Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir mit unserer heutigen Tagesordnung beginnen, möchte ich Sie noch kurz über eine Änderung des
Zeitplans für dieses Jahr informieren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen zwei vereinbarte Sitzungswochen im September getauscht werden. Die in
der 37. Kalenderwoche geplanten Sitzungen sollen in die
38. Woche verschoben werden. Das würde bedeuten,
dass die Woche vom 12. September beginnend sitzungsfrei wird und die Woche vom 19. September an eine Tagungswoche. Ich nehme an, dass dazu Einvernehmen
hergestellt werden kann. - Dann bitte ich, das für mögliche Dispositionen zu berücksichtigen. Aber wir teilen es
natürlich noch einmal mit.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 21 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
zum zivilen Wiederaufbau in Afghanistan
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer heute an den Hindukusch kommt, der sieht:
Die Kinder lassen wieder Drachen steigen. Ich glaube, es
ist ein gutes Zeichen, dass diese Lebensfreude in Afghanistan wieder Fuß fasst.
An den Anfang der Debatte über den zivilen Wiederaufbau möchte ich den Dank an all jene stellen, die von
deutscher Seite zu dieser Entwicklung beigetragen haben:
({0})
die Diplomaten und Polizisten, die Soldaten und Entwicklungsexperten. Sie arbeiten im Team. Ihr Einsatz
nötigt uns Respekt ab, und ihre Opfer machen uns betroffen.
({1})
Am Heiligen Abend wurde zum ersten Mal ein deutscher Mitarbeiter unserer staatlichen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ermordet. Ich war gestern
bei der Trauerfeier. Unsere Gedanken sind bei seinen
Angehörigen, aber auch bei seinem verwundeten afghanischen Kollegen. Ich wünsche ihm baldige, vollständige Genesung.
Opfer und Rückschläge bewirken, dass in der Öffentlichkeit Zweifel am Erfolg unseres Engagements in
Afghanistan laut wurden. Unüberhörbar sind die Fragen
ganz besonders der Angehörigen: Wie lange sollen wir
noch Opfer bringen? Wird die Lage durch unseren Einsatz überhaupt besser? - Wir gewinnen nichts, wenn wir
die Lage schöner reden, als sie ist. Das ist der Fehler, der
früher oft gemacht worden ist. Aber wir gefährden alles,
wenn wir die Lage schlechter reden, als sie ist. Das ist
der Fehler, den wir in Zukunft nicht machen werden.
({2})
Die Sicherheitslage, liebe Kolleginnen und Kollegen,
macht uns Sorge. Die Aufständischen töten wahllos. Sie
zielen auf Zivilisten und Menschenrechte, auf Völkerrecht und Wiederaufbau. So konnte die medienwirksame
Behauptung, nichts sei gut in Afghanistan, viel Widerhall erhalten. Schwarz-Weiß-Malerei spielt den Extremisten in die Hände. „Nirwanasätze“ sind immer falsch
und gelegentlich unverantwortlich. Richtig ist: Vieles ist
besser geworden in Afghanistan. Richtig ist: DeutschRedetext
lands Rolle in Afghanistan verstehen wir nur, wenn wir
den Vorrang des zivilen Wiederaufbaus vor dem militärischen Einsatz sehen. Vieles ist besser geworden, auch
dank des Engagements vieler Afghaninnen und Afghanen. Wer zu ihrem Land nicht mehr zu sagen hat als Extremismus, Terrorismus oder „Nichts ist gut“, der versteht nicht, warum es so gut ist, dass heute wieder
Drachen fliegen.
Mich hat bei meinen Besuchen der Aufbauwille der
Afghanen beeindruckt. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung vom Dezember zeigt hier ein sehr differenziertes Bild der Situation. Wenn wir die Situation am
Anfang des deutschen Engagements in Afghanistan mit
der Lage in den letzten ein bis zwei Jahren vergleichen,
stellen wir fest: Der Faktencheck für Afghanistan straft
diejenigen Lügen, die mit schwarzmalerischer Rhetorik
versuchen, den kompletten Einsatz Deutschlands zu diskreditieren. Jede vierte Frau erhält bei der Geburt medizinische Hilfe. Der Getreideertrag hat sich seit 2000 mehr
als verdoppelt. 7 Millionen Schülerinnen und Schüler gehen zur Schule. Vor zehn Jahren war es 1 Million. Die
Kindersterblichkeit ist von 250 pro 1 000 Lebendgeburten auf 161 zurückgegangen. Die Zahl der Kinderheiraten ist um weit über 60 Prozent gesunken. Während
2001 kein einziges Mädchen zur Schule gehen konnte,
liegt der Anteil der Mädchen in den Grundschulen heute
bei knapp 40 Prozent. Frauen stellen im afghanischen
Parlament 28 Prozent der Abgeordneten.
Mit Gesundheit, Menschenrechten und Bildung
macht auch die Wirtschaft Fortschritte. Die Weltbank
prognostiziert für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum von 8,5 bis 9 Prozent. Die Staatseinnahmen
haben sich seit 2002 verzehnfacht. So kann mittlerweile
die afghanische Regierung mehr und mehr die Gehälter
für Lehrer und Polizisten übernehmen. Das Bruttosozialprodukt hat sich fast vervierfacht. Immer mehr Menschen können ohne Hilfslieferungen leben. Diese Zahlen
zeigen, dass es verantwortungslos ist, ohne Kenntnis der
Situation vor Ort Erfolge schlechtzureden.
({3})
Richtig ist, dass wir Familien, Frauen und Mädchen neue
Lebenschancen geben konnten. Auch ich kann mir allerdings vieles besser vorstellen. Aber gerade weil vieles
besser werden kann, ist Deutschlands Rolle jetzt nicht
schlechtreden, sondern besser machen und Fortschritte
sichern; denn noch sind die Fortschritte nicht unumkehrbar.
Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurden zu
Beginn der Intervention 2001 von vielen Seiten überzogene Erwartungen an diesen Einsatz geweckt. Diese Erwartungen waren nicht realistisch. Grundlegende wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Veränderungen
finden auch hier eher in Dekaden als in Monaten oder
Jahren statt. Ich möchte das mit einem Beispiel belegen,
das mir sehr eindringlich in Erinnerung geblieben ist.
Als ich im letzten Jahr ein Teacher Training Center in
Masar-i-Scharif eröffnet habe, wurde mir von dem Direktor beim Rundgang gesagt, dass ungefähr 30 Prozent
der angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die dort unterrichtet werden, erst einmal alphabetisiert werden müssen. Bevor die Bildungselite dieses Landes in die Lage
versetzt wird, junge Menschen zu unterrichten, muss sie
erst einmal Lesen und Schreiben lernen. Das zeigt ungefähr, von welcher Basis aus wir anfangen zu arbeiten.
Diese Bundesregierung hat den Strategiewechsel in
Afghanistan vollzogen, hin zu einem sehr viel stärkeren
zivilen Engagement. Wir haben das international auch
durchgesetzt. Ohne den zivilen Erfolg ist unser Gesamtziel in Afghanistan nicht zu erreichen. Die zivilen Mittel
der Bundesregierung zur Stabilisierung und Entwicklung
des Landes haben wir massiv aufgestockt von weniger
als 200 Millionen Euro 2008 auf rund 430 Millionen
Euro 2010, davon allein 245 Millionen Euro aus dem
Haushalt des BMZ. Dadurch hat sich unser Engagement
vor allem im Norden ganz erheblich intensiviert.
Einige Beispiele für die Leistungen allein in den Jahren 2009 und 2010 belegen das. 85 000 Haushalte haben
eine bessere Trinkwasserversorgung erhalten. 117 Kilometer Straßen sind repariert oder neu gebaut worden als
Lebensadern für die Bevölkerung dieses Landes.
12 000 Menschen konnten sich beruflich fortbilden.
Solche konkreten Verbesserungen haben es möglich
gemacht, dass die Privatwirtschaft in Afghanistan dynamisch gewachsen ist. Wir haben die First Microfinance
Bank mit aufgebaut. Allein 2009 und 2010 gingen über
450 Kredite an kleine und mittlere Unternehmen.
42 000 Menschen haben von Mikrokrediten profitiert,
darunter alleine 6 000 Frauen.
Mit BMZ-Hilfe ist die afghanische Investitionsförderagentur aufgebaut worden, bei der bis heute über
12 000 Unternehmen registriert sind mit einem Investitionsvolumen von ungefähr rund 4 Milliarden Euro.
Deutschland ist mit der Aufstockung der zivilen Mittel
in Afghanistan zum größten europäischen Geber geworden und ist nach Japan und den USA der drittgrößte Geber weltweit. Diese Ausgaben sind Investitionen in den
Frieden.
Diese massive Aufstockung der Mittel hätte ohne
Zweifel deutlich früher geschehen müssen. Erst die jetzige Bundesregierung engagiert sich in einer Größenordnung, die den Herausforderungen auch tatsächlich
gerecht wird. Mit unserer Entwicklungsoffensive in Nordafghanistan kommen wir sichtbar und wirksam voran.
Das BMZ hat seine eigenen Anstrengungen enorm gesteigert, und zwar nicht nur finanziell. Die gut 1 300 zivilen Mitarbeiter, die wir im März 2010 vor Ort hatten,
werden wir auf 2 500 Mitarbeiter fast verdoppeln.
Zurzeit sind es bereits 1 700 Mitarbeiter, darunter allein
260 internationale Experten.
Ich habe auch das Personal des BMZ, das die Entwicklungsarbeit vor Ort koordiniert, deutlich verstärkt.
Ab dem 1. Februar stellt das BMZ die Entwicklungsdirektorin im RC North, die gleichzeitig die deutsche
Entwicklungsbeauftragte für Afghanistan ist. Das deutsche Engagement in Afghanistan ist also weit mehr als
bloß der Einsatz von Militär.
Wo kämen wir im Übrigen hin, wenn wir bei sehr
komplexen Aufgaben wie in Afghanistan in der Kleinteiligkeit von Ressortzuständigkeiten denken würden? Das
gemeinsame Vorgehen verstehen wir unter vernetzter Sicherheit. Die sehr deutschen, innerdeutschen kontroversen Diskussionen zu diesem Thema sind, wenn man sich
die Praxis vor Ort anschaut, kaum verständlich.
({4})
Vernetzte Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
bedeutet keine Militarisierung der Entwicklungspolitik,
keine „embedded“ Entwicklungshelfer, keine Soldaten
neben Brunnenbohrlöchern.
({5})
Der vernetzte Ansatz bedeutet die bessere Abstimmung
im Sinne des gemeinsamen politischen Ziels. Wir wollen
die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfolge
Afghanistans stärken. Darum ist jetzt übrigens auch der
Zeitpunkt gekommen, dass sich die deutsche Wirtschaft
mehr in Afghanistan engagiert als bisher.
China hat längst das Potenzial Afghanistans erkannt.
China investiert Milliarden in den dortigen Kupferbergbau. Zurzeit ist eine große Eisenerzmine ausgeschrieben.
Wenn allein diese beiden Bergbauprojekte realisiert werden können, kann der afghanische Staat ab 2016 über
500 Millionen US-Dollar pro Jahr an zusätzlichen Einnahmen verbuchen, und ungefähr 100 000 Arbeitsplätze
für afghanische Bürgerinnen und Bürger werden geschaffen.
({6})
- Sie können gern eine Zwischenfrage stellen.
Entscheidend bei der Frage der Rohstoffförderung in
Afghanistan - hierbei hat Deutschland große Kompetenzen - ist die Frage der Transparenz, die Frage, ob diese
Werte den Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Landes
zugutekommen. Ich glaube, wenn dieses breitenwirksame Wachstum dazu beiträgt, dass Afghanistan zusätzliche eigene Staatseinnahmen erzielen kann, und wenn
Bürgerinnen und Bürger Berufschancen bekommen,
dann ist es ein guter Weg, auch an diesen Bereich zu
denken.
Afghanistan ist darüber hinaus voller Chancen. Übrigens ist die Qualität deutscher Produkte in Afghanistan
bekannt, und deutsche Produkte genießen dort einen guten Ruf. Der Nachholbedarf Afghanistans kann auch als
Potenzial für deutsche Unternehmen angesehen werden,
zur Entwicklung des Landes beizutragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeachtet der erfreulichen Fortschritte bleibt natürlich ein großer Berg
von immensen Herausforderungen vor uns. Immer noch
viel zu wenige Menschen haben die Gelegenheit, ihre
Grundbedürfnisse zu decken. Dies gilt insbesondere für
die ländlichen Regionen. Afghanistan bleibt nach wie
vor ein sehr armes Land.
Der Schlüssel zur langfristigen wirtschaftlichen und
sozialen Entwicklung Afghanistans liegt im politischen
Bereich. Was gute Regierungsführung angeht, besteht
auf allen Ebenen ein gravierendes Defizit. Zu den Kernproblemen gehören die weitverbreitete Korruption, mangelnde Leistungsfähigkeit staatlicher Instanzen und fehlende Rechtssicherheit.
Ich kann Ihnen versichern, dass diese Bundesregierung in ihren Gesprächen vor Ort, aber auch in den jährlichen Regierungsverhandlungen diese Punkte sehr klar
und deutlich anspricht und klare Worte dafür findet.
Auch wir befürchten einen Rollback bei den Menschenrechten in Afghanistan und stellen uns dem entgegen,
weil es ein Kernbestand der wertegebundenen Politik
dieser Bundesregierung ist, die Achtung der Menschenrechte einzufordern.
({7})
Allerdings sollte man nicht dem Irrglauben erliegen,
dass die internationale Gemeinschaft die Karzai-Administration nach Belieben steuern könnte. Deshalb ist es
so wichtig, dass wir gezielt die afghanischen Demokraten und Reformkräfte stärken. Sie müssen die Befähigung haben, in ihrem eigenen Land Menschenrechte und
bessere Regierungsführung einzufordern.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird vor diesem Hintergrund in diesem Jahr seine Zusage an die afghanische
Regierung in zwei Tranchen aufteilen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, den Fortgang der Reformen angemessen zu begleiten und auf den Fortschritt der Reformen angemessen zu reagieren. Entschlossene Reformen
der afghanischen Regierung sind der Grundstein für eine
nachhaltige wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in diesem Land.
Erfolg in Afghanistan ist aber auch abhängig von einer Stabilisierung der ganzen Region. Das gilt insbesondere für so wichtige Partner wie Pakistan. Deshalb werden wir dort weiterhin die demokratische Stabilisierung
und die Verbesserung der Lebensbedingungen unterstützen. Was unsere Partnerregierungen aber allein schaffen
müssen, ist, das Vertrauen der eigenen Bürger wiederzugewinnen. Hier muss auch Pakistan Reformen durchführen, Ungerechtigkeiten abbauen und Wege aus der wirtschaftlichen Sackgasse aufzeigen.
Ein nachhaltiger Entwicklungsprozess in Afghanistan
wird immer von einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitslage abhängen. Vergangenes Jahr hat die Freie
Universität Berlin in einer Studie deutlich gemacht, dass
ohne ein Minimum an Sicherheit keine effektive und
wirksame Entwicklungsarbeit möglich ist. Sicherheit ist
die Grundvoraussetzung, um wirksam arbeiten zu können.
({8})
In den meisten Distrikten im Norden können wir weiterhin unter relativ guten Bedingungen arbeiten. Die Sicherheitslage wirkte sich aber im vergangenen Jahr in einigen Regionen, insbesondere in den Provinzen Kunduz
und Baghlan, negativ auf die zivile Hilfe aus. Hier verfügen unsere zivilen Helfer teilweise nicht mehr über den
notwendigen Bewegungsfreiraum, um die Projektumsetzung effizient zu begleiten. Die instabilen Gebiete müssen deshalb durch ISAF und vor allem durch die afgha9556
nischen Sicherheitskräfte gesichert werden, bevor die
zivile Hilfe dort greifen kann. Langfristig können nur afghanische Sicherheitskräfte die nötige Sicherheit in der
Fläche herstellen, die zwingende Voraussetzung für die
afghanische Bevölkerung ist, damit zivile Helfer sie
beim Aufbau ihres Landes begleiten können. Auch aus
diesem Grund konzentriert sich ISAF auf die Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte. Bis 2014 wollen wir die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an
die Afghanen erreichen. Das ist weit mehr als ein nur
militärisch relevanter Vorgang.
Ich freue mich - das sage ich ganz ausdrücklich -,
dass die Zusammenarbeit zwischen den vier Afghanistan-Ressorts, dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, so viel besser läuft
als früher.
({9})
Unsere Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan wird über die Übergabe der Sicherheitsverantwortung hinausreichen, und sie wird auf jeden Fall jenseits
des Komplettabzugs von ISAF weiter notwendig sein.
Die Menschen in Afghanistan zählen auf unsere Unterstützung. Ungefähr 50 Prozent der Menschen in Afghanistan sind jünger als 15 Jahre, also ideale Drachenläufer. Sie wollen ein anderes, ein besseres Leben als ihre
Eltern. Wir können ihnen dabei helfen.
Das Schaffen von Perspektiven und Lebenschancen
entspricht beidem: sowohl unseren eigenen Interessen
als auch unseren gemeinsamen Werten. Deswegen bin
ich froh und dankbar, dass die Bundesregierung sich entschieden hat, heute, noch im Vorfeld der Debatte über
die Verlängerung des militärischen Mandats für Afghanistan, deutlich zu machen, welche zivilen Komponenten hier in der Vergangenheit wichtig waren und für die
Zukunft wichtig sind und wo unsere Erfolge auch in diesem Bereich liegen. Die zivile Betrachtung fällt hinter
der militärischen oftmals ab. Sie ist aber mindestens genauso wichtig, wenn man die Zukunft betrachtet, sogar
wesentlich wichtiger als alles, was in militärischen Bereichen der Vergangenheit berichtet wurde. Ich möchte
eins deutlich machen: Auch in Afghanistan gilt das Primat der Politik.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vieles hat sich im vergangenen Jahr verändert. Unter
dem Druck der problematischen, teilweise dramatischen
Entwicklung vor Ort ist die Afghanistan-Politik in den
Vereinigten Staaten, in der Gemeinschaft der 48 Länder,
die sich vor Ort engagieren, und auch in Deutschland
neu ausgerichtet worden. Meine Partei, die SPD, hat
dazu wirksame Anstöße gegeben, nicht zuletzt durch
zwei große Afghanistan-Konferenzen im Januar und im
Dezember 2010. Im Zuge dieses Veränderungsprozesses,
dieses Umdenkens, ist auch ein neuer Konsens entstanden, so darüber, dass ein militärischer Sieg über die Aufständischen in Afghanistan ausgeschlossen erscheint,
dass deshalb nur eine politische Lösung möglich ist, die
mit dem Abschied von einigen langgehegten Illusionen
einhergeht, und dass sichtbare Erfolge und Fortschritte
bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung Afghanistans bei einer solchen politischen Lösung eine außerordentlich wichtige Rolle spielen.
Das war der Hintergrund für unsere Forderung vom
Januar letzten Jahres, die eingesetzten Mittel für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans zu verdoppeln. Wir
begrüßen es, dass die Bundesregierung dieser Aufforderung gefolgt ist und die Mittel für den zivilen Aufbau für
die Jahre 2010 bis 2013 auf 430 Millionen Euro jährlich
angehoben und damit beinahe verdoppelt hat.
({0})
Zugleich bedauern wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Regierungskoalition nicht dazu entschließen konnte, den gesamten deutschen AfghanistanEinsatz einer unabhängigen fachlichen Evaluierung zu
unterziehen, unter Heranziehung nicht nur wissenschaftlicher Expertise, sondern auch der praktischen Erfahrungen von Entwicklungsexperten, von NGOs und Mittlerorganisationen, die vor Ort tätig sind, wie wir es
vorgeschlagen haben.
({1})
Immerhin: Wir haben im Dezember einen „Fortschrittsbericht Afghanistan“ von 108 Seiten erhalten, der
sich auf 20 Seiten auch dem Thema „Wiederaufbau und
Entwicklung“ widmet. Dieser Fortschrittsbericht enthält
zahlreiche Daten und Fakten, er geht auch auf Fehlentwicklungen und Defizite ein, und er stellt jede künftige
Diskussion über unseren Einsatz in Afghanistan auf eine
bessere Grundlage, was aktuelle Sachstände und Fakten
angeht. Sehr gerne haben wir auch die ausdrückliche
Kooperationsbereitschaft von Botschafter Michael
Steiner, dem Sonderbeauftragten für Afghanistan und
Pakistan, was Rückfragen und Auskünfte angeht, angenommen.
Aber trotzdem müssen wir feststellen, dass wir mit
der Ausweitung und Aufwertung des zivilen Aufbaus
noch längst nicht da sind, wo wir hinwollen und hinmüssen. Es sind gerade die Berichte der Entwicklungsexperten, der Nichtregierungsorganisationen und der Mittlerorganisationen von ihrer konkreten Arbeit vor Ort, die
sich leider nicht in dem nötigen Ausmaß in dem Fortschrittsbericht wiederfinden - auch nicht in Ihrer Regierungserklärung, die Sie heute abgegeben haben -, die
zum Teil zu völlig anderen Lageeinschätzungen führen
und die einige dringend zu lösende Probleme benennen.
Herr Minister, das ist nicht Schwarzmalerei, und das ist
auch nicht das Schlechtreden von Erfolgen. Ich will das
an zwei kurzen Beispielen hier zeigen.
Ein Thema, das in unseren Gesprächen mit den Entwicklungsorganisationen immer wieder angesprochen
wurde, ist, Herr Minister, Ihre Doktrin von der sogenannten vernetzten Sicherheit, die bei den Betroffenen
auf breite Ablehnung stößt.
({2})
Nicht das ist unverständlich, wie Sie das hier gesagt haben, sondern Ihre Sturheit bei der Doktrin der vernetzten
Sicherheit ist unverständlich. Ich fordere Sie, Herr
Minister, in aller Deutlichkeit auf: Hören Sie auf, Druck
auf NGOs zu machen, sich in voller Sichtbarkeit in den
Dienst militärischer Ziele zu stellen!
({3})
Beenden Sie die damit verbundene Instrumentalisierung
des zivilen Aufbaus! Erkennen Sie endlich an, dass der
zivile Aufbau im Rahmen der veränderten AfghanistanStrategie einen erweiterten Eigenwert hat! Akzeptieren
Sie die jahrzehntelangen Erfahrungen dieser Entwicklungsorganisationen, und lassen Sie sie selbst entscheiden, wie sie ihre Arbeit machen wollen! Sie wissen am
besten, wie sie das in größter Sicherheit tun können.
({4})
Mehrere Organisationen haben uns versichert, Herr
Minister, dass sie weder etwas gegen die Bundeswehr
haben noch eine Kooperation ablehnen. Aber sie halten
Ihre Doktrin für kontraproduktiv.
Sie ist es, nebenbei gesagt, auch für die Zukunft. Inzwischen gibt es ja den internationalen Konsens - Sie
haben das angesprochen -, dass bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergehen soll und
dann keine Kampftruppen mehr vor Ort eingesetzt werden sollen. Zugleich versichern wir unseren afghanischen Freunden, dass unser Engagement vor Ort deswegen nicht endet, sondern dass der zivile Aufbau
fortgesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Dann ist
die Bundeswehr weg, die Entwicklungsorganisationen
sind aber noch da. Was ist dann mit Ihrer Doktrin von
der vernetzten Sicherheit?
({5})
Es gibt noch ein zweites Feld dringenden Handlungsbedarfs. Wenn man dem Fortschrittsbericht folgt, dann
sind allein zwischen 2002 und 2008 nicht weniger als
20 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe
nach Afghanistan geflossen. In den letzten beiden Jahren
sind die Jahresraten sogar gestiegen, auch durch die Verdoppelung des deutschen Anteils. Diese umfangreichen
Leistungen schlagen sich aber nicht nieder in einem breiten Vertrauen der Menschen in ihre eigene Regierung, in
die internationale Gebergemeinschaft und in ihre eigene
Zukunft. Eigentlich sollte man das erwarten. Es ist aber
nicht der Fall.
Der Hauptgrund dafür ist die ungezügelte Korruption.
Ich wundere mich schon, Herr Niebel, dass dieser Begriff in Ihrem Bericht überhaupt nicht vorkommt.
({6})
Diese Korruption würgt alle Erfolge des zivilen Aufbaus
ab wie ein gefährlicher Parasit. Das Bild von mit Geld
prall gefüllten Koffern, die über den Kabuler Flughafen
rollen, von niemandem an ihrer Reise gehindert, frisst
sich in die Köpfe auch all derer, die sich eigentlich über
den Bau einer neuen Schule in ihrem Dorf freuen könnten, aber es dann nicht mehr tun.
Wir müssen tatsächlich alles versuchen, um das endlich zu ändern. Wenn wir das nicht schaffen, werden
auch alle künftigen Fortschrittsberichte zum zivilen Aufbau an den wahrgenommenen Realitäten vorbeischlittern. Das ist eine Aufgabe, ohne die ein Erfolg in diesem
wichtigen, von uns als am wichtigsten betrachteten Bereich des zivilen Aufbaus nicht zu sichern ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Dr. Christian Ruck ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere vernetzte Mission in Afghanistan geht zurück auf
den verheerenden Terrorangriff vom 11. September des
Jahres 2001, der unser Land zu einer völligen und
schmerzhaften Neuorientierung unserer Außenpolitik
gezwungen hat, und zwar in zweierlei Hinsicht:
Erstens. Wir können und wollen nicht nur darauf hoffen, dass unsere Sicherheitskräfte Terroristen in
Deutschland rechtzeitig vor Attentaten entdecken, sondern müssen den Terrorismus auch dort bekämpfen, wo
er herkommt und entsteht. Unser Engagement ist deswegen ein Engagement vor allem auch für die Sicherheit
unserer eigenen Bürger.
Zweitens geht es darum, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen, bevor es zu einem Flächenbrand um
den halben Globus kommt. Dieser Nährboden besteht
aus fehlender staatlicher Ordnung, aus fehlender Rechtsstaatlichkeit, aus fehlenden Bildungschancen, aus fehlender Gesundheitsversorgung und aus fehlenden Perspektiven für die breite Bevölkerung und die gerade in
diesen Ländern nachdrängende Jugend. Das gilt für viele
Staaten - von Nordafrika über den Jemen bis Südostasien. Damit ist Entwicklungspolitik zum wesentlichen
Bestandteil unserer Sicherheitspolitik geworden, und
Afghanistan ist unsere größte entwicklungspolitische
Baustelle.
30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg haben Afghanistan
vollkommen ruiniert. Aber nach fast zehn Jahren Aufbauhilfe sind die Fortschritte trotz eines immens schwie9558
rigen und oft gefährlichen Umfelds unübersehbar.
Minister Niebel hat bereits einige Details aus den Bereichen Verkehr und Energie sowie aus dem Bereich Schulen und Universitäten genannt. Es gibt - ohne Berücksichtigung der Drogenwirtschaft - eine Vervierfachung
des Pro-Kopf-Einkommens und eine rasante Zunahme
der Zahl von Unternehmen und Beschäftigten.
Was wir auch nicht vergessen dürfen: Trotz des wackligen Ansehens mancher Institutionen haben wir es zusammen mit den Afghanen geschafft, demokratische
Grundinstitutionen in freien Wahlen zu etablieren. Dazu
haben unsere Soldaten, Aufbauhelfer und Polizisten unter vielen Opfern einen großartigen Beitrag geleistet. Die
CDU/CSU-Fraktion bedankt sich ausdrücklich bei allen,
die in den letzten Jahren an der zivilen Aufbauarbeit beteiligt waren.
({0})
Kabul ist nicht ganz Afghanistan; das ist klar. Ich
habe die Stadt trotz aller Unsicherheiten, trotz der üblichen Splitterweste bei meinem dritten Afghanistan-Besuch in der letzten Woche, begleitet von den Kollegen
Schockenhoff und Kiesewetter, kaum wiedererkannt.
Kabul ist wieder ein einziger Basar. Was uns besonders
beeindruckt hat, war die längste Straße mit Baumaterialien und Baumaschinen, an der ich jemals irgendwo in
der Welt entlanggefahren bin. Afghanistan ist in der Tat
eine riesige Baustelle.
Herr Erler, ich gebe Ihnen in dem Punkt vollkommen
recht, dass wir auch zur Kenntnis nehmen müssen, was
uns vom flachen Land an Rückschlägen berichtet wird.
Es gibt da viele sich zum Teil widersprechende Meldungen. Wir dürfen uns nicht zu sehr in Sicherheit wiegen.
Aber wir können auch froh über die Entwicklungen sein,
die wir mit eigenen Augen sehen und deren erfolgreicher
Abschluss zum Greifen nah ist.
({1})
Auch ich sehe - das wurde teilweise schon angesprochen - drei große Risikobereiche; diese gehen auch aus
dem Fortschrittsbericht hervor, den Afghanistan-Kenner
übrigens als den aufrichtigsten Bericht der letzten zehn
Jahre loben. Diese Risikobereiche sind erstens die prekäre Sicherheitslage, zweitens die Mängel bei der Regierungsführung und drittens die unruhige Nachbarschaft.
Zum Thema Sicherheit. Nirgendwo wird die gegenseitige Abhängigkeit von Entwicklung und Sicherheit so
deutlich wie in Afghanistan. Es gibt keine Befriedung
ohne Entwicklung. Aber es gibt auch keine Entwicklung
ohne eine erfolgreiche Sicherheitspolitik. Es ist entscheidend, dass Bildung, Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Perspektiven auch auf das flache Land, in die unruhigen Distrikte und in die Bergdörfer gelangen. Dort
wird aber jeder Entwicklungsansatz zunichtegemacht,
wenn beispielsweise die neu gebaute Schule von den Taliban gesprengt oder die ausgebildeten Lehrer ermordet
werden, sobald die afghanischen Sicherheitskräfte oder
die ISAF-Truppen abgezogen sind. Deswegen sind die
beobachtbaren Fortschritte beim Aufbau einer funktionsfähigen und motivierten Polizei und Armee in afghanischer Hand unabdingbar für die Fortschritte bei der Entwicklung des flachen Landes. Auch wenn darüber
immer wieder streitig diskutiert wird: Die Ansätze der
vernetzten Sicherheit, die wir in der zivil-militärischen
Zusammenarbeit gefunden haben, sind für die Entwicklung Afghanistans erfolgreich.
Als Hoffnungsträger erweist sich auch das von uns
massiv unterstützte Programm zur Reintegration derjenigen Taliban, die der Gewalt abschwören. Nach zuverlässigen Augenzeugenberichten kommen tatsächlich inzwischen sehr viele zurück und gliedern sich in einer
offiziellen Zeremonie in die Dorfgemeinschaften ein. Sie
müssen allerdings vor der Rache der Taliban geschützt
werden und brauchen durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen eine neue Perspektive.
Der Fortschritt im Bereich Sicherheit ist auch deswegen so wichtig für den zivilen Aufbau, weil die nach wie
vor prekäre Sicherheitslage die Entwicklungspolitik bis
zu 30 Prozent teurer macht als anderswo. Denn zum
Schutz der Entwicklungsexperten, aber auch der allmählich anlaufenden Privatinvestitionen brauchen wir entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Das wirkt sich
enorm auf die Aufbaukosten aus.
Auch das zweite Thema belastet den Aufbau enorm.
Das ist das Thema gute Regierungsführung. Es ist doch
vollkommen unbestritten, dass Korruption und Vetternwirtschaft, aber auch der Mangel an einer ausreichenden
Zahl qualifizierter Bewerber gerade für wichtige Verwaltungsstellen zu den größten Entwicklungshindernissen
gehören. Die Gebernationen müssen deshalb darauf bestehen, dass die Regierung Karzai ihre bereits vorgelegten Pläne für mehr Transparenz und für mehr Kontrolle
umsetzt und auch die Täter aus dem Bereich der Spitzenkorruption dingfest macht. Dabei dürfen wir kein Auge
zudrücken.
Die Korruption am unteren Ende der Einkommensskala allerdings, wo etwa Polizisten und Lehrer manchmal mit nicht einmal 100 Dollar im Monat eine Familie
ernähren müssen, kann anständigerweise nur bekämpft
werden, wenn diejenigen, die diese wichtigen Berufe
ausüben, auch anständig bezahlt werden.
Auch wir als Geber müssen uns beim Thema Korruption an die eigene Nase fassen. Der afghanische Finanzminister hat sich beklagt, dass er bei den Finanzflüssen
in seinem Land nicht für Transparenz sorgen kann, wenn
große Gebernationen Aufträge in dreistelliger Millionenhöhe oder in Milliardenhöhe an der afghanischen Regierung vorbei und ohne Ausschreibung direkt an Unternehmen im eigenen Land vergeben. Es war und ist ein
Manko, dass immer noch zu viele Geber unabgesprochen und unkoordiniert ihr eigenes Süppchen kochen.
Korruption hat immer zwei Seiten. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns und dass sich vor allem auch andere große Gebernationen an die Regel halten, dass wir
die Ownership der afghanischen Regierung gewährleisten müssen. Das geht nur, wenn die Afghanen selber
wissen, was in ihrem Land vorgeht.
Aber - auch das wurde schon angesprochen - es gibt
gerade in puncto Governance große Fortschritte. Immer
mehr wichtige Funktionsstellen in wichtigen Ministerien, wie zum Beispiel dem Finanzministerium, werden
von gut ausgebildeten und qualifizierten Afghanen besetzt.
Aber lassen Sie mich noch etwas zum dritten entscheidenden Faktor sagen. Auch der wurde kurz angesprochen. Das ist die stabile oder stabilisierende Nachbarschaft. Dieser dritte entscheidende Faktor berührt vor
allem auch Pakistan. Gerade die an Afghanistan angrenzenden Regionen Pakistans sind nämlich alles andere als
stabilisierend. Die pakistanischen Sicherheitskräfte sind
unter großen Opfern dabei, gegen Taliban und Dschihadisten die staatliche Kontrolle wiederherzustellen.
Aber auch hier ist Entwicklung der entscheidende
Schlüssel zu einer langfristigen Befriedung. Die Vorgänge um das Swat-Tal sind dafür typisch. Der pakistanische Staat konnte die Befriedigung der Grundbedürfnisse und vor allem auch Rechtssicherheit und
Rechtsstaatlichkeit über einen langen Zeitraum nicht
mehr garantieren und hat so den Taliban den Boden für
die Einflussnahme bereitet.
Was für das Swat-Tal gilt, gilt für weite Teile Pakistans, auch für das Korruptionsunwesen in Pakistan.
Deswegen muss die internationale Staatengemeinschaft,
wenn sie in Afghanistan Erfolg haben will, auch von Pakistan eine bessere Regierungsführung einfordern. Wir
müssen Pakistan auf diesem Weg stärker, zuverlässiger
und koordinierter unterstützen als bisher.
Herr Kollege, Sie achten auf die Zeit, ja?
Ich komme zum Schluss. - Der zivile Wiederaufbau
Afghanistans findet in einem schwierigen Umfeld und
mit großen Rückschlägen statt. Aber wir haben auch Erfolge und Hoffnungen, und die gemeinsame Absicht, die
Verantwortung für die Sicherheit Schritt für Schritt ab
Ende dieses Jahres in afghanische Hände zu legen, ist im
Prinzip richtig. Aber gerade als Entwicklungspolitiker
sage ich: Wir müssen den Zeitplan auch an den tatsächlichen Gegebenheiten ausrichten. Auch die sehr regierungskritische und militärkritische Menschenrechtlerin
Frau Dr. Samar hat uns letzte Woche ins Stammbuch geschrieben: Ihr müsst eure Arbeit erfolgreich zu Ende
führen. - Das ist auch meine Meinung. Wir dürfen keine
Entwicklungsruine hinterlassen, sonst waren alle Opfer
des deutschen Steuerzahlers, alle Opfer unserer Soldaten
und der Entwicklungshelfer umsonst.
({0})
Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Niebel, Sie haben hier ein völlig beschönigendes
Bild von der Situation in Afghanistan gezeichnet. Wenn Sie mir einmal zuhören, können Sie einiges lernen.
({0})
Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie in Afghanistan waren. Nach neun Jahren Krieg in Afghanistan - Sie müssen einmal überlegen, wie lange die internationale Gemeinschaft in diesem Land ist - kann von Fortschritt
keine Rede sein.
Das Land liegt mit seiner Entwicklung nach wie vor
auf dem vorletzten Platz bei den Vereinten Nationen.
Insgesamt ist die soziale, wirtschaftliche und politische
Situation in diesem Land katastrophal. Immer noch sind
80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer Analphabeten, und weniger als 19 Prozent der Bevölkerung
haben Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer
Versorgung. Laut Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit - das ist ein ganz wichtiger Indikator - bei
200 Kindern pro tausend Geburten. Das ist doppelt so
hoch wie im Nachbarland Pakistan.
In Kabul haben trotz Entwicklungsgeldern in Milliardenhöhe bisher nur 30 Prozent der Bevölkerung Zugang
zu sauberem Trinkwasser; ein Abwassersystem gibt es
überhaupt nicht. Als ich Ende letzten Jahres mit dem
Entwicklungsausschuss in Afghanistan war und mir Kabul angeschaut habe, war ich, ehrlich gesagt, schockiert,
wie einem in dem Stadtbild die Armut buchstäblich ins
Gesicht springt. Von wegen ein einziger lebender Basar!
Kabul ist durch eine nach wie vor schlechte Infrastruktur
und eine katastrophale Sicherheitslage gekennzeichnet
und glich einer Festung. Die deutsche Botschaft ist hinter hohen Mauern eingebunkert.
({1})
Die Arbeitskräfte der internationalen Gemeinschaft können sich dort nicht frei bewegen.
Im Bericht der Vereinten Nationen heißt es auch - das
ist viel zu wenig angesprochen worden -, dass sich
2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgrund des
Krieges auf der Flucht befinden. Für diese Menschen ist
die humanitäre Situation besonders schwierig. Ein Bericht der International Crisis Group kritisiert, dass der
Krieg den Zugang der afghanischen Bevölkerung zur
Gesundheitsversorgung, Bildung und zu anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt hat. Entwicklungserfolge - es gibt natürlich auch gute Entwicklungsprojekte in Afghanistan, auch im Rahmen der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit - werden durch die anhaltenden und zunehmenden Kämpfe wieder zunichtegemacht.
Die Zahlen zeigen, dass die 6 Milliarden Euro, die die
Bundesregierung seit 2002 für den Afghanistan-Einsatz
ausgegeben hat, den Bemühungen um wirtschaftlichen
Aufbau und eine soziale Entwicklung entgegenlaufen.
Deshalb, Herr Niebel - ich weiß nicht, wo er jetzt sitzt
und ob er zuhört -, wird auch bei der jetzt beschlossenen
Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau die Wirkung der eingesetzten Mittel konterkariert, solange der
Krieg geführt wird. Der Krieg in Afghanistan macht eine
Entwicklung unmöglich.
({2})
Sie sagten, Sie wollten jetzt die zivile Entwicklung
stärken und den Schwerpunkt auf zivile Entwicklung legen. Der Bundeswehreinsatz verschlingt mittlerweile
über 1 Milliarde Euro im Jahr. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung beziffert die Kosten des Afghanistan-Einsatzes sogar weit höher als von der Bundesregierung angegeben und schätzt, dass der Krieg bis 2011 insgesamt bis zu 33 Milliarden Euro gekostet haben wird.
Das ist vier- oder fünfmal so viel, wie für die zivile Entwicklung ausgegeben wird. Deshalb stimmt es nicht,
dass Ihr Schwerpunkt auf ziviler Entwicklung liegt.
({3})
Mittlerweile sind über 120 000 NATO-Soldaten in
Afghanistan, und die Sicherheitslage ist schlechter denn
je. Über die Zahl der verletzten und getöteten Zivilistinnen und Zivilisten spricht hier niemand. Sie steigt kontinuierlich, und sie erhöht sich auch dadurch, dass sich die
ISAF militärisch in der Defensive befindet und immer
schwerere Waffen einsetzt. Dazu kommen auch die gezielten Tötungen durch die NATO. Durch Anschläge
und Kämpfe in Afghanistan sind im vergangenen Jahr
wahrscheinlich über 10 000 Menschen getötet worden.
Das ist eine tragische Entwicklung für die Menschen in
Afghanistan, die deutlich zeigt, dass es bei der Militärintervention der NATO nicht um die afghanische Bevölkerung geht. Deshalb nimmt der Widerstand in der afghanischen Bevölkerung gegen die Besatzung ihres Landes
zu.
Die deutsche Bevölkerung lehnt diesen Einsatz zu
über 70 Prozent ab. Minister zu Guttenberg hat in einer
Trauerrede anlässlich des Todes von Soldaten gesagt:
In Afghanistan wird für unser Land, für dessen
Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und
gestorben.
Das ist eine zynische, unerträgliche Kriegspropaganda.
({4})
Ich kann nur sagen - das möchte ich wiederholen -: In
Afghanistan wird nicht in unserem Namen gekämpft.
({5})
Zugleich wird die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgebaut. Zu Guttenberg fordert ganz direkt den
Einsatz der Bundeswehr zur Sicherstellung deutscher
Wirtschaftsinteressen; er wünscht sich, dass endlich einmal ohne Verklemmungen darüber geredet wird. So
sagte er in der Trauerrede:
Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden. Und sie werden es auch in den
nächsten Jahren sein, wohl nicht nur in Afghanistan.
Bei dieser Kriegspolitik machen wir nicht mit.
({6})
Herr Niebel, jetzt komme ich zur zivil-militärischen
Zusammenarbeit. Der Großteil der staatlichen deutschen
Entwicklungsprojekte wird im Norden durchgeführt.
Warum? Weil dort die Bundeswehr stationiert ist. Es
geht nicht um die Frage, wo die afghanische Bevölkerung Entwicklung braucht; wir konzentrieren uns darauf,
wo die Bundeswehr stationiert ist. Diese Projekte werden über die Einbettung in sogenannte Wiederaufbauteams unmittelbarer Bestandteil des Bundeswehreinsatzes, dessen Operationsschwerpunkt seit Jahren in der
Aufstandsbekämpfung liegt und immer deutlicher den
Charakter einer offenen Kriegsführung annimmt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit werden
somit Teil der militärischen Strategie in Afghanistan; das
ist die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit.
Ich kann nur sagen: Es ist ein völlig falscher Weg, ein
katastrophaler Weg für die Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen - sie werden dadurch konkret gefährdet - und für die afghanische Zivilbevölkerung.
Sehr viele Entwicklungsorganisationen kritisieren
dieses Vorgehen. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Nur so können Entwicklungshelferinnen und -helfer geschützt werden.
({7})
Über 29 in Afghanistan tätige Entwicklungsorganisationen fordern deswegen dazu auf, diese Art der Zusammenarbeit zu beenden. Auch VENRO, der große Dachverband deutscher Entwicklungsorganisationen, lehnt
die zivil-militärische Zusammenarbeit ab. Herr Niebel,
nachdem Sie angekündigt haben, dass Hilfsorganisationen nur Geld bekommen sollen, wenn sie mit der Bundeswehr kooperieren, hat Ihnen die Organisation Ärzte
ohne Grenzen vorgeworfen, dass allein Ihre Ankündigung die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Organisation in Afghanistan gefährdet.
Es gibt aber auch andere Beispiele, etwa die Kinderhilfe Afghanistan, die eine Nähe zum Militär kategorisch
ablehnt. Man kann Entwicklungszusammenarbeit in
Afghanistan ohne Militär betreiben. Bei der Kinderhilfe
sind über 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, übrigens auch aus Afghanistan, aktiv. Bisher wurden sie
nicht angegriffen. Es werden nicht Tausende von Experten für einige Wochen in das Land geschickt; es wird mit
afghanischen Helfern gearbeitet. Dort funktioniert der
Aufbau, weil die Bevölkerung aktiv einbezogen wird. Es
gibt eine klare Trennung vom Militär, einen klaren Abstand. Das ist eine Voraussetzung für die Sicherheit der
Mitarbeiter dort.
({8})
Sie haben überhaupt nicht angesprochen, welches
korrupte System eigentlich die ISAF in Afghanistan
stützt. Taliban und Warlords haben in vielen Provinzen
die Macht errungen. Gouverneure dominieren ihre Region mit viel Blutvergießen durch ihre Privatmilizen.
Wir haben gehört, dass selbst der Gouverneur in Masari-Scharif, Mohammed Atta, mit dem die Bundeswehr
sehr gut kooperiert, ein „blutiges System“ von Privatmilizen aufgebaut hat. Dort gibt es keine Form von Opposition; er dominiert die ganze Region. Diese Politik
wird von der NATO weiterhin unterstützt, weil die
Karzai-Regierung ein Garant dafür ist, dass die Truppen
in dem Land stationiert werden können, und die NATO
gar keine Alternative hat.
Die Kanzlerin hat es selbst gesagt: Die Politik in
Afghanistan ist ein Lackmustest für eine handlungsfähige NATO. Deswegen werden diese schlechten Zustände auch akzeptiert. Mit Afghanistan stehen und fallen die Kriegspolitik und die Existenz der NATO. Das ist
der Hauptgrund, weswegen Sie hier auch die Augen zudrücken und ein korruptes Regime weiterhin unterstützen.
({9})
Wir fordern dagegen - Sie haben es kurz angesprochen -, dass endlich die demokratischen Kräfte in
Afghanistan unterstützt werden. Es gibt sie. Wir laden
dazu ein. Es gibt ganz engagierte Männer und Frauen,
die keine Unterstützung von Ihnen hier bekommen. Das
andere Afghanistan an der Basis entwickelt sich.
({10})
Es gibt Studierende, die auf die Straße gehen, die gegen
die Besatzung und gegen die Taliban demonstrieren. Es
gibt mutige Leute in diesem Land. Wir haben sie für die
nächste Woche nach Berlin eingeladen. Wir machen eine
Konferenz „Das andere Afghanistan“. Diese Leute zeigen Ansätze von unten für eine Friedenspolitik ohne Militär.
Frau Kollegin!
Ich kann Sie nur einladen, Herr Niebel. Kommen Sie
zu unserer Konferenz! Da können Sie sehr viel lernen.
({0})
Da werden Sie vielleicht auch sehen,
Frau Kollegin!
- dass es um das Primat der Bevölkerung geht,
({0})
die selbstbestimmt ihr Land entwickeln soll. Eine aktive
Friedenspolitik ist für uns die beste Entwicklungspolitik.
Danke.
({1})
Herr Kollege Harald Leibrecht ist der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich letztes Jahr mit Bundesminister Niebel in
Afghanistan war, wurde dieser Besuch von einem Anschlag auf die Bundeswehr, dem drei Soldaten zum Opfer fielen, überschattet. Auch ich bin zutiefst bestürzt
über den Tod des Mitarbeiters der KfW vor wenigen
Wochen.
Diese traurigen Ereignisse zeigen uns, dass die Sicherheitslage trotz hoffnungsvoller Entwicklungen beim
zivilen Aufbau nach wie vor auch im Norden, dort, wo
unsere Soldatinnen und Soldaten sind, sehr angespannt
und gefährlich ist.
Gerade vor dem Hintergrund der Opfer, die dort zu
beklagen sind, müssen wir uns die Entwicklungen allgemein und vor allem die des zivilen Aufbaus in Afghanistan ganz genau anschauen und bewerten. Dabei geht es
neben vielen Entwicklungsprojekten, die im ganzen
Land entstehen, in der Tat auch darum, dass der afghanische Staat und seine Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden und sich voll und ganz zum Rechtsstaat, zu
einer guten Regierungsführung und zu den Menschenrechten bekennen. Es geht auch darum, dass Präsident
Karzai und seine Regierung die Korruption im Land
ernsthaft bekämpfen.
({0})
Ein Staat muss seine Bürger schützen können. Solange der afghanische Staat dies nicht ausreichend kann,
werden die Menschen dort kein Vertrauen in diesen haben, und solange der Staat schwach ist, so lange werden
die Extremisten dort aktiv bleiben.
Natürlich würde auch ich mir wünschen, dass Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan ohne internationale militärische Absicherung gelingen könnten. Aber
die Sicherheitslage erlaubt dies nun mal nicht. - Liebe
Frau Hänsel, das, was Sie über die deutschen Soldaten
gesagt haben, die unter Einsatz ihres Lebens, unter großem Risiko einen guten Dienst in Afghanistan machen,
war, wie ich finde, sehr beschämend.
({1})
Mit dem vernetzten Ansatz der Bundesregierung gelingt uns jetzt endlich das, was in den letzten Jahren
nicht erreicht wurde, nämlich gleichzeitig die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte wie auch den
zivilen Wiederaufbau voranzubringen. Beides sind doch
Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung und
den Abzug unserer Truppen aus Afghanistan. Sicherheit
und Wiederaufbau gehen Hand in Hand. Es wird eben
keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und Entwicklung
geben, aber es gibt auch keinen Wiederaufbau und keine
Entwicklung ohne Sicherheit.
Die Bundesregierung zeigt sich beim zivilen Wiederaufbau in Afghanistan äußert engagiert und setzt dabei
wichtige Schwerpunkte. Unser Engagement im Bereich
der Lehrerausbildung ist erfolgreich. Nur mit gut ausgebildeten Lehrern gibt es eine solide Schulbildung und somit auch eine echte Zukunft für die junge afghanische
Bevölkerung.
({2})
Während unseres Besuchs in Afghanistan hat Minister Niebel in Masar-i-Scharif ein Bildungszentrum für
Lehrer eröffnet; das hat er vorhin angesprochen. Dort
werden inzwischen 2 000 Lehrer pro Jahr ausgebildet.
Ich finde, das ist ein Fortschritt. Das hilft weiter. Die gezielte Förderung von Frauen hat zu einer Zunahme der
Lehramtsstudentinnen von 5 Prozent vor fünf Jahren auf
jetzt 40 Prozent geführt. Auch das ist ein Fortschritt. Das
ist der richtige Ansatz: Wir bauen nicht nur Schulen,
sondern wir versorgen sie auch mit Lehrern.
Mit deutscher Hilfe wurde die Einschulungsrate in
Afghanistan in den letzten Jahren auf immerhin 52 Prozent erhöht. Die Alphabetisierungsrate bei den 15- bis
24-Jährigen ist auf beinahe 40 Prozent gestiegen. Das ist
sicherlich bei weitem noch nicht genug. Diesbezüglich
stimme ich der Opposition zu. Wir dürfen, wie Minister
Niebel sagt, die Lage nicht schönreden. Aber wir müssen
die positiven Entwicklungen anerkennen, die eines ganz
deutlich machen: Unsere Hilfe kommt in Afghanistan
an.
({3})
Ich konnte mich von vielen Projekten persönlich
überzeugen, insbesondere im Bereich der Grundversorgung und der Infrastruktur: von der Trinkwasserversorgung über den Bau von Straßen und die medizinische
Versorgung bis hin zur Vergabe von Mikrokrediten. Dirk
Niebel kann hier zu Recht von einer Entwicklungsoffensive sprechen.
Dabei leisten neben der deutschen Durchführungsorganisation, der GIZ, gerade auch private Hilfsorganisationen einen großartigen Dienst, zum Beispiel der Verein Kinderberg International, der Krankenstationen auch
in entlegenen Regionen betreibt. Liebe Frau Hänsel, die
Kindersterblichkeit ist in den letzten Jahren um über
50 Prozent zurückgegangen. Die Zahl 250 ist eine alte
Zahl.
({4})
Wir sind inzwischen bei der Hälfte angekommen. Das ist
immer noch zu viel - das gebe ich zu -, aber das ist trotz
allem eine positive Entwicklung.
All diese Bereiche zeigen, dass es Fortschritte in
Afghanistan gibt, und sie zeigen, wie wichtig es ist, diesen eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Unser
ziviles Engagement in Afghanistan ist langfristig angelegt. Das BMZ und die Mitarbeiter der GIZ werden auch
dann noch dort sein und ihre Arbeit fortführen, wenn
deutsche Soldatinnen und Soldaten Afghanistan bereits
wieder verlassen haben.
Die Entscheidung, dem zivilen Aufbau in Afghanistan Priorität einzuräumen, war richtig. Das ist der entscheidende Unterschied zur Vorgängerregierung. Ich bin
meiner Fraktion dankbar dafür, dass sie das durchgesetzt
hat. Diese Entscheidung trägt Früchte. Dadurch sind wir
erfolgreich. Die Menschen in Afghanistan wissen unser
Engagement zu schätzen. Sie freuen sich trotz der angespannten Sicherheitslage in vielen Regionen über die
Verbesserungen der Lebensqualität vor Ort.
Mit der Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan im letzten Jahr auf jetzt über
430 Millionen Euro wurden Wiederaufbau und Entwicklung signifikant gestärkt. Vielleicht wird Afghanistan
mit seiner Stammesstruktur nie eine echte WestminsterDemokratie. Jeder, der das Land kennt, weiß, warum das
schwierig ist. Deshalb dürfen wir das Land und seine
Menschen aber nicht aufgeben. Wir müssen sie dabei unterstützen, Afghanistan in eine bessere Zukunft zu führen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Ute Koczy für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern erst war die Trauerfeier für den in Afghanistan
getöteten Entwicklungshelfer. Er starb im Rahmen seines entwicklungspolitischen Auftrages durch ein gezieltes Attentat, bei dem auch ein afghanischer Mitarbeiter
verletzt wurde. Ihm geht es zum Glück wieder besser.
Doch der deutsche Helfer hat für seinen Einsatz in
Afghanistan den höchsten Preis gezahlt, den es gibt. Er
gehört damit zu den Opfern, die wir in unserer Debatte
über den Sinn und Zweck dieses Einsatzes nicht vergessen dürfen.
({0})
Dieser Entwicklungshelfer - das ist mir auch in den
Mails aus Afghanistan bestätigt worden - sagte Ja zu
Afghanistan, sagte Ja zum Straßenbauprojekt zwischen
Kholm und Kunduz, sagte Ja zum Leben in einer anderen Kultur. Ich durfte ihn als Delegationsleiterin der
Ausschussreise nach Afghanistan im Oktober letzten
Jahres kennenlernen, und ich war beeindruckt von seinen Engagement, von seiner Zuwendung für die Menschen in Afghanistan. Ihm gebühren Anerkennung und
Respekt, genauso wie den vielen Helferinnen und Helfern, Soldatinnen und Soldaten, die sich in diesem ungewissen und oft, zu oft tödlichen Umfeld bewegen. Auch
deswegen tragen wir Verantwortung.
({1})
Die Frage stellt sich, wie es mit der Aufbauarbeit weitergehen kann, gerade auch vor dem Hintergrund dieses
tödlichen Angriffs. Was tun wir eigentlich in Afghanistan? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, und
sie sind uneinheitlich. Schlimmer: Sie sind widersprüchlich. Geht es um entwicklungspolitischen Aufbau in einem komplett zerstörten Land, um den Einsatz für die
Menschen-, die Frauenrechte? Geht es um die Sicherung
des Friedens? Geht es um die Verteidigung am Hindukusch? Geht es um zentrale kollektive Sicherheitsinteressen? Geht es um den Kampf gegen Terrorismus, um
Krieg?
Herr Minister Niebel, anders als die Bundeskanzlerin
haben Sie unserer Fraktion, haben Sie der Opposition,
haben Sie dem Parlament Ihre Regierungserklärung
nicht zur Verfügung gestellt. Ich bedaure das. Aber das
wäre auch nicht nötig gewesen; denn zu dieser Frage haben Sie nichts Wegweisendes gesagt.
({2})
Ich habe erwartet, dass Sie in dieser Regierungserklärung Antwort auf die drängenden Fragen geben, und
zwar für die Zeit, die jetzt kommt: für die Zeit bis 2014
und darüber hinaus.
({3})
Was fehlt, ist eine Agenda für den Aufbau.
Das prinzipielle Problem, das wir haben, ist doch,
dass der zivile Aufbau das oberste Ziel all unserer Anstrengungen ist. Wenn man in Afghanistan ist, dann hört
man ja auch: Militärisch kann man in Afghanistan nicht
gewinnen. Trotzdem wird nicht mit gelingenden entwicklungspolitischen Instrumenten eine Strategie für
den Erfolg durchdacht, vorgegeben und durchexerziert.
Die Regierung hat dazu nichts auf den Tisch gelegt.
Diese Regierungserklärung ist es nicht wert, darüber zu
debattieren.
({4})
Mein Vorwurf lautet: In allen Regierungskonstellationen im Deutschen Bundestag bis heute wurden die Gesetzmäßigkeiten entwicklungspolitischer Aufbauarbeit
in der anderen Kultur von Afghanistan zu wenig bedacht, sie waren von kurzfristigem Denken durchzogen,
wurden von Eigeninteressen torpediert, waren international schlecht abgestimmt und regional zu blind, wurden politisch nicht ernst genommen und für medial nicht
attraktiv genug befunden. Schlimm ist, dass diese Analyse nicht neu ist. Sie ist Jahre alt.
({5})
Schlimmer ist, dass auf diese Analyse so mangelhaft
reagiert wird.
({6})
Bis heute stehen die Entwicklungszusammenarbeit
und der zivile Aufbau nicht im Vordergrund; das wird
auch heute nicht anders werden. Genauso wenig werden
Konzeptionen entwickelt, um diesen Widerspruch endlich zu überwinden. Herr Minister, das ist Ihre Aufgabe.
Sie haben jetzt die Chance. Aber in dieser Regierungserklärung war davon nichts zu hören. Sie vergeben damit
eine Chance, die ganz wichtig ist. Wir müssen jetzt die
Frage beantworten, worum wir eigentlich ringen: Sind
wir in Afghanistan erfolgreich? Wie werden wir in
Afghanistan erfolgreich? Wenn wirklich gewollt ist, dass
die Entwicklungspolitik im Rahmen des zivilen Aufbaus
zum Erfolg beiträgt, dann müssen die Weichen anders
gestellt werden.
An drei Punkten will ich diese Kritik verdeutlichen.
Erstens: Qualität. Letztes Jahr wurden die Mittel für
den zivilen Aufbau auf 430 Millionen Euro jährlich bis
2013 erhöht. Afghanistan ist damit der größte bilaterale
Nehmer deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Die
Aufstockung ist richtig. Aber es lässt sich immer noch
nicht beurteilen, wie gut, wie wirkungsvoll das deutsche
Engagement ist. Es fehlt eine unabhängige, externe Evaluation.
Ja, Afghanistan hat sich verändert; das müssen wir
zugestehen. Ja, es gibt Zugänge zu Trinkwasser, zu Mobilität, zu Energie. Die Gesundheitsversorgung nimmt
Fahrt auf. Die Bildungschancen für Mädchen steigen.
Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wird vorangetrieben. Auch wir Grünen unterstreichen, dass gerade
im Bildungsbereich, insbesondere in der Hochschulbildung, das Wissen und Know-how langfristig erarbeitet
werden muss. Dazu haben wir auch einen Antrag gestellt. Darin sagen wir Ja zu all dem, was wir tun.
Aber uns fehlen die Grundlagen für die weitere Beurteilung. Da genügt der Fortschrittsbericht nicht, der mit
vielen Annahmen, Thesen, unbewiesenen Statements
operiert, der blinde Flecken aufweist, der noch nicht einmal Schlüsse aus zentralem Versagen der afghanischen
Regierung zieht, wie zum Beispiel bei Fragen der Menschenrechte, der Frauenrechte und zur Korruption. Es
muss doch darum gehen, die Qualität des deutschen
Engagements sicherzustellen, wo nötig zu verbessern
und funktionierende Maßnahmen zu verstärken. Aber
dafür hätten wir eine unabhängige, externe Evaluation
gebraucht. Die fehlt.
Herr Minister, Sie sagen doch, wir brauchen Wirkung,
wir brauchen Effizienz. Warum steht davon nichts in Ihrem Bericht, warum lesen Sie das nicht aus Ihrer Regierungserklärung vor? Da ist nichts zu finden.
({7})
Wie nötig es ist, das Thema Korruption anzugehen,
zeigt doch ein aktueller Fall: Die Enthüllungen der
Neuen Osnabrücker Zeitung und des Norddeutschen
Rundfunks über das Entwicklungshilfeunternehmen
AGEF machen deutlich, dass wir auch vor der eigenen
Tür kehren müssen. Bislang konnten die Vorwürfe gegen
das Unternehmen nicht entkräftet werden. Ich will betonen, dass es keine Nichtregierungsorganisation im klassischen Sinne ist. Solange die Bundesregierung bei der
Aufklärung ihre Verschleierungstaktik fortsetzt, bleiben
die Verdachtsmomente doch im Raum. Die schwarzgelbe Bundesregierung und auch die Vorgängerregierungen haben es versäumt, Kontrollmechanismen zu etablieren, die schon den Anschein von Korruption und Unterschlagung nicht zulassen.
({8})
Es ist doch offensichtlich, dass gerade hier eine rechtzeitige externe Evaluation notwendig gewesen wäre.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Leibrecht zu?
Bitte.
Frau Kollegin Koczy, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das Entwicklungshilfeunternehmen AGEF
bereits im Jahr 2002 tätig war? Da war bekanntermaßen
Minister Niebel noch nicht für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass Herr Niebel bereits im November 2010
diesbezüglich eine Untersuchung durch einen Wirtschaftsprüfer angeordnet hat und dass das jetzt auch von
einem unabhängigen Unternehmen überprüft wird? Insofern ist das eine Situation, die nicht unter dieser Regierung entstanden ist, und sie wird von dieser Regierung
bereits überprüft.
Herr Kollege Leibrecht, sind Sie auch bereit anzuerkennen, dass die Reaktion des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit auch deswegen erfolgt,
weil die Grünen dazu eine Kleine Anfrage gestellt haben, dass die Hinweise in der Presse veröffentlich wurden und dass sich jetzt gezeigt hat, dass das Ministerium
nicht vorhat, jetzt die notwendigen externen Evaluationsmechanismen einzurichten? Sind Sie auch bereit,
anzuerkennen, dass die Bundesregierung auf meine
Kleine Anfrage sehr schwammig, sehr ausweichend reagiert hat, dass es sehr lange Zeit braucht, bis die Antworten kommen, dass das Wirtschaftsunternehmen, das
die AGEF jetzt prüft, Vorlagen erstellt hat, und wir bis
heute keine Klarheit darüber haben, ob das Ministerium
bereit ist, lückenlos aufzuklären - in die eine oder in die
andere Richtung?
({0})
Ich verlange, dass das Ministerium hier mit maximaler Transparenz zur Aufklärung beiträgt. Bis heute haben
wir dazu nichts gehört. Ich hatte erwartet, dass in dieser
Regierungserklärung dazu einige Worte gesagt werden.
Wir haben eine aktuelle Situation, darauf muss man jetzt
in der Regierungserklärung auch reagieren.
({1})
Zweiter Punkt, die zivil-militärische Zusammenarbeit. Herr Minister Niebel, was treibt Sie eigentlich
dazu, eine der Stärken der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, nämlich die Neutralität, zu torpedieren?
Warum meinen Sie, sich damit profilieren zu müssen,
dass Sie die Nichtregierungsorganisationen dazu zwingen, sich einem Konzept von zivil-militärischer Zusammenarbeit unterzuordnen, einem Konzept, das keiner
will, das niemand braucht, zu dem der Dachverband
VENRO Nein sagt und dessen Konzeption niemandem
bekannt ist? Ich sage, diese zivil-militärische Zusammenarbeit, die von Ihrem Haus ausgeht, ist überflüssig
wie ein Kropf. Lassen Sie es bleiben!
({2})
Herr Minister, stellen Sie die Neutralität der zivilen
Aufbauarbeit wieder her, denn das macht sie ja gerade so
wertvoll, und organisieren Sie die Bedingungen so, dass
es eine Entwicklungszusammenarbeit auch dann noch
geben wird, wenn die Kampftruppen abgezogen sind.
Frau Kollegin, auch die Kollegin Hänsel würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Ich bitte aber, das knapp zu halten, weil sich die ohnehin mit Rederecht ausgestatteten Kolleginnen und Kollegen ihre Redezeiten verständlicherweise eigentlich nicht
durch wechselseitige Zwischenfragen zusätzlich verlängern sollten. - Bitte schön.
({0})
Ja, aber ich denke, es ist mein gutes parlamentarisches Recht, eine Zwischenfrage zu stellen.
Deswegen gebe ich Ihnen dazu ja auch Gelegenheit.
Genau, danke schön. Ich denke, ohne Kommentierung ist das auch möglich. Danke schön, Herr Präsident.
Ich darf Sie der Vollständigkeit halber darauf aufmerksam machen, dass Kommentare zu sitzungsleitenden Entscheidungen des Präsidenten von den Mitgliedern des Hauses prinzipiell nicht kommentiert werden.
({0})
Ja, gut. - Ich möchte jetzt zu den wichtigen Dingen
kommen.
Liebe Kollegin Ute Koczy, Sie haben die zivil-militärische Zusammenarbeit angesprochen. Ich kann Ihnen
meine Frage dazu jetzt natürlich nicht ersparen.
Die zivil-militärische Zusammenarbeit gab es schon
im Kosovo nach dem Jugoslawienkrieg.
({0})
- Ihnen fällt nie etwas anderes ein, Frau Künast. Das ist
sehr schwach. Sie lenken ab.
({1})
Bereits 2002 wurde mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit begonnen. Die Strukturen dafür wurden durch
den Aufbau der Wiederaufbauteams geschaffen.
({2})
In diesen dezentralen Teams haben Soldaten, Entwicklungshelfer und das Auswärtige Amt zusammengearbeitet. Das ist ein Projekt der rot-grünen Bundesregierung.
Dazu hätte ich von Ihnen schon gerne ein paar Sätze gehört.
({3})
Liebe Kollegin Heike Hänsel, die Situation in Afghanistan ist leider nicht so, wie die Linke sie gerne hätte.
Ohne die Soldatinnen und Soldaten und ohne den militärischen Schutz kann die Entwicklungszusammenarbeit
in Afghanistan nicht geleistet werden.
({0})
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zivile
Aufbauarbeit leisten, ist sehr wohl klar, dass sie aufgrund dessen, dass sie zivil arbeiten, in diesem schwierigen Umfeld keine Möglichkeit haben, bei terroristischen
Attacken zu reagieren. Sie sind darauf angewiesen, dass
es einen substanziellen Schutz gibt.
Die Umsetzung Ihrer Forderung, diese militärische
Unterstützung sofort zu beenden, würde bedeuten, dass
wir diese entwicklungspolitische Aufbauarbeit, die wir
gerne leisten und die wir den Menschen in Afghanistan
versprochen haben, umgehend beenden müssten. Wenn
wir diesem Vorschlag folgen würden, hätten wir unser
Versprechen gegenüber dem afghanischen Volk, es bei
der Bildung, bei der Trinkwasserversorgung und bei allen anderen organisatorisch wichtigen entwicklungspolitischen Leistungen zu unterstützen, komplett gebrochen.
Deswegen muss man differenzieren. So einfach, wie Sie
es in Ihrer Argumentation sagen,
({1})
ist das Land Afghanistan nicht zu retten.
({2})
Drittens. Weil die Situation in Afghanistan so schwierig ist, brauchen wir einen Plan, eine Strategie und eine
Agenda; denn die Debatte über den Abzug findet statt.
Für die Zivilisten, für die Bundeswehr und für die internationalen Truppen war das Jahr 2010 das bisher verlustreichste, und es ist zweifelhaft, ob die USA mit ihrer
veränderten Strategie, der gezielten Aufstandsbekämpfung, ihr Ziel erreicht.
Was heißt das für die Entwicklungszusammenarbeit?
Was heißt das für die Zeit bis zum Abzug? Was heißt das
für die Zeit darüber hinaus? Ein einfaches „Weiter so!“
kann es nicht geben. Deswegen lautet unsere Forderung:
Wir brauchen eine Agenda für den Aufbau bis 2014 und
danach, damit wir unserer Verantwortung gerecht werden. Das ist die letzte Chance, die wir haben, für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Pflöcke einzurammen und zusammen mit den umliegenden Staaten, was
ganz, ganz wichtig ist - ich nenne hier Pakistan und die
zentralasiatischen Staaten -, zu einem anständigen Erfolg zu kommen, durch den es uns ermöglicht wird, in
Afghanistan tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Dafür setzen wir uns ein.
Danke.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Holger Haibach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Hänsel, ich habe zwei Probleme mit Ihrer Rede.
({0})
Das erste Problem ist: Offensichtlich haben Sie Ihre
Rede lange vorbereitet, waren aber aufgrund der Kürze
der Zeit oder aus welchen Gründen auch immer nicht
mehr in der Lage, sich auf das, was der Minister gesagt
hat, einzustellen. Sie haben gesagt, der Minister hätte alles nur beschönigt und nicht auf die Probleme in Afghanistan hingewiesen. Das hat er sehr wohl getan. Nun
kommt das zweite Problem hinzu, und das ist Ihre ideologische Weltsicht. Sie können nur schwarz-weiß sehen.
Ich finde, Herr Niebel hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass Schwarz-weiß-Sehen das Schlechteste ist, was man
in Afghanistan machen kann. Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens. Sie diskreditieren die Arbeit derer, die sich
hier im Parlament seit Jahren mit Afghanistan beschäftigen. Das trifft nicht nur die Regierungskoalitionen, sondern auch andere Fraktionen hier im Hause, und es trifft
die Bundesregierung. Damit könnte man notfalls noch
leben, das gehört bis zu einem gewissen Grade zum parlamentarischen Gebrauch dazu. Zweitens. Sie diskreditieren damit auch die Erfolge, die besonders deutsche
Entwicklungshelfer und deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan erreicht haben. Das kann man nicht
einfach so stehen lassen.
({1})
Drittens, und das finde ich das Schlimmste: Sie diskreditieren damit auch das, was viele Afghaninnen und
Afghanen zum Teil unter Einsatz ihres Lebens in all den
Jahren seit 2001 in Afghanistan erreicht haben. Ich
finde, das kann man am allerwenigsten stehen lassen.
({2})
Ich bin sehr dankbar, dass ich von anderen Rednern,
auch von Oppositionsseite, sehr sachliche Beiträge gehört habe. In diesem Zusammenhang möchte ich eine
Bemerkung zu Ute Koczy machen. Ich schätze deine Arbeit sehr, aber das Problem ist: Wenn man sagt, dies hat
nicht funktioniert und da fehlt uns etwas, dann muss man
zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung in dieser Zusammensetzung erst seit anderthalb Jahren im
Amt ist. Das Afghanistan-Engagement - das ist deutlich
geworden - ist von Regierungen getragen worden, die
von vier Fraktionen dieses Hauses gestellt wurden bzw.
werden. Insofern gilt das alte Sprichwort: Wenn man mit
dem Finger auf jemanden zeigt, dann zeigen immer drei
Finger auf einen zurück. Ich finde, ein bisschen Zurückhaltung wäre an dieser Stelle durchaus angebracht.
({3})
Nichtsdestoweniger glaube ich, dass die Debatte ein
relativ differenziertes Bild zur Situation in Afghanistan
zeichnet. Im Übrigen ist auch der Fortschrittsbericht
- Christian Ruck hat darauf hingewiesen - von Kennern
als das ehrlichste Dokument und die ehrlichste Bestandsaufnahme über die Situation in Afghanistan seit Beginn
des Einsatzes gelobt worden. Ich glaube, darin wird
deutlich, worin die Herausforderung eigentlich besteht.
Die Herausforderung besteht zum einen darin, die Situation in Afghanistan kritisch, realistisch und nüchtern in
den Blick zu nehmen, zum anderen besteht sie darin, zu
überlegen, was eigentlich die Zielsetzung ist.
In den letzten anderthalb Jahren ist sehr viel davon
gesprochen worden, dass es notwendig ist, die gesetzten
Ziele vielleicht wieder neu zu justieren. Das Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine Demokratie nach westlichem
Muster einzurichten, ist vielleicht zu ambitioniert gewesen. Es kann sein, dass wir das eine oder andere Ziel
nicht erreichen werden, aber es gehört zu unserem
Selbstverständnis als deutsche Parlamentarier und im
Besonderen als deutsche Bundesregierung dazu, darauf
hinzuwirken, dass rote Linien nicht überschritten werden
dürfen, selbst wenn man die Ziele neu justiert. Rote
Linien, das bedeutet Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Entwicklungschancen für alle Menschen in
Afghanistan. Das ist schwierig.
All diejenigen, die sagen, dazu habe die gegenwärtige
Bundesregierung kein Konzept, liegen aus meiner Sicht
fatal falsch, und zwar deshalb, weil das AfghanistanKonzept der Bundesregierung aus dem letzten Jahr meines Erachtens eine gute Arbeitsgrundlage bietet, um zu
schauen, wie wir das erreichen können, was wir erreichen wollen. Über das, was wir erreichen wollen, gibt es
Konsens, ich denke, auch in diesem Haus, und zwar die
Übergabe in Verantwortung. Wenn man die Verantwortung übergeben will, dann muss man sich überlegen, was
man dafür braucht.
Auf der einen Seite brauchen wir ein gesichertes Umfeld. Dieser Aufgabe geht von unserer Seite die Bundeswehr sehr intensiv nach. Auf der anderen Seite brauchen
wir auf afghanischer Seite Menschen, die in der Lage
sind, Verantwortung zu übernehmen und auch die nötigen Kapazitäten haben, Verantwortung zu übernehmen,
und die entsprechende Infrastruktur. Deswegen sieht das
Konzept meines Erachtens zu Recht vor, die Infrastruktur im Sinne von Straßen, Gesundheit, Verwaltung usw.
aufzubauen, aber auch die Menschen zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen.
Gerade Deutschland hat mit dem Konzept des Provincial Development Fund, wie ich finde, ein wirklich gutes
Mittel gefunden, um Afghaninnen und Afghanen möglichst früh an Entscheidungsfindungen zu beteiligen und
sie in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu fällen.
Darüber hinaus wissen wir seitdem auch wesentlich besser, was von der Bevölkerung vor Ort gewünscht wird.
Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt. Es ist ein
Baustein dafür, dass wir dort erfolgreich sein können.
({4})
Es ist mir auch wichtig, auf das schwierige Thema
zivil-militärische Zusammenarbeit zu kommen, weil es
gerade in diesem Zusammenhang eine große Rolle
spielt. Auch hierzu waren sehr einseitige Äußerungen zu
hören. Die Wahrheit ist auch in der deutschen Nichtregierungsorganisationsszene ein bisschen komplizierter.
Es gibt Organisationen wie Kinderberg, für die die
Zusammenarbeit mit der Bundeswehr selbstverständlich
ist. Andere machen das nicht. Das ist genauso richtig. Es
wird auch keiner dazu gezwungen, wie es in der Debatte
gesagt worden ist.
Ich will auf eines hinweisen: Der Fonds, den Bundesminister Niebel im Rahmen des Wiederaufbaus in Afghanistan mit 10 Millionen Euro für das letzte Haushaltsjahr aufgelegt hat,
({5})
ist ausgeschöpft. Die Mittel sind komplett gebunden.
Wir werden sicherlich irgendwann erfahren, welche Organisationen Mittel aus diesem Topf bekommen haben.
Ich bin ganz sicher, dass sie nicht allein an Kinderberg
geflossen sind. Das wird sicherlich eine interessante Debatte, weil wir dann feststellen werden, wer diejenigen
sind, die den großen Kampf gegen die zivil-militärische
Zusammenarbeit führen.
({6})
Ich glaube, dass wir - das gilt für alle, die im Bereich
des zivilen Aufbaus tätig sind - eine Sache genau im
Blick behalten müssen, nämlich dass die Entwicklungszusammenarbeit ein langfristig angelegtes Instrument
ist. Christian Ruck hat darauf hingewiesen. Wir werden
lange nach 2014 mit deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan tätig sein.
Es ist einerseits gut; andererseits gibt es dabei Herausforderungen. Eine Herausforderung ist die Frage,
wer nach 2014 Sicherheit garantiert. Das ist zweifelsohne eine wichtige Frage. Aber wir haben immer gesagt:
Der Abzug setzt selbsttragende Sicherheitsstrukturen in
Afghanistan voraus. Insofern ist es zumindest aus meiner Sicht völlig klar, dass ein verantwortungsvoller Abzug nur dann stattfinden kann, wenn selbsttragende Sicherheitsstrukturen vorhanden sind, die auch in der Lage
sind, Aufbauhelfer zu schützen. Ohne das eine kann es
das andere nicht geben.
({7})
Wenn ich einen Schlussstrich unter die Debatte ziehe
und berücksichtige, was im Fortschrittsbericht und im
Afghanistan-Konzept enthalten ist, dann sind, denke ich,
drei Punkte wichtig:
Der erste Punkt ist schon angesprochen worden.
49 Prozent der afghanischen Bevölkerung ist unter
15 Jahre alt. Das ist eine unglaubliche Chance mit einem
unglaublichen Potenzial. Darin liegt aber auch eine unglaubliche Herausforderung. Denn diese Menschen werden durch das geprägt, was sich jetzt in den kommenden
Jahren abspielt. Die Frage, ob wir in Afghanistan erfolgreich sind, wird auch ihr Denken über uns bestimmen.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir dort erfolgreich arbeiten. Unser Einsatz dort ist wichtig und richtig.
({8})
Zweitens. Die Weltbank hat vor einigen Tagen veröffentlicht - ich bin beim Spiegel-Lesen darauf aufmerksam geworden -, dass China im Jahr 2010 110 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe ausgezahlt hat. Das sind
10 Milliarden Dollar mehr, als die Weltbank im selben
Zeitraum ausgezahlt hat. Wer sich fragt, wem die Kupferbergwerke in Afghanistan gehören, stellt fest, dass sie
in chinesischem Besitz sind. Ein Blick auf das chinesische Engagement in Afrika macht deutlich, dass uns dort
ein neuer Player, ein neuer Partner, vielleicht auch ein
neuer Rivale erwachsen ist. Es geht mir nicht um einen
Clash der Zivilisationen, den Zusammenprall der Kulturen. Im Gegenteil: Wir sollten sehen, wo wir kooperieren
können. Aber auch deshalb ist es in Zukunft wichtig, zu
schauen, wer eigentlich in Afghanistan ein gutes Ansehen hat und wer eigentlich in Afghanistan zur Entwicklung beiträgt. Wir werden nicht nur dort, sondern auch
anderswo sehen, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist.
Ich will zum Schluss noch eine dritte Bemerkung machen. Entwicklungspolitik ist ein langfristiges Instrument. Entwicklungspolitik ist nicht auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet. Deswegen sollten und müssen wir
aufpassen, dass Entwicklungspolitik nicht sozusagen in
Geiselhaft für alles, was in anderen Bereichen des Engagements nicht funktioniert, genommen wird. Entwicklungspolitik wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir
über das Jahr 2014 hinaus mit den entsprechenden finanziellen Mitteln, aber auch an der einen oder anderen
Stelle mit der notwendigen Härte, zum Beispiel wenn es
um Korruptionsbekämpfung geht, vorgehen. Dabei sollten wir alle mithelfen.
Danke sehr.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch
wenn sich jetzt allmählich die Regierungsbank anscheinend wieder füllt, muss ich sagen, dass ich enttäuscht
bin, dass die Regierungsbank lange Zeit während der
Debatte ziemlich verwaist gewesen ist. Vor allem hat
- mit Ausnahme der ersten fünf Minuten - ein Minister
gefehlt, den ich sonst jeden Tag im Fernsehen sehe. Das
zeigt, wo hier anscheinend die Prioritäten liegen und wo
nicht.
({0})
Ich finde das bedauerlich.
({1})
Es gibt in Afghanistan ein Sprichwort, mit dem sich
die Menschen immer dann gegenseitig Mut machen,
wenn sie vor scheinbar unlösbaren Problemen stehen.
Dieses Sprichwort besagt, dass selbst zum Gipfel des
höchsten Berges ein Weg führt. Um in diesem Bild zu
bleiben: Nach über neun Jahren Einsatz in Afghanistan
stehen nicht nur die Afghanen, sondern auch wir mitten
in einer riesigen Gebirgslandschaft zahlreicher und nach
wie vor ungelöster Probleme. Der Berggipfel ist nicht
immer erkennbar. Obwohl vieles in der Vergangenheit in
bester Absicht unternommen wurde, haben sich doch
manche Wege im Nachhinein als falsch erwiesen. Viele
Hoffnungen haben sich zerschlagen. Niemand von uns
weiß mit Sicherheit, welch ein Afghanistan wir auf
Dauer zurücklassen, wenn wir uns in den nächsten Jahren militärisch zurückziehen.
Eine Erkenntnis zieht sich inzwischen durch jeden
Debattenbeitrag, wenn wir über die Zukunft Afghanistans sprechen. Mit militärischen Mitteln allein werden
wir einen dauerhaften Frieden und Stabilität in Afghanistan nicht hinbekommen. Ich kann an dieser Stelle nur
das wiederholen, was wir Sozialdemokraten seit vielen
Jahren immer wieder fordern und im Rahmen des Strategiewechsels unterstützen, nämlich dass wir von einer
reinen Dominanz militärischer Ziele weg müssen, hin zu
einer dauerhaften und nachhaltigen Hilfsstrategie, die
sich vor allen Dingen dem Aufbau staatlicher Institutionen widmet, zivilgesellschaftliche Strukturen stärkt und
die Lebenssituation der Menschen ganz praktisch verbessert.
Kurz gesagt: Jetzt ist Entwicklungspolitik gefordert.
Jetzt sind Sie als zuständiger Minister gefordert, Herr
Niebel. Nur, Herr Niebel, der Verantwortung, die damit
verbunden ist, wird man doch nicht dadurch gerecht,
dass man zuallererst damit beginnt - das ist jedenfalls
Ihre Absicht -, denjenigen Hilfsorganisationen, die nicht
bereit sind, mit dem Militär in Afghanistan zu kooperieren, die Gelder zu streichen.
({2})
Diese törichte Vorgabe, die Sie eben wieder verteidigt
haben, zeigt doch nur, dass Sie bis heute nicht die
Grundidee guter Entwicklungspolitik verstanden haben.
Entwicklungspolitik muss immer und zuallererst nach
den Bedürfnissen der Menschen fragen und nicht danach, was militärisch nützlich erscheint. Eine Entwicklungspolitik, die sich stattdessen möglicherweise zu einem verlängerten Arm militärischer Interessen macht, ist
- dafür gibt es unzählige Beispiele - zum Scheitern verurteilt. Konsequent zu Ende gedacht, nimmt eine solche
Politik sogar billigend in Kauf, dass viele Hilfsorganisationen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten in Afghanistan
engagieren, ihre Arbeit einstellen bzw. einstellen müssen
und sich aus Afghanistan zurückziehen. Wenn aber die
Helfer Afghanistan verlassen, Herr Niebel, dann ist dieses Land verloren. Deshalb sage ich Ihnen deutlich: Korrigieren Sie diese Politik. Sie ist falsch und stellt einen
fatalen Irrweg dar.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
Sozialdemokraten gerade in diesen Tagen und Wochen
immer wieder darauf drängen, in diesem Jahr mit dem
Truppenabzug zu beginnen, dann ist das vor allen Dingen von der Erkenntnis getragen, dass für Sicherheit und
Stabilität in Afghanistan nur ein funktionsfähiger und legitimer Staat sorgen kann und dass solche Staatlichkeit,
jedenfalls nicht auf Dauer, durch ausländische Militärkräfte ersetzt und erzwungen werden kann.
Es wird nicht gelingen, Afghanistan eine Chance für
eine bessere Zukunft zu geben, wenn die Regierung
Karzai nicht erhebliche und energische Anstrengungen
unternimmt. Die Hauptaufgabe der afghanischen Regierung besteht jetzt darin, zwischen 2011 und 2014, wie
verabredet, Stück für Stück die Sicherheitsverantwortung in Afghanistan zu übernehmen.
Mit der Ausbildung von inzwischen 150 000 afghanischen Soldaten und 113 000 Polizisten hat die internationale Staatengemeinschaft bis dato ihren Teil der Verabredung eingehalten und den Grundstein dafür gelegt,
dass wir in diesem Jahr auch tatsächlich mit dem Übergabeprozess beginnen können. Wer aber diesen Übergabeprozess gleich zu Beginn schon wieder infrage stellt,
indem er darüber nachdenkt, mit dem Truppenabzug
auch später zu beginnen, der findet sich irgendwann
möglicherweise im Chaos wieder, der läuft Gefahr, dass
er einen unkoordinierten und überstürzten Abzug vornehmen muss. Denn eines steht aus meiner Sicht fest:
2014 werden sich die Kampfverbände der internationalen Staaten aus Afghanistan verabschieden.
Deshalb habe ich überhaupt kein Verständnis für das
Hickhack und die Kakofonie hinsichtlich des Abzugsbeginns, die wir in den vergangenen Wochen innerhalb dieser Bundesregierung zwischen Außen- und Verteidigungsminister erlebt haben.
({4})
Diese Bundesregierung stand und steht nach wie vor in
der Pflicht, deutlich zu sagen, wie sie Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übergeben und in welcher
Form sie mit dem Abzug der deutschen Truppen am
Hindukusch beginnen will.
Talkshows zur Selbstinszenierung vermeintlicher
Kanzlerkandidaten können ein solches klares Wort übrigens nicht ersetzen.
({5})
Solche Inszenierungen helfen auch Afghanistan keinen
Schritt weiter. Sie lösen nicht eines der dortigen Probleme. Sie verbessern nicht die Lebensumstände auch
nur eines einzigen Afghanen. Sie bringen nicht einen
deutschen Soldaten sicher nach Hause. Kurz gesagt: Solche Selbstinszenierungen sind überflüssig wie ein Kropf.
({6})
Deshalb zum Schluss noch ein Dank an Sie, Herr
Niebel. Als Sie von der Frankfurter Rundschau vor einigen Wochen gefragt wurden, ob auch Sie ähnliche Inszenierungen planen, haben Sie schlicht und einfach geantwortet:
Ich habe nicht vor, meine Frau nach Afghanistan mitzunehmen. - Ich hatte nach Ihren Einsätzen mit Militärkäppi und verspiegelter Sonnenbrille schon Schlimmeres
befürchtet. Zumindest für diese Aussage dann doch recht
herzlichen Dank, Herr Niebel.
({7})
Helga Daub ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Vor einem Jahr war es gerade Deutschland, das auf der
Konferenz in London auf dem Konzept der vernetzten
Sicherheit und der Übergabe in Verantwortung in Afghanistan bestanden hat. Dass es schon in diesem Jahr möglich sein wird, einzelne Regionen in die Verantwortung
der Afghanen zurückzugeben, ist bei allen Rückschlägen, die es leider gegeben hat und die es möglicherweise
auch noch geben wird, ein großer Erfolg.
Wir sind sehr betroffen und trauern um die gefallenen
Bundeswehrsoldaten und um den getöteten zivilen Mitarbeiter. Unser Beileid gilt natürlich den Angehörigen.
Ja, es bleibt nach zehn Jahren Einsatz die Erkenntnis,
dass es einen Königsweg, am besten noch nach westlichem Vorbild, so nicht geben wird, weder allein militärisch noch mit Aufbauhilfe. Deshalb braucht es die Koordinierung von beidem, vor allem aber Aufbauhilfe,
insbesondere zum Aufbau der Infrastruktur. Zu lange
sollten Soldatinnen und Soldaten quasi Entwicklungshelfer in Uniform sein, was außer in der heimischen Berichterstattung so schon lange nicht mehr funktioniert
hat.
({0})
Auch oder gerade deshalb ist es so verkehrt, wenn Kritiker immer wieder - auch hier klang es wieder an - die
angebliche Militarisierung der Entwicklungshilfe anprangern. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Regierung
will, dass die Beteiligten das machen, was sie am besten
können - die Herstellung von Sicherheit die einen, den
Aufbau die anderen. Hier kommt dann die Entwicklungshilfe ins Spiel.
({1})
Wir, eine Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, konnten Infrastrukturprojekte in Afghanistan in Augenschein nehmen,
zum Beispiel ein Trainingscenter für die Lehrerausbildung, Schulen, neu gebaute Straßen, ein Kraftwerk und
Handwerksbetriebe, aber auch die Projekte zur Ausbildung der Polizei in Kabul und in Masar-i-Scharif.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, sicher geht es Ihnen
ähnlich wie mir: Ich werde immer wieder angesprochen
und gefragt: „Glauben Sie wirklich an einen Erfolg in
Afghanistan?“
({2})
Glauben möchte ich daran gerne aus voller Überzeugung. Dass wir es am Ende wirklich schaffen, kann aber
wohl niemand behaupten. Wir haben allerdings die besten Möglichkeiten; wir haben Chancen.
({3})
Eine Garantie kann es nicht geben. Wenn es jedoch gelingt, in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung Sicherheit und Infrastruktur in nennenswertem Umfang herzustellen, wird es für die Taliban schwerer, die Menschen
wieder für sich zu gewinnen. Das ist unsere große
Chance. Wir sollten sie nutzen. Es ist vielleicht die einzige Chance.
Vor allem aber müssen wir die Herzen und Köpfe der
jungen Menschen - daraus schöpfe ich besonders viel
Zuversicht - gewinnen. Ich glaube, dazu haben wir die
besten Voraussetzungen. Die Kinder und die Jugendlichen, insbesondere die Mädchen - das gilt es ganz besonders hervorzuheben - gehen offensichtlich gerne zur
Schule; wir konnten uns davon überzeugen. Sie sind
froh, wieder einen sicheren Schulweg zu haben, wieder
ein Schulgebäude zu haben, sodass auch im Winter Unterricht stattfinden kann, was zuvor nicht immer der Fall
war.
Die Kinder und die Jugendlichen haben uns auch von
ihren Zukunftsplänen berichtet. Das hörte sich alles sehr
positiv an. Sie sind die Zukunft des Landes. Gut ausgebildete und aufgeklärte Menschen lassen sich von den
Taliban nicht ins Mittelalter zurückdrängen.
({4})
Sie sehen ihre Zukunft aber auch nicht als Schaf- und
Ziegenhirten - ich möchte diesem Berufsstand nicht zu
nahe treten - oder aber als Landflüchtlinge in dem ohnehin schon überbevölkerten Kabul. Vor allen Dingen
deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes investieren. Dann gibt es genügend Möglichkeiten des beruflichen Fortkommens. Ansonsten werden diese jungen
Leute ins Ausland gehen und ihre Fähigkeiten nicht dem
eigenen Land zugutekommen lassen.
Die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen wir
aber auch mit einem weiteren Aspekt, der in der Öffentlichkeit eher selten wahrgenommen wird: Ich meine die
Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Es gibt noch
sehr viel zu tun - das wissen wir alle -, um vor allen
Dingen die Infrastruktur der ärztlichen Versorgung weiter zu verbessern. Es fehlt unter anderem zwar noch an
qualifizierten Krankenschwestern und Hebammen; aber
die Fortschritte werden von der Bevölkerung wahrgenommen. Sie kommen ihr unmittelbar zugute, sie sind
sichtbar und führen zu einer deutlichen Verbesserung der
Lebensqualität der Menschen, im Übrigen auch der Akzeptanz der Helfer dort. Das sollte uns Anlass zu Hoffnung geben und Ansporn zum Weitermachen sein.
Mütter- und Kindersterblichkeit konnten gesenkt werden. Frau Hänsel, Ihre Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell. Im Human Development Index wird beispielsweise
festgestellt, dass die Kindersterblichkeit in Afghanistan
sinkt und von jedem Geburtenjahrgang fast 130 000 Kin9570
der den fünften Geburtstag erleben. Wenn das kein Erfolg ist!
({5})
Die Impfraten - das betrifft Diphterie, Keuchhusten
und Tetanus - sind enorm gestiegen. Ein Thema liegt
mir sehr am Herzen, nämlich der Kampf gegen die Tuberkulose. Wir haben das im Unterausschuss „Gesundheit in Entwicklungsländern“ öfter behandelt. Mittlerweile konnten fast zwei Drittel der afghanischen Kinder
gegen Tuberkulose geimpft werden.
Unsere Anstrengungen bei der Unterstützung des zivilen Aufbaus werden also wahrgenommen. Wie gesagt,
es gibt noch Defizite. An deren Beseitigung müssen wir
alle gemeinsam weiter arbeiten. Diese Regierung hat allerdings die Gelder für den Wiederaufbau verdoppelt,
nämlich die Gelder, die direkt in Projekte und nicht in
den Haushalt der Regierung fließen, was angesichts der
vorhandenen Korruption auch eher kontraproduktiv
wäre. Wir bleiben dran. Der zivile Aufbau ist uns wichtig.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Ende. - Ein Land, das Hoffnung hat,
das Chancen eröffnet, entzieht dem Terrorismus den
Nährboden. Das bedeutet auch mehr Sicherheit für uns
hier.
Danke.
({0})
Ich erteile nun der Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! „Wir müssen den zivilen Wiederaufbau Afghanistans stärken“ - das ist eigentlich seit Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Mantra hier
im Deutschen Bundestag, und zwar seit der Zeit, als
nach den ersten militärischen Rückschlägen in Afghanistan der Ruf nach einem Strategiewechsel, nach einem
umfassenden zivilen Ansatz laut wurde.
In der Debatte um Afghanistan habe ich schon viele
Strategiewechsel miterlebt, aber nicht jeder, der so bezeichnet wurde, war auch einer. Aber dann kam Anfang
letzten Jahres die Konferenz in London. Das Ergebnis
dieser Konferenz kann man zweifelsohne als echten
Strategiewechsel bezeichnen. Die internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, in Afghanistan
massiv in den zivilen Sektor zu investieren. Allein
Deutschland wird bis 2013 jedes Jahr bis zu
430 Millionen Euro bereitstellen, eine gewaltige
Summe, die, wie ich finde, zeigt, dass wir es ernst meinen.
Doch auch die Afghanen müssen es ernst meinen und
Verantwortung für die Zukunft ihres Landes übernehmen. Ich weiß: Darüber zu sprechen, war eine ganze
Weile lang verpönt. Aber die Regierung Karzai muss
ihre Zusagen genauso einhalten wie wir und am Aufbau
eines funktionierenden, selbsttragenden Staatswesens intensiv mitarbeiten. Wir haben oft genug bemängelt, dass
Karzais Regierung und Verwaltung anfällig für Korruption, Misswirtschaft und Missmanagement sind. Wenn
die afghanische Regierung selbst nicht die Kraft zu passabler Regierungsführung hat, müssen wir den Druck erhöhen und mehr Unterstützung leisten.
({0})
- Hören Sie erst einmal zu; vielleicht kommt es noch.
Ich sehe, dass es Einvernehmen gibt, dass der Kollege
Raabe eine Zwischenfrage stellen darf. Bitte schön.
Frau Kollegin Pfeiffer, Sie sagten gerade, wie wichtig
es ist, dass die Regierung Karzai und ihre Verwaltung
frei von Korruption, also von Günstlings- und Vetternwirtschaft, ist. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir zustimmen, dass es auch ganz wichtig ist, dass das zuständige
Ministerium mit gutem Beispiel vorangeht. Es gibt nun
zum wiederholten Male den Fall, dass ein FDP-Parteifunktionär einen unbefristeten Vertrag mit Versorgungsgarantie im BMZ bekommt, obwohl er bereits eine Geschäftsführerposition in der GIZ, der neu gegründeten
Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, innehat. Der Personalrat hat das auf das Schärfste
bemängelt, weil hier wiederholt das offizielle Bewerbungsverfahren umgangen wurde, um Parteimitglieder
zu versorgen.
Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn in
Afghanistan eine Partei nach der Übernahme der Regierung zum Beispiel einer Wirtschaftsbranche einen großen steuerlichen Vorteil gewährt und daraufhin diese
Branche der Regierungspartei eine Spende in Millionenhöhe gibt,
({0})
dieses in die Nähe einer schlechten Regierungsführung
zu rücken wäre?
Glauben Sie nicht, dass man vor diesem Hintergrund
auch im Ministerium von Herrn Niebel mit gutem Beispiel vorangehen sollte?
({1})
Lieber Kollege Raabe, wenn Sie mir sagen, was dieses Thema mit der Afghanistan-Debatte zu tun hat, die
wir hier zurzeit führen, dann gebe ich Ihnen nach der
Debatte eine Antwort darauf.
({0})
Ich fahre dann fort. - Wenn wir mit den Afghanen eng
zusammenarbeiten wollen, muss es um eine Partnerschaft auf Augenhöhe gehen. Das heißt aber auch: Jede
Seite muss die Versprechen der jeweils anderen Seite
ernst nehmen. Dazu gehört für mich - ich hoffe, auch für
den einen oder anderen, vielleicht irgendwann für das
ganze Haus - unter Umständen eine gewisse Konditionalisierung. Zu Recht wird vereinzelt geäußert, wir seien
unseren finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir halten uns daran, auch wenn es nicht immer
leichtfällt. Wenn aber die andere Seite ihre Verpflichtungen nicht einhält, muss das Konsequenzen haben. Zusagen und Versprechen müssen eingehalten werden, und
zwar von beiden Seiten. Zu oft sind wir schon enttäuscht
worden.
Ich finde es richtig, dass bei Projekten eine Konditionalisierung stattfindet und im Übrigen auch konsequent
angewendet wird. Nach der ersten Phase eines Projekts
wird überprüft, ob die afghanische Regierung ihren Teil
der Vereinbarung eingehalten hat. Nur im Erfolgsfall
werden die Mittel für die zweite Projektphase freigegeben. So werden der Wille zu verantwortungsvoller Arbeit gefördert und der Erfolg der Projekte vergrößert.
Umgekehrt müssen Gelder auch zurückgehalten werden,
wenn die erste Projektphase nicht erfolgreich abgeschlossen wurde.
Ich gehe davon aus, dass das ganze Haus diesen
neuen Ansatz unterstützt; denn er setzt erstens Anreize
zu einer besseren Regierungsführung, fördert zweitens
ein dringend notwendiges Umdenken in der Regierung
Karzai und sichert darüber hinaus drittens, liebe
Freunde, eine vernünftige Verwendung deutscher Steuergelder.
Damit einher geht allerdings auch etwas anderes. Ich
möchte schon heute eine Warnung aussprechen. Sollten
wir mit gutem Gewissen einmal Mittel für eine zweite
Projektphase nicht ausschütten können, bedeutet dies,
dass unter Umständen die 430 Millionen Euro, die uns
zur Verfügung stehen, nicht ausgegeben werden. Das
liegt dann nicht an uns, sondern am Missmanagement
der afghanischen Seite. Darüber müssen wir offen reden.
Was wir dann allerdings nicht brauchen können, sind
Anfeindungen der Opposition, polemische Vorwürfe,
von welcher Seite auch immer, sei es gar von den NGOs
oder der Gebergemeinschaft. Von Vorwürfen, dass wir
unsere Verpflichtungen nicht eingehalten haben, weil
wir es unter den oben geschilderten Umständen eben
nicht konnten, hat übrigens auch das afghanische Volk
nichts; denn ohne diese Form der Erfolgs- und Projektkontrolle würden Korruption und Missmanagement unterstützt werden und würde Afghanistan in seiner eigenen Entwicklung behindert werden. Von Korruption und
Missmanagement hat Afghanistan tatsächlich genug.
({1})
All das können und dürfen wir nicht mehr länger hinnehmen; denn unsere Verantwortung gilt vor allen Dingen der jungen Generation - Frau Daub hat es gesagt -:
Sie hat es verdient, eine Chance zu bekommen. Diese
junge Generation müssen wir erreichen. Ihr müssen wir
den Weg zu einer eigenen Lebensperspektive eröffnen.
Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist unter
16 Jahre. Sie kennt kaum noch die Schreckensherrschaft
der Taliban oder gar die Kämpfe ihres Volkes gegen die
Sowjetarmee. Daher ist es gut und richtig, dass wir in
der Vergangenheit so intensiv in die Schulbildung der
heranwachsenden Jugend investiert haben.
Aber das allein reicht nicht aus. Die Jugend braucht
Perspektiven, die es ihr ermöglichen, einen Beruf zu ergreifen und sich selbst und ihre Familie zu ernähren. Wir
müssen daher noch mehr als bisher in Aus- und Fortbildung, vor allem in Handwerksberufen, investieren und
den Aufbau kleiner Betriebe fördern. Nur so können wir
der jungen Generation zu Arbeitsplätzen verhelfen und
ein Leben in einer stabilen und prosperierenden Gesellschaft ermöglichen, die keinen Nährboden für Terror
und Fundamentalismus bietet.
Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht
unsere langfristige Unterstützung. Doch wenn wir es mit
dem Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ ernst meinen, so
müssen wir auch bei der Verwaltung in Afghanistan ansetzen, die das alles koordinieren soll. Capacity Building
ist zu einem wichtigen Schwerpunkt in der Entwicklungspolitik geworden. Die afghanische Regierung und
ihre Verwaltung sind offensichtlich bis heute noch nicht
in der Lage, die immensen Hilfsmittel, die ihr zur Verfügung stehen, sinnvoll zu verplanen. Mehr noch: Es
mangelt an der „Bereitschaft und Fähigkeit, eine von
politischen und individuellen Einflüssen unabhängige
Verwaltung und Justiz aufzubauen“. Ich finde, das ist
eine erfrischend klare und deutliche Aussage im Fortschrittsbericht der Bundesregierung; nachzulesen auf der
Seite 41.
Im Umkehrschluss heißt das, dass man auch zehn
Jahre nach Schaffung der staatlichen Institutionen noch
immer viele Beispiele für willkürliche Entscheidungsprozesse, für unzureichende personelle Kapazitäten, für
Korruption und damit fehlende Akzeptanz und Legitimität der Regierung Karzai gegenüber dem afghanischen
Volk vorfindet. Verantwortlich dafür sind nicht nur die
Geber, im Gegenteil. Zuallererst liegt das an den Verantwortungsträgern in der afghanischen Regierung.
Daher müssen wir gerade die Generation, die jetzt heranwächst, in den Aufbau der Verwaltungen mit einbeziehen und ihnen alle möglichen Bildungs- und Aufstiegschancen aufzeigen, die wir ihnen von außen nur
ermöglichen können. Denn mit ihrem Zugang zu anderen Kulturen und ihren Erwartungen an die eigene Zukunft können sie ein Gegengewicht zur konservativen
Gesellschaft ihrer Väter bilden und den Teufelskreislauf
von Korruption und Machtmissbrauch durchbrechen.
Die internationale Gemeinschaft ist bis zur Grenze
dessen gegangen, was ihr möglich war, um Erfolge und
Fortschritte zu erzielen. Das ist ihr in einigen Bereichen
auch sehr gut gelungen und kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch wenn Afghanistan diesen Weg
weitergehen und als Land insgesamt erfolgreich sein
will, muss die afghanische Regierung anfangen, ihre eigenen Hausaufgaben besser zu machen als bisher.
({2})
Nun liegt es an ihr, ob sie die langfristige Unterstützung
und Hilfe der internationalen Gemeinschaft sinnvoll zum
Wohl der ganzen afghanischen Gesellschaft nutzt oder
ihr System der Abhängigkeiten und Korruption weiter
am Leben erhalten will.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Roth, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin sehr froh, dass wir heute diese Debatte vor der Beschlussfassung des Bundestages über den Antrag der
Bundesregierung zur weiteren Mandatierung des Militäreinsatzes haben. Damit machen wir deutlich - das
war ja offensichtlich auch die Strategie der Bundesregierung -, dass es im Bereich des zivilen Aufbaus und
der Entwicklungspolitik eine eigenständige Strategie geben muss. Herr Minister Niebel, es ist deshalb gut und
richtig, dass wir heute ein wenig Bilanz über die letzten
zehn Jahre ziehen und aufzeigen, welche Veränderungen
in den nächsten Jahren notwendig sind.
Zuallererst will ich deutlich machen, dass es von Anfang an ein Irrtum von Ihrer Seite war, den Einsatz der
Entwicklungsorganisationen in Afghanistan mit der Aufforderung, mit dem Militär zusammenzuarbeiten, zu verbinden. Das war nicht notwendig und sogar schädlich.
({0})
Sie haben von Anfang an eine Konfrontation in Kauf genommen. Man muss heute aber auch feststellen, dass Sie
letztlich kapituliert haben.
({1})
Die Entwicklungsorganisationen haben Sie in die
Schranken gewiesen; denn Sie sind auf die Arbeit dieser
Organisationen angewiesen. Insofern täte uns ein bisschen weniger Doktrin und ein bisschen mehr Pragmatismus bei der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsorganisationen gut.
Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass die erfolgreiche Bilanz über zehn Jahre Aufbauarbeit in Afghanistan - auch wir sehen die Erfolge - nicht allein Ihre Bilanz ist; Sie sind ja erst seit gut einem Jahr im Amt.
Davor haben Rot-Grün und die Große Koalition die Weichen für die Entwicklungsarbeit gestellt. An dieser Arbeit sind also die meisten - nicht alle - in diesem Parlament beteiligt.
Ich will auch noch darauf hinweisen, dass die Sozialdemokraten immer gesagt haben: Eine gute Regierungsführung ist der Schlüssel für den Erfolg in Afghanistan. - Wir
haben daher die Demokratisierungsprozesse sowohl auf
Ebene der Zentralregierung als auch in den Regionen
und Distrikten von Anfang an unterstützt. Man kann natürlich sagen, dass diese Unterstützung nicht ausreichend war und nicht schnell genug erfolgt ist. Aber im
Fokus unserer Politik stand und steht immer noch die
gute Regierungsführung; denn sie ist die Voraussetzung
für die Bekämpfung von Korruption. Alles andere funktioniert nämlich nicht.
({2})
Insofern sind damals wie heute - daran möchte ich
erinnern - die Leitlinien richtig, nach denen die Eigenverantwortung der Afghanen zu fördern ist, die Rahmenbedingungen, zum Beispiel für Frauen und Gleichberechtigung, besonders zu verbessern sind und die
Demokratisierung auf allen Ebenen mit Projekten der Zivilgesellschaft voranzubringen ist. Die Zivilgesellschaft
muss doch zur Trägerin der ganzen Demokratisierung
werden.
Insofern ist es auch gut - das möchte ich deutlich sagen -, dass jetzt mehr Geld für diesen Bereich in den
nächsten Jahren zur Verfügung steht. Es sind übrigens
keine 430 Millionen Euro, sondern nur 415 Millionen
Euro, aber das ist immerhin auch gut. Es ist aber auch
wichtig, dass das zuverlässig weitergeht.
Ganz klar ist auch - das möchte ich besonders erwähnen - all denjenigen zu danken, die in dieser schwierigen
Sicherheitslage unter Einsatz ihres Lebens - wir haben
heute Morgen ja des KfW-Mitarbeiters gedacht, der zu
Tode gekommen ist - bereit waren, all das auf sich zu
nehmen und bei der Umsetzung dieser ganzen Initiativen
zu helfen. Ohne die engagierten Männer und Frauen der
Nichtregierungsorganisationen, aber auch der staatlichen
Durchführungsorganisationen, der KfW und der GIZ,
könnten wir keinerlei Erfolge hier im Parlament diskutieren. Deshalb meine ich: Ihnen allen sei heute zuallererst gedankt und Respekt und Anerkennung gezollt. Das
ist genauso notwendig wie der Dank an die Soldatinnen
und Soldaten und die Polizeikräfte.
({3})
Die positive Bilanz dieser Arbeit ist sichtbar. Während unter den bildungsfeindlichen Taliban zahlreiche
Schulen zerstört und Mädchen und Frauen vom Besuch
der Bildungseinrichtungen ausgeschlossen wurden, ist
jetzt eine erfreuliche Trendwende festzustellen. Die Einschulungsrate liegt bei über 50 Prozent, und sie wird
dank unserer Hilfe steigen. Besonders wichtig ist, dass
der Anteil der Schülerinnen seit 2001 - damals lag er bei
Karin Roth ({4})
0 Prozent - auf jetzt über 40 Prozent gestiegen ist. Das
ist auch ein Erfolg unserer Arbeit, nicht nur des letzten
Jahres, sondern der vergangenen Jahre.
Ganz klar ist für uns das Thema Bildung ein Schlüsselthema, nicht nur hinsichtlich einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, sondern Bildung ist eben auch die
Voraussetzung dafür, dass sich Männer und Frauen in
den politischen Beteiligungsprozess einbringen können.
Unsere Bemühungen in diesem Bereich müssen also
fortgesetzt werden.
An dieser Stelle will ich sagen, dass mir die Rolle der
Frauen in Afghanistan noch große Sorgen macht. Auch
wenn wir einiges erreicht haben und der Frauenanteil im
Parlament bei 28 Prozent liegt, wissen wir, dass die
Frauen eine noch größere Rolle spielen könnten, wenn
wir sie entsprechend unterstützen würden. Nach wie vor
sind Frauen eher geduldet und kein gleichberechtigter
Teil jener Gesellschaft. Frauenorganisationen - das muss
man wirklich zur Kenntnis nehmen - werden noch belächelt. Manchmal erinnert man sich daran, dass das bei
uns auch einmal so war. Sexuelle Gewalt gegen Frauen
ist schreckliche Normalität.
Die Frauenministerin - das ist besonders interessant weiß noch nicht einmal, wie viel Geld die internationale
Gemeinschaft der Regierung Karzai für Frauenprojekte
zur Verfügung gestellt hat. Das muss sich ändern. Es
kann nicht sein, dass ein Alibiministerium für Frauen
eingerichtet wird, das in Wirklichkeit nur dazu dient,
Gelder der Gebergemeinschaft zu akquirieren.
({5})
Die Bundesregierung muss daher darauf bestehen, dass
das Frauenministerium und die Frauenministerin bei den
Regierungsverhandlungen am Tisch sitzt, damit sie in
Zukunft weiß, welche Projekte gefördert werden. So
kann ihre Politik vonseiten der Bundesregierung unterstützt werden. Das ist konkrete Aufbauarbeit und konkrete Unterstützung der Frauen.
({6})
Frau Kollegin, Sie kommen bitte auch zum Schluss.
Ja, gleich.
({0})
Gemeint war sofort, und das ist völlig in Ordnung.
So viel Zeit muss sein. - Das Gleiche gilt natürlich
auch für den Bereich der Frauen- und Müttersterblichkeit. Auch hier, denke ich, müssen wir ein bisschen zulegen, auch wenn die Zahlen besser geworden sind.
Ebenso gilt das - das will ich besonders betonen - für
die Korruptionsbekämpfung. Ich weiß, wie schwierig
das ist. Ich weiß, wie kompliziert die Kontrollmaßnahmen sind. Aber ich weiß auch, dass die Menschen in unserem Land eher bereit wären, Afghanistan noch mehr
zu unterstützen, wenn es uns gelänge, an dem zentralen
Punkt der Korruption Erfolge nachzuweisen. Nicht nur
für uns, sondern vor allen Dingen für die Menschen in
Afghanistan ist die Korruption die Geißel der Entwicklung. Wir müssen alles dafür tun, dass sich das endlich
ändert. Die Regierung Karzai muss die Karten auf den
Tisch legen und transparente Regierungspolitik organisieren.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Übergabe in Verantwortung
kann es nur geben, wenn wenigstens ein Mindestmaß an
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Teilhabe der
gesamten Bevölkerung gegeben ist. Neben der heutigen
sicherheitspolitischen und außenpolitischen Diskussion
darf auch der Bereich der Menschenrechte nicht unbetont bleiben.
Fakt ist, dass sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban 2001 verbessert hat.
Frau Hänsel, wenn Sie sagen, 2,8 Millionen Menschen
seien in Afghanistan auf der Flucht - ich kann diese Zahl
nicht verifizieren -, dann darf ich Ihnen eine andere Zahl
entgegenhalten: 5 Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sie eine Zukunft im Lande sehen, weil
sie glauben, dass das Land eine Chance hat. Auch dies
ist auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation zurückzuführen.
({0})
Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung
verankert. Bei der Umsetzung gibt es Fortschritte in allen menschenrechtsrelevanten Bereichen, insbesondere
aber, Frau Roth, im Hinblick auf die Situation der
Frauen und Mädchen. Eine Bischöfin aus Hannover hat
einmal gesagt, nichts sei gut in Afghanistan. Insbesondere auf die Frage der Menschenrechte bezogen ist diese
Äußerung grundlegend falsch. Die westliche Gemeinschaft hat es geschafft, einen Wertekanon in dem muslimischen Land zu etablieren.
Schauen wir zurück, wie es vor 2001 in Afghanistan
zum Beispiel mit den Frauen war: Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Dozentinnen, Übersetzerinnen waren gezwungen, ihre Arbeit
aufzugeben. Sie wurden gezwungen, zu Hause zu bleiben. Wohnungen, in denen Frauen lebten, mussten undurchsichtige Fenster haben, sodass die Frauen von außen nicht gesehen werden konnten. Frauen mussten
Schuhe tragen, die keine Geräusche machten, sodass sie
nicht gehört werden konnten. Die Frauen lebten in einer
ständigen Angst um ihr Leben, das sie wegen jeder kleinen Missachtung von Gesetzen verlieren konnten.
Frauen, die keine männlichen Verwandten hatten, mussten betteln oder verhungern, weil sie nicht arbeiten durften. Mädchen hatten keinerlei Chance auf Bildung. Sie
wurden zwangsverheiratet und waren willkürlichen Vergewaltigungen ausgesetzt.
Wie ist die Lage der Frauen heute? Vor etwas mehr
als einem Jahr hat das afghanische Parlament ein Gesetz
zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen verabschiedet. Nun wird auch an der Umsetzung in den Provinzen
gearbeitet. Vor diesem Hintergrund wurde eine Konferenz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen in Faizabad durchgeführt. Initiator war das Amt für Frauenangelegenheiten in Badakhshan. Wir haben gehört, dass die
Situation der Frauen im Parlament mit 28 Prozent eigentlich vergleichsweise gut ist. Die Burka ist nicht
mehr alltägliche Zwangskleidung. Mädchen gehen in gut
ausgestattete Mädchenschulen und können ihre Zukunft
selbst in die Hand nehmen. Viel wichtiger ist jedoch,
dass die Frauen in den Stämmen wieder in ihrer Rolle
anerkannt und gefördert werden. Die Bundesregierung
hat mit ihren Instrumenten, angesiedelt im BMZ und im
Auswärtigen Amt, gerade auch zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. - So viel zur Begrifflichkeit
„Kriegsführung“, Frau Hänsel!
Trotzdem gibt es immer wieder Kritik an dieser positiven Entwicklung, auch aus der Ecke der Grünen. Der
Kollege Tom Koenigs, Menschenrechtsausschussvorsitzender - er ist nicht mehr da -, hat der Bundesregierung
mangelnden Einsatz für die Menschenrechte in Afghanistan vorgeworfen. Seiner Meinung nach bietet
Deutschland zu wenig Unterstützung beim Aufbau von
Strukturen an Schulen und Universitäten, die eine liberale, demokratische und an Menschenrechten orientierte
Staatsauffassung vertreten. Anscheinend hat sich der
Kollege Koenigs, der eigentlich ein pragmatischer Politiker ist, von der gesamten Antihaltung seiner Partei, den
Grünen, mitreißen lassen. Ich empfehle ihm, aber auch
allen anderen Kolleginnen und Kollegen einen Blick in
den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung; darin
wird die Arbeit in Afghanistan sehr ausführlich beschrieben. Zugleich wird hier deutlich gemacht, welche Herausforderungen noch bestehen; ich werde sie gleich ansprechen.
Grundlegend für die Menschenrechte in Afghanistan
ist, dass die Afghanistan Independent Human Rights
Commission dem neuen Verfassungsrang, den sie innehat, gerecht wird. Es wird eine der Aufgaben vor allen
Dingen der Bundesregierung sein, dem sogenannten Islamvorbehalt, also dem Vorrang der Scharia vor den internationalen Menschenrechtskonventionen, aktiv entgegenzutreten.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Rolle des
Staatspräsidenten Karzai in der Frage des Gesetzes zur
Beendigung von Gewalt gegen Frauen besonders hervorheben. Ihm ist es zu verdanken - auch wenn über ihn
viel Negatives gesagt wird -, dass das Gesetz ausdrücklich Vorrang vor allen entgegenstehenden Normen besitzt, also auch vor der Scharia. Klar ist: Auf diesem
Wege ist es möglich, die universellen Menschenrechte
mit Vorrang vor der Scharia zu verankern; das ist gut so.
Ich möchte im Besonderen auf den Aktionsplan der
Bundesregierung hinweisen, der im Rahmen einer
Arbeitseinheit für Menschenrechte im afghanischen Justizministerium umgesetzt wird. Mit der damit einhergehenden strukturellen Einbindung von Nichtregierungsorganisationen setzt die Bundesregierung inhaltliche
Maßstäbe im Rahmen der Durchsetzung der Menschenrechte. Dieser Ansatz zeigt, dass die Kritik unter anderem der Grünen ins Leere läuft. Die Bundesregierung hat
einen Plan, bei dem die Menschenrechte in Afghanistan
nicht hintenanstehen.
Um Erfolg zu erzielen, ist eine langfristige, gemeinsame Anstrengung in der Partnerschaft mit der Regierung und dem Volk von Afghanistan nötig. Wir haben
heute darüber diskutiert, dass sich Afghanistan immer
noch erheblichen Herausforderungen in den Bereichen
Sicherheit, Politik, Wirtschaft und Entwicklung gegenübersieht. Wir haben aber auch feststellen können, dass
es eine neue gemeinsame Dynamik gibt.
Auf der Grundlage der Fortschritte, die wir erzielt haben, treten die ISAF und die Regierung von Afghanistan
in eine neue Phase der gemeinsamen Anstrengungen ein.
Dies erlaubt es uns, in der nächsten Woche dem neuen
Mandat zuzustimmen, ausdrücklich zum Wohle der
Menschenrechte in Afghanistan.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4449.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschland braucht im ganzen Land einen
verlässlichen und sicheren Schienenverkehr
- Drucksache 17/4428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz
am Wohl der Allgemeinheit orientieren
- Drucksache 17/4433 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine konsequente Strukturreform der
Deutschen Bahn AG
- Drucksache 17/4434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Florian Pronold für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter
Herr Präsident! 1966 hieß der Werbeslogan der Deutschen Bundesbahn:
Alle reden vom Wetter. Wir nicht.
Als ich das letzte Mal mit der Deutschen Bahn gefahren
bin, konnte ich im Zug den Werbeslogan lesen:
Reisen wie auf Wolke 7
Diese Wolke hat offensichtlich im Sommer gefehlt,
als wir aufgrund der Hitze bei der Bahn ein großes
Chaos erlebt haben, und sie hat im letzten Winter und in
diesem Winter dafür gesorgt, dass es ein ziemliches
Chaos gab. Wir alle haben das mitbekommen. Alle
Verkehrsträger waren davon betroffen, aber insbesondere die Bahn mit unzureichenden Informationen, mit
dem S-Bahn-Chaos in Berlin, mit den Verspätungen.
Am Mittwoch haben wir von Ihnen, Herr Bundesverkehrsminister, im Verkehrsausschuss einen Bericht vorgelegt bekommen, in dem davon die Rede ist, dass die
Pünktlichkeit im Fernverkehr tageweise unter 70 Prozent
gesunken sei. Heute entnehmen wir der Hannoverschen
Allgemeinen Zeitung die Originalstatistik der Netzleitzentrale der Deutschen Bahn. Danach lag die Pünktlichkeit in der Woche vom 13. bis 19. Dezember bei
40,3 Prozent und in der darauffolgenden Woche bei
29,8 Prozent.
({0})
An sieben Tagen waren weniger als 30 Prozent der Fernzüge pünktlich, und nur an zwei Tagen fuhren mehr als
50 Prozent der Züge pünktlich ab.
({1})
Sie berichten uns, die Pünktlichkeit sei tageweise unter 70 Prozent gesunken. Meine Frage ist: Herr Minister,
bekommen Sie als Eigentümer der Bahn und als Bundesverkehrsminister nicht die richtigen Zahlen von der
Bahn,
({2})
oder haben Sie im Ausschuss die Öffentlichkeit bewusst
hinters Licht geführt? Das ist die Frage, auf die ich heute
von Ihnen eine Antwort erwarte.
({3})
Wenn man sich anschaut, was Sie, Herr Minister, zu
den Zuständen sagen - Sie sind jetzt im zweiten Jahr
Bundesverkehrsminister -, dann stellt man fest, dass Sie
auf Pontius Pilatus machen: Ich wasche meine Hände in
Unschuld; meine Vorgänger sind an allem schuld.
In der Passauer Neuen Presse sagen Sie am 11. Januar 2011:
Vor der Zeit von Bahnchef Grube und mir hat auf
der Bahn ein überzogener Kosten- und Spardruck
gelastet. Es gab Kostendruck, Kapazitätsreserven
wurden reduziert, Personal abgebaut - all das hat zu
diesen Missständen geführt. …
({4})
Die kaufmännischen Ziele standen zu sehr im Vordergrund, die Interessen der Fahrgäste sind in den
Hintergrund gerückt.
Das erinnert an Pontius Pilatus. Man könnte auch sagen:
Der Schwarze Peter soll an den Amtsvorgänger geschoben werden.
Dies ist aus mehreren Gründen unlauter:
Erstens. Die Bundeskanzlerin ist diejenige, die schon
in der Großen Koalition und auch jetzt am vehementesten für die Privatisierungspläne der Bahn gekämpft hat.
Wenn Sie Tiefensee treffen wollen, treffen Sie in Wirklichkeit die Bundeskanzlerin.
({5})
Zweitens. Als Bundesverkehrsminister sprechen Sie
immer davon, dass zuerst die Bahn ihre Hausaufgaben in
Deutschland erledigen muss, bevor sie auf Einkaufstour
in der ganzen Welt geht. Was ist denn in Ihrem Verantwortungsbereich in Ihrer Zeit passiert? Nach dem ersten
Winterchaos ist nicht dafür gesorgt worden, dass sich etwas ändert. Wir haben im Oktober 2010 von Bahnvorstand Homburg Ankündigungen gehört; er hat gesagt,
was alles getan worden ist, um das nächste Winterchaos
zu vermeiden. Nichts davon ist eingetroffen. Sie haben
die Hausaufgaben nicht gemacht, und in Ihrer Verantwortung liegt es, dass trotzdem Zukäufe wie bei Arriva
stattgefunden haben. Sie haben den Aufsichtsrat komplett ausgetauscht. Außerdem greifen Sie - wie ich ver9576
mute, wenn ich richtig vernommen habe, dass Sie jeden
Tag mit Bahnchef Grube telefonieren - doch wohl auch
immer selber ins operative Geschäft ein.
Meine Frage ist: Herr Ramsauer, was haben Sie denn
in den letzten eineinhalb Jahren gemacht? Was haben Sie
getan, um dieses Chaos zu verhindern? Das ist doch
nicht vom Himmel gefallen, sondern es war absehbar!
({6})
Sie haben den Renditedruck beklagt und gesagt, dass
die Bahn zu wenig Geld für Investitionen in die Infrastruktur hat. Da muss man die Frage stellen: Was machen Sie denn jetzt in Ihrem Verantwortungsbereich, um
das zu ändern? In den Haushaltsberatungen im letzten
Jahr - das ist noch gar nicht so lange her - mussten wir
erleben, dass Ihre Antwort lautet: noch weniger Geld für
die Bahn.
({7})
Sie entziehen dem Konzern jedes Jahr 500 Millionen
Euro. Das sind in vier Jahren 2 Milliarden Euro. Dieses
Geld fehlt für Investitionen in die Infrastruktur.
({8})
Die Bahn soll eine Zwangsdividende an den Bundeshaushalt abführen, übrigens unabhängig von der Gewinnentwicklung.
Jetzt erleben wir eine Vernebelungsdebatte, in der gefragt wird, ob man nicht die Finanzierungsstruktur innerhalb des Bahnkonzerns verändern könnte. Das ist zwar
eine spannende Frage; die wirklich entscheidende Frage
aber ist: Steht nachher mehr oder weniger Geld für die
notwendigen Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung? Das, was die schwarz-gelbe Mehrheit in diesem
Haus beschlossen hat, bedeutet 500 Millionen Euro pro
Jahr weniger.
(Beifall bei der SPD
Das ist die Hälfte des Steuergeschenks an die Hoteliers.
({9})
Das zahlt die Bahn. Das bezahlen wir mit einer schlechteren Infrastruktur. Dafür haben Sie die Verantwortung,
Herr Minister. Sie können sich nicht damit herausreden,
dass Ihre Vorgänger oder die Bundeskanzlerin schuld
seien.
({10})
Spannend ist auch, dass Herr Grube bestreitet, dass
der Renditedruck die Ursache für diese Probleme sei. Ich
finde, man muss eine vernünftige Analyse vornehmen
und schauen, was man im operativen Geschäft verändern
kann. Eine Grundvoraussetzung ist, dass wir in Zukunft
bestimmte Dinge ändern.
Wir fordern in unserem Antrag, die Zwangsdividende
von 500 Millionen Euro pro Jahr abzuschaffen und dieses Geld für zehn Jahre im Konzern der Bahn zu belassen, und zwar mit einer Zweckbindung: für Investitionen
in die Infrastruktur.
({11})
Wir wollen, dass insgesamt mehr Mittel für den Ausbau
und die Instandhaltung des Schienenverkehrs verwendet
werden.
({12})
Im Sommer habe ich mir viele Bahnhöfe in Bayern
angeschaut.
({13})
Bei der Bahn geht es nicht nur um die Frage, wie man
mit dem Winterchaos umgeht. Sie müssen sich auch einmal anschauen, wie es um die Barrierefreiheit bestellt
ist. In unserer älter werdenden Gesellschaft müssten wir
jetzt umsteuern, damit die Menschen, die auf die Deutsche Bahn angewiesen sind, sie auch benutzen können.
({14})
- Ich lade Sie gerne ein. Anstatt Zwischenrufe zu machen, können Sie gerne mit den Betroffenen auf die
Bahnhöfe gehen und sich das Chaos anschauen.
({15})
Mütter mit Kinderwagen, ältere Menschen und Gehbehinderte sind in Städten wie Straubing nicht in der Lage,
selbstständig mit der Bahn zu fahren.
({16})
Dieser Zustand ist doch unglaublich! Wenn wir jetzt
nicht umsteuern, wird das in den nächsten 10, 20 Jahren
so bleiben.
Wichtig ist auch - das ist eine weitere Forderung -,
dass wir den Personalabbau insbesondere bei den Werkstätten und in den Instandhaltungswerken stoppen und
wieder mehr Personal einstellen.
({17})
Wir hatten jetzt zwei besonders kalte Winter, in denen
es zum Chaos kam. Außerdem hatten wir einen besonders heißen Sommer, in dem es ebenfalls zum Chaos
kam. Herr Ramsauer, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, jetzt ist es Zeit für Frühling. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit es Frühling wird!
({18})
Das Wort hat nun Arnold Vaatz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Danke, Herr Kollege Pronold, dass Sie uns die
Fähigkeit zusprechen, einen früheren Frühlingsbeginn
herbeizuführen! Das finde ich hervorragend.
({0})
Diese Aussage reiht sich nahtlos an Ihre Forderung an
Herrn Dr. Grube, das Wetter zu beeinflussen.
Wir hatten im letzten Dezember einen untypisch harten Wintereinbruch. Es ist deshalb richtig, dass wir uns
heute im Bundestag mit der Frage befassen: Welche Folgen hatte das für den Verkehr, und was müssen wir tun,
um diese Folgen in Zukunft gering zu halten?
({1})
Es wäre schön, wenn dies in einer sachlichen Diskussion
gelänge, in der nicht politisch motivierte Schuldzuweisungen im Vordergrund stehen, sondern in der es um die
Frage geht: Was können wir in Zukunft tun, um die
Dinge zu verbessern? Aber leider lässt Ihr Antrag genau
das nicht zu; das ist das Schlimme.
Auf den Punkt gebracht, Herr Kollege Pronold, besteht Ihr Antrag aus zwei Teilen. Der eine Teil ist der
Versuch, Ihr eigenes Versagen in den elf Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung seit 1998 zu bemänteln und ein Jahr
Schwarz-Gelb gegen elf Jahre, in denen Sie an der Regierung beteiligt waren, aufzuwiegen.
({2})
Die Problemlösungen, die Sie im anderen Teil Ihres
Antrags vorschlagen, enden alle mit dem gleichen sozialdemokratischen Urschrei: mehr Geld und mehr
Leute! Das ist keine Lösung. Das reicht nicht aus.
({3})
An den Anfang, Herr Kollege, gehört erst einmal eine
vernünftige Analyse und eine realistische Bewertung.
({4})
Wenn Sie schreiben, die Bahn habe die Chance gehabt,
sich als das sicherste und verlässlichste Verkehrsmittel
zu erweisen, und diese Chance nicht genutzt, dann sage
ich: Die Bahn hat diese Chance in einem Maße genutzt,
das mir persönlich Respekt abnötigt. Denken Sie nur daran, welch eine Einsatzbereitschaft, welch eine Geduld
und welch ein Verständnis die Beschäftigten der Bahn in
diesen Tagen gezeigt haben.
({5})
- Es hat etwas mit Politik zu tun, ob man diese Leistung
anerkennt
({6})
oder sie herabwürdigt.
({7})
Wir erkennen sie an.
Wir rufen den Beschäftigten der Deutschen Bahn AG
von hier aus zu: Wenn Sie nicht gewesen wären, dann
wäre der Verkehr in diesem Lande nahezu völlig zum Erliegen gekommen.
({8})
Sie waren für viele Reisende die letzte Hoffnung, sicher
ans Ziel zu kommen. Nachdem Flüge reihenweise ausgefallen und die Straßen zu gefährlichen Unfallquellen
geworden sind, waren Sie, die Beschäftigten der Deutschen Bahn, da. - Es wird in diesem Haus doch wohl
noch erlaubt sein, dies in einer solchen Debatte zu sagen.
Wir wollen die Menschen, die für unser Wohl sorgen,
motivieren und nicht beschimpfen. Das gehört zur Politik dazu.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt eine
Reihe wirklich ernsthafter Kritikpunkte; an manchen
Stellen haben Sie sicherlich auch recht. Aber das tut der
Gesamteinschätzung, die ich gerade vorgetragen habe,
keinen Abbruch. Dies gilt übrigens auch für die veränderten Verspätungszahlen, die heute in verschiedenen
Zeitungen zu lesen sind. Auch dies beschädigt die Gesamteinschätzung überhaupt nicht.
({10})
Wir erwarten von der Bahn, dass eine Reihe von Kritikpunkten tatsächlich beseitigt wird. Die Kritik beginnt
beim Informationssystem und betrifft sowohl den Reiseservice am Telefon als auch das Internetangebot, wo
man vergeblich auf Auskünfte wartete, ebenso wie auf
Bahnhöfen, wo stundenlanges Schweigen herrschte, sodass die Passagiere nicht wussten, wie es weitergeht. Die
Kritik zielt aber auch auf die Situation in den Zügen, in
denen zwar Durchsagen erfolgten, diese aber nicht zu
verstehen waren, weil die Lautsprecher seit Jahren kaputt sind.
({11})
Das muss nicht sein. Das ist inakzeptabel und muss sich
ändern.
({12})
- Doch, das Geräusch konnte man vernehmen. Man
konnte die Durchsage schon als solche identifizieren.
Aber der Inhalt war nicht zu verstehen.
({13})
Allerdings muss man auch feststellen: Stillstand aufgrund von Leitungsvereisungen, blockierte Gleise durch
Baumbruch und das Fahren mit verminderter Geschwindigkeit wegen der Gefahr von Schotterflug wird es bei
der Bahn auch in Zukunft geben. Damit werden wir leben müssen.
({14})
Da Sie in Ihrem Antrag schreiben, auch Bahnchef
Dr. Rüdiger Grube sei es in dem Jahr seit seinem Dienstantritt nicht gelungen, einen ganzjährigen störungsfreien
Betrieb zu gewährleisten, muss ich Sie, abgesehen von
dieser weltfremden Anforderung an einen Menschen,
({15})
fragen: Was heißt denn „auch“? Sie schreiben, auch
Bahnchef Grube habe dies nicht geschafft. Das Wort
„auch“ hat vier Buchstaben.
({16})
Mit diesen vier Buchstaben ist es genauso wie mit den
vier Fingern an einer Hand, die auf einen selbst zeigen,
wenn man auf andere zeigt.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die fast flächendeckenden Stilllegungen ehemaliger Reichsbahnausbesserungswerke in ganz Ostdeutschland in den Jahren 2003
und 2004. Diese Kapazitäten, die damals in puncto Produktivität keine Vergleiche mehr zu scheuen brauchten,
fehlen uns heute. Der damalige Verkehrsminister hieß
Manfred Stolpe, und der damalige Kanzler hieß
Schröder.
({17})
Wer hat uns denn wie ein Wanderprediger den Börsengang der Bahn als Allheilmittel empfohlen? Das war
das Duo Mehdorn/Tiefensee.
({18})
- Sie haben damit angefangen, also muss ich das zurückgeben.
({19})
Wenn die Grünen und auch Sie, Herr Pronold, jetzt versuchen, Ihren Kollegen Tiefensee quasi als Statisten hinzustellen,
({20})
muss ich sagen: Es geht nicht, dass Sie sagen: Mit dem
guten Management während der ersten Finanzkrise hat
die Bundeskanzlerin wohl nichts zu tun - während der
Kollege Steinbrück für Sie einer der Väter dieses guten
Managements ist -, aber in diesem Fall ist selbstverständlich die Bundeskanzlerin schuld.
({21})
Meine Damen und Herren, das können Sie sich nicht
einfach aussuchen.
Gestern hat an dieser Stelle der Kollege Steinmeier
gestanden und den Anteil der SPD am Aufschwung in
Deutschland hervorgehoben. Der Kollege Dr. Lindner
von der FDP hat ihm dies als fairer Politiker auch zugestanden. Wenn das im Positiven gilt, dann muss sich die
SPD das in Bezug auf ihre vorangegangene Regierungsarbeit auch im Negativen sagen lassen.
({22})
In Bezug auf die Bahn gilt: Ihre ganze vernichtende Kritik an den strukturellen Unzulänglichkeiten der Bahn,
soweit sie berechtigt ist, beschreibt das aufeinanderfolgende Versagen von fünf Verkehrsministern aus Ihrer
Partei in den letzten elf Jahren.
({23})
Es ist intellektuell unredlich, das gegen ein Jahr Regierungszeit der christlich-liberalen Regierung aufwiegen
zu wollen.
Wir werden das anders machen als Sie. Herr
Dr. Grube und Herr Dr. Ramsauer werden an einem
Strang ziehen, und zwar in eine Richtung.
({24})
Am Ende werden Sie sehen: Wir werden ein sicheres,
zuverlässiges und leistungsfähiges Verkehrssystem
Schiene für Deutschland bereitstellen. Dazu sind auch
schon wichtige Voraussetzungen geschaffen worden.
Herr Dr. Grube hat sofort personelle und organisatorische Veränderungen vorgenommen, um die Talfahrt der
Bahn nach der Ära Tiefensee/Mehdorn zu stoppen.
Die am stärksten treibende Kraft bei der Benennung
und bei der Behebung der betrieblichen UnzulänglichArnold Vaatz
keiten ist die Bahn selber. Das hat sich bei vielen Anhörungen im Verkehrsausschuss, wo alle Verkehrsexperten
selbst zugegen waren, gezeigt. Sie hat teilweise Probleme erstmalig benannt, über die wir vorher noch gar
nicht informiert waren. Das ist die Realität. Die Entscheidung, dass sich die Bahn dem Brot-und-Butter-Geschäft zuwenden muss, bevor sie von der Börse träumt,
kommt vom Vorstand. Er hat ein Maßnahmenpaket vorgestellt, wie er sich dieses Brot-und-Butter-Geschäft
vorstellt: für das rollende Material, für die Infrastruktur
und für den Kundenservice. Das ist ein Schritt nach
vorn.
({25})
Ich bin mir sicher, dass dieser Vorstand nach den Geschehnissen im Dezember die Optimierungsaufgabe in
Bezug auf die Notwendigkeit der Vorhaltung von Wintertechnik und die dabei unerlässliche Kosteneffizienz
lösen wird.
({26})
Was die von der Politik zu verantwortende strukturelle Frage betrifft, sind die Winterereignisse zwar ein
plausibler Aufhänger, das zu thematisieren; aber eine
ausreichende Grundlage, um das zu besprechen, sind sie
nicht.
Trotzdem will ich sagen: Wir sind auch hier sehr klar.
Wir werden die 1994 erfolgreich begonnene Bahnreform
fortsetzen. Wir fühlen uns für eine zukunfts- und leistungsfähige Infrastruktur verantwortlich. Wir werden
deshalb die Infrastruktursparten DB Netz AG, DB Station & Service AG und DB Energie GmbH nicht privatisieren. Die Privatisierung der Transport- und Logistiksparten werden wir erst dann einleiten, wenn dafür
geeignete Rahmenbedingungen vorhanden sind. Wir
sind für einen fairen Wettbewerb und werden darauf
drängen, dass die Deutsche Bahn faire Wettbewerbsbedingungen nicht nur auf deutschen Schienen, sondern
auch in Europa vorfindet.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen!
Noch einen Satz, Herr Kollege. - Wir müssen das tun,
um auch dort wirtschaftliche Erfolge zu generieren, die
für uns notwendig sind. Schließlich und endlich werden
wir einen Finanzierungskreislauf Schiene schaffen.
({0})
Die Trassenerlöse werden wir in die Schieneninfrastruktur zurückführen. Wir werden die Gewinnabführungsund Beherrschungsverträge zwischen dem DB-Konzern
und den Infrastrukturunternehmen aufheben.
({1})
Wir wissen: Dadurch wird das ganze System Schiene gestärkt.
Herr Kollege, das waren jetzt schon vier Sätze.
Damit stärken wir auch die Bahn als Ganzes.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Geduld, Herr
Präsident.
({0})
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand
in diesem Hause hat je die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn beschimpft, Herr Vaatz. Wir kritisieren
die Politik. Das ist ein völlig anderer Vorgang. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten - da haben Sie
Recht - Hervorragendes; das würde hier niemand bestreiten.
({0})
Vor 45 Jahren warb die Bahn mit dem Slogan: „Alle
reden vom Wetter. Wir nicht“. Damals war dieser Slogan
auch noch zutreffend; da funktionierte ja noch alles.
Heute klingt das wie bitterer Sarkasmus. Fahrpläne richten sich nach dem Wetter, aber bleiben trotzdem Makulatur. Den zweiten Winter hintereinander erleben wir,
dass die Bahn kapituliert.
Die Berliner S-Bahn hat ein hausgemachtes Desaster.
Zeitweilig waren nur 200 von 526 S-Bahn-Zügen unterwegs, Strecken wurden vorübergehend stillgelegt. Sie
werden staunen: Dieses Niveau hatte die Berliner S-Bahn
letztmalig 1946. Das ist doch ein interessantes Datum.
({1})
Die Pannenserie begann allerdings schon früher: Im
Sommer 2008 mussten die Radachsen gewechselt werden, weil sie einfach brachen. Das war eine kleine Fehlkonstruktion. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen: Das dauert bis 2013, also fünf Jahre. Das ist ja
eine ungeheure Produktivität.
({2})
Im Sommer 2010 fielen die Klimaanlagen aus. Die
Leute saßen entweder im Treibhaus oder in der Sauna.
Das Problem ist: Winter und Sommer sind nicht daran
schuld. Schuld daran sind Union und - tut mir leid auch SPD und FDP, weil Sie die Bahn an die Börse bringen und privatisieren wollten.
({3})
Damit war ja verbunden, dass Sie die Bahn profitabel
machen wollten. Als Erstes haben Sie dann - leider zusammen mit den Grünen - das Grundgesetz geändert.
Nur wir haben dagegen gestimmt, weil Sie geregelt hatten, die Bahn in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln
({4})
und künftig - jetzt zitiere ich wörtlich - „als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form“ zu führen.
({5})
Das bezahlen wir teuer; denn dadurch waren Sie ja verpflichtet, die Bahn rentabel und profitabel zu machen.
({6})
Wie haben Sie das gemacht? Das kann ich Ihnen sagen: Von 1995 bis zum Jahre 2010 haben Sie die Zahl
der Beschäftigten halbiert. Deshalb müssen die übrigen
jetzt ja so viel leisten. Sie haben die Löhne stagnieren
lassen; sie haben mehr als 2 000 Bahnhöfe, vor allem im
Osten, stillgelegt; Sie haben mehr als 1 000 Bahnhöfe
verkauft; Zehntausende Schalter wurden geschlossen;
das Schienennetz wurde um 9 000 Kilometer verkürzt,
und massenhaft - Herr Vaatz hat es gesagt - wurden
Reichsbahnausbesserungswerke geschlossen, und zwar
von allen Regierungen, auch von der Unionsregierung;
darum kommen Sie nicht herum.
Die S-Bahn in Berlin hat das Personal von fast allen
Bahnhöfen abgezogen und eingespart; die Wartungsintervalle wurden erheblich verlängert; Werkstätten wurden geschlossen; die Zahl der Beschäftigten für Instandhaltung und Wartung sank - überlegen Sie sich das mal von 800 auf 200,
({7})
und die Zahl der Meister sank von 26 auf 3. Es ist ein
einzigartiger Skandal, dass Sie sich trotzdem noch über
das wundern, was wir jetzt erleben.
({8})
Weil ja alles profitabel sein sollte, soll die S-Bahn
jährlich - auch in diesem Jahr - 50 Millionen Euro abführen. Nein, sie braucht dringend Geld für Investitionen. Sie kann nicht noch Geld an die Bahn AG abführen.
({9})
Die Bahn AG wurde zielstrebig heruntergewirtschaft
und kaputtgespart. Die Ergebnisse sehen wir heute: zu
wenige Züge, mangelhafte Wartung und Instandhaltung,
schlechterer Service.
Die Große Koalition - Merkel, Steinmeier, Tiefensee wollte die Bahn seit 2005 privatisieren. Ein Gesetzentwurf lag hier zur ersten Beratung vor. Der Protest aus der
Bevölkerung war aber zu groß, und - ich muss das einmal würdigend sagen - ein SPD-Parteitag hat gegen den
Willen des Vorstandes entschieden, dabei nicht mitzumachen.
({10})
Was hat die jetzige Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben? Dort steht: „Sobald der Kapitalmarkt dies zulässt“, erfolgt die Privatisierung.
({11})
Sie geben Ihre unsozialen neoliberalen Träume leider
nicht auf.
Wir sollten endlich Lehren aus der Krise der Bahn
ziehen:
Erstens. Die Bahn ist keine Profitmaschine, sondern
wichtiger Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Millionen Bürgerinnen und Bürger sind auf bezahlbare
und pünktliche Mobilität angewiesen, um zur Arbeit und
nach Hause zu kommen, um politische Rechte wahrnehmen zu können, um Angehörige, Freundinnen und
Freunde zu besuchen, um Urlaub zu machen und Freizeit
zu gestalten, einschließlich der Besichtigung von Städten, Gegenden und Natur. Daher hat die Bahn dem Gemeinwohl und nicht privaten Profitinteressen zu dienen.
Begreifen Sie das doch endlich!
({12})
Die Bahn wird immer ein Zuschussgeschäft sein.
({13})
Ihr Betrieb erfordert Milliarden an Investitionen, und sie
ist schon deshalb für Privatisierungen völlig ungeeignet.
Zweitens. Die Deutsche Bahn AG muss eine Anstalt
des öffentlichen Rechts werden, damit sie demokratisch
kontrolliert werden kann.
({14})
Und: Sie muss verpflichtet werden - jetzt kommt es
noch dicker, nun warten Sie einmal ab, Sie können sich
gleich noch mehr aufregen -, wie ein gemeinnütziges
Unternehmen zu handeln. Gewinnabführungen müssen
ausgeschlossen werden.
({15})
Trotz des desolaten Zustandes der Bahn verlangen Sie,
lieber Herr Ramsauer, die Bundesregierung und die
Mehrheit im Parlament im Haushaltsgesetz, dass die
Bahn an den Bund vier Jahre lang pro Jahr 500 Millionen Euro abführt. Wollen Sie denn, dass gar kein Zug
mehr fährt? Sie können doch der Bahn nicht noch ernsthaft 500 Millionen Euro wegnehmen! Das ist absurder
Unsinn, was Sie beschlossen haben.
({16})
Drittens. Die bereits erfolgten Teilprivatisierungen
sind zu stoppen und die Pläne der Bahn AG zu einem
Global Player aufzugeben; denn zu Hause ist genügend
zu tun. Die Bahn soll sich jetzt nicht in Sansibar oder in
den USA einkaufen. Sie soll ihre Aufgaben in Deutschland erledigen. Es wird höchste Zeit.
({17})
Viertens. Es ist alles zu unternehmen, den S-Bahn-Betrieb so schnell wie möglich wieder in vollem Umfang zu
gewährleisten. Die S-Bahn in Berlin muss in öffentlichem
Eigentum verbleiben. Eine Zerschlagung des Unternehmens und eine Ausschreibung einzelner S-Bahn-Strecken
muss ausgeschlossen werden.
Fünftens. Die Beschäftigten bei der Bahn AG und bei
der S-Bahn leisten, wie ich schon sagte, gerade vor dem
Hintergrund des Personalabbaus Enormes: Sonderschichten und Überstunden wurden zur Selbstverständlichkeit. Es ist höchste Zeit, dass man an die Beschäftigten einen entsprechenden Ausgleich zahlt.
({18})
Mobilität ist ein Grundrecht. Wir alle sind verpflichtet, es zu verwirklichen. Sie müssen lernen, über die
Bahn völlig anders zu denken und sie endlich dem Gemeinwohl unterzuordnen.
({19})
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifellos
gibt es über den Eisenbahnverkehr in Deutschland nach
dem vergangenen Sommer, nach dem vergangenen Winter viel zu bereden. Zweifellos gibt es Dinge zu klären,
sowohl bei der Infrastruktur als auch beim rollenden Material. Herr Kollege Gysi, ich kann es Ihnen gar nicht so
richtig übelnehmen - Sie folgen den Debatten zu diesem
Thema sonst eher nicht so intensiv -, dass Sie glauben,
dass man die Probleme durch Schlagworte wie Gemeinwohlorientierung und ein bisschen Sozialromantik lösen
kann. Das wird nicht gelingen, und das können wir Ihnen
auch beweisen.
Es lohnt sich, in diesen Tagen die Bundestagsprotokolle von 1994 zur Debatte über die Organisationsprivatisierung der Bahn nachzulesen. Es ist interessant, was
die Sozialdemokraten und die christlich-liberale Koalition seinerzeit vorgetragen haben.
({0})
In diesem Jahr, als nämlich Deutsche Bundesbahn und
Deutsche Reichsbahn die DB AG gebildet haben, reichten die Einnahmen aus Fahrkartenentgelten nicht aus,
die Personalkosten zu decken. Eine Bahn zulasten des
Steuerzahlers haben wir Gott sei Dank nicht mehr.
({1})
Wer zurück zur Behördenbahn will, wo sich mächtige
Wahlkreisabgeordnete ICE-Halte bestellen können, der
wird mit uns diesen Weg nicht gehen können. Wir wollen den Schienenverkehr dort, wo die Menschen ihn
brauchen, und nicht, wo er ausgekungelt wird.
({2})
Lassen Sie uns zurückschauen: Wie ist es eigentlich
zu dem Konzern gekommen, über den wir heute sprechen? In der Tat hat sich die Bahn seit 1994 - auch 1998
unter Rot-Grün und danach unter der Großen Koalition von einem nationalen Unternehmen zu einem internationalen Logistikunternehmen entwickelt. Der Begriff „National Champion“ stand im Raum.
({3})
Das war die Philosophie, die die damalige Bundesregierung dem Konzern aufgegeben hat.
Wir sehen heute, dass es in der Tat ordnungspolitisch,
aber auch eisenbahnpolitisch falsch war, den Eindruck
zu erwecken, dass es wichtiger ist, außerhalb Deutschlands Geschäfte zu machen als innerhalb Deutschlands.
({4})
Diese Auffassung hat die FDP schon immer vertreten.
({5})
Wir sollten uns auf das konzentrieren, was der Deutsche Bundestag in diesen Fragen schon mehrfach beraten hat. Geschätzter Herr Kollege Pronold, bei allem
Respekt vor der Oppositionsarbeit: Man kann sich nicht
vor dem davonstehlen, was Ihre Minister in der letzten
Wahlperiode gemacht haben.
({6})
Finanzminister Steinbrück wollte 2 Milliarden Euro
aus der Bahnprivatisierung keineswegs für die Infrastruktur, sondern für den Bundeshaushalt verwenden.
Der frühere Bundesminister Tiefensee hat in der Hochphase der Debatte über die Bahnprivatisierung in einem
Zeit-Interview wunderschön vorgetragen: „Langfristig
werden wir die Bundeszuschüsse minimieren können.“
({7})
All das wollten Sie. Sie haben Herrn Mehdorn und
sein Management auf dem Weg in die Internationalisierung unterstützt. Sie wollten eine Privatisierung mit Netz
und haben nie begriffen, dass es falsch ist, das Unternehmen als Ganzes zu betrachten, weil die unterschiedlichen Verkehrssparten unterschiedlich privatisierungsreif
sind. Sie sind überwiegend nicht privatisierungsfähig,
zum Beispiel die Infrastruktur. Sie haben doch in den
sieben Jahren Rot-Grün und in der Großen Koalition den
integrierten Konzern überhaupt erst geschaffen.
({8})
Die Intransparenz, die Sie ebenso beklagen wie wir, ist
entstanden, weil der Konzern heute so ist, wie er ist.
Lassen Sie mich zu dem kommen, was der Kollege
Gysi wortreich zu den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen des Unternehmens vorgetragen hat.
({9})
Ich glaube, es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir auf das
zurückkommen, was das Unternehmen heute leistet und
was es kann.
Ich sage noch einmal: Wir wollen, dass das Unternehmen wirtschaftlich arbeitet. Warum? Es gibt nur zwei
Möglichkeiten, Investitionen im Unternehmen zu finanzieren, nämlich entweder durch Schulden oder durch Ertrag. Wenn man das Unternehmen nicht bis unter das
Dach verschulden will - letzten Endes sind die Schulden
einer 100-prozentigen Tochter des Bundes die Schulden
des Bundes -,
({10})
dann muss das Unternehmen einen Ertrag erwirtschaften, um diesen investieren zu können. Das geschieht, seit
wir regieren.
({11})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke?
Ich führe zunächst die Zahlen aus. Danach gerne.
Man kann auch belegen, dass die Investitionen im
Unternehmen anwachsen, wie es Herr Vorstandsvorsitzender Grube und der Bundesminister seit der Regierungserklärung und dem Machtwechsel im Konzern vortragen. Im Mobilitäts- und Logistikkonzern, also in dem
Teil, der nur der Beförderung von Gütern und Personen
dient, betragen die Investitionen des Konzerns im Jahr
2009 1,1 Milliarden Euro, im Jahr 2010 1,2 Milliarden
Euro, im Jahr 2011 2,2 Milliarden Euro, im Jahr 2012
2,6 Milliarden Euro und im Jahr 2013 2,8, Milliarden
Euro. Sie sind durch den Betrieb erwirtschaftet worden;
die Verschuldung ist nicht erhöht worden. Das ist kluge
Politik zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Fernverkehrs, des Nahverkehrs und des Güterverkehrs.
({0})
Diese Zahlen hat das Unternehmen auf einer Pressekonferenz vor dem Winter vorgetragen.
({1})
Es lohnt sich manchmal, sich mit der Mittelfristplanung
von Unternehmen, die einem gehören, zu beschäftigen,
geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
Ich bin entschieden dafür, dass wir über die Frage
sprechen: Was bringt uns das in wirtschaftlicher Hinsicht
für das Netz und die Investitionsmöglichkeiten? Sie haben völlig recht, dass neben den Steuermitteln auch Eigenmittel des Konzerns in das Netz fließen müssen.
Aber auch hierbei verweise ich auf die Zahlen, die belegen, was der Konzern seit Beginn unserer Regierungszeit macht: Im Jahr 2009 sind 1,8 Milliarden Euro zusätzliche Mittel aus Eigenmitteln in das Netz geflossen.
2010 waren es 2 Milliarden Euro. 2011 sind es 3 Milliarden Euro, 2012 3,8 Milliarden Euro und 2013 4 Milliarden Euro erwirtschaftete Eigenmittel aus der Infrastruktur, die in die Infrastruktur fließen.
({2})
Das ist kluge Politik, die unsere kluge Haushaltspolitik
ergänzt. Damit müsste die Legendenbildung an dieser
Stelle ein Ende haben.
({3})
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Döring. - Erste Frage. Ich habe Ihren Ausführungen genau zugehört. Mich interessiert:
Nimmt die Bundesregierung nun Einfluss auf das Bundesunternehmen DB AG, sodass die Auslandsgeschäfte
rückgängig gemacht werden? Sie haben diese Geschäfte
kritisiert. Das wäre dann die logische Folge.
Zweite Frage. Ich komme aus der Industrie und weiß,
wie Maschinen gewartet werden. Wie sehen Sie das
denn? Welche Informationen haben Sie? Wenn Maschinen nicht gewartet werden, wenn Wartungszyklen ständig verlängert werden, ist das keine nachhaltige Wirtschaftspolitik, weil dann ein viel größerer Schaden
entsteht. Dieser Schaden muss natürlich auch bezahlt
werden. Ich weiß nicht, wie oft Sie Zug fahren, aber ich
kann Ihnen nur sagen: Wenn die Züge stehen bleiben
und Menschen stundenlang in Zügen warten müssen,
dann ist das keine gute Geschäftspolitik. Dann sagen die
Kunden das nächste Mal: Da es keine Alternativen gibt,
fahre ich wieder mit dem Auto oder nehme das Flugzeug.
Im Hinblick auf den Klimaschutz, zu dem sich die
Bundesregierung bekennt, sage ich als Umweltpolitikerin: Hier müssen wir noch wesentlich mehr tun. Da sollten Sie zu Ihren Versprechen stehen.
({0})
Erste Anmerkung. Geschätzte Kollegin, selbstverständlich werden wir in der Koalition und mit dem
Bahnvorstand über die Internationalisierung sprechen.
Ich persönlich bin der Meinung - ich bin sicher, dass
viele Kollegen aus den Koalitionsfraktionen das teilen -,
dass weitere Investitionen in ausländische Geschäftsfelder angesichts der aktuellen Qualität des Verkehrs im Inland nicht darstellbar sind, um es offen zu sagen.
Zweite Anmerkung. Sie machen bei dem Thema Wartung und Wartungspersonal immer den Fehler, nur darauf zu achten, was sich im Konzern getan hat. Sie müssen einfach sehen, dass die Wartungskapazitäten, über
die die S-Bahn nicht mehr verfügt, bei den Herstellern
sind. Sie können das falsch finden. Aber es ist egal, wer
wartet. Hauptsache, es wird gewartet.
({0})
Das findet statt, sehr geschätzte Kollegin.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenbemerkung der Kollegin Barbara Hendricks?
Sehr gerne.
Herr Kollege Döring, ich erlaube mir eine Zwischenbemerkung, die sich auch an Sie in Ihrer Eigenschaft als
Mitglied des DB-Aufsichtsrates richtet. Ich erzähle einfach eine Geschichte aus dem Leben, wie sie viele Menschen in diesem Winter erlebt haben.
({0})
Ich bin am 2. Januar aus Innsbruck zurückgereist. Der
Zug hatte auf der Strecke nach München ziemlich viel
Verspätung. Das lag in erster Linie an der österreichischen Bahn; das ist nicht zu bestreiten. Das bedeutete
aber, dass wir den in Richtung Nordrhein-Westfalen fahrenden Eurocity, den wir in München eigentlich hätten
bekommen sollen und für den wir natürlich, wie es sich
an stark frequentierten Reisetagen gehört, reserviert hatten, nicht nehmen konnten. Dieser Zug hatte zwar
90 Minuten Verspätung, wurde aber über München hinaus nicht mehr eingesetzt. Das fand ich zufällig heraus,
weil ich selber im iPhone gesucht habe; denn eine Ansage gab es nicht. Gott sei Dank gibt es mittlerweile solche technischen Möglichkeiten. Leider stehen diese
- das muss man in diesem Zusammenhang sagen - nicht
allen Menschen zur Verfügung.
Der eine Zug fuhr also gar nicht. 14.55 Uhr wurde der
ICE - ich kann mich an die Zugnummer nicht mehr erinnern - in München eingesetzt. Er fuhr in Richtung Dortmund, also in Richtung Nordrhein-Westfalen. Wir waren
natürlich rechtzeitig da; denn wir hätten eigentlich schon
viel früher fahren sollen. Wir hatten also die Chance, uns
strategisch zu verteilen, in zwei Waggons hineinzugehen
und nachzusehen, ob es noch nicht reservierte Plätze
gibt. Wir waren immerhin zu zweit und sind noch beweglich. Es ist uns schließlich gelungen, nicht reservierte Plätze zu finden. Von diesen haben wir uns auch
nicht mehr wegbewegt. Der Zug, für den wir reserviert
hatten, war gar nicht da.
({1})
Ein weiteres Problem war, dass der ICE nur halb so lang
wie vorgesehen war. Die Wagen 21 bis 28 waren da.
Aber auch die Menschen, die für die Wagen 29 bis 38 reserviert hatten, wollten natürlich mitfahren. Diese Wagen waren aber nicht da.
Dieses Erlebnis vom 2. Januar ist typisch. Alle Urlauber, die an diesem Tag unterwegs waren, haben Ähnliches erlebt und waren im Recht; denn fast alle hatten ordentliche Preise gezahlt und reserviert, wenn auch nicht
unbedingt für diesen Zug. Wir hatten immerhin den Vorteil, in der ersten Klasse zu sitzen. Dort war es nicht
ganz so voll. In der zweiten Klasse war es viel schlimmer. Ein Beispiel. Ein sehr großer Mann stieg mit seiner
Frau ein.
({2})
Frau Kollegin, können Sie Ihre Zwischenbemerkung
ein bisschen abkürzen? Sie sollen hier kein Koreferat
halten.
({0})
Ich mache es kurz. - Dieser große Mensch, der kaum
im ICE stehen konnte, sagte zu seiner Frau völlig verzweifelt: Dafür haben wir 300 Euro in der ersten Klasse
für eine Strecke bezahlt. - Es war also offenbar ein
Mensch, der nicht immer erster Klasse fährt.
Die Stimmung war nahe am Aufruhr.
({0})
Ich hätte es sehr leicht zum Aufruhr bringen können,
wenn ich gesagt hätte: In dieser Situation muss die Bahn
auch noch 500 Millionen Euro an den Bundeshaushalt
abliefern.
Geschätzte Frau Kollegin Hendricks, in der Tat ist es
so, dass jeder von uns diese Erlebnisse hatte und jeder
massenhaft Briefe aus seinem Wahlkreis bekommen hat.
({0})
- Ich auch persönlich.
Es bestreitet doch kein Kollege meiner Fraktion und
kein Kollege der Unionsfraktion, dass es Qualitätsprobleme, Managementprobleme, Umsetzungsprobleme
und technische Probleme am rollenden Material gibt.
Das ist doch unbestritten und in der Fehleranalyse auch
bewiesen. Deshalb steigern wir doch die Investitionen
für das rollende Material in diesem Maße.
Ich sage aber auch - dabei bin ich mit dem Kollegen
Vaatz vollkommen einig -: Ich bitte darum, nicht nur immer zu sehen, dass diejenigen, die mit dem rollenden
Material die Menschen befördern, große Verantwortung
tragen. Vielmehr haben diejenigen, die das rollende Material geliefert haben, nicht immer das geliefert, was bestellt war, und es nicht immer in der Qualität geliefert,
wie wir uns das gewünscht haben. Das anzuerkennen,
gehört zur Fairness dazu.
Deshalb plädiere ich für die Konzentration auf das inländische Geschäft. Wir wollen alle sicherstellen, dass
Sie in einem Jahr eine solche Geschichte möglichst nicht
mehr erzählen müssen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend
möchte ich auf die Legende um die Dividende zu sprechen kommen. Sie schaffen es tatsächlich immer wieder,
neue betriebswirtschaftliche Begriffe einzuführen. Den
Begriff „Zwangsdividende“ kennt das Aktienrecht nicht.
({2})
Vielmehr entscheidet die Hauptversammlung nach Vorschlag darüber, was mit dem Gewinn passiert.
Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Ertragslage. Eine Dividende wird gezahlt, nachdem ein Unternehmen alle Kosten abgezogen und Investitionen vorgenommen hat.
Abgezogen werden außerdem Abschreibungen und
Zinskosten.
({3})
Das ist dann das Ergebnis vor Steuern. Sie tun immer so,
als säße irgendwo ein Verrückter, der sich eine Dividende von 500 Millionen Euro ausgedacht hätte,
({4})
und zwar völlig unabhängig von der Planung hinsichtlich des Ergebnisses nach Steuern im Konzern.
({5})
Ich sage Ihnen: Die Ergebnisse allein der Mobilitätsund Logistiksparte nach Steuern werden sich in einer
Größenordnung bewegen, dass es ohne Probleme möglich ist, die Investitionen weiter zu erhöhen und die Dividende an den Bund auszuzahlen. Das ist nachlesbar in
der mittelfristigen Planung. Die Aufsichtsräte kommen
ihrer Aufgabe nach und haben das getan.
({6})
Deshalb ist die Behauptung falsch, dass ein Unternehmen, das mehr als 1 Milliarde Euro nach Steuern verdient, keine 500 Millionen Dividende zahlen kann. Das
ist schlicht falsch.
({7})
- Nein. Ich berufe mich ausschließlich auf das, was in
Pressekonferenzen veröffentlicht wurde.
Natürlich gibt es in unserer Fraktion und in dieser
Koalition die Erkenntnis, dass sich der Konzern mehr
auf die Ertüchtigung der Infrastruktur in Deutschland
und auf die Verkehre in Deutschland konzentrieren
muss. Wir unterstützen den Bundesminister bei den
Überlegungen zum Finanzierungskreislauf Schiene. Er
bezieht sich dabei auf das, was im Koalitionsvertrag niedergelegt worden ist.
CDU/CSU und FDP knüpfen an ihren gemeinsamen
Antrag aus rot-grüner Zeit an. Für diejenigen, die es
nachlesen wollen: Das ist die Drucksache 15/2156. Unter den Fraktionsvorsitzenden Dr. Angela Merkel und
Dr. Wolfgang Gerhardt haben wir unsere Vorstellungen
von einer Bahnreform und einer Weiterentwicklung des
Konzerns niedergelegt.
Dabei gibt es Unterschiede zu dem, was Sie wollten.
Diese Unterschiede finden Sie im Koalitionsvertrag.
Dazu werden wir alsbald Aussagen treffen.
Ich sage für die FDP-Fraktion: Gegen die Bundesrepublik Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren, was die Unabhängigkeit des Netzes angeht. Der
zuständige EU-Kommissar, Vizepräsident Kallas, hat
meinen Kollegen und mir geschrieben: Die Richtlinie
der Europäischen Union verlangt die Unabhängigkeit bei
der Entscheidungsfindung.
({8})
Weiter fordert er Maßnahmen, die jede Kontrolle der
Holding über die Entscheidung der DB Netz AG ausschließen.
Deshalb bleiben wir dabei, dass der Prüfauftrag über
die Beherrschungsverträge, der im Koalitionsvertrag
niedergelegt ist, zu dem Ergebnis kommen wird, dass
das mit europäischem Recht nicht vereinbar ist.
({9})
In dem Beherrschungsvertrag steht der schöne Satz: Die
DB Netz AG unterstellt die Leitung ihrer Gesellschaft
der DB AG. - Das ist mit Vorstellungen von unabhängiger Geschäftsführung nicht vereinbar.
Deshalb wird es Veränderungen geben, die die Einflussmöglichkeiten des Bundes und der Aufsichtsräte
stärken werden. Das ist jedenfalls eine Überlegung, die
wir weiter verfolgen.
Die Eisenbahnpolitik der Vergangenheit war vielleicht zu stark managementgeprägt. Der frühere Vorstandsvorsitzende Mehdorn hat sicher sehr starken Einfluss auf das Bundesverkehrsministerium und auf das
Bundesfinanzministerium gehabt. Gelegentlich hatte
man das Gefühl: Die Eisenbahnpolitik von Rot-Grün
und Schwarz-Rot war reine DB-Interessenpolitik. Das
ist zu Ende. Diese Koalition macht Eisenbahnpolitik für
alle, die auf der Schiene fahren wollen, auch für die vielen Wettbewerber;
({10})
denn Wettbewerb ist gut für den Kunden und für die
Qualität der Bahn.
({11})
Wir wollen nicht zurück zum Monopolbetrieb. Wer
heute von Hamburg nach Frankfurt fliegt und mit der
Lufthansa unzufrieden ist, kann Air Berlin wählen, und
in der Regel tut er das auch. Deswegen strengen sich
beide Unternehmen an, gute Qualität zu liefern. Ich
wünschte mir manchmal, wir hätten im Fernverkehr
diese Möglichkeit. Dann wäre vielleicht die eine oder
andere Problematik, wie sie Frau Kollegin Hendricks geschildert hat, nicht in diesem Umfang da.
Kurzum, diese Koalition sorgt durch ihre Eisenbahnpolitik dafür, dass der Konzern gut arbeitet,
({12})
dass Schienenverkehrspolitik besser wird, dass in Netz
und rollendes Material so viel wie noch nie investiert
wird, ohne die Verschuldung des Konzerns zu erhöhen.
Die Aufgabe ist, mit dem Geld, dem Vermögen der Steuerzahler das größte Bundesunternehmen noch besser zu
machen und damit am Ende für alle Menschen die Qualität zu erhöhen. Die Qualitätsmängel, die wir heute beklagen, gehen zurück auf eine verfehlte Eisenbahnpolitik.
Diese Mängel haben die SPD-Minister in den elf Jahren
ihrer Regierungszeit zu verantworten.
({13})
Wir machen Schluss damit.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Zeit
lang hat man gedacht, die größten vier Feinde der Deutschen Bahn seien die vier Jahreszeiten: Frühling,
Sommer, Herbst und Winter. Das ist aber nicht so, und
daran hat die Debatte hier bisher auch nichts verändert.
Die größten Feinde der Bahn, die größten Feinde eines
funktionierenden Bahnverkehrs, ob im Fernverkehr oder
im Nahverkehr, sind am Ende die Bundesverkehrsminister gewesen.
({0})
Da können einem die Kunden, die auf den Bahnsteigen
standen und froren, samt der Mitarbeiter, die dort standen und froren und die Fragen gar nicht beantworten
konnten, nur leidtun.
Herr Döring, ich sehe Ihnen angesichts Ihrer engagierten Rede voller Prüfaufträge nach, dass Sie gesagt
haben: Wir fangen jetzt an. - Ich komme darauf gleich
zurück. Sie sind neu in dieser Koalition. Die Schwarzen,
CDU/CSU, sind jetzt sechs Jahre an der Regierung, und
deshalb, Herr Döring, kann man an dieser Stelle sagen,
dass bei dieser Koalition, bei diesem Bundesverkehrsminister keine gute Bahnpolitik gemacht wird, sondern
dass sie eher eine komplette Fehlanzeige ist, und zwar
auf Kosten der Kunden.
({1})
Da sagt Herr Ramsauer, er telefoniere fast täglich mit
Herrn Grube. Das finde ich schön. Nur, worüber reden
sie da? Worüber reden sie bei diesen Telefongesprächen?
Es gab zweimal hintereinander Winterchaos. Es gab übrigens auch ein Sommerchaos. Im Winter erfriert man,
im Sommer wird man gegrillt. Vielleicht sollten Sie
nicht so oft telefonieren und endlich einmal das Geschäft
anpacken!
Putzig ist, Herr Ramsauer, dass auch Sie anfangen,
das Ganze auf die Vorgängerregierung zu schieben. Das
machen wohl alle gern. Ich muss einmal sagen: Diese
Debatte brauchen wir hier gar nicht zu führen. Liebe Sozialdemokraten, auch ihr solltet diese Debatte hier nicht
führen, weil auch dann gilt: Wer mit dem Zeigefinger
auf andere Leute zeigt, sollte nie vergessen, dass drei
Finger seiner Hand auf ihn selbst zeigen.
({2})
Es war Bundeskanzler Schröder, der Mehdorn bei der
Bahn haben wollte. Außerdem wollte er den Börsengang. Die Grünen haben stets gesagt: Die Voraussetzungen für einen Börsengang liegen nicht vor. Wir haben
ihn unter Rot-Grün verhindert.
({3})
Die weitere Verschiebung des Börsengangs kam erst mit
der Finanzkrise im Oktober 2008. Da hat die Große
Koalition ihn immer noch gewollt.
({4})
Also vergessen wir lieber, was war, und sagen wir
jetzt, wie es möglich ist, dass wir in Zukunft endlich eine
pünktliche und zuverlässige Bahn haben, damit die Menschen zur Arbeit kommen, ihre Dinge erledigen können
und die Wirtschaft eine funktionierende Hauptschlagader für ihren Transport hat. Um diesen Blick nach vorne
geht es.
({5})
Herr Döring, noch ein Satz zu Ihren Angaben, wie
viel investiert wurde. Sie haben so getan, als sei alles so
wunderbar. Eine Zahl haben Sie vergessen.
({6})
- Sie haben gesagt, dass es mehr wird; das ist noch keine
Aussage. - Sie hätten auch ehrlich sagen müssen, dass
Gewinne der Netz AG in Höhe von 768 Millionen Euro
nicht im Netz geblieben sind, sondern per Gewinnabschöpfung herausgezogen wurden. Dann hat die Deutsche Bahn AG Arriva in Großbritannien gekauft. Das
Ergebnis ist: Die DB ist Europachampion beim Busverkehr. Überall fahren Busse der Deutschen Bahn, nur in
Deutschland, in Berlin geht nichts. Da schauen die Leute
auf die Gleise und hören und sehen gar nichts. Also,
auch unter dieser Regierung, Herr Döring, wurde die
Fehlentwicklung fortgesetzt.
({7})
Sie haben viele Beispiele genannt, worüber Sie mit
der Bahn sprechen wollen. Ich sage dazu: Allein, mir
fehlt der Glaube. Ich will nicht, dass Sie sprechen, ich
will nicht, dass Sie prüfen, sondern ich will, dass Sie hier
zum Beispiel ganz klar sagen: Wir wollen alles dafür
tun,
({8})
dass das Netz unabhängig von der DB wird und in unmittelbares Eigentum des Bundes überführt wird, damit
es nicht mehr ausgequetscht wird, sondern zur Basisinfrastruktur in Deutschland wird. Den Satz suchen wir.
({9})
Wir brauchen die Trennung von Netz und Transport,
weil nur dann auf diesem Netz ein guter Wettbewerb mit
einem zuverlässigen Verkehr stattfinden wird. Wie bei
den Stromübertragungsnetzen wird es über europäisches
Recht sowieso zu der Unabhängigkeit kommen.
({10})
- Sie haben es vorgelesen. - Wir wollen im Rahmen der
Daseinsvorsorge auch Wettbewerb auf der Schiene.
Wenn man mit einem S-Bahn-Betreiber, um ein Beispiel
zu nennen, einen Vertrag schließt, der nicht funktioniert,
dann kann man doch nicht sagen, nur eine staatliche Lösung wäre die Ideallösung. Sie brauchen regionale Netze
und das Eigentum am Netz.
({11})
- Wer in Berlin Zehntausende von Wohnungen verkauft
und sich danach beklagt, dass es zu wenig Sozialwohnungen gibt, sollte mit uns nicht über Privatisierung reden. Wir denken vorher nach. Das ist manchmal ganz
hilfreich.
({12})
Schauen Sie sich die Situation an: Die Berliner S-Bahn
gehört dem Bund, gefahren ist sie trotzdem nicht. Warum? Weil es einen miserablen Vertrag gibt. Es kommt
auch auf den Vertrag an, den Sie abschließen.
({13})
- Blöd gefragt, Herr Pronold. Das ist Ihnen so herausgerutscht. Der rot-rote Senat war es, im Jahr 2002. Ich will
meinem Freund Gregor Gysi sagen, was das Buch der
Wahrheit sagt: Januar bis August 2002 Bürgermeister
und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin.
({14}) - Zuruf
des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])
- Das war die beste Zeit. Ich hoffe nur für dich, dass du
diesen Vertrag nicht auch noch unterschrieben hast, da
du so tust, als ob du die Weisheit mit Löffeln gefressen
hättest. So viel Zeit muss sein.
({15})
Es war ein miserabler Vertrag, der vom rot-roten Senat abgeschlossen wurde. Als dann die Bahn den Vertrag
im Sack hatte, hat sie in Heuschreckenart angefangen,
die S-Bahn im wahrsten Sinne des Wortes auszuquetschen. Ich sage Ihnen: Es muss und wird in Zukunft anders sein. Es darf keine Direktvergaben mehr geben.
Auch das Bundeskartellamt sagt, dass das nicht geht. Es
geht auch nicht über den Trick, ausländische Töchter zu
Subunternehmern zu machen. Was wir brauchen, ist ein
richtiger Wettbewerb auch im Schienenpersonennahverkehr. Die Rechte der Mitarbeiter sind durch den Tarifvertrag der Bahnbranche gesichert.
({16})
- Lieber Herr Pronold, es werden viele Mitarbeiter von
den Billigtöchtern der Deutschen Bahn davon proRenate Künast
fitieren, dass sie endlich ordentliche Löhne bekommen.
Man sieht auch daran, dass das Staatliche nicht immer
hilft.
Wir sagen eines ganz klar: Wir brauchen nicht nur
Prüfaufträge, sondern wir müssen eine neue Bahnpolitik
betreiben. Wir brauchen neue Strukturen und Regeln.
Weg mit der Zwangsdividende, weg mit der internen Gewinnabschöpfung! Das Geld muss im Netz bleiben. Netz
und Transport sind zu trennen. Wir brauchen eine Krisenprävention. Nur über den Weg kommen wir endlich
dahin, wohin wir müssen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Gute Bahnpolitik ist Daseinsvorsorge. Man könnte
fast sagen: Die Menschen haben ein Recht darauf, dass
wir alle uns anstrengen, damit die Bahn pünktlich und
zuverlässig ist.
({0})
Das Wort hat nun Bundesminister Peter Ramsauer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei aller Aufgeregtheit möchte ich als Bundesverkehrs- und -bauminister zunächst einmal persönlich, aber auch im Namen der Bundesregierung all jenen
im Land ganz herzlich danken, die auf den Straßen, bei
der Schiene, auf den Wasserstraßen oder auf den Flughäfen bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee Tag und
Nacht Betriebsdienste geleistet haben. Respekt vor der
Leistung dieser Mitarbeiter!
({0})
- Dafür hätte ich von den Fraktionen, die sich sonst als
Vertreter von Arbeitnehmerinteressen wähnen,
({1})
Beifall erwartet. Dass Sie hier keine Hand zum Beifall
rühren, ist eine Blamage für Sie.
({2})
Wir erkennen die Leistung dieser Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer voller Respekt an.
({3})
- Dann könnten Sie diesen Menschen draußen im Lande
den Respekt auch durch einen Beifall bekunden. Sie tun
es nicht.
Herr Pronold, jetzt zu Ihrer Rede. Sie sind wirklich
ein Statistikspezialist. Sie wissen ganz genau: Wenn man
sich besonders negative Basismengen herauspickt, dann
kann man zu anderen Ergebnissen kommen. Wir haben
uns in unserem Bericht auf die repräsentativen Daten der
Deutschen Bahn verlassen.
Dass Sie wirklich ein Statistikspezialist sind, habe ich
vergangenen Montag Ihrem Interview in der Süddeutschen Zeitung - Bayern-Ausgabe - entnommen, in dem
Sie die Wahlprognosen und die Umfragewerte der SPD
in Bayern interpretiert haben. Sie haben da gesagt - ich
zitiere:
Ich bin überzeugt, dass wir
- also die SPD Bayern im Sommer, als es keine Umfrage gab, über 20 Prozent lagen.
({4})
Respekt! Das ist Statistikkunst.
Zu den Bahnhöfen. Das hätten Sie besser nicht gesagt. Ich habe als Bundesminister damit begonnen,
2 100 Bahnhöfe in Deutschland umzubauen. Einige
Hundert sind fertig.
({5})
Da wird natürlich Barrierefreiheit hergestellt.
Herr Pronold, Sie geben Presseerklärungen heraus, in
denen Sie von irgendwelchen Maulhelden reden. Dazu
muss ich sagen: Gerade Sie sind berufen, so etwas zu
schreiben.
({6})
Ich bin dankbar dafür, lieber Verkehrs- und Bauausschussvorsitzender, Kollege Winfried Hermann, dass ich
vorgestern das zehnte Mal im Ausschuss sein durfte. Bei
diesen zehn Besuchen von mir im Ausschuss haben Sie
kein einziges Mal Ihren Mund aufgemacht. Manche aus
Ihrer Fraktion würden sich wünschen, dass Sie wenigstens ein Maulheld wären. Aber Sie sind stumm wie ein
Fisch. Sie bringen im Ausschuss nicht einmal den Mund
auf, wenn ich da bin. Es ist leider so.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, jetzt
komme ich zu dem Antrag, den Sie zur heutigen Sitzung
vorgelegt haben. Der Antrag ist mit den Worten
„Deutschland braucht im ganzen Land einen verlässlichen und sicheren Schienenverkehr“ überschrieben. Mit
solchen Plattitüden würden wir keinen Antrag in diesem
Hohen Hause überschreiben.
({8})
Das ist wohl selbstverständlich. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diesen Antrag stellen Sie 12 oder 13 Jahre zu spät.
Den hätten Sie im Jahr 1998 oder 1999 einbringen sollen, als Sie mit Schröder und zusammen mit den Grünen
die Bundesregierung gestellt haben; dann wären viele
der Defizite ausgeblieben, die wir heute zu beklagen haben.
({9})
Einer meiner Vorgänger war Kurt Bodewig. Übrigens
werden Sie mich mit nichts dazu bringen, in irgendeiner
Weise über irgendeinen meiner Vorgänger,
({10})
sei es auch irgendeiner meiner fünf SPD-Vorgänger, herzufallen. Das überlasse ich Ihnen; ich nicht. Ich habe
persönlich Respekt vor allen Vorgängern.
Ich möchte eine Aussage von Kurt Bodewig zitieren.
Er hat am 9. Januar in „Berlin direkt“ im ZDF über die
rot-grüne Verkehrspolitik gesagt:
Eine der gravierendsten Auswirkungen
- dieser Politik in der Retrospektive war eigentlich, dass die Investitionsplanung der
Bahn auf Kante genäht worden ist. Man kann das
heute feststellen: Damals wurden die Serviceintervalle verlängert, damit die Qualität reduziert und
auch die eigentlich vorzuhaltenden Reservekapazitäten wurden verringert. Darunter leidet die Bahn.
Wo Bodewig recht hat, hat er recht.
({11})
Wir haben über alle Fragen im Zusammenhang mit
dem Winter bereits im Ausschuss diskutiert. Ich bedanke
mich noch einmal bei Ihnen, Winfried Hermann, als Vorsitzendem des Verkehrsausschusses,
({12})
dass Sie meiner schon vor Weihnachten geäußerten Bitte
entsprochen haben, im Ausschuss vortragen und berichten zu dürfen. Zugegebenermaßen ist es nur ein Zwischenbericht, weil wir noch mitten im Winter stehen.
Möglicherweise liegt der dickste Winter noch vor uns.
Obwohl es kalendarisch gesehen noch Herbst war,
war der Dezember ein Wintermonat, und zwar der
strengste seit Jahrzehnten. Man muss daher die Probleme der Bahn im Vergleich zu denen der anderen Verkehrsträger sehen. In Ihrem Antrag steht ein völlig richtiger Satz:
Die Fluggesellschaften gaben die Empfehlung heraus, dass innerdeutsch Reisende möglichst von
vornherein alternative Verkehrsmittel nutzen sollten.
Ja klar, die Bahn hat im großen Stile Ersatzverkehre für
andere Verkehre, auch für den Straßenverkehr, schaffen
müssen. Dies musste sie bei extrem schwierigen Wetterbedingungen und dazu noch in der Hauptreisezeit zu
Weihnachten tun. Trotz aller vermeidbaren Beeinträchtigungen bitte ich daher schlicht und einfach um Fairness
für die Deutsche Bahn.
({13})
Denn bei anderen Verkehrsträgern wird fast selbstverständlich hingenommen, dass Beeinträchtigungen entstehen.
Frau Hendricks, Sie haben von Ihren Erlebnissen mit
der Bahn berichtet. Ähnliche Berichte gibt es natürlich
auch über den Flugverkehr. Was die Pünktlichkeit im
Flugverkehr angeht, gibt es ebenfalls katastrophale Zahlen. Etwa 10 Prozent aller Flüge sind ausgefallen. Bei
den Flügen, die tatsächlich stattgefunden haben, gibt es
im Großen und Ganzen wahrscheinlich ähnliche Pünktlichkeitsquoten, wie wir sie im Bahnverkehr hatten. Hier
sitzen viele, die darüber berichten können.
Ich möchte auch dies in aller Deutlichkeit feststellen:
Angesichts der Widrigkeiten des Winters kann niemandem quasi ein Vollkaskoanspruch, also ein Anspruch auf
hundertprozentige Verkehrsleistung, gewährt werden.
Manchmal wird so getan, als sei dies möglich.
Auch die Straße hatte ihre Probleme. Aber wir haben
hier gut vorgesorgt. Wir haben die Streusalzreserven
ganz gezielt aufgebaut. Ich bedanke mich bei allen, die
hier mitgeholfen haben. Gott sei Dank haben wir auch
noch rechtzeitig die Winterreifenpflicht eingeführt.
({14})
Auch da hat es ein Kuriosum gegeben. Ausgerechnet
diejenigen, die gegen eine Winterreifenpflicht waren,
haben vor wenigen Wochen eine Verschärfung gefordert.
({15})
Das soll einmal irgendjemand verstehen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volkmer von der SPD-Fraktion?
Ja.
Ich habe eine ganz kurze Frage. Verfügen Sie als der
zuständige Minister über die interne Pannen- und Ausfallstatistik der Deutschen Bahn?
Ist die Frage zu Ende? Es ist schlecht für einen Fragesteller, wenn niemand merkt, dass die Frage zu Ende ist.
Ich wiederhole die Frage gerne: Verfügen Sie als der
zuständige Minister über die interne Pannen- und Ausfallstatistik der Deutschen Bahn?
Ich habe vorhin bereits gesagt - darin liegt die Antwort -, dass wir in dem Bericht, den ich im Ausschuss
vorgelegt habe, die Zahlen von der DB AG wie auch die
Zahlen von den anderen Verkehrsträger verwendet haben. Wenn Sie aber die Zeitintervalle anders gestalten
- damit wird die Grundmenge N verändert; so nennt
man das in der Statistik - und beispielsweise nur den berühmten zweiten Weihnachtsfeiertag zugrunde legen,
dann bekommen Sie natürlich völlig andere Quoten.
({0})
Deswegen heißt es zum Beispiel auch „teilweise unter
70 Prozent“.
({1})
Unter 70 Prozent umfasst natürlich auch die 20 Prozent,
die wir angeblich am zweiten Weihnachtsfeiertag hatten.
Sie können sich setzen.
Haben Sie die oder nicht?
Ich habe Ihre Frage beantwortet.
({0})
Herr Präsident, die Kollegin hat eine Nachfrage.
Frau Kollegin, wollen Sie eine Nachfrage stellen?
Ja.
Dann bitte schön.
Ich habe die Antwort so nicht verstanden. Mich
würde interessieren: Haben Sie die Daten, ja oder nein?
Wir haben die Daten der Deutschen Bahn AG verwendet, genauso wie wir für den Flugverkehr die Daten
der Fluglinien und der Flughäfen verwendet haben und
die Erkenntnisse aus dem Straßenverkehr.
({0})
Wir werden natürlich bei der DB AG mit den Konsequenzen genau dort intensiv weiterarbeiten,
({1})
wo ich vom ersten Tag an begonnen habe, als ich Minister wurde. Wir werden intensiv weiter in den Betrieb und
in das Netz investieren. Wir müssen in die Vorhaltung
von Kapazitätsreserven investieren. Wir müssen deutlich
mehr für die Instandhaltung und für die Reparatur des
rollenden Materials aufwenden. Wir dürfen dieses ganze
System nicht auf Verschleiß fahren. Aber ich betone
noch einmal: Die Probleme sind nicht von heute auf
morgen abzuarbeiten.
({2})
Wir arbeiten auch an einer Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, um endlich einmal die Verantwortlichkeiten der Hersteller auf der einen Seite und
der Eisenbahninfrastrukturunternehmen auf der anderen
Seite klarzustellen. Ich als Bundesverkehrsminister bin
es leid, dass hier die Verantwortlichkeiten ständig hinund hergeschoben werden. Das muss ein Ende haben.
Deswegen werden wir in den kommenden Monaten auch
mit der entsprechenden Gesetzgebungsinitiative kommen.
({3})
Wir werden auch - die Gespräche dazu haben begonnen - Schritt für Schritt einen Finanzierungskreislauf
Schiene herstellen. Der Bund nimmt seine Verpflichtung
und Verantwortung wahr, hier für zuverlässige Finanzierungsbedingungen zu sorgen.
Zu der Dividende hat der Kollege Döring hervorragend Stellung genommen.
({4})
Es ist etwas Selbstverständliches, dass der Eigentümer
eines Unternehmens dann, wenn ein Unternehmen Gewinn erwirtschaftet, auch einen verantwortbaren Teil des
Gewinns entnimmt. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Ich sage Ihnen dazu auch noch eines: Die Hauptversammlung hat auf Vorschlag des Aufsichtsrats über die
Dividende zu bestimmen. Die Hauptversammlung der
DB AG bin ich. Ich werde selbst die Hauptversammlung
abhalten. Ich habe das auch letztes Jahr schon getan, und
zwar zur absoluten Verwunderung vieler. Ich musste mir
sagen lassen, dass keiner meiner letzten fünf Amtsvorgänger je einmal selbst die Aufgabe und für mich selbstverständliche Verpflichtung auf sich genommen hat, als
Minister und Verantwortlicher die Hauptversammlung
selbst abzuhalten.
({5})
Keiner hat sich ordentlich um die Bahn gekümmert. Ich
kümmere mich um dieses Unternehmen und leite selbst
die Hauptversammlung.
({6})
- Da lachen Sie drüber. Sie drücken sich weg, ausgerechnet die PDS bzw. die Linke.
Zum Thema Auslandsgeschäft habe ich oft genug
Stellung genommen. So wie wir hier Wettbewerb vorantreiben, muss es der DB auch möglich sein, im Ausland
tätig zu werden. Wir haben 320 Wettbewerber auf deutschen Gleisen, und wenn die DB AG nicht schrumpfen
will, muss sie auf anderen Märkten aktiv sein können.
Lassen Sie uns bitte gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn wir die Bahnpolitik in Deutschland neu ausrichten. Es ist ein mühsames Geschäft, aber es lohnt
sich, an diesem Ziel zu arbeiten.
Ich darf noch einmal aus dem SPD-Antrag zitieren.
Hier heißt es:
Die Ursachen … sind das Ergebnis einer verfehlten
Unternehmenspolitik, die sich u. a. von rein betriebswirtschaftlichen Renditegesichtspunkten leiten ließ und den eigenen Fuhrpark … auf Verschleiß fuhr. Das rächt sich jetzt, und das nicht in
geringem Maße.
Hier muss ich wirklich sagen: Dass Sie von der SPD
mir ausgerechnet all die Probleme vorwerfen, die ich
nach gut einem Jahr Amtszeit von fünf SPD-Amtsvorgängern in elf Amtsjahren geerbt habe, ist schon ein starkes Stück.
({7})
Dennoch wünsche ich Ihnen jetzt eine schnee- und eisfreie pünktliche Heimreise und ein schönes Wochenende.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, wir werden heute Nachmittag noch
arbeiten; das muss man hier einmal festhalten.
({0})
Haben Sie hier nun als Hauptversammlung oder als
Minister gesprochen? - Also als Minister.
An dieser Stelle will ich für die sozialdemokratische
Fraktion als Erstes sagen, dass wir hier kein BahnBashing vorhaben; wir wollen die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter nicht in irgendeiner Form herabwürdigen.
Sie haben einen guten Job gemacht; daran ist überhaupt
nicht zu deuteln.
({1})
Sie haben in Eis und Schnee versucht, mit besonderen
Räumkommandos das ganze Ding am Laufen zu halten.
Vier Tote hatte die Deutsche Bahn in diesem Winter zu
beklagen. Man muss sich einmal vorstellen, was da abgegangen ist!
Die Frage ist nur: Musste das alles wirklich so sein,
ist das, was wir da vorgefunden haben, gottgegeben oder
DB-gegeben? Ich sage auch selbstkritisch Nein. Wenn
die DB Netz AG seit 2007 exorbitante Gewinne gemacht
hat, die ganze Zeit vorher aber keine, dann ist doch die
Frage zu stellen, wie es dazu kam. Hat dies dieselbe Ursache wie bei der S-Bahn Berlin in den letzten Jahren,
bei der jemand gesagt hat, sie habe Gewinne zu machen,
es müssten Gewinne organisiert werden, die draußen für
das Windowdressing gebraucht würden, weil man
schließlich an die Börse wolle. Diese Frage müssen wir
uns doch alle stellen. Meine Antwort ist: Ich habe die
Vermutung, dass dies ursächlich der Fall war. Anders
kann nicht plötzlich ein Gewinn von 763 Millionen Euro
innerhalb von drei Jahren herauskommen, wenn vorher
Verluste gefahren wurden.
Was ist denn ein Gewinn? Das ist der Unterschied
zwischen Aufwand und Ertrag. Sind denn die Trassenpreise exorbitant gestiegen? Nein, der Aufwand ist in
diesen Jahren deutlich gesunken. Das bedeutet, dass dort
die Dinge vernachlässigt worden sind, deren Folgen wir
zurzeit erleben. Das muss geändert werden.
({2})
Darum ist all das, was jetzt erzählt wird, Herr Döring,
dass wir nämlich die entsprechenden Gewinne der
Netz AG demnächst investieren wollten, falsch. Wenn
sie beim Netz einen guten Job machen, dann haben die
kaum Gewinne, weil der Aufwand, den sie für die Unterhaltung dieses Netzes betreiben müssen, deutlich höher
sein muss, als es in der Vergangenheit der Fall war.
({3})
Darum haben wir im Jahr 2010 in diesem Bereich auch
nur noch 200 Millionen Euro Gewinn. Da ist plötzlich
jemand aufgewacht; da hat ein Technikvorstand, ein
neuer Vorstand der DB AG, gesagt: Oh Gott, wir haben
einen Winter gehabt, wir müssen in Weichenheizungen
und andere Sachen investieren.
({4})
- Hören Sie zu! Es gibt noch ein paar andere Leute im
Deutschen Bundestag, die von Wirtschaft eine Ahnung
haben.
({5})
An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Es ist objektiv falsch, zu glauben, dass Sie mit diesem Winkeltrick
dem deutschen Volk weismachen können, es würde der
Bahn helfen, wenn sie ihren Finanzkreislauf in irgendeiner Form dazu brächte, das zu organisieren, was Sie zusätzlich brauchen. Sie versuchen auf diese Art und
Weise, die Diskussion mit dem Minister nicht auf dem
Feld zu führen, das da heißt, die Zwangsdividende zu
vermeiden. Sie wollen die Zwangsdividende herausziehen: eine halbe Milliarde pro Jahr, 2 Milliarden innerhalb von vier Jahren, verordnet durch Bundeskabinettsbeschluss. Der Minister knallt die Hacken zusammen
und sagt: Jawohl, Herr Schäuble, ich mache das mit. Das
ist falsch. Ein Bundesverkehrsminister darf das nicht
mitmachen.
({6})
Wenn er etwas von der Bahn versteht, dann weiß er, dass
dort jeder Euro und jeder Cent benötigt wird, um das Desaster, das wir im Sommer und im Winter erlebt haben,
für die Zukunft auszuschließen.
Ich rede über die Zukunft, weil die Erfahrungen aus
der Vergangenheit uns doch lehren müssen, dass wir
mehr in das rollende Gerät und in die Infrastruktur investieren müssen. An dieser Stelle sage ich auch: Wenn die
DB AG der Meinung ist, dass sie weiter Gewinne macht,
wie Sie es hier für den Konzern insgesamt dargestellt haben, dann frage ich Sie als einen, der für die Koalition
politisch verantwortlich ist: Wie ist denn das Netz der
DB AG in den nächsten Jahren gestaltet? Wird es weiter
nur ein Kernnetz sein? Muss die DB nicht weiter in die
Fläche gehen? Gibt es nicht die Verantwortung, auch
dort mehr in rollendes Gerät zu investieren? Es gibt
Großstädte in Deutschland, die vom IC-Verkehr der DB
AG nicht mehr angefahren werden.
({7})
Interregioverkehre gibt es nicht mehr, IC-Verkehre auch
nicht. Es wird nur noch der Regionalverkehr betrieben,
der von den Ländern bestellt wird. Das geht nicht. Wir
brauchen einen Fernverkehr, der in der Fläche vertreten
ist. Darum muss man bei der DB AG zukünftig nicht immer nur auf den Gewinn achten, sondern auch auf die
Versorgung, die notwendigerweise in ganz Deutschland
erbracht werden muss.
Ich komme zu dem, was der Minister letztendlich zu
verantworten hat. Schauen Sie mal in Art. 87 e des
Grundgesetzes.
({8})
Der Artikel besagt eindeutig, dass wir alle in Deutschland etwas von der Bahn zu erwarten haben. Herr Minister, ich bin schon der Meinung, dass Sie hier eine große
Verantwortung tragen. Sie sollten nicht immer nur darauf hinweisen, was in den letzten Jahren passiert ist. Sie
sind seit Oktober 2009 Minister. Vorher waren Sie Vorsitzender der CSU-Landesgruppe hier im Bundestag und
waren bei den Koalitionsverhandlungen jeweils dabei.
Sie sitzen also seit sechs Jahren als Verantwortlicher am
Koalitionstisch. Insofern tragen Sie schon die Verantwortung dafür, dass der Bund gemäß Art. 87 e Grundgesetz „gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit,
insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau
und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des
Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten … Rechnung getragen wird“. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie
in diesem Sinne handeln. Sie sollten nicht nur vorgeben,
vermeintlich etwas zu tun.
Ich stelle bei Ihnen immer wieder etwas Besonderes
fest - ich möchte nicht sagen, dass ich es bewundere -:
Sie versuchen, der deutschen Öffentlichkeit etwas zu
verkaufen, was am Ende falsch ist. Man hat den Eindruck, dass Sie wissentlich etwas stehen lassen, was objektiv falsch dargestellt worden ist. Sie bedauern zwar
im Ausschuss, dass es die Zeitungen nicht so ganz sauber rübergebracht haben. Man konnte aber überall, in der
Bild-Zeitung, im Focus und im Tagesspiegel, lesen, dass
neues Geld in Höhe von 2,2 Milliarden Euro in die Beseitigung der Schlaglöcher in Deutschland gesteckt werden soll. Wir stellen aber fest: Es ist gar kein neues Geld;
es ist das alte Geld für die Straßenunterhaltung.
Es wurde auch gesagt, dass 3,6 Milliarden Euro in die
Bahn investiert werden, unter anderem in rollendes Gerät. Da wird hart an der Wirklichkeit vorbei argumentiert, nach der Melodie: „Oh, ist das neues Geld?“ Wer
davon nichts weiß, der glaubt das; aber es ist immer
falsch, ein Betrug, an der Wirklichkeit vorbei.
({9})
Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: Die halbe
Milliarde, über die wir heute unter anderem reden, muss
dringend im Konzern bleiben.
Jetzt ein Wort zur Frage der Struktur, die Sie damit
verbunden haben. Ich habe hier gelernt - Herr Vaatz hat
es schon für seine Fraktion erklärt -: Es geht um die
Trennung von Netz und Betrieb. Der eine will es noch
prüfen, der andere hat es schon für sich entschieden. Es
wundert mich, dass auch die Grünen in diese Richtung
gehen. Was heißt das eigentlich?
({10})
Die Trennung von Netz und Betrieb bedeutet: Man geht
über das hinaus, was das Erste, Zweite und Dritte europäische Eisenbahnpaket gefordert haben. Wir sind der
Meinung, dass wir die Vorgaben der Eisenbahnpakete
mit der Einlassung der sogenannten Chinese Wall erfüllt
haben.
({11})
Am Ende zerlegt man mit der Trennung von Netz und
Betrieb den Konzern. Sie werden den Konzern zerlegen
und damit den integrierten Konzern DB AG zerstören.
({12})
Damit zerstören Sie den konzerninternen Arbeitsmarkt
komplett und bereiten bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen im Grunde potenziell die Privatisierung vor.
({13})
Das wissen Sie ganz genau, denn Sie haben sich jahrelang mit der Frage beschäftigt. Jetzt kommen Sie hinten
durch die Drehtür mit einem solchen Vorschlag nach
vorne, um uns das Thema auf andere, vermeintlich elegante Weise erneut zu präsentieren. Ich sage: Das ist der
falsche Weg.
Wir Sozialdemokraten wollen einen integrierten Konzern,
({14})
der Geld verdient, aber auch investiert, der seine Gewinne möglichst im Konzern behält.
Herr Minister Ramsauer, dass der ICE nach London
fährt, wo Sie ihn schon gestreichelt haben, muss doch
nicht sein, oder? Ich finde, bevor wir mit dem ICE nach
London fahren, sollten wir erst einmal in Deutschland
die ICE-Flotte so einsetzen, dass sie deutschlandweit
breit läuft. Ich glaube, das ist nötig und muss hier auch
gesagt werden.
({15})
Ein allerletzter Gedanke. Wir haben hier in Deutschland eines nötig: einen Minister, der sich einsetzt für Infrastrukturfinanzierung, für neue Ideen, für ein Programm, mit dem Deutschland fit gemacht wird in der
Infrastruktur, auf der Schiene, auf der Straße, auf der
Wasserstraße. Wir brauchen keinen Stillstandsminister.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Tat, in diesem Winter wurde die Bahn
kräftig von den Wetterverhältnissen getroffen, und das
sorgte für heftigen Gesprächsstoff. Zugausfälle, Verspätungen, defekte Heizungen, überfüllte Züge zerrten an
den Nerven der Fahrgäste - Frau Hendricks hat hier einen ausführlichen Erlebnisbericht vorgetragen -, und der
Winter ist noch lange nicht vorbei. Dennoch haben wir
wegen des ganzen Bahnchaos eines erreicht: Wir haben
hier ein Thema auf der Tagesordnung, das von den Vorgängerregierungen immer gemieden wurde. Es geht um
strukturelle Probleme bei der Bahn, um die strategische
Ausrichtung des Konzerns und um die Finanzierung unserer Schieneninfrastruktur.
Das grundsätzliche Problem des Konzerns ist die Investitionspolitik. Statt die Gewinne aus dem Schienennetz wieder in die heimische Infrastruktur zu investieren,
geht die Bahn mit dem Geld lieber weltweit auf Einkaufstour. Von Schanghai über Schweden bis England,
in insgesamt 136 Ländern ist die Bahn mittlerweile aktiv. Im letzten Sommer wurden 2,8 Milliarden Euro für
das britische Verkehrsunternehmen Arriva ausgegeben;
das ist der teuerste Zukauf in der Bahn-Geschichte.
({0})
Meine Damen und Herren, wer so sorglos mit dem Geld,
das im deutschen Netz erwirtschaftet wurde, umgeht, der
sollte nicht jammern, dass ihm dann die Mittel für Investitionen in ebendieses Netz fehlen.
({1})
Wer finanziert das Schienennetz, aus dem die Bahn
ihre Gewinne abschöpft? Es ist der Bund, also der Steuerzahler, der jährlich fast 4 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung stellt.
({2})
Dafür können wir auch erwarten, dass sich die Bahn zuallererst um den Heimatmarkt kümmert, statt rund um
den Globus als Global Player zu agieren.
Vor diesem Hintergrund ist es übrigens auch absurd,
wenn jetzt versucht wird, dem Bund die Schuld für das
Winterchaos bei der Bahn in die Schuhe zu schieben,
weil er aus den Gewinnen der Bahn AG eine Dividende
von 500 Millionen Euro als Teil des Sparpakets erhält.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hofreiter?
Nein, ich möchte gern fortfahren. - Es ist ja auch
nichts Ungewöhnliches, wenn der Eigentümer eines Unternehmens, das im vergangenen Jahr einen Gewinn von
1,75 Milliarden Euro erzielt hat, eine Beteiligung an diesem Gewinn einfordert. Weil der Bund der einzige Aktionär der Bahn AG ist, steht ihm natürlich eine Dividende zu - das ist schon gesagt worden -, zumal er in
dieses Unternehmen viel Geld investiert. Insgesamt
- das muss man einmal deutlich sagen - sind es über
10 Milliarden Euro pro Jahr, wenn man Investitions- und
Regionalisierungsmittel zusammenrechnet. Die Hauptversammlung, also die Bundesregierung, hat die Höhe
der Dividende auf 500 Millionen Euro jährlich festgelegt. Der Bund fordert die Dividende ja nicht als SelbstDr. Claudia Winterstein
zweck ein. Die Abführung der Dividende dient einem
zentralen politischen Ziel, das die Koalitionsfraktionen
in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt haben, nämlich
dem Abbau der massiven Staatsverschuldung,
({0})
um die Stabilität unseres Landes zu gewährleisten und
zukünftige Generationen zu entlasten. Das sage ich natürlich auch als Haushaltspolitikerin.
({1})
Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Politiker
die Wichtigkeit der Haushaltskonsolidierung in Sonntagsreden gerne betonen, dieses Ziel aber, wenn es konkret wird, doch als nachrangig betrachten.
({2})
Diese Koalition will den Abbau der Staatsverschuldung
vorantreiben. Um die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten zu können, haben wir das Sparpaket beschlossen. Daher verbietet es sich, dieses Sparpaket an einzelnen Stellen aufzuschnüren.
Das Thema Sparen ist kein Tick von uns Haushaltspolitikern. Das Problem der öffentlichen Verschuldung
treibt auch die Menschen im Land um. In einer ForsaUmfrage vom November 2010 wurde gefragt, wovor die
Menschen die größte Furcht haben.
({3})
61 Prozent gaben an, dass sie große oder sehr große
Furcht davor haben, die Staatsschulden könnten ins Immense steigen. Dieses Thema wurde als Problem Nummer eins genannt, noch vor der Furcht vor dem Verlust
des Arbeitsplatzes und der Furcht vor Altersarmut.
Wir erreichen bei der Bahn keine Verbesserungen, indem wir einfach mehr Geld in ein falsch konstruiertes
System stecken, was die Opposition in ihren Anträgen
fordert. Im Gegenteil: Dadurch würden die Fehler im
Endeffekt nur verfestigt.
({4})
Wir können nur dann in die Schiene investieren, wenn
wir strukturelle Reformen bei der Bahn vornehmen.
Dazu gehört zuallererst die Aufhebung der Gewinnabführung der DB Netz AG an die Bahn Holding. Gewinne, die im Netz erwirtschaftet werden, müssen dort
verbleiben. Das ist eine alte FDP-Forderung, die nun
endlich erfüllt wird.
Im vergangenen Jahr zum Beispiel hätten wir so
800 Millionen Euro zusätzlich investieren können. Diese
Investitionen sind möglich, ohne auf eine Dividende verzichten zu müssen. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen
der Bahn. 2010 hat der Konzern einen Gewinn von
1,75 Milliarden Euro erwirtschaftet. Bis 2015 - das ist
schon angesprochen worden - sollen es nach Unternehmensplanungen über 3 Milliarden Euro werden. Ich
denke, das bietet genug Spielraum für die Zahlung der
Dividende an den Bund.
So vereinen wir zwei wichtige politische Ziele: Wir
verringern die Staatsverschuldung und stärken gleichzeitig die Infrastruktur der Bahn.
({5})
Ich sage Ihnen eines: Der nächste Schnee kommt bestimmt, vielleicht schon morgen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mich in den letzten Wochen ziemlich darüber
gewundert, dass aus allen Richtungen die Unternehmenspolitik der Bahn beklagt worden ist. Sie ist falsch,
weil sie kurzfristig und auf die Bilanz des Konzerns konzentriert ist und weil die Bahn auf Verschleiß fährt. Ich
bin froh, dass wenigstens Herr Beckmeyer, wenn auch
als Einziger derjenigen, die hier geredet haben, zumindest im Ansatz Selbstkritik geübt hat. Das finde ich
klasse.
({0})
Es war tatsächlich die Große Koalition aus Grünen,
SPD, CDU/CSU und FDP, die den Börsengang der Bahn
gewollt und bestimmt hat.
({1})
- Diesen Privatisierungskurs hat Gregor Gysi nicht mitgemacht.
({2})
Die Linken waren die Einzigen, die von Anfang an gegen diesen Kurs waren.
({3})
Frau Künast, das ist einer der Gründe, warum ich als Attac-Bundesgeschäftsführerin für die Linken kandidiert
habe und nicht für eine andere Partei. Die Linke hat eine
eindeutige und klare Fokussierung auf das Gemeinwohl.
({4})
Die rot-grüne Bundesregierung hat im April 2005
eine Studie in Auftrag gegeben - das ist ein umfangreiches Werk mit 560 Seiten geworden -, das PRIMONGutachten. PRIMON ist die Abkürzung für „Privatisie9594
rungsvarianten mit und ohne Netz“. Darin ist überhaupt
nicht untersucht worden, ob man die Bahn in öffentlicher Hand weiterentwickeln kann. Das wäre doch eine
interessante Frage gewesen. Sie haben gesagt: Privatisierung auf jeden Fall. Die Grünen haben, nachdem die
Große Koalition den Beschluss, die Bahn an die Börse
zu bringen, weiter vorangetrieben hat, sogar aus der Opposition heraus gefordert, dieses Vorhaben nicht aufzugeben. Ich habe eine Broschüre gefunden: das Wachstum-Schiene-Modell. Darin werden SPD und Union
aufgefordert, am vorgesehenen Zeitplan festzuhalten, die
Entscheidung über den Börsengang nicht zu verschieben
und nicht den Experten zu folgen, die einen Börsengang
gänzlich ablehnen.
({5})
Das war im Januar 2007. Verantwortet wurde die Broschüre von Fritz Kuhn und Winfried Hermann.
({6})
Winfried, ich muss sagen: Ich finde es toll, wenn ihr
eine andere Position einnehmt.
({7})
Aber wenn ihr in eurem Antrag schreibt, dass die Grünen die verfehlte Bahnpolitik, den Konzern an die Börse
zu bringen, immer massiv bekämpft haben - so steht es
dort -, dann ist das zumindest nicht ganz richtig. Das
muss man einmal sagen.
({8})
- Frau Künast, hören Sie mir einmal zu. Es gibt in dieser
Welt nämlich noch etwas anderes als Bundestagsparteien.
({9})
Die Bevölkerung der Bundesrepublik engagiert und
organisiert sich um politische Fragen herum. Wir haben
mit der Kampagne „Bahn für Alle“, die wir 2005 auf die
Beine gestellt haben, eine sehr breite Bewegung initiiert.
Ihr hat sich eine ganze Reihe von Organisationen angeschlossen, die gegen die Privatisierung, gegen den Börsengang der Bahn auf die Straße gegangen sind, Aktionen durchgeführt haben und ans Parlament herangetreten
sind: von verschiedenen Experten, dem BUND und
Robin Wood bis hin zu Verdi und der IG Metall - ein
wirklich breites demokratisches Spektrum. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung ist seit vielen Jahren dafür, dass die Bahn komplett in öffentlicher Hand bleibt;
im März 2008 waren es nach einer repräsentativen Umfrage 70 Prozent. Übrigens ist auch die Mehrheit der Anhänger aller Parteien gegen jedes Privatisierungsmodell.
Ich finde, dass das Parlament daraus endlich Konsequenzen ziehen und die Bahnpolitik auf einen anderen, auf einen demokratischen Kurs bringen muss.
({10})
Ich will drei Punkte skizzieren, die für diesen anderen, demokratischen Kurs der Bahn aus meiner Sicht
notwendig sind.
Der erste Punkt ist, dass die Bahn anderes Spitzenpersonal braucht.
({11})
Ich will damit nicht die Qualifikation von Herrn Grube
anzweifeln. Aber ich will Ihnen Folgendes sagen: Heutzutage schimpfen alle über Herrn Mehdorn, der im
Frühjahr 2009 nach einer ganzen Reihe wirklich dramatischer und skandalöser Aktivitäten als Bahnchef abgelöst worden ist. Als Bundeskanzler Schröder diesen
Mann aus der Flugzeugindustrie im Jahr 2000 angeheuert hat, war die Zustimmung in diesem Haus aber groß.
Auch als Herr Mehdorn 2006 verkündet hat: „Unser
Markt ist die Welt“ und: „Ich kann mir gut vorstellen,
dass wir in Zukunft auch Flugzeuge betreiben“, haben
Sie überhaupt nicht gezuckt.
Nun ist es nicht so weit gekommen, dass die Bahn
Flugzeuge betreibt. Aber ich erinnere daran, dass im
Dezember 2002 versucht wurde, ein Preissystem einzuführen, bei dem man Zugfahrten wie einen Flug vorab
hätte buchen müssen. Das hat Hunderttausende Bahnkunden verschreckt. Die Abstimmung mit den Füßen hat
dazu geführt, dass dieses Konzept in die Tonne getreten
wurde. Ich frage Sie: Warum wird an dieser Stelle nicht
ein ganz anderer Weg gegangen? Warum fragt man nicht
einfach die Kunden, wie ein vernünftiges Bahnpreissystem gestaltet werden soll? Das wissen die Kundinnen
und Kunden der Bahn doch am allerbesten.
({12})
Ich glaube, der Vorstand der Bahn hat kein einziges
Mitglied mehr, das gelernter Eisenbahner ist. Aber es
gibt dort jede Menge Manager aus der Flugzeug-, der
Auto- und der Rüstungsindustrie. Das finde ich bedenklich. Ich kenne bei der Bahn, aber auch in vielen anderen
Industriebetrieben und in Verwaltungen jede Menge qualifizierter Beschäftigter, die sehr darunter leiden, dass
Managementkonzepte von oben nach unten diktiert werden, Stichwort Global-Player-Vorgaben. Die Arbeit wird
dadurch nämlich nicht verbessert, und die Erfahrungen,
die Kompetenzen und das Fachwissen der Leute werden
nicht berücksichtigt.
Zweiter Punkt auf dem Weg zur Börsenbahn: Die
Auslandszukäufe müssen aufhören. Noch im letzten Jahr
ist Arriva mit Zustimmung der Bundesregierung für
2,7 Milliarden Euro gekauft worden; das ist noch nicht
so lange her. Herr Döring, ich bin froh, dass es in dieser
Frage auch bei Ihnen Ansätze eines Umdenkens gibt;
schließlich sitzen Sie im Aufsichtsrat der Deutschen
Bahn.
({13})
Auch die kontraproduktiven Großprojekte müssen überdacht und beendet werden.
({14})
Für diese beiden Bereiche wird jedes Jahr insgesamt
mehr Geld ausgegeben als für die gesamte Infrastruktur
in der Fläche.
Drittens. Die Pläne zur Privatisierung mit und ohne
Netz müssen endlich ad acta gelegt werden.
({15})
Die Bahn kann als gemeinwohlorientiertes Unternehmen
gut entwickelt werden; das ist ja nicht utopisch. Wenn
man sich hierzulande einmal umguckt, dann sieht man
Modelle, wie es funktionieren kann. Ich möchte als Beispiel die Region Karlsruhe nennen. Die Karlsruher Verkehrsbetriebe sind ein großes Unternehmen. Zusammen
mit Heilbronn und Pforzheim wird auf einer großen Fläche Taktverkehr organisiert. 20 Unternehmen arbeiten in
Kooperation miteinander, nicht in Konkurrenz; das
würde nämlich nicht funktionieren.
Gehen Sie einmal nach England, Frau Künast. Ich
würde Ihnen wirklich empfehlen, einmal von Cambridge
zum Flughafen London zu fahren. Da fahren Sie mit drei
verschiedenen Verkehrsgesellschaften.
({16})
Es gibt drei verschiedene Tarifsysteme, drei verschiedene Auskunftssysteme. Das ist ein Flickenteppich. Das
Chaos in England ist noch viel größer als bei uns. Die
Kunden sind noch unzufriedener, weil es eben kein System in einer Hand gibt.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das ist schade; denn ich hätte gern noch etwas zum
Schuldenstand gesagt.
Nur eine Bemerkung: 1994 sind die Schulden der
Bahn sozusagen auf null gestellt worden; inzwischen hat
die DB AG 15 Milliarden Euro Schulden. Das Schienensystem in Europa, das mit den wenigsten Zuschüssen
auskommt, ist das Schienensystem der Schweiz. Auch
das kann man in dem PRIMON-Gutachten nachlesen.
Frau Kollegin, bitte nicht noch eine Bemerkung. Sie
sind schon weit über Ihrer Redezeit.
({0})
Mein Schlusssatz: Es geht weder um eine bürokratische Behördenbahn noch um eine Börsenbahn. Wir
brauchen etwas anderes, etwas Neues.
Frau Kollegin!
Es geht darum, eine demokratische Bürgerbahn aufs
Gleis zu setzen.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Anton Hofreiter für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Leidig, es tut mir leid; aber ich muss auf
Ihren Beitrag eingehen. Das Problem bei Ihrer Darstellung ist, dass Sie offensichtlich nicht wissen, worum es
sich bei der DB AG handelt. Ihre Aussage, dass die DB
AG keine Flugzeuge habe, ist natürlich grotesk.
({0})
Wir als Bundesrepublik Deutschland sind mit BAX Global der zweitgrößte Luftfrachtlogistiker der USA, und
Sie sagen, Sie wollten nichts privatisieren. Wollen Sie
denn die Luftfrachtlogistik in der USA als Behörde organisieren?
({1})
Werfen Sie uns vor, dass wir schon damals diese internationalen Abenteuer, die nichts mit der Bundesrepublik
Deutschland, nichts mit dem Steuerzahler zu tun haben,
abstoßen wollten? - Entschuldigen Sie, das ist grotesk.
({2})
Die Vorstellung der Bundesregierung war allerdings
auch interessant. Wir haben hier einen Minister, der lobt.
Wir haben einen Minister, der sich freut. Wir haben einen Minister, der ermahnt. Wir haben Koalitionäre, die
prüfen wollen. - Geprüft wurde lange genug, ermahnt
auch; freundliche Worte sind viele gefallen. Es ist endlich an der Zeit, dass im Bereich der Bahn gehandelt
wird.
({3})
Manchmal könnte man meinen, Sie wären an dieser
Regierung bzw. an dieser Koalition gar nicht beteiligt.
Sie freuen sich darüber, dass es bei der Bahn mal besser,
mal schlechter geht. Aber wer ist denn der Eigentümer
der Bahn? Das ist zu 100 Prozent die Bundesrepublik.
Da hilft es uns nichts, wenn Herr Ramsauer stolz erklärt,
dass er sich auf der Hauptversammlung in einem intensiven Selbstgespräch befindet.
({4})
Teilweise wurde sogar gehandelt. Das Problem ist,
dass nichts Vernünftiges dabei herausgekommen ist. Die
Mauteinnahmen, die unter Rot-Grün im Rahmen einer
integrierten Verkehrspolitik allen drei Verkehrsträgern
zur Verfügung gestellt worden sind, werden jetzt allein
der Straße zur Verfügung gestellt.
({5})
Das war die erste Handlung.
Ich komme zur nächsten Handlung und damit zu dem
völlig grotesken Vortrag von Frau Winterstein, die in
massive Opposition zu sich selbst getreten ist; denn Sie
hat wortreich beklagt, dass Arriva von der DB AG gekauft worden ist. Es stellt sich die Frage: Wann ist Arriva gekauft worden? Es war im letzten Jahr. Erinnern
Sie sich, wer letztes Jahr regiert hat? Ich glaube, es war
eine schwarz-gelbe Koalition.
({6})
Aber vielleicht waren Sie damals noch nicht an dieser
Koalition beteiligt. Man konnte den Eindruck gewinnen,
dass Sie nur mit sich selbst beschäftigt waren. - Frau
Winterstein tritt also in Opposition zu sich selbst.
({7})
- Ah, die Bundesregierung hat mit Ihnen nichts zu tun.
Das ist tröstlich.
({8})
Was war die nächste Handlung? Die nächste Handlung war, dass man von der Bahn eine Zwangsdividende
von 500 Millionen Euro im Jahr verlangt hat. Nun ja, die
Bahn bekommt 3,6 bis 3,9 Milliarden Euro pro Jahr
- das ist von Jahr zu Jahr etwas unterschiedlich - aus
dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt.
({9})
Neben diesen Haushaltsmitteln gibt es noch etwa
7 Milliarden Euro an Regionalisierungsmitteln. Man
hätte natürlich auch ehrlich sein und sagen können: Wir
sind nicht in der Lage, die Bahn weiter vernünftig zu finanzieren, also kürzen wir etwas. Dann wäre es aber für
jeden offensichtlich gewesen. Was hat man stattdessen
gemacht? Man hat „rechte Tasche, linke Tasche“ gespielt. Zuerst geben Sie ihr fast 4 Milliarden Euro, und
dann nehmen Sie ihr davon wieder 500 Millionen Euro
weg. Das ist eine unehrliche, verschleiernde Politik.
({10})
Was ist jetzt am dringendsten nötig, nachdem die
Bahn-Maut abgeschafft wurde, eine Zwangsdividende
von 500 Millionen Euro gezahlt wurde und 2,7 Milliarden Euro an Eigenmitteln der Bahn verschleudert worden sind, um Marktführer in Großbritannien beim Busverkehr zu werden?
({11})
Als erster Schritt sind die Gewinnabführungs- und
Beherrschungsverträge aufzuheben.
({12})
Die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge haben durchaus etwas mit der Qualität dieses Netzes zu
tun;
({13})
denn wenn die DB Netz AG „ausgepresst“ wird, diese
Gelder in die Holding fließen und die Holding internationale Abenteuer eingeht, dann steht das Geld nicht
mehr für Reinvestitionen ins Netz zur Verfügung.
({14})
Deshalb sind die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge aufzuheben. Dann stehen die gesamten
Gewinne aus dem Netz der DB Netz AG zur Verfügung
und können reinvestiert werden. Das gilt nicht nur für
die DB Netz AG, sondern auch für die DB Station & Service AG und selbstverständlich auch für die DB Energie
GmbH. Warum schauen die Bahnhöfe denn teilweise so
schlecht aus? Weil die Stationsgebühren, die für jeden
Zug und damit durch jeden, der in diesem Zug fährt, bezahlt werden, nicht in die Stationen reinvestiert, sondern
an die Holding abgeführt werden, um für lustige Abenteuer weltweit verschwendet zu werden.
({15})
Was ist als Nächstes notwendig? Als Nächstes ist die
reale Trennung von Netz und Transport durchzuführen.
Warum ist das notwendig? Wir brauchen eine unabhängige Infrastrukturgesellschaft, die direkt beim Bund angesiedelt ist. Das einzige Geschäftsfeld dieser unabhängigen Infrastrukturgesellschaft muss sein, so gut es geht
Trassen zu vermarkten, damit jeder, der auf diesen Trassen fährt, pünktlich fahren kann und eine gute Qualität
vorfindet; denn nur in einem gut unterhaltenen Netz ist
es möglich, den Bahnverkehr pünktlich und ordentlich
durchzuführen. Das interessiert die Leute.
Hören Sie deshalb endlich auf, zu mahnen, glücklich
zu sein, sich zu freuen und sich hinter Mitarbeitern zu
verstecken, Herr Minister! Sorgen Sie für StrukturentDr. Anton Hofreiter
scheidungen! Handeln Sie endlich! Dann bekommen Sie
auch unsere Unterstützung.
Danke.
({16})
Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Hofreiter, ich bin ein glücklicher
Mensch.
({0})
Kollege Pronold, Sie haben einen Slogan von 1966 zitiert und gesagt, wie gut man damals mit der Bahn gefahren ist. - Wir beide noch nicht; wir sind dafür zu
jung. - Ich darf daran erinnern: Bis 1966 war die SPD
noch nie an der Regierung. In diesem Sinne denke ich an
Rudi Carrell: „Wann wird’s mal wieder richtig
Sommer?“ Sie wollten den Frühling. Ich freue mich auf
den Sommer, weil wenn etwas schiefläuft: „Schuld daran ist nur die SPD“.
({1})
- Bitte schön.
Lassen Sie mich auf Ihren Antrag eingehen. Ihr Antrag liest sich im ersten Moment geradezu abenteuerlich.
Als ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, habe ich überlegt, wer das wohl geschrieben hat. Das war entweder
ein Mitarbeiter, der erst seit ein paar Tagen für Sie arbeitet, oder jemand, der nicht weiß, was Sie elf Jahre lang
gemacht haben.
({2})
- Ja, natürlich, im Zweifel war es der Referent; aber man
sollte den Text zumindest vorher durchlesen.
Herr Beckmeyer, Sie beklagen das Schneechaos. Sie
sagen, die Bahn habe den Ausfall des Straßen- und Flugverkehrs auffangen müssen. Die Bahn hat über eine
halbe Million zusätzlicher Passagiere aufgenommen.
Wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie mit Ihrem Antrag elf Jahre Regierungspolitik der SPD im Verkehrsministerium überdecken wollen und sagen: Das ist
vergessen; das haben wir verdrängt. - Ich sage Ihnen
ganz offen: Das ist ein Versuch von Regierungsamnesie,
den wir Ihnen definitiv nicht durchgehen lassen.
({3})
- Das steht da drin.
Ich zitiere aus Ihrem Antrag. Dann werden Sie sehen,
wie abenteuerlich das Ganze ist. Für wie vergesslich halten Sie eigentlich die Menschen in unserem Land? Sie
schreiben - ich zitiere -:
Die Ursachen hierfür lassen sich nicht auf kurzfristige Störungen des Betriebsablaufs der Deutschen
Bahn AG zurückführen, sondern sind das Ergebnis
einer verfehlten Unternehmenspolitik.
Ich ergänze noch einmal: Sie haben im Ministerium die
Unternehmenspolitik elf Jahre lang bestimmt, davon sieben Jahre - Kollegin Künast und Kollege Hofreiter, ich
kann Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen - zusammen mit den Grünen.
({4})
Im Endeffekt wollen Sie die Epoche verfehlter SPD-Verkehrspolitik mit einem Winter und ein bisschen Schnee
zudecken. Das lassen wir Ihnen aber nicht durchgehen.
({5})
Sie sollten eines nicht vergessen - das wurde schon
mehrfach angesprochen -: Es war Ihr Kanzler Schröder,
der Mehdorn zum Bahnchef gemacht und auf den Börsengang gesetzt hat. Kollege Hofreiter, Kollegin Künast,
auch Sie saßen in diesem Boot. Wenn jetzt plötzlich eine
von „betriebswirtschaftlichen Renditegesichtspunkten“
geprägte Politik kritisiert wird, dann muss man feststellen: Das war Ihre Politik. Diese Kritik haben Sie sich
selbst zuzuschreiben. Ihnen ging es nur um Gewinnmaximierung; es ging darum, die Bahn börsentauglich zu
machen.
({6})
Inzwischen wissen wir alle, dass es Infrastruktur nicht
zum Nulltarif gibt. Wir wissen auch: Wenn wir heute bei
der Infrastruktur sparen, bezahlen wir morgen und übermorgen doppelt dafür.
({7})
- Frau Künast, Sie waren schon dran. - Wir müssen uns
auch an anderen Stellen im Haushalt überlegen, wie wir
Infrastruktur finanzieren. Sie müssen dann aber auch so
ehrlich sein und das in anderen Ausschüssen, zum Beispiel im Ausschuss für Arbeit und Soziales, auf den
Tisch bringen; denn die wunderbare Geldvermehrung
gibt es nicht, nicht einmal in Nordrhein-Westfalen. Infrastruktur kostet Geld. Seien wir so ehrlich, und geben wir
das Geld auch dafür aus.
({8})
Verkehrsminister Peter Ramsauer hat deutlich gemacht:
Das Umdenken im Ministerium hat mit der Übernahme
des Ministeriums durch die CSU begonnen.
({9})
Sie reden von Zwangsdividende. Ich sage Ihnen: Wir
haben eine Zwangserbschaft von Ihnen übernommen.
Leider konnten wir sie, anders als im privaten Leben,
nicht ausschlagen. Wir müssen nun an dieser Situation
arbeiten, um sie in Ordnung bringen.
({10})
Meine Damen und Herren, natürlich ist die Bahn auch
selber gefordert. Man kann nicht immer nur vom Brotund-Butter-Geschäft reden und dann Wasser und Brot
vorsetzen. Es geht sehr wohl darum, dass die Bahn von
sich aus eine Qualitätsoffensive, eine Pünktlichkeitsoffensive und vielleicht auch eine Charmeoffensive anstrengt, aber man muss auch das Gute sehen. Viele von
uns haben am Freitag vor der Weihnachtspause versucht,
nach Hause zu kommen.
({11})
- Ich auch, Kollege Beckmeyer. - Anders als mit dem
Flugzeug, wozu ich keine Informationen hatte, bin ich
mit der Bahn nach Hause gekommen; es gab auch die
nötigen Informationen. Das war alles nicht so schlecht,
wie es heute dargestellt wird.
Wer hat denn die Ausbesserungswerke geschlossen?
Wer hat den Wagenpark reduziert? Das waren Sie.
({12})
- Das war Ihre Politik. - Deshalb ist Ihr Antrag doppelt
scheinheilig.
Frau Leidig hat davon geredet, dass auf Verschleiß
gefahren wird.
({13})
Liebe Kollegin Leidig, wenn Sie die Einzigen wären, die
nicht auf Verschleiß fahren, dann würde ich Ihnen vielleicht zustimmen. Aber Sie sind diejenigen, die mit Ihrem Weg in den Kommunismus mit dem real existierenden Sozialismus ein ganzes Land auf Verschleiß
gefahren haben. Sie haben nicht nur einen Zug, sondern
nicht mehr und nicht weniger als ein ganzes Land auf
Verschleiß gefahren.
({14})
Wir mussten dann die Infrastruktur und die Waggons,
die wir kaputt übernommen haben, wieder aufbauen.
Meine Damen und Herren, wir stellen uns der Mammutaufgabe Bahn. Unser Verkehrsminister hat sofort
nach Regierungsantritt diese Aufgabe wahrgenommen.
Er hat sehr genau geprüft, was funktioniert und was
nicht.
({15})
Er hat - auch das gehört dazu - Führungspersonal ausgewechselt.
({16})
Es gehört auch Mut dazu, zu sagen: So geht es nicht weiter.
Ich lade Sie ein: Machen Sie mit beim Projekt zukunftssichere Bahn! Denn wir freuen uns auf Schnee und
Kälte im Winter und Sonne und Hitze im Sommer. Wir
reden über das Wetter. Wir freuen uns auf die Jahreszeiten. Wir fahren dem Klima zuliebe Bahn und sind glückliche Menschen.
({17})
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Burkert von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Ich bin selbst Eisenbahner.
({0})
Eisenbahner ist man mit Leib und Seele. Ich komme aus
einer Eisenbahnerfamilie und bin damit großgeworden.
Deswegen weiß ich, was die Kolleginnen und Kollegen
vor Ort das ganze Jahr über mitmachen und vor allem in
den letzten Wochen mitgemacht haben.
Ich möchte zu Beginn etwas loswerden. Die Menschen sind zurzeit, ob zu Recht oder zu Unrecht, aus den
unterschiedlichsten Gründen unzufrieden mit der Deutschen Bahn. Ob Klimaanlagenausfall, S-Bahn Berlin
oder die Winterproblematik - das alles wurde heute angesprochen -: Es gibt immer mehr verärgerte Kundinnen
und Kunden.
Wer bekommt den Ärger als Erster ab? Wer bekommt
den Ärger am heftigsten ab? Das sind nicht die Bahnmanager am Potsdamer Platz. Es ist auch nicht das Bundesverkehrsministerium. Es ist auch nicht der arme Herr
Minister. Nein, es sind die Kolleginnen und Kollegen in
den Service Points und Fahrkartenausgaben und die
Zugbegleiter in den Zügen.
({1})
Hinzu kommen die Kolleginnen und Kollegen in den
Werken, die massenhaft Überstunden leisten und an ihre
Grenzen gegangen sind. Nicht zu vergessen sind auch
die Gleisarbeiter, die in diesem Winter unter Lebensgefahr die Weichen von Schnee befreien, um die Strecken
wieder befahrbar zu machen. Adam Smith hat einmal
sinngemäß gesagt: Der Betrieb einer Eisenbahn ist zu
95 Prozent Mensch
({2})
und zu 5 Prozent Stahl. Die Kolleginnen und Kollegen
bei der Bahn halten den Betrieb am Laufen, wie es vor
allem in diesem Winter in den zurückliegenden Wochen
der Fall war. Ihnen gebührt heute ausdrücklich der Dank.
({3})
Herr Minister, wie wollen Sie diesen Menschen erklären, dass Sie auf einer Dividende in Höhe von 500 Millionen Euro im Jahr bestehen? Ich empfehle Ihnen, sich
mit Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern zusammenzusetzen. Was passiert denn da? Es gibt noch 16 sogenannte C-Werke. Das sind große Instandhaltungswerke,
in denen beispielsweise ICEs gewartet werden. Wir hatten einmal 28. In den letzten 15 Jahren sind 12 Werke
geschlossen worden, von Opladen über Leipzig-Engelsdorf bis nach München-Freimann, um nur ein paar zu
nennen.
({4})
Im Jahre 2000 waren ungefähr 12 000 Mitarbeiter in der
Instandhaltung der Deutschen Bahn AG beschäftigt. Aktuell sind es noch 6 900. Ich sage Ihnen, Herr Minister:
Sie haben einiges angekündigt. Wenn Sie etwas tun wollen - es gibt noch eine Standardsicherung für fast zwei
Jahre -, dann gehen Sie nach Chemnitz und Zwickau.
Dort wird schon über Werksschließungen gesprochen.
Das ist - nur am Rande - auch in industriepolitischer
Hinsicht wichtig; denn dort ist die Bahn der zweitgrößte
Arbeitgeber.
Sie haben in den letzten Tagen publikumswirksam
- zu Recht - eine Menge kritisiert. Aber in der jetzigen
Situation wollen Sie dem Bahnkonzern jedes Jahr
500 Millionen Euro Dividende entziehen. Mit Verlaub,
meine Damen und Herren von der Koalition, es ist doch
absurd, eine solche Forderung umzusetzen.
({5})
Sehr geschätzter Herr Kollege Fischer, Sie sind ein alter
Hase, haben reichhaltige Erfahrung und waren schon vor
der Bahnprivatisierung Mitglied des Parlaments. Sie
müssten doch am besten wissen, was passiert, wenn
500 Millionen Euro entzogen werden. Das Geld wird in
allen Unternehmensbereichen eingesammelt, Million für
Million. Das geht beim Netz los und endet bei der BahnLandwirtschaft.
({6})
Jeder muss seinen Beitrag dazu leisten. Das heißt, es
wird wieder auf Kante gefahren. Gemacht wird nur noch
das, was das EBA will. Alles andere wird geschliffen.
Das ist die Problematik, vor der wir stehen. Sie haben
die Situation verschärft.
({7})
Jetzt kündigen Sie, Herr Dr. Ramsauer, den Rückkauf
von zehn Reisezugwagen und die Anmietung von elf
Wagen aus der Schweiz an. Auch der TGV soll kommen.
Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Zug wieder öffentlichkeitswirksam in Deutschland begrüßen werden. Aber
wissen Sie eigentlich, Herr Dr. Ramsauer, wie viele
ICEs wir mit 500 Millionen Euro kaufen könnten?
16 ICEs! Diese hätten uns insbesondere in einem solchen Winter wie diesem gutgetan. Hier sollte die Bahn
Investitionen tätigen.
({8})
Ich bin genauso wie mein Kollege Beckmeyer der
Meinung, dass wir eine ehrliche Bilanz brauchen, eine
Bilanz über 15 Jahre Bahnreform. Es gibt Gutes und
Schlechtes. Bevor wieder Zurufe kommen: Keiner ist
frei von Fehlern. Aber Sie, Herr Minister, sind jetzt der
amtierende Verkehrsminister und sind in der Verantwortung. Die Menschen wollen von Ihnen Antworten hören.
Ich habe heute Morgen im Ausschuss gedacht: „Er hat
wieder nichts gesagt“, und auf die jetzige Debatte gehofft. Nun ist die Debatte fast am Ende. Landesgruppenchef bei der CSU ist Herr Friedrich; ich bin es bei der
SPD. Ich habe gedacht, dass Sie in die Rolle des Landesgruppenchefs zurückfallen. Sie haben heute wieder nicht
gesagt, was Sie eigentlich tun wollen.
Symptomatisch für den Stellenwert der Eisenbahn in
Ihrem Hause ist, dass Sie nicht den von mir geschätzten
Parlamentarischen Staatssekretär Ferlemann - dafür
wird es sicherlich gute Gründe gegeben haben; das will
ich überhaupt nicht bestreiten -, sondern den Autofreund
Scheuer zu der Ausschusssitzung am letzten Mittwoch,
in der es um viele Bahnthemen ging, mitgebracht haben.
({9})
Fakt ist: Die Schiene in Deutschland hat unter der jetzigen Regierung keine Vorrangstellung mehr. Das zeigt
die ganze Prioritätensetzung in Ihrem Haus. Das ist der
eigentliche Kardinalfehler in der gesamten Verkehrspolitik.
({10})
Sommer ist die Zeit, in der es zu heiß ist, um das zu
tun, wozu es im Winter zu kalt war.
Dieses Zitat stammt nicht von mir. Das hat Mark
Twain am Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt. Wenn
man sich das Jahr 2010 anschaut, dann kann man eine
Ahnung davon bekommen, was Mark Twain in weiser
Voraussicht damit gemeint hat. Im Sommer ist es zu
heiß, im Winter zu kalt, um Zug zu fahren. Ich finde, der
Bahn steht der alte und heute schon oft zitierte Spruch
„Wir fahren bei jedem Wetter“ viel besser an. Dahin
müssen wir wieder kommen, Herr Minister.
({11})
Deshalb verzichten Sie doch in Gottes Namen auf
diese 500 Millionen Euro Zwangsdividende! Legen Sie
ein Sofortprogramm auf, um kurzfristig die aktuellen
Störungen im Betriebsablauf zu beseitigen! Investieren
Sie endlich ausreichend in die Instandhaltung, wie Sie es
angekündigt haben! Nehmen Sie endlich Ihre Aufgabe
als Eigentümer der Deutschen Bahn AG wahr! Stellen
Sie außerdem sicher - auch über die Länder, reden Sie
mit den Ländern -, dass genügend Reservekapazitäten
an Fahrzeugen aufgebaut werden! Auch die Länder sind
bei der Bestellung von Fahrzeugen im Regionalverkehr
in der Verantwortung. Stoppen Sie den Abbau von Personal! Und zu guter Letzt: Legen Sie endlich ein nachhaltiges Konzept zum Schienenverkehr in Deutschland
und in Europa vor!
Herr Minister, fangen Sie endlich an, zu arbeiten, anstatt immer nur anzukündigen! Beschäftigen Sie sich
endlich mit der Bahn! Werden Sie zur Lokomotive, die
die Bahn zuverlässig durch alle Wetter zieht! Sonst - so
ist meine Befürchtung - enden Sie als Hemmschuh auf
einem Abstellgleis, und das wollen wir alle wahrlich
nicht.
({12})
Das Wort hat der Kollege Hans-Werner Kammer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! An den Anfang meines Beitrags möchte ich
einen Dank an diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen, die durch ihren unermüdlichen Einsatz
dafür gesorgt haben, dass der Verkehrsbetrieb in
Deutschland im letzten Dezember weitestgehend aufrechterhalten werden konnte.
Im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages
herrscht über die Parteigrenzen hinweg Einigkeit darüber, dass die Situation aller Verkehrsträger, insbesondere auch der Bahn, in diesem Winter desaströs war. Daher gebührt unserem Verkehrsminister, Dr. Ramsauer,
ein besonderer Dank dafür, dass er die Bahn zur Chefsache erklärt hat. Das ist die richtige Weichenstellung für
die Zukunft. Er hat hier auch Finanzierungsmöglichkeiten angesprochen.
Eine Vielzahl von Ursachen hat zu den erheblichen
Beeinträchtigungen im Bahnverkehr geführt. Wir müssen uns dieser Ursachen annehmen und sie so schnell
wie möglich beseitigen. Dabei müssen wir ehrlich sein.
In Anbetracht der Versäumnisse in elf Jahren SPD-Verkehrspolitik wird dies nicht von heute auf morgen geschehen können.
Die Wetterlage im Dezember 2010 hat die Probleme
bei der Deutschen Bahn schonungslos offenbart. Es gibt
keinen Zweifel, dass sowohl auf technischer als auch auf
organisatorischer Seite erhebliches Optimierungspotenzial besteht. Die Frage ist allerdings, wo die Grenze zwischen dem technisch Machbaren und dem finanziell Vertretbaren verläuft. Wenn die Bahn ausreichend Kapazität
vorhielte, um einen Winter wie diesen problemlos zu bewältigen, entstünden erhebliche Mehrkosten, die dann
von den Fahrgästen getragen werden müssten. Hier werden wir auch weiterhin - dies gilt für alle Verkehrsmittel
gleichermaßen - Kompromisse schließen müssen.
So wie bisher kann es allerdings nicht bleiben. Die
Benutzung der Bahn darf nicht zu einem Glücksspiel
werden. Hierzu haben wir bereits Beiträge gehört. Auch
ich habe in diesem Winter leider einige Male auf die falsche Fahrkarte gesetzt.
Die entscheidende Ursache ist jedoch, dass eine im
Wesentlichen verfehlte Verkehrspolitik der letzten Jahre
der Eisenbahn nicht den Stellenwert eingeräumt hat, den
dieses Verkehrsmittel verdient. Investitionen unterblieben. Es wurde von der Substanz gelebt. Die Hysterie um
den Börsengang der Bahn und die damit verbundene Bilanzkosmetik haben entscheidend dazu beigetragen.
({0})
- Ich komme gleich auch noch zu Ihnen. - Daher begrüße ich es, dass unser Verkehrsminister der Sanierung
einer lebenswichtigen Infrastruktur Vorrang vor einem
prestigeträchtigen, in Wirklichkeit aber für das Gemeinwohl ruinösen Börsengang einräumt.
Ich warne davor, gleich wieder in das andere Extrem
zu verfallen und die gute alte Behördenbahn herbeizusehnen. Die Gründe, die für die Privatisierung der Bahn
ausschlaggebend gewesen sind, gelten noch heute. Wir
brauchen eine solide Basis für die Eisenbahn des
21. Jahrhunderts.
({1})
Nun zu den Anträgen. Dass die Linke den Kommunismus wiederhaben will, war für mich keine Überraschung. Das ist deren ideologische Bankrotterklärung.
({2})
Dass die Linke aber nun ernsthaft die Reichsbahn der
DDR mit der jetzigen DB AG vergleicht, erstaunt sogar
mich. Das ist nämlich eine intellektuelle Bankrotterklärung.
({3})
Ich frage mich, wes Geistes Kind Politiker sind, die
die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit von 280 auf
200 km/h aufgrund besonderer Witterungseinflüsse mit
den Magistralen der DDR - Strecken, auf denen permanent langsam gefahren werden musste - vergleichen.
({4})
- Das steht in Ihrem Antrag. - Dort waren nur 30 oder
40 km/h erlaubt, und zwar das ganze Jahr über. Das kann
für uns wirklich kein Vorbild sein.
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Fragen Sie die
Bahnexperten!
Wer, wie die Linken in der Bundeshauptstadt, Verantwortung trägt und nicht in der Lage ist, den schwächsten
Verkehrsteilnehmern, nämlich den Fußgängern, freie
Wege zu bieten, dem würde ich nicht einmal eine Modelleisenbahn anvertrauen.
({5})
Ein ähnliches Niveau zeigt die Argumentation von
Bündnis 90/Die Grünen. Wenn ein unbefangener Betrachter die Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen liest, wird ihm alles Mögliche einfallen, nur nicht,
dass die rot-grüne Koalition 1999 Herrn Mehdorn installiert und Kurs auf die Börse genommen hat. Aufrichtigkeit ist, wenn man sich zu seinen Fehlern bekennt.
({6})
Jetzt wurde auch noch der Begriff der Zwangsdividende aus dem Fundus geholt. Was sich brutal anhört, ist
jedoch in Wirklichkeit nur das, was auch die Damen und
Herren der Opposition immer fordern: Der Bund steckt
dieses und noch viel mehr Geld in den Infrastrukturausbau. Anders gesagt: Kein Euro aus der Gewinnabführung wird für den Erwerb ausländischer Logistikunternehmen ausgegeben. Jeder Cent landet in Deutschland.
Noch weniger überzeugend, muss ich allerdings sagen, argumentiert die SPD. Ich habe in einer Zeitung aus
meinem Wahlkreis gelesen, dass man interessanterweise
gesagt hat: Damit die Fahrgäste nicht belästigt werden,
solle man die Baustellenzeiten einfach verlängern. Ich
weiß nicht, ob das sinnvoll ist und zur Erleuchtung beiträgt. Wenig überzeugend sind also Ihre Argumente,
Herr Beckmeyer.
Sie sagen: Oberstes Ziel muss es sein, die Bahn für
den Sommer und für den Winter wieder fitzumachen. In
Wirklichkeit aber scheinen hier einige unter Amnesie zu
leiden; denn wenn der rot-grüne Tsunami die Struktur
der Bahn nicht verwüstet hätte, müssten wir diese Diskussion nicht führen. Dann hätten wir nämlich diese
Schwierigkeiten heute nicht.
({7})
Wir müssen in die Zukunft blicken. Viele der auch
von meinen Vorrednern geschilderten Schwierigkeiten
sind leider nicht von heute auf morgen zu beheben. Dazu
sind die Schäden, die die rot-grünen Verkehrspolitiker
verursacht haben, einfach zu groß.
Wir werden die Weichen stellen für eine leistungsfähige Schieneninfrastruktur, die dem Industriestandort
Deutschland angemessen ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die von ihr getragene Koalition sind
sich ihrer Verantwortung zu allen vier Jahreszeiten bewusst und werden die Verantwortung nicht der Opposition auf der linken Seite überlassen; denn dann wäre in
Deutschland wahrscheinlich Stillstand oder finstere
Nacht.
Herzlichen Dank.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dirk Fischer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Pronold hat die SPD-Eröffnungsrede à la
„Wenn früh die liebe Sonne lacht, hat das die SPD gemacht“ gehalten. Die SPD war noch niemals für den
Schienenverkehr in diesem Lande verantwortlich. Die
SPD kann sich an keinen Namen eines SPD-Verkehrsministers erinnern. Wie traurig für Leber, Lauritzen,
Gscheidle, Hauff, Müntefering, Klimmt, Bodewig,
Stolpe und Tiefensee. Aber zu deren Trost muss ich sagen: Ihre Bilder hängen noch im Ministerium.
({0})
Im Übrigen hat mir die Eröffnungsrede der Union viel
besser gefallen;
({1})
denn eben ging eine SMS der Enkelin von Arnold Vaatz,
Ida, mit dem Text ein: Opi, gute Rede. - Wenn Ida das so
sieht, dann dürfen wir dem Kollegen Vaatz für seine
Rede noch einmal Beifall und Anerkennung zollen.
({2})
Verehrte Kollegen der SPD, Sie können sagen, was
Sie wollen: Die Probleme der Berliner S-Bahn sind eindeutig - das können Sie nicht wegschummeln - eine Altlast der SPD-Minister und von Herrn Mehdorn. Das ist
eine Tatsache, und diese Altlast muss jetzt bereinigt werden.
({3})
Im Übrigen zum Thema Dividende: Nach meinem
Verständnis ist bei einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung geboten, dass die Aufwendungen für die Wartung des rollenden Materials, der Netze, der Bahnhöfe
und aller anderen Anlagen getätigt werden, bevor überhaupt von Gewinn oder Dividende geredet werden kann.
({4})
Wenn Herr Mehdorn die Kosten so radikal gesenkt hat
- übrigens: als Sie Verantwortung trugen -, um im Hinblick auf die Kapitalmarktfähigkeit eine besonders
schöne Bilanz vorzuweisen, dann ist dies ein Mangel an
ordnungsgemäßer Geschäftstätigkeit gewesen. Das ist
eindeutig.
({5})
Dirk Fischer ({6})
Ich will Sie, Herr Kollege, daran erinnern, dass der
von Ihnen so sehr verehrte Herr Mehdorn am letzten
Sonntag in einem Interview mit der FAZ-Sonntagszeitung wörtlich gesagt hat:
Es ist völlig in Ordnung, wenn der Bund als Gesellschafter eine Dividende von der DB AG erhält,
wenn sie Gewinn macht.
Ich sage: Das ist auch in Ordnung; denn der Bundeshaushalt hat sich in einem hohen Maße auch verschuldet,
weil er in das System Schiene investiert hat. Da muss
doch über den Gewinn die Refinanzierung der Staatsschuld möglich sein - nach einer ordnungsgemäßen Geschäftstätigkeit und Gewinnermittlung.
({7})
Im Übrigen erhält das System Schiene aus dem Haushalt jährlich etwa 20 Milliarden Euro, fast 4 Milliarden
Euro für den Unterhalt und die Erneuerung des Netzes
sowie den Neu- und Ausbau des Netzes, 7 Milliarden
Euro Regionalisierungsmittel für steuerfinanzierten Umsatz - jeder andere Verkehrsträger wäre dankbar, wenn
er einen steuerfinanzierten Umsatz erhielte -,
9 Milliarden Euro gibt es für die Altlastenbeseitigung im
Bereich der Schiene und für das Bundeseisenbahnvermögen. 20 Milliarden Euro unter diesen Haushaltsbedingungen - kaputtsparen sieht für mich anders aus.
({8})
In jüngerer Zeit, Herr Kollege Beckmeyer, waren
über elf Jahre fünf SPD-Verkehrsminister für Verkehrspolitik verantwortlich. Daher kann ich Ihnen in der jetzigen Debatte einige Gedächtnisstützen nicht ganz ersparen. Herr Mehdorn war davon beseelt, mit Sack und
Pack, mit Netz und Bahnhöfen und allem Drum und
Dran - das war das integrierte Modell - in den Kapitalmarkt zu gehen. Er wollte die Verbindungen zur Politik
abschneiden, den goldenen Zügel des Geldes allerdings
nicht. Dann haben Ihr SPD-Verkehrsminister und Ihr
SPD-Finanzminister ausgerechnet bei einer Investmentbank ein Gutachten zu der Frage bestellt, mit welchem
Strukturmodell das geschehen solle, wo doch jeder Investmentbanker sagt: Mit allem Drum und Dran. - Das
ist doch erheblich für die Tantiemen.
({9})
Das heißt, mit diesem Gutachten, das ein bestimmtes
Strukturmodell empfahl und das unter einer rot-grünen
Bundesregierung von einem SPD-Verkehrsminister und
einem SPD-Finanzminister in Auftrag gegeben worden
ist, hat man im Grunde genommen schon die Leute in
die Irre geführt.
({10})
Es ist doch nachgerade abenteuerlich, dass Sie damals
die Vorstellung hatten, ein Anlagevermögen von mehr
als 120 Milliarden Euro nach der Ertragswertmethode
für 8 bis 9 Milliarden Euro in den Kapitalmarkt zu bringen. Ich will hier ein ganz hartes Wort vermeiden. Aber
wer so gegenüber dem Staatsvermögen und dem Steuerzahler handelt, der ist nach meiner Meinung sehr am Limit. Dessen Verhalten könnte ganz anders bezeichnet
werden. Allein der Berliner Hauptbahnhof hat über
5 Milliarden Euro gekostet. Es gibt aber noch die Bahnhöfe in München, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Köln
und Hannover und das ganze Netz usw. obendrauf. Dies
ist nach meiner Auffassung den steuerzahlenden Bürgern, den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften bei
der DB AG in Erinnerung zu rufen, wenn die SPD jetzt
auf reine Lehre macht.
({11})
Ich will an ein Weiteres erinnern. Nach vier Häutungen in der Legislatur 2005 bis 2009 sagt die SPD jetzt:
gar kein Privatkapital, noch nicht einmal für die Logistikunternehmen. - Herr Tiefensee hat als Minister aus
tiefer innerer Überzeugung nacheinander vier Modelle
vertreten: erst, dem Willen Mehdorns entsprechend, das
eben dargestellte integrierte Modell, dann das besonders
tückische, vom Namen her völlig irreführende Eigentumssicherungsmodell - das war in Wahrheit das Gegenteil -,
({12})
dann das Holding-Modell, wie wir es jetzt haben, mit einer Teilprivatisierung der operativen Gesellschaften des
Personen- und Güterverkehrs, also DB ML. Am Ende
dann: Privatkapital ist sowieso des Teufels. - Diese Position eignet sich nach meiner Auffassung allenfalls für
den Schulterschluss mit den Linken, taugt aber nicht für
eine Aufstellung dieses Unternehmens im deutschen und
europäischen Wettbewerbsmarkt.
({13})
Dann will ich daran erinnern, Herr Kollege
Beckmeyer, dass Verkehrsminister Bodewig vorher
schon zum Parteitag der Grünen nach Stuttgart geeilt
war.
({14})
und für die Trennung von Netz und Betrieb plädiert hat.
({15})
Er hat wörtlich gesagt: Die Trennung von Netz und Betrieb ist nicht mehr die Frage des Ob, sondern nur noch
des Wie. Das weiß auch Herr Mehdorn.
({16})
Dann kam er nach Hause. Inzwischen war Mehdorn bei
Schröder. Herr Bodewig wurde umgekippt. Er ist nicht
umgekippt; er wurde umgekippt. Die Verkehrsexpertin
der Grünen, Frau Künast, hat deswegen heute zu Recht
auch frühere Verkehrsminister der SPD einer Kritik unterzogen.
({17})
Dirk Fischer ({18})
Die Grünen - da will ich sie loben; das habe ich versprochen ({19})
sind ordnungspolitisch tausendmal besser aufgestellt als
- das muss man eindeutig sagen - der übrige Teil der linken Seite dieses Hauses.
({20})
Insbesondere die Beschlüsse des damaligen Kieler Bundesparteitags der Grünen
({21})
könnten - bis auf wenige Randziffern mit ungebührlichen Attacken auf eine große und wichtige Partei - beinahe von mir geschrieben worden sein; so sehr kann ich
zustimmen.
Die Infrastruktur - Netz, Bahnhöfe, Energie - muss
dauerhaft im Eigentum des Staates bleiben. Das ist die
Kernaussage.
({22})
Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das sind die
Lebensadern einer Volkswirtschaft - das gilt in Deutschland und in Europa -, auf denen sich der Wettbewerb
entfalten muss.
Ist das Netz in der DB AG integriert, kann ich mit
dem Strukturmodell im Moment unter einer Bedingung
leben - die Zerschlagungshorrorgeschichte von Uwe
Beckmeyer ist natürlich völlig daneben; das weiß er
auch selbst; das soll nur nach außen ein bisschen Eindruck machen -: wenn sichergestellt wird, dass die Gewinne der Infrastrukturgesellschaften in die Infrastruktur
reinvestiert werden, wir also einen Finanzierungskreislauf Schiene bekommen,
({23})
dass die Mittelzuwendungen des Bundes direkt an die
Infrastrukturgesellschaften gehen und dass die Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge zwischen DBInfrastrukturgesellschaften und der DB AG Holding aufgelöst werden; denn dies entspricht auch besser dem europäischen Recht,
({24})
das bei einem integrierten Netz strikte Wettbewerbsneutralität und unternehmerische Eigenständigkeit verlangt.
Das wäre auch eine gute Reaktion auf das gegen
Deutschland laufende EU-Vertragsverletzungsverfahren. Damit täten wir insoweit auch dem EU-Recht Genüge.
Ich kann am Ende nur sagen:
({25})
Gott sei Dank liegt das Schicksal der Bahn bei dieser
Bundesregierung, bei diesem Bundesverkehrsminister in
deutlich besseren Händen als zu SPD-Zeiten.
({26})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/4428, 17/4433 und 17/4434 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({0}) unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 ({1}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksache 17/4402 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle
das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist kein Zufall, dass der heutige Tag mit seinen
Debatten über Afghanistan und über die Lage in Afghanistan mit einer Regierungserklärung des Ministers
Niebel begonnen hat. Das bringt klar zum Ausdruck,
dass wir vordergründig nicht nur das militärische Engagement sehen dürfen, das von unseren Frauen und Männern der Bundeswehr dort geleistet wird. Da Soldaten in
so großer Anzahl anwesend sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich im Namen des ganzen Hauses bei
Ihnen und Ihren Kameradinnen und Kameraden für das,
was Sie in Afghanistan leisten, sehr herzlich zu bedanken.
({0})
Wir wissen natürlich auch - die Soldatinnen und Soldaten wissen das ganz besonders -, dass wir in Afghanistan nicht erfolgreich sein werden, wenn wir auf eine militärische Lösung setzen. Unser militärisches Engagement
dient der Absicherung der Stabilität in Afghanistan. Die
Fortschritte beim zivilen Aufbau in Afghanistan, die zu
erkennen sind, sind sehr bemerkenswert. Noch nie hat
sich eine Bundesregierung beim zivilen Aufbau in Afghanistan so umfangreich engagiert wie diese Bundesregierung. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel für den
Aufbau und für das Training der Sicherheitskräfte vor
Ort getan wie diese Bundesregierung. Ich bitte, dies bei
all Ihrer Kritik zu berücksichtigen. Die Lage war anders,
als Sie regiert haben.
({1})
Aber der zivile Aufbau und seine Absicherung im Interesse der Stabilität des Landes werden natürlich nur ein
Teil der Lösung sein können. Entscheidend ist die politische Lösung. Diese Einsicht ist der eigentliche Strategiewechsel, der vor ziemlich genau einem Jahr auf der Londoner Afghanistan-Konferenz stattgefunden hat. Damals
war dieser Wechsel noch sehr umstritten, auch in diesem
Hause. Aber es zeigt sich, dass das, was die Bundesregierung mit unseren Bündnispartnern in London ausverhandelt hat, eine richtige Entscheidung gewesen ist.
Wir werden in Afghanistan den Frieden nicht militärisch
schaffen, sondern nur durch eine politische Lösung. Das
Ziel unseres internationalen Engagements ist es daher,
eine politische Lösung zu erreichen, um Afghanistan
nachhaltig und dauerhaft zu stabilisieren, damit es auch
in der Zeit nach unserem Engagement nicht wieder Hort
und Rückzugsort des Terrorismus gegen die Welt werden kann.
({2})
Für diesen politischen Prozess ist es von großer Bedeutung, dass wir alle einbinden. Deswegen ist nicht die
Bedeutung dessen zu unterschätzen, dass auch die regionale Einbindung, das heißt die Einbindung insbesondere
der betroffenen Nachbarländer, mehr und mehr gelingt.
In London hat es mit der Afghanistan-Konferenz angefangen. Dann gab es in Kabul zum ersten Mal eine Afghanistan-Konferenz im Land selbst. Dort waren alle Beteiligten dabei. Darunter befanden sich übrigens auch die
Nachbarländer, die jahrelang nicht mitgewirkt haben.
Diese Konferenz wurde begleitet von Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan. Solche Handelsabkommen kann man von Mitteleuropa aus als leicht machbar
ansehen. Wer aber den Hintergrund der Beziehungen
zwischen den beiden Ländern kennt, der weiß, dass sie
in Wahrheit einen großen Fortschritt darstellen. Iran: Es
gibt viele Fragen - ich nenne zum Beispiel Fragen im
Zusammenhang mit dem Drogenhandel -, die nur mit
der Einbindung der Nachbarländer und mit einer entsprechenden Vernetzung beantwortet werden können.
All das hat stattgefunden.
Im Herbst des letzten Jahres gab es den Gipfel in Lissabon. Er bedeutete eine wirkliche Wegmarke. Ich will
noch einmal die vier Daten - es sind nicht drei Eckpunkte - unseres Zeitplans, unserer perspektivischen
Strategie nennen:
Erstens. In der ersten Hälfte dieses Jahres wollen wir
damit beginnen, die Sicherheitsverantwortung vor Ort in
Distrikten oder Provinzen zu übergeben.
Zweitens. Wir sind zuversichtlich, zum Ende des Jahres in der Lage zu sein, dass zum ersten Mal auch die
Präsenz unserer Bundeswehr zurückgeführt werden
kann.
({3})
Drittens. Im Jahre 2014 soll es uns gelungen sein,
dass die Sicherheitsverantwortung vollständig an Afghanistan übertragen ist. Das ist nicht nur unser Ziel, es ist
ausdrücklich auch das Ziel der afghanischen Regierung,
dass es dann keine Kampftruppen von uns mehr im
Lande geben muss.
Der vierte Punkt wird regelmäßig vergessen. Auch
nach dem Jahr 2014 muss sich Deutschland für die nachhaltige Sicherheit in Afghanistan engagieren. Täten wir
das nicht, hätten die Taliban sofort wieder das Sagen. Sie
brächten ihre Saat des Terrorismus in die Welt, und das
gesamte Engagement, zum Beispiel der Frauen und
Männer der Bundeswehr, wäre vergeblich gewesen. Wir
wären da, wo wir waren. Es darf kein zweites Mal ein
Vakuum in Afghanistan hinterlassen werden. Das ist das,
worum es uns geht.
({4})
Ich habe in der Regierungserklärung im Dezember
2010 ausführlich dazu Stellung bezogen. Entgegen dem,
was dort hineingeheimnisst wird, ist es doch völlig klar,
dass jeder Zeitplan natürlich immer auch unter dem Vorbehalt steht, dass dann die Lage tatsächlich auch so ist.
Das ist übrigens nicht erstmalig in dieses Mandat textlich aufgenommen worden, sondern das ist wörtlich das,
was ich im Dezember im Namen der Bundesregierung in
der Regierungserklärung auch gesagt habe.
({5})
Mit anderen Worten: Ende 2011 wollen wir erstmalig die
Präsenz der Bundeswehr reduzieren. Aber es ist doch
selbstverständlich, dass wir alles unter den Vorbehalt
stellen müssen: soweit es die Lage erlaubt und insbesondere unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort nicht gefährdet werden. Denn wir wollen einen unumkehrbaren,
nachhaltigen Prozess der Übergabe der Verantwortung.
Das ist das Ziel.
({6})
Wenn wir das übrigens nicht tun, wie es klar in dem
Antrag der Bundesregierung steht, - ({7})
- Lesen Sie es nach, dann wissen Sie es. Ich kann es Ihnen noch einmal vorlesen:
Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge
der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die
Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren
zu können, und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die
Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden.
({8})
Man muss kein Militärexperte sein, es reicht, wenn
Sie Ihren Menschenverstand einschalten, dann wissen
Sie, dass das der vernünftige Weg ist. Und darauf kommt
es auch an.
({9})
Herr Bundesminister, der Kollege Nouripour von den
Grünen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne, bitte sehr.
Herr Außenminister, Sie haben gerade beschrieben,
dass, wenn es möglich ist und die Sicherheitslage es erlaubt, am Ende dieses Jahres die Kontingente der deutschen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan reduziert
werden sollen. Meine Frage ist: Schließen Sie damit aus,
dass zwischenzeitlich durch den Einsatz der AWACSFlugzeuge die Mandatsobergrenze angehoben oder die
flexible Reserve dadurch angebrochen wird?
Ich unterstütze die Haltung des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in diesem Punkt,
und ich empfehle sie Ihnen auch einmal zur Aufmerksamkeit.
({0})
Der SPD-Vorsitzende Herr Gabriel - man merkt, ganz
allgemein gesprochen, dass Reisen läutert - hat heute in
einem Interview erklärt, das seien zwei unterschiedliche
Vorgänge. Deutschland hat erklärt, dass wir uns derzeit
an diesem AWACS-Einsatz nicht beteiligen,
({1})
weil unser Schwerpunkt auf dem Training und der Ausbildung liegt. Ansonsten ist es selbstverständlich, dass
wir in regelmäßigen Abständen mit unseren Bündnispartnern alles besprechen und alles überprüfen. Deswegen ist eine Frage, ob ich etwas ausschließe, vielleicht
nett für den parteipolitischen Hickhack, in der Sache ist
es absolut unangemessen, wenn man weiß, dass wir nur
in einem Bündnis gemeinsam erfolgreich sein können absolut unangemessen!
({2})
Ich sage Ihnen das auch, Herr Kollege, weil ich
glaube, dass Sie sich von der größeren Oppositionspartei, der SPD, wirklich eine Scheibe abschneiden könnten.
({3})
Diese sozialdemokratische Partei ringt mit sich, diskutiert, wägt die Argumente ab und erklärt öffentlich auf
den Antrag der Bundesregierung hin, dass sie die Absicht habe, die Soldatinnen und Soldaten nicht alleinezulassen, und sie ihnen den Rücken stärken wolle.
Bei Ihnen ist das ganz anders. Es hat noch niemals ein
Außenminister so viele Soldaten in Auslandseinsätze geschickt wie der grüne Außenminister, nur, dass Sie davon nichts mehr wissen wollen, kaum dass Sie in der
Opposition sitzen.
({4})
Es ist verantwortungslos, was Sie hier machen, verantwortungslos!
({5})
Herr Bundesminister, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Stefan Liebich von der Linken?
Ja.
Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben gerade
ein paar Passagen aus dem Text vorgelesen, der hier zur
Abstimmung steht, allerdings nicht aus dem Teil, über
den abgestimmt werden soll. Können Sie bestätigen,
dass die Bedingung, die die SPD für ihre Zustimmung
gestellt hat, im Beschlusstext des Antrags der Bundesregierung überhaupt nicht erfüllt wird und dass das, was
Sie hier vorgelesen haben, sowie jede Zahl, die einen
Abzug andeutet, lediglich in der Begründung des Regierungsantrags stehen?
Ich will Ihnen kurz antworten. Sie sind doch nicht erst
seit ein paar Wochen, sondern schon seit ein paar Monaten im Deutschen Bundestag.
({0})
Sie müssen doch wissen, Herr Kollege, bei allem Respekt, dass es immer so gewesen ist, dass wir einen Antragstext vorlegen und dass die Begründung natürlich
auch die politische Einbettung dieses Antragstextes darstellt. Soll denn der Deutsche Bundestag ernsthaft beschließen, dass die Bundesregierung zuversichtlich sei?
Ich glaube, hier sollte der Deutsche Bundestag etwas
selbstbewusster sein. Wir haben eine Parlamentsarmee
und keine Regierungsarmee. Deswegen hat dieser Deutsche Bundestag das letzte Wort; alles andere ist surreal.
({1})
Wir haben dann die Aufgabe, den Prozess, den wir
hier hoffentlich gemeinsam oder jedenfalls mit großer
Mehrheit verabschieden werden, in diesem Jahr handwerklich voranzubringen. Für die politische Lösung, die
wir anstreben, haben wir im letzten Jahr drei wichtige
Wegmarken gehabt: London, Kabul und die Konferenz
in Lissabon. In diesem Jahr werden wir eine sehr wichtige Wegmarke bei uns in Deutschland haben, nämlich
die Afghanistan-Konferenz in Bonn. Ich sage Ihnen voraus, dass diese Konferenz, die am Ende des Jahres stattfinden wird, die Schwerpunkte haben wird, um die es
geht: die politische Lösung, Reintegration, auch Aussöhnung, den Dialog. In den Mittelpunkt dieser Afghanistan-Konferenz muss aber auch die Zeit ab 2014 rücken.
Das war der Gedanke, bevor die Zwischenfragen gestellt
worden sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer heute in Afghanistan den Eindruck hinterlässt, ab 2014 sei man dort auf
sich allein gestellt, weil wir uns für die Menschen dort
nicht mehr interessieren, sie könnten machen, was sie
wollen, und sollten zusehen, wie sie klarkommen, der
wird nur erreichen, dass es weder Fortschritte bei der guten Regierungsführung sowie bei der Bekämpfung des
Drogenhandels und der Korruption noch Fortschritte im
demokratischen Prozess geben wird, den wir alle wollen.
Dann riskiert man, dass genau die Partner, die wir brauchen, um das Land auf Dauer sicher aufzubauen, nichts
mehr mit uns zu tun haben wollen, weil sie anschließend
um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten müssen.
Weil so etwas keine verantwortungsvolle Politik
wäre, wollen wir einen Prozess der Übergabe der Verantwortung in Verantwortung. Man bringt etwas verantwortungsvoll zu Ende, was man gemeinsam im Bundestag
beschlossen hat, und man enttäuscht nicht die Freunde,
die man braucht, um mit Blick auf Terrorismus auch unsere eigene Sicherheit hier in Deutschland vergrößern zu
können.
({2})
Wir haben im Rahmen unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Koordination für
Afghanistan übernommen. Ich werde deswegen regelmäßig hier im Deutschen Bundestag zu diesem Thema
sprechen. Ich gehe davon aus, dass wir darüber regelmäßig in den Ausschüssen diskutieren werden. Ich kann Ihnen zusagen, dass ich Sie - Ihre Obleute und Ihre Repräsentanten -, wo immer ich kann, über die Fortschritte
parlamentarisch auf dem Laufenden halten werde. Ich
glaube, das konnten Sie in den letzten Monaten verfolgen; das soll so fortgesetzt werden. Ich glaube nämlich,
dass eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag viel
weniger eine Angelegenheit der Politik als eine klare
Rückendeckung für die Frauen und Männer der Bundeswehr ist, die in Afghanistan ihren Kopf für unsere Freiheit und unsere Sicherheit hinhalten.
({3})
Eine solche breite Mehrheit ist auch für unsere internationalen Verbündeten, für unsere Bündnispartner wichtig, damit sie wissen: Das wird von der Politik in der
Breite getragen.
Man muss in der Politik bereit sein, Verantwortung zu
übernehmen, selbst wenn es einen in den Umfragen vielleicht das eine oder andere Prozentpünktchen kostet.
({4})
Es geht erst einmal um die Sicherheit, die Freiheit, die
Zukunft unseres Landes und Afghanistans. Meine Damen und Herren von der Opposition, von den Grünen,
Sie sollten sich ein Beispiel an den Sozialdemokraten
nehmen. Wenn ich das sage, sollte Sie das nachdenklich
machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Bundesaußenminister, ich weiß nicht, ob
Sie gedacht haben, dass Sie die Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten, insbesondere deren Redner, mit
so viel Lob irritieren könnten. Ich möchte aber zu Beginn sagen: Wir sollten bei solch einer bedeutenden Debatte schon den wichtigen Versuch unternehmen, gegenseitig Brücken zu bauen; das scheint mir bei dieser Frage
dringend notwendig.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag schwierige
Debatten über das Bundeswehrmandat erlebt; aber das,
was sich die Bundesregierung in den letzten Wochen bei
der Entwicklung dieses Mandates geleistet hat, war beispiellos:
({0})
Sie haben irritiert und provoziert; Sie haben sich in der
Regierung zerstritten. Frau Bundeskanzlerin, ich frage
Sie: Haben Sie in diesem Kabinett eigentlich eine ordnende Hand?
({1})
Wie werden Sie der Verantwortung gerecht, dass Sie bei
dieser wichtigen internationalen Frage die Führung übernehmen müssen? Ich finde, Sie haben nicht nur das Parlament verunsichert, sondern auch die Bündnispartner.
Das hat die deutsche Politik im letzten Jahr ausgemacht:
Nach der Formulierung des Mandatstextes sind zwei
Pressekonferenzen durchgeführt worden, auf denen zwei
unterschiedliche Interpretationen vorgetragen wurden.
Das halte ich bei diesem wichtigen Mandat nicht nur für
ungewöhnlich, sondern auch für eine Zumutung.
({2})
Ich habe mich schon gefragt: Wollen Sie wirklich eine
breite Zustimmung des Parlaments erreichen? Herr Bundesaußenminister, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
heute hier wichtige Feststellungen - hoffentlich für die
gesamte Bundesregierung - getroffen haben. Wir werden in den Ausschussberatungen darüber reden. Leider
waren Sie bisher nicht stark genug, um Querschüsse, insbesondere des Verteidigungsministers, zu verhindern.
Ich habe mich gefragt, ob das Primat des Politischen,
das beim Afghanistan-Mandat bisher Vorrang vor allem
anderen hatte, im Kabinett einem Primat des Militärischen gewichen ist. Ich finde, hier müssen Sie das Vertrauen wiederherstellen. Es kann doch nicht sein, dass
sich ein Verteidigungsminister hinstellt und sagt: „Ein
Kabinettsbeschluss ist mir wurscht.“ Was ist das denn
für ein Umgang mit der Öffentlichkeit, aber auch mit Ihnen im Kabinett!
({3})
Ich sage Ihnen: Am Ende ist es dieses Parlament, das
die Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan zurückführt,
nicht irgendein einzelner Minister. Es handelt sich um
eine Parlamentsarmee; das wird auch so bleiben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns Sozialdemokraten war Afghanistan immer mit politischen Zielen
verknüpft. Wir wollten, dass die Afghanen die Möglichkeit, auch die Chance haben, nach verheerenden Jahrzehnten sowjetischer Besatzung, Bürgerkrieg und Interventionen Afghanistan wieder aufzubauen. Aber das
sind politische Ziele.
Wir haben die Chance gesehen, dass diese politischen
Ziele mit Präsident Obama und dann auch mit der Londoner Konferenz verbindlich werden und dann das Militärische dem untergeordnet wird. In dem wichtigen Beschluss, der noch gilt und jetzt durch das neue Mandat
abgelöst werden soll, ist genau das aufgenommen worden, was wir diskutiert haben. Hier gebe ich Ihnen recht,
Herr Bundesaußenminister: Das war für uns in der sozialdemokratischen Partei eine schwierige Debatte. Aber
wir haben auf unseren Konferenzen über den zivilen
Wiederaufbau gesprochen, wir haben über die Polizeiausbildung gesprochen. Wir wollten, dass die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Streitkräften, den
afghanischen Behörden übergeben wird, wir haben über
Korruption gesprochen und viele andere Dinge. Das ist
in den Beschluss aufgenommen worden. Nicht das Militärische hat im Vordergrund gestanden, sondern wir haben eine Verknüpfung haben wollen. Genau das, glaube
ich, ist doch der Kern der Diskussion.
({5})
Leider, Herr Bundesverteidigungsminister, haben Sie davon abgelenkt.
Ein Abzugsplan mit militärischen Zielen, das ist doch
das Wichtige. Wir haben ein Signal in die Region, aber
auch an die afghanische Regierung geben wollen: Sie
müssen davon ausgehen, dass die internationale Gemeinschaft irgendwann die Verantwortung übergeben will.
Das wird bis 2014 der Fall sein. Dieser Abzugsplan wird
in den nächsten Tagen auch bei den Beratungen in den
Ausschüssen eine Rolle spielen.
({6})
Dann kommen Sie daher und sagen, ein solcher Abzugsplan sei leichtfertig. Wollen Sie wirklich den Bündnispartnern Kanada, den Niederlanden und den USA,
dem amerikanischen Präsidenten, Leichtfertigkeit unterstellen, wenn sie einen solchen Abzugsplan unterstützen? Diese Frage müssen Sie hier beantworten, und ich
hoffe, dass der Verteidigungsminister dies gleich tun
wird.
Herr zu Guttenberg, ich glaube, Ihr Problem bei Afghanistan ist, dass Sie nur noch durch die militärische
Brille schauen und versuchen, in der Öffentlichkeit allein ein militärisches Bild darzustellen. Das ist nicht
mein Verständnis von einem Verteidigungsminister. Sie
sind ein Zivilist, der aus meiner Sicht an dieser Stelle
moderne Sicherheitspolitik mit den politischen Zielen
verbinden müsste, die die internationale Gemeinschaft
will.
Diesen Eindruck hatte man beispielsweise bei Ihrem
Auftritt bei Kerner - mir zumindest ist es so gegangen,
als ich mir das angeschaut habe - nicht. Da ging es eben
nicht um Kunduz, da ging es nicht um die Polizeiausbildung, da ging es nicht um die Skepsis der Afghaninnen
und Afghanen. Das gehörte nämlich nicht zu Ihrer Show.
Und das ist der entscheidende Punkt, den ich hier kritisiere. Ich glaube, Sie sind kein guter Sicherheitspolitiker,
sondern Sie wandeln nur auf den Wegen alter Militärpolitik.
({7})
Ich glaube, das führt auch Sie in der Regierungskoalition
auf einen falschen Weg.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Sie zum Schluss
Folgendes fragen: Sie haben sich ja sozusagen - ich
weiß nicht, woran es liegt - diesem Trend ein bisschen
unterworfen. Vielleicht hat das auch etwas mit Meinungsumfragen zu tun. Aber auch Sie scheuen sich ja
nicht, das Wort „Krieg“ zu nennen, auch als Sie damals
in Afghanistan gewesen sind. Der Bundesaußenminister
hat im letzten Jahr nach meinem Dafürhalten zu Recht
erklärt, dass es sich hier um einen bewaffneten internationalen Konflikt handelt, wenn man das Völkerrecht als
Grundlage nimmt. Ich glaube, Sie sollten sich doch einmal die Frage stellen, ob Sie nicht eine Tendenz in der
öffentlichen Diskussion unterstützen, die nach meinem
Dafürhalten genau in die falsche Richtung geht. Wenn
zum Beispiel der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Herr Kirsch, sagt: „Was interessieren
mich verfassungsrechtliche Spitzfindigkeiten?“, dann
müssen wir doch dagegenhalten.
({9})
Die völkerrechtlichen Fragen stehen doch im Vordergrund einer solchen Diskussion. Ich glaube, das muss
doch auch einer Kanzlerin ein bisschen durch den Kopf
gehen.
Wir werden in den kommenden Tagen streng darauf
achten, ob Sie glaubhaft die politischen Ziele mit einem
verbindlichen militärischen Abzugsplan verbinden wollen. Dann und nur dann können Sie mit einer breiten Unterstützung durch die SPD rechnen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Mützenich, das Rednerpult
scheppert noch. Ich danke Ihnen für die Feststellung, ein
Zivilist zu sein. Das ist richtig.
Bevor ich auf die Diskussion über das ISAF-Mandat
und gerne auch auf die Punkte, die Sie, Kollege
Mützenich, genannt haben, eingehe, darf ich noch einige
Sätze zu drei Fällen sagen, die die Bundeswehr, aber auch
die Öffentlichkeit in diesem Land beschäftigen. Hier gilt
der ganz klare Anspruch, dass man rückhaltlos aufklärt,
dass man die Dinge bewertet und man sie, wenn die Vorwürfe Tatsachen entsprechen sollten, abstellt und die entsprechenden, notwendigerweise harten Konsequenzen
zieht. Das ist die Herangehensweise. Ich glaube, so sollte
man solche Punkte angehen: nicht mit Vorverurteilungen,
nicht mit irgendwelchen Mutmaßungen oder Vermutungen, sondern auf der Grundlage von Tatsachen.
({0})
In diesem Kontext darf ich auch sagen - auf der Tribüne sitzen heute Soldaten; sie wurden vom Kollegen
Westerwelle bereits begrüßt -, dass in der Bundeswehr
mehr als 300 000 Menschen arbeiten. Es ist nie auszuschließen, dass es auch mal zu Verfehlungen und zu Fehlern kommt. Daraus ein Pauschalurteil abzuleiten und
gleichzeitig die großartigen Leistungen der anderen hinunterzuziehen, wäre aber vermessen. Auch das können
wir nicht machen.
({1})
Ich darf auch deutlich machen, dass ich mich mit aller
Entschiedenheit gegen Vorwürfe verwahre, meine Mitarbeiter oder ich hätten das Parlament vorsätzlich getäuscht oder Tatsachen vertuscht. Solche Verdächtigungen sind infam und fallen letztlich auf diejenigen zurück,
die sie abgeben. Es geht auch weiterhin darum, dass wir
die Dinge mit größtmöglicher Offenheit ansprechen und
vortragen
({2})
und man einen vertrauensvollen Umgang miteinander
pflegt. Diesen haben wir in den letzten Jahren grundsätzlich entwickelt. Auch heute fand diesbezüglich eine Obleuteunterrichtung statt. Ich glaube, das ist der richtige
Weg.
({3})
- Ein Fall betrifft Afghanistan. Wenn man über Afghanistan spricht, ist es wichtig, über Tatsachen und nicht über
Mutmaßungen zu sprechen, insbesondere dann nicht,
wenn der Schutz eines Soldaten, der gerade Ermittlungen
ausgesetzt ist, deswegen gefährdet sein könnte. Ich
glaube, es ist notwendig, auch das zu sagen.
({4})
Was das ISAF-Mandat anbelangt, hat Kollege
Westerwelle völlig zu Recht darauf hingewiesen, wie
wichtig und stark das Signal ist, das wir heute geben; das
begann mit der Regierungserklärung des Kollegen
Niebel. Zum Bezugspunkt, lieber Kollege Mützenich: Es
wäre verwegen, die Zukunft Afghanistans und die zukünftige Gestaltung Afghanistans nur durch die militärische Brille zu betrachten. Das würde zeigen, dass man
glaubt, die Ziele in Afghanistan allein militärisch erreichen zu können. Das ist eine schiere Illusion. Das ist
nicht machbar und nicht darstellbar. Das geht nur durch
ein Zusammenwirken der Kräfte. Das geht nur, wenn die
Entwicklungshilfe, also die zivile und diplomatische Herangehensweise, eine wirklich starke Säule darstellt. Ich
kann nur sagen: Die ressortübergreifende Zusammenarbeit innerhalb des Kabinetts in den letzten Monaten ist
besser als das, was wir in den Jahren vorher erlebt haben.
({5})
Dafür danke ich den Kollegen noch einmal. Das Zusammenwirken hinsichtlich der Zielsetzung Afghanistan ist
erstklassig.
({6})
Im Übrigen führt der Verteidigungsminister die
Truppe natürlich nicht heim. Das würde ich mir auch nie
anmaßen, lieber Herr Kollege Mützenich. Es ist interessant, welche Zitatbrocken vermengt wurden. Aber der
Verteidigungsminister gibt während eines Mandates immer wieder eine militärische Bewertung ab, so wie der
Minister des Auswärtigen eine Bewertung der anderen
Punkte - auch eine übergreifende Bewertung - vornimmt, so wie der Entwicklungsminister eine entwicklungspolitische Bewertung abzugeben hat. Das entspricht der Erwartungshaltung, die letztlich auch Sie an
uns haben.
Die NATO hat den in Lissabon und auf den Konferenzen in Kabul und London beschlossenen Strategiewechsel mittlerweile umgesetzt. Dieser Strategiewechsel trägt
in meinen Augen erste Früchte. Das kann man wirklich
sagen.
Über meinen Fachbereich haben wir auch im letzten
Jahr intensive Diskussionen geführt, etwa was das Konzept des Partnerings anbelangt. Das Konzept des Partnerings - als ein Ausbildungskonzept, als ein Schutzkonzept,
({7})
ja, auch als ein Konzept, um die Aufständischen letztlich
aus ihren schon ergriffenen Räumen in andere Räume zu
verdrängen - ist eines, das erfolgreich läuft. Mit den
Ausbildungsleistungen sind wir im Zeitplan. Es ist sogar
so, dass wir vor dem Zeitplan liegen. Ich glaube, das
kann als ein Erfolg gewertet werden. Das ist ein Erfolg
der Leistungen der militärischen wie der zivilen Kräfte
vor Ort, ein Erfolg des Zusammenwirkens, und das funktioniert.
({8})
Wir haben natürlich Zielsetzungen zu erfüllen, auch
ehrgeizige, ambitionierte Zielsetzungen. Wir haben in
den letzten Monaten und im letzten Jahr gottlob auch
eine Diskussion über realistische Ziele geführt: Was ist
in Afghanistan erreichbar? Wann ist es erreichbar? Mit
welchen Partnern ist es erreichbar?
Vor diesem Hintergrund sage ich: Ja, 2011 wird für
uns ein forderndes Jahr werden.
({9})
Präsident Karzai hat gesagt, er will diesen Prozess der
Übergabe in Verantwortung, von dem der Kollege
Westerwelle gesprochen hat, bis zum Jahr 2014 abschließen. Natürlich unterstützen wir ihn nachdrücklich
in diesem Vorhaben; das versteht sich von selbst.
Das Jahr 2011 steht für den Gedanken, dass niemand
dauerhaft in Afghanistan bleiben will. Das ist ein Gedanke, der nicht nur uns und die Bevölkerung in diesem
Lande umtreibt, sondern dieser Wunsch erfüllt natürlich
auch die Menschen in Afghanistan. Gleichzeitig wäre es
aber verantwortungslos, wenn wir jetzt unmittelbar und
übereilt abziehen wollten. Das würde die jungen afghanischen Sicherheitskräfte zum jetzigen Zeitpunkt noch
überfordern. Deswegen ist der Plan, die Ausbildung bis
2014 konsequent abzuschließen.
Wir liegen im Plan; das habe ich Ihnen gesagt. Wir
gehen unseren Weg zum Abzug. Ich teile ganz ausdrücklich die geäußerte Zuversicht, dass wir bereits in diesem
Jahr mit einem ersten Abzug beginnen können.
({10})
Den Satz, den Guido Westerwelle vorhin verlesen hat,
({11})
kann man, wenn man irgendwo einen Streit hineinbringen will, so und so deuten.
({12})
Wir haben uns auf diesen Satz geeinigt. Er ist die Position der Bundesregierung.
({13})
Die Position der Bundesregierung enthält das Ziel und
die Zuversicht, in diesem Jahr mit dem Abzug zu beginnen. Guido Westerwelle hat auch klar gesagt - das ist ein
völlig logischer Ansatz -: wenn es die Lage erlaubt.
({14})
Wir tun alles dafür, dass es die Lage erlaubt.
({15})
Ich glaube, dieser Ansatz ist ehrgeizig. Lieber Kollege Mützenich, dieser Ansatz wird auch vom Zivilisten
Karl-Theodor zu Guttenberg mitgetragen, und zwar aus
Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten, denen ich von dieser Stelle aus für ihren Dienst ausdrücklich danken will. Sie haben die Anerkennung in diesem
fordernden Einsatz verdient.
Dieser Ansatz ist von der Verantwortung mitgetragen,
dass wir immer auch sagen: Verantwortung haben wir
auch für diejenigen, die dort verbleiben. Auch daran haben wir unsere Entscheidungen auszurichten. Es werden
gemeinsam getragene und kluge Entscheidungen sein,
die wir treffen, und solche, die endlich auch einer Perspektive für Afghanistan, die das Land verdient hat, die
aber auch unsere Soldaten und unsere zivilen Helfer verdient haben, Ausdruck geben.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Sprachrepertoire der
Bundesregierung hat sich in den letzten Monaten beträchtlich erweitert. Da hört man Worte, für die die
Linke in der Vergangenheit heftig angegangen worden
ist; „weltfremd“ sind wir genannt worden: „Abzug der
Truppen“, „Versöhnungsprozess“, „regionale Lösung“,
„Selbstbestimmung“, ja, selbst „Verhandlungen mit den
Taliban“ sind kein Tabu mehr. Aber wenn es um Afghanistan und die Menschen dort geht, dann muss eines klar
sein: Rhetorische Wendungen sind nicht angesagt. Die
Politik muss sich ändern, und zwar gründlich. Darauf
kommt es an.
({0})
Leider findet man das im Handeln dieser Regierung
nicht.
Mit der jetzt zu beschließenden Entsendung der Bundeswehr wird der Eindruck erweckt, man verfolge einen
Abzugsplan. Vorsicht! Man sollte das Kleingedruckte
genau lesen. Nach 2014 möchte man nur keine Kampftruppen mehr im Lande haben. Ausbildungseinheiten
sollen bleiben. Wie viele? Nobody knows. Es ist doch
so, schon jetzt sollen sich die Truppen auf die Ausbildung der afghanischen Armee konzentrieren. Wo also
liegt der Unterschied?
Einen Generalvorbehalt hat man auch eingebaut. Der
Abzug soll nur dann stattfinden, wenn bestimmte - in
meinen Augen nicht sehr klare - Bedingungen erfüllt
sind, zum Beispiel eine stabile Regierung in Kabul. Der
Verteidigungsminister hat jetzt gesagt, ihm sei es völlig
wurscht - ja, er hat wirklich „wurscht“ gesagt -, ob der
Rückzug 2014 oder 2013, 2010 oder 2011 stattfinde, auf
die Konditionierung komme es an.
Im Klartext: Das kann noch um einiges länger dauern.
Ich kann nur sagen: Ein eindeutiger, unmissverständliche Abzugsplan sieht anders aus,
({1})
und der müsste hier auch beschlossen werden. Es geht
nicht um vage Ankündigungen und Versprechungen,
sondern es geht darum, hier etwas konkret festzulegen
und zu beschließen. Das ist der Punkt.
({2})
Man sieht daran auch, dass Ihre Politik nach wie vor
auf der falschen Annahme basiert, die Rückholung der
Truppen stünde am Ende eines politischen Friedensprozesses. Wenn es aber richtig ist, dass die Aufstandsbewegung so stark geworden ist, weil sie propagieren kann,
sie wolle die Fremden aus dem Land werfen, und weil es
eine Regierung gibt, die mit dieser im Bunde ist, die zudem noch sehr korrupt ist, dann wird umgekehrt ein
Schuh daraus. Der unzweideutige Sofortabzug der
NATO-Truppen ist Voraussetzung für eine politische Lösung. Und der sollte unverzüglich eingeleitet werden.
({3})
Das wäre verantwortliche Politik, lieber Kollege
Westerwelle.
Alle sagen jetzt, man könne diesen Krieg nicht militärisch gewinnen. Der Widersinn ist nur: Trotzdem setzen
Sie weiter auf die militärische Karte, auf die offensive
Aufstandsbekämpfung. Am Anfang waren es ein paar
Tausend Soldaten in Afghanistan, zu Beginn des letzten
Jahres waren es 90 000, heute sind es über
140 000 NATO-Soldaten. Auch die Bundeswehr hat immer mitgezogen, zuletzt die Aufstockung auf über 5 000,
dann schwere Artillerie, bald auch Kampfhubschrauber.
Vieles spricht dafür, dass das Bundeswehrkontingent
bald auch noch um AWACS-Besatzungen aufgestockt
werden wird und wir also ein Zusatzmandat bekommen.
Um die Zustimmung des Hauses jetzt nicht zu gefährden, hat man gegenüber der NATO erst einmal abgewunken und gesagt: jetzt nicht. Aber das wird kommen.
An der Stelle ein Wort an die lieben Kolleginnen und
Kollegen von der SPD. Es genügt nicht, nur vor der Salamitaktik dieser Regierung zu warnen, man muss diese
Strategie und diese Taktik auch einmal durchkreuzen, indem man Nein zu einem solchen Mandat sagt.
({4})
Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass man davon
redet, jetzt müsse der politische Prozess in den Vordergrund gerückt werden, das Verhältnis Militär/Politik neu
justiert werden, und dann mit Truppenaufwuchs, Aufrüstung und Kampfwertsteigerung um die Ecke kommt.
Das geht einfach nicht. Offensive Aufstandsbekämpfung
heißt eben auch: noch mehr Gefechte, noch mehr Waffeneinsatz, mit anderen Worten, noch mehr Tod und Zerstörung. Im letzten Jahr ist die Zahl der Toten und Verletzten noch einmal beträchtlich nach oben gegangen,
nach den Zahlen der UNO allein bei den zivilen Opfern
bis Oktober um 20 Prozent. Der Verteidigungsminister
hat jetzt schon angekündigt, es werde noch heftigere
Kämpfe geben, um die deutsche Öffentlichkeit auf diese
Lage einzustimmen. Herr Minister, so wird das nichts
mit dem Friedensprozess in Afghanistan.
({5})
Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister, man wird
den Krieg auch nicht dadurch gewinnen, dass man ihn
gewissermaßen „afghanisiert“. Sehen wir einmal davon
ab, was es bedeutet, in einem Land mit einer extrem
schwachen Regierung einen Sicherheitsapparat von
400 000 Mann aus Militär und Polizei aufzubauen. Das
wäre noch einmal ein gesondertes Thema. Entscheidend
ist, dass diese Truppen auf ganz lange Sicht von außen
Paul Schäfer ({6})
- namentlich den USA - bezahlt werden müssen und
dass sie natürlich auch als entscheidendes Machtinstrument des dortigen Regimes, des Karzai-Regimes, angesehen werden. Deshalb ist die Warnung nicht unbegründet, die da sagt: Dieser Plan kann sich als Roadmap für
einen fortgesetzten Bürgerkrieg erweisen. Deshalb sind
wir entschieden dagegen.
({7})
Alle reden inzwischen davon, dass man mit den Gegnern reden müsse, sie in einen auszuhandelnden Friedensprozess einbinden müsse. Aber trotz dieser schönen
Rhetorik klammern Sie sich an diese trügerische Hoffnung, mit militärischer Stärke könne man eine solche
Lösung herbeizwingen. Anders wäre dieser Truppenaufwuchs nicht zu erklären.
Und es bleibt eine Tatsache: Wenn Sie die Anführer
nachts mit Drohnen und Spezialkommandos jagen, werden sie sich tagsüber nicht an den Verhandlungstisch setzen. Das ist widersinnig und muss beendet werden.
({8})
Es wäre also klug, sich stattdessen auf eine Verhandlungslösung zu fokussieren, die mit Waffenstillstandsvereinbarungen lokal und zentral eingeleitet werden
müsste, um dann zu einem Gesamtarrangement zu kommen, das uns allen hier nicht schmecken wird. Das
würde aber nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als
dass endlich die Waffen schweigen und ein kontinuierlicher Aufbau im Land entstehen kann. Das ist die Voraussetzung dafür. Es geht also um eine langfristig angelegte
Entwicklungsarbeit mit den Schwerpunkten Bildung und
Ausbildung. Das alles wird aber nur funktionieren, wenn
der Krieg beendet wird. Das ist das A und O.
({9})
Wir sagen: Das ist ein mühsamer Prozess, der jetzt in
Gang gebracht werden muss. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die UNO nicht länger mit einem Beobachterstatus auf der Rückbank sitzt. Es geht eben nicht nur um
einen Deal zwischen der NATO und den Taliban, sondern es geht um einen umfassenden Friedensplan bzw.
Friedensprozess, der alle Akteure und Kräfte in Afghanistan umfassen muss und ohne die sicherheitspolitische
Einbindung der Anrainerstaaten nicht gelingen wird.
Dies zu organisieren, sollte den Vereinten Nationen und
niemandem sonst obliegen. Das ist der Punkt.
({10})
Es ist üblich geworden, einzugestehen, dass man Fehler gemacht hat.
({11})
Jetzt müssen praktische Schlüsse daraus gezogen werden, die darin bestehen - das sagt auch eine stabile
Mehrheit in der Bevölkerung -, die Bundeswehr zurückzuziehen und sich auf den zivilen Aufbau und eine internationale politische Lösung zu konzentrieren. Das ist
aussichtsreich. Ich finde, die Leute haben recht. Hören
Sie auf sie!
Danke.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Herr zu Guttenberg, als Reaktion auf
Ihre Vorbemerkung eben: Wir glauben, dass wir als Parlament im Fall des toten Soldaten in Afghanistan vom
Ministerium objektiv falsch unterrichtet worden sind,
({0})
und wir wollen wissen, warum.
({1})
Das wird noch weiter aufzuklären sein. Ich kann Ihnen
nur sagen: Das, was Sie hier erklärt haben, genügt uns
nicht. Das reicht nicht aus.
({2})
Jetzt komme ich zur Debatte des heutigen Tages. Ich
finde es wichtig, dass wir uns heute Morgen viel Zeit genommen haben, um über den zivilen Wiederaufbau in
Afghanistan zu sprechen. Das kommt oft zu kurz. Dabei
sind gerade diese Anstrengungen entscheidend für die
Zukunft Afghanistans. Herr Außenminister, etwas anderes ist dabei aber auch deutlich geworden: Durch diese
merkwürdige Zweiteilung der Debatte, die wir heute hier
erlebt haben - vormittags Entwicklungspolitik und ziviler Wiederaufbau, nachmittags, getrennt davon, militärisches Mandat -, wird eine Menge über die Koordinationsprobleme der Regierung ausgesagt.
({3})
Dass Sie es nach einem weiteren Jahr nicht geschafft
haben, ein integriertes Mandat vorzulegen, in das auch
die zivile und die politische Dimension aufgenommen
wird, ist ein politisches Versagen; es tut mir leid.
({4})
Ich sage auch: Hätten Sie dem Vorschlag von uns und
den Sozialdemokraten für eine gemeinsame, unabhängige Evaluierung des Einsatzes keine Absage erteilt,
dann hätten wir nun wenigstens eine gemeinsame Lageeinschätzung. Ihre Absage an uns ist und bleibt ein
schwerer Fehler.
Nun zur politischen Frage, ob die Bundeswehr ein
weiteres Jahr in Afghanistan bleiben soll. Unsere Antwort ist klar: Ja, das soll sie. Ein Sofortabzug der internationalen Truppen ist und bleibt unverantwortlich. Das
wäre ein Treibsatz für einen offenen Bürgerkrieg in
Afghanistan. Herr Außenminister, dass Sie meinen, ausgerechnet uns Grünen vorwerfen zu müssen, wir würden
es uns in dieser Frage leicht machen,
({5})
ist sehr billig. Das sollten Sie eigentlich wirklich nicht
nötig haben.
({6})
Trotz dieser Einschätzung sage ich: Ich - das gilt
wohl auch für die Mehrheit meiner Fraktion - kann Ihrem Mandatstext, wie schon im letzten Jahr, nicht zustimmen.
Wir sind mit einer Reihe von Punkten, wie sie im
Mandat stehen - manches fehlt auch - nicht einverstanden. Vor einem Jahr sprach die Bundesregierung davon,
man müsse sich eine Abzugsperspektive erarbeiten. Ein
Jahr später streiten sich die zuständigen Minister darüber, und zwar öffentlich und ohne Ende. Was Sie sich
als Bundesregierung in den letzten Wochen geleistet haben, ist schon einmalig.
({7})
Herr Außenminister, Sie haben ausgeführt, dass Sie
2011 mit dem Abzug beginnen wollen. Das nehmen wir
sehr wohl zur Kenntnis. Der Verteidigungsminister hat
Sie daraufhin quasi vom Feldherrenhügel herab abgekanzelt und erklärt, das sei ihm wurscht, nach dem
Motto: Wann und wie meine Truppen abziehen, das bestimme doch wohl eher ich. Da lasse ich mir auch nicht
von einem angeschlagenen Außenminister hineinreden.
({8})
Im Mandat haben Sie einen Satz aus 49 Wörtern gebastelt, um diesen Konflikt zu übertünchen. Sie haben
ihn dankenswerterweise noch einmal vorgelesen. Am
Ende dieses Satzes steht nur fest, dass bei Ihnen gar
nichts feststeht.
({9})
„Die Bundesregierung ist zuversichtlich …, Ende 2011“
mit dem Abzug beginnen zu können, allerdings mit der
Einschränkung: „soweit die Lage dies erlaubt“. Sie sind
Könige des Konjunktivs.
({10})
Sie können nicht weiter ausweichen. Seit über einem
Jahr beschwören Sie eine Abzugsperspektive. Legen Sie
endlich einen konkreten, verlässlichen Plan vor. In anderen Ländern geht das doch auch. Sagen Sie, was Sie zwischen 2011 und 2014 machen wollen. Sagen Sie, wie die
konkreten Schritte 2012 und 2013 aussehen sollen. Das
wollen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wissen. Nur so werden wir Druck auf die afghanische Regierung erzeugen, ihre Seite des Fahrplans einzuhalten.
In Interviews sprechen Sie durchaus an, Herr Außenminister, dass dieser Mechanismus notwendig ist. Sie
wissen es doch besser. Warum haben Sie sich in der Regierung auf den Kompromiss eingelassen? Nur so setzen
wir der mittlerweile wohlbekannten Floskel „Dieses Jahr
sind wir noch nicht so weit, aber im nächsten wird es
besser“ ein strategisches Ende.
Hören Sie im Übrigen auf, Unsicherheit über Ihre Absichten zu produzieren. Was ist denn nun mit dem Einsatz der AWACS-Flugzeuge? Sie, Herr Westerwelle, lassen erklären, das Thema sei für dieses Jahr vom Tisch, es
folgt also kein Mandatsnachklapp in drei Monaten. Das
ist doch die politische Frage. Aus dem Verteidigungsministerium heißt es, im Frühjahr dieses Jahres stehe eine
erneute Prüfung an, also gibt es vermutlich doch einen
Mandatsnachklapp in drei Monaten. Was gilt denn nun?
Wir reden über ein Mandat, für das wir die Zustimmung
für ein ganzes Jahr erteilen sollen. Bei dieser Frage spielen Sie ein Spiel. Das alles sieht nach Salamitaktik für
eine mögliche Truppenaufstockung aus. Das ist das Gegenteil von Transparenz und Seriosität.
({11})
Herr Außenminister, Sie haben vor einem Jahr das
Partnering neu in das Mandat eingeführt, ohne es klar zu
definieren. Dazu war seitdem in Ihren Erklärungen kein
Wort zu hören. Wir hatten die Befürchtung, dass das ein
Prozess der schrittweisen Veränderung des Mandats für
die Bundeswehr bedeutet, nämlich die Abkehr von ISAF
als Stabilisierungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung. Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat sich weitgehend bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Einsatz in
Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht.
({12})
Es gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen Auftrag und die politischen Ziele. Auch bei der
Hilfe für den zivilen Aufbau gibt es höchstens bis 2013
Klarheit. Unsere Verantwortung für Afghanistan endet
aber nicht mit einem Abzug der internationalen Truppen.
Dafür brauchen wir eine Strategie, ein Konzept für die
Fortsetzung der zivilen Unterstützung nach 2014.
Statt ihres ewigen Streites könnte die Bundesregierung Initiative zeigen. Das wäre ein sinnvoller Beitrag
für die Vorbereitung der Bonn-II-Konferenz Ende dieses
Jahres.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Mützenich, ich habe heute von Ihnen eine
neue Form der politischen Debatte gelernt, nämlich die
entrüstete Zustimmung.
({0})
Das finde ich sehr interessant. Für Ihre Entrüstung habe
ich politisch sehr großes Verständnis. Wir alle müssen
sozusagen unsere Kartoffeln zusammenkriegen. Für die
Zustimmung bedanke ich mich bei Ihnen ausdrücklich.
({1})
Wir sind jetzt zum zehnten Mal dabei, ein Mandat zu
verlängern. Ich möchte an alle Kollegen und auch an die
Öffentlichkeit sowohl hier, als auch andernorts, wo die
Debatte verfolgt wird, appellieren, Folgendes zu verstehen: Wir verlängern nicht einfach ein weiteres Mal das
Mandat für Afghanistan wie vielleicht 2006 oder 2007.
({2})
- Nein, das ist eindeutig nicht der Fall. Das möchte ich
begründen.
Wir haben heute, im Januar 2011, eine grundsätzlich
andere Situation als vor einem Jahr. Mit den Stichworten
London, Kabul und Lissabon haben wir in der NATO
durch Versammlungen und Meinungsbildung auf der
Ebene der Organisationen erstmals den Dreiklang einer
gemeinsamen Vision, eines gemeinsames Ziels und gemeinsamer Strategien.
({3})
Wir definieren gemeinsame Maßnahmen, die wir auch
durchführen. Es ist insofern ein Vierklang. Das ist neu.
Deswegen gibt es jetzt auch erstmals die Perspektive eines Endes unseres militärischen Einsatzes, was Kampftruppen angeht.
({4})
Diese Differenzierung ist wichtig. Sie ist hier auch gemacht worden. Das ist völlig richtig. Das ist neu.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür - ich gebe
zu: ein marginales Verständnis -, dass man von Anfang
an sagt, eine Beteiligung sei unter allen Umständen ausgeschlossen, weil wir nicht wissen, wann es zu Ende
geht. Aber diejenigen, die eine verantwortliche deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik betreiben wollen, müssen
spätestens jetzt erkennen: Die Bundesregierung hat getan, was sie tun konnte. Sie hat eine Perspektive entwickelt, wann der Einsatz zu Ende ist.
Ich bitte Sie alle herzlich, dafür zu sorgen, dass wir
diesen Entwicklungspfad der schrittweisen Entscheidungen von London Anfang 2010 bis zum 31. Dezember
2014 gemeinsam verantwortungsvoll gehen. Auf diesem
Entwicklungspfad von London 2010 bis Ende 2014 gibt
es bestimmte Zwischenstufen.
Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: Wichtig ist für
mich die Perspektive 2014. Deshalb halte ich es fachlich
und sachlich nicht für geboten, Herr Kollege Schmidt,
dass Sie jetzt von der Bundesregierung verlangen, zu sagen, was sie im September 2013 machen will, und dass
Sie verlangen, dass uns der Verteidigungsminister und
der Außenminister sagen, welche Kapazitäten wir im
Jahre 2013 brauchen.
({5})
Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Schmidt: Das weiß die
Bundesregierung nicht, und ich weiß es auch nicht. Ich
weiß aber eines: Auch Sie wissen es nicht. Deshalb ist es
völlig unsolide, dies zu tun.
({6})
Deshalb müssen wir den Pfad verfolgen, den wir gemeinsam in der Koalition beschlossen haben und dem
Sie auch zustimmen können.
Ich kann mich sehr gerne auf das beziehen, was ich
im vergangenen Monat aus Ihren Reihen gehört habe,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Herr Erler hat
sich dazu eingelassen, dass er bei einem Besuch in
Afghanistan - ich glaube, es war im letzten Herbst - gesehen hat: Jawohl, es hat sich etwas verändert.
Ich habe mit großem Interesse heute das Interview
von Herrn Gabriel gelesen. Ich merke, dass das in Ihren
Reihen diskutiert wird und dass Sie zu dem Schluss gekommen sind, mehrheitlich diesem Mandat zuzustimmen.
Selbstverständlich wird auch in dieser Bundesregierung darüber diskutiert, was der richtige Weg ist. Es wird
auch in dieser Bundesregierung und in dieser Koalition
darüber diskutiert, wie die Worte im Mandat gewählt
werden sollen. Das machen Sie doch genauso. Wichtig
ist aber, wie Helmut Kohl sagte, was am Ende herauskommt.
({7})
Am Ende kommt heraus, dass das Mandat der Beschreibung entspricht und dass der Außenminister und der Verteidigungsminister heute wortgleiche Sätze vortragen
und ein gemeinsames Konzept haben, das sie offensiv
nach außen vertreten.
({8})
Das müssen wir im Deutschen Bundestag wissen. Darauf haben nicht nur Sie ein Anrecht, sondern auch wir,
Herr Mützenich. Wir haben dasselbe Interesse, und wir
sehen, dass die Bundesregierung nach Diskussionen hier
gemeinsam auftritt. Insbesondere die Soldaten der Bundeswehr, aber auch die Öffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, dass die Bundesregierung ein Konzept
und einen Gesamtrahmen vorlegt, dass sie innerhalb dieses Gesamtrahmens verantwortungsvoll einzelne
Schritte abarbeitet und etwas tut, was in der Vergangenheit nie in der Weise geschehen ist, nämlich in Zwi9614
schenberichten kritisch und selbstkritisch zu beobachten
und beleuchten, was geschehen ist. Auch das ist im letzten Jahr erstmals geschehen.
Insofern kann ich sagen: Meine Fraktion wird aufgrund dieser Situation diesem Mandat heute in voller
Übereinstimmung zustimmen. Es wird einige geben, die
sich anders verhalten werden; das wissen wir. Aber wir
glauben, dass wir auf einem richtigen Pfad sind. Die
Bundesregierung hat erstmals etwas erreicht, das es zuvor nicht gab. Das ist ein Fortschritt. Die Welt in Afghanistan ist nicht schön. Sie kann aber besser werden. Dazu
wollen wir unseren Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
({9})
Herr Kollege Arnold, da Sie schon am Rednerpult stehen: Normalerweise werden die Redner aufgerufen.
({0})
- Ich habe Verständnis für Ihren Durst. Aber Sie sollen
jetzt reden.
({1})
Herr Kollege Arnold von der SPD-Fraktion hat jetzt
das Wort.
({2})
Herr Präsident, bitte gehen Sie gnädig mit mir um. Ich
bitte um Entschuldigung.
Herr Kollege Stinner, Sie haben mit der „entrüsteten
Zustimmung“ einen netten Begriff geprägt, der deutlich
machen soll, wie Sozialdemokraten dem Mandat zustimmen. Darf ich Ihnen etwas dazu sagen? - Meine Partei
kann stolz darauf sein, wie sie mit der ernsten Situation
in Afghanistan und dem schwierigen Auftrag der Soldaten umgeht. Ja, wir ringen mit uns - und zwar in der ganzen Breite unserer Partei -, manchmal sogar ein bisschen
stellvertretend für unsere Gesellschaft und andere Parteien, denen es guttäte, genauer zu diskutieren. Ich
komme noch darauf zurück.
Aus der Diskussion ist bei uns die Erkenntnis erwachsen: Ja, auch im elften Jahr ist der Einsatz in Afghanistan
nicht nur in militärischer, sondern vor allen Dingen auch
in ziviler Hinsicht notwendig, weil er im Interesse der
Welt und damit auch im Interesse Deutschlands liegt.
Niemand will sich ausmalen, was in dieser ohnehin
schon fragilen Region - unter anderem mit Pakistan als
Nachbar und gefährdeten zentralasiatischen Staaten passieren würde, wenn Afghanistan zum zerfallenden
Staat wird. Die Instabilität geht uns daher etwas an. Es
ist richtig, unserem Auftrag dort gerecht zu werden. Ich
sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken:
Die Idee, dass die UNO Verantwortung in Afghanistan
übernimmt und die Staatengemeinschaft beauftragt, in
ihrem Auftrag dort zu handeln, bleibt richtig. Sie darf
nicht diskreditiert werden. Das ist für uns genauso wichtig.
Herr Kollege Arnold, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stefan Liebich von der Linken?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Liebich.
Herr Kollege Arnold, Sie haben auf das Ringen innerhalb der SPD hingewiesen. Deshalb möchte ich Ihnen
gerne die gleiche Frage stellen wie vorhin dem Bundesaußenminister. Die SPD hat - für die Öffentlichkeit relativ klar - gesagt, dass sie einer Mandatsverlängerung erneut zustimmen wird, wenn diese beinhaltet, dass der
Abzug im Jahr 2011 beginnt. Nun habe ich gedacht, dass
ich etwas von dieser Bedingung in dem Beschlusstext
- ich meine nicht die politische Einbettung -, über den
wir abstimmen werden, wiederfinden werde. Ich habe
davon nichts wiedergefunden. Deshalb interessiert mich,
wie Sie nach Ihrem Ringen zu der Einschätzung gekommen sind, dass Sie nunmehr, nachdem Ihre Bedingung
nicht erfüllt wurde, der Mandatsverlängerung zustimmen wollen.
Herr Kollege, Sie müssten eigentlich wissen, dass erstens zum Beschluss auch die Begründung gehört und
dass das zweitens Beschlusslage der NATO ist, auch die
Zielperspektive 2014. Die Amerikaner haben als größter
Truppensteller diese Perspektive sehr deutlich aufgezeigt und werden Mitte des Jahres beginnen. Die KarzaiAdministration hat ebenfalls dieses Ziel formuliert. Zum
Glück liegt es nicht im Ermessen des Bundesministers
der Verteidigung, ob wir den Einstieg in den Rückzug
schaffen, sondern an der Beschlusslage und in der Einsicht der Staatengemeinschaft. Deshalb bin ich ganz gelassen.
({0})
Die Bundesregierung hat eine Brücke gebaut. Natürlich
kann man immer darüber streiten, ob eine Formulierung
nicht noch verbessert werden kann. Herr Außenminister,
wir könnten uns im Vorfeld von Mandatsdiskussionen
durchaus eine größere Gesprächsbasis vorstellen. Da
sind wir bisher nicht immer ganz glücklich. Aber dieses
Mandat zeigt die richtige Richtung auf.
Im Übrigen, Herr Kollege, ist 2014 das entscheidende
Jahr. Dies ist auch nicht konditioniert,
({1})
sondern Beschlusslage der Staatengemeinschaft. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({2})
- Nein. Ich brauche nicht den Außenminister zu verteidigen.
({3})
Herzlichen Dank für Ihre Zwischenfrage, Herr
Liebich.
Ich komme auf meine Rede zurück. Eines wurde
heute schon sichtbar - viele Vorredner haben darauf hingewiesen -: Ein einfaches Weiter-so in Afghanistan
würde nicht zum Erfolg führen. London und die folgenden Konferenzen haben doch dazu geführt, dass endlich
Ernst gemacht wird, dass alle bei allem mehr tun, dass
man nicht mehr auf den anderen wartet, dass er das liefert, was er zugesagt hat. Allerdings ist auch ganz wichtig, dass wir erkennen: Unsere Anstrengungen im Zuge
dieser veränderten Strategie brauchen auch das Jahr
2011, um zu greifen. Wir brauchen Zeit dafür. In diesem
Jahr wird man sehen, ob die Weichenstellungen in die
Richtung führen, die wir uns alle wünschen, nämlich hin
zu mehr Stabilität und hin zu mehr Möglichkeiten des
Aufbaus.
({4})
Ganz wichtig ist auch, dass man bei der London-Konferenz endlich erkannt hat, dass es nicht nur um die Säulen der Stabilität und des zivilen Aufbaus geht, sondern
im Zentrum die dritte Säule steht, nämlich der politische
Prozess. Dies gilt sowohl für den regionalen Prozess in
Afghanistan - dabei können wir uns mehr Aktivitäten
der Regierung vorstellen - als auch für den Versöhnungsprozess, den die Gesellschaft in Afghanistan
selbstverständlich braucht, damit sie Menschen, die des
Geldes wegen bei den Aufständischen schießen, zurückgewinnen kann. All dies sind also vernünftige Entscheidungen.
Interessant ist allerdings Folgendes. Die Debatte, in
der wir Sozialdemokraten dies alles vor einem Jahr hier
in Berlin diskutiert haben, in der wir definiert haben,
dass man im Jahr 2011 den Einstieg schaffen und im
Jahr 2014 den Prozess abschließen muss, hat der Bundesverteidigungsminister als leichtsinnig bezeichnet.
Dies haben Sie, Herr Minister, in vielen Interviews gesagt. Ist also Obama, ist also die Staatengemeinschaft
leichtsinnig? Wie gehen Sie eigentlich mit diesem
Thema um? Wenn wir zustimmen, stimmen wir nicht
wegen des Verteidigungsministers, sondern trotz des
Verteidigungsministers zu.
({5})
Kann man von einem Verteidigungsminister, der erklärt, ihm sei all das wurscht, ernsthaft erwarten, dass er
sich anstrengt, dass all das, was wir hier miteinander diskutieren, dann tatsächlich zum Tragen kommt? Herr
Minister, um Erfolg in Afghanistan zu haben, ist auch
Vertrauen in den Prozess nötig, und zwar bei den Menschen hier in Deutschland und vor allen Dingen bei den
Menschen in Afghanistan. Sie müssen wissen, was bei
der Verantwortungsübernahme auf sie zukommt. Deshalb darf ein Minister nicht sagen, dieser Prozess und die
Frage, ob auf politische Aussagen Verlass sei, seien ihm
wurscht.
Herr Minister, Sie selbst haben heute diese drei aktuellen Fälle bei der Bundeswehr angesprochen. Ja, es
sind Einzelfälle. Es genügt aber nicht, wenn der Verteidigungsminister auffordert, diese Fälle aufzuklären. Der
Verteidigungsminister und kein anderer ist der Verantwortliche für die Aufklärung.
({6})
Herr Minister, wir haben ja heute Morgen in dem von
Ihnen angesprochenen Obleutegespräch miteinander diskutiert. Sie sagen, im Prinzip hätten Sie die Öffentlichkeit richtig informiert, und in den Fällen, in denen das
Parlament unvollständig informiert wurde, hätten zwei
führende Militärs die Verantwortung übernommen. Jenseits der Frage, wie man die schlechte Informationspolitik ganz genau bezeichnet, ist festzuhalten: Das ist typisch für Ihre Vorgehensweise. Wenn es unbequem wird,
legen Sie die Verantwortung anderen auf die Schulter.
({7})
Herr Minister, eine unvollständige Information ist
eine Halbwahrheit. Das ist für uns ein sehr ernstes
Thema, auch wegen Afghanistan. Wir Sozialdemokraten
wollen mithelfen, das über das Thema Afghanistan in
der deutschen Gesellschaft diskutiert wird. Wir wollen
die Menschen möglichst mitnehmen und ihnen erklären,
dass dieser Einsatz richtig und notwendig ist. Das wird
uns aber nur dann gelingen, wenn die Bürgerinnen und
Bürger den Eindruck haben, dass wir als Parlamentarier
- dabei sind Sie genauso angesprochen wie wir - wissen,
über was wir reden, und dass die Bundesregierung uns
zeitnah, korrekt und umfassend informiert. Dann schaffen wir Vertrauen in den Afghanistan-Einsatz. Dies hat
die Bundesregierung in den vergangenen Wochen leider
nicht geleistet.
({8})
Entscheidend ist, dass das Vorhaben in Afghanistan
gelingt. Ich sehe eine ernsthafte Chance, dass die beschlossenen Maßnahmen in den nächsten Monaten weitere Erfolge zeitigen werden. Afghanistan ist nämlich
nicht überall schlecht. Afghanistan muss man sehr differenziert betrachten: Es gibt sehr negative Nachrichten,
aber auch Entwicklungen, die Hoffnung und Mut machen. Dies bestätigen die Menschen auch bei den Umfragen in Afghanistan.
Ich sage ganz eindeutig: Könnten wir eigentlich einem Mandat zustimmen, wenn wir nicht eine ernsthafte
Chance auf Erfolg sehen würden? Es wäre nicht zu ver9616
antworten, Soldaten, denen wir Respekt und Anerkennung schuldig sind, in einen Einsatz zu schicken, wenn
wir nicht die Perspektive hätten, dass es am Ende gelingt. Das Gelingen muss man allerdings richtig definieren. Dabei gab es in den vergangenen zehn Jahren das
eine oder andere Missverständnis. Gelingen in Afghanistan heißt nicht, militärisch den Terror zu besiegen. Das
wird nicht gelingen. Gelingen in Afghanistan heißt, Terror zurückzudrängen, jetzt zunehmend zusammen mit
den Afghanen; dort ist man schon so weit. Gelingen in
Afghanistan heißt außerdem, die Zeit zu nutzen und den
Afghanen zu helfen, damit sie im Jahr 2014 mit den Problemen, die es dort dann selbstverständlich noch geben
wird, selbst umgehen können. Das ist das Ziel. Ich
glaube, dieses Ziel ist erreichbar. Dass es erreicht wird,
ist für uns alle extrem wichtig.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Schmidt, ich möchte zunächst einmal in aller Form, aber ganz klar Ihre Unterstellung zurückweisen, der Minister habe hier das Parlament falsch unterrichtet.
({0})
- Nein, er hat gesagt, er habe es falsch unterrichtet. Herr
Arnold, Sie haben von unvollständig gesprochen. Weder
das eine noch das andere ist richtig. - Der Minister hat
das Parlament und die Öffentlichkeit vollständig über
die Tatsachen unterrichtet, die ihm vorlagen und die bisher ermittelt worden sind.
({1})
Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass nach
dem Tod des jungen Soldaten am 17. Dezember bereits
am 18. Dezember in Afghanistan, während der Herr
Minister noch vor Ort war, die Unterrichtung erfolgt ist
und dass jetzt zunächst einmal die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sie versucht, die Tatsachen herauszufinden. Das
muss abgewartet werden. Erst wenn das geschehen ist,
ist der Zeitpunkt da, an dem der Minister über weitere
Tatsachen unterrichten kann. Ich erwarte von einem
Minister, dass er das Parlament nicht über Spekulationen
unterrichtet, sondern dass er über Fakten spricht. Das hat
er zu jedem Zeitpunkt getan.
Herr Kollege Friedrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?
Ich erlaube keine Zwischenfrage.
Herr Schmidt, lassen Sie mich noch etwas zu dem
Thema AWACS sagen. Die NATO hat beschlossen, die
Luftraumüberwachung in Afghanistan zunächst für
90 Tage mit AWACS-Flügen zu verbessern. Der erste
Flug hat bereits am 15. Januar stattgefunden. Zurzeit
gibt es aber keinerlei Notwendigkeit dafür, dass sich
Deutschland mit Personal an diesem Einsatz beteiligt.
Insofern ist es auch gar nicht notwendig, dass wir ein
Mandat für diesen Bereich erteilen oder darüber diskutieren.
Ich will nun das aufgreifen, was der Kollege Arnold
am Schluss gesagt hat. Natürlich müssen wir bei jeder
Mandatsverlängerung hier im Deutschen Bundestag
auch die Fragen der Öffentlichkeit beantworten. Die eine
lautet: Was sind die Abzugsperspektiven? Das ist heute
schon erörtert worden. Wir müssen aber auch immer
wieder fragen, wie Herr Kollege Arnold es getan hat:
Warum sind wir eigentlich in Afghanistan?
Es gilt unverändert das Ziel, das schon vor fast zehn
Jahren vonseiten des grünen Außenministers Fischer und
des damaligen SPD-Bundeskanzlers Schröder umrissen
worden ist: Mit Blick auf die Menschen, die über viele
Jahre unter diesem grausamen Regime gelitten haben, ist
unbedingt zu vermeiden, dass das Unrechtsregime der
Taliban nach Afghanistan zurückkommt.
Kollege Arnold hat auf ein zweites wichtiges Ziel
hingewiesen. Afghanistan liegt an einem Knotenpunkt
zwischen vier Atommächten: Russland, China, Indien
und Pakistan, wobei Pakistan sich in einer außerordentlich schwierigen, höchst fragilen politischen Situation
befindet. Es liegt nicht nur im Interesse der Mächte vor
Ort, sondern auch im weltweiten Interesse, dass diese
Region stabil wird und in Zukunft stabil bleibt.
({0})
Das ist ein entscheidender Punkt. Er hat dazu beigetragen, dass die Völkergemeinschaft - dazu gehören nicht
nur die Deutschen, die Amerikaner, die Franzosen und
die Engländer - die Entscheidung getroffen hat, mit dem
Mandat, das im Oktober vergangenen Jahres noch einmal bekräftigt worden ist, 46 Nationen zu beauftragen,
in Afghanistan für die Stabilität zu sorgen, die notwendig ist, um weltweit Sicherheit, also auch in Deutschland, garantieren zu können. Ich glaube, das ist etwas,
was man bei der Diskussion um Afghanistan immer wieder in den Vordergrund stellen muss.
Es geht aber auch um die Übergabe in Verantwortung,
so wie es im Grunde in London zu Recht als nächster
Schritt der Stabilisierung vereinbart worden ist. Diese
Übergabe in Verantwortung findet statt. Der Minister hat
das, glaube ich, sehr umfangreich ausgeführt.
Oft wird gesagt: Nichts ist gut in Afghanistan. - Es ist
vieles in Afghanistan gut geworden. Es ist gut, dass es,
nachdem die Schulen zerstört waren und Mädchen und
Frauen bis 2001 keinen Unterricht in Schulen erhalten
Dr. Hans-Peter Friedrich ({1})
konnten, jetzt gelungen ist, 3 500 Schulen zu bauen, und
dass sich die Zahl der Schüler auf 7 Millionen verfünffacht hat, darunter ein Drittel Mädchen. Wir haben heute
Morgen in einer langen Debatte gehört, was in Afghanistan alles gut geworden ist. Es ist noch nicht alles gut,
und es muss noch an vielem gearbeitet werden, aber vieles ist gut geworden, auch dank unserer Soldatinnen und
Soldaten. Ihnen gebührt unser Dank, den wir ihnen immer wieder ausdrücken sollten.
({2})
Was die Abzugsperspektive angeht: Sie ist sehr konkret und sehr klar.
({3})
Abzug findet in dem Maße statt, wie es möglich ist, Verantwortung auf die afghanischen Kräfte zu übertragen.
({4})
Es geht darum, dass eine Armee von 171 000 Soldaten
aufgebaut wird. Das wird zu schaffen sein im Rahmen
des jetzt zu erteilenden Mandates. Es geht darum, dass
134 000 Polizisten in Amt und Würden eingesetzt werden und ihre Aufgabe wahrnehmen können.
({5})
Das wird sich in den nächsten zwölf Monaten im Rahmen des Mandats realisieren lassen. Dann kommt es auf
die Entwicklung vor Ort an.
({6})
Es wäre schön, meine Damen und Herren, wenn Sie
sich ein bisschen in die Situation der Bevölkerung von
Afghanistan versetzen würden.
({7})
Der Außenminister hat heute versucht, Sie ein bisschen
in die Gedankenwelt der Menschen einzuführen, die
auch durch Gerede im Westen über Abzugsperspektiven
und Zeitpunkte verunsichert werden, ohne dass dies davon abhängig gemacht wird, dass Fortschritte erreicht
wurden und die Sicherheit der Menschen dort gewährleistet ist. Das muss das entscheidende Kriterium sein.
So gehen wir auch vor.
Wir stehen hinter dem Einsatz unserer Soldaten, die
mit sehr viel persönlichem Engagement und persönlichem Risiko, aber auch mit hoher Professionalität dort
agieren. Angesichts dessen, dass sich die Soldaten dort
mit der Kultur des Landes und dem Denken der Menschen auseinandersetzen, merkt man, dass sie ihre Aufgabe verinnerlicht haben und sie ernst nehmen, eine
Aufgabe, die dem Frieden und der Freiheit der Menschen dort und in der ganzen Welt dient.
Ich bin sehr froh - das möchte ich ausdrücklich in
Richtung der Sozialdemokraten sagen -, dass es uns
über die Grenzen der Koalition hinaus gelingen kann,
eine Zustimmung zu diesem Mandat zu bekommen;
denn wir müssen bei allem innenpolitischem Hickhack,
das zwischen Regierung und Opposition notwendig ist,
gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn es darum
geht, festzustellen, was die sicherheits- und außenpolitischen Interessen unseres Landes sind. Das muss über die
Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg möglich sein. Insofern bedanke ich mich für die verantwortungsvolle Debatte, die vonseiten der Sozialdemokraten geführt wird.
Ich hoffe, dass wir am 28. Januar, wenn es zur Abstimmung kommt, als Demokraten zusammenstehen.
Vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Katja Keul von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Friedrich, Sie hatten zu
Beginn Ihres Debattenbeitrags gesagt, die Opposition
beschwere sich zu Unrecht, dass das Parlament falsch
über den Vorfall vom 17. Dezember informiert worden
sei. Das sei möglicherweise lediglich unvollständig, aber
nicht falsch gewesen. Ich möchte Sie daher darüber aufklären, dass es in dem Wortlaut der Unterrichtung des
Parlaments vom 21. Dezember dazu wörtlich heißt:
Am Abend des 17.12.2010 wurde in einem Außenposten des PRT in Pol-i-Khumri ein deutscher Soldat mit einer Schusswunde aufgefunden.
Uns wurde dazu erklärt, es habe sich dabei möglicherweise um einen Unfall beim Reinigen einer Schusswaffe
gehandelt.
Wenn davon gesprochen wird, dass jemand aufgefunden worden ist, dann wird damit etwas anderes angedeutet, als dass jemand in Anwesenheit von zehn Augenzeugen durch Fremdverschulden zu Tode gekommen ist. Zu
dem Zeitpunkt, als wir diese Unterrichtung bekommen
haben, wusste Minister Guttenberg bereits - das hat er
inzwischen erklärt -, dass es sich um ein Fremdverschulden und nicht um ein Eigenverschulden handelte. Was ist
das also anderes als eine Fehlinformation?
({0})
Kollege Friedrich zur Erwiderung. - Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie hin und
wieder auch die Zeitung lesen.
({0})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({1})
Ich habe bereits am 18. Dezember in der Zeitung gelesen
- das wurde auch von keiner Seite bestritten -, dass der
Soldat durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommen ist.
Was wollen Sie denn noch?
({2})
Die deutsche Öffentlichkeit ist insgesamt über diesen
Umstand der Fremdeinwirkung unterrichtet worden.
({3})
Dass natürlich Einzelheiten, die am Ende auch strafrechtlich relevant sein können, zunächst von der Staatsanwaltschaft untersucht werden und dass man zunächst
einmal in internen, nur für den Dienstgebrauch vorgesehenen Dokumenten der Sache nachgeht, ist doch eine
Selbstverständlichkeit.
({4})
Ich erwarte auch, dass wir den Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft nicht vorgreifen, sondern ihr Raum
geben, das zu tun, was ihre Aufgabe ist. Darauf kommt
es an. Das alles ist erfolgt. Insofern gibt es da keine Versäumnisse.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich werbe, wie meine gesamte Fraktion
und die Kolleginnen und Kollegen der Liberalen, für
eine möglichst breite Unterstützung dieses Hauses. Wir
haben den Einsatz auch in verschiedenen Ausprägungen
von Mandaten durchweg unterstützt. Aber wir haben
auch immer ein Fragezeichen hinter die Grundsatzentscheidung gesetzt, durch die dieser Einsatz zustande
kam.
Zumindest für die diejenigen in der Union, die sich
damit heute im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik federführend beschäftigen, kann ich hier feststellen: Unsere Aufgabe ist es jetzt nicht, den Einsatz auszuweiten, sondern unsere Aufgabe ist es jetzt, einen
Einsatz, der kopflos mit einem Einmarsch begonnen hat,
heute besonnen zu Ende zu führen. In diesem Spagat bewegt sich auch dieses Mandat.
Die schwierige Aufgabe, die sich stellt, ist natürlich
der schwierigen Situation in Afghanistan geschuldet,
aber auch den früheren Versäumnissen. Für Einsätze, die
dieses Haus vielleicht zukünftig beschließt, ist es demnach eine wichtige Sache - das betrifft uns alle hier, aber
insbesondere natürlich die Fraktionen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung die Regierungsverantwortung
tragen -, sich zu Beginn eines Einsatzes deutlich vor Augen zu führen, welche Exit-Strategie man hat und unter
welchen Konditionen man wieder aus der Aufgabe herauskommt.
({0})
Das ist eine der wichtigen Lehren, die man bereits heute
aus dem Afghanistan-Einsatz ziehen kann. Das hätte
man bei dem Mandat damals schon bedenken können.
({1})
Ich war überrascht, dass vorhin kritisiert worden ist,
dass es in der heutigen Plenarsitzung zwei Debatten zu
Afghanistan gibt. Herr Schmidt hat gesagt, man hätte das
irgendwie zusammenfassen können. Wenn das so gesehen wird, können wir uns eigentlich die Debatte in der
nächsten Woche sparen.
Am 16. Dezember letzten Jahres haben wir den Fortschrittsbericht diskutiert. Heute morgen haben wir ausführlich und unter großer Beteiligung über den zivilen
Aufbau diskutiert, und jetzt diskutieren wir in erster Lesung über das Mandat. Diese Diskussion werden wir in
der nächsten Woche fortsetzen. Ich finde es gut - ich
glaube, dass das zur Demokratie und gerade auch unserer parlamentarischen Tradition gehört -, dass bei einer
so schwierigen Fragestellung wie der der Entsendung
von Soldaten ins Ausland das Parlament sich fortlaufend
mit allen Aspekten beschäftigt und so ein Höchstmaß an
Transparenz der Entscheidungsfindung gewährleistet.
({2})
Von Herrn Arnold wurde gesagt, er würde sich mehr
regionale Kooperation und auch politische Initiativen in
dieser Hinsicht wünschen. Es hat in den vergangenen
zwölf Monaten starke Initiativen gegeben! Die Wahrheit
ist doch, dass es heute kaum eine außenpolitische Diskussion gibt, die wir als Politiker bzw. als Parlamentarier
mit Partnern und Freunden, auch mit strategischen Partnern im Ausland, führen, in der nicht über die Frage von
Afghanistan gesprochen wird. Selbstverständlich spielt
das bei nahezu allen wichtigen internationalen Konferenzen eine große Rolle. Die Deutschen sind dabei führend. Es wird auch wahrgenommen, dass unser Strategiewechsel Erfolg hat.
Gerade das, was wir Deutsche in den Bereichen Ausbildung und ziviler Wiederaufbau leisten, wird weltweit
anerkannt und mit Respekt bedacht, gerade von unseren
Partnern in der NATO.
Wie erklären Sie sich sonst, dass Länder, die eigentlich
angekündigt hatten, dass sie aufgrund des innenpolitischen Drucks nicht mehr mitmachen wollen, jetzt sagen:
„Wir unterstützen die von den Deutschen ausgegebenen
Ziele, und deshalb sind wir bereit, uns weiterhin an dem
Einsatz zu beteiligen und ihn zu unterstützen“? - Für ihre
Unterstützung bedanke ich mich natürlich bei diesen Ländern.
Es ist von daher wichtig, hier ein kraftvolles Zeichen
zu setzen. Ich hoffe, dass wir mit einer großen Mehrheit
in der nächsten Woche das Mandat verlängern. Damit
untermauern wir den Strategiewechsel und vergrößern
unsere Erfolgsaussichten in Afghanistan.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4402 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Aufgaben und Zusammensetzung der Altersarmutskommission - Altersarmut umfassend
und mit den richtigen Mitteln bekämpfen
- Drucksache 17/4422 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Matthias Birkwald von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit mehr
als einem Jahr steht der schwarz-gelbe Beschluss, eine
Kommission zur Altersarmut einzusetzen, im Koalitionsvertrag. Im kommenden April soll sie ihre Arbeit
aufnehmen. Erst im September 2012 wird der Abschlussbericht vorliegen.
({0})
Das ist viel zu spät. Meine Damen und Herren aus Union
und FDP: Trödeln Sie nicht rum! Legen Sie einen Zahn
zu und den Abschlussbericht deutlich eher vor!
({1})
Bereits heute gibt es Armut im Alter. In Zukunft werden davon leider noch mehr Menschen betroffen sein.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP, sprechen in Ihrem Koalitionsvertrag von der „Gefahr einer ansteigenden Altersarmut“. Ihnen ist auch bekannt, dass die Menschen im Osten besonders gefährdet
sind, künftig im Alter in Armut zu leben, weil die Löhne
zu niedrig und die Arbeitslosigkeit zum Teil doppelt so
hoch ist wie im Westen.
Frauen waren, sind und werden auch in Zukunft weiterhin besonders stark von Altersarmut betroffen sein.
Menschen, die von Erwerbsminderungsrente leben müssen, werden ebenfalls sehr häufig Renten unterhalb des
Existenzminimums beziehen. Auf Ihrem Parteitag im
November vergangenen Jahres haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, klar eingeräumt, dass Altersarmut politische Ursachen hat. Sie geben zu, dass Altersarmut eine Folge des abgesenkten
Rentenniveaus und eine Folge niedriger Löhne ist. Sie
wissen das alles, und trotzdem verschärfen Sie das Problem, anstatt es zu lösen. Kommen Sie endlich in die
Gänge und tun Sie etwas gegen die Altersarmut!
({2})
Ich weiß, Sie wollen es nicht mehr hören, aber richtig
ist es trotzdem: Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück!
Führen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn ein, und stellen Sie die Weichen für gute statt wie bisher für mies bezahlte Arbeit!
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierung kann
oder will ja noch nicht einmal genau sagen, was sie nun
genau unter Armut versteht. Schwarz-Gelb will, dass die
Kommission eineinhalb Jahre lang berät, aber kann oder
will nicht sagen, worüber und mit wem eigentlich. Genau
hier setzt der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke
an. Die Linke will, dass die Menschen ein würdiges Leben im Alter führen können. Wir nehmen das Problem Altersarmut sehr ernst. Deshalb sind uns die Zusammensetzung und die Aufgaben der Altersarmutskommission
wichtig.
Ich will hier nur einige unserer Forderungen nennen:
Die Linke will die Kommission aus den Hinterzimmern
der Ministerien an die Öffentlichkeit bringen. Deshalb
müssen alle Parteien genauso wie Gewerkschaften, Sozialverbände, Seniorenorganisationen sowie Expertinnen
und Experten aus der Wissenschaft der Kommission angehören und nicht ausschließlich Regierungsmitglieder
und Ministerialbeamtinnen und -beamte. Dass die Kirchen dazugehören, hat der Herr Staatssekretär freundlicherweise schon erklärt.
Wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder den
einmal erreichten Lebensstandard sichert und dass sie
vor Armut schützt.
({4})
Deshalb soll die Kommission entsprechende Reformund Finanzierungsvorschläge entwickeln.
Erstens. Die Linke will eine solidarische Alterssicherung. Darum soll die Kommission prüfen, wie die Rente
zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden kann.
Alle Erwerbstätigen - sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Beamtinnen und Beamte, Politiker und Politikerinnen und selbstverständlich auch Selbstständige sollen einbezogen werden.
Zweitens. Die Linke will, dass Altersarmut nicht nur
mit einer guten Rentenpolitik, sondern ebenso mit einer
guten Arbeitsmarktpolitik bekämpft wird. Kurz und gut:
Es geht um gute Arbeit, gute Löhne und gute Rente.
({5})
Deshalb soll die Kommission Vorschläge entwickeln,
wie Frauen und Männer Familie und Beruf künftig besser vereinbaren können. Hierzu zählt auch, Zeiten der
Pflege und der Erziehung besser in der Rente zu berücksichtigen.
Nicht zuletzt wollen wir, dass die Kommission die Situation in Ostdeutschland ganz besonders im Blick hat.
Ich fordere die Kommission auf, Vorschläge zu machen,
wie die Menschen vor der bereits heute laut rauschenden
Welle von Altersarmut in Ostdeutschland geschützt werden können. Denn das Ziel muss sein, dass alle Menschen in Deutschland in Würde alt werden können - in
Köln und in Greifswald.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das von Ihnen eingebrachte Thema lautet: Aufgaben und Zusammensetzung der Altersarmutskommission.
Ich möchte eines vorausschicken. Im Koalitionsvertrag haben wir uns einiges vorgenommen und angekündigt, einige Änderungen anzugehen: Viele Dinge hat
man am Anfang belächelt, unter anderem auch, dass wir
diese Kommission zu diesem Zeitpunkt einsetzen wollen, der jetzt noch so steht. Jetzt steht dieses Versprechen
vor der Einlösung. Aber zuvor haben wir auch einige andere - ich würde sagen - dicke Bretter gebohrt und sind
damit schon auf dem Weg. Vieles von dem, was angekündigt war, ist angegangen worden und zum Teil schon
durchgesetzt worden.
Die Wirtschaftskrise ist fast vergessen. Natürlich haben auch Sie von der SPD Ihren Anteil daran; das ist in
der gestrigen Diskussion hier bestätigt worden. Wir müssen aber aufpassen, dass wir sie nicht einfach nur vergessen, denn nun ist nicht mehr die Krise, sondern der
Boom in aller Munde.
({0})
Auch das Bildungspaket ist zu nennen und Reformen
in verschiedenen anderen Bereichen. Wir haben Versprechen bis hin zu Steuererleichterungen eingelöst. So viel
als Einstieg.
Jetzt zum Thema Altersarmut, wie es uns hier unter
TOP 24 begegnet. Gestern sprach mich eine Chemnitzerin an - Chemnitz ist mein Wahlkreis - und fragte mich,
warum denn die Bundesregierung erst jetzt eine Regierungskommission einsetze, die Konzepte gegen Altersarmut entwickeln soll.
({1})
Da höre ich fast Sie, Herr Birkwald, durch. Altersarmut
sei doch bereits in aller Munde. Sie fragt sich, ob die Regierung da nicht etwas spät dran sei. Dass Altersarmut
allerdings bereits jetzt ein akutes Problem sei und als
solches wahrgenommen wird, überrascht mich und eigentlich viele der Fachleute, die die Zahlen vor Augen
haben, tatsächlich.
({2})
Schließlich sind wir genau von dem Phänomen bislang
- bis zum heutigen Tag - nahezu verschont geblieben.
Zum Glück und Gott sei Dank, sage ich dazu. Es zeigt
sich einmal mehr, dass es Medien oder Parteien, wie in
diesem Fall Sie, genau auf eine solche Verunsicherung in
der Bevölkerung anlegen.
({3})
Ich habe mein Arbeitsleben lang im Umfeld von Armut gearbeitet - zuerst als Sozialpädagoge, dann als Pastor in der Heilsarmee. Ich erinnere mich zum Beispiel
noch an die alte Dame, die zu der von uns eingerichteten
Tafel kam, und ich sehe immer noch sowohl die Ohnmacht bei ihr als auch die Ohnmacht bei mir. Aber - und
das ist mir ganz wichtig - das ist, und das will ich sehr
stark betonen, nicht der Regelfall in Deutschland.
Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land sind
zu 97 Prozent nicht von Altersarmut betroffen.
({4})
Sie haben ein ausreichendes Einkommen und müssen
keine staatliche Unterstützung in Form von Grundsicherung in Anspruch nehmen. Das ist eine beeindruckende
Situation, die ich ausdrücklich auch so darstellen will.
({5})
Im internationalen Vergleich steht Deutschland sehr
wohl sehr gut da.
({6})
Das generelle Armutsrisiko - Sie schreiben das in Ihrem Antrag ganz am Anfang - bei Älteren liegt im Verhältnis zu anderen Teilen der Bevölkerung bei vergleichsweise niedrigen 13 Prozent. In Ihrem Antrag
heißt es „beinahe genau so viele“. Mathematisch gibt es
damit im Alter weniger Armutsgefährdete als im Durchschnitt der Bevölkerung.
({7})
Doch will ich natürlich nicht verhehlen - deshalb dieser Einschub und auch die berechtigte Beschäftigung der
Kommission mit dem Thema -, dass trotz dieser momentan positiven Lage demografische Herausforderungen kommen werden, von denen die wirtschaftliche Entwicklung geprägt werden wird. Dann kommt ein Wandel
auf uns zu, wenn wir jetzt nicht darüber nachdenken,
was in den nächsten 10 oder 20 Jahren passieren wird.
Dafür sind Weichen zu stellen, nachdem man einen Plan
gemacht hat.
({8})
- Da widerspreche ich Ihnen, Herr Birkwald: Wir brauchen Zeit, um in dieser Kommission gut zu arbeiten,
weil es sich um komplexe Fragen handelt. Auch mir ist
wichtig, dass wir das angehen; wir müssen uns aber die
nötige Zeit dafür nehmen.
Genaue Prognosen, verlässliche Vorhersagen - bezüglich Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung,
Veränderungen des Erwerbsverhaltens, Erwerbsbiografien mitsamt der Brüche, die möglicherweise geschehen
oder auch schon geschehen sind, Einkommens- und
Preisentwicklungen, Höhe der Mieten und Verbraucherausgaben und noch einiges mehr - sind außerordentlich
schwierig und sehr komplex.
Mein besonderes Anliegen auch als Berichterstatter
zu diesem Thema ist, gezielt gegen Altersarmut vorzugehen - auch gegen die, die in 10 oder 15 Jahren auf uns
zukommen wird, wenn wir nichts tun - und frühzeitig
stimmige Konzepte zu entwickeln. Dafür stehe ich, und
genau dafür wird diese Regierungskommission eingesetzt, worüber ich sehr froh bin.
({9})
Sehr froh bin ich auch darüber, dass wir das Thema
schon in die Koalitionsverhandlungen und den Koalitionsvertrag eingebracht haben.
Ich verstehe allerdings nicht ganz, wieso Sie als Linke
in dem Antrag, über den wir heute diskutieren, die genaue Aufgabenstellung und die Zusammensetzung der
Kommission kritisieren, bevor überhaupt ein Konzept
vorliegt und ebendiese Zusammensetzung feststeht. Ich
bin wirklich erstaunt, dass Sie teilweise schon genau zu
wissen scheinen, was in diesem Auftrag stehen wird und
warum es dort hinein soll oder nicht, obwohl es dazu
noch gar nichts Schriftliches gibt. In sämtlichen Antworten, die die Bundesregierung bisher - zuletzt vorgestern
im Ausschuss - gegeben hat, wurde betont, dass über die
genauen Modalitäten, also die Zusammensetzung des
Gremiums sowie dessen detaillierte Aufgabenstellung,
noch gar nicht entschieden ist.
({10})
Fest steht nur, dass die Kommission alle möglichen
Ansätze zur Vermeidung von Altersarmut umfassend
prüfen soll. Dazu gehören auch die Auswirkungen von
Langzeitarbeitslosigkeit, die Sie ansprechen, auf die spätere Absicherung im Alter. So sieht der Auftrag, über
den ich erst einmal sehr froh bin, aus, der bei mir gelandet ist. Wenn das Konzept für die Kommission vorliegt,
können wir uns gern kritisch damit auseinandersetzen;
aber lassen Sie uns doch bitte so lange warten, bis es tatsächlich vorliegt.
({11})
Laut aktueller Planung wird die Kommission - das
haben Sie vorhin auch schon gesagt - ihre Arbeit im
April aufnehmen. Den Vorsitz wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben. Im September 2012
soll der Abschlussbericht vorgelegt werden, und wir
werden über die Qualität der Aussagen zu befinden haben. Ich kann Ihnen versichern - auch das wurde von der
Bundesregierung in jeder Debatte zur Altersarmut vorgetragen -, dass neben den fachlich betroffenen Ressorts
wie Wirtschaft, Finanzen und Justiz auch unabhängige
Wissenschaftler und Sachverständige aus den sozialen
und arbeitsmarktspezifischen Bereichen vertreten sein
werden. Natürlich werden dann auch Beiträge von Vertretern aus der Wissenschaft, von Gewerkschaften und
der Arbeitgeberseite, von Sozial- und Betroffenenverbänden eingeholt; das versteht sich von selbst. Wir sind
auf diese Expertise angewiesen, um jenseits von parteipolitischen Argumenten zu einem Ergebnis zu kommen.
({12})
Dies wird uns Szenarien und damit auch Strategien aufzeigen, wie wir darauf reagieren können.
Der Vorwurf aus Ihrem Antrag, liebe Kollegen der
Linken, dass der Koalitionsvertrag eine einseitige Zusammensetzung vermuten lässt, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Abschließend komme ich noch einmal auf die wichtigsten Voraussetzungen zur Vermeidung der von Ihnen
angesprochenen Altersarmut zu sprechen. Zum einen
geht es um die Integration in den Arbeitsmarkt. Wir
sprechen in diesen Tagen immer wieder davon, dass Bildung in den Mittelpunkt gestellt werden und niemand
auf der Strecke bleiben soll. Es geht um eine dauerhafte
Erwerbstätigkeit mit entsprechendem Einkommen und
möglichst vollständiger und adäquater Rentenbiografie
sowie um eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, durch die die von Ihnen als nachteilig wahrgenommene Situation von Frauen verbessert werden
soll.
Die Arbeit der Kommission dient zuallererst der Meinungsbildung der Bundesregierung hinsichtlich bestimmter Maßnahmen und Modelle zur Vermeidung von
Altersarmut. Dieser Prozess ist in alle Richtungen offen.
Es geht eben nicht um eine ideologische Debatte zu der
Frage, ob staatliche oder private Vorsorge zu bevorzugen
ist, sondern um eine gründliche Prüfung und Analyse der
Maßnahmen zur Sicherung im Alter. Ziel ist es, ein langfristiges Konzept zu entwickeln. Dieses gilt es gut vorzubereiten. Ich denke, ein Zeitraum von eineinviertel
Jahren ist dafür nicht zu lang. Gleichwohl ist der Termin
für den Abschluss der Tätigkeit der Kommission so angelegt, dass wir noch in dieser Wahlperiode gesetzgeberisch tätig werden können.
({13})
Je nachdem, welche Empfehlungen von dieser Kommission ausgehen, werden wir weit über die Legislaturperiode hinaus daran zu arbeiten haben.
Lassen Sie es mich mit einem Bild beschreiben: Mir
kommt es so vor, als führen wir alle in einem gut funktionierenden Fahrzeug, das bis zur nächsten Inspektion
noch 10 000 Kilometer einwandfrei fahren kann. Wir
sind in die richtige Richtung unterwegs - davon bin ich
überzeugt ({14})
und haben schon einen Termin für die nötige Inspektion
festgelegt. Aber Sie, liebe Kollegen, tun so, als stünden
wir seit Monaten auf dem Schrottplatz.
({15})
Das ist absolut nicht legitim.
({16})
Ich halte dies nicht nur für unangemessen, sondern
auch für ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie soziale
Themen für parteipolitische Zwecke missbrauchen: Sie
schüren Ängste. Sie sagen, Sie würden sich um diese
Anliegen bemühen, aber Sie nutzen sie nur für Ihre parteipolitischen Interessen, ohne die statistischen Grundlagen ernst zu nehmen.
Möglicherweise versuchen Sie sogar wieder, uns eine
Ideologiedebatte aufzuzwingen.
({17})
Wir haben gleich noch eine Aktuelle Stunde, in der wir
eine Ideologiedebatte führen werden. Vielleicht wollen
Sie unser ganzes Gesellschaftssystem infrage stellen;
aber das ist mit uns nicht zu machen. Wir wollen eine
gute, saubere Planung, auf deren Grundlage wir dann
Entscheidungen treffen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Der Kollege Schaaf hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man sich die konkrete Fragestellung des Antrags der
Linken anschaut, dann erkennt man, dass das mit Ideologie wenig zu tun hat. Der Antrag greift ein dringendes
Problem auf, das aus meiner Sicht von Ihnen, Herr
Heinrich, unzureichend beschrieben wurde. Sie haben
gerade gesagt, Altersarmut sei aktuell kein besonders
großes Problem. Aber die Menschen, die im Alter arm
sein werden, gehen jetzt zu miserablen Löhnen arbeiten
oder sind arbeitslos.
({0})
Natürlich haben wir es mit Altersarmut zu tun, und zwar
jetzt und sehr konkret.
({1})
Wir haben eine gute Entwicklung bei der Rentenkasse
- das stimmt sogar -, weil die Anzahl der Beschäftigten
gewachsen ist. Jetzt schauen Sie sich aber einmal an, wie
viele Entgeltpunkte ein Einzelner durchschnittlich erwirbt: Diese Zahl geht systematisch nach unten. Da ist
also Altersarmut vorprogrammiert. Dem muss man entgegenwirken; dem muss man sich stellen. Da reicht die
allgemeine Ankündigung der Einsetzung einer Kommission zur Altersarmut nicht aus; man muss auch den konkreten Arbeitsauftrag beschreiben.
Herr Birkwald, ich bin da nicht bei Ihnen: Wenn ich
mir den Koalitionsvertrag anschaue und sehe, was FDP
und Union dort miteinander vereinbart haben, dann weiß
ich, dass ich einer Kommission, deren Arbeitsauftrag darauf beruht, überhaupt nicht angehören möchte. Ich
möchte einer solchen Arbeitsgruppe nicht angehören,
denn ihr geht es um die weitere Privatisierung der Altersvorsorge. Das, was Sie miteinander vereinbart haben,
hat mit der gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt
nichts zu tun; es sorgt eher dafür, dass immer mehr Menschen, die nicht in der Lage sind, eine betriebliche oder
private Altersvorsorge aufzubauen, im Alter arm werden. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, was Sie
da miteinander vereinbart haben.
Es ist übrigens spannend, dass der CDU-Parteitag
das, was Sie im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart
haben, richtigerweise komplett zurückgeholt hat. Ich
kann dem Beschluss des CDU-Parteitages in fast allen
Punkten zustimmen; das haben Herr Laumann und die
Sozialausschüsse prima hinbekommen. Nur ist mir überhaupt nicht erklärlich, wie Sie einen gemeinsamen
Auftrag für eine solche Kommission finden wollen,
nachdem der CDU-Parteitag die Vereinbarung im Koalitionsvertrag zurückgeholt hat. Das wird nicht gehen,
weil der Beschluss des Parteitages der Vereinbarung diametral gegenübersteht.
Das kann man schon am Beispiel der Soloselbstständigen erkennen. Da wird überlegt, ob man jetzt nach
Riester und Rürup nicht irgendwie noch einen dritten
Weg findet. Der CDU-Parteitag sagt, dass im Zweifel in
den Fällen, in denen die Leute keine eigene private Vorsorge aufbauen können, weil sie als Soloselbstständige
nicht genügend verdienen, überprüft werden soll, ob sie
in die gesetzliche Rentenversicherung hineinkommen
können.
Wie Sie diese beiden diametral entgegengesetzten
Dinge miteinander verbinden wollen, ist mir rätselhaft.
Deswegen, Herr Birkwald, würde ich einer solchen
Kommission lieber nicht angehören wollen. Denn man
wird sich noch nicht einmal auf einen Arbeitstitel für
eine solche Kommission wirklich einigen können.
Ich würde einer solchen Kommission, in der die beiden Fraktionen eine herausragende Rolle spielen, auch
aus einem weiteren Grund nicht beitreten wollen: weil
zumindest ein Teil dieser Koalition eine Tatsache
schlichtweg nicht anerkennt, nämlich dass man, bevor
man eine Kommission zur Altersarmut und zur Zukunft
der Rente einrichtet, zunächst einmal die Ursachen für
Armut ordentlich benennen und bekämpfen muss. Das
betrifft die Frage der Arbeitseinkommen und der daraus
resultierenden Beiträge. Zumindest muss man sich darauf verständigen, dass man anfängt, die Ursachen für
Altersarmut zu beseitigen.
({2})
Da geht es natürlich um gesetzliche Mindestlöhne.
Übrigens gibt es dazu auch einen Beschluss des Parteitages; der wurde hier noch nicht zitiert. Der Beschluss C 1
des CDU-Parteitags - C 2 ist übrigens die Frage der Altersarmut - sagt:
Die CDU Deutschlands setzt sich in der christlichliberalen Bundesregierung für eine Aufnahme der
Zeitarbeitsbranche ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz … ein.
Wenn wir so weit schon einmal wären! Wahrscheinlich
müssen wir Sie jetzt im Rahmen der SGB-II-Verhandlungen dazu zwingen, dass Sie das tun. Aber es gibt immerhin dieses Anerkenntnis. Ich bin einmal gespannt,
wie das weiterläuft.
Das gilt übrigens ebenso für andere Passagen dieses
Textes, der beschlossen worden ist, zum Beispiel - der
Kollege Birkwald hat darauf hingewiesen -:
Niedrige Renten resultieren nicht nur aus einer Absenkung des Rentenniveaus, sondern auch aus niedrigen Löhnen.
Was ist denn Ihre Strategie dagegen? Was macht diese
Koalition, damit Löhne stabil werden, damit Löhne so
hoch werden, dass man auch eine vernünftige Alterssicherung aufbauen kann und nicht nur ausreichend Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erwirbt,
sondern darüber hinaus aus dem Geld, das man mit seiner Arbeit verdient, auch noch privat vorsorgen kann?
Nichts tun Sie an der Stelle, sondern versuchen, im Koalitionsvertrag dritte Wege zu beschreiben.
Einen Punkt will ich unbedingt noch ansprechen, weil
er mit drohender Altersarmut eine Menge zu tun hat. Sie
haben vereinbart, eine Kommission einzurichten. Wozu
ich bisher von Ihnen noch nichts gehört habe, ist eine
Vereinbarung, die ebenfalls im Koalitionsvertrag steht:
Das gesetzliche Rentensystem hat sich auch in den
Neuen Ländern bewährt. Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in
Ost und West ein.
Wird denn die Ost-West-Angleichung Teil einer ArmutsArbeitsgruppe sein, oder wie soll man sich das jetzt vorstellen? Oder haben Sie vor, das, was Sie den Menschen
in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen haben, zu brechen und die Ost-West-Angleichung, zumindest die rentenrechtliche, in dieser Legislaturperiode nicht mehr
stattfinden zu lassen?
Ich vermute, Herr Birkwald - auch wenn Sie inhaltlich vieles richtig beschrieben haben, was man als Arbeitsauftrag für eine solche Kommission durchaus formulieren könnte -, dass diese Koalition und diese
Regierung vor dem Hintergrund dessen, dass sie sich bei
der Frage, wie man mit sozialen Sicherungssystemen
umgeht, diametral gegenüberstehen, nicht in der Lage
sein werden, einen vernünftigen Arbeitstitel zu formulieren, und erst recht wird kein vernünftiges Ergebnis dabei
herauskommen. Sie ignorieren das Thema Ost-West, obwohl Sie den Menschen versprochen haben, sich damit
zu beschäftigen. Übrigens ist die Frage, wie man mit der
Angleichung umgeht, auch eine zentrale Frage beim
Thema Armutsbekämpfung.
Zu all diesen Fakten konnte man bisher nichts sagen,
weil man mit der SGB-II-Neuregelung so überlastet ist.
Das Haus müsste eigentlich - das habe ich schon einmal
gesagt - groß genug sein, und eigentlich müssten diejenigen unter Ihnen, die Ahnung vom Thema Rente haben,
auch in der Lage sein, so etwas zumindest vorzubereiten.
Von daher viel Zustimmung zu dem, was Sie, Herr
Birkwald, gesagt haben, aber keine Hoffnung auf der
rechten Seite.
({3})
Den Beitrag des Kollegen Kolb für die FDP nehmen
wir zu Protokoll.1)
({0})
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hätte gerne auf das reagiert, was der Herr Kolb gesagt hätte. Das müssen wir aber leider nachlesen und
können dann erst in späteren Debatten darüber diskutieren.
({0})
- Zum Teil wissen wir das ja auch.
({1})
Armut im Alter ist ein Problem, vor dem niemand
mehr die Augen verschließen kann. Ich begrüße es deswegen ausdrücklich, dass die Regierungskommission
der Bundesregierung im April ihre Arbeit beginnt. Allerdings ist Teilen der Regierungsfraktionen die Bedeutung
des Problems immer noch nicht bewusst. So hat Herr
Heinrich gerade eben wieder behauptet - wahrscheinlich
hätte Herr Kolb das auch gesagt -, dass Altersarmut
heute noch kein Problem ist.
({2})
Das ist schlicht falsch. Zwar ist es richtig, dass Kinderarmut das vordringliche Problem ist, aber nach den
Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Armutsquote der über 65-Jährigen fast so hoch wie im Durchschnitt, Herr Heinrich. Die Zahl der Fälle, in denen
Grundsicherung im Alter gezahlt wird, steigt kontinuierlich an. Sie haben vorhin gesagt, dass 13 Prozent der Älteren ein Einkommen haben, das unterhalb der Armutsgrenze liegt. Das sind fast 2 Millionen Menschen in
diesem Land. Das ist schon heute ein Problem.
Wenn man die Zahl der Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger als Maßstab nimmt - das sind
jetzt fast 500 000 -, dann ist das der falsche Maßstab. Es
ist nämlich trotz der Verbesserungen unter Rot-Grün immer noch so, dass viele die Grundsicherung im Alter
nicht in Anspruch nehmen und die verdeckte Armut im
Alter besonders hoch ist. Deswegen muss man andere
Maßstäbe heranziehen, und danach ist Altersarmut heute
schon ein Problem. Die Leute gehen nicht zum Amt, und
zwar nicht, weil sie das Geld nicht bräuchten, sondern
weil sie sich schämen oder ihre Rechte nicht kennen. Ich
halte das nicht für einen tragbaren Zustand.
({3})
Wir möchten, dass diejenigen Älteren, die einen Anspruch auf Leistungen haben, diesen auch wahrnehmen.
Deswegen ist der Vorschlag der FDP - über den haben
wir hier leider nichts gehört, aber das können wir ja
nachlesen -,
({4})
Altersarmut durch Einführung von zusätzlichen Freibeträgen in der Grundsicherung zu bekämpfen, nicht tauglich. Dadurch würde die Zahl der Alten, die zum Sozialamt müssen, nämlich steigen und nicht sinken, die armen
Alten wären weiterhin stigmatisiert, und die verdeckte
Armut würde nicht bekämpft.
Alle anderen Parteien - da schließe ich die CDU ausdrücklich ein - haben einen anderen Ansatz. Sie wollen
gerade das verhindern. Der CDU-Parteitag ist gerade
schon erwähnt worden. Auch die CDU setzt innerhalb
der Rente an und will dort Lösungen finden. Man sieht:
Die Regierung kann sich wieder einmal nicht einigen.
Deswegen ist es auch nicht erstaunlich, dass die Bundesregierung weder die genaue Zusammensetzung der
Kommission noch den genauen Arbeitsauftrag festgelegt
hat. Klar ist nur, dass es eine regierungsinterne Kommission sein wird und diese bis 2012 arbeitet.
Mich wundert es nicht, dass die Regierungskoalition
eine interne Kommission braucht, um bei diesem Thema
voranzukommen. Die einen bestreiten das Problem, die
anderen sehen es zumindest. Die einen wollen Änderungen bei der Grundsicherung, die anderen wollen Änderungen innerhalb der Rente. Nun soll eine regierungsinterne Kommission weiterhelfen. Wie heißt es so
schön? Wer nicht mehr weiterweiß, der gründet einen
Arbeitskreis.
Wichtig ist, dass die Regierungskommission keine
reine Selbstfindungsgruppe wird, sondern dadurch eine
öffentliche Debatte über die besten Lösungen angestoßen wird. Wir fordern deshalb, dass die Kommission
dem Parlament regelmäßig Bericht erstattet und hier, im
Deutschen Bundestag, über Ergebnisse, Zwischenergebnisse und vor allem über Lösungsmöglichkeiten diskutiert wird. Ob etwas aus der Kommission folgt, ist auch
noch völlig unklar. Gerade eben hieß es, dass danach
Zeit vorhanden sei. Dazu, ob danach tatsächlich etwas
passiert, gibt es bisher aber noch keine klaren Aussagen.
Die Ministerin hat irgendwann einmal in einem Interview gesagt, dass dafür kein Geld zur Verfügung steht.
Wir müssen also abwarten, was daraus wird.
Sehen wir einmal das Positive: Zumindest über die
Gefahr einer Zunahme bei der Altersarmut sind wir uns
mittlerweile einig. Der Beschluss der CDU auf ihrem
Parteitag deutet an, dass sie Lösungen innerhalb der
Rente will und über die Rente nach Mindesteinkommen
nachdenkt. Darüber denken übrigens auch SPD und
Linke nach. Wir halten diesen Vorschlag nicht für geeignet, weil er nicht zielgenau ist und Armut im Alter nicht
effektiv genug bekämpft.
Wir setzen auf eine Garantierente, mit der geringe
Rentenansprüche auf ein Minimum aufgestockt werden.
Wir wollen, dass jemand mit 30 Versicherungsjahren
eine Rente auf der Basis von mindestens 30 Entgeltpunkten erhält. Das entspricht heute etwa 800 Euro. Das
allein reicht aber nicht aus. Wir brauchen auch präventive Maßnahmen. Wir wollen die Weiterentwicklung zu
einer Bürgerversicherung - wir wollen keine reine Erwerbstätigenversicherung -, um Versicherungsbiografien komplett erfassen zu können.
({5})
Eine durchbrochene Erwerbs- und Versicherungsbiografie ist eine wesentliche Ursache für Altersarmut.
Wir müssen natürlich auch beim Arbeitsmarkt ansetzen - das haben Kolleginnen und Kollegen der SPD und
der Linken schon gesagt -: Absenken der Löhne durch
Mindestlohn verhindern, Equal Pay etc.
Kollege Strengmann-Kuhn, die Redezeit des Kollegen Kolb ist nicht auf Sie übertragen worden. Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Letzter Satz: Für uns Grüne ist Altersarmut ein zentrales Thema, und wir werden sowohl die Regierungsfraktionen als auch die anderen Oppositionsfraktionen
weiter fordern und eigene Lösungen vorschlagen; denn
es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, den
Menschen ein Altern in Würde zu ermöglichen.
({0})
In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive
Diskussion und danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4422 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie für Klimaschutz im Verkehr vorlegen
- Drucksache 17/4040 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Beiträge zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Steffen Bilger
und Karl Holmeier für die Unionsfraktion, Ute Kumpf
für die SPD, Werner Simmling für die FDP, Sabine
Leidig für die Fraktion Die Linke und Winfried
Hermann für Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/4040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIE
LINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kommunismus auszuprobieren - Opfer nicht verhöhnen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hermann Gröhe für die Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In Bezug auf Wege zum Kommunismus formulierte am 3. Januar dieses Jahres die Vorsitzende der Partei Die Linke, Frau Kollegin Lötzsch, folgendermaßen
- ich zitiere -:
Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie
ausprobieren …
({0})
Zugleich entwarf sie in schaurig-wohliger Weise das
Szenario von zerbrechender EU und niedergehenden demokratisch-marktwirtschaftlichen Staaten, denunzierte
sie unsere politische Ordnung als Verteilungs- und
Wohlstandsdemokratie.
({1})
Marianne Birthler stellt zu Recht fest, dass sie damit vielen Mitgliedern ihrer Partei aus dem Herzen spricht.
({2})
Die Linkspartei ist und bleibt die Erbin der alten SED.
({3})
Wir sagen klar: Unser Land braucht keine Anstren-
gungen, neue Wege zum Kommunismus auszuprobieren.
Es gab wahrlich schon genug schaurige Experimente in
1) Anlage 3
der Welt: in China mit 65 Millionen Toten, in der Sowjetunion mit über 20 Millionen Toten, in Nordkorea
mit über 2 Millionen Toten, auf den Killing Fields von
Kambodscha mit über 2 Millionen Toten, in Osteuropa
und Mitteleuropa mit 1 Million Toten.
({4})
- Ja, da werden Sie unruhig. - Wo immer Wege zum
Kommunismus ausprobiert wurden, endete es in Terror
und Unterdrückung und in Summe in millionenfachem
Mord.
({5})
Es ist eben keine gute Idee, die nur stets und überall
falsch umgesetzt wurde, sondern es ist eine menschenverachtende Ideologie, der Ihre Vorsitzende bis heute anhängt.
({6})
Schauen wir uns doch einmal das Umfeld der Veranstaltung an. Da diskutiert die Kollegin Jelpke mit der
RAF-Terroristin Inge Viett und der DKP-Vorsitzenden
Jürgensen über das Thema: Wo bitte geht’s zum Kommunismus? Frau Viett meint, sie könne das - Zitat „Abfackeln von Bundeswehrausrüstung“ legitimieren.
Welche Frage stellt daraufhin Frau Jelpke der lieben
Inge? Zitat: „… ob das wirklich zu einer antimilitaristischen Bewegung führt“. Hier wird die Rechtfertigung
von Terror und Gewalt nicht klar zurückgewiesen, sondern nur auf ihre Nützlichkeit hin überprüft. Ein klares
Nein zur Gewalt sieht wahrlich anders aus. Das ist eine
Schande.
({7})
Und sollen wir dann an einen Zufall glauben - ich tue
es nicht -, wenn just im Umfeld dieser Veranstaltung
Linksextremisten Opfer der SED tätlich brutal angreifen
- einige von ihnen sind heute auf dieser Besuchertribüne -,
dann diese linksradikalen Täter auf der Konferenz Unterschlupf finden und bis heute Frau Lötzsch kein Wort
der Verurteilung oder wenigstens des Bedauerns gegenüber diesen Opfern linker Gewalt zum Ausdruck bringt?
Auch das ist eine Schande.
({8})
Einer solchen Haltung glaubwürdig entgegenzutreten,
muss eine Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause sein.
Wenige Tage nach den Äußerungen von Frau Lötzsch
erklärte der Kollege Oppermann von der SPD, an der
Spitze der Linkspartei stünden halt eine „Fernziel-Kommunistin“ und ein „Salonbolschewist“. Herr Gabriel erhob öffentlich Zweifel an der demokratischen Grundorientierung. Ludwig Stiegler sprach sogar von dem Blut
an den Händen dieser Partei.
({9})
Es sind ja nicht gerade wenige Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten unter den Opfern des kommunistischen Terrors gewesen.
({10})
Aber dann müssen Sie, Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, sich auch fragen, wie Sie es verantworten können, diese Partei zur Regierungspartei in Berlin und
Brandenburg zu machen. Das passt nicht mit den klaren
Worten zur Distanzierung vom Linkskurs dieser Partei
zusammen.
({11})
Wenige Meter von diesem Haus entfernt erinnern
schlichte weiße Kreuze daran, wo in diesem Land Wege
zum Kommunismus endeten. Die Opfer sollten uns Verpflichtung sein, gemeinsam dafür zu arbeiten, dass diese
Ideologie nie wieder Unheil über unser Land oder die
Welt bringt. Daran sollten sich alle Demokraten in diesem Haus messen lassen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ist das, worüber wir hier lästigerweise zu reden haben,
bloß unglücklich formuliert oder überinterpretiert oder
böswillig missverstanden, wie Lafontaine, Gysi und
Lötzsch behaupten?
Ich lese den Text von Frau Lötzsch und stelle fest:
Zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution in der
DDR macht sich die Vorsitzende der Partei Die Linke erneut auf die Suche nach dem „richtigen Weg“, dem Weg
in den Kommunismus. Die Wege dahin - so schreibt sie
- könne man nur finden, wenn man sie ausprobiere, ob
in der Opposition oder in der Regierung.
Man mag es kaum glauben: Die Vorsitzende einer im
Bundestag vertretenen Partei propagiert im Jahre 2011
den Kommunismus als ein mögliches gesellschaftspolitisches Ziel, als sei der Kommunismus eine normale
Denkoption, ein unschuldiges gedankliches Konstrukt,
ein noch immer erstrebenswertes, unbeflecktes Ziel.
Dass der Kommunismus eine ganz reale, nämlich eine
brutale und blutige Geschichte hat, spielt im politischen
Denken der Gesine Lötzsch offensichtlich keine Rolle.
({0})
Es gibt in ihrem mehrseitigen Text vom 3. Januar 2011
zwar eine Passage über die „offene Barbarei“ im
20. Jahrhundert; aber diese bezieht sich ausdrücklich auf
Perioden der Entfesselung des Kapitalismus. An den entfesselten Kommunismus, den entfesselten Stalinismus
verschwendet die Autorin kein einziges Wort, keinen
einzigen Gedanken, obwohl sie doch selbst SED-Mitglied war und heute deren Nachfolgepartei vorsitzt.
({1})
Diese Geschichtsvergessenheit, diese Ignoranz
gegenüber den Opfern des kommunistischen Großversuchs, dieses großzügige Hinwegsehen über die Verantwortung der eigenen politischen Bewegung ist beschämend, ist verletzend, ist skandalös.
({2})
Und es ist verräterisch; denn unüberhörbar ist die Botschaft von Frau Lötzsch an Anhänger, Sympathisanten
und Funktionäre der Linkspartei gerichtet, die die Verbrechen des Stalinismus verdrängen und die Opfer der
kommunistischen Diktatur verhöhnen. Sie macht damit
die ständig wiederholte Behauptung unglaubwürdig, die
Linkspartei hätte sich radikal selbstkritisch mit ihrer eigenen Geschichte befasst und Konsequenzen gezogen.
({3})
Ihr Verweis darauf, dass der Kommunismus etwas
ganz Fernes, noch niemals Verwirklichtes sei, ist schlicht
intellektuell unredlich. Frau Lötzsch sollte vielleicht
doch einmal ihre - wie hieß das? - Klassiker lesen. In
Die Deutsche Ideologie von Marx und Engels heißt es:
Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand,
der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die
Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.
Kommunismus ist „die wirkliche Bewegung“, nicht das
ferne Ziel.
Das wichtigste politische Instrument dieser Bewegung hieß Diktatur: Diktatur des Proletariats und tatsächlich Diktatur der Kommunistischen Partei. Die
Wirklichkeit des Kommunismus begann mit Lenin und
seinen Bolschewiki. Seine Bewegung reagierte nicht nur
auf Gewalt, sondern erzeugte sie auch. Für Stalin wurde
Gewalt dann allgegenwärtiges Machtinstrument mit Millionen von Opfern im Namen des Kommunismus.
Die herrschenden Parteien im sowjetischen Machtbereich verstanden sich, durch Lenin und Stalin geprägt, zu
Recht als kommunistische Parteien und handelten auch
so - auch die SED.
({4})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie kennen
hoffentlich die unbequeme Frage von Ernst Bloch schon
aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts: Hat der
Stalinismus den Kommunismus bis zur Unkenntlichkeit
verzerrt oder vielmehr zur Kenntlichkeit gebracht? Diese
Frage ist durch die blutige Bilanz der kommunistischen
Bewegung endgültig beantwortet.
({5})
Wer am Traum von einer gerechten Gesellschaft und
einer gerechteren Welt festhalten will - dafür gibt es
wahrlich gewichtige und sehr anständige Motive -, der
kann das nur - jedenfalls nach der furchtbaren Geschichte der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert -, wenn er oder sie radikale Kommunismuskritik übt und nicht kalkuliert naiv von Wegen zum
Kommunismus schwadroniert; sonst diskreditiert er
bzw. sie sich moralisch und politisch.
({6})
Sie müssen sich endgültig entscheiden, was Sie wollen.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege
Ackermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn ich mit Besuchergruppen hier im
Deutschen Bundestag diskutiere, dann höre ich jedes
Mal einen aufgewühlten Bericht darüber, was die Menschen von ihrem Besuch in Hohenschönhausen mitnehmen. Die Berichte der ehemaligen Gefangenen über Folter und Leid machen selbst gestandene Menschen
fassungslos. Hier zeigt sich, was der Mensch dem Menschen antun kann, wenn er sich auf den Weg zum Kommunismus begibt. Hohenschönhausen ist aber nur eines
der Schreckensbilder, die die Opfer und auch die übergroße Mehrzahl unserer Bevölkerung vor Augen haben,
wenn sie den Begriff „Kommunismus“ hören.
Wenn man nun ausgerechnet im 50. Jahr des Mauerbaus den Weg zum Kommunismus zur politischen Aufgabe erklärt, dann ist das geschichtsvergessen, zynisch
und in jedem Fall ein Angriff auf die Gefühle der vielen
Opfer des Kommunismus.
({0})
Allein schon aus diesem Grund wäre eine Entschuldigung gerechtfertigt gewesen.
Frau Lötzsch verletzte aber nicht nur die Gefühle der
Opfer, Frau Lötzsch startete auch eine Kampfansage an
Demokratie, Grundrechte, Freiheit und staatsbürgerliche Gleichheit, kurz: an unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.
({1})
Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern
auch die Haltung des Bundesverfassungsgerichts. Das
Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands, der
KPD, hat das höchste deutsche Gericht unter anderem
mit einer umfassenden Auswertung des politischen Konzepts des Kommunismus begründet. In der Begründung
heißt es:
Der Mensch wird in diesem System als Mitglied einer Klasse gesehen. … Das macht jeden Eingriff
grundsätzlich zulässig, der aus der Klassenzugehörigkeit des Einzelnen und der Klassensituation im
Ganzen von der herrschenden Klasse hergeleitet
wird. Damit tritt an die Stelle der Gleichheit aller
Staatsbürger die Scheidung in „führende“ … und
„unterdrückte“ Klassen … Grundrechte im Sinne
der freiheitlichen Demokratie können hier dem Einzelnen … nicht zustehen.
Kurz gesagt: Der Kommunismus scheidet die Menschen
in solche von unbegrenzter Macht und solche ohne jedes
Recht, wie zum Beispiel die Opfer von Hohenschönhausen. Kommunismus spaltet die Gesellschaft in Hammer
und Amboss.
Frau Lötzsch hat sich bewusst oder fahrlässig als
geistige Brandstifterin betätigt.
({2})
Wer den Kommunismus predigt, der gibt die freiheitlichdemokratische Grundordnung rhetorisch zum Abschuss
frei und muss damit rechnen, dass sich Linksextremisten
ermutigt fühlen, die Rechte des Einzelnen buchstäblich
mit Füßen zu treten. So passierte es auch am Rande der
Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie wollten Stimmen am
linksextremistischen Rand fischen und sind erwischt
worden.
Dass Kommunismus nicht funktioniert, haben wir
schon gehört. Das hat auch die Geschichte bewiesen.
Der Ostblock ist zusammengebrochen. Auch in der Gegenwart funktioniert der Kommunismus nicht. Staaten
wie Weißrussland, Kuba, Venezuela oder Nordkorea
sind das beste Beispiel dafür. Er wird auch in Zukunft
nicht funktionieren. Diese Idee gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.
({3})
Kommunismus ist nicht eine gute Idee, die nur
schlecht ausgeführt wurde, sondern eine durch und
durch schlechte Idee. Unsere Demokratie gibt Ihnen die
Möglichkeit, über den Kommunismus nachzudenken
und zu philosophieren. Im real existierenden Sozialismus war es leider nicht möglich, über Freiheit auch nur
nachzudenken oder offen und ehrlich darüber zu sprechen. Wir werden es Ihnen auch weiterhin ermöglichen,
über Ihre Philosophie, über diese Utopie nachzudenken
und zu sprechen. Wir werden es aber nicht zulassen, dass
Sie diese falsche Idee in die Tat umsetzen.
({4})
Solange von der Kollegin Lötzsch keine Entschuldigung an die vielen Opfer des Kommunismus ausgesprochen wird, möchte ich die Kolleginnen und Kollegen der
Grünen und der SPD bitten und herzlich aufrufen, die
Kooperation mit der Partei Die Linke einzustellen.
({5})
Es gehört sich nicht, dass man hier in Berlin oder - ich
denke da an die Tolerierung - in Nordrhein-Westfalen
mit Feinden der Demokratie kooperiert.
({6})
Eines muss alle Demokraten einen: Nie wieder Kommunismus auf deutschem Boden!
({7})
Der Kollege Ulrich Maurer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Meine Damen und Herren! Die Tatsache, dass man etwas salbungsvoll vorträgt, rechtfertigt es nicht, eine
Summation falscher Anschuldigungen und Unverschämtheiten an die Partei Die Linke zu richten.
({0})
Jeder, der auch nur eines der Dokumente unserer Partei
oder der PDS, die es nicht mehr gibt und die in der Partei
Die Linke aufgegangen ist,
({1})
gelesen hat, der kann sich nur wünschen - das sage ich
Ihnen nach der Debatte von vorgestern -, dass sich die
Union von ihrer Zusammenarbeit, ihrem Kollaborieren
mit den Nazis in der Adenauer-Ära auf die gleiche Weise
distanziert, wie wir das mit der DDR getan haben.
({2})
So geht es nicht, meine Damen und Herren.
Uns Übergriffe von Extremisten auf andere Menschen
auf der Straße in die Schuhe zu schieben, obwohl wir die
einzige Partei im Bundestag sind - die einzige leider -,
die Gewalt als Politik und Krieg als Mittel der Politik
ablehnt - wir haben gerade eine Afghanistan-Debatte geführt -, ist eine besondere Unverschämtheit.
({3})
Ich merke, dass Sie offensichtlich wenig über Kommunismus gelesen haben.
({4})
Sie halten ihn nämlich für eine Erfindung von Marx und
Engels. Deswegen will ich Ihnen aus der Apostelgeschichte vorlesen - hören Sie gut zu! -: Die Menge der
Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht
einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. Jeder, der einen
Acker hatte, verkaufte diesen und brachte den Erlös in
die Gemeinschaft ein. Das ist Kommunismus pur, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU.
({5})
Im Übrigen hat dann einer namens Ananias einen Teil
des Erlöses beiseitegeschafft.
({6})
- Nein, das sind kommunistische Ideen, von denen Sie
sich distanzieren - na klar.
({7})
Sie müssen das einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie würden uns gerne in diese Ecke stellen. Sie machen schließlich Wahlkampf - na klar.
({8})
- Sie können schäumen, so viel Sie wollen. Ich sage Ihnen: Meine Partei steht für die Wiedergewinnung von
Sozialstaat und Gerechtigkeit. Sie steht für die Wiedergewinnung von Demokratie und die Ablehnung von
Krieg als Mittel der Politik.
({9})
Alle großen Utopien in der Menschheitsgeschichte
sind für die Rechtfertigung von Verbrechen missbraucht
worden. Die urchristliche Utopie von Gemeinsamkeit
und der Abschaffung von Privateigentum - das habe ich
Ihnen gerade vortragen - ist für die Verbrechen Stalins
und Pol Pots missbraucht worden. Sie ist an der Berliner
Mauer und mit dem Begriff der Diktatur des Proletariats
missbraucht worden.
Aber die christliche Idee ist dafür missbraucht worden, dass in Jerusalem im Blut der Muslime gewatet
wurde. Sie ist für die Hexenprozesse und die Folter der
Inquisition missbraucht worden.
({10})
Die Idee des Kapitalismus hat Millionen von Toten unter
der Zivilbevölkerung in Vietnam zu verantworten.
({11})
Zum Schluss sage ich Ihnen eines - zu diesem Bekenntnis können Sie mich bekommen -: Wir sind die
einzige Partei, die sich gegen den Finanzmarktkapitalismus erhebt. Dazu stehen wir, und wir sind stolz darauf.
({12})
Sie sind prokapitalistische Parteien, die mit der Kommunismusdebatte nur von den eigentlichen Problemen
unserer Gesellschaft ablenken wollen. In diesen Tagen
werden durch die Spekulanten an den Warenterminbörsen die Getreidepreise und andere Lebensmittelpreise
nach oben getrieben.
({13})
Daran werden in diesem Jahr Millionen von Kindern
sterben. Das ist eine elegante Art zu töten, aber sie ist
auch durch und durch verwerflich.
({14})
Wenn schon Wahrheit, dann die ganze Wahrheit.
({15})
Sie werden uns nicht in die Kommunismusecke kriegen.
Zu der Logik der Geschichte gehört, dass im selben zarten Alter, in dem ich Oberministrant war, Ihre Parteivorsitzende FDJ-Funktionärin für Propaganda und Agitation war. Auch das gehört zu dem, was Sie erst einmal
aufarbeiten dürfen, statt bei uns die Dinge abzuladen.
({16})
Dass Sie sich das Vermögen der Blockparteien unter
den Nagel gerissen haben, müssen Sie aufarbeiten. Sie
haben auch verschwiegen, dass Sie mit unseren Stimmen
in der Uckermark Ihren Mann zum Landrat gewählt haben. Sie sind opportunistisch und scheinheilig. Deswegen lassen wir uns das nicht bieten.
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Maurer, Ihr Beitrag war wirklich unterirdisch.
({0})
Oskar Lafontaine fing schon bei Anne Will so an, als er
sagte, man könne über Raiffeisenkassen, das Spiegel-Redaktionsstatut und das Urchristentum reden. Sie haben
hier den Ministranten herausgekehrt. Sie tun so, als ob
sich Frau Lötzsch und Frau Viett bei der besagten Veranstaltung zum Beten zusammenfinden wollten. Es war
aber anders. Frau Viett kam von der RAF, überwinterte
in der DDR und predigt jetzt wieder den Gang in den
Untergrund. Der Saal dort tobte. Man wusste schon vorher, welche Veranstaltung dort zu Ihrem sonstigen staatsrituellen Gedenken arbeitsteilig stattfinden sollte. Sie
stellen sich nun hier hin, spielen den Harmlosen, stellen
Nebelkerzen auf, reden über den Hunger in der Welt und
anderes und behaupten auch noch: Unsere Partei hat mit
Kommunismus ja überhaupt nichts zu tun. - Wer soll Ihnen diese Heuchelei eigentlich glauben?
({1})
Wen haben Sie denn vor einem Jahr zu Ihrer stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt, auf Vorschlag von
Gregor Gysi, dem diese Frau zuvor noch peinlich gewesen ist? Sahra Wagenknecht, Sprecherin der Kommunistischen Plattform seit jeher.
({2})
- Stimmt, dieses Amt hat sie inzwischen niedergelegt. Wie aber schreibt sie denn ihre erleuchteten Texte? Laut
Auskunft ihres Ehemanns - der wird es ja wohl wissen unter einer Fahne der DDR, einer roten Fahne und einem
Porträt von Walter Ulbricht. So sind diese Texte dann
auch.
({3})
- Da Sie es offenbar hören wollen, bitte schön! - Sie erklärt, Erich Honecker gebühre „unser bleibender Respekt“.
({4})
Wofür? Dafür, dass er die Mauer gebaut hat. Sie erklärt
ferner, dass die DDR - Zitat - „das friedfertigste und
menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die
Deutschen im Gesamt ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“, gewesen sei. Die Mauer ist für sie eine Maßnahme zur - Zitat - „Grenzbefestigung, die dem lästigen
Einwirken des feindlichen Nachbarn ein längst fälliges
Ende setzte“. So weit Sahra Wagenknecht, so weit ihr
Beitrag im 50. Jahr des Mauerbaus. Es gab keine Entschuldigung. Nichts wurde zurückgenommen. Sich dann
hier hinzustellen und die beleidigte Leberwurst, die verfolgte Unschuld zu spielen, weil wir das ernst nehmen,
was Ihre Parteivorsitzende sagt, so billig kommen Sie
nicht davon.
({5})
Ein Wort zu Ihrer Parteiführung, weil Sie gesagt haben, wir sollten Marx lesen. Dazu fällt mir die Stelle aus
dem 18. Brumaire ein, wonach sich die großen Taten
wiederholen: Sie finden einmal als Tragödie und einmal
als Farce statt. Die Ermordung von Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht war sicherlich eine Tragödie.
({6})
Ihre neue Parteiführung - Gesine Lötzsch und Klaus
Ernst - ist die Farce, um das deutlich zu sagen.
({7})
Sie weist auf die vielen Wege zum Kommunismus hin
- man müsse sie nur beschreiten -, und er weiß darob
nicht, auf welchem er mit seinem Porsche voranfahren
soll. Deswegen steht er auf der Stelle und sagt ewig dasselbe.
({8})
Die beiden, die Sie sich als Vorsitzende ausgesucht haben, sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf
geistigem Mindestregelsatz.
({9})
Aber das macht ihre Äußerungen nicht besser.
Es wurde doch schon gesagt, dass Menschen, die in
der DDR in Haft saßen - Vera Lengsfeld ist inhaftiert
worden wegen eines Plakates, das sie bei einer RosaLuxemburg-Demonstration gezeigt hat -, getreten wurden und geradezu in drei Angriffswellen, selbst als sie an
eine Bushaltestelle gingen, von sogenannten jungen Antifas verfolgt wurden, die an dieser Veranstaltung teilgenommen und Ulla Jelpke zugejubelt haben. Von Ulla
Jelpke wissen wir, dass ihre Hauptsorge der Entdämonisierung der DDR und der Stasi gilt. Sie war bei der Veranstaltung Moderatorin. Man muss sagen: Wie die Moderatorin, so das Publikum. Auch das können Sie nicht
abstreiten. Das ist ihr Publikum gewesen.
({10})
Es ist eine Schande, was vor diesem Saal passiert ist.
Es ist eine Schande, dass Frau Lötzsch kein offizielles
Wort des Bedauerns dazu gefunden hat. Es ist richtig,
was hier gesagt wurde, dass gerade die Opfer der DDRDiktatur uns dazu zwingen, diese Auseinandersetzung
mit Ihnen in aller Schärfe zu führen und keine RelativieWolfgang Wieland
rungen und erst recht keine Rehabilitierung der Täter zuzulassen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Bergner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Vertreter des Bundesministeriums, das für politische Bildung
und für Extremismusbekämpfung zuständig ist, stelle ich
fest: Die große Aufmerksamkeit und die öffentliche Erregung, die die schriftlichen und mündlichen Aussagen von
Kollegin Lötzsch als Parteivorsitzende der Linken anlässlich der Rosa-Luxemburg-Konferenz gefunden haben,
sind berechtigt, und die Debatte über diese Äußerungen
ist notwendig, auch die Debatte, die hier im Deutschen
Bundestag geführt wird.
({0})
Herr Kollege Maurer, unter dem Eindruck Ihrer Rede
füge ich hinzu, dass die massive Kritik, der Ihre Fraktion
in dieser Debatte ausgesetzt ist, für die politische Kultur
in unserem Land offensichtlich unverzichtbar ist, wenn
Sie nicht ein einziges Wort der Einsicht oder der Zurücknahme in dieser Debatte zu verkünden haben.
({1})
Die Debatte ist wichtig, weil es um den demokratischen Grundkonsens und die Wertegrundlagen unseres
Gemeinwesens geht.
Die Äußerung von Frau Lötzsch, viele weitere Wege
hin zum Kommunismus auszuprobieren, sowie die Interpretation des aktuellen Handelns der Partei Die Linke
und der Fraktion Die Linke im Sinne dieser Viele-WegeTheorie hin zum Kommunismus - auch das ist bemerkenswert - mögen auf unterschiedliche Bewertungsperspektiven treffen.
Ich muss zusammen mit anderen in diesem Parlament
Wert darauf legen, dass es zwischen Frau Lötzsch und mir
eigentlich keine Missverständnisse geben dürfte, wenn es
um den Begriff des Kommunismus geht. Sie wie ich haben im Rahmen unserer Schulpflicht in der DDR den
Staatsbürgerkundeunterricht besucht. Sie wie ich und andere haben im Rahmen ihres Studiums die obligatorische
Marxismus-Leninismus-Ausbildung erfahren. Sie wie
ich haben die indoktrinierende M-L-Weiterbildung während des Berufslebens über uns ergehen lassen müssen.
Herr Maurer, weil Sie sich auf das Neue Testament
beziehen, kann ich aus eigener Erfahrung hinzufügen:
Wir haben erlebt, dass der Kommunismus, mit dem wir
konfrontiert waren, aufs Äußerste aggressiv atheistisch
und kirchenfeindlich war. Insofern ist die Berufung auf
die Apostelgeschichte völlig deplatziert. Dies gilt auch
für einen ehemaligen Ministranten.
({2})
Wir wissen, was diejenigen, die diese Idee begründeten, gemeint haben: klassenlose Gesellschaft. Engels
sprach vom Sprung des Menschen aus dem Reich der
Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Das ist eine anspruchsvolle und endzeitliche Sozialutopie, die von einer berufenen Elite erreicht werden sollte, von der Partei
der Arbeiterklasse; es war die Rede von der historischen
Mission der Arbeiterklasse. Die berufene Elite nahm
deshalb für sich das Recht in Anspruch, die eigenen Vorstellungen im Rahmen der Diktatur des Proletariats mit
totalitären Mitteln durchzusetzen. Das heißt, die Sozialutopie des Kommunismus ist untrennbar verbunden mit
dem Totalitarismus, der seiner Zielerreichung zugrunde
liegt.
({3})
Wenn Herr Gysi nun sagt, als Politiker müsse man berücksichtigen, dass andere unter dem Begriff „Kommunismus“ Stalin verstehen oder an die Mauer denken, so
muss ich sagen: Das stimmt. Aber das ist nicht das Ergebnis einer schöpferischen Fantasie, sondern das Ergebnis leidvoller Erfahrungen, die sich auf vielfache
Weise weltweit niedergeschlagen haben.
({4})
Wenn wir eine Debatte über die Wertegrundlagen unserer Gesellschaft führen wollen, dann ist für uns unzweifelhaft: Der Kommunismus ist nicht die Gesellschaft des Grundgesetzes.
({5})
Wer Wege zum Kommunismus sucht, der sucht Wege
aus der Gesellschaft des Grundgesetzes.
({6})
Er braucht sich dann nicht zu wundern, dass das Bundesverwaltungsgericht am 21. Juli letzten Jahres entschieden hat, dass die praktische Beobachtung der Partei Die
Linke durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtmäßig ist.
({7})
Wir haben es hier mit einer Leitbildkonkurrenz zu
tun, mit einem Leitbildgegensatz, der nicht deutlich genug benannt werden kann. Das Leitbild des Grundgesetzes ist eine Gesellschaft, die allen Menschen, auch denen
der zukünftigen Generation, ein Leben in Würde ermöglichen will. Die Erfüllung dieses Leitbildes ist eine anspruchsvolle und täglich wiederkehrende Aufgabe. Wer
den Kommunismus propagiert, der will sich mit der
Flucht in eine Sozialutopie der täglichen Mühe dieser
Aufgabe entziehen. Wie mühevoll diese Aufgabe ist, das
erleben wir in den Debatten, aktuell bei der Debatte um
die Hartz-IV-Sätze im Vermittlungsausschuss. Diese
Aufgabe ist mühevoll, und es ist streitig, was im Einzelnen auf der Grundlage des Leitbildes des Grundgesetzes
verhandelt wird. Aber gerade weil es streitig ist, ist es so
wichtig, dass der Streit auf dem gleichen Fundament geführt wird, wenn er zu regierungsfähigem Handeln führen soll. „Gleiches Fundament“ bedeutet eben nicht das
Ausprobieren von Wegen zum Kommunismus, sondern
sich täglich der Mühe zu unterziehen, jedem Menschen
in dieser Gesellschaft ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Wenn Sie sich an der Debatte beteiligen, so setzen Sie
sich - hier hat Frau Lötzsch vielleicht nur eine Offenbarung längst bekannter Positionen verkündet - dem berechtigten Misstrauen aus, dass Ihr Beitrag zur Debatte
um Hartz-IV-Sätze, um Altersarmut, um Steuerpolitik,
um Friedenspolitik kein Beitrag ist, hinter dem die individuelle Menschenwürde als wirklich letztendliches und
entscheidendes Ziel steht. Vielmehr ist sie nur ein taktisches Ziel.
({8})
- Sie haben den Beitrag von Frau Lötzsch hoffentlich
ebenfalls gelesen.
({9})
Ich rede nicht über irgendetwas, sondern ich rede über
das, was ihre Haltung prägt und was in diesem Aufsatz
zum Ausdruck kommt.
({10})
Manche illusionäre Finanzforderung an den Staat findet
unter Umständen darin eine logische Erklärung; denn es
geht Ihnen offenkundig nicht darum, tagtäglich das Ziel
der Wahrung der individuellen Menschenwürde zu erreichen, sondern Sie folgen einer Utopie, für deren Durchsetzung in der Geschichte immer wieder Gewalt gerechtfertigt wurde.
Es ist nicht so, dass ich gegen das eine oder andere Ihrer Parteimitglieder Einwände hätte. Ich habe schon individuelle Personen Ihrer Partei für ihren Einsatz gewürdigt. Aber weil ich der Meinung bin, dass zur
Regierungsfähigkeit eine Übereinstimmung in den Wertgrundlagen erforderlich ist, war für mich immer klar,
dass mit Ihnen keine Koalition und keine Zusammenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland auf Regierungsebene praktiziert werden sollte.
({11})
Ich nehme den Beitrag von Frau Lötzsch als eine Mahnung. Jeder sollte in diesem Sinne seine Verantwortung
bei seinem politischen Handeln wahrnehmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Die Kollegin Gleicke hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gesine Lötzsch hat Unsinn geredet und geschrieben. Das
wissen hier alle. Frau Lötzsch weiß das sicher auch selber. Das macht das Ganze kein bisschen besser, sondern
nur noch viel ärgerlicher und noch viel peinlicher. Frau
Lötzsch sollte zugeben, dass sie bestimmten Leuten nach
dem Maul reden wollte. Damit wäre zwar nichts wirklich gut, aber zumindest vieles geklärt. Dann könnten
wir diese Debatte beenden und uns wieder um wirklich
wichtige Dinge kümmern, um die Zensur von Soldatenpost zum Beispiel, um vergiftete Lebensmittel oder um
den Zynismus, mit dem diese Bundesregierung Hartz IV
instrumentalisiert, um all die großen und kleinen Skandale, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient hätten.
Aber nein, sie gibt gar nichts zu. Sie bleibt lieber in
ihrem rot lackierten Elfenbeinturm sitzen und spinnt dort
genau das Garn, aus dem die CDU ihre nächste RoteSocken-Kampagne stricken möchte. Wenn Frau Lötzsch
sich selbst als demokratische Sozialistin bezeichnet und
behauptet, nach irgendwelchen Wegen zum Kommunismus suchen zu wollen, dann ist das erstens intellektuell
armselig, weil das eine das andere definitiv ausschließt.
Das hat uns die Geschichte gezeigt.
({0})
Zweitens ist das purer Opportunismus, weil sie damit im
Trüben fischt. Sie geht damit bei denjenigen auf Stimmenfang, die aus der Geschichte nichts, aber auch gar
nichts gelernt haben. Das sind die, die von der Geschichte nichts wissen, das sind die, die von der Geschichte nichts wissen wollen, oder die, die die Geschichte kennen und keine Konsequenzen aus ihr ziehen
wollen. Die dritte Gruppe sind die völlig Unbelehrbaren.
Das sind die herz- und hirnlosen Zyniker, die finden,
dass all dieser Schrecken und all diese Verbrechen insgesamt irgendwie doch richtig und notwendig gewesen
sind: die Schauprozesse, die Gulags, Bautzen, die
Mauer, der Schießbefehl. Es gibt tatsächlich immer noch
Leute, die der Meinung sind, dass das bedauerliche, aber
historisch irgendwie notwendige Irrtümer auf den verschlungenen Wegen ins Paradies gewesen sind. Es gibt
immer noch Leute, die nicht begreifen können oder wollen, dass der Kommunismus des 19. Jahrhunderts seine
Unschuld für immer verloren hat.
({1})
Aber es gibt noch ein Drittes, was ich Ihnen ankreide
und übel nehme. Diese unsägliche Debatte beschädigt all
die anständigen Menschen, die wirklich und aufrichtig
an eine bessere Welt glauben und die jeden Tag versuchen, sie ein kleines bisschen besser zu machen. Damit
meine ich auch durchaus Leute in der Linkspartei, gerade unter den Jüngeren.
({2})
Die sitzen jetzt da und wissen nicht so recht, was sie machen sollen - mit einer Vorsitzenden auf der Suche nach
Wegen in den Kommunismus und mit einem Vorsitzenden auf der Suche nach dem besten Rotwein unter
10 Euro. Rosa Luxemburg wäre da speiübel geworden.
({3})
Sie gehen schlecht um in der Linkspartei mit Ihren
jungen Leuten und deren Träumen von einer besseren
Welt. Das müssen Sie letztlich selber wissen; da mische
ich mich nicht ein. Aber wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie auf der einen Seite kalten Kaffee
vom Kommunismus erzählen und auf der anderen Seite
uns Sozialdemokraten immer wieder als Totengräber des
Sozialstaats oder als Kriegstreiber denunzieren. Sie haben den Traum von der besseren und von der gerechteren Welt nicht gepachtet; im Gegenteil: Sie sind dabei,
ihn für einen billigen Applaus der Ewiggestrigen zu verraten.
({4})
Wenn Sie glauben, dass Sie mit dieser billigen Masche
durchkommen, dann werden Sie Ihr rotes Wunder erleben.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Kurth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Maurer, das Christentum will
das Individuum ändern, durch Einsicht, und nicht die
Gesellschaft.
({0})
Der Kommunismus will durch Revolution die Gesellschaft verändern. Der Kommunismus scheitert regelmäßig. Das Christentum bleibt. Das ist der gewaltige Unterschied.
({1})
Frau Lötzsch hat einen Beitrag geschrieben. Hohe
Wellen hat dieser Beitrag geschlagen: öffentlicher Aufschrei, zahlreiches Kopfschütteln. Ja, das beruhigt: Das
gesellschaftliche und demokratische Immunsystem ist
intakt.
Die Art und Weise aber, wie die Linke mit diesem
Thema umgegangen ist, wie sie sich heute hier auch präsentiert hat, die Übergriffe auf friedlich demonstrierende
SED-Opfer, das Ausbleiben von Bedauern, das zeigt:
Das gesellschaftliche und demokratische Immunsystem
der Partei Die Linke ist kaputt.
({2})
Etwas ist schon ein bisschen erstaunlich; das muss ich
wirklich sagen. Eine Frage stellt sich vielleicht vielen
- Sie haben auch keine Antwort gegeben -: Wo ist eigentlich Frau Lötzsch? Wo ist eigentlich Herr Gysi? Wo
ist denn eigentlich Klaus Ernst? Wo ist denn Sahra
Wagenknecht? Und noch einmal: Wo ist Gesine
Lötzsch?
({3})
Hier wird über ihre Diskussionsbeiträge gesprochen.
Gesine Lötzsch geht offensichtlich viel lieber zu linkskriminellen Demagogen und Terroristen. Sie ehrt, sie
adelt eine solche Veranstaltung, aber dem Deutschen
Bundestag bleibt sie fern. Eine hervorragende parlamentarische Auffassung hat diese Dame, die Sie hier heute
noch einmal bestätigt haben.
({4})
Die Aussagen von Frau Lötzsch lassen in ihrer Eindeutigkeit wenig Interpretationsspielraum. Sie bekennt
sich klar zur „strukturellen Veränderung der Eigentumsund Machtverhältnisse“. Sie sieht ihre Partei in der „Tradition gesellschaftsverändernder radikaler Realpolitik“.
An diesen Aussagen kann man ebenso wenig deuteln
wie an der Verwendung eines sehr problematischen Zitats. Sie zitiert Rosa Luxemburg. Ich zitiere:
So soll die Machteroberung nicht eine einmalige,
sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle
Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln
verteidigen.
Gesine Lötzsch!
Ich frage Sie: Was verstehen Sie unter „hineinpressen“? Ich frage Sie: Wie sind in diesem Zusammenhang
„Zähne“ und „Nägel“ zu verstehen? Ich frage Sie: Was
können Sie denn dagegen haben, dass die Verfassungsschutzämter Sie beobachten? Wer mit Zähnen und Nägeln in der Demokratie umgehen will, der hat nichts anderes als Gewalt oder Härte vor. Ich möchte Sie bitten,
diese Frage hier noch schnell zu klären.
({5})
Eines lässt einen ganz erschaudern. Es gibt einen Abschnitt mit der Überschrift „Fortschreitende Machteroberung“. Der Begriff „Eroberung“ ist höchst interessant. Er hat relativ wenig gemein mit dem
demokratischen Grundkonsens, mit der Willensbildung
und dem politischen Wettbewerb. „Machteroberung“
Patrick Kurth ({6})
- andere haben es übrigens „Machtergreifung“ genannt -,
({7})
unter diesem Aspekt schreibt Frau Lötzsch verschiedene
Dinge auf. Sie schreibt darüber, ob sich Krisen möglicherweise zum Vorteil für die Linken auswirken könnten; sie schreibt über die Klimaerwärmung und über
Missstände in Verbindung mit der Euro-Krise und stellt
die Frage, ob die EU eventuell auseinanderbricht. Dann
folgert sie - das ist ganz interessant -: Angenommen,
das tritt alles so ein, dann werden wir gefragt.
Wir, die demokratischen Fraktionen, versuchen ja,
diese Krisen - wenn auch mit unterschiedlichen politischen Mitteln - zu verhindern. Das Ziel ist aber das
Gleiche, nämlich dass es den Menschen in diesem Land
gut gehen soll. Sie aber wollen Ihren politischen Gewinn
aus der Tatsache ziehen, dass diese Krisen eintreten. Ich
habe mir gedacht, dass ich diese Haltung von irgendwoher kenne. Ich habe etwas gefunden, das Ihnen sicherlich
bekannt ist:
Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel,
dass eine Revolution ohne revolutionäre Situation
unmöglich ist …
An anderer Stelle steht sinngemäß: Erst wenn das Volk
hungert, ist es bereit zur Revolution. - Das hat Wladimir
Iljitsch Lenin vor ungefähr 100 Jahren zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale geschrieben, nachzulesen in Lenin, Werke, Band 21.
({8})
Was Frau Lötzsch in der Sprache des 21. Jahrhunderts
geschrieben hat, ist genau das Gleiche: Aus Krisen wollen Sie Ihren politischen Gewinn erzielen.
({9})
Ich halte fest: Wer glaubt, es handele sich um einen
gesellschaftspolitischen Aufsatz, der irrt. Dahinter steckt
eiskalte Parteitaktik. Der Unterschied zu irgendwelchen
DDR-Shows ist der, dass Frau Lötzsch eine Politik machen will, die in unser künftiges Leben eingreifen soll.
Für viele Menschen ist der kommunistische Gedanke
möglicherweise hipp und modern. Aber diese Menschen
wissen gar nicht, dass diese Haltung von Ihnen parteipolitisch ausgenutzt wird.
Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass ausgerechnet
der Kommunismus mit seiner menschenausgrenzenden,
bevorteilenden und nach Klassen unterscheidenden
Theorie und in seiner gewalttätigen, freiheitsberaubenden und tödlichen Praxis als die gerechtere Gesellschaftsform dargestellt wird. Einem solchen im Kern
völlig ungerechten Gesellschaftssystem müssen aufrechte Demokraten aufklärerisch, aber auch wehrhaft
entgegentreten.
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dobrindt das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokraten! Anwesende Kommunisten!
({0})
Meine Damen und Herren! Herr Maurer, das, was Sie
hier abgeliefert haben, ist nicht nur unterirdisch.
({1})
Es ist auch abartig und pervers. Das muss man einmal an
dieser Stelle sagen.
({2})
Sie haben das Bekenntnis zum Kommunismus hier im
Deutschen Bundestag erneuert. Außerdem waren Sie
noch bereit, dass Christentum mit hineinzuziehen. Sie
sollten sich an die geschichtliche Wahrheit halten. Kommunisten haben überall auf der Welt die Christen verfolgt, unterdrückt und entrechtet. Das ist die geschichtliche Wahrheit und nichts anderes.
({3})
Sie reden von den Wegen zum Kommunismus. Es
gibt in diesem Artikel noch weitere schöne Zitate von
Gesine Lötzsch. Sie schreibt:
Egal, welcher Pfad zum Kommunismus führt, alle
sind sich einig, dass es ein sehr langer und steiniger
sein wird. Warum eigentlich?
Sie fragt also, warum es keinen schnellen Weg geben
soll, warum es nicht bald geschehen soll. Sie hat mit dieser Aussage klar gesagt, dass sie in Deutschland den
Kommunismus einführen will.
({4})
Damit stellen Sie sich außerhalb des Verfassungsbodens. Wer in Deutschland ein menschenverachtendes
System verherrlicht, wer in Deutschland den Kommunismus predigt, der sagt damit deutlich, dass er die freiheitlich-demokratische Grundordnung in diesem Land
schleifen will und sie ablehnt. Wer dies tut, muss flächendeckend vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
({5})
Der Kollege Kurth hat gerade zu Recht gefragt, wo
denn eigentlich Ihre Parteivorsitzende Lötzsch ist.
({6})
Draußen bei den Menschen, in Hinterzimmern und wo
auch immer sind Sie gerne bereit, den Kommunismus zu
predigen. Hier aber, wo Sie eine politische Debatte führen könnten, stehlen Sie sich feige davon. Warum stellt
sich Ihre Vorsitzende nicht dieser Debatte?
Ich sage Ihnen: Die Linken lassen sich heutzutage
eindeutig mit drei Wörtern beschreiben: antidemokratisch, verfassungsfeindlich und feige. Das ist die Realität
der Linken in Deutschland.
({7})
Aber Sie hätten auch einmal die Wahrheit sagen können.
({8})
Sie hätten die Chance gehabt, heute die Wahrheit zu sagen, warum Sie sich eigentlich mit dem Thema Kommunismus jetzt mehr beschäftigen als vielleicht in der Vergangenheit. Ihre Vorsitzende Gesine Lötzsch hat es ja in
ihren ersten Wortmeldungen nach diesem Artikel getan,
danach nicht mehr. In den ersten Wortmeldungen hat sie
gesagt, es solle ein Ansporn sein, auch diejenigen für die
Linken zu gewinnen und zu halten, denen die Partei
heute zu angepasst erscheint.
Das ist Ausdruck einer tief verwurzelten antidemokratischen kommunistischen Haltung in Ihrer Partei, die
Sie jetzt billig bedienen wollen, die Sie mit in die Verantwortung nehmen wollen, deren Weg Sie mit beschreiten wollen. Sie haben sich klar dafür entschieden, eine
Kommunismusdebatte in Deutschland zu führen, um einige Menschen in Ihrer Partei, die antidemokratisch
sind, billig wieder auf Linie zu bringen. Es ist feige und
populistisch, was an dieser Stelle stattfindet.
({9})
Man kann den Ursprungsentwurf dieses Artikels
heute nachlesen. Der Ursprungsentwurf, den einer Ihrer
Philosophen geschrieben hat, hat in der Tat einen Hinweis auf kommunistischen Terror enthalten. Er hat in der
Tat darüber gesprochen, dass es Millionen von Opfern
aufgrund kommunistischer Regime gegeben hat. Genau
diesen Satzteil haben Sie bewusst aus diesem Manuskript herausgestrichen und die Wege zum Kommunismus, die es vorher gab, hineingeschrieben.
({10})
Das ist es, was ich dabei eigentlich mit am schlimmsten
finde. Da zeigt sich deutlich, wes Geistes Kind hinter
diesem Schreiben steht.
({11})
Ich habe sehr genau zugehört, wie Sie, Herr Thierse,
beschrieben haben, welche Auswirkungen der Kommunismus auf die Welt hat. Ich kann es nur mit großem
Respekt zur Kenntnis nehmen. Ich hätte allerdings gehofft, dass Ihre Kollegin Frau Gleicke Ihnen genauso gut
zugehört hätte wie ich. Dann hätte sie nämlich festgestellt, dass es nicht um die Frage irgendeiner RoteSocken-Kampagne geht. Es geht um grundsätzliche Fragen unserer Gesellschaftsstruktur, die wir heute hier diskutieren. Dabei geht es natürlich auch darum, wer sich
mit wem am Ende gemeinmacht. Deswegen wäre der
Hinweis richtig gewesen,
({12})
wenn Sie heute zu Recht dieses Bekenntnis gegen den
Kommunismus abgeben, dass Sie sagen, dass sich in
Berlin und Nordrhein-Westfalen Sozialdemokraten nicht
mit den Linken gemeinmachen dürfen.
({13})
Das trifft leider Gottes auch die Grünen. Kollege
Wieland, ich habe mit Entsetzen feststellen müssen, dass
man genau nach diesem Bekenntnis der Linken zum
Kommunismus nicht als Erstes einen Aufschrei aller demokratischen Parteien gehört hat,
({14})
sondern dass als Allererstes auch eine Wortmeldung Ihrer Parteivorsitzenden Frau Roth dabei war, die gesagt
hat: Egal, was ist, ich schließe eine Zusammenarbeit mit
den Linken in Deutschland nicht aus.
({15})
Ich kann für die Christlich-Soziale Union hier feststellen: Wir schließen für alle Zeiten aus, mit denen gemeinsame Sache zu machen, der Kommunismus darf in
Deutschland keine Chance mehr haben! Dafür müssen
wir alle sorgen.
({16})
Das Wort hat der Kollege Hacker für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kommunismus - ob in den Farben des real existierenden Sozialismus in der DDR oder beispielsweise als
Sowjetsystem - ist geschichtlich gescheitert. Eine Debatte zum Kommunismus würde sich eigentlich vor dem
Hintergrund anderer wichtiger Themen hier im Hause
erübrigen, wenn irgendjemand diese Diskussion angestoßen hätte.
Aber es ist nicht so. Es ist die Parteivorsitzende der
Linken, Frau Lötzsch, die scheinbar in dem Führungsduo ihrer Partei die Rolle für Agitprop und ideologische
Bestandspflege übernommen hat,
({0})
während sich der Kovorsitzende mehr um die angenehmen Seiten des Lebens kümmert. Hier kommt erneut die
Doppelgesichtigkeit dieser Partei zum Ausdruck.
Frau Lötzsch ist heute nicht anwesend. Das ist angesichts des Eklats, den sie in der deutschen Gesellschaft
provoziert hat, für mich unverständlich. Bei ihrem Ausflug in den Kommunismus kommt mir ein Song aus dem
DDR-Oktoberklub ins Gedächtnis, den Frau Lötzsch damals im Gegensatz zu mir vielleicht mit vollem Herzen
und aus voller Brust mitgesungen hat. Der Titel lautet:
„Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“. Frau
Enkelmann kennt diesen Song; sie gehört wahrscheinlich ebenfalls zu den Anhängern dieser Musik, was auch
in Ordnung ist. Bei dem anderen Thema ist die Bewertung anders.
Bei allen Bemühungen fällt es schwer, herauszufinden, was Frau Lötzsch mit ihren Äußerungen eigentlich
politisch und gesellschaftlich will. Mir kommt ihr Agieren während der Diskussion und auch danach wie eine
Schifffahrt auf hoher See ohne Kompass und Radar vor.
Oder sie strebt tatsächlich an, was ihrer diffusen Wortmeldung über Wege zum Kommunismus in der Konsequenz zu entnehmen ist. Das könnte dann aber nur eine
andere Gesellschaft als die nach unserem Grundgesetz
sein; dann wären Diktatur und Unterdrückung statt Freiheit und Demokratie die Folge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in
unserem Land haben nach den geschichtlichen Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts mit Weltverbesserern ideologischer Prägung genug von solchen Angeboten und
stehen fest zu unserer verfassungsrechtlichen Grundordnung. Frau Lötzsch hat nicht zum ersten Mal mit der
Kommunismusdebatte die Frage danach aufgeworfen,
wie sie es tatsächlich mit dem Grundgesetz hält. Damit
hat sie auch die Frage gestellt, wie diese Partei es mit
dem Grundgesetz hält. Ihre Äußerungen sind kein Ausrutscher.
({1})
- Ich komme gleich zu einem Zitat. Die Äußerungen von
Frau Lötzsch sind kein Ausrutscher - hier sind genügend
Zitate gebracht worden -, sondern ein weiterer Punkt in
einer Reihe von Wortmeldungen, in denen sie ihre Abneigung zu unserer Demokratie und zu unserem Rechtsstaat unverhohlen zum Ausdruck bringt. Ich will nur einmal ein Zitat aus ihrer Rede zum Jahresbericht zur
Deutschen Einheit am 30. September 2010 vortragen.
({2})
Einige werden sich an diese Rede noch erinnern; auch
einige aus der Fraktion Die Linke. Einige werden sich
auch daran erinnern, dass sie die Rede von Frau Lötzsch
mit Abscheu zur Kenntnis genommen haben. Ich will
hier keine Namen nennen. Sie hat dort ausgeführt:
Es geht darum, dass es eine Alternative zu dieser
kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Wir als
Linke lassen uns nicht abschrecken.
({3})
Wenn sie eine Alternative zu dieser kapitalistischen
Gesellschaft - das war die Diskussion zum Stand der
deutschen Einheit - in Deutschland im Jahr 2010 fordert,
dann meint sie damit eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland und zu unserem
Rechtsstaat. Wenn sie zugleich Wege zum Kommunismus fordert, dann ist das ein klares Infragestellen unseres Verfassungskonsenses. Das muss hier einmal so ausgesprochen werden.
({4})
Mitglieder ihrer eigenen Partei Die Linke mahnen an,
dass die Blutspur, die der Kommunismus hinterlassen
hat, nicht ausgeblendet werden darf. Ich sage dazu: Jeder
politischer Häftling, jeder Zwangsausgesiedelte an der
ehemaligen innerdeutschen Grenze, jeder Mauertote und
jeder Flüchtling aus der DDR ist ein Argument gegen
den Kommunismus und die neuen Wege, die Frau
Lötzsch empfiehlt.
({5})
Den Kommunismus, der teilweise verklärt und schöngeredet wird, Herr Maurer, gibt es nicht halb. Das ist wie
bei der Schwangerschaft; Kommunismus gibt es nur
ganz oder gar nicht. Wir in Deutschland wollen auch
nicht die Hälfte vom Kommunismus haben.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jene Mitglieder der Linken, die nicht nur mit Lippenbekenntnissen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen, müssen sich fragen lassen, wie sie eine
derartige Wegbeschreibung ihrer Parteivorsitzenden mitgehen können.
Herr Maurer, ich bin ernüchtert. Heute hätte hier eine
Erklärung erfolgen können. Es ist ein weiterer Skandal,
dass Sie sich auf die Bibel berufen und mit ihr Enteignungen rechtfertigen;
({7})
das haben Sie hier getan. Sie haben kommunistische
Maßnahmen mit dem Unrecht anderer gerechtfertigt; das
ist ein weiterer Skandal.
({8})
Frau Lötzsch muss sich allerdings am Ende die Frage
gefallen lassen, ob sie mit ihrer Kommunismusposition
eine Partei führen kann, die den Anspruch erhebt, eine
linke, demokratische Partei in Deutschland zu sein. Die
Antwort darauf muss uns Frau Lötzsch noch geben.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Baumann hat für die Unionsfraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Maurer, Ihre Rede war für jeden, der in der
DDR gelebt hat, der das System kennt, der in der DDR
zum Opfer geworden ist, der dort gelitten hat, der dort
Christ war, eine bodenlose Frechheit. Ihre Rede war eine
Verhöhnung der Opfer.
({0})
Lassen Sie mich mit einem Beispiel aus der DDR beginnen. Ein 17-jähriger Schüler trägt eine Jeansjacke.
Darauf ist ein Aufnäher, der unerwünscht ist. Er kommt
mit der SED in Schwierigkeiten. Man verhaftet ihn,
schlägt ihn mit einem Knüppel. Als Jugendlicher versucht er, sich zu wehren. Es folgen sechs Monate Jugendgefängnis wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Er kommt frei und schreibt handschriftlich sieben
Flugblätter, die er verteilt. Man kann sagen: ein Dummejungenstreich. Darauf folgte die Inhaftierung im Stasigefängnis Hohenschönhausen. Nach der Entlassung
kommt er gleich in das nächste Gefängnis, in das Gelbe
Elend von Bautzen; viele wissen, was das war. Danach
wird ihm Republikflucht unterstellt, obwohl er diese niemals unternehmen wollte - es gab keine Beweise dafür -, und er wird ständig wieder ins Gefängnis gesteckt.
Bis November 1989 bleibt er durchgehend in Haft, in
DDR-Gefängnissen, mit allem, was dazugehörte. In der
Summe: sieben Jahre schlimmster Haft ohne jeden
Grund, eine zerstörte Jugend, eine gebrochene Persönlichkeit. Das war Kommunismus live. Dort möchten
Frau Lötzsch und einige Gestrige wieder hin.
({1})
- Genau das wollen Sie!
({2})
Ich könnte viele Beispiele anführen; viele von uns kennen genügend Beispiele, man findet sie an vielen Stellen.
Ich möchte von der täglichen Arbeit im Petitionsausschuss sprechen. Wir haben im Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages in den letzten acht Jahren etwa
2 000 Petitionen von Opfern des SED-Regimes erhalten:
Sie führen berechtigte Gründe dafür an, dass sie für das
Schicksal, das sie in der DDR erleiden mussten, Entschädigung verlangen. Noch heute gehen wöchentlich
mehrere Petitionen von Bürgern ein, die eine Rehabilitierung im strafrechtlichen oder beruflichen Bereich
wünschen. Sie haben ihr Hab und Gut verloren, saßen im
Gefängnis oder ihre Karriere wurde zerstört, einfach nur
wegen einer anderen politischen Meinung. Herr Maurer,
das war DDR live, das war Kommunismus.
Nicht nur beim Bundestag gehen jeden Tag Petitionen
ein; auch die Zahl der Eingaben bei Landesparlamenten
und den zuständigen Behörden ist riesig. Die DDR war
in allen Punkten ein Unrechtsstaat. Man kann viele Beispiele dafür anführen: Es gab keine freien Wahlen, alles
war manipuliert und gesteuert. Es gab keine freie Meinungsäußerung; man durfte nur das sagen, was der Staat
angeordnet hat, alles andere wurde verfolgt. Viele fanden sich wegen einer Meinung, wegen eines Witzes in
Bautzen oder Hohenschönhausen wieder. Die Staatssicherheit hat das Land flächendeckend kontrolliert.
Schauen Sie sich einmal die Zahlen an: Es gab einen IM
auf 89 Einwohner. Heute kennen wir diese Zahlen. Es
handelte sich also um flächendeckende Kontrolle.
Der Staat wurde auch noch von einer privilegierten
Schicht ausgeplündert, die sich alles genommen hat, die
einfach da oben war. Es gab eine sogenannte Planwirtschaft, die den Staat wirtschaftlich kaputtgemacht hat.
Andersdenkende wurden - wir kennen die Beispiele gegen Devisen freigekauft und verließen das Land. Der
Alleinvertretungsanspruch der SED war - kurzum - eine
Diktatur. Die Hinterlassenschaften haben wir 1989/90
erlebt: marode Wirtschaft, kaputtes Umweltsystem, kaputte Infrastruktur. Das Schlimmste war: Der Staat und
die Menschen waren moralisch kaputt. Damit haben wir
jahrelang zu kämpfen gehabt; über die Auswirkungen reden wir heute noch.
Man muss deutlich sagen: Zum System des Kommunismus hat auch die Gewalt gehört - 1953 in der DDR;
Herr Thierse hat die Zahlen genannt. Wir sprechen heute
von 100 Millionen Menschen weltweit, die unter der
kommunistischen Schreckensherrschaft, den kommunistischen Fehlentwicklungen gelitten haben.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist schon einiges zu
dem gesagt worden, was Frau Lötzsch auf der Podiumsdiskussion unter dem Titel „Wo bitte geht’s zum Kommunismus?“ der Rosa-Luxemburg-Konferenz am
8. Januar von sich gegeben hat. Ich möchte, weil meine
Redezeit knapp ist, einfach die Gelegenheit nutzen, mich
bei denen ganz herzlich zu bedanken, die vor dem Gebäude friedlich demonstriert haben und dann von linken
Chaoten zusammengeschlagen worden sind. Einige davon sitzen heute auf der Tribüne. Ganz herzlichen Dank
für Ihren Einsatz; er wird unvergessen bleiben.
({4})
Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass im Jahr 2011
noch Menschen für eine demokratische Gesinnung zusammengeschlagen werden.
Ich möchte noch ein Zitat von Günter Schabowski
bringen, der garantiert nicht zu meinen Freunden zählt.
Er hat 2009 ein Buch geschrieben und in der Pressekonferenz, als er das Buch vorgestellt hat, folgendes Zitat
verwendet: Zentralismus, Planwirtschaft, das ganze
System war ein Konstruktionsfehler. - So Günter
Schabowski. - Herr Maurer, das Buch können Sie sich
auch einmal anschauen.
Meine Damen und Herren, diese Partei muss weiterhin vom Verfassungsschutz kontrolliert werden. Das ist
absolut notwendig; es ist gerichtlich bestätigt. Wir müssen wachsam sein. Diese Partei möchte die Grundordnung des Staats zerstören, ein anderes System aufbauen.
Das werden wir als Demokraten nicht zulassen.
({5})
Gerade für uns aus den neuen Bundesländern, die wir
heute in demokratischen Parteien arbeiten dürfen, die
wir dankbar sind, im Bundestag sein zu dürfen, die wir
jeden Tag Demokratie live erleben, ist es Verpflichtung,
uns mit all unseren Mitteln dagegenzustellen. Dies darf
nicht wieder passieren.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jung für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als ich an dem historischen 9. November 1989
nach Ostberlin gefahren bin, um mich mit Reformkräften der CDU zu treffen, die den Brief aus Weimar für
Meinungsfreiheit, für Reisefreiheit, für Rechtsstaat, für
Demokratie in der DDR geschrieben hatten, hatten wir
auch die Absicht, über Werte auf der Grundlage des
christlichen Menschenbildes zu sprechen, über Werte
unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz hatte ich damals dabei. Aber ich musste es verstecken, weil die
Grenzwächter des real existierenden Sozialismus es mir
sonst abgenommen hätten. Daran wird deutlich - ich
fand, der Kollege Baumann hat das sehr überzeugend
dargestellt -:
({0})
Im Sozialismus und Kommunismus der DDR gab es weder Meinungsfreiheit noch Reisefreiheit, freie Wahlen
und Demokratie. Was es gab, war Unfreiheit, Unterdrückung, Stasibespitzelung, waren Mauer, Stacheldraht
und Schießbefehl. Einen derartigen Sozialismus und
Kommunismus darf es auf deutschem Boden nicht mehr
geben.
({1})
Ich erinnere mich daran - und viele mit mir -, wie
sich die Bürger damals, während der friedlichen Revolution, vom Joch des Kommunismus befreit haben und
sich eindeutig zu Werten wie Freiheit, zu Werten unseres
Grundgesetzes bekannt haben. Ich denke, deswegen darf
es kein Zurück geben. Das Elend des Kommunismus,
das es auf deutschem Boden gegeben hat, muss für immer der Vergangenheit angehören.
({2})
Herr Maurer, für mich war das, was Sie hier ausgeführt haben, bezeichnend. Sie haben im Grunde genommen alles gerechtfertigt.
({3})
Sie haben gezeigt, was Ihre geistigen Wurzeln sind. Ich
sage Ihnen, der Sie zur Nachfolgepartei der SED gehören: Ich bin und bleibe der Auffassung, dass die geistigen Väter und Mütter von Mauer, Stacheldraht und
Schießbefehl in Deutschland keine politische Verantwortung mehr tragen dürfen.
({4})
Herr Kollege Thierse, Ihre Ausführungen haben mich
sehr nachdenklich gestimmt. Ich kann Ihnen sehr wohl
zustimmen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass
die SPD mit einer solchen Partei in Berlin und in Brandenburg eine gemeinsame Regierung bildet. Das sage
ich im Übrigen auch an die Adresse der Grünen. Herr
Wieland, ich kann Ihre Ausführungen ebenfalls sehr gut
nachvollziehen. Ich kann mich auch noch sehr gut an das
Bündnis 90 erinnern. Sie führen es in Ihrem Namen, und
einige sind sogar noch im Parlament.
({5})
Wie man sich aber von einer so antidemokratischen Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, in
Nordrhein-Westfalen tolerieren lassen kann, nur um der
Macht willen, kann ich nicht nachvollziehen.
({6})
In dieser Woche hat der Präsident des Bundesamtes
für Verfassungsschutz, der übrigens Mitglied der SPD
ist, die Notwendigkeit formuliert, dass die Linke weiter
vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wenn die Parteivorsitzende der Linken den Weg in den Kommunismus gehen will und die stellvertretende Parteivorsitzende die Kommunistische Plattform vertritt, dann ist
das mit den Werten unseres Grundgesetzes nicht in
Übereinstimmung zu bringen. Das zeigt, dass sie sich
gegen unsere Verfassung richten. Deshalb sind alle Demokraten aufgerufen, ihnen ein eindeutiges Nein entgeDr. Franz Josef Jung
genzurufen, sich abzugrenzen und nicht mit einer solchen politischen Gruppierung zusammenzuarbeiten.
({7})
Ich finde es bezeichnend, dass Frau Lötzsch hier, im
Deutschen Bundestag, einen Mitarbeiter beschäftigt, der
eine Stasivergangenheit hat.
({8})
Das sind Folgewirkungen. Das kommt daher, dass Sie
eine derartige Vergangenheit haben.
Lassen Sie mich auch Folgendes sagen: Der Kommunismus - das wurde bereits vorgetragen -, der so viel
Elend, so viel Unmenschlichkeit und Tod in diese Welt
gebracht hat, ist gescheitert, weil er sich gegen die Natur
des Menschen richtet. Der Mensch ist nicht unfehlbar in
der klassenlosen Gesellschaft. Der Kommunismus ist
immer verbunden mit Unfreiheit, mit Unterdrückung
und Diktatur. Das darf und kann nicht die politische
Zielvorstellung in einem demokratischen Parlament
sein.
({9})
Der Kommunismus gehört auf den Müllhaufen der
Geschichte. Er hat in all seinen Ausprägungen versagt.
Eine derartige Perspektive kann es nicht mehr geben.
Deshalb ist es notwendig, dass auch die Bürgerinnen und
Bürger den Linken die Rote Karte zeigen. Mit solchen
Zielvorstellungen dürfen sie keine politische Verantwortung in Deutschland tragen.
Besten Dank.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Januar 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.