied in der Kette am Ende der Geschädigte ist?
Ich frage Sie also: Was sind Ihre Rezepte, um dieses Problem anzupacken?
({0})
Das ist natürlich eine gute Frage. - Herr Kollege, Sie
waren in den Prozess mit eingebunden und haben die
Diskussion verfolgt. Lassen Sie mich als Erstes sagen:
Ich bin Vorsitzender des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wir müssen im
Kopf behalten, dass es nicht die Landwirtschaft und die
Ernährungswirtschaft auf der einen Seite und den Verbraucherschutz auf der anderen Seite gibt. Es handelt
sich vielmehr um einen Strang. Wir gehen jetzt daran,
diesen Strang von bösen - von mir aus auch: kriminellen Elementen zu befreien. Die 14 Punkte sind die GrundHans-Michael Goldmann
lage, um entsprechende Gesetze und Verordnungen auf
den Weg zu bringen.
Ich gebe Ihnen recht, dass wir über dieses Problem
nicht nur nachdenken müssen, sondern dass wir Lösungen entwickeln müssen, um den Landwirten, deren Betriebe völlig schuldlos gesperrt wurden und die vier oder
fünf Tage keine Marktteilnehmer sein durften, zu helfen.
Das ist doch überhaupt keine Frage. Wir können durchaus zu einer gemeinsamen Aktion all derjenigen kommen, die Sie eben genannt haben. Dazu gehören der
Bauernverband, die großen Futtermittelhersteller und
auch die Politik.
Ich habe an einer Stelle schon angedeutet: Wie wir
den Bauern in der Milchkrise geholfen haben, könnten
wir auch angesichts dieses Problems die Weichen in
Richtung Hilfe für die Betroffenen stellen.
({0})
Wenn Sie bessere Vorschläge haben, dann nehmen wir
sie gerne auf.
Herr Kollege Miersch, lassen Sie mich noch einen
wichtigen Punkt ansprechen. Es bringt nichts, zu sagen,
dieser und jener habe in der Vergangenheit an der einen
oder anderen Stelle Schuld gehabt. Das ist völlig uninteressant. Wir müssen alles unternehmen, damit ein solches Problem nicht wieder auf uns zukommt und wir
nicht mehr in eine solche schwierige Situation kommen.
Lassen Sie mich anknüpfen an das, was Frau Höhn
vorhin gesagt hat. Frau Höhn, es gibt da ein Problem:
Eier von freilaufenden Hühnern enthalten mehr Dioxin
als Eier von Hühnern aus Gruppenhaltung.
({1})
- Nein. Das ist so.
({2})
Das Fleisch von freilaufenden Rindern in Niedersachsen
und in Nordrhein-Westfalen enthält mehr Dioxin als das
Fleisch von Tieren aus der Massentierhaltung. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen.
({3})
Liebe Frau Wolff, das ist keine Diskussion über Ökosystem, Regionalsystem und Intensivsystem.
({4})
- Entschuldigen Sie bitte. Ich habe es gut; denn ich
kaufe meine Lebensmittel beim Sozialen Ökohof in Papenburg; das mache ich gerne. Allerdings habe ich auch
die Zeitungen gelesen. Auf der ersten Seite einer großen
Zeitung hatte der größte Marktteilnehmer Anzeigen geschaltet, in denen er garantierte, dass seine Produkte sicher sind, weil er alles selbst in der Hand hat und weil er
selbst dafür sorgt, dass dieser Bereich sauber ist.
Wir müssen mehrere Dinge miteinander verknüpfen.
Wir müssen zunächst an die Eigenverantwortung, an die
moralische, ethische und soziale Verantwortung der Betriebe appellieren und sie in die Pflicht nehmen. Denn
der Drecksack im Markt - so will ich es einmal sagen;
wahrscheinlich dürfte ich es nicht so ausdrücken - macht
diejenigen kaputt, die ordentlich arbeiten. Das wollen
wir nicht. Darin sollten wir uns einig sein.
({5})
Ich halte nicht sehr viel von den Ausführungen von
Herrn Oppermann. Aber in dem Punkt, den er vorhin angedeutet hat, gebe ich ihm recht: Es muss auch die
Selbstreinigungskräfte der Branche geben.
({6})
- Nein, nicht kontrollieren. Die Betriebe müssen untereinander ein Auge darauf haben
({7})
- Frau Höhn -, dass die Marktteilnehmer sich ordentlich
verhalten. Wenn Sie der Meinung sind, dass man dies
durch Gesetze und Verordnungen erreicht, dann kann ich
nur sagen: Das wird Ihnen nicht glücken.
({8})
Es muss das Miteinander aller Betroffenen geben, wenn
wir zu Lösungen kommen wollen.
Jetzt gehen wir daran und setzen diese 14 Punkte um.
Wenn Sie dann noch weitere Punkte haben, bringen
Sie die ins parlamentarische Verfahren ein.
({9})
Dann gehen wir zu Ihrem Landwirtschaftsminister in
Nordrhein-Westfalen und zu dem sozialdemokratischen
in Rheinland-Pfalz und sagen: Jungs, kommt in die
Pötte. Jetzt machen wir Lebensmittelkontrolle - rückwärtsgerichtet und vorwärtsgerichtet! Jetzt veröffentlichen wir die Proben, die über dem Grenzwert sind. Jetzt
machen wir etwas beim Strafmaß, um die zu erwischen,
die in diesem Markt Dinge kaputtmachen.
Lassen Sie uns die Dinge gemeinsam anpacken!
({10})
- Nein, Frau Höhn. Dieser Skandal ist nicht der Skandal
der lauten Blubberbotschaften.
({11})
Dieser Skandal muss durch konsequentes Abarbeiten der
14 Forderungen bewältigt werden, die gestern zwischen
Bund und Ländern vereinbart worden sind.
({12})
Als Vertreterin des Bundesrates hat die Staatsministerin Margit Conrad das Wort.
({0})
Margit Conrad, Staatsministerin ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst die gute Botschaft. Ja, es ist richtig:
Die Länder haben gestern zusammen mit dem Bund ein
gemeinsames Handlungskonzept auf den Weg gebracht,
das in der Summe - ich sage ausdrücklich, es ist ein Paket - und nicht in den Einzelbausteinen Veranlassung
gibt, zu sagen: Es bedeutet mehr Sicherheit für Futterund damit auch für Lebensmittel. Es ist eine klare Ansage an die Futtermittelhersteller, dass wir alles tun werden, um kriminelle Machenschaften aufzudecken und
mit höheren Strafen zu sanktionieren. Es ist auch ein Signal an die Märkte, die ein solches Handeln dringend
brauchen.
({2})
Ich wollte eigentlich wenig zur Vergangenheit sagen.
({3})
- Ja. - Aber man wird auch provoziert, wenn man auf
der Bundesratsbank sitzt.
Eines können Sie hier nicht behaupten: dass diese entscheidende gestrige Agrar- und Verbraucherministerkonferenz auf Initiative des Bundes, der Union oder der FDP
zustande gekommen wäre.
({4})
Das wäre Geschichtsklitterung. Aber das brauchen wir
heute gar nicht mehr zu strapazieren. Ich bitte Sie nur:
Rüsten Sie ab! Wenn man Gemeinsamkeit einfordert,
muss man dies auch in der Diktion und im Handeln konkret unterstreichen.
({5})
Ich will etwas zu den Bausteinen der Länder sagen.
Wir Länder wissen sehr wohl, dass wir die Standards für
die Kontrollen verbessern müssen, und wir werden deswegen auch länderübergreifend daran arbeiten. Dazu gehört auch, den Rahmenplan für die Futtermittelkontrolle
weiterzuentwickeln. Es gehört auch - das war ein Vorschlag, der von uns Ländern kam - eine unabhängige
und transparente Auditierung der Futtermittelkontrolle
dazu. In der Lebensmittelkontrolle haben wir das schon
eingeführt. Wir haben auch beschlossen, dass dazu länderübergreifend zusammengesetzte Auditorenteams eingerichtet werden unter - jawohl - Beteiligung des Bundes.
Frau Aigner, im Übrigen war das für mich überhaupt
kein Problem, weil der Bund beteiligt ist und auch in der
Vergangenheit beteiligt war. Sie können sich nicht hinstellen und sagen, dass Sie damit bisher nichts zu tun
hatten.
({6})
Wenn Sie sich das Titelblatt für den „Rahmenplan der
Kontrollaktivitäten im Futtermittelsektor“ anschauen:
Da sehen Sie die Überschriften von Ihrem Ministerium,
von den zuständigen Bundeseinrichtungen, und Sie sehen natürlich auch die Wappen der Länder. Das heißt,
Sie waren auch bisher an den Vorschriften für die Lebensmittelüberwachung beteiligt und haben sie auch ein
Stück weit mit zu verantworten. Wir haben das deswegen gemacht, weil wir der Meinung waren, dass sich
auch der Bund der Auditierung stellen muss; denn der
Bund ist Teil des Systems und ein Baustein in der Sicherheits- und Warenkette. Deswegen gehören Sie dazu.
Ich habe also überhaupt kein Problem damit, dass Sie
vom Bund dabei sind.
({7})
Nur, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit hinstellen und
sagen: „Allein die Tatsache, dass der Bund dabei ist,
bürgt schon für Qualität“:
({8})
Entschuldigen Sie, angesichts des Standards, den wir
beim Krisenmanagement erlebt haben, kann ich das
nicht automatisch nachvollziehen. Mehr will ich dazu,
ehrlich gesagt, nicht sagen.
({9})
Es gehört auch zur Länderzuständigkeit, die Organisation der Strafverfolgungsbehörden zu überprüfen. Wir
haben in Rheinland-Pfalz sehr gute Erfahrungen mit
Schwerpunktstaatsanwaltschaften gemacht. Ich denke,
dass wir in den Ländern - ich schaue da auf einige Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern - hier wirklich
mehr tun können. Es handelt sich um eine sehr spezielle
Materie des Wirtschafts-, also des Fachrechts, die bei
Schwerpunktstaatsanwaltschaften besser aufgehoben ist.
({10})
Wir wollen auch eine zentrale Lebensmittelwarnplattform einrichten. Das ist eine Forderung, deren Umsetzung überfällig ist. Es bedarf einer Realisierung; sie ist
bereits auf den Weg gebracht.
Bessere Rechtsgrundlagen für bessere Kontrolle:
Auch das ist notwendig. 10 der 14 Punkte des Maßnahmenpakets sind federführend, vorrangig oder vor allem
vom Bund umzusetzen. Das zeigt, dass Defizite - Sie
wollen das glauben machen - nicht nur bei den Ländern
bestehen. Ich will natürlich nicht behaupten, dass bei uns
alles in Ordnung ist. Die 14 Punkte müssen aber irStaatsministerin Margit Conrad ({11})
gendwo auch in Bundeszuständigkeit angepackt werden,
damit das ganze System verbessert wird.
Dazu gehört auch Folgendes: Wir brauchen neue
Rechtsvorschriften, etwa bessere Zulassungsvorschriften
für die Futtermittelwirtschaft. Wir brauchen Standards
für die innerbetrieblichen Kontrollen und eine Verbesserung der behördlichen Kontrollen. Wir brauchen eine
Wiedereinführung der Meldepflichten. Dazu gehört auch
der Informantenschutz: Wir wollen, dass er nicht nur bei
Erkenntnissen in den Laboren gilt, sondern auch bei Erkenntnissen verantwortlicher Mitarbeiter in den einzelnen Betrieben; auch diese Erkenntnisse sind in Zukunft
den Behörden zu melden.
({12})
Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund
dessen, was ich in den letzten Monaten zu diesem Komplex gehört habe, gilt: Wir müssen die Maßnahmen umsetzen. Das ist der zweite Schritt, der wichtiger ist als
der erste. Ich gebe zu: Auch ich habe einige Zweifel
- aber Sie können sie durch Taten ausräumen -, dass die
Umsetzung zügig erfolgt.
Ich komme zu einem Punkt, der zu Recht in der Debatte angesprochen worden ist. Herr Goldmann, ich
muss scharfen Widerspruch zu Ihren Äußerungen einlegen. Sie passen zur Diskussion: Sie von FDP und Union
wollen immer weismachen, dass es sich hier um den
Einzelfall eines schwarzen Schafes im Futtermittelsektor
gehandelt hat. Wir hangeln uns vom Lebensmittelskandal zum Futtermittelskandal und wieder zurück zum Lebensmittelskandal. Wir müssen uns doch fragen: Was an
diesen Skandalen ist ein Stück weit systembedingt?
({13})
Wollen wir mit der zunehmenden Industrialisierung der
Landwirtschaft so weitermachen? Was ist uns die bäuerliche Landwirtschaft noch wert, die jetzt das Opfer ist?
Deswegen hatten wir gestern eigentlich vor - das können
Sie nachlesen -, dass Länder und Bund gemeinsam ein
Konzept auf den Weg bringen, sodass als eine der Konsequenzen aus dem Skandal eine entsprechende Debatte
forciert wird. Union und FDP haben dies gestern gemeinsam abgelehnt, nachzulesen in einer Protokollerklärung der SPD-geführten Länder.
({14})
Wir haben dennoch einen wichtigen Aufschlag gemacht. Wir alle sind gehalten - jeder und jede in seiner
oder ihrer Verantwortung -, die Maßnahmen konsequent
umzusetzen. Das ist das Signal, das die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch die Landwirtschaft von
uns wollen. Ich denke, wir sollten nach vorne schauen.
Wir sollten vor allen Dingen nicht in der Ich-Form reden, sondern darüber, was jetzt gemeinsam umzusetzen
und zu tun ist.
Vielen Dank.
({15})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Goldmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin Conrad, lassen Sie uns
ein Wort darüber verlieren, ob das systembedingt ist. Ich
glaube, uns allen geht da eine Menge durch den Kopf.
Ich fand es bei den Ausführungen von Frau Ministerin
Aigner sehr wohltuend - Sie haben es leider nicht erwähnt -, dass sie sehr deutlich darauf hingewiesen hat,
dass wir im Grunde genommen das Gesamtsystem
- Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft und Verbraucherschutz - zukunftsfähig machen müssen. Dazu gehört
für mich ein Mehrsäulensystem. Wenn wir gemeinsam
darüber nachdenken, kommen wir doch zu dem Ergebnis, dass die Problematik der Dioxinbelastung von Lebensmitteln nichts mit dem System zu tun hat.
({0})
Wir hatten Skandale mit sehr geringen Mengen im Ökosystem. Wir hatten und haben auch im verdichteten System Probleme; das ist überhaupt keine Frage.
Ich weiß nicht, ob es zulässig ist, das zu sagen: Es
gibt einen großen deutschen Hersteller in Südoldenburg,
der Anzeigen geschaltet hat - er ist der größte Marktteilnehmer -, wonach es dieses Problem in seinem System
nicht gibt, weil er sein Futter aus Südamerika holt, weil
er eigene Schiffe hat, weil er einen eigenen Hafenumschlagsplatz hat, weil er eigene Lastwagen hat, weil er
eine eigene Futtermittelfirma hat - nebenbei, er hat auch
noch eine Arzneimittelfirma - und weil er eigene Vermarktungsstränge hat. Er hat die besten und die sichersten Produkte, und er hat die größte Nachfrage auf dem
deutschen Markt. Er hat auch zufriedene Kunden.
({1})
Ich warne entschieden davor, den schlimmen Marktteilnehmern in diesem Bereich, den kriminellen Elementen, auch noch Rückendeckung zu geben, indem man
sagt, dass das systembedingt ist. Nein, das ist kriminell,
das ist ethisch nicht zu verantworten, das ist moralisch
nicht zu verantworten, das ist wirtschaftlich nicht zu verantworten, das ist unter Tierschutzgesichtspunkten nicht
zu verantworten, und das hat mit dem System überhaupt
nichts zu tun. Das hat vielmehr etwas mit kriminellen
Elementen zu tun, die wir aus dem Markt herausbekommen müssen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen.
({2})
Frau Conrad, Sie möchten antworten? - Bitte schön.
Margit Conrad, Staatsministerin ({0}):
Sehr verehrter Herr Abgeordneter, bei dem Beispiel,
das Sie angeführt haben, mag das ja funktionieren. Das
ist aber kein typisches Beispiel für die deutsche Landwirtschaft heute, und im Übrigen ist das meines Erachtens auch kein Beispiel dafür, wie es in Zukunft überall
aussehen sollte. Das ist das Erste.
Das Zweite ist: Ich habe nicht behauptet, dass es sich
hier nicht um kriminelle Täter handelt. Das werden die
Staatsanwaltschaften wahrscheinlich auch herausfinden.
Was wir aber registrieren müssen, ist, dass auf den einzelnen Landwirten, auf den einzelnen Produzenten mittlerweile ein enormer Druck liegt. Wir haben das gerade
erst bei der Diskussion über die Milchpreise erlebt.
({1})
Mittlerweile verfügt der Einzelhandel über viel Marktmacht, auch gegenüber den Produzenten. Darüber muss
man doch einmal reden können.
({2})
Wir wissen, unter welchem finanziellen Druck die einzelnen Betriebe mittlerweile stehen, und wir wissen,
dass immer billiger produziert werden muss. Das bedeutet immer mehr Hochleistung. Das sind regelrecht Hochleistungskühe. Das sind doch keine Legehennen mehr.
Heute braucht man fast Legemaschinen, um auf dem
Markt noch mitmischen zu können.
({3})
Hier stoßen wir an Grenzen. Darum geht es uns in der
Debatte. Damit wollen wir nicht davon ablenken, dass es
sich dabei um einen kriminellen Akt handelte, aber wir
wollen in diesem Zusammenhang wenigstens die Frage
stellen, was systembedingt ist. Das ist doch kein Einzelfall. Das mag jetzt zwar einer sein, aber morgen passiert
der nächste. Darum geht es. Den Auftakt zu dieser Diskussion wollen wir damit verbinden.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Widmen wir uns doch zunächst
einmal den Fakten. Was sind die Tatsachen? Worüber reden wir eigentlich? Dioxine kommen überall in der Natur vor.
({0})
Sie werden unwillkürlich von Mensch und Tier täglich
aufgenommen. 95 Prozent der Dioxinbelastung kommt
aus der Nahrung. Die bedeutendsten Quellen in unserer
Nahrung sind Milch und Milchprodukte, mit großem
Abstand gefolgt von Fisch und Fleisch. Nur 10 Prozent
machen Hühnereier aus.
Die Dioxinbelastung ist seit Jahrzehnten rückläufig.
Heute ist zum Beispiel ein Drittel weniger Dioxin in der
Milch als vor 20 Jahren. Der Grund: Durch moderne Filtersysteme und optimierte Produktionsprozesse gelangt
weniger Dioxin in die Luft, zum Beispiel bei Müllverbrennungsanlagen.
({1})
1 Kilo Müll, im Garten verbrannt, setzt so viel Dioxin
frei wie 10 Tonnen Müll in einer Müllverbrennungsanlage.
({2})
Vieles ist in der Vergangenheit getan worden, um die
Belastung durch Dioxin zu reduzieren. Manches kann
man aber nicht ändern. Ich komme aus einer Region, deren Böden stärker mit Dioxin belastet sind als alle anderen Regionen in Deutschland. Grund dafür sind die Vulkanausbrüche, die sich vor Tausenden von Jahren
ereignet haben.
({3})
Eine Nullbelastung ist mit der Natur also nicht zu machen. Wer das behauptet, meine sehr verehrten Damen
und Herren von der Linken, der lügt. Deshalb werden
Mensch und Tier immer mit Dioxin belastet sein, und sie
werden über die Nahrung immer Dioxine aufnehmen.
({4})
Nicht hinnehmbar ist allerdings, dass wir das unnötig
tun, dass unnötig Dioxin in unseren Körper gelangt. Deswegen müssen wir das, wenn wir es verhindern können,
auch verhindern.
Woher das Dioxin in der Fettsäure von Harles und
Jentzsch kommt, wissen wir noch nicht. Wir wissen aber,
wohin geliefert wurde. Vor fünf Jahren wäre es noch
nicht möglich gewesen, diese Lieferketten so schnell
aufzudecken. Wir wissen auch, dass kriminelle Energie
am Werk war. Man hat, vorsätzlich oder nicht - das wird
die Staatsanwaltschaft entscheiden -, Fette, die nicht für
die Fütterung zugelassen sind, ins Futter gemischt. Ein
einzelner Futtermittelpanscher schädigte Hunderttausende unschuldiger Nutzer.
({5})
Bauern und Verbraucher sind die Opfer dieser kriminellen Machenschaften eines einzelnen Panschers.
Nun rufen wir alle nach mehr Kontrollen. Kontrollen
sind gut und wichtig.
({6})
Wir sind dankbar, dass unsere Ministerin Frau Aigner
mit ihrem Aktionsplan die nötigen Voraussetzungen dafür schafft. Aber Kontrollen allein helfen gegen kriminelle Machenschaften nicht.
In Baden-Württemberg gibt es auf 1 000 Betriebe nur
einen Kontrolleur, in Niedersachsen sind es zwölf. Dennoch kam es in Niedersachsen zu diesem Skandal. Frau
Conrad, ich finde es sehr mutig, dass Sie hier ans Rednerpult treten, obwohl Sie ganz genau wissen müssten,
dass 80 Prozent der Kontrolleure in Rheinland-Pfalz die
Behörden nach ihrer Ausbildung verlassen und in die
Wirtschaft gehen, weil ihnen von der Wirtschaft viel attraktivere Angebote gemacht werden. Frau Conrad, Sie
und Ihr Ministerpräsident Beck hatten nun 16 Jahre lang
die Gelegenheit, dies zu ändern. Was haben Sie getan?
Nichts.
({7})
Gegen kriminelle Energie ist kein Kraut gewachsen.
({8})
Wir sind für Kontrollen, wir sind für Eigenkontrollen,
und wir sind für Kontrollen von Staats wegen. Aber wir
wollen keinen Kontrollstaat.
Noch einmal: Bauern und Verbraucher sind die Opfer
der kriminellen Machenschaften eines einzelnen Futtermittelpanschers.
({9})
Produkte, die vollkommen unbelastet sind, erleiden einen herben Preisverfall, wirtschaftliche Existenzen sind
bedroht, Staaten verhängen Importverbote, und der
Markt für Schweinefleisch ist komplett zusammengebrochen. Was tun Sie von den Grünen und von der SPD? Sie
schüren die Verunsicherung der Verbraucher.
({10})
Mit Aufklärung und Information geben Sie sich nicht ab.
({11})
Sie sagen nicht, dass Dioxin in Eiern vermehrt im
Falle der Freilandhaltung von Hühnern vorkommt. Sie
sagen auch nicht, dass bestimmte Fischarten besonders
viel Dioxin einlagern.
({12})
Sie schüren die Verunsicherung der Verbraucher, und Sie
benutzen die Verbraucher für Ihre eigenen ideologischen
Zwecke.
({13})
Das Schlimmste, was Sie tun, ist Folgendes: Sie machen keinen Unterschied zwischen kriminellen Panschern und Landwirten und auch keinen Unterschied
zwischen kriminellen Panschern und Tierhaltern.
({14})
Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe:
({15})
Sie werfen die Landwirte und die kriminellen Panscher
in einen Sack und schlagen drauf.
({16})
Auf diese Weise versuchen Sie, einen Vorteil für sich herauszuholen.
({17})
Frau Höhn hat bereits darauf hingewiesen, dass Sie
von einer Systemfrage sprechen. Ich zitiere Ihre Kollegin Ulrike Höfken; sie ist Wahlkämpferin in RheinlandPfalz, Grüne und stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Sie sagte:
Die Ursachen für die Verseuchung liegen in der
Struktur und der zunehmenden Industrialisierung
der Landwirtschaft …
({18})
Das ist falsch, und es ist gefährlich, so etwas zu sagen.
Die Ursachen liegen in der kriminellen Handlung eines
einzelnen Betriebes.
({19})
- Frau Höhn, es wäre schön, wenn Sie Folgendes bestätigen würden: Die Ursachen haben nicht die Tausende
Landwirte und Bauern zu verantworten, die sich Tag für
Tag um ihre Tiere kümmern und ihr Land bestellen.
({20})
Zumindest wenn ich die Aussage von Frau Höfken aus
Rheinland-Pfalz beurteile, muss ich feststellen: In
Rheinland-Pfalz sind Grün und Rot nicht zu wählen.
({21})
Wir als CDU/CSU spielen konventionell wirtschaftende Betriebe nicht gegen Ökobetriebe aus;
({22})
denn Vielfalt ist uns wichtig.
({23})
Kriminelle Energie kann jeden Betrieb treffen, und jeden
hat sie schon getroffen. Doch Frau Künast - sie ist leider
nicht mehr hier ({24})
hat das wohl vergessen. Sie müsste eigentlich aus Schaden klug geworden sein. Auch unter Landwirtschaftsministerin Künast gab es Lebensmittelskandale.
({25})
Die Methode Bio hat in ihrer Amtszeit ihre Unschuld
verloren.
({26})
Abertausende nicht notgeschlachteter Nitrofen-Hühner
wurden ein Beispiel dafür, dass es ohne Kontrollen auch
bei Bioeiern zu einem Lebensmittelskandal kommen
kann.
({27})
Wir unterstützen Ökobetriebe genauso wie herkömmlich
wirtschaftende Betriebe. Denn überall können Futtermittel lange Wege über Händler, Zwischenhändler, Transporteure und Verarbeiter zurücklegen.
Wir, die CDU/CSU, spielen auch keine kleinen Betriebe gegen große Betriebe aus.
({28})
Auch hier schützt die schiere Größe eines Betriebes
nicht vor Kriminalität. Die Betriebsgrößen sind sehr unterschiedlich; das begrüßen wir. Es ist einfach falsch, zu
behaupten, dass in größeren Strukturen sicherere Lebensmittel produziert werden, Frau Höhn. Sprechen Sie
darüber vielleicht einmal mit einem Betrieb, der über
größere Strukturen verfügt und Lebensmittel produziert.
Es ist auch erschütternd, zu sehen, dass Sie, Frau
Höhn, Ihre Theorien am grünen Tisch entwickeln, und
bei jedem Wort Ihres Vortrags festzustellen, dass Sie von
der Praxis und vom Wirtschaften keine Ahnung haben.
({29})
Arbeitsteiliges Wirtschaften und die Konzentration auf
eine Kernkompetenz sind in der Wirtschaft gang und
gäbe, und das sollten wir auch der Landwirtschaft bzw.
den Bauern ermöglichen.
({30})
Wir, die CDU/CSU, wollen erschwingliche Lebensmittel, damit sie sich jeder leisten kann. Wir wollen Lebensmittel, die sowohl nach den neuesten wissenschaftlichen als auch den alten erprobten Erkenntnissen
hergestellt sind: mit dem höchsten Stand an Hygiene und
so arm an Schadstoffen, wie es eine moderne Wirtschaft
nur tun kann. Wir müssen weg von der Ideologie und hin
zu wissenschaftlich basierten Aussagen. Dass das funktioniert, hat unsere Ministerin Ilse Aigner eindrucksvoll
bewiesen.
({31})
Wir fangen nicht bei null an.
({32})
Heute geht es darum, ein gutes System weiterzuentwickeln. Mit dem Aktionsplan der Ministerin Aigner werden wir die Sicherheit bei Futtermitteln - egal welcher
Herkunft - erhöhen.
({33})
Der Verbraucher will Vertrauen in die Unbedenklichkeit
seiner Nahrungsmittel haben können, und das will ich
auch. Wir wollen das Nötige und Mögliche dafür tun.
Wir wollen die Zulassungspflicht anstelle der heutigen
einfachen Registrierungspflicht für Betriebe. Wir wollen
die Anlagen trennen. Da, wo morgens für die Industrie
produziert wird, dürfen nicht nachmittags Lebensmittel
hergestellt werden.
({34})
Wir wollen, dass bei der Lieferung von Futterfetten das
Analyseergebnis direkt mitgeliefert wird. Also: Ohne
Zeugnis darf kein Lkw vom Hof fahren.
Frau Heil, kommen Sie bitte zum Ende.
Es wäre unehrlich, zu sagen, dass es einen 100-prozentigen Schutz gibt. Wir von der CDU machen verantwortliche Politik, wir verharmlosen nicht,
({0})
wir spielen aber auch nichts hoch. Wir stehen auf der
Seite der Verbraucher und der Erzeuger der landwirtschaftlichen Produkte.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat Kollegin Karin Binder für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Seit vier Wochen wissen wir
von diesem Dioxinskandal, und seit vier Wochen befassen wir uns damit. Seit vier Wochen stehen die Verbraucherinnen und Verbraucher aber im Regen. Frau Aigner,
Sie haben die Menschen im Regen stehen lassen. Erst
nachdem die Länder Sie an den Verhandlungstisch genötigt haben, kommt die Sache ins Laufen. Die Kompetenzrangeleien zwischen Bund und Ländern lösen die
Probleme nicht; Verbraucherschutz sieht anders aus.
({0})
Der designierte Landwirtschaftsminister von Niedersachsen, Gert Lindemann, schließt eine nochmalige Ausweitung dieses Problems nicht aus. Es geht hier definitiv
nicht nur um einzelne schwarze Schafe. Das ist der eigentliche Skandal. Hier läuft etwas grundlegend falsch,
und daran ist die Regierungspolitik zumindest mit
schuld.
({1})
Die Linke fordert deshalb eine schnellstmögliche vollständige Aufklärung der gesamten Vorgänge, weil nur
dann die betroffenen Bauern und Betriebe, die an diesem
Skandal nicht schuld sind, dadurch aber hohe Einnahmeverluste haben, nicht Konkurs anmelden müssen. Wir
brauchen eine Entschädigungsregelung für diese Betriebe.
({2})
Die Politik muss einen Fonds schaffen, weil eine Haftpflichtversicherung in diesem Fall nicht zahlen wird.
Gesunde Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen bekommen wir nur durch klare gesetzliche Vorgaben. Die
Erzeugung unseres Essens vom Acker bis zum Teller
oder zumindest bis zur Ladentheke muss nachvollziehbar sein und nach einheitlichen Regeln überwacht werden. Wir brauchen auch eine neue Denke und eine Verständigung an der Ladentheke.
Sichere Lebensmittel sollen unter fairen Bedingungen
erzeugt werden. Die Produzenten müssen vor ruinösen
Bedingungen globalisierter Agrarmärkte geschützt werden.
({3})
Das hat natürlich seinen Preis, Frau Heil. Die Aufgabe
der Politik ist es, sicherzustellen, dass unser Essen bezahlbar bleibt und alle Menschen es bezahlen können.
Damit bin ich bei dem Punkt, dass ein menschenwürdiges und existenzsicherndes Einkommen die zentrale Voraussetzung dafür ist.
({4})
Die Linke fordert deshalb, dass die Bundesregierung die
Ursachen des Dioxinskandals bekämpft und nicht an den
Symptomen herumdoktert.
({5})
Dazu gehört erstens: Der Bund muss noch intensiver
und noch besser mit den Ländern zusammenarbeiten.
Der jeweils beste Kontrollstandard und die besten Erfahrungen in den Bundesländern sind deutschlandweit zum
Maßstab zu machen.
({6})
Durch die Koordination auf der Bundesebene wird die
Verantwortung der Länder selbstverständlich nicht ersetzt.
Zweitens. Für gesunde und sichere Lebensmittel
brauchen wir eine wirksame Kontrolle in der gesamten
Erzeugungskette vom Acker bis zur vorher genannten
Ladentheke.
Herr Goldmann, ich muss sagen: Ich bin entsetzt. Sie
glauben trotz dieses Skandals und der Probleme, die auf
dem Tisch liegen, noch immer an die Eigenkontrollen
der Betriebe und die Selbstheilungskräfte der Branche.
Ich verstehe das nicht.
({7})
Kontrollen der Betriebe und auch Prüfsysteme wie
das QS-System, das unter anderem für die Prozesszertifizierung notwendig ist, sind nach strengen gesetzlichen
Vorgaben zu regeln. Anders geht es nicht.
({8})
Prüfe ich, prüfe ich nicht, was prüft man, wie genau
nimmt man es: Die Antwort auf all diese Fragen darf
nicht dem Gutdünken der Privatwirtschaft überlassen
werden. Deshalb hilft es auch nicht, der Privatwirtschaft
diese Fragen zu stellen, sondern wir hier haben das Problem durch Vorgaben zu lösen.
({9})
Zertifizierer wie die DEKRA müssen Verdachtsfälle
und Grenzüberschreitungen an die Behörden melden.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben,
die die Behörden auf Missstände aufmerksam machen,
müssen zum Beispiel nach dem Vorbild von Großbritannien als Whistleblower wirksam gesetzlich geschützt
werden.
({10})
Drittens. Unser Essen muss sauber bleiben. Die Überprüfung jeder Futtercharge auf Schadstoffe vor der Weiterverarbeitung kann sofort zur Pflicht gemacht werden.
Viertens. Statt für den Export von Schweinefleisch zu
werben, brauchen wir eine finanzielle Förderung der regionalen Kreisläufe. Dadurch wird eine größere Chance
auf Lebensmittelsicherheit und im Verdachtsfall auf
schnelle Untersuchungsergebnisse eröffnet. Deshalb
müssen wir hier die Entwicklung schneller und sicherer
Nachweismethoden wirklich gezielt fördern.
Fünftens. Das Verbraucherinformationsgesetz
Frau Kollegin.
- ich bin gleich fertig - muss endlich verbessert werden.
Die Erzeugungskette von Lebensmitteln muss auch für
die Kundinnen und Kunden nachvollziehbar sein.
Frau Kollegin.
Daten der Behörden und Betriebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige Verbraucherinformationen.
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.
Jawohl, ich komme zum letzten Satz. - Frau Aigner,
Sie blockieren seit einem Jahr die Erneuerung und die
Verbesserung dieses Gesetzes.
({0})
Das fällt Ihnen im Augenblick wirklich auf die Füße.
Frau Binder.
Wir sind gespannt, wie und wann Sie mit dem Verbraucherschutz ernst machen.
Danke schön.
({0})
Friedrich Ostendorff hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Aigner, ja, Sie haben, wenn auch etwas zögerlich, mittlerweile viele wichtige Forderungen verkündet
bzw. von Ihrem grünen Kollegen Remmel aus Nordrhein-Westfalen abgeschrieben. Über die Quelle des
Dioxins können Sie bis heute aber gar nichts sagen, Frau
Aigner. Laut Focus hat das Ministerium wesentlich mehr
verunreinigte Futtermittelchargen an die EU gemeldet,
als Sie uns mitgeteilt haben. Erst hieß es, die Panscherei
habe im November begonnen, dann hieß es: im März.
Jetzt hören wir: schon lange davor.
In Schleswig-Holstein wurden Giftproben vertauscht.
Das Landesamt LAVES in Oldenburg verheimlichte bei
Ihrem Besuch vor Ort die Verstrickung des RaiffeisenUnternehmens in Damme. Der niedersächsische Staatssekretär Ripke hält Sie öffentlich zum Narren. Die Futtermittelwirtschaft - ich glaube, Kollege Bleser, das gilt
auch für Ihre Raiffeisen-Waren-Zentrale Rhein-Main,
deren Aufsichtsratsvorsitzender Sie sind - lässt sich weiter bitten, auch wenn sie gerade mit ihrem QS-System
katastrophal gescheitert ist.
({0})
Der Skandal wächst Ihnen hoffnungslos über den
Kopf, Frau Ministerin. Vor allem aber weichen Sie der
entscheidenden Frage weiter aus. Der eigentlichen politischen Frage sind Sie in den Tagesthemen, im heutejournal und auch heute wieder ausgewichen. Sie flüchten sich in technische Details, wenn Sie eigentlich die
entscheidende Frage stellen müssten. Wenn Sie das tun
würden, hätten Sie aber in Ihren eigenen Reihen die
größten Probleme. Niemals würden Vertreter des BauFriedrich Ostendorff
ernverbandes auf der CDU/CSU-Bank zulassen, dass Sie
diese Frage stellen. Zu eng ist Ihre Partei mit der Agrarlobby verbandelt und verfilzt.
({1})
Spätestens mit der Genossenschaft in Damme hat der
Dioxinskandal die Saubermänner in Ihren Reihen erwischt, von denen man auch viele auf den Funktionärslisten von Raiffeisen, Agravis, Bauernverband und QS
wiederfindet.
({2})
Die entscheidende Frage lautet, ob wir in der Landwirtschaft heute mit der Industrialisierung, Exportorientierung und Massentierhaltung, auf deren Verbreitung
Sie von der Regierungsbank und aus der Regierungskoalition tagtäglich hinarbeiten, auf dem richtigen Weg
sind oder ob uns nicht erst dieses von der Gier getriebene System der Agrarfabriken in die Sackgasse geführt
hat.
({3})
Das ist die entscheidende Frage, Frau Ministerin, zu
der Sie auch heute nichts gesagt haben.
({4})
Die Bürgerinnen und Bürger haben diese Frage bereits
beantwortet. Wer dieser Tage mit den Menschen spricht,
den überrascht das Niveau, auf dem die Verbraucherinnen und Verbraucher, die angeblich alles billig wollen,
wie Sie immer sagen, heute diskutieren. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind informiert. Sie glauben das
Märchen von den einzelnen schwarzen Schafen nicht
mehr, Michael Goldmann. Sie glauben, dass die Herde
grundsätzlich schwarz ist, Frau Heil von der CDU/CSU.
Verharmlosung hilft an diesem Punkt nicht mehr weiter.
({5})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind informiert. Sie sind auf dem Stand der Dinge und sagen eindeutig: Dieses System vergiftet unsere Nahrung, macht
uns Konsumenten zur Müllkippe, zerstört unsere Umwelt und hält das Mitgeschöpf Tier in unerträglichen
Verhältnissen.
({6})
Es degradiert es zum Produktionsfaktor, der mit demselben Müll gefüttert werden kann wie ein Kraftwerk.
Hauptsache billig: Das ist die Logik der Agrarindustrie.
Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn wir alle
Jahre wieder Lebensmittel als Sondermüll entsorgen
müssen.
„Branche gesund. Produkte gesund“ lautet das zynische Motto des Bauernverbands auf der Grünen Woche,
die übermorgen beginnt. Das System verrät sich scheinbar selbst. Gesunde Branche, gesunde Produkte? - Ungesunde Branche, ungesunde Produkte: So ist es, Michael
Goldmann.
({7})
Frau Aigner, Ihr Problem ist, dass Sie auf das falsche
System und auf die falschen Leute gesetzt haben. Sie
lassen Ihren Exportstaatssekretär Müller um die Welt
reisen, um Deutschland zum Exportweltmeister von Billigfleisch zu machen. Das Geschäft wird mit einer bisher
nicht dagewesenen Veranstaltung, der Welt-Schweinefleisch-Konferenz 2011 in Deutschland, angekurbelt. Ihr
erklärtes Ziel ist die Verdoppelung der Fleischexporte
binnen fünf Jahren.
Man fragt sich, ob es ein Ergebnis der Chinareisen
war, dass jetzt auch noch chinesische Vitaminmischungen mit dem verbotenen Antibiotikum Chloramphenicol
im Futter gefunden wurden. Zu Ihrer Exportideologie
gehören logischerweise auch massenhafter Sojaimport,
massiver Ausbau der Massentierhaltung und Fleischproduktion auf billigstem Niveau. Dabei entsteht der Anreiz, Futter auf Teufel komm raus billig zu beschaffen,
sei es noch so risikobehaftet. Das ist kein Unfall, sondern innere Logik.
Man muss das nicht so machen. Wir verfüttern zuhause in unserem Betrieb keines dieser Futtermittel.
„Billig und gut passt selten unter einen Hut“ sagt das
Katholische Landvolk. Recht hat es!
({8})
Haben Sie endlich den Mut, Frau Ministerin, sich gegen die Agrarlobby zu stellen! Wahrheit und Klarheit,
Frau Ministerin, vertragen sich nicht mit Seilschaften
und Klüngelei! Knüpfen Sie an die Agrarwende Ihrer
Vorvorgängerin Frau Ministerin Künast an! Unterstützen
Sie die CDU Brandenburg, die eine Wende vollzogen hat
und für die bäuerliche Landwirtschaft streitet! Die Menschen erwarten jetzt die Agrarwende 2.0. Deshalb gehen
die Menschen am Samstag hier in Berlin am Reichstag
auf die Straße unter dem Motto „Wir haben es satt!“.
Nehmen Sie, die schwarz-gelben Lobbyisten, dies bitte
ganz persönlich!
({9})
Johannes Singhammer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wer Dioxingift in das Futter für Hühner oder
Schweine vorsätzlich hineinmischt, gehört eingesperrt.
Das wollen die Menschen in Deutschland. Was die Menschen in Deutschland nicht wollen, ist, dass der Skandal
verharmlost oder kleingeredet wird
({0})
und dass Parteien übereinander herfallen. Herr Ostendorff,
die Menschen in Deutschland wollen vor allem nicht,
dass mit der tiefen Verunsicherung und den Ängsten
Wahlkampf betrieben wird.
({1})
Herr Ostendorff, Sie sind nur der Stellvertreter von
Frau Künast, der sich zu Wort meldet. Frau Künast ist
leider nicht mehr da,
({2})
obwohl sie in der Öffentlichkeit das große Wort geführt
hat. Deshalb muss ich auf sie eingehen. Frau Künast hat
eine gewisse Skandalerfahrung; denn mindestens zwei
Dioxinskandale haben ihren Weg als Ministerin gepflastert. Wir brauchen schärfere Kontrollen für Futtermittel
und Lebensmittel. Dafür soll die Zuständigkeit des Bundes gestärkt werden. - Von wem stammt dieses Zitat?
Wann sind diese Forderungen erhoben worden? Dieses
Zitat stammt aus der Welt am Sonntag von 2002 - das
war also vor rund neun Jahren - und wird der damaligen
Bundesministerin Künast zugeschrieben. Wer die jetzige
Agrarministerin kritisiert, weil sie das tut, was Frau
Künast selber nie geschafft hat - sie ist nie über Ankündigungen hinausgekommen; sie hat sich als die Heilige
Johanna der Dioxinbekämpfung aufgespielt und endete
dann als Trümmerfrau der Schadensbegrenzung -, sollte
ruhiger sein und diese Debatte verfolgen.
({3})
Ministerin Aigner hat nicht nur ein 10-Punkte-Aktionsprogramm aufgelegt, sondern hat gestern auch mit
den Bundesländern 14 entscheidende Schritte für mehr
Lebensmittelsicherheit vereinbart. Nur eine von vielen
neuen Regelungen ist: Die Länder treten in einen vom
Bund koordinierten Qualitätswettbewerb ein. - Das ist
ein ganz entscheidender Fortschritt. Dafür sage ich unserer Ministerin herzlichen Dank.
({4})
Herr Ostendorff, es gibt eine große Zahl von Opfern
dieses Skandals. Da sind zunächst Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, deren Vertrauen in die Unbedenklichkeit von Eiern oder Schweinefleischprodukten erschüttert worden ist. Ebenso Opfer sind mehrere
Zehntausende landwirtschaftliche Betriebe, Bauern und
ihre Familien, deren Höfe gesperrt worden sind
({5})
und die deshalb nichts verdienen können, obwohl sie dafür keine Verantwortung tragen. Wer jetzt versucht, Bauern aufgrund bestimmter Produktionsbedingungen in die
Nähe des Generalverdachts einer Mitschuld zu schieben,
({6})
der handelt in einem außerordentlichen Maße infam.
({7})
Gruppen von Opfern und Geschädigten gegeneinander auszuspielen - seien sie Verbraucher oder bäuerliche
Erzeuger -, ist schlimm; aber Bauern, die jetzt mit ihren
Familien um ihre Existenz bangen müssen, weil sie ihre
Eier oder Hühner nicht verkaufen dürfen oder weil sie
gar keinen Käufer mehr finden
({8})
- hören Sie genau zu -, auch noch mit hämischen Mitschuldvorwürfen zu begegnen, das muss ein Ende haben.
({9})
Nachhaltiges Wirtschaften ohne Schielen auf den
schnellen Euro wird nirgendwo anders so konsequent
durchgeführt wie bei Familienbetrieben, die in Generationenfolge Bauernhöfe bewirtschaften und die aus diesem Grund das größte Interesse daran haben, dass die
nachfolgende Generation auf Böden wirtschaften kann,
die in Ordnung sind.
({10})
Wir ziehen Konsequenzen nach dem Grundsatz „Taten statt Worte“, und das in Gemeinsamkeit mit den Ländern. Unser Ziel - und das ist schwierig genug - heißt:
Vertrauen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern
zurückgewinnen. Das wird ein langer Weg werden.
Ein chinesisches Sprichwort lautet: Ein langer Marsch
beginnt mit dem ersten Schritt. Die Bundesministerin hat
gestern gemeinsam mit den Ländern 14 Schritte unternommen, die ab sofort gelten. Unser gemeinsames Ziel
muss es sein, dabei mitzuhelfen, damit diese Schritte gelingen.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Ulrich
Kelber.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Löse das Problem, nicht die Schuldfrage - diese
Lebensweisheit hat uns am vergangenen Montag die
heute wieder nicht anwesende zuständige Staatssekretärin aus dem Verbraucherschutzministerium mit auf den
Weg gegeben. Das kam mir ein wenig so vor wie ein
versteckter Vorwurf an die eigene Chefin.
({0})
Seit drei Wochen ist Bundesministerin Aigner vor allem um den Selbstschutz bemüht. Da werden Ultimaten
an die eigenen Parteifreunde gestellt und wieder zurückgezogen; da werden Vorwürfe an die Opposition erfunden
und konstruiert und ein künstlicher Streit um Bundeskompetenz ausgetragen, statt sich um die Maßnahmen zu
kümmern, mit denen man im eigenen Zuständigkeitsbereich sofort beginnen könnte.
({1})
Dabei geht es um eine einfache Sache, nämlich weg
von Ankündigungen und hin zu Maßnahmen zu kommen, um Vertrauen in Lebensmittel und in die staatliche
Lebensmittelkontrolle zurückzugewinnen. Dafür ist der
Vorschlag der Verbraucherministerkonferenz von gestern durchaus eine geeignete Grundlage.
Entscheidend aber ist, dass der Katalog diesmal umgesetzt werden muss. Ich kann mich noch an den letzten
Katalog, den Seehofer-Katalog beim Gammelfleischskandal, erinnern, den wir alle mit viel Elan angegangen
sind. Im Laufe der Zeit wurde Maßnahme um Maßnahme verwässert, gestoppt und denunziert. Deswegen
muss es diesmal eine vollinhaltliche Umsetzung des Katalogs geben, nicht nur der Überschriften.
Frau Aigner, dies wäre für Sie doch die Gelegenheit,
den Vorwurf der Ankündigungsministerin zu widerlegen, indem Sie die Maßnahmen schnell umsetzen und
nicht verwässern lassen.
Es gibt in der Politik kein Urheberrecht, und das ist
auch gut so. Für eine Opposition, die nicht allein handeln
kann, ist es das größte Lob, wenn ihre Vorschläge von einer Regierung übernommen werden. Deshalb freuen wir
uns in der SPD natürlich, dass von den 15 Maßnahmen,
die wir vor zehn Tagen präsentiert und vor acht Tagen im
Ausschuss vorgelegt haben, lieber Peter Bleser von der
CDU/CSU, sich jetzt 14 Maßnahmen im Beschluss der
Verbraucherministerkonferenz wiederfinden. Das muss
man einmal aussprechen, nachdem vorhin etwas anderes
gesagt wurde. Das ist wichtig. Sonst hätte ich hierzu
nichts gesagt.
Als wir unsere Vorschläge vor zehn Tagen, zwei Tage
vor der Ausschusssitzung, vorgelegt hatten, war Ministerin Aigner noch der Meinung, eine Selbstverpflichtung
der Futtermittelindustrie reiche aus.
({2})
Am Tag der Ausschusssitzung gab es bereits ein FünfMaßnahmen-Paket. Das ist acht Tage her. Vor fünf Tagen gab es schließlich ein 10-Punkte-Programm; und seit
gestern sind es 14 Maßnahmen. Wir freuen uns über die
Geschwindigkeit, und wir würden uns natürlich auch
freuen, wenn auch der 15. Punkt, der Informantenschutz
- ich komme gleich dazu -, genauso akzeptiert würde
und in dieser Beziehung so dazu gelernt würde wie in
den letzten Tagen bei den anderen Maßnahmen.
({3})
Die entscheidende Frage, weswegen wir heute die Regierungserklärung eingefordert hatten, ist bis jetzt nicht
beantwortet worden; das kann aber eventuell der Kollege
Holzenkamp noch machen. Es handelt sich um die
Frage, ob die Regierungskoalition von CDU/CSU und
FDP eigentlich bereit ist, das 14-Punkte-Programm der
Verbraucherministerkonferenz inhaltlich umzusetzen.
({4})
- Nein, das ist keine idiotische Frage. - Wir gehen das
einmal Punkt für Punkt durch.
({5})
Am Dienstag vor acht Tagen hat die SPD im Ausschuss die Ministerin Punkt für Punkt zu dem Programm befragt. Bei einigen Punkten hat sie gesagt, sie
müsse noch nachhorchen, andere Punkte hat sie in den
14-Punkte-Plan übernommen. Als es um die Verschärfung des Verbraucherinformationsgesetzes ging, also
den Zwang zur Veröffentlichung der Namen, war die
FDP dagegen. Als es um die Beprobung jeder Charge
ging, haben sich die Kollegen der CDU/CSU dagegen
ausgesprochen.
({6})
Als es um die Meldepflicht für die Labore bei Grenzwertüberschreitungen ging, sind Zwischenrufe aus der CDU/
CSU gekommen, das sei ein Bruch des Vertrauens zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer.
({7})
Wir sind gespannt, ob Sie hier diesen Maßnahmen zustimmen. Wir stellen diese Maßnahmen gleich erneut zur
Abstimmung. Dann besteht die Chance, Farbe zu bekennen, anstatt nur Ankündigungen zu machen.
({8})
Frau Ministerin Aigner, im Ausschuss haben Sie mir
vorgeworfen, ich würde Sie zu den einzelnen Maßnahmen nur fragen, um eine Liste zu machen, bei der ich
später abhaken könnte, wo Sie etwas angekündigt, aber
nicht geliefert haben. Ich würde viel lieber Häkchen bei
den Punkten machen, wo Sie angekündigt und geliefert
haben.
({9})
Nur, meine Aufgabe als Oppositionspolitiker ist doch
auch, zu benennen, wenn Sie angekündigt, aber nicht gehandelt haben.
Ich komme zu dem letzten Punkt, dem Informantenschutz, dem einzigen der 15 Punkte, den die SPD bisher
nicht hat durchsetzen können. Fast alle Futtermittel- und
Lebensmittelskandale der letzten Jahre sind durch mutige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgedeckt
worden, die sich an die Öffentlichkeit gewandt und vor
solchen Straftaten gewarnt haben.
({10})
Herr Singhammer, Sie sind von der CSU aus München.
Herr Seehofer hat in München eine Medaille an den
Lkw-Fahrer vergeben, der sich an die Behörden gewandt
und gesagt hatte, er werde gezwungen, Gammelfleisch
zur Lebensmittelverarbeitung zu fahren.
({11})
In Deutschland müssen diese mutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer noch befürchten, wenn
sie an den falschen Richter geraten, dass sie wegen Störung des Betriebsfriedens entlassen werden, obwohl sie
versucht haben, die Öffentlichkeit zu schützen. Dass
Herr Bleser, der erst den 10-Punkte-Katalog von Herrn
Seehofer, in dem der Informantenschutz stand, gefeiert
hat, dann in den Verhandlungen in der Großen Koalition
- ich war sein Gegenüber - diesen verhindert hat und
mutige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unschuldige schützen wollen, in seiner Wortwahl mit Denunzianten vergleicht, die Unschuldige an ein Unrechtsregime ausliefern wollen, ist eine Unverschämtheit.
({12})
Dass Ihr Fraktionsvorsitzender, der in der sechsten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag sitzt, diese mutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch noch
mit einer NS-Institution, dem Blockwart, vergleicht, ist
eine bodenlose Frechheit. Herr Kauder, lernen Sie endlich einmal Anstand.
Herr Kelber, Herr Bleser würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Aber selbstverständlich. Bitte, Peter.
Herr Kollege Kelber, es ist noch nicht so lange her,
dass wir in derselben Koalition gesessen haben. Wir haben gerade über das Thema Denunziantenschutz oft gesprochen.
({0})
Es geht nicht darum - ich bitte Sie, das entsprechend zu
bewerten -, dass jemand bei Straftaten seiner Pflicht
nachkommt, diese den Behörden zu melden. Es geht ausschließlich darum, ob auch bei Ordnungswidrigkeiten
- im Extremfall das falsche Sortieren von Müll - Arbeitnehmer den Betriebsfrieden stören dürfen, indem sie
zum Beispiel auch Missbrauchsmöglichkeiten nutzen,
die bei einem Kündigungsschutz entsprechende Entschädigungszahlungen zur Folge hätten. Ist es nicht besser,
wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht als Gegner und Feinde betrachten, sondern als Partner?
Herr Bleser, ich erinnere mich in der Tat noch an die
Verhandlungen. Es hat ja viele Stunden gedauert, das
Verbraucherinformationsgesetz durchzukriegen. Sechs
Stunden lang haben wir auf Sie - inklusive die Bundesratsvertreter - eingeredet, um da die entsprechenden
Maßnahmen hineinzuschreiben.
Zum Informantenschutz: Sie kennen den Entwurf
noch, der mit Herrn Seehofer verabredet war. Es gab ja
bereits eine Verabredung zwischen Scholz, Zypries und
Seehofer. Sie wissen, dass der entscheidende Absatz darin lautete: Wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zuzumuten ist, bei dieser Angelegenheit firmenintern vorzugehen, haben sie nicht den Schutz durch
das Gesetz. Es geht also um schwere Straftaten und
schwere Ordnungswidrigkeiten, die anders nicht abzustellen sind. Ihr Beispiel ist in Bezug auf eine gesetzliche
Regelung eindeutig ausgenommen.
Das ist der entscheidende Punkt: Wir werden im
Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zum Informantenschutz zur Abstimmung stellen. Die Regierung
weigert sich, einen zu machen. Wir werden ihn einbringen. Dann wird sich zeigen, ob die Fraktionen von CDU/
CSU und FDP bereit sind, gegen die schwarzen Schafe
unter den Unternehmen - das sind in der Tat nur wenige mit allen Maßnahmen und aller Schärfe vorzugehen,
oder ob sie diese weiter vor den Konsequenzen schützen
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern weiter in
den Rücken fallen wollen. Wir sind gespannt, wie CDU/
CSU und FDP reagieren, wenn es endlich mal darum
geht, „Butter bei die Fische“ zu geben, und wenn man
von den Ankündigungen wegkommt. Dann entscheidet
sich, wie man mit einem Skandal umgeht.
Vielen Dank.
({0})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Franz-Josef
Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach den Beiträgen, die ich insbesondere von
der linken Seite gehört habe, möchte ich mit einem Zitat
beginnen:
Eintausendsiebenhundertachtzehn Tage hatte die
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zwischen dem 12. Januar
2001 und dem 27. September 2005, um ein für allemal die Lebensmittel, Futtermittel … einer so straffen Kontrolle zu unterwerfen, dass nie mehr ein
Nahrungsmittelskandal vorkommen könnte. Frau
Künast hat ihre Chance für eine vorbildliche grüne
Politik nicht nachhaltig genutzt.
So die FAZ von vor wenigen Tagen. Ich finde, sie hat mit
wenigen Sätzen - mit nur zwei Sätzen - alles auf den
Punkt gebracht.
({0})
Wer selbst in einem Glashaus sitzt, sollte insbesondere
nicht auf andere mit Steinen werfen.
({1})
Ihr kennt euch doch selber mit Dioxinskandalen in
den unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Betrieben
- ob es um Freilandeier oder anderes geht - aus. Also,
Sie selbst setzen nicht ganz viel um, hauen aber auf die
Pauke. Schließlich stehen Wahlen vor der Tür. Dem Verbraucher helfen nicht Worte allein, dem helfen Taten,
und die vollbringen wir.
({2})
Ich will dazu einen Punkt ansprechen, weil ich mich
in der letzten Woche in unserem Ausschuss wirklich sehr
darüber geärgert habe. Drinnen haben wir Fakten bearbeitet. Draußen mussten einige Damen und Herren der
Grünen und der SPD den medialen Markt mit ihrer rotgrünen Apokalypse bedienen.
({3})
Ich habe da andere Vorstellungen von sachorientierter
Politik. Jedenfalls entspricht das nicht dem, was Sie hier
heute einfordern, meine Damen und Herren von der Opposition. Das ist wieder einmal Klamauk und sonst gar
nichts.
({4})
In einem Punkt sind wir uns einig: Wir arbeiten daran,
kriminelle Energie letztendlich so gut, wie es geht, in
den Griff zu bekommen. Alle miteinander wissen wir,
dass das sehr schwierig ist. Es gibt da immer neue Herausforderungen, und wir müssen Regeln auf den Weg
bringen. Doch ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man
eine dicke Lippe riskiert, sollte man selbst auch etwas
vorweisen können.
Wir alle hier im Parlament sind uns einig, dass das,
was vorgefallen ist, eine Riesensauerei ist, und zwar
vollkommen unabhängig von irgendwelchen Grenzwerten. Es gehören keine Dioxine in Lebensmittel, egal in
welche.
Die Verbraucher sind total verunsichert und zu Recht
mehr als wütend. Das liegt, wie schon erwähnt, offensichtlich an der kriminellen Energie Einzelner. Viele
Tausend Bauern wurden - das will ich an dieser Stelle
unterstreichen - in Mithaftung genommen. Gefährdet
sind auch viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und
in vielen Unternehmen. Ich wundere mich, dass das von
Ihrer Seite fast gar nicht angesprochen wurde.
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Gerade
wenn es um Lebensmittel geht, steht der Verbraucher für
uns - auch wenn Sie darüber immer wieder lächeln - an
allererster Stelle. Wichtig ist, vernünftige, sachliche
Aufklärung vorzunehmen und keine Panikmache zu betreiben. Ich finde richtig, dass das BfR, das Bundesinstitut für Risikobewertung, deutlich gemacht hat - für mich
war das ein Lichtblick -, dass für die Menschen in
Deutschland keine Gesundheitsgefährdung besteht. Frau
Höhn, das hat mit Verharmlosung überhaupt nichts zu
tun.
({5})
Es hat letztendlich einfach nur etwas damit zu tun, dass
angesichts der Verbraucherverunsicherung vernünftig
aufgeklärt werden muss.
({6})
Wenn wir über Aufklärung reden, dann müssen wir
auch darüber sprechen, wie Dioxine entstehen - das ist
mehrfach angesprochen worden -, nämlich durch Verbrennungsprozesse; ich brauche auf die Details nicht
mehr einzugehen. Unser Ziel ist natürlich - ich hoffe,
dass das unser gemeinsames Ziel ist - die Reduktion der
Dioxinbelastung; sie sollte möglichst bei null liegen. Ich
hoffe, wir kommen da sehr weit. Ich persönlich freue
mich darüber, dass beispielsweise das Umweltbundesamt feststellt, dass seit 1990 eine deutliche Reduktion
beim Dioxin gelungen ist. Ich will gar nicht im Detail
darauf eingehen, dass einen wesentlichen Beitrag dazu
das Verbot des verbleiten Benzins im Jahre 1989 geleistet hat. Ich will auch nicht darauf eingehen, wer in dieser
Zeit an der Regierung war; Sie wissen es ja.
Aufklärung gehört zum Verbraucherschutz. Sie ist
notwendig und hilft dem verunsicherten Verbraucher, die
Situation besser einzuschätzen. Deshalb legen wir im
Gegensatz zu Ihnen, jedenfalls im Gegensatz zu dem,
was ich heute von Ihnen gehört habe, darauf Wert, das zu
tun, worauf es ankommt.
({7})
Zum 14-Punkte-Plan. Herr Kelber - Sie haben mich
darauf angesprochen -, ich will Ihnen vorwegsagen: Ich
bin überzeugtes Mitglied einer Volkspartei. In unserer
Volkspartei ist es so, dass wir uns miteinander unterhalten, dass wir diskutieren. Bei uns ist es auch so, dass wir
zuhören. Wenn es etwas Besseres gibt, dann nehmen wir
diese Erkenntnis auf. Das kann auch zur Folge haben,
dass wir Pläne erweitern.
Aber ich will deutlich sagen: Vorschläge müssen auch
wirklich Sinn machen.
({8})
Im Hinblick auf das, was risikobasiert vernünftig ist, will
ich Ihnen einmal ein ganz einfaches Beispiel nennen:
Fette sind grundsätzlich mit Risiken verbunden; das wissen wir.
({9})
Getreide birgt weniger Risiken. Wenn es darum geht,
alle Chargen zu kontrollieren, dann will ich nicht, dass
jeder Landwirt, der selbst mischt, sein gesamtes Getreide
untersuchen muss; dadurch würde der Strukturwandel
noch mehr forciert. Das kann nicht in unser aller Interesse sein.
({10})
Immer wieder wird die Systemfrage gestellt.
({11})
Hören Sie doch endlich auf, die Gesellschaft zu spalten,
die Landwirtschaft aufzuteilen in Böse und Gute! Was
soll das? Herr Ostendorff, Sie haben von Lobbyisten gesprochen. Eigentlich sind Sie der Oberlobbyist; ich frage
mich nur, für welche Klientel.
({12})
Ich habe mich vorhin sehr geärgert. Was maßen Sie sich
an, wenn Sie gegen 300 000 Bauern in Deutschland zu
Felde ziehen, diese stigmatisieren und diffamieren? Ich
finde, das ist nicht in Ordnung.
({13})
Ich will an diesem Punkt ergänzen: Die Landwirte sind
in diesem Skandal wirklich Opfer und nicht Täter. Wer
das noch nicht verstanden hat, der sollte sich tiefer damit
beschäftigen.
Zu einem weiteren Punkt: Es wird die Systemfrage
gestellt und behauptet, das Problem sei die industrielle
Landwirtschaft. Meine Gegenfrage lautet: Was heißt industriell? Industriell bedeutet nichts anderes als arbeitsteiliges Bewirtschaften. Ich verstehe die Diskussion
nicht. Es gibt doch in allen Bereichen arbeitsteilige
Landwirtschaft: Sie gibt es bei großen und bei kleinen
Betrieben, sie gibt es in der ökologischen Landwirtschaft
und in der herkömmlichen Landwirtschaft, sie gibt es bei
großen und bei kleinen Futtermittelproduzenten. Lassen
Sie uns deshalb mit der Spalterei aufhören. Wir tun der
Landwirtschaft keinen Gefallen und dem Verbraucher
durch die zunehmende Verunsicherung erst recht nicht.
Ich bin Niedersachse. Niedersachsen ist ein Agrarland
und besonders vom Dioxinskandal betroffen.
({14})
Etwa 5 500 Betriebe wurden in Niedersachsen vorsorglich gesperrt. Lassen Sie mich das deutlich sagen: Das ist
vorsorglicher Verbraucherschutz. Die Ergebnisse der
Proben, die bereits vorgelegt wurden - in den nächsten
Tagen werden weitere vorgelegt -, zeigen: Es gibt eine
positive Probe beim Schwein und fünf positive Proben
bei Hühnereiern. Ich will nicht ausschließen, dass es
noch mehr werden, aber die Tatsache, dass wir so großzügig gesperrt haben, ist ein eindeutiger Beweis dafür,
dass der vorsorgliche Verbraucherschutz in Niedersachsen an allererster Stelle steht.
({15})
Es wird oft darüber diskutiert, wer was erreicht hat.
Ich frage Sie: Wer hat letztendlich dafür gesorgt, dass
sich die Bundesländer auf eine gemeinsame Protokollerklärung geeinigt haben, der sich Berlin, Bremen,
Mecklenburg-Vorpommern, NRW und Rheinland-Pfalz
angeschlossen haben? Das ist unsere Bundesministerin
Ilse Aigner gewesen. Wer hat das vorher geschafft? Niemand, auch Renate Künast nicht.
({16})
Ich bin Ilse Aigner sehr dankbar, dass sie sich an die
Speerspitze dieser Bewegung stellt.
({17})
Die 14 Punkte, Herr Kelber, die mehrfach angesprochen
wurden, werden wir umsetzen.
({18})
Abschließend will ich festhalten: Verbraucherpolitik,
Verbrauchersicherheit und Verbraucherschutz stehen bei
uns an erster Stelle.
({19})
- Herr Ostendorff, wenn Sie meinen, wir seien Lobbyisten, dann sind wir Lobbyisten;
({20})
denn wir stehen zu den 350 000 landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland. Sie tun das offensichtlich nicht.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen. Zunächst geht es um die Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4426.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende Fraktion,
die Koalitionsfraktionen waren dagegen, Bündnis 90/
Die Grünen und Linke haben sich enthalten.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4430. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen. SPD und
Linke haben sich enthalten, CDU/CSU und FDP dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Migrationsbericht 2009.
Wir hören zur Einführung den fünfminütigen Bericht
des Bundesministers des Innern, Thomas de Maizière.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat heute den Migrationsbericht
2009 beschlossen. Das ist ein jährlich abzugebender Bericht, der sich entwickelt hat zu einem, wenn Sie so wollen, statistischen Standardwerk über das Migrationsgeschehen, das Wanderungsgeschehen, in Deutschland,
auch im europäischen Vergleich. Er liegt Ihnen vor. Er
ist umfangreich, aufschlussreich und nüchtern. Er enthält
keine Strategien zur Bewältigung der Probleme und Herausforderungen, sondern eben statistisches Material.
Lassen Sie mich kurz auf einige wesentliche Zahlen
und Aspekte eingehen:
Der Anteil ausländischer Staatsangehöriger an der
Gesamtbevölkerung in Deutschland ist seit Mitte der
90er-Jahre nahezu unverändert und liegt jetzt bei
8,7 Prozent. Etwa 35 Prozent der Ausländer in Deutschland sind Unionsbürger, also Bürger der Europäischen
Union, 24 Prozent aus den alten und 11 Prozent aus den
neuen EU-Mitgliedstaaten. Die zweitgrößte Gruppe der
Ausländer in Deutschland stellen trotz eines relativen
Rückgangs die türkischen Staatsangehörigen dar. Ihr Anteil liegt bei ungefähr 24,8 Prozent. EU-Bürger und Bürger mit türkischer Staatsangehörigkeit zusammen stellen
also knapp 60 Prozent aller hier lebenden Ausländern.
Fast zwei Drittel der in Deutschland lebenden Ausländer verfügen über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht.
In dieser Zahl sind die Unionsbürger eingeschlossen.
Zwei Drittel der ausländischen Bevölkerung leben
seit zehn oder mehr Jahren in Deutschland, über ein
Drittel sogar seit mehr als 20 Jahren. 73 Prozent aller
Ausländer, also fast drei Viertel, leben seit acht oder
mehr Jahren in Deutschland und erfüllen insoweit, wenn
nicht andere Kriterien dem entgegenstehen, die Bedingungen für eine Einbürgerung.
Die Einbürgerungszahlen sind nahezu konstant. Wir
haben im Jahr 2009 in Deutschland rund 96 000 Einbürgerungen vorgenommen. Im Jahr 2008 waren es 95 000.
Die Größenordnung ist also knapp unter 100 000.
Wenn Sie die Zahl der Auswanderungen mit der der
Zuwanderungen vergleichen, stellen Sie fest: Wir haben
erneut einen negativen Gesamtwanderungssaldo, das
heißt, es sind mehr Menschen aus Deutschland abgewandert, als nach Deutschland zugewandert sind. Der
Saldo beträgt minus 12 800. Allerdings ist er deutlich
geringer als im Jahr 2008. Im Jahr 2008 waren
56 000 Menschen mehr abgewandert als zugewandert.
Im Jahr 2009 ist die Zahl, wie gesagt, auf 12 800 zurückgegangen. Im Jahr 2010 - wir haben die Zahl noch
nicht - könnte sich das insbesondere wegen der deutlich
gestiegenen Asylbewerberzahlen ändern.
Wer wandert zu? Wenn Sie die Zuwanderungen im
Einzelnen analysieren, kommen Sie zu dem Ergebnis: Es
sind drei große Gruppen, die zuwandern. Die größte
Gruppe mit knapp 50 000 Personen sind Ehegatten oder
sonstige Familienangehörige. Der ganz wesentliche Teil
der Zuwanderung ist also im Familiennachzug begründet. Die zweite große Gruppe sind Studenten; auf die
komme ich gleich noch zu sprechen. Die dritte große
Gruppe bilden diejenigen, die zum Zweck der Erwerbstätigkeit hierherkommen. Das sind, wenn Sie so wollen,
nur 26 000, etwas weniger als in den Vorjahren.
Erfreulich ist die Zahl ausländischer Studierender. Sie
hat in Deutschland im Jahr 2009 mit rund 245 000 einen
Höchststand erreicht. Das ist eine sehr hohe Zahl, ein
großer Anstieg, und auch im europäischen Vergleich
sehr gut. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika und
ein anderes Land - es fällt mir im Moment nicht ein verzeichnen eine ähnlich hohe Zahl. Das ist eine wirkliche Erfolgsgeschichte, die sich dort abgespielt hat.
Vielleicht noch etwas zu der Frage: Woher kommen
die ausländischen Studienabsolventen? Ich sage das natürlich vor dem Hintergrund der Zuwanderungsdebatte,
die uns beschäftigt. Im Jahr 2009 haben ungefähr
33 000 ausländische Studenten hier einen Hochschulabschluss gemacht. Sie sind bei der Zuwanderung für uns
natürlich in besonderer Weise interessant. Auf Platz eins
steht China mit 4 700 Studienabsolventen. Auf Platz 2
liegt die Türkei mit 2 300. Ich weiß aber nicht, ob Studenten mit doppelter Staatsangehörigkeit mitgezählt
wurden. Diese Zahl muss man also vor die Klammer ziehen. Dann folgen Bulgarien, Russland, Polen, die
Ukraine sowie Frankreich und Österreich. Aus diesen
Ländern kommen die meisten Studenten, die bei uns ihren Abschluss gemacht haben.
Menschen, die zu Erwerbszwecken hierherkommen,
kommen oft aus Indien und interessanterweise aus den
Vereinigten Staaten von Amerika. Allerdings ist die Zahl
absolut gesehen gering.
Wir untersuchen seit einiger Zeit auch die Zahl der
Abwanderungen. Allerdings ist die Statistik in diesem
Punkt nicht sehr aussagekräftig. Warum? Wenn jemand
abwandert, ist er nicht verpflichtet, zu sagen, welchen
Bildungsabschluss er hat, wohin er geht und warum er
auswandert. Außerdem wissen wir nicht genau, ob es
eine temporäre oder eine dauerhafte Abwanderung ist.
Wenn jemand nach dem Hochschulabschluss fünf Jahre
eine Doktorarbeit in Amerika schreibt, dann ist er für
diese Zeitspanne ausgewandert. Die Zahl der Abwanderungen ist, wie gesagt, nicht sehr aussagekräftig, weil es
keine Vergleichszahlen aus weit zurückliegenden Jahren
gibt.
Insgesamt muss man sagen, dass die Zahl der Auswanderer in Deutschland rückgängig ist. Im Jahre 2009
gab es 154 000 Fortzüge von Deutschen aus dem Bundesgebiet. Das ist ein Rückgang um 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allerdings ist dies deutlich mehr, als
wir es über viele Jahre gewohnt waren. Von den Fortzügen aus Deutschland im Jahre 2009 entfielen 34,9 Prozent auf die alten EU-Staaten. Das ist, wenn man so will,
das erwünschte Ergebnis des Zusammenwachsens in
Europa. In die USA zogen 13 000. Gleichzeitig kehrten
11 000 Deutsche aus den USA nach Deutschland zurück.
Das ist zwar ein negativer Wanderungssaldo von rund
2 000; aber man sieht daran, dass es auf diesem Gebiet
bei den Qualifizierten, was die USA angeht, viele Bewegungen gibt.
Man kann dem Bericht für die Debatten, die wir vor
uns haben, und auch für die Debatten, in denen wir uns
befinden, eine ganze Menge an Information entnehmen.
Ich hoffe, er findet Ihr Interesse.
Vielen Dank für den Bericht. Es gibt Nachfragen. Zunächst hat der Kollege Kilic das Wort.
Sehr geehrter Herr de Maizière, vielen Dank für Ihre
Berichterstattung. Sie haben aktuelle Zahlen über die
Einbürgerung genannt. Sie ist rückläufig; sie ging um
1 000 zurück. Langfristig betrachtet, muss man sagen,
dass die Bundesregierung die Einbürgerungspolitik der
Bundesrepublik Deutschland an die Wand gefahren hat.
Denn seit 2004 ist die Zahl der Einbürgerungen um ein
Viertel eingebrochen.
Wie Sie richtig festgestellt haben, erfüllen 73 Prozent
der Immigranten - das sind immerhin 5 Millionen Menschen - die wichtigste Einbürgerungsvoraussetzung,
nämlich einen Aufenthalt von acht Jahren. Trotzdem
können sie nicht eingebürgert werden. Es gibt immer
wieder Maßnahmen, die es den Migranten erschweren,
die Einbürgerung zu beantragen. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent dieser Menschen
bereit wären, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, wenn eine Mehrstaatlichkeit möglich wäre. Welche
Erkenntnisse gibt es dazu im Migrationsbericht, und
welche Erkenntnisse haben Sie, was den Optionszwang
angeht, gewonnen?
Herr Abgeordneter, der Migrationsbericht, den ich
heute vorgestellt habe, enthält statistisches Material. Es
werden sozusagen Köpfe gezählt, aber es wird nicht
nach Motiven gefragt. Darüber bietet das statistische
Material keine Auskunftsmöglichkeit. Man müsste im
Einzelnen Befragungen durchführen. Das ist aber nicht
Gegenstand dieses Berichtes. Ich bin daher auf Mutmaßungen angewiesen.
Wir möchten gerne, dass der Einbürgerungsantrag
von Ausländern, die die Einbürgerungsvoraussetzungen
erfüllen, positiv beschieden wird und dass sie ihre Loyalität zu unserem Land durch ihre Einbürgerung zeigen
können. Dazu dienen viele Maßnahmen, etwa dass man
Einbürgerungsfeiern veranstaltet, dass man eine Willkommenskultur etabliert. Dass diese Bundesregierung
und ihre Vorgänger für die Reduzierung der Einwanderungszahlen verantwortlich sind, was Sie in Ihrer Frage
unterstellen, weise ich zurück. Ich bin nicht dieser Auffassung.
Wir haben allerdings einen Grunddissens - das will
ich nicht in Abrede stellen -, nämlich in der Frage der
doppelten Staatsbürgerschaft. Die Rechtslage ist so - und
ich bekenne mich ausdrücklich dazu -, dass es, von Ausnahmen abgesehen, die es geben muss und die relativ
zahlreich sind, grundsätzlich und prinzipiell geboten ist,
sich zu einem Land zu bekennen und nicht zu zweien
oder dreien. Deswegen ist der Grundsatz, dass, wer
Deutscher werden will, zugleich seine bisherige Staatsbürgerschaft abgibt, meiner Ansicht nach richtig.
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Daniela
Kolbe.
Herr Minister, vielen Dank für die Vorstellung des
Berichts, den ich noch nicht in Gänze gelesen habe, da er
erst heute veröffentlicht worden ist.
Der ist auch so dick.
Sie haben eine Zahl genannt, die ich in der Tat sehr
bemerkenswert finde, und zwar die Zahl der Bildungsausländer, die in Deutschland studieren: knapp
250 000 Personen, das heißt, wenn ich richtig im Bilde
bin, fast 50 000 mehr als noch vor einigen Jahren; das ist
eine signifikante Steigerung. Das ist sehr schön.
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Daniela Kolbe ({0})
In der Großen Koalition haben wir die Situation der
ausländischen Absolventinnen und Absolventen, die für
den deutschen Arbeitsmarkt sehr attraktiv sind, so verbessert, dass sie die Möglichkeit haben, hier ein Jahr zu
bleiben, nämlich durch das Zuwanderungsgesetz. Danach gab es eine weitere Verbesserung: Sie haben keine
Nachrangigkeitsprüfung mehr und können später auch
wieder zuwandern. Die Frage, die sich mir stellt, ist:
Schlägt sich das in den Zahlen nieder? Nach den Zahlen,
die mir bekannt sind, bleibt nach wie vor nur ein kleiner
Teil der ausländischen Absolventinnen und Absolventen, die in Deutschland studiert haben, hier. Ich weiß,
dass viele gern bleiben würden, aber innerhalb dieses einen Jahres schlicht - wie viele Deutsche auch - keine
entsprechende Anstellung finden. Wenn Sie mir die Zahl
nennen, sie einschätzen und vielleicht auch sagen würden, was Sie als Minister vorhaben, um es mehr Menschen zu ermöglichen, nach einem erfolgreichen Studienabschluss in Deutschland zu bleiben, wäre mir
geholfen.
Frau Abgeordnete Kolbe, ich habe diese Zahl natürlich nicht ohne Grund genannt; denn ich habe mir schon
gedacht, dass das ein wesentlicher Punkt der Debatte ist.
Das ist auch richtig so.
Ich habe die Zahl aus diesem dicken Bericht jetzt
nicht im Kopf. Wahr ist aber, dass aus dem Reservoir derer, die aus dem Ausland kommen, diejenigen, die hier
studiert haben, das beste Potenzial für Zuwanderung haben, das Deutschland bekommen kann. Bei allem Streit
über Zuwanderung ist das insoweit auch unstreitig. Deswegen ist es wichtig - ohne dass ich einer Beratung vorgreifen kann oder will -, dass wir genau dort ansetzen.
Wir müssen insbesondere nach einem erfolgreichen Abschluss erleichtern, dass man hier bleiben kann, dass
man Arbeit aufnehmen kann. Das ist auch in der Koalition längst unstreitig. Die Punkte, die streitig und jetzt
hier nicht zu diskutieren sind, liegen woanders; sie liegen nicht hier.
Nun muss man sehen, dass natürlich nicht alle Studenten, die aus dem Ausland kommen und hier studieren, hier bleiben wollen. Wir haben auch eine erhebliche
Zahl deutscher Studenten, die im Ausland studieren. Wer
im Ausland studiert, studiert deswegen dort, um seinen
Erfahrungshorizont zu erweitern, nicht unbedingt, um im
Ausland zu bleiben. Das ist auch kein vorwerfbares Verhalten. Insofern stehen nicht 245 000 potenzielle Zuwanderer zur Verfügung. Ein ganz erheblicher Teil will hier
studieren und geht wieder weg. Das hat auch Vorteile,
weil es Kontakte in die ganze Welt hinein schafft. Das
muss man auch einmal sehen.
In den 70er-Jahren war die entwicklungspolitische
Debatte so, dass man sie gar nicht davon abhalten dürfte,
zurückzugehen, weil das zu einem Braindrain bei den
Entwicklungsländern führe; wir mussten sehen, dass sie
zurückgehen und dort ihre Länder aufbauen - jedenfalls
soweit es um entwicklungsschwächere Länder ging. Darüber redet heute keiner mehr. Ich sage das nur einmal
ganz zart, weil uns inzwischen das Hemd näher ist als
der Rock. Wir wünschen uns, dass sie hier bleiben. Aber
ich sage nicht ohne Grund, dass die 240 000 Studenten
- neben denen, die ohnehin nur auf Zeit da sein wollen das größte und interessanteste Potenzial haben, um kluge
und nachhaltige Zuwanderung in Deutschland zu organisieren.
Die nächste Frage kommt von Sevim Dağdelen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Sehr geehrter Herr
Minister, nachdem der Migrationsbericht 2008 weder an
den Bundestag überwiesen noch in diesem Hause debattiert wurde, wünsche ich mir, dass es mit dem Migrationsbericht 2009 anders sein wird: dass es zu einer
Überweisung an den Bundestag kommen wird und wir
uns die Zeit für eine Debatte nehmen werden. Das ist
meine Bitte vorweg.
Zweitens. Die wesentlichen Ergebnisse des Migrationsberichts 2009, die ich der Pressemitteilung der Bundesregierung von heute entnehmen kann, sind mit denen
von 2008 zum Teil deckungsgleich, vor allen Dingen im
Hinblick auf den Umfang der Einwanderung und den
Wanderungssaldo. Sie haben eben angesprochen, dass es
2009 einen negativen Wanderungssaldo gab, wie es bereits 2008 der Fall war. Die Zuwanderung ist vor allen
Dingen aus Ländern wie der Türkei rückläufig, aber
auch aus den anderen Anwerbestaaten wie Griechenland
und Italien, und der Wanderungssaldo ist hier seit 2006
negativ. Ich frage Sie vor dem Hintergrund der in
Deutschland manchmal sehr hitzig geführten Debatten
zum Thema Einwanderung, die mit den Schlagworten
„Überfremdung“ oder „Untergang des Abendlandes“
manchmal auch in der Presse erscheinen, ob Sie solche
Debatten angesichts der tatsächlichen Zahlen eigentlich
nicht als realitätsfern bezeichnen.
Im Zusammenhang mit den in den Migrationsberichten 2008 und 2009 vorliegenden Zahlen zum Trend der
Pendelmigration möchte ich von Ihnen auch wissen, ob
die Debatten, die wir führen, der Tatsache gerecht werden, dass dies eine temporäre und keine endgültige Migration nach Deutschland ist.
Frau Abgeordnete, der erste Ihrer drei Punkte wundert
mich; denn den Migrationsbericht erstellen wir auf Anforderung des Deutschen Bundestages zum achten Mal.
Wenn der Bericht 2008 Ihnen nicht zugeleitet worden
sein sollte, werde ich ihn gern zuleiten.
({0})
Mich wundert, dass er bisher nicht zugeleitet worden ist;
daran soll es nicht scheitern. Ob Sie es diskutieren oder
nicht, müssen Sie entscheiden. Darüber entscheidet nicht
die Bundesregierung; das müssen Sie dann im Deutschen Bundestag erörtern.
Was die Frage des Saldos angeht, so haben Sie den
Punkt schon richtig dargestellt. Wir machen hier zu einem
Stichtag eine Statistik, und dahinter verbergen sich Wanderungsbewegungen verschiedener Art. Richtig ist, dass
der Wanderungssaldo abgenommen hat. Ich könnte jetzt
auch sagen: Die gute Nachricht ist, dass sich der Wanderungssaldo um zwei Drittel reduziert hat. Nur wäre diese
Aussage angesichts der Zahlen nicht besonders glaubwürdig: Von 60 000 sind wir jetzt bei 12 000 angelangt. Das
ist zwar ein Trend in die richtige Richtung; aber wahr ist,
dass immer noch mehr Menschen weggehen als kommen. Insoweit stimmt, was die Zahlen angeht, objektiv
die Aussage, dass Deutschland im Moment kein Zuwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland ist.
Man muss aber immer sehen, wer mit welchen Motiven und mit welchen Folgen kommt. Die Statistik kann
wohl etwas über Abschlüsse sagen; aber sie sagt zum
Beispiel nichts über die Zahl der Empfänger von Sozialleistungen und der Menschen mit einem gesicherten Lebensunterhalt aus. Diese Debatte haben wir in einem anderen Zusammenhang geführt. Wir wollen natürlich
Zuwanderung von Menschen, die hier einen Beitrag leisten, die Arbeit haben, die Steuern zahlen, die Familien
gründen und einen gesicherten Lebensunterhalt haben.
Das sind wiederum nicht alle. Deswegen lässt allein die
Tatsache, dass wir faktisch ein Auswanderungsland geworden sind, nicht den Schluss zu, dass wir alle, die
nach Deutschland kommen wollen, auch nach Deutschland kommen lassen sollten; vielmehr geht es immer um
gesteuerte Zuwanderung.
Drittens. Die Pendelwanderung ist ein wichtiger
Punkt. Ich mache es Ihnen an der größten Gruppe, den
Polen, einmal deutlich: Im Jahre 2009 sind ungefähr
120 000 polnische Staatsbürger nach Deutschland zugewandert, aber es sind auch etwa 120 000 aus Deutschland abgewandert. Ob das die Gleichen sind - vielleicht
Pflegekräfte - oder andere, das weiß ich nicht. Aber natürlich haben wir Pendelwanderungen. Die zweitgrößte
Gruppe bilden hier die Rumänen: Wir hatten ungefähr
48 000 Zuwanderungen aus Rumänien und circa
37 000 Fortzüge. Die Zu- und Abwanderungen sind
nicht ganz ausgeglichen, aber auch hier gibt es erhebliche Veränderungen. Im Falle Griechenland sieht es wiederum anders aus - man kann das erklären -: Es gab
8 200 Zuwanderungen und 16 000 Fortzüge.
Wenn man zu einer qualitativen Zuwanderungsdebatte kommen möchte, müsste man die Statistik eigentlich anders darstellen und sagen: Unionsbürger sind das
eine; denn wir wollen Freizügigkeit in der Europäischen
Union. Unter Zuwanderungsgesichtspunkten ist es eigentlich fast egal, ob ein Belgier in Deutschland wohnt,
ob er ein Deutscher oder ein Belgier ist. Als Zweites
sollte man die Asylbewerberzahlen herausnehmen, weil
es sich hier mit Blick auf die Bearbeitung, die Abschiebung, die Duldung usw. um eine Sondergröße handelt.
Die Zuwanderungspolitik, über die wir uns sonst streiten, befasst sich mit der Frage, aus welchen Drittstaaten
Zuwanderer aus welchem Grund kommen und wie lange
sie bleiben, sowie mit der Frage, wer in Drittstaaten abwandert. Eine entsprechende Unterteilung böte eigentlich die vernünftige statistische Grundlage für die politische Debatte, die wir hier führen. Man kann vielleicht
die entsprechenden Zahlen herausklamüsern; aber bisher
wird nur zwischen den Ausländern unterschieden. Das
ist insbesondere mit Blick auf die EU-Bürger nicht mehr
so aussagekräftig, wie es vor 10 oder 20 Jahren war.
Die nächste Frage stellt der Kollege Winkler.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich will zunächst zur Kollegin Dağdelen sagen: Der Migrationsbericht 2008 wurde
uns am 8. Februar 2010 mit der Drucksache 17/650 zugeleitet.
({0})
Was der Bundestag damit im Innenausschuss macht, ist
natürlich seine eigene Angelegenheit. Es ist nicht die
Aufgabe des Innenministers, sich dazu zu verhalten.
Herr Innenminister, ich habe eine Frage zur demografischen Entwicklung. Wir hatten eine aufgeregte Debatte, angestoßen von Exsenator Sarrazin, der immer
meint, seine Behauptungen seien unwiderlegt. Insofern
frage ich Sie: Haben Sie nach Lektüre des Berichtes
- Sie haben ihn schon ein paar Tage länger als wir - Indizien dafür gefunden, dass der Anteil der Unterschicht
an der Bevölkerung kontinuierlich wächst bzw. dass die
Migrantengruppen besonders viele Nachkommen haben,
die als bildungsfern eingestuft werden müssten, also
nach Meinung Sarrazins vor allem die Migranten aus der
Türkei, dem Nahen Osten und Afrika? Stimmen Sie
Sarrazins These zu, dass „die enorme Fruchtbarkeit der
muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden
Europa“ darstellt, beispielsweise hier in Deutschland?
Herr Abgeordneter, darüber gibt der Migrationsbericht keine Auskunft. Wir sind statistisch außerstande,
eine Unterschicht zu definieren, dann die Kinder zu zählen und vorher noch nach der Religionszugehörigkeit zu
fragen. Ich glaube auch nicht, dass Sie diese Statistik haben wollen, auch nicht den Erhebungsaufwand, der damit verbunden ist.
Man kann anhand der Sozialstatistik - ich habe schon
gesagt: sie ist hier nicht Gegenstand - feststellen, wer
von den hier lebenden Ausländern seinen Lebensunterhalt aus eigener Arbeit bestreiten kann. Es lässt sich
nicht bestreiten, dass der Anteil derer, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Arbeit bestreiten können, unter Ausländern verglichen mit der deutschen Bevölkerung überproportional hoch ist. Jetzt kann man natürlich
sagen: Wenn man es Asylbewerbern verbietet, zu arbeiten, dürft ihr euch nicht wundern. Das wäre Ihr Gegenargument.
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Erwischt!
Ja. Man muss das also ein bisschen auseinanderklamüsern.
Ich kann die Thesen, die Sie zitieren, nicht statistisch
untermauern. Wir wissen: Je länger jemand hier ist,
desto mehr passt sich sein sogenanntes generatives Verhalten - also die Frage, wie viele Kinder man bekommt an die Aufnahmegesellschaft an. Migranten der zweiten
oder dritten Generation kriegen also eher so viele Kinder
wie die Familien in ihrer Umgebung als so viele, wie sie
es von zu Hause gewohnt sind.
Statistisch ist ein zweiter, sehr langfristiger Trend zu
erkennen, der für uns ein schweres Dilemma bedeutet:
Der Kinderreichtum nimmt in der Regel mit steigendem
Wohlstand ab und nicht zu. Ich bezeichne das als
Dilemma, weil das ja nicht bedeuten kann, dass die
Leute einfach, weil wir mehr Kinder haben wollen, ärmer werden sollen, weil sie dann mehr Kinder bekommen. Eine solche These wäre absurd. Wahr ist aber leider: Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, umso
weniger Kinder werden geboren. Das gilt mehr oder weniger weltweit. Es gibt ein paar Ausnahmen. Schweden
und Frankreich werden genannt. Wie nachhaltig das ist,
wissen wir aber nicht genau. Von daher kann man sagen,
dass die erste Generation derjenigen, die hierherkommen, mehr Kinder bekommt als die folgenden Generationen. Solche grundsätzlichen Plausibilitätsüberlegungen kann man vielleicht anstellen. Ihr Nicken zeigt, dass
Sie das nicht ganz abwegig finden. Die Äußerungen, die
Sie aus dem Sarrazin-Buch anführen, kann ich anhand
der Statistik nicht bestätigen.
Die nächste Frage kommt von Rüdiger Veit.
Herr Minister, zunächst auch von mir herzlichen
Dank für Ihren Vortrag. Sie haben in erfrischender Deutlichkeit und gestützt auf die Zahlen des Migrationsberichts eine Aussage getroffen, die ich teile: Im Augenblick ist Deutschland - das gilt schon seit einigen Jahren kein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland.
Ist vor dem Hintergrund der Entwicklung, dass in
Deutschland immer weniger Menschen leben, zumal immer weniger Menschen hier geboren werden und sie im
Durchschnitt sehr viel älter werden, nicht alle Anstrengung geboten, um diejenigen, die bereits in Deutschland
leben - namentlich die Kinder und Jugendlichen, die hier
aufgewachsen oder sogar hier geboren worden sind -,
hierzubehalten und dafür zu sorgen, dass sie eine Perspektive in Deutschland bekommen, anstatt sie - daran
sollte man nicht im Entferntesten denken - nach sechs
oder acht Jahren Kettenduldung - davon können ihre Eltern oder sie selbst betroffen sein - abzuschieben? Meine
Frage gipfelt mit anderen Worten darin, Sie zu bitten,
eine Einschätzung vorzunehmen: Kann nicht eine vernünftige Altfall- und Bleiberechtsregelung gefunden
werden, um dieser negativen Bevölkerungsentwicklung
seitens des Staates entgegenzutreten?
({0})
Die zweite Frage, die damit zusammenhängt, die ich
Sie ebenfalls bitte zu beantworten: Andere europäische
Staaten sind ganz offensichtlich überproportional stark
davon betroffen, dass Flüchtlinge über das Mittelmeer
oder auf dem Landweg zu ihnen gelangen. Ist es angesichts dieser Situation aus Sicht der Bundesregierung
nicht geboten, im Sinne einer echten Lastenteilung in
Europa zu sagen: „In Ordnung, wir nehmen nicht nur im
bisherigen Rahmen wenige Flüchtlinge auf - in letzter
Zeit haben wir Flüchtlinge aus dem Iran, wenige aus
Malta, aus Syrien und Jordanien als Kriegsflüchtlinge
aufgenommen -, sondern wir beteiligen uns sehr viel
stärker an der Aufnahme von Flüchtlingen“? Wir hätten
hier wesentlich mehr Platz für sie als andernorts und bessere Möglichkeiten, um sie zu versorgen.
Herr Abgeordneter Veit, Ihrer Aussage, dass wir alle
Anstrengungen unternehmen sollten, damit alle Menschen, die hier leben, auch hier bleiben, würde ich gerne
mit zwei Ergänzungen zustimmen: erstens, wenn sie sich
hier legal aufhalten, und zweitens, wenn sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Das ist genau der
Punkt, über den wir im Rahmen der Bleiberechtsdebatten diskutieren. Es kann keine Prämie dafür geben, dass
man hier illegal eingereist ist und mit cleveren Anwälten
möglichst lange hierbleibt. Wir können nicht sagen: Ihr
seid schon lange hier, also dürft ihr hierbleiben. - Dafür
können wir keinen Anreiz schaffen, weil das nur dazu
führt, dass Verfahren verlängert werden.
Insbesondere bei Kindern - das ist ein Beschluss der
Innenministerkonferenz, den Sie kennen -, die sich gut
integriert haben, die einen Schulabschluss haben und deren Eltern, sofern sie keine Straftäter sind, hier für ihren
Lebensunterhalt sorgen können, kann eine Bleiberechtsregelung sinnvoll sein. Aber eine Bleiberechtsregelung,
die eine Prämie dafür gibt, dass man illegal nach
Deutschland gekommen ist, und die auch noch dazu
führt, dass diejenigen, die illegal nach Deutschland gekommen sind, dem Steuerzahler dauerhaft zur Last fallen, wird meine Zustimmung nicht finden.
Wir müssen aber erst einmal die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie hier arbeiten können und dürfen.
Ja, auch darüber werden viele Debatten geführt. In
diesen Diskussionen geht es zum Beispiel um Arbeitsverbote und die Residenzpflicht; Sie kennen diese Debatten.
Noch einmal: Voraussetzung muss sein, dass der Betroffene nicht straffällig geworden ist und die Gewähr
dafür bietet, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie dauerhaft selbst zu bestreiten. Es reicht nicht aus,
dass er sich nur darum bemüht hat. An diesem Punkt gibt
es zwischen Union und SPD einen Streit. Viele von Ihnen sagen: Es muss reichen, wenn sich die Betroffenen
ernsthaft darum bemüht haben, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir sagen: Nein, der Lebensunterhalt muss gesichert sein. Das ist, wie ich glaube, ein
wichtiger Unterschied. Eine Regelung nach dem Motto
„Wer ewig strebend sich bemüht“ reicht nicht aus; denn
diejenigen, die sich bemühen, es aber nicht schaffen,
würden auf Kosten der Steuerzahler Sozialleistungen beziehen. Im Hinblick auf Personen, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und nicht straffällig geworden
sind, ist eine Bleiberechtsregelung in dem Sinne, wie Sie
es formuliert haben, auch unter dem Gesichtspunkt der
Zuwanderungspolitik sicherlich sinnvoll.
Jetzt zu der Frage des sogenannten Resettlements.
Wahr ist: Aufgrund der geografischen Lage ist die Situation in Europa unterschiedlich. Bestimmte Staaten, die
sogenannten Anrainerstaaten, leiden besonders unter Zuwanderung, andere Staaten weniger. Griechenland, Italien, Malta, Zypern und Spanien haben damit beispielsweise mehr zu tun als etwa Finnland. Vor diesem
Hintergrund wurde die Idee geboren - auch die Europäische Kommission hat diesen Vorschlag gemacht -, ein
sogenanntes Resettlement-Programm aufzulegen, das
dazu führen soll, dass die Lasten geteilt werden.
Es ist allerdings so, dass verpflichtende Quoten für
die Anrainerstaaten keinen Anreiz darstellen, illegale
Migration zu verhindern. Vielmehr würden diese Staaten
Zuwanderer aufnehmen, ein bisschen abwarten und sie
dann in Europa verteilen. Das kann nicht sinnvoll sein.
Wir halten es vielmehr für sinnvoll, die Staaten, die besondere Lasten zu tragen haben und sich mit ihren
Flüchtlingen große Mühe geben, wie es etwa Malta tut,
freiwillig mit einem Rückkehrprogramm bzw. einem
Hilfsprogramm zu unterstützen.
Wenn man sich die entsprechenden Zahlen im Hinblick auf das Resettlement ansieht, stellt man fest, dass
die Länder, die sich freiwillig zu einer Neuansiedlung
bereit erklären, mehr Zuwanderer aufnehmen als die
Länder, die nach Quoten vorgehen. Unser Nachbarland
Frankreich zum Beispiel nimmt nach einer Quote pro
Jahr 400 Zuwanderer auf. Deutschland hingegen nimmt
freiwillig Zuwanderer auf. Wir gehen gezielt und in Absprache mit den Bundesländern vor, berücksichtigen humanitäre Gesichtspunkte und wollen die Länder, die sich
im Hinblick auf Zuwanderer besonders große Mühe geben, entlasten. Insgesamt nimmt Deutschland eine größere Anzahl von Zuwanderern auf als Frankreich. Auch
mit Blick auf die nachfolgende Integration haben wir damit bessere Erfahrungen gemacht als Länder, die nach
einer verpflichtenden Quote vorgehen. Zu ResettlementProgrammen, wie sie fachlich heißen, sage ich also Ja,
aber auf freiwilliger Basis. Das ist auch im Interesse der
Flüchtlinge.
Die nächste Frage kommt von Kornelia Möller.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, zuerst
eine Korrektur: Der Migrationsbericht 2008 wurde zugeleitet - ja -, aber er wurde nicht überwiesen. Das ist ein
Unterschied. Überweisen kann ihn meiner Kenntnis
nach nur die Bundesregierung; das ist aber nicht geschehen. Das ist allerdings nicht meine Frage.
Meine Frage betrifft die Flüchtlingspolitik. Im
Jahr 2010 wurden ungefähr 41 000 sogenannte Asylanträge gestellt. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als
10 000 sogenannte Widerrufsverfahren eingeleitet, in
denen der Status von bereits anerkannten Flüchtlingen
noch einmal überprüft wurde. 3 000 Flüchtlingen wurde
ihr bereits anerkannter Status daraufhin aberkannt. Das
ist ein sehr hoher Anteil. In den meisten anderen EULändern wird nicht nach dieser Praxis verfahren. In
Frankreich allerdings gibt es sie; dort wurde nach Widerrufsverfahren ungefähr 2 Prozent der Flüchtlinge der
Status aberkannt. Meine Frage lautet: Wird die Bundesregierung diese EU-weit nahezu einzigartige Widerrufspraxis beenden, was gerade angesichts der EU-weiten Harmonisierung der Flüchtlingspolitik angemessen
wäre, und, wenn nein, warum nicht?
Zum ersten Punkt. Wir geben diesen Bericht dem
Deutschen Bundestag, wie auch immer Sie das bezeichnen. Was Sie damit machen, ist Ihre Sache. Sie können
das gern mit uns oder im Ältestenrat klären. Ich tue alles,
was der Bundestag möchte,
({0})
damit Sie das diskutieren können. An dem Terminus Überweisung oder Zuleitung - soll das nicht scheitern.
Vielleicht können wir uns darauf verständigen.
Jetzt zu Ihrer Frage. Dies ist der Migrationsbericht
2009. Sie fragen nach den Asylbewerberzahlen des Jahres 2010. Die sind in der Tat sehr hoch; sie sind angestiegen. Wenn etwa die Zahlen der Asylbewerber aus
Afghanistan und dem Irak hoch sind, ist das verständlich. Völlig unverständlich ist aber ein erheblicher - ich
sage: dramatischer - Anstieg der Asylbewerberzahlen
aus Serbien, insbesondere nachdem die Visumpflicht für
Serbien abgeschafft worden ist. Das riecht nach einem
Missbrauch des Asylverfahrens, und das werden wir
nicht hinnehmen. Wir sind hier mit der serbischen Regierung im Gespräch. So kann es nicht weitergehen. Wir
haben die Rückkehrhilfen eingestellt; wir werden entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ähnliches gilt für
Montenegro und andere Balkanstaaten. Der Wegfall des
Visumverfahrens soll nicht dazu dienen, dass Ausländer,
die Mitglied der Europäischen Union werden wollen, bequemer in Deutschland einreisen und dann hier einen
Antrag auf Asyl stellen. So war das Asylverfahren nicht
gedacht; das kann nicht richtig sein.
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Ich kann Ihre Frage zwar nicht im Detail beantworten; jedoch haben wir hier keine Rechtsänderungen vor.
Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen die Begründung im Einzelnen gern schriftlich nachliefern.
Sehr gern.
Die letzte Frage stellt nun der Kollege Dr. Ernst
Rossmann.
Herr Minister, Sie haben einen Zusammenhang zwischen dem Migrationsbericht und Bildungsfragen hergestellt. Ich möchte deshalb zweigeteilt auf ein Anliegen
zurückkommen, das uns verbindet, nämlich dass wir aus
allgemeinen Berichten wissen, dass es in Deutschland
geschätzte 300 000 bis 500 000 eingewanderte Menschen mit akademischer bzw. beruflicher Qualifikation
gibt, deren Qualifikation nicht anerkannt wird. Das Vorhaben der Bundesregierung ist ja, das über ein Anerkennungsgesetz zu ermöglichen. Das wird diesen Menschen
nun schon seit über einem Jahr versprochen, und wir fragen im zuständigen Bildungsausschuss immer wieder
nach: Wie weit ist das denn? Nun wurde uns gesagt, dass
sich bis zum 15. November letzten Jahres alle Ressorts
dazu äußern sollten und es auch durch Personalaufstockung leider noch nicht gelungen ist, das abzuarbeiten,
damit das Verfahren trotz der Zerklüftung dieser Materie
in Gang kommt. Ich bitte darum - die Regierungsbank
ist jetzt stark besetzt -, dass die Ministerien mit Hochdruck daran arbeiten, damit dieses Versprechen gegenüber diesen qualifizierten Menschen zügig eingeleitet
werden kann.
Meine erste Frage lautet daher: Können Sie als verantwortlicher Innenminister, als Treuhänder für diese
qualifizierten Menschen, nicht Ihren ganzen Einfluss für
die Bundesregierung geltend machen, damit es nicht
noch weitere Monate dauert? Was können Sie sich vorstellen, um dies zu erreichen?
Um eine präzise Frage zu einer anderen Materie nachzuschieben: Frau Kolbe wollte gern wissen, was Sie sich
als Innenminister in Bezug auf die von Ihnen so apostrophierten 32 000 hochinteressanten ausländischen Absolventinnen und Absolventen konkret vorstellen. Da haben
Sie gesetzgeberische Möglichkeiten, zum Beispiel das
Bleiberecht betreffend.
Herr Abgeordneter, zur ersten Frage: Ich werde gern
meine ganze Kraft dafür einsetzen, dass das Gesetz
schnell verabschiedet wird. Ich biete Ihnen auch an,
noch einmal bilateral mit dem Staatssekretär zu sprechen. Er hat mir eben einen Zeitraum zugeflüstert, den
ich aber nicht verbindlich nennen will.
Es liegt nicht an bösem Willen, sondern die Sache ist
kompliziert. Es ist nicht nur ein Bund-Länder-Streit. Es
gibt über 400 Stellen in Deutschland, die Abschlüsse anerkennen, beispielsweise die IHKs und die Handwerkskammern. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
reicht nicht so weit. Deswegen ist der Kernpunkt, einen
Anspruch zu schaffen, in einer bestimmten Zeit eine
Entscheidung zu bekommen. Das ist eigentlich ziemlich
wenig. Viel mehr wird aufgrund der zersplitterten Zuständigkeiten gar nicht möglich sein, und selbst das ist
nicht so leicht zu regeln. Wir arbeiten aber mit Hochdruck an der Angelegenheit, und ich will mich gerne dafür verwenden.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich kann ja verstehen, dass
Sie und Frau Kolbe danach lechzen, irgendwelche Meinungsunterschiede in der Koalition bei diesem Punkt aus
meinen Worten herauszuhören.
({0})
Ich werde Ihnen diesen Gefallen nicht tun. Wir werden
darüber vortragen, wenn wir so weit sind. Ich habe nur
gesagt, dass wir etwas tun wollen, um die hier lebenden
Absolventen besser zu stellen als jetzt.
Wie ist die Lage jetzt? Sie erhalten jetzt eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr, um sich Arbeit zu suchen. Der erste Vorschlag, der gemacht wird,
lautet, diese Frist zu verlängern. Ich halte davon wenig.
Das würde eher dazu führen, dass Arbeitgeber, die Akademiker, also Personen mit einem abgeschlossenen Studium, ohnehin mit Praktika abspeisen, dies dann zwei
Jahre statt ein Jahr lang tun. Ich halte das nicht für vernünftig.
Es gibt aber noch ein zweites Hindernis. Dabei geht
es darum, wie viel nebenbei gearbeitet werden darf. Es
ist schlecht, sie hier zu halten, wenn sie ein Jahr lang einen Job suchen, keine Arbeit finden und sich sozusagen
nicht über Wasser halten können. Deswegen gibt es
Überlegungen, bei dem Betrag oder den Tagen - wie die
Regelung genau ist, habe ich jetzt nicht im Kopf - etwas
zu verändern, sodass sie ihren eigenen Lebensunterhalt
während dieses Jahres besser darstellen können als bisher. Das hat zwei Vorteile: Sie erhalten so lange keine
Sozialleistungen, und sie sorgen selbst für ihren Unterhalt. Das führt zu mehr Bindungen.
Es gibt allerdings einen Pferdefuß; deswegen muss
man das klug machen. Wir wollen nämlich nicht, dass
ein Diplom-Ingenieur, der Taxi fährt und dadurch seinen
Lebensunterhalt bestreitet - quasi unter Niveau -, sagt:
Dann bleibe ich halt Taxifahrer, und was nach fünf Jahren ist, weiß ich nicht. - Wir wollen ihn ja da einsetzen,
wofür er ausgebildet ist. Das heißt, das Ganze darf wiederum nicht zu Fehlanreizen führen. Wir sind im Gespräch darüber, das im Detail herauszuklamüsern.
Das sind die angedachten Instrumente: Verlängerung
der Frist - davon halte ich wenig - und das Schaffen der
Gelegenheit, in diesem einen Jahr wirklich Zeit und die
Möglichkeit zu haben, einen Arbeitsplatz zu finden, der
anschließend zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht
führt. Ich glaube, das ist in der Koalition ziemlich unstreitig. Wie das im Einzelnen genau geht, werden wir
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
noch entscheiden, aber die Zielrichtung ist unstreitig,
und die unterstütze ich auch.
Damit haben wir den zeitlichen Rahmen der Regierungsbefragung mehr als ausgeschöpft. Herr Bundesminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/4406, 17/4421 Wir beginnen mit den dringlichen Fragen auf Drucksache 17/4421. Sie betreffen den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche
zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin
Dorothee Menzner auf:
Welche Auffassung über die Sicherheitsrelevanz hat die
Bundesregierung bezüglich des durch Ultraschallmessungen
festgestellten möglichen Risses einer Hauptkühlleitung innerhalb des Reaktors im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld, über
den seit dem Wochenende in den Medien berichtet wird?
Frau Kollegin Menzner, ich beantworte Ihnen die Frage
wie folgt: Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist nach seiner Sachverhaltsermittlung unter Hinzuziehung eigener Sachverständiger
und insbesondere unter Würdigung der Bewertungen der
Reaktor-Sicherheitskommission zu der Auffassung gelangt, dass eine Klärung eines bei einer Ultraschalluntersuchung festgestellten Befundes erforderlich ist, die nur
bei abgeschalteter Anlage erfolgen kann. Ob das Ultraschallsignal tatsächlich von einem Riss herrührt, ist unbekannt. Es wird jedoch sicherheitsbedingt ein Riss unterstellt.
In der betreffenden Sitzung der RSK hatte keiner der
anwesenden Experten eine Wachstumsgeschwindigkeit
des möglichen Risses für vorstellbar gehalten, welche
vor März 2011 zu einem Erreichen der sogenannten kritischen Risstiefe, ab welcher ein Durchriss des Rohres
nicht mehr auszuschließen wäre, führen würde. Deshalb
ist das BMU mit einer Klärung der Ursache im Rahmen
der Revision im März 2011 einverstanden.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, wie Sie sich denken können,
haben wir das Thema schon heute Morgen im Umweltausschuss behandelt. Dort hat der Vertreter des bayerischen Ministeriums für Umwelt und Gesundheit, Herr
Lazik, sehr ausgiebig versucht, uns deutlich zu machen,
wie sicher Grafenrheinfeld ist, dass überhaupt kein Problem vorliege und dass alle beteiligten Ämter und Behörden keinerlei Sicherheitsrisiko sähen.
Aber wenn das alles so in Ordnung, so sicher und so
unbedenklich ist, wieso empfiehlt dann der TÜV den
Austausch des unbedenklichen Teiles, was nach meinem
Kenntnisstand und meinem Verständnis doch eine etwas
aufwendigere Angelegenheit ist?
Es liegen Messergebnisse von Ultraschalluntersuchungen vor. Diesen Messergebnissen ist auch nachgegangen worden. Die Messergebnisse sagen nicht, dass es
zwingend ein Riss ist. Aber gerade weil es sich um ein
Kernkraftwerk und gerade weil es sich um einen sensiblen Bereich handelt, unterstellen wir einen solchen
möglichen Riss. Darauf richten sich die Untersuchungen.
Wir messen der Reaktor-Sicherheitskommission und
ihrer Kompetenz große Bedeutung bei, und wir - das
BMU als überwachende Behörde, aber auch das zuständige Ministerium in Bayern als unmittelbare Aufsichtsbehörde - sind gemeinsam zu der Überzeugung gelangt,
dass es ausreicht, bei der Revision im März zu detaillierteren Erkenntnissen zu kommen. Es gibt zurzeit keinen
Gefahrenverdacht. Das folgt auch aus der Beratung der
RSK.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Danke, Frau Präsidentin. - Der Vorfall war diese Woche unter anderem Gegenstand der Presseberichterstattung. Es wurde berichtet - das wurde auch heute im Ausschuss bestätigt -, dass das Bundesministerium erst
Monate später von diesem Befund Kenntnis bekommen
hatte. Dabei wurde auch deutlich, dass das nicht aufgrund eines regulären vereinheitlichten Verfahrens der
Fall war. Es war vielmehr davon die Rede, dass Experten
am Rande von Fachkonferenzen immer viel reden. In
diesem Zusammenhang sei man auf den Vorfall in Grafenrheinfeld aufmerksam geworden, was dazu geführt
habe, dass das Bundesumweltministerium Informationen
angefordert habe. Ich frage Sie: Trifft das zu? Welche
Schlussfolgerung ziehen Sie daraus für Ihre interne Aufstellung, aber auch für die zukünftige Zusammenarbeit
mit den ausführenden Landesbehörden?
In der Tat haben wir im August von Ergebnissen erfahren und uns daraufhin mit der bayerischen Aufsichtsbehörde in Verbindung gesetzt. Die Behörde hat Ermessensspielräume, wann sie informiert. Wir haben das
Gespräch intensiv gesucht. Auch das wurde berichtet.
Berichtet wurde auch, dass in einem intensiven Schriftwechsel im September, Oktober und Dezember ein AusDr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern:Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
tausch stattfand. Am 9. Dezember fand dann das Fachgespräch statt.
Es bleibt festzuhalten, dass es einen intensiven Austausch gab. Es bleibt vor allem festzuhalten, dass es zurzeit keinen Gefahrenverdacht gibt und dass die RSK zu
dem Schluss gekommen ist, dass wir bis März warten
können, um dann weiterzusehen und intensivere Untersuchungen vorzunehmen. Das ist zum jetzigen Stand
das, was das Ministerium heute Morgen im Ausschuss
sagen konnte und was ich jetzt dazu sagen kann.
Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Kotting-Uhl.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Sie sagten, die Wachstumsgeschwindigkeiten gäben
keinen Anlass, davon auszugehen, dass vor März 2011
oder überhaupt Handlungsbedarf bestehe. Ich wüsste
gerne, auf welcher Grundlage Sie die Wachstumsgeschwindigkeiten berechnen.
Wir haben gehört, dass der vermutete Riss eine Tiefe
von maximal 2,7 Millimetern hat und dass die kritische
Risstiefe bei 19 Millimetern liegt. Woher wissen Sie, in
welcher Zeit dieser 2,7 Millimeter tiefe Riss entstanden
ist? Schon 2001 ist bei einer Revision ein auffälliges
Echogeräusch festgestellt worden. Man ging bereits damals davon aus, dass es sich um einen Riss handeln
könnte. Aber woraus schließen Sie, dass anzunehmen
ist, dass das Ganze - so habe ich es gelesen - um
0,1 Millimeter im Jahr wächst? Woher nimmt man die
Gewissheit, dass dieser Riss, sofern es sich um einen
handelt, gleichmäßig wächst? Wenn wir zum Beispiel
davon ausgehen - ich finde, diese Vermutung ist nicht
allzu fern -, dass, wie wir heute nebenbei gehört haben,
der Lastfolgebetrieb, in dem der Reaktor gefahren wurde
- ich nehme an, nicht seit zehn Jahren, sondern erst in
jüngster Zeit -, durchaus etwas damit zu tun haben und
eine solche Rissbildung beschleunigen kann, dann können diese 2,7 Millimeter sehr schnell entstanden sein.
Worauf gründen sich also bitte Ihre Berechnungen?
Wir werden im März vertiefte Prüfungen vornehmen.
Ich gehe davon aus, dass die Messungen, die regelmäßig
im Rahmen periodischer Prüfungen vorgenommen werden, so zustande kommen, dass sie allen Sicherheitsanforderungen entsprechen. Wir haben in diesem Fall auch
aktiv mehr Informationen angefordert. Gleichwohl ist
nicht ein Gremium im BMU alleine, sondern die RSK
als fachliche Behörde nach Austausch mit Experten zu
der Überzeugung gekommen, dass keine Sicherheitsbedenken bestehen, jedenfalls keine, die nicht bis zum
März auf eine vertiefte Prüfung warten könnten.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Kollege Fell.
Frau Staatssekretärin, mich beunruhigt etwas, wann
das alles aufgedeckt wurde und die Daten bereitgestellt
wurden. Aus Presseberichten haben wir erfahren, dass
im Juni letzten Jahres dieses Messergebnis aufgetaucht
sei. Sie sagten, Sie hätten im August davon Kenntnis be-
kommen. Im Juni befand sich der Reaktor aber noch in
einem ungewöhnlich langen Revisionsbetrieb. Das heißt,
er war abgeschaltet. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Be-
treiber doch genauer hinschauen können, ob das besagte
Echo auf einen Riss zurückzuführen ist oder nicht. Wa-
rum kann man jetzt nur Vermutungen anstellen? Warum
gibt es nicht von vornherein Auflagen?
Ich habe große Sorgen, vor allem auch deswegen,
weil am 30. September letzten Jahres eine Schnellab-
schaltung von Grafenrheinfeld vorgenommen werden
musste, und zwar aus angeblich externen Gründen. Wie
wir aber wissen, üben Schnellabschaltungen hohe Belas-
tungen auf die Kühlmittelleitungen aus. Damit könnte
auch eine Erhöhung der Geschwindigkeit bei der Riss-
bildung zusammenhängen. Ich habe große Sorgen. Wie
können Sie sicher sein, dass bis zum März dieses Jahres
alles ohne Probleme über die Runden geht, obwohl in-
zwischen Ereignisse eingetreten sind, die a) schon wäh-
rend der Abschaltung hätten gelöst werden können und
b) durch die Schnellabschaltung möglicherweise noch
beschleunigt wurden?
Sie haben bereits heute Morgen erfahren, dass der
TÜV Süd in einer Stellungnahme vom 15. Juni zu dem
Ergebnis kam, dass es aufgrund einer sehr geringen Befundtiefe sicherheitstechnisch unbedenklich ist, den Reaktor fahren zu lassen. Die Untersuchungen im Rahmen
von Revisionen finden in Verantwortung der zuständigen
Genehmigungsbehörde statt, in diesem Fall also in Zuständigkeit des Landes Bayern. Das Bundesumweltministerium wird über die Prüfergebnisse betreffend Kernkraftwerke in der Regel nicht informiert und schaltet
sich in die Entscheidung über das Wiederanfahren
grundsätzlich nicht ein. Das ist die übliche Praxis; das
war schon immer so. Ich finde, allein dass wir im Verlaufe des Jahres nachgefragt haben, die RSK damit befasst haben, Informationen gesammelt haben und unsere
Aufsichtspflicht ernst genommen haben, sollte Ihnen einen Teil Ihrer Bedenken - hoffentlich - nehmen können.
({0})
Herr Kollege Röspel, bitte.
Frau Staatssekretärin, von welcher Haltbarkeitsdauer
geht man bei einer solchen Hauptkühlleitung aus? Ist
diese bereits überschritten?
Ich kann Ihnen keine Jahreszahlen nennen. Es geht
aber auch nicht um eine Jahreszahl, sondern darum, ob
ein Teil funktionsfähig und intakt ist oder nicht. Sollten
Zweifel bestehen, muss ein sensibles Teil ausgetauscht
werden. Ich wiederhole mich: Sollten im März die vertieften Ultraschallmessungen und andere Messungen zu
dem Ergebnis kommen, dass ein Austausch erforderlich
ist, muss und wird ein Austausch vorgenommen werden.
Ich kann Ihnen die Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt
aber noch nicht nennen.
Damit kommen wir zur dringlichen Frage 2 der Kollegin Dorothee Menzner:
Welche unmittelbaren Maßnahmen zur Gefahrenabwehr
und zur Prüfung des neuesten Vorfalls im Atomkraftwerk
Grafenrheinfeld hat die Bundesregierung eingeleitet?
Frau Kollegin Menzner, ich antworte wie folgt: Das
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat sich von der zuständigen Atomaufsichtsbehörde des Freistaates Bayern schriftlich und
mündlich über den Sachverhalt informieren lassen und
hat darüber hinaus Bewertungen von eigenen Gutachtern
und der Reaktor-Sicherheitskommission eingeholt, so
wie ich es eben dargestellt habe.
Im Hinblick auf die weiter gehende Bedeutung des
Ereignisses hat das BMU die Gesellschaft für Anlagenund Reaktorsicherheit, GRS, mit der Erstellung einer
Weiterleitungsnachricht beauftragt. Durch diese Weiterleitungsnachrichten soll sichergestellt werden, dass andere deutsche Kernkraftwerke über den Sachverhalt aufgeklärt werden und, soweit erforderlich, geeignete
Prüfungen vornehmen sowie Maßnahmen ergreifen.
Ihre Zusatzfrage, Frau Menzner.
Danke, Frau Vorsitzende. - Diesen recht umfangreichen Maßnahmen - wenngleich sie mit deutlichem Zeitverzug erfolgen - entnehme ich, dass die Bundesregierung diesen Befund als nicht ganz so harmlos einstuft,
wie uns glauben gemacht werden soll. Ich frage Sie, ob
Sie es für normal halten, dass sogar die Mitglieder des
zuständigen Ausschusses solche Vorgänge, solche Probleme, solche Debatten erst aus den Medien erfahren.
Ich weise zurück, dass die Bundesregierung Vorkommnisse verharmlost oder Informationen nicht in erforderlichem Maße gibt. Wir haben im Ausschuss die
entsprechenden Informationen gegeben. Auch im Ausschuss heute Morgen wurde erläutert, wie intensiv der
Kontakt zu den bayerischen Behörden war. Dass wir andere Kraftwerksbetreiber darüber informieren und bitten, Prüfungen vorzunehmen, ist ein weiterer Beleg dafür, wie sensibel wir mit dem Thema Sicherheitsrelevanz
bei Kernkraftwerken umgehen.
Eine weitere Zusatzfrage?
Frau Staatssekretärin, es ist vollkommen richtig, dass
Sie heute auf Antrag aus den Reihen der Ausschussmitglieder Bericht erstattet haben. Eine solche Nachfrage
war uns aber erst möglich, nachdem wir die Presseberichterstattung kannten.
Ich möchte Sie an dieser Stelle noch einmal fragen,
wie Sie für zukünftige Fälle gewährleisten wollen, dass
der Informationsfluss zwischen den Ländern und dem
Bund besser läuft und man nicht auf zufällig ausgetauschtes Wissen am Rande von Fachkonferenzen angewiesen ist - so wurde es zumindest heute Morgen dargestellt -, um erst dann Informationen von den jeweils
zuständigen Landesbehörden anzufragen. Mir erscheint
- das gilt sowohl innerhalb des Parlaments als auch beim
Austausch zwischen den Ländern und der Bundesebene - noch einiges optimierungsfähig.
Ich kann hier keine Zufälligkeiten erkennen. Gleichwohl geht es immer darum, die Kommunikationswege
zu verbessern. Allerdings gibt es eine klare Aufgabenteilung zwischen der Zuständigkeit der aufsichtsführenden
Landesbehörden und dem Bund. Wir wollen es bei dieser bewährten Aufgabenteilung, deren Funktionsfähigkeit uns durch internationale Kommissionen in der letzten Legislaturperiode bestätigt wurde, belassen.
Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Kotting-Uhl.
Frau Staatssekretärin, wir reden hier nicht von einem
Vorkommnis, das sich irgendwo im Außenbereich des
Atomkraftwerks abgespielt hat. Wir reden von einem
Befund aus dem Innersten, aus dem nuklearen Teil des
Reaktors. Wenn dieser Befund tatsächlich zu einem Störfall führen würde, dann hätten wir einen Störfall der
Stufe 3. Das ist in Deutschland bisher noch nicht vorgekommen. Das heißt, die ganze Anlage wäre atomar
verseucht, was entsprechende Auswirkungen hätte. Da
erscheint mir doch das Wort „Sensibilität“, das Sie jetzt
einige Male bemüht haben, nicht ganz richtig angewendet.
Ich will Sie fragen, wie es sein kann, dass ein solcher
Störfall, der eventuell nicht gemeldet wurde - das hat
sich nämlich heute Morgen im Umweltausschuss nicht
so angehört -, sondern mehr zufällig im August letzten
Jahres bei irgendeiner Begegnung übermittelt wurde, der
dem BMU aber immerhin bekannt war, nicht sofort, wie
es - das will ich betonen - üblich ist bei Befunden im
Primärkreislauf, dazu geführt hat, das entsprechende
Atomkraftwerk abzuschalten, der Ursache auf den
Grund zu gehen und, nachdem man die Ursache für den
Befund kennt, zu entscheiden, ob das Atomkraftwerk
wieder ans Netz kommt. Erklären Sie mir bitte, wie es
sein kann, dass dieses Atomkraftwerk von August bis
heute ungehindert weiterlief und man jetzt sagt: Jetzt lassen wir es weiterlaufen; denn es steht demnächst ohnehin eine Revision an, das reicht. - Das ist ein Tabubruch.
Dies bricht mit dem, was bisher üblich war.
Auf Basis der Berechnungen, die vorliegen, kann
nicht festgestellt werden, dass es ein von Ihnen unterstelltes erhebliches Sicherheitsrisiko gibt. Noch einmal:
Das haben Experten des Umweltministeriums in Zusammenarbeit mit der RSK festgestellt. An der Betriebssicherheit des Kernkraftwerks - das ist entscheidend - bestehen keine Zweifel. Auch wenn ein hypothetischer
Abriss - das ist das, was Sie beunruhigt - der Volumenausgleichsleitung an der befundbehafteten Stelle im
Kraftwerk Grafenrheinfeld unterstellt würde, würde ein
solcher Störfall von der Anlage beherrscht werden. Auch
das ist eine Aussage, die heute Morgen im Ausschuss sowohl von der Leitung des Hauses als auch von dem
bayerischen Ministerium so bestätigt wurde.
Herr Kollege Fell zur nächsten Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie sagen, an der Sicherheit des
Kernreaktors bestünden keine Zweifel. Ich könnte das
nur dann nachvollziehen, wenn es Beobachtungen gäbe,
deren jeweilige Erklärung wir kennen würden. Aber es
gibt Beobachtungen, die Fragen aufwerfen, die auch die
Experten heute - weder die vom bayerischen Umweltministerium noch die vom Bundesumweltministerium nicht zufriedenstellend beantworten konnten. Im Gegenteil: Sie konnten sogar überhaupt keine Antwort auf
meine Frage geben.
Der Zeitraum der Revision wurde im letzten Jahr um
über einen Monat verlängert, weil Auffälligkeiten, nämlich erhebliche Mengen von radioaktivem Eisen, Chrom
und Nickel, festgestellt wurden. Dieses Eisen, Chrom
und Nickel kann nur aus der Leitung an anderer Stelle
gekommen sein. Das heißt, es muss irgendwo etwas erodieren; sonst wären in dem Kühlmittel nicht solche großen Mengen, die immerhin zu einer Verlängerung des
Revisionszeitraums geführt haben.
Auf meine Frage, ob das denn nicht untersuchenswert
wäre und ob sie denn eine Antwort darauf hätten, woher
diese Mittel kommen, hatten sie eigentlich nur ein Achselzucken übrig. Sie wussten nichts. Dasselbe gilt für die
andere Frage, nämlich ob eine Schnellabschaltung möglicherweise die Rissgeschwindigkeit erhöht: auch darauf
nur Achselzucken. Aber es gibt diese Fragen, Frau
Staatssekretärin. Damit ist doch bei der Bewertung, dass
da kein Sicherheitsrisiko vorliegen würde, keine Sicherheit vorhanden. Es muss zu einer vorsorglichen Handlung kommen, die bisher auch immer üblich war, nämlich dass der Reaktor vorsorglich abgeschaltet wird, um
diese Auffälligkeiten näher zu untersuchen und festzustellen, ob sie ein Problem darstellen oder nicht.
Frau Staatssekretärin Heinen-Esser hatte Ihnen bereits
heute Morgen angeboten, die Ereignismeldung, die Informationen enthält, weiterzuleiten. Ich möchte wiederholen, Herr Kollege Fell, dass zurzeit kein Gefahrenverdacht vorliegt, dass wir uns in dieser Bewertung mit der
Reaktor-Sicherheitskommission in Übereinstimmung sehen und dass, wenn die Prüfung im März ergeben sollte,
dass ausgetauscht werden muss, auch ausgetauscht werden wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt liegt kein Gefahrenverdacht vor.
Dann kommen wir zur dringlichen Frage 3 der Kollegin Kornelia Möller zum selben Sachverhalt:
Welche Informationen bzw. Erkenntnisse haben die Experten in der Abteilung für Reaktorsicherheit des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, BMU,
dazu bewogen, die sofortige Abschaltung des Reaktors Grafenrheinfeld und den sofortigen Austausch des mit einem Riss
versehenen Bauteils nicht mehr zu fordern?
Auch Frau Kollegin Möller möchte gerne Auskünfte,
Erkenntnisse und Informationen zu Grafenrheinfeld haben. Ich wiederhole mich insofern, als das Bundesumweltministerium nach seiner Sachverhaltsermittlung
- unter Hinzuziehung eigener Sachverständiger und insbesondere unter Würdigung der Bewertungen der Reaktor-Sicherheitskommission - zu der Auffassung gelangt
ist, dass die erforderliche Klärung eines bei einer Ultraschalluntersuchung festgestellten Befundes nur bei abgeschalteter Anlage erfolgen kann.
Ich hatte auch ausgeführt, dass in der betreffenden
Sitzung der Reaktor-Sicherheitskommission keiner der
anwesenden Experten ein Wachstum des möglichen Risses für vorstellbar gehalten hatte. Wir werden somit im
März 2011 eine erneute Überprüfung durchführen und
haben uns einverstanden erklärt, im Rahmen der Revision im März 2011 eine Klärung - so wie ich es hier bislang auch im Rahmen der Fragen beantwortet habe - zu
erreichen.
Sie haben eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Möller? Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin, ich habe Sie bei der Beantwortung der
ersten Frage so verstanden, als sei es ungewiss, dass es
einen Riss gebe. Es sei unwahrscheinlich, dass dieser
Riss vor März eine relevante Größe erreichen werde.
Der Kollege Fell hat jetzt Fragen gestellt, die sehr besorgniserregend sind und auf die es keine Antworten gegeben hat. Das Ganze erscheint mir sehr schwammig.
Obwohl ich die Wiederholung von Ihnen gehört habe,
dass dieser Riss keine relevante Größe hat, dass alles gut
ist und dass eine Prüfung im März reicht, habe ich
- auch hinsichtlich der Bürgerinnen und Bürger, die in
der Nähe und im weiteren Umkreis leben müssen - Befürchtungen. Denn es erscheint doch sehr deutlich, dass
Sie nicht wissen: Ist es nun gefährlich, oder ist es nicht
gefährlich?
Dazu meine Frage. Wenn es sich bei dem Störfall um
die Stufe 3 handeln würde, dann würde das bedeuten,
dass der ganze Bereich verseucht wäre. Sie sagen, das
habe man im Griff. Sind Sie sich da sicher? Können Sie
angesichts all dieser Ungewissheiten, all dieses Nichtwissens und Nicht-Beantworten-Könnens von relevanten Fragen gerade in diesem Bereich, der eine derartige
Gesundheitsgefährdung für Menschen bedeutet, so
leichtfertig damit umgehen, dass Sie sagen: „Es reicht,
wenn das im März überprüft wird“?
Erstens: Die Bundesregierung nimmt ihre Aufsichtsfunktionen und ihre Aufsichtspflichten sehr ernst. Zweitens: Den Vorwurf der Leichtfertigkeit möchte ich auch
an dieser Stelle zurückweisen. Drittens: Es gibt Ultraschalluntersuchungen - es tut mir leid, dass ich mich
wiederhole; aber offenbar ist es doch noch nicht angekommen -, die vermuten lassen, es könnte ein Riss vorliegen. Wir wissen nicht, ob tatsächlich ein Riss vorliegt.
Aber allein die Vermutung, dass ein Riss vorhanden sein
könnte, lässt uns alle Maßnahmen ergreifen, weiter auf
diesen Befund hin zu forschen. Der aktuelle Befund ist
allerdings nicht geeignet, einen Gefahrenverdacht zu begründen. Auch die Experten der Reaktor-Sicherheitskommission haben dies so bestätigt.
Im Zusammenspiel von TÜV, RSK und GRS, aber
auch im Zusammenspiel der Aufsichtsbehörden in Bayern und dem Bundesumweltministerium sind wir zu dem
Ergebnis gekommen, bei der Revision im März vertieft
zu schauen. Der Reaktor wäre allerdings nicht angefahren worden, hätten die Behörden in Bayern Gegenteiliges oder Besorgniserregendes festgestellt.
Ihre zweite Zusatzfrage, Frau Möller.
Meine zweite Zusatzfrage ist: Können Sie definitiv
ausschließen, dass dieser Riss eine relevante Größe erreicht?
Wir wissen nicht, ob es ein Riss ist; auch das muss
festgestellt werden. Das lässt sich mittels Ultraschalluntersuchungen nicht feststellen. Allein der Verdacht, es
könnte ein Riss vorliegen, lässt uns alle nötigen Maßnahmen ergreifen. Wir haben sie bereits ergriffen und
werden sie im März fortführen.
Das Wort zu einer Zusatzfrage hat die Kollegin
Menzner.
Frau Staatssekretärin, diese Fragestellung - auch das
Bekanntwerden der möglichen Probleme an dem Hauptkühlsystem - kam in einer Zeit auf, wo in diesem Land
doch recht emotional über die Möglichkeit - das wurde
dann von Ihrer Koalition auch umgesetzt - einer Laufzeitverlängerung diskutiert wurde. Wir und mit uns viele
andere halten dies für kontraproduktiv und gefährlich.
Der Verdacht liegt einfach nahe, dass es in solch einer
Situation, bei einer so schwerwiegenden Sicherheitsfrage - ich spreche nicht von einem Problem - politisch
ungewünscht war, das Ganze öffentlich zu machen, diesen Reaktor abzuschalten, um der Sache auf den Grund
zu gehen. Natürlich war diese Frage auch vom Betreiber
Eon ökonomisch nicht erwünscht. Was sagen Sie dazu?
Ich sehe den von Ihnen konstruierten Zusammenhang
nicht. Wir haben unsere Entscheidung in Abwägung des
Vorhabens getroffen, die erneuerbaren Energien auszubauen. Wir brauchen die Kernenergie und fossile Energieträger als Brücke. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht schneller voran, als wir alle für möglich
gehalten hätten. Wir brauchen aber für die Übergangszeit die Kernenergie. Mit der Atomgesetznovelle haben
wir gezeigt: Wir werden das Thema Sicherheit neu anpacken und werden Sicherheitspflichten dynamisch einführen, um das Maximum an Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger zu gewährleisten.
Herr Kollege Fell hat noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, das Sicherheitsrisiko wird auch
dann erhöht, wenn es zu Schnellabschaltungen kommt.
Die hydraulische und thermische Belastung von Kühlmittelleitungen werden dadurch drastisch erhöht, und
Gefahrenstellen, wie mögliche Risse, werden damit zu
einem größeren Sicherheitsrisiko. Können Sie ausschließen, dass bei diesem Reaktor bis zum März kommenden
Jahres keine Schnellabschaltungen mehr stattfinden?
Können Sie auch ausschließen, dass, wenn es doch zu einer Schnellabschaltung kommt, diese Rissbildung, die
möglicherweise doch vorhanden ist - Sie wissen es nach
Ihren Bekundungen ja nicht -, zu einem wirklich probleHans-Josef Fell
matischen Störfall in diesem Reaktor führt? Können Sie
diese Ereignisse mit Sicherheit ausschließen?
Wir reden von März - der ist in zwei Monaten - und
nicht vom kommenden Jahr. Ich bin der Überzeugung,
dass auf Grundlage der Erkenntnisse der Reaktor-Sicherheitskommission, des TÜV Süd und der aufsichtsführenden Behörden dieses Kernkraftwerk weiterlaufen wird.
Um mögliche weitere Erkenntnisse zu gewinnen, werden wir die Revision im März sorgfältig durchführen
und gegebenenfalls Teile austauschen.
Frau Kollegin Kotting-Uhl.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben zum einen ausgeführt, dass die erneuerbaren Energien ziemlich schnell
wachsen, und Sie haben zum anderen noch einmal die
Laufzeitverlängerung begründet; sie sei notwendig und
gerechtfertigt. Vonseiten der Befürworter der Laufzeitverlängerung haben wir immer wieder das Argument gehört, Atomkraft und erneuerbare Energien passten gut
zusammen, man könne Atomkraftwerke sehr gut im
Lastfolgebetrieb fahren. Bisher wussten wir offiziell
nicht, welche Atomkraftwerke tatsächlich im Lastfolgebetrieb gefahren werden. Wir haben heute im Umweltausschuss eher zufällig gehört, dass Grafenrheinfeld so
gefahren wurde. Es gab schon immer und es gibt bei
vielen Wissenschaftlern den Vorbehalt gegen diesen
Lastfolgebetrieb. Sie sagen: Das führt zu schnellerer
Versprödung, und schnellere Versprödung könnte zu
Rissbildung führen. Wie weit gehen Sie den Fragen nach
einem Zusammenhang zwischen gefahrenem Lastfolgebetrieb und dieser Rissbildung nach?
Ich kann die Frage nach einem Zusammenhang, gerade
im Fall Grafenrheinfeld - darüber reden wir hier ja -, weder bejahen noch verneinen. Gleichwohl ist es richtig,
dass ein Kernkraftwerk, das stark beansprucht ist, das
hoch- und herunterfahren muss, ein hohes Maß an Sicherheit liefern muss. Wir werden dieser Frage - ich
wiederhole mich - im März erneut nachgehen, nachdem
eine Revision erfolgt ist, um sicherzustellen, dass dieses
Kernkraftwerk weiter sicher betrieben werden kann.
Sollten sich Teile als nicht mehr gebrauchsfähig erweisen, dann müssen und werden sie ausgetauscht werden.
Nun rufe ich die dringliche Frage 4 der Kollegin
Kornelia Möller zum selben Sachverhalt auf:
Wie kann es sein, dass ein Vorfall, der nach Meinung von
Experten in der Abteilung für Reaktorsicherheit des BMU einen möglichen „Störfall der Stufe 3 - meldepflichtiger Störfall“ zur Folge hätte bzw. als solcher kategorisiert worden
wäre, von dem Betreiber Eon als ungefährlich eingestuft worden ist und erst sechs Monate nach dessen Bekanntwerden an
das BMU gemeldet wurde?
Ich antworte auf diese Frage wie folgt: Der Betreiber
hielt eine Meldepflicht für zunächst nicht gegeben, entschied sich aber nach der vertieften Diskussion des Ereignisses in der RSK im Dezember 2010, vorsorglich
eine Ereignismeldung nachzureichen.
Sie haben eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, es ging gerade um einen neuen Sachverhalt, nämlich
um die extreme Belastung für das Material mit der Gefahr einer bestehenden Versprödung. Mir ist nicht ganz
eingängig, warum Sie den Vorfall nicht sofort prüfen. Es
handelt sich zwar nur um zwei Monate, aber immerhin
sind es zwei Monate, das heißt, es handelt sich um einen
Zeitraum, der relevant sein kann. Warum wird nicht sofort abgeschaltet? Ich sage das gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung - ich komme immer wieder auf
das Thema Verantwortung zurück -, die die Bundesregierung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern hat; denn
man merkt an Begriffen wie „ungewiss“ und „unwahrscheinlich“, dass sie eine Gefahr nicht wirklich ausschließen können. Daher meine Frage: Was bedeutet für
Sie Verantwortung? Ist es ein verantwortliches Umgehen, zwei Monate abzuwarten?
Die Aufsichtsbehörde hat im Schriftwechsel und auch
heute im Fachausschuss klargemacht, dass an der Betriebssicherheit des Kernkraftwerks keine Zweifel bestehen. Wir sind deshalb gemeinsam zu der Auffassung gekommen, dass es ausreicht, diesen Fragen im Rahmen
der Revision im März nachzugehen.
Frau Möller, bitte sehr.
Vielen Dank. - Ich habe noch eine kurze Frage. Nachdem ich immer „wir“ höre, frage ich Sie persönlich:
Wenn Sie bei einem Störfall, der nicht ausgeschlossen
werden kann, persönlich haftbar wären, würden Sie dann
sofort abschalten, oder würden Sie diese zwei Monate
abwarten?
Die Frage nach der persönlichen Haftung ist wohl
eher rhetorischer Natur. Sie können sich darauf verlassen, dass das Bundesumweltministerium als Bundesauf9304
sicht alles tut, um den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken zu gewährleisten, um in einem engen Austausch
der Aufsichtspflicht nachzukommen, und mit den aufsichtsführenden Behörden darauf achtet, dass ein maximales Maß an Sicherheit gegeben ist.
Frau Kollegin Kotting-Uhl.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten eben, der Betreiber
hielt die Meldepflicht für nicht angemessen. Es handelt
sich um eine Unregelmäßigkeit im Primärkreislauf. Teilen Sie die Ansicht des Betreibers, dass hier die Meldepflicht nicht angemessen war?
Wir haben im Verlauf des Erkenntnisgewinns - ({0})
- Entschuldigung, Sie möchten eine Antwort von mir,
Frau Kotting-Uhl. Ich unterbreche Sie auch nicht bei der
Fragestellung. Ich würde also gerne antworten, Frau
Kollegin Kotting-Uhl.
({1})
Wir haben den Betreiber und auch die aufsichtsführende Behörde gebeten, die RSK damit zu beschäftigen,
um Sicherheit beim Erkenntnisgewinn und auch bei einer Entscheidung über einen Weiterbetrieb zu erhalten.
Wir haben dies in der Diskussion mit den Experten entschieden und sind deshalb zu dem Schluss gekommen,
dass während der Revision im März 2011 die umfängliche Prüfung erfolgen kann.
({2})
Frau Kollegin, die Frau Staatssekretärin antwortet.
({0})
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Ich habe geantwortet.
Dann kommen wir zur Nachfrage der Kollegin
Menzner.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben ausgeführt, dass
es sich nach Einschätzung des Betreibers um eine freiwillige Mitteilung und keine Pflichtmitteilung handelte,
dass der Vorfall also nicht unter die Mitteilungspflicht
fiel. Das Bundesministerium hat es aber sehr wohl als
notwendig erachtet, die Informationen, die Sie offensichtlich haben - so haben Sie es auch ausgeführt -, anderen Betreibern von AKWs zu übermitteln mit der
Bitte, zu überprüfen, ob das für sie eventuell relevant
wäre. Also scheinen Sie doch die Einschätzung zu haben, dass es sich um eine Störung von einer gewissen Sicherheitsrelevanz handelt mit der Möglichkeit, dass es
auch in anderen Anlagen zu ähnlichen Vorfällen kommt.
Ich füge an: Das ist doch gerade dann von Bedeutung,
wenn wir von vermehrtem Lastfolgebetrieb und damit
erhöhter Beanspruchung von Kühlsystemen reden.
Was bedeutet dieser Zusammenhang für Sie, wenn es
darum geht, wie Betreiber die Frage „Was ist meldepflichtig, und was melden wir freiwillig?“ selbst einschätzen? Sind also die Kriterien dafür, was Betreiber zu
melden haben, aus Ihrer Sicht ausreichend, oder muss da
nachgearbeitet werden, wenn bei einem Ereignis, das Sie
so einschätzen, dass Sie es an andere zur Kontrolle und
Prüfung weitermelden, der Betreiber zu der Einschätzung kommt, dass es um eine freiwillige Meldung geht?
Im Rahmen der Befragung hier ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es in 2001 im Rahmen einer Revision einen Hinweis gegeben hat. Bayern hat heute
noch einmal ausgeführt, dass aufgrund des Prüfbefundes
ein tatsächliches Risswachstum nicht nachgewiesen werden konnte. Wir sagen: Es muss weiter überprüft werden. Für März wurde die Überprüfung angesetzt. Wir
warten jetzt auf die Ergebnisse.
Ich gehe davon aus, dass die Betreiber ihren Meldepflichten nachkommen. Sollte es Unregelmäßigkeiten
geben, wird nachgesteuert. Ich kann das im vorliegenden
Fall - über diesen sprechen wir - aber nicht erkennen.
Die dringlichen Fragen sind damit aufgerufen und beantwortet. Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen.
Wir kommen dann zur Beantwortung der Fragen auf
Drucksache 17/4406 in der üblichen Reihenfolge und
beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Für die Beantwortung
der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Helge Braun zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 1 des Kollegen René
Röspel auf:
Warum hat die Bundesregierung bei der Ausgestaltung des
Gesundheitsforschungsprogramms darauf verzichtet, konkrete
Forschungsansätze für Hilfsangebote insbesondere für chronisch Kranke zu entwickeln?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Kollege
Röspel, das Gesundheitsforschungsprogramm ist die
strategische Grundausrichtung der Gesundheitsforschung der Bundesregierung für die nächsten Jahre. Deshalb gliedert es sich in verschiedene Aktionsfelder. Selbstverständlich ist der Bereich von Hilfsangeboten
insbesondere für chronisch Kranke ein wichtiges Arbeitsfeld. Sie fragen hier, warum wir nicht konkrete Forschungsansätze im Gesundheitsforschungsprogramm thematisieren. Das liegt daran, dass dieser Bereich
sicherlich im Wesentlichen unter das Aktionsfeld 4
- Versorgungsforschung - subsumiert werden kann. Unter dem Dach des Rahmenprogramms, das sich in
Schwerpunkte aufteilt, werden konkrete Förderlinien ins
Leben gerufen. Aktuell gibt es zum Beispiel die Fördermaßnahme „Versorgungsnahe Forschung“, die sich sehr
stark mit der langfristigen Wirksamkeit von Versorgungsleistungen beschäftigt. Das ist quasi eine Ebene
unterhalb des Rahmenprogramms und damit an dieser
Stelle nicht thematisiert.
Aber dass wir auf dem Gebiet viel tun, mögen Sie daran sehen, dass wir gemeinsam mit der Deutschen Rentenversicherung Bund, der gesetzlichen und der privaten
Krankenversicherung insgesamt 11 Millionen Euro für
diesen Bereich aufgewendet haben. Davon beträgt allein
der Anteil des BMBF 7 Millionen Euro. Bereits im Mai
dieses Jahres werden wir eine neue Förderrunde einleiten. Insofern ist dies sicherlich ein Ansatz, der auch im
Rahmen der Gesundheitsforschung der Bundesregierung
verfolgt wird; aber er ist zu konkret, als dass wir ihn im
Gesundheitsforschungsprogramm neben all den vielfältigen Aktivitäten der Gesundheitsforschung in Deutschland so ansprechen könnten, wie Sie es sich vielleicht erhofft haben.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte.
Vielen Dank. - Ich stelle allerdings fest, dass der Bereich „Pflege- und Versorgungsforschung“ nur einen ganz
geringen Teil des Gesundheitsforschungsprogramms ausmacht, nämlich nicht einmal 2 Seiten von 50. Da finde ich
keine Ansätze für konkrete Maßnahmen. Warum misst
die Bundesregierung der Pflege- und Versorgungsforschung, die vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels und für ganz viele Menschen, die pflegend tätig
sind oder gepflegt werden müssen, so wichtig ist, nur einen so geringen Stellenwert bei?
Lieber Herr Kollege Röspel, wenn bei Ihnen der Eindruck entstanden ist - Sie haben die Seiten, die sich mit
diesem Thema befassen, gezählt -, dass für uns dieser
Bereich nicht wichtig ist, dann muss ich Ihnen sagen,
dass das nicht der Fall ist. Es ist ein ganz wichtiger
Punkt. Wir haben bereits im Jahr 2010 gemerkt, dass im
Bereich der Versorgungsforschung die von uns durchgeführten Ausschreibungen überaus gut angenommen worden sind. Wir haben zahlreiche, qualitativ sehr hochwertige Anträge bekommen. Deshalb führen wir diesen
Prozess fort und intensivieren ihn.
Wenn Sie auf konkrete Maßnahmen abstellen, dann
muss ich Ihnen klar sagen: Wir haben in der Vergangenheit vielleicht etwas konkreter die Forschungsmethodik
benannt. Aber ein Wunsch aus der Wissenschaft war,
dass Politik das tun sollte, was sie besonders gut kann,
nämlich die gesellschaftlichen Herausforderungen zu definieren. Das haben wir im Gesundheitsforschungsprogramm für den Bereich der Versorgungsforschung sehr
konkret getan. Diese Forschung ist einer der Schwerpunkte des Programms.
Wir definieren aber nicht die Methoden im Einzelnen.
Ich will Ihnen auch sagen, warum nicht. Das Gesundheitsforschungsprogramm soll für die Dauer von vielen
Jahren Leitlinie sein. Wir wollen diejenige wissenschaftliche Methodik, die zur Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen am besten geeignet ist, fördern.
Wenn wir im Gesundheitsforschungsprogramm einen
stärker technologieorientierten Ansatz wählen würden,
würden wir Gefahr laufen, dass eine neue Technologie
oder eine noch nicht ausreichend erprobte Technologie
aus dem Gesundheitsforschungsprogramm herausfallen
würde. Das ist unter dem Stichwort „missionsorientierter
Ansatz“ zu verstehen.
Diese strukturelle Veränderung ist auch in den großen
Forschungsprogrammen anderer Wissenschaftsnationen
heutzutage üblich. Insofern handelt es sich um eine Modernisierung, die aber nicht bedeutet - das sage ich ganz
deutlich -, dass wir diesem Bereich in irgendeiner Weise
eine geringere Priorität beimessen. Ganz im Gegenteil:
Die Versorgungsforschung ist ein relevanter Teil und damit ein Schwerpunkt des Gesundheitsforschungsprogramms.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Mein Einwand, dass auf dieses Thema nur 2 von
50 Seiten entfallen, ist vielleicht etwas zu kurz gegriffen.
Daher möchte ich Sie konkreter fragen: Wie hoch ist der
Anteil der finanziellen Mittel am Gesundheitsforschungsprogramm, die auf die Versorgungs- und Pflegeforschung entfallen? Liegt dieser Anteil ebenfalls bei
1 zu 25?
Das unterliegt letzten Endes der Ausgestaltung der
Förderlinien. Darüber wird jährlich entschieden. Wir haben im vergangenen Jahr 20 Millionen Euro für den Bereich der Versorgungsforschung in dem entsprechenden
Programm aufgewendet. Wir werden im kommenden
Jahr im Zuge des Aufwuchses der Mittel für den Gesundheitsbereich mehr Geld im Haushalt dafür zur Verfügung stellen.
Wir kommen zur Frage 2 des Kollegen Röspel:
Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung
im Nachgang zur Vorstellung des Gesundheitsforschungsprogramms, um die Defizite bei den strukturellen Voraussetzungen für die klinische Forschung in Deutschland abzumildern?
Sehr geehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen für diese
Frage, weil sie ein Thema anspricht, das auch aus unserer Sicht eine große Bedeutung hat.
Die klinische Forschung ist diejenige Forschung in
Deutschland, die dazu beiträgt, dass die vielen Erkenntnisse, die in der Grundlagenforschung gewonnen werden, letztlich dem Menschen zugutekommen. Deshalb
ist die klinische Forschung für uns außerordentlich wichtig.
Der Wissenschaftsrat hat in den letzten Jahren und
Jahrzehnten immer wieder bemängelt, dass die klinische
Forschung in Deutschland nicht den Stellenwert hat, den
sie haben sollte. Darauf hat die Bundesregierung in vielfältiger Weise reagiert. So haben wir zum Beispiel rund
200 Millionen Euro für die Integrierten Forschungs- und
Behandlungszentren aufgewandt, die ihre Arbeit in den
Jahren 2008 bis 2010 begonnen haben. Im Jahr 2011 beginnt die zweite Förderphase der Initiative „Klinische
Studienzentren“. Wir haben fünf solcher Zentren.
Darüber hinaus haben wir für Mai geplant, eine Zwischenbilanz des gemeinsamen Förderprogramms „Klinische Studien“ von DFG und unserem Hause zu ziehen.
Wir unterstützen auch die Beteiligung deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an europäischen
Initiativen wie zum Beispiel einem Netzwerk von
klinischen wissenschaftlichen Infrastrukturen auf europäischer Ebene. Damit das gut funktioniert, werden wir
in den Jahren 2011 bis 2014 den Aufbau eines entsprechenden Büros vorantreiben. Wir wollen die Wissenschaftler mit insgesamt 2 Millionen Euro unterstützen,
damit sie sich im europäischen Kontext besser an den
klinischen Studien beteiligen können.
Ich will zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Man
kennt zwar nicht genau die Anzahl der klinischen Studien in Gänze. Aber wir kennen die Zahl der klinischen
Prüfungen von Arzneimitteln sehr präzise. Da finden im
europäischen Vergleich inzwischen in Deutschland in
absoluten Zahlen die allermeisten statt. Insofern kann
man davon ausgehen, dass Deutschland heute ein Standort für klinische Studien ist - mit außerordentlich großer
Expertise.
Ihre Nachfrage.
Welche Maßnahme wird die Bundesregierung in diesem Jahr konkret durchführen, um den wissenschaftlichen Nachwuchs im Bereich der medizinischen und insbesondere klinischen Forschung stärker zu fördern?
Herr Kollege, zum einen haben wir im Rahmen des
Gesundheitsforschungsprogramms einen zusätzlichen
Schwerpunkt auf Nachwuchsforschergruppen gelegt.
Bei den Ausschreibungen wollen wir darauf achten, dass
in Zukunft die Fördergelder im Rahmen des Gesundheitsforschungsprogramms insbesondere auch jungen
und innovativen Forschergruppen zuteilwerden. Ich
glaube, da setzen wir ein sehr deutliches Signal.
Darüber hinaus werden wir dann ab Mai nach den Erfahrungen aus dem Programm, das wir gemeinsam mit
der DFG im Bereich der klinischen Studien machen,
über eine Fortsetzung reden und auf die Frage Antwort
geben, was wir in der ersten Förderrunde für Erfahrungen gesammelt haben. Insgesamt steigt die Aufwendung
des BMBF für den Bereich der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern.
Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Michael Gerdes
werden schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich die Frage 5 der Kollegin Marianne
Schieder auf:
Welche Auswirkungen der beschlossenen Haushaltskürzungen auf die Fördertätigkeit für die Begabtenförderwerke
im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das laufende Jahr sind der Bundesregierung bereits
bekannt bzw. erwartet die Bundesregierung?
Sehr geehrte Frau Kollegin Schieder, durch einen
Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses vom
11. November - das ist die Drucksache 17/({0})2769 konnten die verfügbaren Mittel für die Begabtenförderung im Jahr 2011 noch einmal um 33 Millionen Euro
erhöht werden. Deshalb sind keine negativen Auswirkungen für die Begabtenförderungswerke in diesem Jahr
zu erwarten. Ganz im Gegenteil: Zum Sommersemester
startet die Erhöhung des Büchergelds von 80 auf
150 Euro. Darüber hinaus erhalten die Studierenden der
Begabtenförderwerke analog zur Erhöhung des BAföG
auch entsprechend höhere Fördersätze in der Grundfinanzierung. Mit dem jetzt im Haushalt zur Verfügung
stehenden Betrag einschließlich der Summe des Maßgabebeschlusses wird es auch möglich sein, finanziell die
von uns gewünschte Quote, einem Prozent der Studierenden eine Förderung durch die Begabtenförderwerke
möglich zu machen, zu erreichen.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Nein.
Dann kommen wir zur Frage 6 der Kollegin Marianne
Schieder:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet,
um mit dem Bologna-Mobilitätspaket in diesem und den folgenden Jahren deutlich mehr als die bisher rund 1 600 Studierenden zu erreichen?
Liebe Frau Kollegin Schieder, den Hauptteil an dem
Bologna-Mobilitätspaket hatte der DAAD mit dem Vorhaben „Bologna macht mobil“. Zwei wichtige und stark
aufwachsende Programme - darunter sind das Doppeldiplom und Bachelor Plus - zielen auf die Schaffung von
nachhaltig mobilitätsfördernden Strukturen an den einzelnen Hochschulen ab und nicht auf die Förderung einzelner Studierender.
Auf die direkte Mobilitätsförderung dagegen zielen
vor allem die Programme ISAP, die integrierten Studienund Ausbildungspartnerschaften im Rahmen von Hochschulkooperationen, sowie RISE, das sich um die Forschungspraktika im Ausland bemüht, ab.
Außerdem wird unter dem Stichwort „Bologna macht
mobil“ eine stark erweiterte Informationskampagne für
das Auslandsstudium gefördert, die den Titel „go out!“
trägt. Die Erkenntnisse daraus werden erst in den nächsten Jahren sichtbar.
Zur Mobilität von Studierenden trägt natürlich auch
das Auslands-BAföG und das Internationalisierungs-Audit der Hochschulrektorenkonferenz bei. Sie sprechen
hier von 1 600 Geförderten. Nach den ersten Schätzungen ist es so, dass 2010 wahrscheinlich sogar 1 900 Personen gefördert werden konnten. Wir gehen davon aus,
dass in den Folgejahren die Zahlen noch steigen werden.
Eine Nachfrage zu diesem Thema hat der Kollege
Schummer.
Herr Staatssekretär, gibt es auch eine Entwicklung der
Zahlen der Studenten, die durch Auslands-BAföG in den
letzten drei Jahren gefördert wurden? Welche Prognose
haben Sie für die nächsten drei Jahre?
Lieber Herr Kollege, wir haben im letzten Jahr den
18. BAföG-Bericht bekommen, in dem sich gezeigt hat,
dass die Verbesserungen der Rahmenbedingungen für
das Auslands-BAföG auch dazu geführt haben, dass viel
mehr deutsche Studierende im BAföG-Bezug ins Ausland gehen. Während es im Jahr 2005 noch 21 000 waren, waren es zum Abschluss des BAföG-Berichts schon
28 000. Das bedeutet eine Zunahme um 32 Prozent, was
ich für eine erstaunlich hohe Zahl halte. Offenkundig ist
es für die Studierenden besonders attraktiv, einen Auslandsaufenthalt im deutschsprachigen Raum, also in
Österreich oder in der Schweiz, anzugehen; diese beiden
Länder waren Spitzenreiter beim Zuwachs mit über
140 Prozent. Ich denke, dass das BAföG auch in den
kommenden Jahren einen Beitrag leisten wird, mehr Studierenden - gerade denjenigen, die aus weniger guten
Verhältnissen kommen, was die Einkommen der Eltern
angeht - einen Auslandsaufenthalt zu ermöglichen. Das
ist insgesamt eine sehr erfreuliche Entwicklung.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Swen Schulz auf:
Durch welche Maßnahmen stellt die Bundesregierung sicher, dass möglichst viele Hochschulen am vom Bund unterstützten dialogorientierten Serviceverfahren in der Hochschulzulassung teilnehmen, das zum Wintersemester 2011/
2012 starten soll?
Lieber Herr Kollege Schulz, die Genese dieses dialogorientierten Serviceverfahrens war durch die Notwendigkeit begründet, eine Nachfolge für die zentrale Studienplatzvergabe zu finden. Zum damaligen Zeitpunkt
hat der Haushaltsausschuss die Bereitschaft des Bundes,
die Entstehung dieses Projekts, also die Software und die
Bereitstellung der Infrastrukturen, mit 15 Millionen
Euro zu fördern, daran geknüpft, dass die Hochschulen
und die Länder natürlich auch bereit sein müssen, dieses
Verfahren im täglichen Betrieb zu nutzen. Die Länder
haben dies in der KMK stets erklärt, und auch die Hochschulrektorenkonferenz hat in einer Umfrage unter ihren
Mitgliedern bestätigt, dass ein Großteil der Hochschulen
ein Interesse daran hat. Nach einer Versammlung wurde
berichtet, dass 92 Prozent der Hochschulen bereit seien,
daran teilzuhaben.
Wenn Sie sagen, Sie hätten Bedenken, dass sich dies
in der Vergangenheit verändert haben könnte, so weise
ich darauf hin, dass zuletzt am 9. Dezember eine Konferenz der Präsidien der Hochschulrektorenkonferenz und
der Kultusministerkonferenz stattgefunden hat, auf der
noch einmal bestätigt wurde, dass dieses Projekt in der
Breite umgesetzt werden soll. Insofern sehen wir uns an
dieser Stelle auf der sicheren Seite und sind davon überzeugt, dass die Hochschulen das neue Verfahren annehmen werden.
Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind uns einig,
dass es wichtig ist, dass möglichst viele Hochschulen daran teilnehmen, weil sonst die Funktionsfähigkeit des
Serviceverfahrens gefährdet wäre. Da Sie gerade gesagt
haben, dass Sie sich auf der sicheren Seite fühlen, weil
die große Mehrheit der Hochschulen teilnehmen wird,
frage ich Sie: Können Sie eine Erwartungshaltung formulieren, wie viel Prozent der Hochschulen tatsächlich
teilnehmen werden und welche Beteiligung notwendig
ist, damit wir von einem funktionsfähigen Verfahren
sprechen können?
Herr Abgeordneter Schulz, die Ermittlung einer Mindestzahl von Hochschulen, die für ein solches Verfahren
unerlässlich ist, haben wir gar nicht erst angestrengt. Die
Tatsache, dass sich 92 Prozent bereit erklären, teilzunehmen, macht aus unserer Sicht ein so verhaltenes Vorgehen wie die Abschätzung einer Mindestzahl gar nicht er9308
forderlich. Wichtig ist, dass Sie und wir alle gemeinsam
uns auf das verlassen, was die Länder und die Hochschulen gesagt haben. Im Hinblick auf die Bedeutung kann
ich nur noch einmal unterstreichen, dass im Augenblick
- „alternativlos“ darf man ja nicht mehr sagen - kein anderes konkurrierendes oder ergänzendes Verfahren angedacht ist, mit dem es möglich sein könnte, dafür zu sorgen, dass in den zulassungsbeschränkten Studiengängen
alle Studierenden möglichst schnell zu Semesterbeginn
auch einen Studienplatz zugewiesen bekommen. Insofern halten wir die Beteiligung aller Hochschulen für
wünschenswert.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank. Sie haben also keine
Bedenken und glauben, dass das funktionieren wird, und
die Bundesregierung wird hier keine Maßnahmen ergreifen. Haben Sie aber darüber hinaus die Sicherheit, dass
die Teilnahme an dem Verfahren für die am Studium
Interessierten gebührenfrei sein wird, wie es ursprünglich von Bundesseite - auch vom Haushaltsausschuss gefordert war?
Wir haben in der KMK über die Frage der Betriebskosten gesprochen. Dort wurde vonseiten der Länder
versichert, dass die Finanzierung des Betriebs auf Ebene
der Länder sichergestellt wird.
Wir kommen zur Frage 8 des Kollegen Swen Schulz:
Wieso liegen die vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung zugesagten Erfahrungen und Ergebnisse der Studienplatzbörse, die als Zwischenlösung bis zur Einführung des
neuen Serviceverfahrens dient, für das Wintersemester 2010/
2011 immer noch nicht vor?
Lieber Herr Kollege Schulz, die entsprechenden Erfahrungen werden in den Ländern zusammengetragen.
Die Kultusministerkonferenz legt den entsprechenden
Bericht, den Sie sehnlich erwarten, vor und leitet ihn an
die Bundesregierung weiter. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt uns der Bericht vonseiten der Kultusministerkonferenz noch nicht vor. Sobald er der Bundesregierung
vorliegt, werden wir ihn selbstverständlich unverzüglich
dem Parlament zur Verfügung stellen.
Keine Nachfrage? - Doch. Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
vielen Dank. Wir erwarten, dass der Bericht möglichst
zügig übermittelt wird. Gibt es irgendeine Ansage bzw.
Zeitplanung der KMK, wann der Bericht übermittelt
wird?
Nein, uns liegen dazu keine Aussagen der KMK vor.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung nach einem weiteren Ausbau des Angebots an Ganztagsschulen zur
besseren individuellen Förderung der Kinder und Jugendlichen sowie besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, der Ausbau
des Angebots an Ganztagsschulen findet in Deutschland
in der Breite statt. Er wird in der Verantwortung der Länder durchgeführt. Die Länder entscheiden, häufig gemeinsam mit den Kommunen, wo und in welchem Umfang ein weiterer Ausbau des Ganztagsschulangebots
sinnvoll ist. Eine Beteiligung des Bundes etwa in Form
eines neuen Ganztagsschulprogramms, wie es das schon
einmal gegeben hat, ist nicht möglich, weil eine Beteiligung des Bundes an einem solchen Investitionsprogramm nach den Föderalismusreformen I und II, die
nach dem letzten Ganztagsschulprogramm durchgeführt
wurden, ausgeschlossen ist.
Zur Nachfrage, Herr Kollege Rossmann.
Herr Staatssekretär, Ihrer euphorischen Unterstützung
des Gedankens der Ganztagsschulen kann ich entnehmen, dass Sie auf Bundesebene dem Anliegen nicht
fernstehen. Ich will Sie deshalb mit dem konfrontieren,
was zwei gut beleumdete Kollegen aus Schleswig-Holstein, der Vorsitzende der dortigen CDU-Fraktion, Herr
von Boetticher, und der Vorsitzende der dortigen FDPFraktion, Herr Kubicki, dringend vom Bund einfordern.
Sie sagen: Ohne dass der Bund dabei mit in die Verantwortung tritt, kann man das große gemeinsame Ziel
nicht erreichen. - Meine Frage ist, ob auch Sie diesem
Gedanken nahetreten können, zumal Sie aus dem hohen
Norden kommen.
Sehr geehrter Herr Kollege, ohne eine Veränderung
der verfassungsrechtlichen Grundlagen ist dem Ansinnen nicht Rechnung zu tragen. Die Bundesregierung
plant eine solche Verfassungsänderung im Augenblick
nicht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sie haben eben für die Bundesregierung gesprochen.
Darf ich an der Stelle fragen, ob Sie damit auch für Ihre
Ministerin gesprochen haben? Wir erinnern uns schwach,
dass es von der zuständigen Bundesministerin durchaus
Äußerungen gibt, dass sie sich eine Fortsetzung wünschen würde und sie sich dafür einsetzen möchte. Ich
will die Frage ergänzen - die Beantwortung der ersten
Frage könnte ja kompliziert für Sie werden -: Können
Sie sagen, ob Sie Ihre euphorische Unterstützung des
Ganztagsschulprogramms durch begleitende Unterstützung wie zum Beispiel Begleitforschung untermauern
wollen?
Herr Kollege, wir haben das Ganztagsschulprogramm, das jetzt abgeschlossen ist, einer wissenschaftlichen Evaluierung unterzogen. Wir werden den Ausbau
der Ganztagsschulen, der an anderer Stelle stattfindet,
dadurch unterstützen, dass wir die Ergebnisse und die
daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.
Ich denke, ich kann Ihnen bestätigen, dass es eine
Diskussion um das Kooperationsverbot gibt und es aus
bildungspolitischer Sicht immer wieder Gründe gibt, daran zu zweifeln, dass das Kooperationsverbot uneingeschränkt nützlich ist.
Wir kommen zur Frage 10 des Kollegen Dr. Rossmann:
Wie bewertet die Bundesregierung die Forderungen nach
einem Ausbau der Jugend- und Schulsozialarbeit zur besseren
Verwirklichung des Rechts auf Bildungsteilhabe und soziokulturelle Teilhabe von bedürftigen Kindern?
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, auch hier gilt:
Das Schulwesen liegt in der Zuständigkeit der Länder.
Die Umsetzung von Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe liegt in der Verantwortung der Länder und der
kommunalen Gebietskörperschaften. Da Schulsozialarbeit ein integraler Bestandteil des Alltagslebens in der
Schule und damit auch des Schulwesens ist, ist der Ausbau der Schulsozialarbeit folglich eine Aufgabe, die im
Kontext des schulischen Bildungsauftrags von den Ländern wahrgenommen wird.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, könnten Sie jenseits dieser Einschätzung sagen, ob Sie damit ausschließen, dass es bundesgesetzliche Rechtsgrundlagen gibt, die dem Bund
Zuständigkeiten zuweisen und es ihm ermöglichen, in
dem offenen Feld, das von Schulsozialarbeit bis Bildungslotsen reicht - dieser Begriff ist auch von der Regierung in der aktuellen Diskussion genannt worden -,
zu fördern?
Dazu hat das Bundesministerium für Bildung und
Forschung keine Rechtsprüfung angestellt.
Halten Sie es für vorstellbar, dass Sie bei oberflächlicher Kenntnis des Kinder- und Jugendhilferechts und
des Arbeitsförderungsgesetzes - SGB III -, um zwei
Rechtsgrundlagen zu nennen, zu dieser Einschätzung
kommen könnten? Oder glauben Sie, dass im Vermittlungsverfahren aktuell nur über Stroh geredet wird? Das
ist doch ein konkretes Thema, das im Vermittlungsverfahren auch von der Bundesregierung traktiert wird.
Die Bundesregierung hat zu all den von Ihnen genannten Normen vertiefte Kenntnisse. Eine Antwort auf
die Frage, welche Möglichkeiten und Spielräume der
Vermittlungsausschuss hat, um die verschiedenen von
Ihnen angesprochenen Initiativen in die Tat umzusetzen,
sollten wir aus Respekt vor diesem Verfassungsgremium
dem Vermittlungsausschuss überlassen.
Wir kommen zur Frage 11 der Kollegin Daniela
Kolbe:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, wie viele
Studierende durch die Kürzungen der Semesterstipendien sowie der Stipendien für Abschlussarbeiten, Praktika, Fachkurse, Sprachkurse und Studienreisen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, DAAD, im Jahr 2011 weniger
gefördert werden als im Vorjahr, und, wenn ja, wie viele sind
das?
Sehr geehrte Frau Kollegin Kolbe, die Bundesregierung hat dem DAAD auch für das Jahr 2011 eine finanzielle Förderung in der Höhe zugestanden, die für ihn in
der mittelfristigen Finanzplanung, die übrigens noch
Peer Steinbrück als Finanzminister aufgestellt hat, vorgesehen ist. Insofern kann man nicht von einer Kürzung
sprechen. Wahr ist, dass wir seit dem Jahr 2005 Jahr für
Jahr einen massiven Aufwuchs beim DAAD hatten. Diesen Aufwuchs wollen wir verstetigen. Im Jahr 2010 hatten wir eine zusätzliche Summe eingestellt, die in der
mittelfristigen Finanzplanung aber nicht verstetigt worden ist. Insofern war eigentlich von Anfang an klar, dass
hier keine Kürzung vorgenommen wurde, wie Sie unterstellen, sondern eine Umsetzung dessen, was die Bundesregierung in der mittelfristigen Finanzplanung geplant hat.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Braun, mir ging es bei der Frage insbesondere um ein
Angebot des DAAD, das meiner Kenntnis nach mittlerweile vollkommen eingestellt worden ist, nämlich die
einsemestrigen und kurzfristigen Stipendien, die bisher
üblich waren. Dadurch war es möglich, dass Stipendiatinnen und Stipendiaten für ein Semester auch ins fernere Ausland reisen konnten. Für mich mutet ein solcher
Schritt angesichts der Reform in Richtung Bachelor und
Master ein wenig anachronistisch an. Schließlich empfehlen alle Dozentinnen und Dozenten ihren Studierenden, das fünfte Semester im Ausland zu verbringen.
Vielleicht können Sie mir diesen Schritt einmal erklären.
Frau Kollegin, mit den strukturellen Veränderungen,
die der DAAD in letzter Zeit vorgenommen hat, hat er
sich zum Teil von der Förderung einzelner Studierender
wegbewegt und stattdessen Hochschulen ertüchtigt bzw.
dabei unterstützt, selbst strukturierte Auslandsprogramme
aufzulegen. Der DAAD kann sicherlich nicht die alleinige Förderinstitution sein, wenn es darum geht, die Mobilität von Studierenden zu fördern. Deshalb hat es eine
Umstrukturierung bei den Programmen des DAAD gegeben. Diese ist aber nicht aufgrund der Finanzlage erfolgt, sondern aufgrund sachlicher Erwägungen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja.
Bitte.
Sie müssen mir vielleicht einmal erklären, wieso gerade diese kurzfristigen Stipendien gekürzt worden sind.
Wenn strukturelle Überlegungen dahinterstecken, dann
möchte ich die Nachfrage stellen, wie lange diese strukturellen Überlegungen gediehen sind; denn die Streichung der kurzfristigen und einsemestrigen Stipendien
hat die Universitäten und die betroffenen Studierenden
extrem kurzfristig erreicht. Die Studierenden wurden dadurch sehr kurzfristig vor die Wahl gestellt, entweder für
zwei Semester ins Ausland zu gehen, was ihnen aufgrund ihrer Lebensplanung mitunter schwerfällt, oder
ganz auf ein solches Stipendium zu verzichten. Was
steckt dahinter, dass der DAAD diese Umstrukturierung
so kurzfristig vorgenommen hat?
Die Frage nach der Kurzfristigkeit der Umstrukturierung seitens des DAAD kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten. Ich würde vorschlagen, dass Sie im Rahmen des
Ausschusses oder der Arbeitsgruppe einmal das direkte
Gespräch mit den Verantwortlichen des DAAD suchen,
um sich mit ihnen über diese Frage auszutauschen.
Die Förderbilanzen für das Jahr 2010 liegen uns zwar
noch nicht vollumfänglich vor, ich denke aber, dass es
von der Struktur her insgesamt sinnvoll ist, gerade die
kurzfristigeren Stipendien stärker an den Hochschulen
zu verankern und die aufwendigeren Programme in die
Verantwortung des DAAD zu legen.
Eine weitere Nachfrage hat der Kollege Dr. Feist.
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, wie sich
die Zahl derjenigen Personen, die vom DAAD gefördert
werden, verändert hat, seitdem Annette Schavan Bildungsministerin ist?
Sehr geehrter Herr Kollege, die Förderung des DAAD
- ich habe das eingangs erwähnt - ist seit 2005 kontinuierlich ausgebaut worden. So standen im Jahre 2005
64 Millionen Euro zur Verfügung, im Jahre 2010
75 Millionen Euro. Dadurch hat sich auch die Zahl derer,
die gefördert werden, dramatisch erhöht. So waren es im
Jahr 2005 ungefähr 15 000 Studierende, im Jahr 2009
waren es etwa 17 000 Studierende. Zum Jahr 2010 liegen uns noch keine Zahlen vor; sie sind aber mit Sicherheit weiter gestiegen. Auf einem Niveau über dem des
Jahres 2009 können wir sicherlich auch die Zahl der im
Jahr 2011 Geförderten verstetigen.
Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Daniela
Kolbe:
Wie bewertet die Bundesregierung die infolge der Haushaltskürzungen im Einzelplan 30 verringerte Fördertätigkeit
des DAAD, und welche Planungen liegen seitens der Bundesregierung vor, um diesen Rückgang in der internationalen
Mobilität der Studierenden zu kompensieren?
Haben wir darüber nicht gerade gesprochen? Die
Fragen 11 und 12 habe ich eigentlich im Zusammenhang
beantwortet, wenn Ihnen das recht ist.
Wenn Sie noch Nachfragen haben, Frau Kollegin,
dann haben Sie jetzt die Gelegenheit dazu.
Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, eine weitere
Nachfrage zu stellen.
Den Grund für die Umstrukturierung seitens des
DAAD habe ich verstanden. Die Universitäten sollen sozusagen befähigt werden, die Mobilität der Studierenden
zu fördern. Es gibt dabei aber ein Problem: Die Studierenden sind durch den Wegfall der Kurzzeitstipendien
Daniela Kolbe ({0})
vonseiten des DAAD auf die Kooperationen der jeweiligen Universitäten angewiesen, zumindest dann, wenn sie
nicht das dicke Geld haben. Unter anderem hat der
DAAD Semestergebühren für den Besuch von Universitäten in nicht geringer Höhe übernommen. Wenn eine
Studierende oder ein Studierender jetzt eine Universität
auswählt, die keine Kooperation mit der eigenen Universität pflegt, bleibt ihr bzw. ihm ein Wechsel verwehrt.
Sehen Sie hier Änderungs- oder Nachbesserungsbedarf,
oder sollte es aus Ihrer Sicht dabei bleiben?
Will man die Auslandsmobilität fördern, muss man
insbesondere diejenigen, die im Studium hervorragende
Leistungen erbringen, unterstützen. Mit dem Deutschlandstipendium ist gerade für begabte Studierende ein
neues Instrument geschaffen worden, um ihre finanzielle
Situation zu verbessern und ihnen zusätzliche Möglichkeiten zu geben, Auslandsaufenthalte zu finanzieren.
Ansonsten ist die nun gewählte Struktur der Programme
des DAAD aus meiner Sicht sinnvoll und nachvollziehbar und aus Sicht der Bundesregierung nicht kritikwürdig.
Herr Dr. Feist, bitte.
Herr Staatssekretär, könnte man eine verstärkte Kooperation zwischen Studierenden und Hochschulen nicht
auch als Vorteil und Chance für beide Seiten begreifen?
Selbstverständlich ist der Gedanke, für eine stärkere
Vernetzung der Hochschulen zu sorgen und Hilfe zur
Selbsthilfe zu leisten, an dieser Stelle sehr wichtig.
Studierende brauchen nicht allein die Expertise des
DAAD. Vielmehr bietet auch die Kooperation zwischen
Hochschulen zusätzlich zur Chance auf einen Auslandsaufenthalt weitere Vorteile, zum Beispiel bei der wissenschaftlichen Zusammenarbeit oder bei dem Bemühen,
Wissenschaftler und Studierende mit guter Expertise
nach Deutschland zu holen und in unser Hochschulsystem zu integrieren. Ich glaube, ein solcher hochschulzentrierter Ansatz ist grundsätzlich sehr zu begrüßen.
Herr Dr. Rossmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben absolute Zahlen genannt. Werden absolute Zahlen erwähnt, muss man immer nach der Relation fragen. Garantieren Sie vor dem
Hintergrund Ihrer Finanzplanung für den DAAD, dass
Sie in Zukunft bei deutlich zunehmenden Studierendenzahlen mindestens den gleichen Prozentsatz an Förderfällen erreichen wie bisher?
Was die Zahl der vom DAAD geförderten Personen
betrifft, sprachen Sie für den Zeitraum zwischen 2005
und 2009 von einem Aufwuchs von 15 000 auf
17 000 Studierende. Auch diese Zahlen sind natürlich zu
relativieren, wenn man sich die Studierendenzahlen insgesamt vor Augen hält. Da wir in Zukunft nicht mit einer
Erhöhung der absoluten Zahlen, sondern mit einer Verbesserung der Relation argumentieren wollen, frage ich
Sie: Wie sehen angesichts Ihrer Finanzplanung Ihre
Ziele, Ihre Garantien und Ihre Projektionen für die Zukunft aus?
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, am Ende ist es
die Entscheidung des Parlaments; denn der Haushalt
wird hier aufgestellt. Wir wollen eine Verstetigung, wir
wollen auch einen Aufwuchs. Ob ein Aufwuchs in der
von Ihnen skizzierten Höhe möglich sein wird, hängt
letzten Endes von der politischen Prioritätensetzung ab,
und weil das das Haushaltsrecht angeht, obliegt das in
letzter Instanz dem Parlament.
Wir kommen zur Frage 13 des Kollegen Willi Brase:
Wie sollen die von der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, am 27. Dezember 2010 in
einem Interview mit der Zeitschrift Focus ({0}) angekündigten „Bürgerdialoge“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, BMBF, finanziert werden, und welche Kosten erwartet die Bundesregierung für die
Umsetzung des diesbezüglichen Gesamtkonzepts des BMBF
({1})?
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, die Bürgerdialoge
sind für uns ein wichtiges Instrument, das in diesem Jahr
startet. Wir wollen mit den Bürgerinnen und Bürgern ein
intensives Gespräch über moderne Hoch- und Spitzentechnologie führen und ihnen, indem wir ihnen die wissenschaftliche Expertise der Experten in Deutschland direkt zugänglich machen, die Möglichkeit geben, die
Chancen, aber auch die Risiken dieses Innovationsmotors für die Fortentwicklung Deutschlands abzuwägen,
damit die Nutzung von Hoch- und Schlüsseltechnologien in Zukunft im gesellschaftlichen Konsens erfolgen
kann. Deshalb wendet das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Zukunft 2 Millionen Euro pro
Jahr für diese Bürgerdialoge auf. Sie finden sie im Haushalt unter dem Kapitel 3003 Titel 541 01.
Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Bitte sehr.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Braun. - Wenn
ich das alles richtig mitbekommen habe, wollen Sie stärker auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen, wollen Sie
die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis
nehmen. Ich erlebe gleichzeitig in der Presse, dass die
Spitze des Hauses - also die Ministerin und auch Sie als
Staatssekretär - sehr viel unterwegs ist, vielfach mit Förderbescheiden; es gibt also schon einen Dialog mit den
Menschen vor Ort. Mir ist nicht ganz ersichtlich, wie
man das da einbauen kann. Ist der Besuch der Ministerin
jetzt nicht mehr so wichtig? Oder sind diese Besuche
kein Bürgerdialog, weil beim Bürgerdialog eben nicht
gleich Geld in Form eines Förderbescheides verteilt
wird? Wie kann man das miteinander in Verbindung
bringen? Ich wäre dankbar, wenn Sie mir das noch erklären könnten.
Ich glaube, dass das, was Sie beschreiben, etwas anderes ist als das, was der Bürgerdialog bedeutet. Mit
Wissenschaftlern darüber zu reden, welche Forschungsprojekte wir für die Zukunft initiieren, was wir finanziell
unterstützen, ist eine andere Form des Dialogs als der
mit der Breite der Gesellschaft und zwischen den Bürgern. Es geht also nicht darum, einen Dialog zwischen
Politik und Wissenschaft, sondern einen Dialog im Dreiecksverhältnis zwischen Bürgern, Politik und Wissenschaft zu organisieren. Dabei wollen wir nicht darauf
warten, bis die Bürger zu uns kommen und uns Fragen
stellen, sondern auf die Bürger zugehen, um mit ihnen
über die Zukunftstechnologien zu reden.
Technologiedialoge gibt es ja an vielen Stellen. Wir
fangen jetzt mit dem Dialog über Gesundheitstechnologien aus Anlass des Jahres der Gesundheitsforschung an.
Da gibt es zahlreiche Fragen und unglaublich viele Sorgen: Ich nenne die Segnungen der modernen Medizin
auf der einen Seite und die Sorge bezüglich Entpersonalisierung, Entfremdung und der vermeintlichen Apparatemedizin auf der anderen Seite. Um darüber zu reden,
brauchen wir ein spezielles Veranstaltungsformat. Bei
den Bürgerdialogen werden wir die Bürger zunächst
über eine Onlineplattform dazu ermutigen, alle Fragen,
die sie zu den jeweiligen Schlüsseltechnologien haben,
an uns zu richten. Daraufhin kümmern wir uns darum,
dass sie adäquate Antworten von den besten Wissenschaftlern auf dem jeweiligen Gebiet bekommen. Dabei
kristallisieren sich dann öffentlich interessante Fragestellungen heraus. In konkreten Veranstaltungen, bei denen Wissenschaft, Politik und Bürger an einem Tisch sitzen, sollen vor einem sehr fundierten Hintergrund
Antworten auf die wirklich drängenden Fragen der Gesellschaft gefunden werden. Das halte ich für außerordentlich vielversprechend und für eine gute Ergänzung
der Veranstaltungsformate, die von der Bundesregierung
heute schon genutzt werden.
Eine weitere Zusatzfrage?
Ich habe nur noch eine kleine Nachfrage: Kann es
sein, dass die Auseinandersetzungen um das Projekt
Stuttgart 21 im Ministerium in gewisser Weise die Gedanken beflügelt haben bzw. Pate für die Idee standen,
auf einem anderen Weg für eine bessere Kommunikation
bei der Weiterentwicklung von Spitzentechnologien oder
auch bei der Durchsetzung von bestimmten industriepolitischen Projekten in Deutschland zu sorgen?
Sehr geehrter Herr Brase, die Diskussion um Schlüsseltechnologien und um die Chancen und Risiken ist
älter als die aktuelle Diskussion um Stuttgart 21, wahrscheinlich sogar älter als der Planungsprozess von Stuttgart 21. Insofern ist dieser direkte Bezug zu verneinen.
Das Bemühen, das gesellschaftliche Phänomen, dass ein
Dialog über wichtige Zukunftsfragen stattfindet, aufzugreifen, steckt aber sozusagen sowohl hinter den Bürgerdialogen als auch den anderen Dialogformen.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Kollege
Dr. Rossmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben die Zahl 2 Millionen Euro genannt. Meine Frage geht dahin, wie Sie sicherstellen und ausdrücklich garantieren, dass Sie nicht
durch schlechtes Management dieses Bürgerdialogs ein
ähnliches Fiasko erleben wie bei dem ersten Bürgerdialog, bei dem ein Wissenschaftszug mit einem Gesamtinvestitionsaufwand von 9 Millionen Euro durch Deutschland geschickt worden ist, wobei alleine beim BMBF
Parkgebühren von 240 000 Euro aufgelaufen sind.
Ein Desaster droht ja immer da, wo man große Ideen
hat, deren Umsetzung durch die Administration eines
Hauses in der Praxis aber nicht wirklich kontrolliert
wird. Ihr Haus ist ja leider in dem Ruf, solche Flops zu
produzieren. Deshalb lautet die ganz konkrete Frage:
Durch welche Maßgaben Ihrer Verwaltung stellen Sie sicher, dass nicht auch noch dieser Bürgerdialog den Weg
ins sogenannte Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler findet?
Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst einmal zum
Wissenschaftszug: Ich teile Ihre Bewertung überhaupt
nicht. Der Wissenschaftszug war ein unglaublicher Besuchermagnet. Wir haben eine hohe Anzahl von Besuchern in den unterschiedlichsten Städten gehabt. Wir haben mit diesem wirklich sehr außergewöhnlichen Projekt
viele Menschen direkt erreichen und für Forschung und
Wissenschaft auch auf einem Niveau begeistern können
- wenn Sie selber ihn einmal besucht haben, dann werden Sie das bestätigen -, das seinesgleichen sucht. Auch
in der Zukunft werden die Exponate des Wissenschaftszuges in der Wissenschaftskommunikation sicherlich
eine wichtige Rolle spielen. Insofern ist das alles an dieser Stelle noch nicht zu Ende.
Hinsichtlich des Vorliegenden habe ich Ihnen deutlich
gemacht, dass eine aufwendige Infrastruktur nicht erforderlich ist: Infrastrukturmaßnahmen sind nur im Onlinebereich notwendig, ansonsten handelt es sich um konkrete Veranstaltungsformate. Das Entscheidende ist, dass
die Bürgerinnen und Bürger das Dialogangebot wahrnehmen. Angesichts der drängenden Probleme unserer
Gesellschaft, die wir ansprechen, und angesichts der Expertisen, die wir auf der wissenschaftlichen Seite dafür
anbieten, bin ich mir ganz sicher, dass die Menschen diesen Bürgerdialog sehr positiv annehmen werden. Darüber mache ich mir keine Sorgen.
Wir kommen zur Frage 14 des Kollegen Willi Brase:
Durch welche Maßnahmen stellt die Bundesregierung sicher, dass die Ergebnisse der „Bürgerdialoge“ auch in die Arbeit des BMBF einfließen und Auswirkungen auf die Fördertätigkeit oder Prioritätensetzung haben?
Herr Kollege, das Ergebnis der Bürgerdialoge muss
natürlich Eingang in das finden, was wir politisch im
weiteren Kontext tun. Wir müssen das bewerten und
daraus auch Schlüsse ziehen. Das muss nicht nur die
Politik, sondern das müssen die Bürger insgesamt tun.
Deshalb werden wir parallel zu den Initiativen einen sogenannten Bürgerreport aus den verschiedenen Veranstaltungen erstellen, in dem alle wesentlichen Fragen
und Ergebnisse festgehalten werden. Er wird dann sowohl der Politik als auch den Repräsentanten von Wirtschaft und Wissenschaft übergeben werden, sodass alle
Lehren aus ihm ziehen können. So kann es dazu kommen, dass der Bürgerdialog nicht nur Punktuelles bewirkt, sondern wirklich auch Konsequenzen für die
praktische Arbeit mit sich bringt.
Haben Sie Nachfragen, Herr Kollege?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. Ich will nur noch eine Frage stellen: Ist geplant, die Ergebnisse, also diesen Report, auch dem Bundestag zuzuleiten, damit wir über möglicherweise gute Erkenntnisse
hier gemeinsam diskutieren können?
Da wir sogar beabsichtigen, diese Ergebnisse öffentlich zu machen, ist es selbstverständlich, dass sie auch
dem Deutschen Bundestag zur Verfügung gestellt werden.
({0})
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Für die Beantwortung der Fragen steht
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp
zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 15 der Kollegin
Dr. Barbara Hendricks:
Welche Instrumente und Verfahren setzt die Bundesregierung ein, um ihre eigene Entwicklungszusammenarbeit in den
Partnerländern frei von Korruption zu halten?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Dr. Hendricks,
hinsichtlich Ihrer Frage nach der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung in der Korruptionsbekämpfung verweise ich auf Frage 34.
Für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ist
festzustellen, dass die Korruptionsbekämpfung als Querschnittsaufgabe für uns in allen Förderbereichen eine
ganz zentrale Rolle spielt. Gezielte Maßnahmen werden
darüber hinaus im Förderbereich „Demokratie, Zivilgesellschaft und öffentliche Verwaltung“ unterstützt, den
die Bundesregierung mit rund der Hälfte der Partnerländer als Arbeitsschwerpunkt vereinbart hat. Dabei geht es
um den Aufbau transparenter, leistungsfähiger und bürgerorientierter Strukturen in der Verwaltung, um die
Schaffung eines effizienten Personal- und Beschaffungswesens, um die Verbesserung des öffentlichen Finanzwesens sowie den Auf- und Ausbau von Steuer- und
Zollverwaltungen, von funktionstüchtigen und effizienten Rechnungshöfen und von rechtsstaatlichen Strukturen im Sicherheitsbereich.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. - Die Frage nach
den multilateralen Institutionen wird wahrscheinlich
später schriftlich beantwortet, weil wir wohl nicht mehr
dazu kommen, den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amts aufzurufen.
Was unsere eigene Entwicklungszusammenarbeit
- also nicht die multilaterale, sondern unsere bilaterale anbelangt, gibt es zwei Ebenen. Die eine Seite, nämlich
die Hilfe bei der Entwicklung möglichst korruptionsfreier Verwaltungen und Regierungen, die es auf vielen
Ebenen zu leisten gilt, haben Sie eben kursorisch angesprochen. Man muss aber auch die andere Seite sehen.
Dabei geht es um die Frage, wie wir bei der Vergabe von
Mitteln sicherstellen, dass sie zumindest in gewissem
Umfang tatsächlich dort hingelangen, wofür sie vorgesehen sind, also dass sie effizient eingesetzt werden, statt
zugunsten korrupter Personen in Regierungen und Ver9314
waltungen oder deren Verwandten und Begünstigten abgezweigt zu werden.
Zurzeit steht in Rede - wir wissen im Moment noch
nicht, ob es stimmt -, dass der bisherige Präsident Tunesiens mit einer größeren Summe Geld ins Ausland gegangen sei. Ich kann die genaue Höhe nicht benennen,
aber man kann sicher sein, dass solche Summen - in
welcher Höhe auch immer - nicht durch normale regierungsamtliche Tätigkeit erworben werden können. Die
Frau Bundeskanzlerin zum Beispiel wird später sicherlich niemals 100 Millionen Euro übrig haben.
Es sind also entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
Auch wenn sie bei uns und auf internationaler Ebene
noch nicht perfekt sind, ist der Weg dorthin richtig und
notwendig und muss intensiv weiterverfolgt werden.
Was geschieht in diesem Bereich nun konkret bei der
Mittelvergabe?
Das ist selbstverständlich der größte Knackpunkt. Wir
wollen ja erreichen, dass mit der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit die größtmögliche Wirkung erzielt wird und Gelder denjenigen, die Hilfe brauchen, zugutekommen. Wir müssen also dafür sorgen, dass sie
nicht in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwinden.
Genau diesen Punkt machen wir in allen Regierungsverhandlungen und bei allen Vertragsverhandlungen über
Projekte, die wir angehen wollen, zur Auflage und verlangen entsprechende Nachweise. Wir führen dann mit
der jeweiligen Regierung bzw. dem jeweiligen Partner
- auch das ist wichtig - einen Evaluierungsdiskurs und
schauen, wie mit den Geldern und Auflagen umgegangen wurde.
Ein sehr positives Beispiel für gute Korruptionsbekämpfung kann der Umgang mit Rohstoffinitiativen
sein. Mithilfe der Ihnen sicherlich bekannten Transparenzinitiative EITI werden Regierungen aufgefordert, im
Rohstoffbereich Partner zu suchen, die bereit sind, bestimmte Auflagen betreffend die Mitarbeiter, gegen Kinderarbeit sowie betreffend Gesundheits- und Arbeitsnormen zu erfüllen. Wir helfen Regierungen, die willig sind
- das sind leider nicht alle -, ein Finanzsystem aufzubauen, und vermitteln ihnen, wie man die Einnahmen in
den Staatshaushalt transparent einstellen kann, um dann
mit mehr Staatseinnahmen Sozial-, Gesundheits- oder
Bildungssysteme aufzubauen.
Ich nenne Ihnen Ghana als Beispiel. Ghana wird ab
diesem Jahr im Rahmen einer solchen Rohstoffinitiative
wahrscheinlich pro Jahr 1 Milliarde US-Dollar einnehmen. Dieses Geld wird dann über transparente Strukturen - darauf legen wir großen Wert, und darauf achten
wir - in den Staatshaushalt fließen und die Entwicklungspolitik sowie den Aufbau von Strukturen vor Ort
entsprechend befördern. Es ist sehr wichtig, unseren
Partnern und den Unternehmen, die sich einer solchen
Transparenzinitiative anschließen, zu vermitteln, dass
wir darauf großen Wert legen und mit unserem Knowhow - Evaluierungs-Know-how, Finanz-Know-how den willigen Regierungen mit Rat und Tat zur Verfügung
stehen. Genau das machen wir.
Sind Sie bereit, auch in Zukunft solche Rohstoffpartnerschaften - so möchte ich sie nennen - zu befördern,
und zwar in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaft, den internationalen Handelskammern und den dort tätigen deutschen Unternehmen, für
deren Verhalten vor Ort wir letztlich eine politische Verantwortung haben, und zugleich mit den Regierungen
der Länder, um die es geht, Abmachungen zu treffen, die
festlegen, welche Steuersummen mindestens aus einer
solchen Tätigkeit entstehen müssen?
Das kann ich Ihnen sehr gerne bestätigen. Wir arbeiten auch hier ressortübergreifend. Wir müssen natürlich
auch die Grenzen beachten. Wir befördern in diesem Bereich Entwicklungsprojekte und betreiben keine Außenwirtschaftsförderung; es ist völlig klar, dass hier die
Schnittstelle ist. Genau das machen wir. Es ist wichtig,
dass wir an dieser Stelle weiterkommen. Es ist notwendig, weltweit die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit
solcher legalen Einnahmen zu lenken. Wie Sie wissen,
Frau Dr. Hendricks, erzielen die betreffenden Regierungen schon heute Einnahmen im Rohstoffbereich. Aber
meistens landen diese auf irgendwelchen Konten im
Ausland und kommen nicht den Menschen vor Ort zugute. Auch hier ist der entscheidende Punkt, Transparenz
sicherzustellen und darauf zu achten, dass die Gelder im
Land bleiben. Ich kann Ihnen bestätigen, dass genau das
unser Bestreben ist.
({0})
Frau Kollegin Hübinger, bitte.
Frau Staatssekretärin, welche Bedeutung messen Sie
einer Konditionalisierung unserer Hilfe im bilateralen
Verhältnis und gerade in der Bekämpfung der Korruption bei?
Frau Kollegin Hübinger, wir messen ihr eine sehr
große Bedeutung bei. Ich versuchte schon, darzulegen,
dass wir bei allen - auch bilateralen - Projekten sehr gezielt darauf achten, dass die Kriterien der Korruptionsbekämpfung in die Verhandlungen einbezogen werden, bevor die entsprechenden Verträge abgeschlossen werden;
denn das Verschwinden von Mitteln, die für arme und
ärmste Menschen gedacht sind, ist heute leider noch immer an der Tagesordnung. Deshalb ist es für uns eine
Selbstverständlichkeit, darauf zu achten, wie wir bei jeder kleinen, auch bilateralen Zusammenarbeit dazu beiParl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
tragen können, Korruption effizient und effektiv zu bekämpfen. Das werden wir in Zukunft weiter ausbauen.
Frau Kollegin Roth, bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kopp. - Mit Blick auf
Ihre Ausführungen möchte ich Sie fragen: Welche Vereinbarungen haben Sie mit der Regierung von Afghanistan getroffen, damit der Vorwurf der Korruption, der öffentlich immer genannt wird, eingedämmt wird? Gibt es,
beispielsweise im Bereich des Handels, aber auch bei
anderen entwicklungspolitischen Maßnahmen, die wir
dort finanzieren, ähnliche Vereinbarungen seitens der
Bundesregierung mit der Regierung Karzai?
Frau Kollegin Roth, ich kann Ihnen bestätigen, dass
bei allen Regierungsverhandlungen genau diese Fragen
Inhalt der Gespräche und der konkreten Verhandlungen
waren. Gerade jetzt, da weitere Projekte entwickelt und
umgesetzt werden, kommt es darauf an, dass wir alles
tun, um schon jedem Anfangsverdacht von Korruption
nachzugehen und sie effizient und effektiv zu bekämpfen. Es ist, gerade in Afghanistan, nicht leicht, solche
Strukturen zu durchschauen und in die Teilevaluierung
zu gehen. Aber auch hier ist es uns ein Anliegen, Korruption, wo immer möglich, zu bekämpfen.
Herr Kollege Raabe, bitte.
Frau Staatssekretärin, es ist wirklich wichtig - auch
im Sinne der deutschen Steuerzahler und der vielen
Spender -, dass wir, wie Sie gerade sagten, darauf achten, in Entwicklungsländern umfassend gegen Korruption vorzugehen und schon jeden Anfangsverdacht zu
verfolgen.
In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie man
Korruption definiert. Würden Sie es als Korruption ansehen, wenn in einem Land eine Regierungspartei, sagen
wir einmal, Steuern für eine gewisse Branche senkt und
diese Partei anschließend eine beträchtliche Summe von
dieser Branche gespendet bekommt?
({0})
Würden Sie das in einem Entwicklungsland in die Nähe
von Korruption rücken oder nicht?
Lieber Herr Kollege, wir sprechen von Entwicklungszusammenarbeit. Alles, was ich zur Korruptionsbekämpfung darstellen konnte, habe ich vorhin gesagt. Spekulationen oder irgendwelche persönlichen Wertungen
überlasse ich Ihnen.
Die Fragen 16 und 17 der Kollegin Dr. Bärbel Kofler
werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 18 der Kollegin Karin
Roth:
Wie viel der 420 Millionen Euro, die im Jahr 2010 für den
zivilen Wiederaufbau Afghanistans bereitstanden, ist abgeflossen, insbesondere in den regionalen Fonds im Norden
Afghanistans zur Verbesserung der Regierungsführung auf
Provinz- und Distriktebene, RCDF, und den Regionalinfrastrukturfonds im Norden Afghanistans zum Ausbau von Infrastrukturprojekten, RIDFA, und wie werden die restlichen Mittel verwendet?
Danke sehr, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Roth,
zur Beantwortung Ihrer Frage muss ich Ihnen leider einige Zahlen vorlesen. Das ist zwar sehr detailliert; aber
ich denke, es ist notwendig, um sich einen Überblick zu
verschaffen.
Für die Entwicklung und den zivilen Wiederaufbau
haben wir im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Jahr 2010 240 Millionen Euro als Jahreszusagerahmen - Verpflichtungsermächtigungen - im Bereich der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit und 10 Millionen Euro Verpflichtungsermächtigungen zur Förderung des Engagements
im Bereich der privaten Träger zur Verfügung gestellt.
Aufgrund der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Globalkürzung im Bereich der Verpflichtungsermächtigungen - Sie wissen das, Frau Kollegin Roth wurde bei der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, das heißt der Finanziellen wie der Technischen Zusammenarbeit, eine Kürzung des Zusagerahmens für Afghanistan von den eben genannten 240 Millionen Euro auf 224,5 Millionen Euro Verpflichtungsermächtigungen erforderlich. Das ist eine Kürzung um
6 Prozent. Diese Zusage wurde im Mai 2010 im Rahmen
der deutsch-afghanischen Regierungsverhandlungen erteilt. Damit wurden Afghanistan vom BMZ inklusive der
Mittel für private Träger insgesamt 234,5 Millionen
Euro zugesagt. Der Abfluss dieser Mittel - genau danach
fragten Sie - war nicht für das Jahr 2010, sondern für die
Folgejahre nach Projektfortschritt geplant.
Für den Regionalinfrastrukturfonds, RIDFA, wurden
im Rahmen der Regierungsverhandlungen im Mai 2010
insgesamt 22 Millionen Euro und für den regionalen
Fonds, RCDF, 24 Millionen Euro durch das BMZ zugesagt. Im Jahr 2010 wurden die Vorbereitungen zur Implementierung der Fonds ausgeführt, also Unterschriften
getätigt und Verträge geschlossen. Für beide Fonds wurden zahlreiche Projektvorschläge eingereicht, die momentan einer Überprüfung zur Durchführbarkeit unterzogen werden. Der Gesamtwert dieser Anträge beläuft
sich auf über 30 Millionen Euro.
Aus einem weiteren Titel leistete das BMZ zusätzlich
anlassbezogene, entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe. Diese belief sich 2010 auf 11,67 Millionen
Euro und wurde von einer staatlichen Durchführungsorganisation sowie deutschen Nichtregierungsorganisationen umgesetzt. Im Rahmen des Stabilitätspakts Afghanistan wurden dem Auswärtigen Amt für das Jahr 2010
insgesamt 180,7 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Davon sind nach derzeitigem Stand etwa 97 Prozent abgeflossen. Jedoch sind noch nicht alle Auszahlungen im
System erfasst. Die Quote kann sich daher noch erhöhen.
Die endgültigen Zahlen werden erst in der dritten Kalenderwoche 2011 vorliegen, also in Kürze. Mittel des Stabilitätspakts Afghanistan, die nicht im Jahr 2010 verausgabt wurden, fließen an das Bundesministerium der
Finanzen zurück.
Haben Sie Nachfragen? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Kollegin Kopp, für die interessanten
Zahlen. - Eine Frage steht aber trotzdem noch im Raum.
Ich habe nach dem Abfluss der Mittel für die Fonds gefragt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind die
24 Millionen Euro und die 22 Millionen Euro bisher
nicht abgeflossen. Sie haben erst die Fonds gegründet,
dann haben Sie sich Projekte angeschaut. Das Geld ist
aber noch nicht abgeflossen. Insofern danke ich Ihnen
zwar für die Darlegung der Zahlen; aber meine zentrale
Frage lautet: Ist denn im Jahr 2010 bezogen auf diese
Fonds - natürlich ist auch das andere schön und gut und
wichtig - Geld geflossen oder nicht? Aus der Beantwortung dieser Frage ergibt sich nämlich, wo wir - das spielt
eine Rolle bei der Diskussion über die Verlängerung des
Mandats - stehen. Auf der einen Seite ist die Abzugsperspektive entscheidend, auf der anderen Seite die Demokratisierung, die wir gerade mit diesen beiden Fonds unterstützen wollen. Darauf möchte ich eine ehrliche
Antwort, nicht nur die Zahlen.
Frau Kollegin Roth, Sie haben völlig recht, wenn Sie
diese beiden absolut wichtigen Fonds ansprechen. Sie
wissen aber auch, dass diese Fonds zunächst einmal vorbereitet werden mussten bzw. müssen. Sie mussten eingerichtet werden, es müssen Verträge geschlossen werden, und es sind strukturelle Maßnahmen zu treffen. Es
sind Projekte auszuwählen, auszuschreiben, und diesen
muss dann der Zuschlag erteilt werden. Ich habe eben
auf die dritte Woche im Januar verwiesen, in der weitere
Details zum Abfluss von Mitteln bekannt gegeben werden. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt lediglich die Zahlen nennen, die ich eben genannt habe. Was die beiden
Fonds betrifft, so muss ich Sie noch einige wenige Tage
um Geduld bitten, bis wir wissen, wie viel Geld konkret
abgeflossen ist.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja, Frau Präsidentin.
Bitte sehr.
Vielen Dank für die Klärung der Situation. - Wir wissen, dass das Thema der Fonds schwieriger ist als das
der anderen Projekte. Daran will ich keine Kritik üben;
denn auch hier stellt sich das Thema der Korruption. Das
ist gar keine Frage.
Sie hatten für 2010 für den Fonds relativ viel Geld
vorgesehen. Wir haben in diesem Bereich aus guten
Gründen eine Verdopplung der Entwicklungshilfe vorgenommen, damit wir diese Fonds installieren können, um
die Demokratisierungsprozesse in Afghanistan voranzubringen. Das ist auch eine wichtige Voraussetzung für
den Abzug unserer Bundeswehr. Das soll ja gleichzeitig
erfolgen.
Gesetzt den Fall, dass nicht alle Mittel, wie ich annehme, abgeflossen sind, möchte ich nur wissen: Was
passiert denn mit diesen Mitteln? Werden die dann in das
Jahr 2011 transferiert? Ist das so von Ihrem Ministerium
organisiert? Haben Sie dafür die Vorbereitung getroffen?
Denn an diesen beiden Fonds hängt ja wirklich sehr viel,
was die Infrastruktur, die politische Entwicklung der regionalen Strukturen und die Beteiligung von Menschen
angeht und die Demokratisierung im Lande voranbringen soll. Oder geht das Geld dann auch - so wie die anderen 97 Prozent im Außenministerium - an den Finanzminister? Der freut sich; aber ich glaube, das ist nicht in
unserem Sinne. Zumindest haben wir das anders verabredet.
Frau Kollegin Roth, wir haben uns in der Tat auf allen
Ebenen ein sehr ambitioniertes Arbeitsprogramm vorgenommen und sind daran interessiert, auch und gerade
mit dem zivilen Aufbau erheblich weiterzukommen.
Dazu haben wir dort etliche Projekte installiert. Ich kann
Ihnen zum derzeitigen Zeitpunkt nur sagen: Ich gehe davon aus, dass diese beiden Fonds bei ihrer Installierung
mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet werden, damit sie in entsprechender Weise verwendet werden können.
Wir kommen zur Frage 19 des Kollegen Dr. Sascha
Raabe:
Wird die Bundesregierung der in einem Interview mit dem
Deutschlandfunk am 3. Januar 2011 ausgesprochenen Empfehlung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker
Kauder, folgen und Christen in den Ländern, in denen sie verfolgt werden, künftig stärker im Wege der Entwicklungszusammenarbeit unterstützen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Raabe,
ich hoffe, Sie sind einverstanden, wenn ich Ihre beiden
Fragen zusammenfasse, denn sie gehören zusammen.
Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen
Dr. Sascha Raabe auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der in einem Interview mit der Rheinischen Post am 3. Januar 2011
gemachten Äußerung des Parlamentarischen Geschäftsführers
der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Stefan
Müller ({0}), wonach es keine Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern mehr geben solle, in denen Christen ihre
Religion nicht ungehindert ausüben können, und sieht die
Bundesregierung die Gefahr, dass diese Forderung radikalen
Kräften in den betreffenden Ländern in die Hände spielen
könnte?
Sie fragen danach - ich sage es einmal mit meinen
Worten -, ob wir als BMZ bereit sind, bestimmte Religionsgruppen in besonderer Weise bei der Entwicklungszusammenarbeit zu bedenken. Dazu kann ich Ihnen
sagen: Wir legen als BMZ allergrößten Wert darauf, dass
die Einhaltung der Menschenrechte in jedem Fall die
Messlatte unseres Handelns ist. Das bedeutet natürlich
auch die Gewährleistung von Religionsfreiheit. Für uns
ist das ein ganz wichtiges Gut. Daran richten wir auch
unsere staatliche Projektförderung aus.
Wir sind nicht der Ansicht, dass bestimmte Religionsgruppen in bestimmter Weise besonders mit staatlichen
Mitteln zu fördern sind. Da geht es zum Beispiel um
nichtstaatliche Projekte; da kann man in bestimmter
Weise hinschauen. Wir achten aber natürlich auf allergrößte Neutralität. Und wir achten darauf, dass Minderheiten nicht unterdrückt werden. Es geht uns darum, dass
wir nicht durch bestimmte Bevorzugung von Gruppen
möglicherweise konfliktverschärfend handeln.
Insofern kann ich die Frage so beantworten: Wir handeln nach neutralen Regelungen, ausgerichtet an der
Einhaltung von Menschenrechten, an der Religionsfreiheit für jedermann und jede Frau in allen Gruppen.
Ihre Nachfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, es freut mich, dass das Ministerium offensichtlich eine andere Meinung als der Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, und Stefan
Müller von der CSU hat. Der Hintergrund der Frage war,
dass nach den furchtbaren Anschlägen in Ägypten - die,
was die Brutalität angeht, eigentlich nicht in Worte zu
fassen sind - von Herrn Kauder und Herrn Müller die
Schlussfolgerung gezogen wurde, dass die Entwicklungsarbeit in Zukunft danach ausgerichtet werden solle,
in welchen Ländern Christen verfolgt werden und in
welchen nicht.
Ich frage Sie in diesem Zusammenhang, ob Ihnen
- ansonsten bitte ich Sie, das an Ihren Koalitionspartner
weiterzugeben - die Aussagen der beiden kirchlichen
Entwicklungswerke Misereor und EED bekannt sind,
dass sie das für ganz falsch halten. Herr Michael Hippler
vom katholischen Hilfswerk Misereor sagt, dass man mit
solchen Vorschlägen gerade radikalen Kräften in die
Hände spiele. Auch Frau Warning vom EED sieht das
so.
Als ebenfalls betroffener Christ, der ich immer wieder
erleben muss, dass die Partei mit dem C im Namen mich
in Mitverantwortung nimmt, würde ich mir wünschen,
dass man mehr auf die Kirchen hört, die sagen, gerade
moderaten Muslimen müsse man deutlich machen, dass
Menschenrechte unteilbar seien und es keine explizite
Förderung von Christen gebe. Hippler sagte, das katholische Hilfswerk sehe sich da in der Nachfolge Jesu, der
ebenfalls keiner bestimmten, sondern allen Gruppen geholfen hat. Es freut mich, wenn das Ministerium es so
sieht, und ich würde mich freuen, wenn dieser christliche
Geist auch bei der Union einziehen würde.
({0})
Herr Kollege Raabe, ich habe eben ausgeführt: Das
Leitprinzip unserer Entwicklungszusammenarbeit - übrigens der Entwicklungszusammenarbeit auch der Bundesregierung, nicht nur des BMZ - ist die Einhaltung der
Menschenrechte. Ich bin mir sehr sicher, Herr Kollege
Raabe, dass das die Kollegen und Kolleginnen der
Union genauso sehen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin
und des Bundeskanzleramtes auf. Für die Beantwortung
der Fragen steht Frau Staatsministerin Professor
Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Wir kommen zunächst zur Frage 21 des Kollegen Jan
Korte:
Wer trägt nach Auffassung der Bundesregierung die politische Verantwortung dafür, dass die beim Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, BND, Organisation Gehlen, schon
1952 vorhandenen Informationen zum Aufenthaltsort des NSVerbrechers Adolf Eichmann in Argentinien seitens der Bundesregierung nicht genutzt bzw. an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden des Bundes oder befreundeter Staaten weitergegeben wurden, und wieso wurde die entsprechende
Information erst 1958 an die USA weitergeleitet?
Frau Staatsministerin.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Korte,
ich nehme wie folgt Stellung zu Ihrer Frage: Die Organisation Gehlen befand sich vom 1. Juli 1949 bis Ende
März 1956 in der Verantwortung der CIA der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Bundesnachrichtendienst
als dem Bundeskanzleramt unterstellte Behörde wurde
erst am 1. April 1956 gegründet. So weit diese Vorbemerkung.
Die im BND derzeit vorhandene Aktenlage zu diesem
Vorgang erlaubt überdies keine eindeutige Aussage zur
damaligen Bewertung und Verwendung der in dieser
Frage angesprochenen Information über den angeblichen
Aufenthaltsort von Adolf Eichmann. Daher können derzeit auch die von Ihnen aufgeworfenen Fragen seriöserweise nicht belastbar beantwortet werden. Dies muss
vielmehr - das halte ich für ganz entscheidend - der jetzt
eingeleiteten wissenschaftlichen Erforschung der Frühgeschichte des Bundesnachrichtendienstes und seiner
Vorläuferorganisation überlassen bleiben.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte.
Schönen Dank. - Ich möchte Sie, Frau Staatsministerin, gerne fragen, ob Sie mir in der Bewertung zustimmen, dass die Geheimhaltung des Aufenthaltsorts von
Adolf Eichmann, seit 1952 bekannt, als Strafvereitelung
im Amt zu bewerten ist?
Herr Kollege, dies ist eine Unterstellung. Ich habe Ihnen eben mitgeteilt, dass es keine Belastbarkeit bei den
Aussagen gibt. Das ist gerade in einer solchen Frage entscheidend. Ich darf Ihnen sagen: Wir haben ein hohes Interesse daran, dass Transparenz hergestellt wird. Wir
werden jegliche Unterstützung dazu leisten, dass in dieser Frage Aufklärung gegeben wird. Ich glaube, wir in
diesem Hohen Hause sind uns einig, dass jeder ein Interesse daran hat, dass jeder Punkt aufgeklärt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass jetzt Forschungen in diesem
Bereich stattfinden. Darauf setzen wir. Wir haben die Ergebnisse dieser Forschungen in der gebotenen Gründlichkeit abzuwarten und auszuwerten.
Eine weitere Nachfrage.
Ich versuche es einmal anders herum: Wie würden Sie
aus heutiger Sicht - ich verweise auf den Stand der Wissenschaft und der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland - das damalige Verhalten einordnen? Wo sehen Sie die politische Verantwortung für
diesen schier unglaublichen Vorgang?
Herr Kollege, niemand in diesem Haus negiert das
große Interesse, das jeder haben musste. Aufgrund meines Alters konnte ich als Schülerin vor dem Fernsehschirm den Prozess mitverfolgen, der damals in Israel
durchgeführt worden ist. Er hat mich wie viele andere
auch zutiefst aufgewühlt und bewegt. Man muss alles
dafür tun, um Dinge aufzuklären, erst recht, wenn jetzt
solche Vermutungen im Raum stehen. Deshalb ist es für
mich von entscheidender Bedeutung, dass eine wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt wird und dass
uns Historiker die damaligen Zusammenhänge erklären.
Aufgrund dieser wissenschaftlich dezidiert vorgetragenen Erkenntnisse können wir uns dann ein Urteil bilden.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Jan Korte:
Wer genau im Bundeskanzleramt oder BND verhindert bis
heute aus welchen Gründen die vollständige Einsichtnahme
und/oder Veröffentlichung der mehrere Tausend mikroverfilmte Seiten umfassenden BND-Akte über Adolf Eichmann?
Herr Kollege Korte, Sie wissen, dass derzeit vor dem
Bundesverwaltungsgericht zwei Verwaltungsstreitverfahren gegen den Bundesnachrichtendienst auf Einsichtnahme in Akten zu Adolf Eichmann geführt werden. Das
Bundeskanzleramt als oberste Dienstbehörde des BND
hat in beiden Verfahren eine sogenannte Sperrerklärung
auf der Grundlage der Verwaltungsgerichtsordnung gemäß § 99 abgegeben. Ich darf noch einmal sinngemäß
§ 99 in den Blick rücken: Danach kann die Vorlage von
Akten verweigert werden, wenn das Bekanntwerden des
Inhalts dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten würde
oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem
Wesen nach geheim gehalten werden müssen.
Ein großer Teil der Akten des BND zu Eichmann
wurde vom Bundesnachrichtendienst ungeschwärzt vorgelegt. Diese Akten stehen den Klägern im Rahmen ihres Akteneinsichtsrechts uneingeschränkt zur Verfügung. In Pressemitteilungen war zu lesen, dass auch eine
Karteikarte zu diesen Unterlagen gehört. Ein geringerer
Teil der Unterlagen wurde gemäß den gesetzlich vorgesehenen und gerichtlich anerkannten Sperrgründen
durch den Bundesnachrichtendienst teilweise geschwärzt vorgelegt. Dies geschah aus berechtigten Gründen: wegen des Schutzes personenbezogener Daten von
Dritten, von Informanten und nachrichtendienstlicher Informationsbeschaffung.
Auf der einen Seite gibt es das Informationsinteresse
der Kläger sowie der Öffentlichkeit an der Aufarbeitung
der NS-Vergangenheit. Ich habe eben betont, dass jeder
von uns, gerade die Bundesregierung, ein deutliches und
nachhaltiges Interesse an der Aufarbeitung hat. Auf der
anderen Seite gilt es, die berechtigten Geheimhaltungsinteressen zu wahren. Beidem ist Rechnung getragen.
Für das weitere Verfahren gilt es, die Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Ich würde gerne wissen, wie sich das Kanzleramt
bzw. die Bundesregierung zu diesen Vorfällen verhält.
Wie verhalten Sie sich politisch dazu, dass wir fast jeden
Sonntag entweder im Spiegel oder in der Süddeutschen
Zeitung neue Informationen bekommen?
({0})
Wenn man den Fall Barbie betrachtet, dann stellt man
fest, dass das vielleicht auch für Frankreich interessant
ist. Was tut das Kanzleramt von sich aus politisch dafür,
die maximale Transparenz herzustellen?
Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir maximale
Transparenz haben wollen. Das erkennt man daran, dass
ein Großteil der Akten weitergegeben worden ist. Darüber hinaus wird die Erforschung der Unterlagen nachhaltig unterstützt. Das ist transparent und gegenüber der
Öffentlichkeit deutlich gemacht worden. Im Übrigen
wissen Sie - dafür bin ich sehr dankbar -, dass all dies
- das wissen wir von den betreffenden Stellen, die sich
sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigen - auch im Internet vorhanden ist. Ich glaube, Transparenz ist klar gegeben.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Ich habe noch eine Nachfrage. - Ich würde gerne wissen: Gibt es zu diesen oder ähnlichen Vorgängen - insbesondere was die NS-Vergangenheit in den Behörden, in
dem Falle beim BND angesiedelt beim Kanzleramt, angeht - weitere Unterlagen, Akten etc. direkt in den Archiven des Kanzleramtes? Wenn dies der Fall wäre, wären Sie dann bereit, diese offenzulegen?
Herr Kollege, mir ist das nicht bekannt; aber ich
glaube, es macht Sinn, wenn die Frage geprüft wird. Ich
würde Sie bitten, das klären zu lassen. Ich bin gerne bereit, das im Kanzleramt weiterzugeben.
Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Menzner.
Frau Präsidentin, ich spreche im Namen meiner Fraktion. Wir haben gesehen, wie umfänglich dieses Thema
ist. Die Fragestellung ist schwierig, und die Fragen wurden nicht zu unserer Zufriedenheit beantwortet. Deswegen beantrage ich im Namen meiner Fraktion eine Aktuelle Stunde nach § 106 GO Anlage 5.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben das gehört. Nach unserer Geschäftsordnung verdrängt die jetzt
beantragte Aktuelle Stunde die in der Tagesordnung vorgesehene Aktuelle Stunde. Ich bitte die Geschäftsführer,
kurz zu mir zu kommen, um den Zeitplan zu besprechen.
Ich unterbreche die Sitzung für einige Minuten.
({0})
Jetzt wird die unterbrochene Sitzung kurz wieder eröffnet.
Wir haben uns mit den Geschäftsführern gerade darauf verständigt, dass wir die Sitzung für eine halbe
Stunde, das heißt bis 17.35 Uhr, unterbrechen und dann
die Sitzung wieder eröffnen mit der beantragten Aktuellen Stunde zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 21 und 22 - Stichwort: Adolf Eichmann -;
darauf besteht ein Anspruch. Damit wird die Aktuelle
Stunde, die für heute geplant war, auf morgen verdrängt;
es sei denn, die Geschäftsführer vereinbaren etwas anderes.
Jetzt wird die Sitzung also bis 17.35 Uhr unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Die Fraktion Die Linke hat aufgrund der Antworten
in der Fragestunde eine Aktuelle Stunde verlangt. Ich
rufe deshalb Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE gemäß
Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorweg möchte ich sagen: Würde sich diese Bundesregierung so verhalten, wie es damals Joschka Fischer - in
diesem Falle muss ich ihn loben - mit der Beauftragung
einer Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen
Amtes getan hat, hätten wir uns heute die Debatte hier
sparen können, denn dann würden wir wirklich Aufarbeitung leisten.
Am 8. Januar berichtete die Bild-Zeitung, dass die
BND-Vorläuferorganisation, die Organisation Gehlen,
bereits 1952 wusste, wo sich Adolf Eichmann versteckt
hält. Er ist einer der Hauptorganisatoren des Holocaust,
der dafür gesorgt hat, dass bis 1945 die Deportationszüge mit Frauen, Kindern und Männern pünktlich in die
Vernichtungslager rollten. Übrigens war Hans Globke
seit 1953 Chef des Kanzleramtes.
Gut eine Woche später berichtet Der Spiegel, dass
Klaus Barbie für den BND gearbeitet hat. Der sogenannte Schlächter von Lyon, so steht es in den Akten, sei
von „kerndeutscher Gesinnung“ und „entschiedener
Kommunistengegner“. - Er war ein Massenmörder, einer der schlimmsten Massenmörder überhaupt, und er
arbeitete für den BND.
So läuft es seit einigen Wochen; jede Woche gibt es
neue Meldungen. Ich frage mich schon, wo der notwendige Grad der Empörung über diese unfassbaren Vorgänge aufseiten der Regierung und der Koalitionsfraktionen bleibt.
({0})
Es wäre doch richtig, angesichts der empörenden Vorgänge gemeinsam darüber zu diskutieren, was die angemessene politische Schlussfolgerung wäre. Die politische Schlussfolgerung aus diesen schier unfassbaren
Vorgängen kann doch nur in der schonungslosen Offenlegung all dieser Akten liegen, die zum Teil 50 oder
60 Jahre alt sind. Das ist die angemessene politische
Schlussfolgerung, die wir ziehen sollten.
({1})
Ich glaube, in der Debatte in den Medien ist die Frage
zu kurz gekommen, wie diese Fälle eigentlich auf die
Opfer wirkten: Wie wirkte es auf die Opfer, dass jemand
wie Eichmann gedeckt wurde, dass jemand wie Barbie
im Dienst des BND stand?
In der neuen Biografie über Fritz Bauer, den hessischen Generalstaatsanwalt und großen Sozialdemokraten, steht Folgendes:
Wie stellt sich diese Sicht auf die frühe Bundesrepublik eigentlich aus der Perspektive des Remigranten, des verfolgten Juden und Sozialdemokraten dar?
Das ist die entscheidende Frage, um die es hier geht:
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir, auch im Respekt
vor den Opfern?
({2})
Ich glaube, dass es auch aus einem ganz anderen
Grund für den Bundestag wichtig ist, über diese Fragen
zu diskutieren: Welche Folgen hatten eigentlich diese
Fälle - alle Forschungen in diesem Bereich besagen,
dass das nur die Spitze des Eisberges ist - für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, für die Demokratie und den Rechtsstaat? Das ist eine ganz entscheidende Frage.
Das wirkte sich bis in die Justiz hinein aus. Es kam
nicht nur zu einer Rückkehr der alten Nazirichter in Amt
und Würden. In den 50er- und 60er-Jahren wurden selbst
die schlimmsten Massenmörder, zum Beispiel der Kommandeur der Einsatzgruppe 8, der für die Ermordung
von 15 000 Jüdinnen und Juden verantwortlich war, oder
sogar der stellvertretende Lagerkommandant des Vernichtungslagers Majdanek, von deutschen Gerichten
nicht als Täter verurteilt, sondern, wenn sie überhaupt
verurteilt wurden, als Gehilfen. Man muss sich das einmal vorstellen! Wann, wenn nicht jetzt, ist denn bitte der
Zeitpunkt gekommen, dass wir alles dazu offenlegen?
({3})
Heute geht es darum, dass wir Ordnung in diese Debatte bringen. Dazu gehören die Offenlegung aller Akten
zu diesem Punkt, der völlig offene Zugang zu den Akten,
und zwar nicht nur zu den Akten, die vorher durchgesiebt worden sind. Das hat übrigens auch etwas mit
freier Wissenschaft zu tun. Ich glaube, dass alle Bürger
in diesem Lande - wir hier im Bundestag, aber auch jeder andere draußen auf der Straße - und die Wissenschaft, insbesondere die jungen Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, die gerade in diesem Bereich in den
letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet haben, vor
allem aber die Opfer und ihre Angehörigen ein Recht darauf haben, dass hier alles offengelegt wird, dass nichts
behindert wird, sondern dass es bei diesen Fragen größtmögliche Transparenz gibt. Ich glaube, das ist jetzt wirklich geboten.
({4})
Letzte Anmerkung, die ich machen will: Wir müssen
natürlich auch darüber diskutieren, wer die politische
Verantwortung für diese Zustände in den 50er- und 60erJahren trägt - das ist eine wichtige Frage - und welche
Verantwortung wir hier und heute haben. Ich glaube,
dass unsere gemeinsame Verantwortung heute darin besteht, eine ungehinderte Offenlegung aller Unterlagen, die
es gibt - inklusive der Unterlagen des Kanzleramtes -, zu
gewährleisten.
Fritz Bauer ist einsam gestorben, weil er allein ermittelt hat, weil er den Auschwitz-Prozess damals fast allein
anstrengen musste. Leuten wie Fritz Bauer sollten wir
auch im Nachhinein, obwohl sie schon so lange tot sind,
unsere Anerkennung zollen. Das können wir, glaube ich,
am besten, indem wir alles offenlegen und über diese
Geschichte offen miteinander diskutieren.
Schönen Dank.
({5})
Manfred Grund ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Dies ist eine der unnötigsten Aktuellen Stunden
im Deutschen Bundestag.
({0})
Sie ist unnötig, weil die Fragen, die die Linksfraktion
gestellt hat, während der Fragestunde vom Kanzleramt
beantwortet wurden und im Innenausschuss heute bereits
dazu Stellung genommen wurde.
({1})
Herr Kollege Korte, ein Nachrichtendienst wäre kein
Nachrichtendienst, wenn er alle seine Unterlagen auf
den Marktplätzen dieser Welt ausbreiten würde. Ein
Nachrichtendienst in einer Demokratie - der Bundesnachrichtendienst ist ein Nachrichtendienst in einer Demokratie - hat natürlich ein demokratisches Profil. Im
Rahmen dieses demokratischen Profils hat er aufgeklärt,
und er hat auch selbstkritisch mit seinen eigenen Wurzeln umzugehen.
Seit ungefähr fünf, sechs Jahren gibt es eine Aufarbeitung der Quellen. Diese Quellen des Bundesnachrichtendienstes und seines Vorläufers, der Organisation Gehlen
- ich glaube, das sind 10 000 auf Mikrofilm niedergelegte Dokumente -, werden von einer Historikerkommission erforscht, um die Anfänge zu beleuchten und
um das Wissen zu bekommen, das man braucht, um Lehren zu ziehen. Es geht nicht darum, den Nachrichtendienst in ein Zwielicht zu rücken, was Sie, Herr Korte,
versuchen.
({2})
In unserem Parlament gibt es ein Kontrollgremium,
das Parlamentarische Kontrollgremium, in dem alle
Fraktionen, auch die Linke, vertreten sind. Bei der
nächsten Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums, nächste Woche Mittwoch, steht das, was in einigen Magazinen und Zeitungen zum Thema Eichmann
angeführt und von Ihnen aufgegriffen worden ist, auf der
Tagesordnung. Wir werden im Kontrollgremium auch
mit Ihrem Vertreter ernsthaft über das diskutieren, worüber diskutiert werden kann.
Es ist nicht so, dass diese Akten geheim und irgendwo
verschlossen sind, sondern ein Großteil der Akten wurde
der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Auch die Unterlagen, die mit dem Fall Eichmann zusammenhängen, werden, nachdem die Historikerkommission, die beim Bundesnachrichtendienst tätig ist, sie gesichtet hat, der
Öffentlichkeit bekanntgemacht werden, mit allen Implikationen, die damit verbunden sind.
Aber noch einmal: Ein Nachrichtendienst kann nicht
all seine Quellen öffentlich ausbreiten. Danach könnte er
sich selber auflösen. Zwischen selbstkritischer Aufklärung, Selbstvergewisserung und den Aufgaben eines
Nachrichtendienstes ist der richtige Weg zu finden. Dies
wird das Parlamentarische Kontrollgremium leisten.
Dazu leistet auch dieses Parlament seinen Beitrag.
({3})
Ich rufe Michael Hartmann für die SPD-Fraktion auf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal ein Dankeschön an die Fraktion der Linken. Das, was Sie uns heute auf den Tisch
gelegt haben, ist eine Belebung parlamentarischer Formen. Es ist gut, wenn einmal wirklich spontan und unvorbereitet - das gilt zumindest für die übrigen Fraktionen des Hauses - eine Debatte zu einer durchaus
wichtigen Frage zustande kommt. Das ist absolut in Ordnung.
({0})
Dass der Anlass diese Debatte in gleichem Maße rechtfertigt, darüber habe auch ich Zweifel; vielleicht lassen
sie sich im Rahmen dieser Debatte noch aus dem Weg
räumen.
Im Übrigen finde ich es gut, wenn eine Fraktion wie die
Ihre, die nicht nur Menschen mit blütenweißer Biografie
in ihren Reihen hat, die Aufarbeitung der Geschichte von
Nachrichtendiensten offensiv angeht. Vielleicht stellen
Sie ähnliche Anträge wie heute auch einmal im Hinblick
auf die Vergangenheit mancher Ihrer Fraktionsmitglieder;
ich nenne stellvertretend für andere nur Herrn Nord.
({1})
Zur Sache selbst. Es sei sehr deutlich gesagt: Auch die
SPD-Bundestagsfraktion ist natürlich der Meinung, dass
eine historische Fragestellung wie der Fall Eichmann im
Interesse der deutschen Geschichtsschreibung und unserer internationalen Positionierung unbedingt und uneingeschränkt aufgeklärt gehört. Wenn da noch etwas unklar
ist, muss es auf den Tisch des Hauses und soll es auf den
Tisch des Hauses. Wir werden jedes Bemühen, das in
diese Richtung geht, unterstützen.
({2})
Allerdings werden wir ein anderes Spiel, wenn es sich
daraus entwickeln sollte, nicht mitmachen, nämlich ein
BND-Bashing. Wir wissen, dass der Bundesnachrichtendienst eine unerlässliche Aufgabe für unsere Sicherheitsinteressen im Ausland wahrnimmt. Wir unterstützen den
Bundesnachrichtendienst dabei. Wir sind froh, dass auch
dank der guten, qualifizierten und engagierten Aufklärungsarbeit des BND beispielsweise die deutschen Soldaten in ihren schwierigen Auslandseinsätzen ein Stück
weit sicherer sind, als sie es ohne den BND wären.
({3})
Der Bundesnachrichtendienst erfüllt eine wichtige Pflicht
im Interesse Deutschlands. Dafür danke ich ihm bei dieser Gelegenheit.
({4})
Wir haben eine klare Gesetzeslage, die vorschreibt,
wie jeder BND-Präsident, wie die Bundesregierung, das
Kanzleramt und der Koordinator agieren müssen.
Michael Hartmann ({5})
Erstens. Es ist eine Historikerkommission - ich nenne
sie einmal so - aus vier unabhängigen, durchaus kritischen Wissenschaftlern eingesetzt worden, die dieses
Thema aufarbeiten soll. Dann ist in den zuständigen
Gremien - da haben Sie recht, Herr Kollege Grund - zu
bewerten, wie mit den Ergebnissen im Einzelfall umzugehen ist.
Zweitens. Es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das von der Fraktion der Grünen, die sich da
sehr engagiert hat, im Zusammenhang mit dem BNDUntersuchungsausschuss erwirkt wurde. Wir waren damals - die Frontstellung gab es nicht her - zwar nicht
dafür, ein Urteil zu erwirken; aber mit dem Ergebnis
können wir als Parlamentarier insgesamt zufrieden sein.
Dieses Urteil besagt nämlich, dass die Bundesregierung
Akten nicht einfach wegschließen oder schwärzen oder
bestimmte Teile herausnehmen darf mit der Begründung
„Das ist ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ oder Ähnlichem, sondern es muss detailliert begründet werden, warum was nicht vorgelegt wird. Wir
wollen, dass auch der Fall Eichmann nach Maßgabe dieses Urteils aufgearbeitet wird. Das müsste eigentlich von
allen Seiten dieses Hauses unterstützt werden.
({6})
Letzter Punkt. Der BND arbeitet genauso wenig wie
andere geheime Nachrichtendienste im luftleeren Raum.
Das bedeutet, dass wir nicht nur von eigenen Informationen leben und eigene Informationen, die von eigenen
Quellen gewonnen wurden, aufarbeiten. Vielmehr haben
wir sehr viele unserer Informationen nur deshalb erhalten, weil wir mit Partnerdiensten zusammenarbeiten,
weil uns Quellen von dort zugearbeitet haben. Auch das
müssen wir, ob es uns gefällt oder nicht, respektieren,
wenn wir nachrichtendienstliches Handeln nicht insgesamt bedrohen wollen. Dieses Geschäft lebt nun einmal
vom Geben und Nehmen.
Ich hoffe sehr und vertraue darauf, dass der skandalöse Fall Eichmann ohne Schonung aufgearbeitet wird
und der Öffentlichkeit alle Akten zur Verfügung gestellt
werden. Ich sehe und höre nicht, dass sich irgendjemand
dem verweigert. Seien wir also nicht vorauseilend ungehorsam, sondern warten wir ab, was erarbeitet wird!
Dann ist vielleicht Zeit für Kritik. Bis jetzt gehe ich allerdings davon aus, dass die Bundesregierung ebenso
wie das gesamte Haus daran interessiert ist, dass eine
gründliche, solide und vollständige Aufarbeitung stattfindet.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Aktuelle Stunde ist auf mehreren Ebenen
interessant. Die erste Ebene ist der historische Tatbestand; dazu hat Herr Hartmann, wie ich finde, Richtiges
gesagt und es sehr sachlich vorgetragen. Zur zweiten
Ebene, nämlich zur politischen Bewertung und zur
Frage, warum Sie heute diese Aktuelle Stunde beantragt
haben, ist noch etwas zu sagen.
Erst einmal zum historischen Sachverhalt selbst.
Schon als Student, aber auch in meiner Tätigkeit als
Rechtshistoriker am Max-Planck-Institut für europäische
Rechtsgeschichte hat mich dieses Thema seit vielen Jahren, seit fast zwei Jahrzehnten, interessiert. Norbert Frei
hat in seinem Buch Vergangenheitspolitik sehr viele historische Wahrheiten über die frühe Bundesrepublik erforscht. Es gibt keine zwei Meinungen: Auch in meiner
Partei gab es Menschen, die früher Mitglied der NSDAP
waren. Auch in meiner Partei gab es Menschen, die Mitglied der NSDAP geworden sind. In allen obersten Bundesbehörden, in Ministerien, im Bundesgerichtshof
- hier besteht insofern Kontinuität gegenüber dem
Reichsgericht -, gab es natürlich Mitglieder der NSDAP
und Nazis, die dort bedauerlicherweise weiter beschäftigt worden sind. Das gehört aufgearbeitet, historisiert,
bewertet. Kein Mensch - so hat es auch Herr Hartmann
gesagt - hat etwas dagegen, und keine Partei in diesem
Parlament will in irgendeiner Weise die Arbeit von Historikern erschweren. Insofern sollten Sie hier auch nicht
diesen Eindruck erwecken.
({0})
Dann kommt aber die nächste Ebene, nämlich, dass
dieses Thema heute Morgen im Innenausschuss diskutiert worden ist. Da hat der Kollege Hartmann als Einziger - wie ich finde, zu Recht - die Frage gestellt, die dieser Tage interessant ist: Wie arbeitet das Bundesamt für
Verfassungsschutz seine eigene Geschichte auf? - Da
gab es eine Ausschreibung, die am 28. Dezember endete,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe. In der FAZ und
in anderen Medien gab es Diskussionen über die Frage:
Wie weit soll die Offenlegung von Akten, die nicht bereits im Bundesarchiv liegen - das ist die Mehrheit der
Akten -, gehen, vor allem wenn es um die Arbeit von
Geheimdiensten geht, die auch international vernetzt
sind und die natürlich ein legitimes Geheimhaltungsinteresse haben? Über diese Frage ist in der Tat zu entscheiden, und da muss man zwischen dem historischen Interesse, etwas aufzuarbeiten, und dem Interesse eines
Bundesamtes für Verfassungsschutz - das keineswegs
im rechtsfreien Raum agiert -, eben auch diese internationale Vernetzung und die Aufgabenwahrnehmung verantwortlich auszuüben, abwägen.
Interessanterweise hatte der Kollege Korte, der hier
so engagiert vortrug, heute im Innenausschuss alle
Chancen, sich mit dieser Frage zu befassen.
({1})
Er hat sie in keiner Weise genutzt.
({2})
Im Gegenteil: Als es zu der Frage kam, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz - wie ich finde, zu Recht Dr. Stefan Ruppert
die Linke weiter beobachtet, hat er die Situation ausschließlich dazu genutzt, sozusagen einen Ausfallangriff
zu starten und diesen historischen Sachverhalt ausdrücklich zu thematisieren, und zwar ohne einen einzigen Moment der Selbstkritik, ohne eine einzige Reflexion, dass
Ihre „Vergangenheitspolitik“ - um mit Norbert Freis
Worten zu sprechen - so defizitär ist, dass Sie sich schämen müssten, dass Sie dieses Thema nicht ordnungsgemäß und sachlicher angehen.
({3})
Wozu machen Sie das? Ich habe als Vertreter einer
jüngeren Generation kein Problem damit, die Geschichte
meiner Partei historisch aufzuarbeiten.
({4})
Sowohl im Archiv des Liberalismus als auch bei anderen
- genauso wie bei Ihnen übrigens auch - gibt es Leute,
die daran sehr gut arbeiten. Ich habe damit kein Problem.
Womit ich ein Problem habe, ist, wenn von der Linkspartei in einer Art Entlastungsangriff eine Frage hochgespielt wird, ohne dass diese Frage in dem zuständigen
Ausschuss auch nur einmal thematisiert worden ist.
({5})
Da, lieber Herr Korte, bekommt die Frage ein ausdrückliches Geschmäckle, weil Sie eben nicht an ernsthafter
historischer Vergangenheitsbewältigung interessiert sind,
sondern einen Entlastungsangriff fahren wollen, weil Sie
Ihre Wege zum Kommunismus noch nicht so genau bewerten können.
({6})
- Auch der Vorgang zu Herrn Globke ist natürlich aufzuarbeiten. Wir sollten nicht einen anderen Eindruck erwecken. Über diese Dinge forschen Generationen von Historikern, angefangen in den frühen 70er-Jahren unter
schwierigen Bedingungen, in den letzten vielleicht
15 Jahren zunehmend erfolgreicher, sachlicher und auch
besser.
Ich nehme Ihnen Ihr ernsthaftes Interesse an historischer Aufarbeitung erst dann ab, wenn Sie sich der Aufarbeitung Ihrer eigenen Vergangenheit mit dergleichen
Ernsthaftigkeit stellen.
({7})
Diese lassen Sie jeden Tag wieder vermissen.
({8})
Stattdessen faseln Sie über Wege zum Kommunismus.
Dies ist unseriös, sodass ich Ihnen Ihr Interesse nicht abnehme. Es besteht eben ein Unterschied zwischen dem
verantwortungsvollen Redebeitrag der Opposition, von
Herrn Hartmann, und dem Redebeitrag von Ihnen, Herr
Korte, der eben nicht ernst zu nehmen ist.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Organe, Ämter und Beamte dieses Staates, unseres Staates - es ist lange her, aber es bleibt dabei: So war es -,
haben nach dem Krieg nationalsozialistischen Mördern
zur Flucht verholfen. Sie haben ihre Aufenthaltsorte verschwiegen und verhindert, dass sie der Justiz überantwortet werden konnten. Das ist ein Zustand, der zum
Teil bekannt ist, zum Teil aber auch noch nicht bekannt
ist.
Die Debatte in diesem Hause darüber, wie wir uns
auch nach Jahrzehnten mit diesem Phänomen beschäftigen - das will ich an den Anfang stellen -, ist, Herr Kollege Grund, jedenfalls für mich niemals eine unnötige
Debatte.
({0})
Trotz aller Berechtigung der Vorwürfe gegenüber der
Linken, dass sie in dieser Sache „Leichen im eigenen
Keller“ liegen hat - bezüglich ihrer Verantwortung für
den Staatssicherheitsdienst der DDR zum Beispiel -,
würde ich diese Themen gerne trennen und nicht in einem Atemzug nennen
({1})
und die Debatte über den Nationalsozialismus und seine
Fortwirkung bis heute nicht zusammen mit der über die
fehlende Aufarbeitung des Unrechts in der DDR führen
wollen. Auch durch den Hinweis darauf, dass das heute
Vormittag in einer nichtöffentlichen Innenausschusssitzung vielleicht schon besprochen worden ist,
({2})
werden wir nicht davon entbunden, über dieses Thema
hier im Plenum zu diskutieren, wenn es aus diesem
Hause den Wunsch danach gibt.
Die Situation ist so - jedenfalls aus meiner Sicht -,
dass sich die Historiker auch in den letzten Jahren und
auch auf der Seite der FDP darum bemüht haben, aufzudecken, was man eigentlich schon vor Jahrzehnten
hätte offenlegen müssen. Mich schmerzt, ärgert und
wundert, dass es offensichtlich das Faktum gibt - das ist
herausgekommen -, dass in den Akten des Bundesnachrichtendienstes aus dem Jahre 1952 steht, dass dem Bundesnachrichtendienst bekannt war, wo sich der Massenmörder Eichmann aufgehalten hat und unter welchem
Decknamen er wo gelebt hat. Davon haben wir nichts
gewusst.
Ich würde mir wünschen, dass der Bundesnachrichtendienst - ich mache wirklich kein BND-Bashing - von
sich aus ein Symposium organisiert,
({3})
in dem er sich zum Beispiel mit seiner Frühgeschichte
auseinandersetzt
({4})
und von sich aus offenlegt, dass er Informationen über
den Fall Eichmann in seinem Keller hat. Solange so etwas nicht geschieht,
({5})
habe ich die Befürchtung, dass nicht nur in den Aktenbeständen des BND, sondern auch in denen des Bundesamtes für Verfassungsschutz und vielleicht auch in den
alten Akten des Bundeskriminalamtes noch mehr solcher
Informationen zu finden sind.
({6})
Solange wir die Vergangenheit und unsere Verantwortung aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland
nicht lückenlos aufarbeiten, wird uns die Geschichte des
Nationalsozialismus immer wieder einholen. Deswegen
ist es mein Wunsch bzw. meine Forderung an die Bundesregierung, wirklich in einer radikalen Art und Weise
zu sagen: Wir drehen jetzt die Richtung um. Die Ämter
sind nicht in erster Linie daran interessiert, ihre alten
Aktenbestände, ihre Historie aus 60 Jahren abzudecken
und zu kuvrieren, sondern wir werden diese Unterlagen,
soweit es unter der notwendigen Beachtung der Persönlichkeitsrechte und auch der heute aktuell noch vorhandenen Probleme mit benachbarten Staaten und befreundeten Diensten geht, selbst auf den Tisch legen. Wenn
wir drei- oder viermal erleben, dass uns die Exekutive
mit neuem Material versorgt, statt dass wir immer nur
von investigativen Journalisten aus der Presse oder
durch Zufall etwas erfahren, dann ändert sich etwas. Das
ist mein Wunsch. Das wäre ein Gewinn aus dieser Debatte.
({7})
Clemens Binninger hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Montag, gestatten Sie mir, dass ich
zunächst auf Ihren Beitrag eingehe. Ich bin mit Ihnen
einig, dass wir Verstrickungen oder Verbindungen zwischen Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Anfangszeit und Nazis und anderen Verbrechern aus dieser schlimmen Zeit deutscher Geschichte
aufklären, jedem Einzelfall nachgehen und ihn bewerten
müssen, um damit einen weiteren Beitrag dazu zu leisten, dass wir hier nichts, aber auch gar nichts zu verdecken haben. Darin sind wir uns, glaube ich, alle einig.
Wenn es uns damit ernst ist, dann müssen wir aber in
dieser politischen Debatte darauf achten, dass wir dieses
ernsthafte Anliegen, das uns alle eint, nicht vordergründig politisch motiviert nutzen, um irgendetwas zu skandalisieren oder von irgendetwas abzulenken. Diesen Vorwurf mache ich Ihnen, Herr Korte.
({0})
Sie haben eher den Eindruck erweckt, dass es Ihnen um
die aktuelle Bundesregierung geht, die irgendetwas verdeckt, als um die wirkliche Aufklärung von Verstrickungen anhand von Akten unserer Sicherheitsbehörden.
({1})
Wenn das so durchsichtig politisch motiviert ist, wie es
bei Ihnen der Fall ist, dann sind Sie nicht glaubwürdig.
({2})
Das muss ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
Wenn es um Aufklärung geht, dann darf man, glaube
ich, in dieser Debatte zu Recht darauf hinweisen, dass
sich die Bundesregierung heute Nachmittag nicht geweigert hat, die Fragen von Herrn Korte zu beantworten,
({3})
sondern beide Fragen beantwortet hat,
({4})
und dass wir bei dieser Aufgabe schon seit geraumer
Zeit dem Bundesarchiv in Koblenz eine zentrale Rolle
zukommen lassen.
({5})
Die gleiche Debatte haben Joschka Fischer im Auswärtigen Amt und der Präsident des Bundeskriminalamtes
Ziercke in seinem Amt angestoßen. Das liegt schon etwas zurück. Der BND-Präsident Ernst Uhrlau hat schon
im letzten Jahr eine Historikerkommission eingesetzt,
die inzwischen ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie befasst
sich mit genau solchen Fragen und soll aufarbeiten, wo
es solche schlimmen Verstrickungen gab.
Dafür stellt die Bundesregierung Mittel zur Verfügung, und zwar je eine halbe Million Euro in 2010 und
2011.
({6})
- Herr Kollege Lange, wenn es uns wie mir, den Kollegen Montag und Hartmann - das nehme ich ihm ab und auch dem Kollegen Ruppert von der FDP ernsthaft
darum geht,
({7})
dann müssen wir uns, glaube ich, nicht gegenseitig vorhalten, wer wie viel zu wenig oder noch nicht genug gemacht hat. Entscheidend ist für uns, dass wir uns darin
einig sind, dass wir das machen wollen, und dass wir als
Parlamentarier auch im Blick behalten, dass es umgesetzt wird. Aber wir sollten nicht so tun, als ob nichts gemacht würde.
Trotz aller Aufarbeitung und der Notwendigkeit, historische Akten aufzuarbeiten und Versäumnisse aufzudecken, bleibt ein Spannungsfeld. Das wissen Sie, Kollege Montag. Ein Geheimdienst wird immer darauf
hinweisen, dass eine Aufarbeitung in der Öffentlichkeit
problematisch ist.
({8})
- Ja, wie Sie gerade sagen: Soweit irgend möglich, muss
jeder Fall offengelegt werden. Aber da es um den gesamten Aktenbestand geht, gilt für die Fälle, wo dies,
wie auch seitens der Gerichte festgestellt wurde, nicht
möglich ist, dass das Parlament nicht außen vor ist. Wir
haben das Parlamentarische Kontrollgremium, das genau dieses Thema in der nächsten Woche auf die Tagesordnung setzen wird. Dieses Gremium ist schließlich
dafür da, nachzufragen, ob wirklich eine Geheimhaltungspflicht besteht oder ob die betreffenden Fälle nicht
doch offengelegt werden können.
({9})
- Das tun wir ja offensiv. Aber tun Sie bitte nicht so, als
ob das Parlament damit nicht befasst wäre. Wir sind damit in der heutigen Aktuellen Stunde befasst.
Es eint uns, dass wir diese Fälle so weit wie möglich
aufklären wollen, und zwar jeden Fall und je schwerwiegender, desto umfassender. Aber zur Wahrheit gehört
auch, dass es Vorgänge geben kann, die zuerst dem Gremium vorgelegt werden müssen, das sich dieses Parlament für die Kontrolle der Geheimdienste gegeben hat.
Das Parlamentarische Kontrollgremium wird sich in der
nächsten Woche damit befassen. In diesem Gremium ist
auch der Kollege Nešković von der Linken Mitglied, der
für die heutige Debatte leider keine Zeit gefunden hat.
So viel zum Thema Interesse.
Wir werden alles tun, um das gemeinsam in unserem
Sinne aufzuklären und aufzuarbeiten. Wir sind dazu bereit. Die Bundesregierung ist dazu bereit. Ich habe dieser
Debatte entnommen, dass auch alle Fraktionen dazu bereit sind. Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, unterstelle ich eine etwas doppelzüngige Motivation. Das ist schade und dient nicht der Sache.
Herzlichen Dank.
({10})
Luk Jochimsen hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich eines festhalten: Erinnern Sie sich
eigentlich noch, wer in diesem Hohen Haus die Initiative
zur Rehabilitierung von Kriegsverrätern angestoßen hat?
War das zufälligerweise Jan Korte von der Linksfraktion? Wie lange hat er gebraucht, bis Einigkeit in diesem
Haus darüber herrschte, diesen Teil der Geschichte aufzuarbeiten? - Unterstellen Sie also uns und gerade ihm
nicht, nicht an der Aufarbeitung der Geschichte interessiert zu sein,
({0})
sondern aufgrund irgendwelcher politischen Vorwände
diese - unbedingt notwendige - Diskussion zu führen.
({1})
Hunderttausende Franzosen lesen zurzeit das Buch
des 93 Jahre alten Kämpfers der Résistance Stéphane
Hessel mit dem Titel Empört euch! Empört euch endlich; es gibt so viele Anlässe dazu. Würden sich doch
Hunderttausende auch bei uns und dieses Parlament über
die ans Licht kommende Wahrheit über unseren demokratischen Staat und sein Verhältnis zu Massenmördern
wie Eichmann und Barbie empören, darüber, wie er sie
nicht verfolgt hat, sondern geschützt und sogar noch in
Dienst genommen hat, und zwar im Jahr 1966 und nicht
1956, als Gehlen noch in der Verantwortung der CIA arbeitete. 1966 in Dienst genommen! Welch ein Abgrund
tut sich da auf!
1987 habe ich für die ARD eine Dokumentation über
Beate und Serge Klarsfeld gedreht, die Geschichte, wie
sich zwei Individuen, der französische Rechtsanwalt,
dessen Vater im KZ ermordet wurde, und seine deutsche
Ehefrau, unterstützt von einer kleinen Gruppe Überlebender des Naziterrors, weltweit und verzweifelt auf die
Suche nach dem Verbrecher Barbie gemacht haben
- weil die Staaten untätig blieben -, einem Mann, der
den Tod unzähliger Frauen und Männer und vor allen
Dingen unzähliger Kinder betrieben und zu verantworten hatte. Zwei Einzelpersonen haben sich dies zur Aufgabe machen müssen, während die Herren des BND
wahrscheinlich grinsend zugeschaut haben, wie die beiden nicht zum Zuge und zum Erfolg kamen. Nicht nur
das: Serge und Beate Klarsfeld wurden von der bundesrepublikanischen Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt
und drangsaliert. Bis heute wird Beate Klarsfeld das
Bundesverdienstkreuz, dessen Verleihung wir beantragt
haben, verweigert.
({2})
Beate und Serge Klarsfeld haben versucht, die Wahrheit
herauszufinden und die Geschichte aufzuarbeiten. Aber
wir sind mit ihnen so umgegangen und tun das bis zum
heutigen Tag so.
Es stimmt einfach nicht, dass wir an der Aufklärung
der Wahrheit und an Transparenz nicht interessiert seien.
„Lügen haben kurze Beine“, sagt der Volksmund. Wenn
sie lange Beine haben und die Wahrheit erst spät, unendlich spät herauskommt, ist die Erkenntnis aus meiner
Sicht doppelt belastend. Uns geht es nicht darum, allein
den BND in den Fokus der Diskussion zu stellen, sondern darum, die Verantwortung des Bundeskanzleramtes
in der Diskussion herauszuarbeiten.
Ich lasse mich übrigens auch nicht mehr mit dem Satz
abspeisen, ein Geheimdienst sei nun einmal ein Geheimdienst und könne nicht alle seine Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das verlangt auch niemand.
Die Akten von Massenmördern und von Kriegsverbrechern hingegen öffentlich zugänglich zu machen, wird
doch wohl im Namen der Demokratie und des Staates zu
verlangen sein.
({3})
Man kann in dem Zusammenhang doch nicht sagen:
„Ein Geheimdienst ist ein Geheimdienst, so wie eine
Rose eine Rose ist, und weil das so ist, kann man nichts
machen“, aber gleichzeitig darauf bestehen, dass man
die Wahrheit sucht.
Ich kann nur sagen: Die Wahrheit, die hier gesucht
wird, ist längst überfällig. Sie wird uns seit Jahrzehnten
vorenthalten. Für Menschen meiner Generation, die in
der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen, erzogen
und gebildet worden sind, bedeutet es eine Zerstörung
des Glaubens an die Substanz dieser Bundesrepublik sowie ihres Anspruchs, ein im Grunde demokratischer
Staat zu sein. Wenn wir die Angelegenheit nicht - so
spät es auch sein mag - vollständig aufklären und die
Wahrheit auf den Tisch bringen, machen wir uns wieder
einmal vor der Geschichte schuldig.
({4})
Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns in der Debatte
darüber einig, dass aufgeklärt werden muss und dass an
die Aufklärung ein hoher Maßstab hinsichtlich des
Wahrheitsgehalts zu legen ist. Ich glaube aber auch, dass
die Partei, die heute die Aktuelle Stunde beantragt hat,
an der einen oder anderen Stelle nicht bereit ist, die
Maßstäbe, die sie bei anderen anlegt, auch bei sich selber
anzulegen.
({0})
Erster Punkt. Solange Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr
Gysi, mit einstweiligen Verfügungen versucht,
({1})
die Wahrheit darüber zu verschweigen, ob er den Bürgerrechtler Havemann bespitzelt hat oder nicht, haben
Sie keinen Anspruch darauf, in diesem Hause solche Reden vorzutragen, wie Sie es hier tun.
({2})
Zweiter Punkt. Der Kollege Hartmann hat zutreffend
darauf hingewiesen, dass die Aktuelle Stunde keine
überraschende Stunde ist. Sie wissen, dass Aktuelle
Stunden vorbereitet werden. Wenn man die Berichterstattung zum Thema Eichmann und zu der Frage, ob
der BND diesbezüglich schon frühzeitig Kenntnis hatte,
recherchiert, dann stellt man fest, dass der Spiegel hierzu
bereits am 8. Januar dieses Jahres berichtet hat. Hätten
Sie dieses Thema ordnungsgemäß anmelden und aufbereiten wollen, hätten Sie das lange vor Beginn dieser Sitzungswoche machen können. Ihnen ging es aber nur darum, die für morgen angesetzte Aktuelle Stunde zu
verdrängen, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob
Sie in Deutschland nach wie vor den Kommunismus
wollen.
({3})
Dritter Punkt. Es ist unstreitig, dass es um die Frage
geht, ob Akten offengelegt werden. Auch hierüber ist in
dieser Woche berichtet worden: Am 13. Januar meldete
der Spiegel, dass der Bundesnachrichtendienst seine umfangreichen Akten für Recherchen bereitstellt. Das zeigt,
dass die Bereitschaft zur Offenlegung sogar beim Nachrichtendienst vorhanden ist. Wir werden uns in den entsprechenden Gremien mit dieser Frage auseinandersetzen. Es muss aufgeklärt werden: Was wusste man?
Warum hat man hinsichtlich der fraglichen Personen
keine Ermittlungen aufgenommen und dadurch dazu beigetragen, dass sie vor Gericht gestellt werden? Das gehört zur Geschichte der Nachrichtendienste und muss
aufbereitet sowie historisch ordnungsgemäß bewertet
werden.
Die Debatte, wie wir sie hier führen, bedeutet aber
keinen wesentlichen Fortschritt in der Bewältigung dieser Arbeit. Deswegen bleibt es dabei: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie bei der Frage der Aufklärung Ihrer eigenen
Vergangenheit endlich die Maßstäbe anlegen, die Sie
von anderen verlangen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Die Sitzung ist beendet.
Ich rufe Sie auf, die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages am morgigen Donnerstag um 9 Uhr zu besuchen.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.