Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir uns den noch ernsteren Aufgaben zuwenden, möchte ich den Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter zu
ihrem 60. Geburtstag gratulieren, den sie in den vergangenen Tagen gefeiert haben - man möchte es nicht für
möglich halten.
({0})
Im Namen des gesamten Hauses noch einmal herzliche
Gratulation und alle guten Wünsche!
Der Kollege Leo Dautzenberg hat mit Wirkung vom
1. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich
einmal mehr den Kollegen Cajus Caesar,
({1})
womit der Deutsche Bundestag seinen berühmtesten Abgeordneten endlich zurückbekommt.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Vereinbarte Debatte
zur Entwicklung in Ägypten
({3})
ZP 2 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP:
Gewalttaten und anhaltende Ausschreitungen
in Berlin und anderen Städten im Zuge der
Räumung eines besetzten Hauses ({4})
({5})
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 27
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({6}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der „Internationalen Konvention gegen
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
und die Ausbildung von Söldnern“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/4663 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({8}), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot privater militärischer Dienstleistungen aus Deutschland
- Drucksache 17/4673 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Brennelemente-Zwischenlager am Forschungszentrum Jülich ertüchtigen
- Drucksache 17/4690 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen
- Drucksache 17/4670 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes
Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
- Drucksache 17/4652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern - Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren
- Drucksache 17/4671 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Beck ({14}), Volker Beck ({15}), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken
- Drucksache 17/4686 ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 17/4231 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16})
- Drucksache 17/4720 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Undine Kurth ({17})
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
- Drucksache 17/4668 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Ich nehme an, dass Sie
damit einverstanden sind. - Das ist offenkundig so.
Dann können wir entsprechend verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Gestärkt aus der Krise - Der deutsche Mittelstand als Motor für Wachstum, Wohlstand
und Innovation
- Drucksache 17/4684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle.
({20})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft läuft auf Hochtouren. Der Economist
spricht bereits von „Germany’s New Wirtschaftswunder“. Unter Schwarz-Gelb wird Deutschland in der Welt
geachtet; unter Rot-Grün wurde Deutschland in der Welt
verlacht.
({0})
Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von
2,3 Prozent. Der DIHK geht nach seiner gestrigen Prognose sogar von 3 Prozent Wachstum für dieses Jahr aus.
Die Investitionsabsichten der Unternehmen haben einen Rekordwert erreicht. Ich habe noch gut den SPDVorsitzenden im Ohr. Er wollte wegen der angeblichen
Investitionsschwäche eine Art Abwrackprämie für Maschinen. Die Grünen wollen jetzt Ähnliches. Die Wirtschaft investiert ohne Ihre Abwrackfantasien. Der volkswirtschaftliche Sachverstand der Opposition bewegt sich
irgendwo zwischen Voodoo und Wolkenkuckucksheim.
({1})
Sie wollen vor allem das Falsche, aber davon reichlich.
({2})
Der Motor für die Wachstumsmaschine ist der Mittelstand. Dieser Aufschwung ist ein Mittelstandsaufschwung.
Viele Mittelständler haben ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in harten Zeiten die Treue gehalten. Sie haben sogar neue Beschäftigte eingestellt. Das ist gelebte
Eigenverantwortung, das hat sich bewährt, das ist soziale
Marktwirtschaft, und das ist eine Geisteshaltung.
({3})
Aufgrund des Antrags der Koalitionsfraktionen befasst sich der Deutsche Bundestag mit dem Mittelstand.
Das freut mich sehr; denn der Mittelstand steht im Zentrum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. SchwarzGelb hat den Aufschwungmotor Mittelstand gut geölt.
({4})
Wir haben die gröbsten Schnitzer bei der Unternehmensteuer beseitigt. Wir haben die Erbschaftsteuer reformiert. Die Opposition dagegen will mit Vermögensteuer
und höherer Einkommensteuer den Motor abwürgen.
Jetzt haben die Grünen als Deckmäntelchen ein Mittelstandspapier aufgeschrieben. Für mich hört sich das
wie grüner Feudalismus an. Erst nimmt man dem Mittelständler ein Schwein weg, dann gibt man ihm gnädig ein
paar Koteletts zurück. Dafür soll sich der Mittelstand
dann noch artig bedanken. Es ist nämlich so: Eine höhere Einkommensteuer trifft nicht nur private Einkommen, sie trifft auch 80 Prozent der deutschen Unternehmen. Diese sind Personengesellschaften und zahlen
Einkommensteuer. Das sollten Sie, Frau Scheel, immer
berücksichtigen. Einer muss den Wohlstand erwirtschaften. Das ist der deutsche Mittelstand.
({5})
Wir haben Bürokratie im Vergaberecht abgebaut. Wir
haben eine Fachkräfteinitiative in der Wirtschaft angestoßen. Drei Viertel der Mittelständler haben bereits
Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Das
reicht von der exportstarken Maschinenbaubranche bis
zur Boombranche Tourismus. Wir haben einen neuen
Ausbildungspakt mit der Wirtschaft geschlossen. Aber
moderne Mittelstandspolitik geht über Programme und
Initiativen hinaus.
In einer global vernetzten Wirtschaft muss Mittelstandspolitik schnell und flexibel reagieren. Wir unterstützen den Mittelstand überall und sofort, zum Beispiel
etwa Unternehmen, die in Nordafrika tätig sind und mit
der schwierigen Lage dort konfrontiert sind. Wir haben
mit unserem Aktionsplan Nordafrika zehn konkrete
Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die in
der Region tätig sind, auf den Weg gebracht. Morgen
wird es dazu ein Treffen im Bundeswirtschaftsministerium geben.
Wir sind Anwalt für den Mittelstand. Andere führen
sich als Genosse der Bosse auf. Sie schauen nach Holzmann, Hochtief, Opel und Karstadt. Für sie sind Großunternehmen das Maß aller Dinge. Sie stellen die Rolle des
Mittelstands als Jobmotor infrage. Im SPD-Vorfeld wird
der Mittelstand als Trugbild bezeichnet. Meine Damen
und Herren, das ist nicht die Politik der Bundesregierung. Wir kümmern uns um den Mittelstand.
({6})
Wir setzen auf Privatinitiative und Eigenverantwortung.
Mein Ideal ist nicht: Oben ein paar Großkonzerne mit
Gewerkschaftsdominanz, und unten fristen ein paar vom
Staat abhängige und subventionierte Ich-AGs ihr Dasein.
Ein solches Wirtschaftsmodell lässt sich ganz schnell auf
Planwirtschaft umstellen. Davon mögen aktive oder Altkommunisten im Bundestag träumen. Wir machen das
nicht. Wir wollen eine gesunde Mischung von großen,
mittleren und kleinen Unternehmen.
({7})
Das Wirtschaftsministerium hat letzte Woche eine
Mittelstandsinitiative gestartet. Wir lösen die Wachstumsbremsen für den Mittelstand. Wir müssen das Thema
der Gewerbesteuer anpacken. Es wäre fatal, wenn die Gewerbesteuerreform auf dem Hartz-IV-Verhandlungstisch
hinten herunterfällt.
({8})
Wir wollen unseren top ausgebildeten Frauen optimale Arbeitsbedingungen bieten.
({9})
Im Mittelstand und in Familienunternehmen sind die
Frauen bereits auf dem Vormarsch. Es sollen aber noch
mehr Frauen auf den Chefsesseln Platz nehmen.
({10})
Nach dem Vorbild des nationalen Ausbildungspakts
könnte ein Pakt für Frauen zusätzlich entsprechende Impulse liefern.
({11})
Wir setzen auf den Mittelstand. Wir setzen auf seinen
Mut zur Verantwortung und auf seine Leistungsbereitschaft. Dieses Vertrauen ist gut angelegt. Es zahlt sich
doppelt und dreifach aus. Hier stimmt die Vertrauensrendite. Die Leistung des Mittelstands verdient Respekt,
und die Leistung des Mittelstands verdient insbesondere
unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Friedrich für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, vielen Dank, dass Sie Ihr routinemäßiges Selbstlob heute Morgen kürzer gehalten haben als
sonst.
({0})
Ich stelle fest: An den Kernpunkten, die dazu beigetragen haben, dass wir die Wirtschaftskrise überwunden haben, waren Sie und sind Sie nach wie vor nicht beteiligt.
({1})
Wir haben eben wieder gehört, dass Sie all die Reformen
und Konjunkturprogramme, die ganz maßgeblich noch
in der Großen Koalition und unter Rot-Grün angeschoben wurden und die uns durch die Krise geführt und Gott
sei Dank auch wieder herausgeführt haben, soweit wir es
heute sagen können, abgelehnt haben und in der Sache
immer noch ablehnen. Sie haben nicht begriffen, wie
man Wirtschaftspolitik in Deutschland machen muss.
({2})
Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland wieder
Wachstumszahlen haben. Aber wenn Sie sich die Zahlen
genau betrachten - so ehrlich sollten Sie zu sich selbst
sein -, dann sehen Sie: 2009 hatten wir durch die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise einen Absturz
von minus 4,7 Prozent. Danach hatten wir plus 3,6 Prozent, wesentlich getragen durch das Konjunkturpaket in
2010. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg dahin, wo wir
bereits einmal waren, bevor uns die internationale Finanzkrise mit in den Strudel gezogen hat. Die Zeche dafür hätten die Menschen und die Mittelständler bezahlt,
wenn es das Kurzarbeitergeld, das Konjunkturpaket und
das Investitionsprogramm auch der Kommunen nicht gegeben hätte. Dies alles wurde durch eine aktive Wirtschaftspolitik angeschoben - etwas, was für Sie schon
per se ein Fremdwort ist.
({3})
In dem Antrag, den Sie uns heute auf den Tisch legen,
begrüßen Sie die umfangreichen Maßnahmen der Bundesregierung für den Mittelstand. Sie nennen drei Punkte:
die Hightech-Strategie, den Ausbildungspakt und die
Mittelstandsinitiative. Wenn wir uns - jenseits der Hochglanzbroschüren - in den Antrag vertiefen, dann können
wir Folgendes feststellen: Beim Breitbandausbau haben
Sie die Ausbauziele verfehlt. Wir haben das Geld und die
Regulierung auf den Weg gebracht. Trotzdem wurden die
Ausbauziele verfehlt. Die Mittelständler und die kleinen
Betriebe in den Gewerbegebieten unserer Gemeinden leiden heute darunter, dass es den entsprechenden Ausbau
nicht gibt. Wir alle kennen das aus den Wahlkreisen; darüber wird ja auch bei Ihnen eine Debatte geführt. Von
Hightech kann in den Gewerbegebieten, was den staatlichen Beitrag angeht, nicht die Rede sein, Herr Brüderle.
({4})
Zum Thema Ausbildungspakt - Sie selbst haben gerade die Verhandlungen angesprochen -: Wo ist denn
Schwarz-Gelb, wenn es darum geht, Schulsozialarbeit
auf den Weg zu bringen? Wo ist denn Schwarz-Gelb,
wenn es darum geht, dass die Schüler an einen Schulabschluss herangeführt werden und dass sie einen Wechsel
wagen können? Was ist denn aus den Ausbildungsbegleitern geworden? Sie haben sich allen Hilfen verweigert, als es darum ging, Schule eben nicht nur als einen
reinen Lernort zu begreifen. Gerade diejenigen, die wir
brauchen, die Talente, werden nicht ausreichend gefördert. Auch die Organisation der Förderung von kleinsten
Kindesbeinen an wäre hier zu nennen. All dem haben
Sie sich gerade in den Verhandlungen verweigert.
({5})
Schauen wir uns die faktische Mittelstandspolitik dieser Regierung einmal an: Schwarz-Gelb hat im Bundeshaushalt bei der Regionalförderung gekürzt; das trifft vor
allem den Mittelstand und das Handwerk in den entsprechenden Gebieten. Schwarz-Gelb hat bei der Städtebauförderung gekürzt; das trifft vor allem das Ausbaugewerbe und das Handwerk in den Städten und Gemeinden.
Auch das Marktanreizprogramm haben Sie gekürzt, wodurch Sie Zukunftsinvestitionen, Energieeffizienz und
bessere Energietechnik verhindern. In der Energiepolitik
haben Sie nicht nur die Monopole und Großkonzerne gestärkt, sondern jetzt wollen Sie, wie man lesen kann, auch
noch den Einspeisevorrang zurücknehmen, was dazu
führt, dass die vielen Tausend Handwerker und Mittelständler, die heute an der Energiewende arbeiten und damit Menschen Arbeit bieten, von den Großkonzernen
wieder an die Wand gedrückt werden. Darum geht es Ihnen in Ihrer Energiepolitik. Das, was Sie bei der Energie
veranstalten, ist Mittelstandsfeindlichkeit pur.
({6})
Nach all dem Eigenlob und all den Beschreibungen
Ihrer dicken Papiere - Handlungen gibt es von Ihrer
Seite ja nur wenig - kommen Sie dann in Ihrem Antrag
zu ein paar Forderungen. Sie sind im Wesentlichen davon getragen, dass die Regierungskoalition die BundesPeter Friedrich
regierung auffordert, sich an den Koalitionsvertrag zu
halten. Das ist in gewisser Weise amüsant, weil der Koalitionsvertrag voller Prüfaufträge steckt. Der wichtigste
Punkt für Sie - Sie haben ihn gerade noch einmal angeführt - ist das Thema Gewerbesteuer. In dem Antrag
schreiben Sie:
… entsprechend den Festlegungen im Koalitionsvertrag so bald wie möglich Gesetzentwürfe vorzulegen, um kleine und mittlere Einkommen stärker
zu entlasten, …
({7})
Sie sind übrigens die Koalition, die mit „Mehr Netto
vom Brutto“ angefangen und inzwischen bei deutlich
weniger Netto aufgehört hat. Durch das, was Sie bei der
Gesundheitsreform gemacht haben, durch Ihren Ministeuerkompromiss haben die Leute weniger Netto im
Geldbeutel und nicht mehr. Sie sind die Nettolügen-Koalition. Insofern ist es gut, wenn Sie in den Antrag
schreiben, dass Sie dies noch immer vorhaben.
({8})
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, die Gemeindefinanzen sollten wachstumsfreundlich reformiert werden.
Herr Brüderle, Sie haben am 1. Februar bei der Vorstellung Ihrer Mittelstandsinitiative gesagt, die Abschaffung
der Gewerbesteuer sei die sauberste Lösung.
({9})
Sie haben selber gesagt, dass Sie das Thema der Gewerbesteuer bei den Verhandlungen über Hartz IV auf den
Tisch gelegt haben; Sie haben damit die Verhandlungen
überfrachtet. Sie verpassen mit Ihrer Aussage all den
Gewerbetreibenden, die ihre Steuern - keiner zahlt gern
Steuern - in dem vollen Bewusstsein zahlen, damit ihre
Gemeinde zu unterstützen, eine Ohrfeige. Sie verpassen
mit dieser Forderung allen Kommunalpolitikern eine
Ohrfeige. Es geht bei der Gewerbesteuerreform darum,
für eine Gleichbehandlung des Mittelstandes bei der Gewerbesteuer zu sorgen, indem eben nicht nur der Gewerbetreibende, sondern auch der Freiberufler zur Zahlung
herangezogen wird. Es geht darum, eine vernünftige
Finanzierungsbasis für die Gemeinden zu schaffen.
({10})
Während wir damals gemeinsam mit der Union ein
Investitionsprogramm gerade zugunsten der Kommunen
aufgelegt haben, springen Sie nun direkt vom Gaspedal
auf die Bremse. Wir erleben jetzt bei der Haushaltsaufstellung in fast allen Kommunen, dass die Investitionsmaßnahmen gestrichen werden, dass sie ihren Haushalt
nicht ausgleichen können. Sie wollen jetzt auch noch die
wesentliche Finanzierungsquelle der Gemeinden komplett weghauen. Das sind Kommunalfeindlichkeit und
Mittelstandsfeindlichkeit in Reinkultur.
({11})
Immerhin haben Sie erkannt, dass wir eine neue
Gründungskultur brauchen. Da passt es hervorragend,
dass ausgerechnet diese Koalition an einer Stelle, die für
die Gründer wirklich wichtig ist, eine Verschlechterung
herbeigeführt hat. Hier geht es um die Frage: Habe ich
die notwendige Sicherheit, auch mit Blick auf meine Familie, eine Gründung zu wagen? Verfüge ich trotzdem
über eine soziale Absicherung? Sie waren diejenigen,
die die Beiträge der freiwillig Versicherten in der Arbeitslosenversicherung - das sind gerade Existenzgründer, Unternehmer in Kleinbetrieben und Freiberufler um 300 Prozent erhöht haben. Sie haben es den Gründern erschwert, sich in der Gründungsphase abzusichern.
Deswegen sind Sie die Allerletzten, die hier zum Thema
Gründungskultur etwas sagen sollten.
({12})
Immerhin haben Sie erkannt, dass wir bei der Unternehmensfinanzierung in eine problematische Situation
geraten. Wir haben Gott sei Dank keine Kreditklemme,
auch weil wir damals mit Peer Steinbrück in der Bankenkrise mutig gehandelt haben. Herr Brüderle, die Einrichtung des Kreditmediators ist Ihnen inzwischen selber
peinlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag einen sehr verschwurbelten Satz, der nichts anderes bedeutet als Folgendes: Wir haben das Problem, dass Kredite infolge der
Umsetzung der Basel-III-Richtlinien insbesondere für
die Mittelständler teurer werden. Jetzt frage ich Sie: Wo
sind all Ihre Vorschläge und all Ihre Maßnahmen, um es
tatsächlich hinzubekommen, dass Mittelständler Eigenkapital oder Eigenkapitalersatz zu vernünftigen Bedingungen erhalten können? Die Antwort auf die entsprechende Frage im Ausschuss war: Wir prüfen, wir prüfen,
wir prüfen. - Sie sagen inzwischen nicht einmal, was genau Sie prüfen; Sie sagen nur: Wir prüfen. - Sie haben
keine Antwort auf die Frage. Die von Ihnen veranstalteten Bankengipfel haben nichts gebracht. Sie drücken
sich darum herum, zu sagen: Wir brauchen eine staatlich
unterstützte Mittelstandsanleihe, um dem Mittelstand
dabei zu helfen, neues Eigenkapital aufzubauen.
Summa summarum: Ihr Handeln richtet sich gegen
eine Unterstützung des Mittelstands, Ihrem Reden zufolge sind Sie dafür. Es bringt nichts, wenn Sie mittwochs, donnerstags oder freitags im Parlament noch einmal Sonntagsreden halten. Packen Sie besser die Punkte
an, die den Mittelstand wirklich betreffen: faire Wettbewerbsbedingungen, faire Ausbildungsbedingungen und
faire Finanzierungsbedingungen. Damit würden Sie dem
Mittelstand mehr nützen als mit der heißen Luft, die Sie
ständig produzieren.
({13})
Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Friedrich, Sie konnten mit der zeitlichen
Länge Ihrer Ausführungen durchaus mit dem Bundeswirtschaftsminister konkurrieren; aber hinsichtlich der
wirtschaftspolitischen Kompetenz und Substanz war es
doch ein bisschen dünn.
({0})
Es kann gar keine Frage sein: Die Unternehmen unseres Landes sind mit den größten ökonomischen Herausforderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, mit der Bankenkrise und der Euro-Krise, sehr gut
fertig geworden. Das haben wir insbesondere dem Mittelstand zu verdanken. Der Mittelstand hat sich als das
stabile Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft
erwiesen. Es wird 2011 so sein, dass die meisten der
320 000 neu entstehenden Arbeitsplätze - so die Schätzung - aus dem Mittelstand kommen.
({1})
Der Mittelstand ist der Motor für Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung in Deutschland. Nichts verdeutlicht
dies so sehr wie ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen, insbesondere auf die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland
und in Europa. Bekanntlich beruht der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg eines Landes darauf, dass gerade den
jungen Menschen, den nachwachsenden Generationen,
hinreichende Beschäftigungsperspektiven geboten werden. Unser Land tut dies glücklicherweise in hohem
Maße, übrigens insbesondere dank des Mittelstandes.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete dieser
Tage, dass die Werte der Jugendarbeitslosigkeit in
Europa fast überall zweistellig sind. Insbesondere ist die
Arbeitslosigkeit bei den jungen Menschen in Europa
nach der Krise in die Höhe geschossen. In Schweden,
dem vermeintlichen Arbeitnehmerparadies vergangener
Tage, beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 22,9 Prozent. Bei unserem Nachbarn Frankreich beträgt sie fast
25 Prozent. 33,4 Prozent sind es in Griechenland. Mehr
als ein Drittel der jungen Menschen zwischen 18 und
25 Jahren ist dort arbeitslos. Unrühmlicher Spitzenreiter
ist Spanien: Dort erreicht die Jugendarbeitslosigkeit den
erschreckenden Wert von 43,6 Prozent.
({2})
Fast die Hälfte der jungen Menschen in Spanien hat keinen Job. Nur in drei europäischen Ländern, der Schweiz,
den Niederlanden und Deutschland, bewegt sich die Jugendarbeitslosigkeit im einstelligen Bereich. Besonders
gut sieht es in Baden-Württemberg aus. Baden-Württemberg hat nicht nur die niedrigste Arbeitslosenquote in
Deutschland, sondern wir haben mit 2,7 Prozent auch
die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz
Europa. Das ist ein Spitzenwert, und darüber dürfen wir
uns freuen.
({3})
Ich möchte es noch einmal sagen: Dies liegt nicht zuletzt an unserem stabilen Mittelstand. Die mehr als
4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und
Unternehmer, die Selbstständigen in den Bereichen Industrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und in den
freien Berufen besitzen in hohem Maße jene Kreativität
und Innovationskraft, die für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen unabdingbare Voraussetzung
sind. Insofern haben sowohl die amtierende Bundesregierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch
die baden-württembergische Landesregierung von
Ministerpräsident Stefan Mappus auf das richtige Pferd
gesetzt: Beide Seiten haben dem Mittelstand Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar insbesondere in der Krise.
({4})
Die Bundesregierung hat mit einer Steuerentlastung
in Höhe von 24 Milliarden Euro Anfang 2010 insbesondere dem Mittelstand unter die Arme gegriffen. Wir haben dadurch eine Kreditklemme verhindert, die eine
Kettenreaktion mit Firmenpleiten ausgelöst hätte. Dies
wurde ja 2008 befürchtet und wäre 2009 beinahe Realität geworden. Nichts davon ist eingetreten. Die konjunkturelle Rückendeckung seitens der Bundesregierung hat
funktioniert. Das gilt auch für die Hightech-Strategie
2020, die im Juli des vergangenen Jahres vom Kabinett
von Angela Merkel auf den Weg gebracht wurde. Ihr
zentrales Element ist die Stärkung der Innovationskraft
des Mittelstandes. Sie ermöglicht Vernetzungen der Unternehmen untereinander, aber auch mit der Wissenschaft, was Synergieeffekte schafft, deren Wirkung wiederum neue und attraktive Arbeitsplätze sind. Das Ganze
funktioniert bereits gut.
Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies auch in
Zukunft so bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dass
Mittelstandspolitik allen Menschen nützt, ist beim Mittelstand investiertes Geld gut angelegt. Für die gesamte
Gesellschaft entsteht so ein Höchstmaß an Mehrwert.
Wir wollen uns in Zukunft vor allem auf drei Bereiche konzentrieren:
Erstens: Reduzierung der Staatsverschuldung. Nur ein
Staat, der in der Zeit spart, vermag in der Not solche Rettungspakete aufzulegen, wie wir das in der Krise getan
haben. Deswegen ist es oberste Pflicht, nach der Überwindung der Krise die Ausgaben wieder zurückzufahren
und nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau zu agieren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht zum
Vorbild erklärt hat. Dies ist zwar nicht populär, aber es
ist notwendig. Wer derzeit Griechenland, Portugal und
Spanien dafür kritisiert, dass sie die Sanierung ihrer
Staatsfinanzen allzu lang hinausgezögert haben, der
kann sich in unserem Land nicht den auf Nachhaltigkeit
ausgerichteten Sparzielen verweigern. Wir haben die
Verantwortung, in Europa Avantgarde und Vorbild zu
sein, auch beim Thema Haushaltskonsolidierung.
({5})
Das Negativbeispiel können Sie übrigens in Nordrhein-Westfalen sehen, wo eine rot-grün-dunkelrote Landesregierung das Land in eine unverantwortliche Staatsverschuldung hineintreibt. Diesen Weg wollen wir exakt
nicht gehen.
Thomas Strobl ({6})
({7})
Zweitens brauchen wir modernste, sauberste und sicherste Verkehrsinfrastrukturen, wenn wir auch in Zukunft wirtschaftspolitisch vorne bleiben wollen. Dazu
sind wir gewillt, die Grünen aber leider nicht. Sie sind
die Dagegen-Partei, vor allem was die Infrastrukturen
angeht.
({8})
Wir wussten bereits, dass Sie gegen Straßen und Flughäfen sind. Seit Stuttgart 21 wissen wir, dass Sie auch gegen die Modernisierung einer hundert Jahre alten Bahnstrecke und gegen die Modernisierung von Bahnhöfen
sind. Und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus:
Jetzt sind Sie auch noch gegen Investitionen in die ökologischsten Verkehrswege überhaupt, gegen Investitionen in die Schifffahrt. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, Winfried Hermann, sagte kürzlich, der Ausbau
von Wasserwegen und Schleusen in Baden-Württemberg
sei sinnlos und habe zu unterbleiben. Sie sind letztlich
gegen alles. Sie gefährden damit den wirtschaftlichen
Erfolg dieses Landes.
({9})
Sie gefährden Arbeitsplätze. Sie sind Wohlstandsgefährder.
Drittens möchte ich das Thema Bürokratieabbau ansprechen.
Herr Kollege Strobl.
Kaum etwas gefährdet wirtschaftlichen Erfolg so wie
eine übertriebene Bürokratie. Das darf nicht sein.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss
({0})
und möchte an Sie alle appellieren: Unterstützen Sie den
Antrag der Koalitionsfraktionen! Die Umsetzung von
dessen 15 Forderungen wird mithelfen, dass wir nachhaltig aus der Krise herauskommen. Daran sollten wir
alle ein Interesse haben.
Besten Dank fürs Zuhören.
({1})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wundern sich, dass die Linke zum Thema Mittelstand
spricht. Wir sind die eigentliche Mittelstandspartei. Ich
werde Ihnen das gleich erklären.
({0})
Eines steht nun einmal fest: Der Mittelstand ist das
Rückgrat unserer Wirtschaft:
({1})
70 Prozent aller Beschäftigten und 80 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in Unternehmen und im Handwerk mit weniger als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 90 Prozent der 1,4 Millionen
Jugendlichen werden in mittelständischen Unternehmen
ausgebildet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen hat zwischen 2001 und 2008 um über 300 000 auf
nunmehr 3,75 Millionen zugenommen.
({2})
Allerdings gibt es darunter 2,3 Millionen Soloselbstständige. Darüber müssen wir uns ein anderes Mal unterhalten.
Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen
arbeitet auf dem Binnenmarkt. Sie brauchen deshalb
zahlungskräftige Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Daran mangelt es in Deutschland ganz erheblich; denn der Aufschwung geht an der Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger vorbei.
Jetzt müssen Sie sich die Zahlen anhören; das tut mir
leid: 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor. Diese nutzen dem Mittelstand
gar nichts, um es einmal ganz klar zu sagen. Jede dritte
Neueinstellung im sogenannten Aufschwung erfolgt in
Leiharbeit. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklaverei.
({3})
Nicht nur die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden
ausgebeutet. Vielmehr werden damit auch noch die
Löhne der anderen Beschäftigten gedrückt. Für die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gibt es nicht einmal einen
Mindestlohn, und zwar dank der FDP, weil sie mit allen
Mitteln versucht, den Mindestlohn zu verhindern.
Rund die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt nur mit
befristeten Arbeitsverträgen. Die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker stieg um 100 000 auf 1,4 Millionen.
Übrigens auch ganz interessant: Unter den Aufstockern
sind 92 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Frau
Merkel und andere finden das Aufstocken toll. Ich sage
Ihnen Folgendes: Wenn jemand einen Vollzeitjob hat,
gute Arbeit leistet und danach zum Sozialamt gehen
muss, um sein Existenzminimum zu sichern, dann ist das
für die Bundesrepublik Deutschland ein Skandal.
({4})
Herr Kollege Gysi, nun haben Sie sich ja beinahe eine
Zwischenfrage bestellt. Die Frage ist, ob Sie diese zulassen wollen.
Es wird zwar keine Frage werden; aber ich lasse sie
natürlich zu. Herr Präsident, Sie müssen aber die Uhr anhalten.
Sie werden doch nicht auch nur andeuten wollen, dass
ich Ihnen jemals auch nur zehn Sekunden gestohlen
hätte.
({0})
Lieber Kollege Gysi, haben Sie eine Berechnung - es
wird doch eine Frage -, wie viele Aufstocker es gäbe,
wenn wir Ihrem Modell, das einen Hartz-IV-Regelsatz in
Höhe von 500 Euro pro Person vorsieht, folgen würden?
({0})
Haben Sie einmal ausgerechnet, Kollege Gysi, dass,
wenn man den von Ihnen geforderten Mindestlohn in
Höhe von 11 Euro oder 10 Euro - ich weiß nicht, wie der
Tageskurs bei Ihnen gerade ist - einführen würde ({1})
Ich schicke Ihnen unsere Programme zu, damit Sie
das genau wissen. Das ist kein Problem.
- gerne -, eine vierköpfige Familie etwa 1 000 Euro
weniger hätte als eine Familie in Hartz IV, die nach Ihrem Modell einen Regelsatz von 500 Euro pro Person erhalten würde?
({0})
Ihre Forderungen bezüglich eines Mindestlohns und
Hartz IV müssen Sie zusammen betrachten. Wie viele
Aufstocker würde es dann geben? Haben Sie das einmal
ausgerechnet?
Aufstocker gäbe es nach unserem Modell überhaupt
nicht, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn verlangen, der dies eindeutig verhindern
würde.
({0})
Sie müssen unsere Vorstellungen immer im Zusammenhang sehen. Den Regelsatz, den wir für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger als eine soziale
diskriminierungsfreie Grundsicherung fordern, ist das
eine; der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist
das andere.
({1})
Dann wäre das Lohnabstandsgebot eingehalten, und
dann gäbe es all die Probleme nicht, die Sie dadurch anrichten, dass Sie sowohl die Steigerung des Regelsatzes
als auch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns verhindern.
({2})
Der Mittelstand braucht den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, den Sie verhindern. Er braucht
auch steigende Löhne. Jetzt müssen Sie sich - auch Sie,
Herr Brüderle - einmal mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es nur eine kapitalistische Industriegesellschaft
auf der Welt gibt, die in den letzten zehn Jahren einen
Verlust beim Reallohn zu verzeichnen hatte, nämlich
Deutschland: minus 4,5 Prozent - das gab es weder in
den USA noch in Großbritannien noch in Frankreich
noch in Skandinavien. Damit müssen Sie sich einmal
auseinandersetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir
dem Mittelstand helfen wollen, brauchen wir jetzt Lohnsteigerungen von mindestens 5 Prozent; besser wären
10 Prozent.
({3})
- Nein, wir übertreiben ja nicht.
Ich sage Ihnen noch etwas zu höheren Sozialleistungen; dazu gehört auch Hartz IV. Schauen wir uns doch
einmal dieses einzigartige Schauspiel an, das Union,
SPD, FDP und Grüne diesbezüglich geliefert haben. Das
Bundesverfassungsgericht hat gestern vor einem Jahr
entschieden, dass das Gesetz, in dem die Hartz-IV-Leistungen geregelt sind und das von diesen vier Fraktionen
verabschiedet wurde, grundgesetzwidrig ist und dass es
bis zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung geben
muss. Sie haben versagt; es gibt bis heute keine Neuregelung.
({4})
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem - auch das ist interessant - alle diskriminierenden und diffamierenden Strukturen von Hartz IV beibehalten wurden. Die Steigerung des Regelsatzes um
5 Euro hatten Sie schon vor zwei Jahren angekündigt;
dafür hätten Sie gar nichts berechnen müssen. Sie haben
ja auch gar nichts neu berechnet, sondern einfach die
5 Euro genommen. Wenn das so einfach ist, warum haben Sie den Gesetzentwurf nicht vor der Sommerpause
vorgelegt?
({5})
Warum so spät? Warum haben Sie das absichtlich verzögert? Sie wollten, dass das Gesetz nicht zustande kommt.
({6})
Dann haben Sie auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts missachtet. Es liegt keine Berechnung
des Bedarfs für Kinder vor, obwohl das Bundesverfassungsgericht dies verlangt hat.
({7})
- Das kann ich Ihnen sagen: Der Mittelstand braucht
Kaufkraft, und diese verweigern Sie dem Mittelstand.
Das ist das Problem.
({8})
Sie haben die verdeckten Armen nicht aus der Berechnung herausgenommen, und Sie haben bei der Vergleichsberechnung nicht mehr die unteren 20 Prozent
der Einkommen, sondern nur noch die unteren
15 Prozent einbezogen, um die 5 Prozent, die etwas besser verdienen, nicht in der Vergleichsrechnung zu haben.
Damit verfolgen Sie ein Ziel: Es sollen nicht mehr als
5 Euro werden. Das alles halte ich für grundgesetzwidrig. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht erneut angerufen werden wird.
Nun haben Sie dieses Gesetz beschlossen, der Bundesrat lehnte es ab, die Bundesregierung berief den Vermittlungsausschuss ein, und dieser bildete eine Arbeitsgruppe. Dann passierte das Übliche. Union, SPD, FDP
und Grüne waren sich einig: In diese Arbeitsgruppe nehmen wir die Linke selbstverständlich nicht mit hinein.
({9})
Warum fürchteten Sie uns dort? Aus zwei Gründen: erstens, weil Sie keine prinzipielle Kritik an Hartz IV hören
wollten - denn Sie vier sind sich einig, was Hartz IV
dem Grundsatz nach betrifft -, und zweitens, weil Sie
befürchteten, dass die Linke dann erfährt, welche Nebendeals dort verabredet werden.
({10})
Also haben Sie alle einmütig beschlossen: Die Linke
darf nicht daran teilnehmen.
({11})
Daraufhin haben wir das Bundesverfassungsgericht
angerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt,
und das Bundesverfassungsgericht hat dem Vermittlungsausschuss Fragen gestellt. Diese Fragen waren so
gestellt, dass dem Vermittlungsausschuss klar war: Die
einstweilige Anordnung wird höchstwahrscheinlich ergehen.
({12})
Daraufhin hat Herr Altmaier von der Union dem Bundesverfassungsgericht mitgeteilt, dass die Linke natürlich in diese wunderbare Arbeitsgruppe aufgenommen
wird.
({13})
- Ja, natürlich; das haben Sie auch gemacht.
Am 19. Januar dieses Jahres haben Sie dann - weil
Sie ärgerte, dass die Linken jetzt doch von den Nebendeals erfahren
({14})
und Sie sich immer wieder unsere prinzipielle Kritik anhören mussten - eine illegale Gruppe außerhalb der Arbeitsgruppe gebildet. Diese illegale Truppe sollte alles
vorbereiten: für den Vermittlungsausschuss, für den
Bundestag und für den Bundesrat. Das Problem ist nur:
Ohne uns ist selbst diese illegale Truppe zu keinem Ergebnis gekommen. Damit haben wir es jetzt zu tun.
({15})
- Ich sage Ihnen eines: Sie sollten einmal darüber nachdenken, warum Ihre Fraktion nie die Hilfe des Bundesverfassungsgerichts benötigt, um ihre Rechte zu bekommen, und warum nur die Linke immer wieder den Weg
zum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Das liegt an
Ihrer grundgesetzwidrigen Einstellung im Verhältnis zur
Linken. So ist das.
({16})
- Damit haben Sie, Herr Altmaier, übrigens auch das
Versprechen, das Sie gegenüber dem Bundesverfassungsgericht abgegeben haben, gebrochen. Ich weiß,
dass die Bundesverfassungsrichter so etwas nicht mögen.
Jetzt gibt es, wie gesagt, kein Ergebnis. Das bedeutet:
6,5 Millionen Betroffene wissen eigentlich nicht, woran
sie sind.
({17})
Das Gesetz, das es einmal gab, ist grundgesetzwidrig
und gilt nicht mehr. Ein neues Gesetz liegt aber nicht
vor. Unter den 6,5 Millionen Betroffenen sind 1,8 Millionen Kinder.
({18})
Schon jetzt steht fest: Für drei Monate ist ihnen der Zuschuss zum Mittagessen unersetzlich entzogen.
({19})
Ich finde das alles skandalös. Wenn der einzige Unterschied zwischen SPD und Grünen auf der einen Seite
und Union und FDP auf der anderen Seite darin besteht,
dass die einen eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro und
die anderen eine Erhöhung um 11 Euro wollen, muss ich
Ihnen sagen: Auch für arme Leute ist das eine Verhöhnung. Darum kann es im Prinzip nicht gehen.
({20})
Wieder einmal wird die Aufgabe, Politik zu machen,
dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die FDP tut
alles, um Lohnniveau, Renten- und Sozialleistungen zu
senken. Ich sage Ihnen: Das ist eine mittelstandsfeindliche Politik.
Interessant ist auch Folgendes: Die Interessenverbände des Mittelstands fordern Steuervereinfachung und
Bürokratieabbau. Im Unterschied zur FDP fordern sie
nicht Steuersenkungen, sondern Steuervereinfachung
und Bürokratieabbau.
({21})
Dabei haben sie in uns einen Partner.
({22})
- Es gibt wunderbare Steuervereinfachungen: höherer
Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer, linearer Tarifverlauf, endlich ein Abbau des Steuerbauches für die
durchschnittlich Verdienenden, der überhaupt nicht gerechtfertigt ist, und eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer von 42 auf 53 Prozent für
alle Einkommen, die man oberhalb von 72 000 Euro erzielt. Ja, dann müssten wir alle mehr Steuern zahlen.
Dazu kann ich aber nur sagen: Na und? Das würde für
mehr Gerechtigkeit sorgen und das Allgemeinwohl stärken.
({23})
Im Übrigen würde das auch Existenzgründerinnen und
Existenzgründern nützen.
Was machen Sie? Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: die Abgeltungsteuer. Die Reichen müssen nach der
Abgeltungsteuer 25 Prozent Steuern zahlen, unter anderem auf Zinseinnahmen. Das ist Geld von Geld. Ein Unternehmen, das Gewinn gemacht hat und investiert, muss
viel höhere Steuern zahlen. Erklären Sie doch einmal,
wieso man fürs Nichtstun, wenn man also Geld bekommt, so viel weniger Steuern zahlen muss, als wenn
man etwas tut. Nein, da haben Sie gar nichts verbessert.
({24})
- Ich kenne die FDP-Argumentation. Wissen Sie, wie
Ihre Argumentation immer lautete? Sie lautete: Weil es
so viel Steuerhinterziehung gibt, muss man den Steuerhinterziehern entgegenkommen.
({25})
Ich sage Ihnen: Dieses Entgegenkommen gegenüber
Kriminellen nutzt Ihnen gar nichts - ganz im Gegenteil.
({26})
- Ja, es kann schon sein, dass Sie viel mehr von allem
verstehen. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik sehen wir,
und die sind katastrophal, lieber Herr Lindner.
({27})
Ich sage Ihnen: Auch Ihre Steuerpolitik ist mittelstandsfeindlich.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gut
ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen.
Hier ist Ihnen allerdings ein großer Vorwurf zu machen.
Es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme.
({28})
Ich habe Ihnen schon einmal erklärt: Das ist
19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Top-Bildungssystem
von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Davon sind
wir meilenweit entfernt. Sie trennen die Kinder so früh
wie möglich, um soziale Ausgrenzung zu betreiben. Das
ist nicht der Weg, um ausgebildete Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu bekommen.
({29})
Allerdings sage ich auch, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen zu wenig ausbilden. Wir brauchen erstens Top-Schulen. Wir brauchen auch eine
Ausbildungsumlage für Unternehmen, die jene Unternehmen bezahlen müssen, die ausbilden könnten, es aber
nicht tun. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungen
über die Zahl der Ausbildungsplätze und ausreichende
Studienplätze, und zwar ohne Studiengebühren. Dazu
sage ich Ihnen noch etwas: Die ärmeren Leute in Bayern
studieren inzwischen in Berlin, weil es in Berlin keine
Studiengebühren gibt. Sie können nicht alles zulasten
Berlins regeln. Das will ich Ihnen auch einmal so deutlich sagen.
({30})
Wir werden in Berlin keine Studiengebühren einführen,
selbst wenn Sie sie in Bayern erhöhen. Ich glaube allerdings, dass wir von den Studiengebühren wegkommen
müssen.
Die Forschungsförderung, die Sie planen, planen Sie
übrigens zu 80 Prozent für Konzerne und nur zu
20 Prozent, lieber Herr Brüderle, für die kleinen und
mittelständischen Unternehmen; das sind gerade einmal
300 Millionen Euro. Warum erfolgt diese Ungerechtigkeit? - Leider läuft meine Zeit ab. Ich hätte Ihnen noch
so viel zu sagen.
({31})
- Ich wusste es. Wissen Sie, ich bekomme so selten Beifall von Ihnen, dass ich ab und zu einen solchen Satz sagen muss, um ihn doch zu bekommen.
({32})
Lassen Sie mich den letzten Satz sagen. Die größten
Hemmnisse sind übrigens die Banken, die so gut wie
keine Kredite an kleine und mittelständische Unternehmen vergeben. Diese Unternehmen haben größte
Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Sie unternehmen nichts dagegen. Die größten Hemmnisse für den
Mittelstand sind die Deutsche Bank und die sich nach ihr
richtende Politik dieser Bundesregierung.
Danke schön.
({33})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Gysi, wenn man einen Großteil der Zeit, die für
die Mittelstandsdebatte vorgesehen war, über Hartz IV
redet, bleibt natürlich nur wenig Zeit, um anschließend
noch etwas zum Mittelstand sagen zu können.
({0})
Aber der Minister war nicht besser. Der Minister hat
es in sechs Minuten geschafft, hier relativ viel heiße Luft
abzulassen, aber zu den Problemen, die es zu lösen gilt,
kein Wort zu verlieren.
({1})
Herr Brüderle, dieses Sich-selbst-Loben, das man von
der FDP kennt - das betreiben ja viele von Ihnen sehr
gerne -, wird in den Ländern mittlerweile so gesehen
- ich bringe ein kurzes Zitat Ihres Landesvize in Hessen,
der Folgendes wörtlich gesagt hat -:
Der Slogan ‚Erfolgreich vor Ort‘ verbietet eigentlich, dass sich Westerwelle vor Ort breit macht.
({2})
Das ist zwar hart, zeigt aber, dass das, was Sie hier an
guter Politik zu machen glauben, vor Ort anscheinend
nicht ankommt.
({3})
Das ist die Wahrnehmung der Menschen und ein Grund
dafür, warum Sie in den Umfragen so abschneiden, wie
Sie abschneiden.
Es stimmt: Der Mittelstand ist gut durch die Krise gekommen. Daher müsste es umgekehrt laufen: Nicht die
Politik sollte sich dafür auf die Schultern klopfen, was
sie toll gemacht hat. Vielmehr sollten wir dem Mittelstand danken; denn wegen der Stärke der Unternehmer
und Unternehmerinnen sind wir gut durch diese Krise
gekommen. Sie haben es geschafft, das gut zu organisieren, und zwar trotz dieser Regierung und nicht wegen
dieser Regierung.
({4})
Was auch auffällt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag - das
ist dieses 15-Punkte-Papier; es finden momentan in vielen Bundesländern Wahlkämpfe statt, und daher ist es
nicht überraschend, dass wir hier und heute eine Mittelstandsdebatte führen - Forderungen stellen, die diese
Regierung eigentlich schon längst hätte erfüllen können.
Es ist bemerkenswert, dass Koalitionsfraktionen ihre eigene Regierung auffordern, etwas Vernünftiges zu tun.
Sie haben es in der Vergangenheit geschafft, über die
Mehrwertsteuergeschenke für die Hoteliers, über Milliarden-Gutscheine für Atomkonzerne, über die Abwrackprämie für die Automobilindustrie so viel Geld zu
verpulvern, dass das, was Sie selbst in Ihrem Antrag als
wichtig erachten, nämlich die Forschungsförderung für
die kleinen und mittelständischen Unternehmen, angeblich nicht finanzierbar ist.
({5})
Das ist Ihre Denke, die dahintersteckt: Es geht Ihnen in
Wirklichkeit um Klientelpolitik. Es geht Ihnen nicht darum, eine vernünftige Strukturveränderung über eine
Rahmengesetzgebung herbeizuführen, wie sie beispielsweise unsere steuerliche Forschungsförderung für den
Mittelstand eine wäre. Sie sagen bei jeder Veranstaltung:
Das ist wichtig; das müssen wir machen. Wenn es aber
konkret wird, dann lehnen Sie ab. Die Grünen hatten ja
bereits einen Antrag dazu gestellt. Die Union und die
FDP haben ihn abgelehnt. Jetzt haben Sie diese Forderungen in Ihr Papier geschrieben. Daran sieht man: Es ist
irgendwie nett gemeint;
({6})
aber sobald es konkret wird, sind Sie abgetaucht.
({7})
Das rächt sich aber. Die KMUs erhalten nur etwa
15 Prozent der Forschungsausgaben. Gerade die kleinen
und mittelständischen Unternehmen sorgen aber doch in
der mittleren Perspektive für das, was wir brauchen: für
Innovationen im Bereich der Fahrzeugtechnologie, Innovationen im Bereich der Energieversorgung, Innovationen in der chemischen Industrie und den kleinen Unternehmen, zum Beispiel der Medizingeräteindustrie. Sie
müssen erkennen, dass sehr viel an Förderung fehlt, um
hier voranzukommen. Darauf sollte man den Fokus legen. Ansonsten rächt sich das am Ende; denn wir wollen
doch Vorbild sein für vernünftige Produkte auf dem
Weltmarkt, die ressourcenarm produziert werden und
wenig Energie verbrauchen. Dafür ist diese Forschungsförderung notwendig. Geben Sie sich endlich einen
Ruck, und machen Sie das.
Ein anderes Thema, das Sie auch sträflich vernachlässigt haben, ist der Fachkräftemangel. Es wird darüber
gesprochen, wie viele Fachkräfte fehlen.
({8})
Wir wissen, dass die Zeit drängt und dass dem Mittelstand Kosten in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro entstehen, weil es diese Fachkräfte nicht gibt.
Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin.
Herr Minister, es wäre ganz schön, wenn bei dem Bemühen der Rednerin, sich an Sie zu wenden, dafür auch
Aufmerksamkeit hergestellt werden könnte.
({0})
Ich nehme an, der Herr Minister muss sich zwischendurch beraten lassen, wie das Problem des Fachkräftemangels zu lösen ist. Das genau ist das Problem; denn
innerhalb der Koalition gibt es hier keine klare Linie. Es
wird immer nur darüber geredet, aber es gibt keine Position.
({0})
Bei der CSU ist es ganz schlimm. Sie diskutiert jetzt
darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist und das im Zusammenhang mit der Diskussion über
Fachkräfte. Absurder geht es wirklich nicht mehr.
({1})
Wer mittelständische Unternehmen besucht, der weiß,
wie schwierig die Situation ist, lieber Ernst Hinsken. Wir
wissen, wie schwierig die Situation ist, und wir wissen
auch, dass die derzeitigen Regelungen, von denen Sie
glauben, dass sie super funktionieren, eben nicht funktionieren. Wenn man bei der Regierung nachfragt, dann
erfährt man zum Beispiel, dass es keine Daten über Vorrangprüfungen und darüber gibt, wie lange das dauert.
Es gibt einfach keine vernünftige Grundlage, sondern es
wird ins Blaue hinein behauptet,
({2})
wir hätten hier keine Probleme, was natürlich überhaupt
nicht stimmt und von den Unternehmen auch völlig anders gesehen wird.
({3})
Es passiert nichts. Wir haben auch den mehrfach angekündigten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren Anerkennung von ausländischen Abschlüssen noch nicht
vorliegen.
({4})
Es ist ein Problem, wenn eine Ärztin aus einem osteuropäischen Land hier nicht im Krankenhaus arbeiten kann,
weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, sondern als
Reinigungskraft arbeiten muss, weil Sie das nicht voranbringen, und wir gleichzeitig einen Ärzte- und Ärztinnenmangel haben.
({5})
Daran sieht man, dass diese Regierung nicht in der Lage
ist, die Probleme, die es zu lösen gilt, auch wirklich anzugehen.
Der Vorschlag, den die Grünen machen, ist: Wir brauchen eine Kombination. Heimische Arbeitskräfte müssen weiter gefördert und qualifiziert werden; gleichzeitig
brauchen wir bedarfsorientiert eine kontrollierte Zuwanderung. Wir haben eine Absenkung der Mindestverdienstgrenze auf 40 000 Euro vorgeschlagen. Das erzählen Sie draußen auch immer herum. In der Praxis haben
Sie es aber noch immer nicht politisch umgesetzt.
({6})
Sie sagen immer, man müsse Brücken bauen und etwas
tun; aber Sie sind nicht bereit, hier voranzugehen, weil
es zu diesem Punkt keine übereinstimmende Meinung in
der Koalition gibt. In Wirklichkeit streiten Sie seit zwei
Jahren. Das ist schlimm für unseren Standort und wirft
uns im internationalen Wettbewerb zurück.
({7})
Ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig auch Ihre Energiepolitik ist, ist die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, über die wir hier schon öfter diskutiert haben. Dabei geht es auch um die Frage, was das für
unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen bedeutet. Denn der Mittelstand wird durch eine solche
Maßnahme, wie Sie sie mit der Laufzeitverlängerung getroffen haben, massiv benachteiligt. Der Ausbau der regenerativen Energien wird gestoppt.
({8})
Die kleinen dezentralen Energieversorger wie die Stadtwerke werden ausgebremst. Es gibt wütende Briefe aus
den Regionen, in denen eine dezentrale Versorgung mit
Beteiligung des örtlichen Handwerks gefordert und festgestellt wird, dass diese Regierung mit der von ihr getroffenen falschen Entscheidung ein gut geplantes GeChristine Scheel
schäftsmodell zunichte gemacht hat, und zwar zulasten
der Unternehmen vor Ort, vor allem der kleinen und mittelständischen Betriebe.
({9})
Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der KMU übersteigt die in den Atomkonzernen um ein Vielfaches. Das
ist bekannt.
Sie haben die Förderung des Handwerks angekündigt.
Was haben Sie aber gemacht? Sie haben bei der energetischen Gebäudesanierung die Förderung zusammengestrichen. Sie haben die Förderung reduziert, obwohl
alle wissen, dass das Investitionsvolumen in diesem Bereich über 300 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
Deutschland sichert. Wir wissen, dass 1 Euro öffentliche
Investitionen gerade in diesem Bereich weitere 9 Euro
an Investitionen auslöst und dass der Staat letztlich über
die gezahlte Mehrwertsteuer mehr einnimmt, als er für
Förderung ausgibt. Auch daran wird klar, dass Sie den
Schwerpunkt falsch gesetzt haben.
Für uns steht fest: Der ökologische Mittelstand ist
weltmarktführend. Er ist innovativ und steht für die ökologische Modernisierung. Bremsen Sie sie nicht aus!
Denn die Unternehmen wollen ökologische Modernisierung. Sie wollen, dass es auf dem Weltmarkt vernünftige
Produkte gibt. Dann sind aber auch die entsprechenden
Rahmenbedingungen in Deutschland notwendig, um
diese Zukunftsorientierung leben zu können. Durch Ihre
Politik machen Sie vielen das Leben ziemlich schwer.
Danke schön.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist derjenige Staat am besten verwaltet und regiert, in welchem der Mittelstand der zahlreichste
ist.
({0})
Dieses Zitat ist 2 400 Jahre alt. Es stammt von Aristoteles
und trifft den Nagel auf den Kopf. Die Entwicklung in
Deutschland 2010 ist der beste Beweis dafür, dass wir
den Mittelstand brauchen. Ein guter Staat stärkt den Mittelstand und macht ihn nicht kaputt. Deshalb hat diese
Koalition die Wirtschaftspolitik konsequent auf eine
Mittelstandspolitik umgestellt. Das werden wir auch so
fortführen.
({1})
Der Aufschwung, den wir derzeit erleben, ist zunächst einmal von den Unternehmen und den Arbeitnehmern erarbeitet worden. Das weiß niemand besser als jemand, der wie ich selber aus einem Handwerksbetrieb
kommt. Deshalb haben wir gerade als Koalition immer
konsequent deutlich gemacht, dass der Aufschwung vor
allem auf die Unternehmen und Arbeitnehmer zurückgeht. Es geht aber auch um vernünftige Rahmenbedingungen. Diese hat die Koalition im letzten Jahr in der
Krise geschaffen und damit dazu beigetragen, dass es
aufwärts ging.
({2})
Der Mittelstand war der Motor, der uns aus der Krise
gezogen hat. Das war auch deshalb möglich, weil
Schwarz-Gelb in Berlin und Stuttgart die größten Brocken aus dem Weg geräumt hat.
({3})
Wir haben die Wachstumsbremsen beseitigt, beispielsweise durch die Entlastungen bei der Unternehmensteuerreform und die mittelstandsfreundliche Regelung der
Unternehmensnachfolge, mit der wir die größten Probleme Ihrer Reform korrigiert haben.
({4})
Wir haben das auch deshalb getan, weil das Geld, das da
besteuert wird, schon zigmal versteuert worden ist.
Sie haben das Thema Zinsen angesprochen, Herr
Gysi, die Sie höher besteuern wollen. Sie haben von einer Politik für Kriminelle gesprochen. Sehr verehrter
Herr Gysi, diejenigen, die in diesem Land sparen und
das tun, was wir von den Menschen erwarten, nämlich
etwas von dem, was sie sich hart erarbeiten, fürs Alter
zurückzulegen, sind diejenigen, die für ihr Erspartes Zinsen bekommen, und diese Menschen beschimpfen Sie
als Kriminelle.
({5})
Über diese Aussage sollten Sie einmal nachdenken, Herr
Gysi. Wir machen Politik für die Menschen in diesem
Land, für den kleinen Mann und die kleine Frau, die sich
anstrengen, die arbeiten und die sparen und davon auch
etwas haben sollen.
({6})
Es war richtig, dass wir das Jahr 2010 mit einer Entlastung von 24 Milliarden Euro begonnen und damit einen Impuls für die Binnennachfrage gesetzt haben.
({7})
Da komme ich zum Kollegen Friedrich, der hier gesagt
hat, wir wollten mehr Netto vom Brutto. Ja, wir haben
mehr Netto vom Brutto.
({8})
Das Statistische Bundesamt hat gerade festgestellt, dass
die Nettolöhne so stark steigen wie seit 17 Jahren nicht
mehr. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben.
({9})
Herr Friedrich, dann stellen Sie sich hier hin und werfen
ausgerechnet dieser Koalition, die nachweislich erreicht
hat
({10})
- das sagt auch der Bund der Steuerzahler -, dass die
Menschen mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben,
Lüge vor. Das sagt ausgerechnet jemand, der einer Partei
angehört, die einst keine Mehrwertsteuererhöhung wollte
und dann eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent
vorgenommen hat. Die größte Steuerlüge in dieser Republik haben Sie zu verantworten.
({11})
Wir haben unsere Versprechen gehalten.
({12})
Sehr verehrter Herr Gysi, jetzt komme ich noch einmal zu Ihnen und Ihrer Rede, die Sie im Wesentlichen
Hartz IV gewidmet haben. Wer wirtschaftliche Dynamik
über höhere Hartz-IV-Sätze regeln will,
({13})
der verkennt Ursache und Wirkung. Deshalb bleibt es
richtig, dass wir eine Politik zunächst einmal für diejenigen machen, die den Wohlstand in diesem Land erarbeiten; sie müssen mehr haben als diejenigen, die nicht arbeiten. Diese Politik werden wir konsequent umsetzen.
({14})
Dann haben Sie hier so wunderschön gesagt, wir sollten nicht alles gegen Berlin regeln. Ich will Ihnen nur sagen - vielleicht können Sie einmal mit Herrn Wowereit
Kontakt aufnehmen -:
({15})
Sie haben eine riesengroße Chance. Wenn Sie morgen
im Bundesrat unserem Vorschlag zur Reform von
Hartz IV zustimmen,
({16})
dann bekommen Sie eine Entlastung der Länder und der
Kommunen, indem der Bund auf Dauer die Kosten der
Grundsicherung übernimmt.
({17})
Das wäre etwas, was tatsächlich Entlastung für die Kommunen bringen würde; das wäre etwas, was Sie machen
müssten. Deshalb, Herr Gysi, kann ich Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie dieser Reform zu!
({18})
Wir werden die Mittelstandspolitik konsequent fortsetzen. Wir werden das tun, indem wir entsprechende
Rahmenbedingungen bei der Infrastruktur setzen.
Frau Scheel, Sie haben die erneuerbaren Energien angesprochen. Ich sage Ihnen: Wir fördern erneuerbare
Energien. Wir haben zum ersten Mal einen Fonds für erneuerbare Energien auf den Weg gebracht, mit dem wir
etwas schaffen werden, was Sie nie erreicht haben.
({19})
Wir werden den Bereich Speichertechnologie konsequent fördern; denn wer für die erneuerbaren Energien
eine große Zukunftschance will, der muss vor allen Dingen im Bereich der Speichertechnologie etwas tun. Mit
unserem Fonds werden wir etwas reparieren, was Sie
über Jahrzehnte in der Politik verpennt haben.
({20})
Frau Kollegin Homburger, der Kollege Gysi möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich möchte gern zum Schluss meiner
Rede kommen.
({0})
- Also gut, wenn er unbedingt möchte.
Das wird ohnehin das krönende Finale Ihrer Rede,
({0})
weil ich Sie gleich darauf aufmerksam machen möchte,
dass mit der Beantwortung dann auch die Redezeit erschöpft ist.
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Ich nehme
auch an, dass es der krönende Abschluss sein wird. Ich
wüsste auch nicht, was sonst noch kommen sollte.
({0})
Frau Kollegin Homburger, ich habe zwei Fragen. Sie
haben darüber gesprochen, dass Leute, die sparen und
die sich dieses Geld erarbeitet haben, zu unterstützen
sind. Ich habe nichts dagegen gesagt. Ich habe von denen
gesprochen, die ihre Steuerzahlungen reduzieren. Das
Argument der FDP war immer: Weil bei den Zinsen so
viel Steuern hinterzogen werden - und das ist kriminell -,
muss man den Kriminellen entgegenkommen und die
Steuersätze senken.
({1})
Damit habe ich mich auseinandergesetzt und mit nichts
anderem.
({2})
- Ich möchte gerne beantwortet haben, ob sie das auch
so sieht. Ich kann es auch als Frage formulieren.
({3})
Frau Enkelmann sagt gerade, in der Geschäftsordnung
steht, man kann auch eine Bemerkung machen, man
muss gar keine Frage stellen. Aber ich kann übrigens
Fragen stellen. Das fällt mir gar nicht schwer.
Deshalb meine zweite Frage: Sie haben gesagt, denjenigen, die das Ganze erarbeiten, solle es besser gehen.
Da stimme ich Ihnen voll zu. Dann erklären Sie mir
bitte, warum die FDP gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ist, was generell zu einer Lohnerhöhung führte. Es sind doch, glaube ich, in erster Linie
die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die die
Werte in der Bundesrepublik Deutschland herstellen.
({4})
Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, das, wonach Sie gerade gefragt haben, hat der Kollege Martin Lindner vorhin schon völlig richtig ausgeführt. Ihre Politik passt
überhaupt nicht zusammen. Sie ist in keiner Weise konsistent. Wir wollen, dass durch eine Stärkung der Arbeitnehmer sowie durch eine Stärkung des Mittelstandes
möglichst viele Menschen in Deutschland die Chance
auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten. Das haben wir ausweislich der Zahlen auch erreicht. Die niedrigste Arbeitslosigkeit und die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit seit 20 Jahren, das ist ein Erfolg
unserer Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen, und
zwar im Sinne der Menschen in diesem Lande.
({0})
Herr Gysi, Sie dürfen gerne stehen bleiben, denn Sie hatten zwei Fragen gestellt.
Die zweite Frage bezog sich auf die Zinsen. Wir haben immer wieder deutlich gemacht: Aus unserer Sicht
ist es nicht fair, wenn man auf Erspartes Zinsen bekommt und auf diese Zinsen nochmals Steuern bezahlen
muss; denn das ersparte Geld ist bereits zuvor versteuert
worden.
({1})
Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sind wir der
Meinung, dass wir den Menschen möglichst viel von
dem lassen wollen, was sie sich erspart haben.
Wir werden eine konsequente Mittelstandspolitik machen. Wir werden die Orientierung auf den Mittelstand
in der Steuerpolitik, beim Bürokratieabbau, in der Innovationspolitik, bei Forschung und Entwicklung und bei
der Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Dies wird für die
Menschen in diesem Land die besten Ergebnisse bringen, die man sich vorstellen kann. Wir sind angetreten,
weil wir mehr Chancen für mehr Menschen wollen. Das
werden wir konsequent umsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Wicklein
für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der Regierungsfraktionen. Wenn ich mir den Antrag, den Sie
eingebracht haben, anschaue, dann entsteht bei mir der
Eindruck, dass Sie Ihrem eigenen Minister Untätigkeit
vorwerfen. Man könnte fast den Eindruck haben, Sie
müssen Ihren eigenen Minister zum Jagen tragen.
({0})
Schon im ersten Satz des Antrags schreiben Sie richtigerweise, dass die Unternehmen für den Aufschwung
des letzten Jahres verantwortlich sind. Ich möchte noch
ergänzen: Auch die weitsichtige Politik der SPD in der
Großen Koalition war maßgeblich dafür verantwortlich.
Welchen Anteil aber der Bundeswirtschaftsminister an
diesem Aufschwung hat, kann man nicht erkennen. Offensichtlich halten Sie von der Regierungskoalition es
für notwendig, nach anderthalb Jahren Schwarz-Gelb Ihren Minister aufzufordern, die beschlossenen Maßnahmen aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag endlich umzusetzen. Minister Brüderle hat seit seinem Amtsantritt
pressewirksam eine ganze Reihe von Initiativen gestartet, die angeblich dem Mittelstand zugutekommen: die
Initiative „Gründerland Deutschland“, die Initiative „Internet erfahren“ und die Initiative „Zukunftsmarkt zivile
Sicherheit“. Vor wenigen Tagen schließlich verkündete
der Minister spontan eine neue Technologieoffensive.
Am laufenden Band Initiativen zu starten, ist reine Ankündigungspolitik.
({1})
Ganz offensichtlich, Herr Minister, sehen das die eigenen Regierungsfraktionen genauso; denn sie halten es
für nötig, in ihrem Antrag ausdrücklich zu fordern, dass
die neue Technologieoffensive auch zügig umgesetzt
wird. Das zeugt nicht gerade von einem großen Vertrauen in Ihr Regierungshandeln.
Aber die Krönung des Ganzen ist, dass Herr Brüderle
bereits im Januar 2010 einen Neun-Punkte-Plan für den
Mittelstand verkündet hat und exakt am gleichen Tag ein
Jahr später nun einen Sieben-Punkte-Plan für den Mittelstand neu verkündet.
({2})
Wenn ich diese beiden Initiativen nebeneinanderlege,
stelle ich fest, dass dem Wirtschaftsminister nichts
Neues eingefallen ist.
({3})
Da stelle ich doch ernsthaft die Frage: Was haben Sie in
diesem Jahr getan? Offensichtlich nichts.
({4})
Entscheidend sind eben Taten, Herr Brüderle, und nicht
Ankündigungen.
Trotz der momentan guten Konjunktur liegen doch
die Probleme auf der Hand. Ich möchte einige herausgreifen. Erstens. Stichwort: Gründungen. Auch wenn der
Trend positiv ist, sind die Zahlen der Gründungen in
Deutschland nach wie vor ernüchternd. Deutschland
nimmt unter den 18 hochentwickelten Volkswirtschaften
bei Existenzgründungen nur den vorletzten Platz ein. Ich
frage Sie: Wie und wann wollen Sie die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Gründungskultur nun konkret verbessern? Was wollen Sie für eine bessere soziale
Absicherung der Gründer tun? Wann intensivieren Sie
Ihre Bemühungen, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen? Welche Vorschläge haben Sie, gezielte Existenzgründungshilfen auszubauen? Von Ihnen hört man da gar
nichts.
({5})
Zweitens. In Deutschland haben es Gründer nach wie
vor schwer, an das nötige Kapital zu kommen. Gerade
die Finanzierung von der Geburt bis hin zu den ersten
Schritten der jungen Unternehmen ist besonders schwierig. Jeder vierte Gründer klagt über große Probleme. Es
ist beunruhigend, wenn fast zwei Drittel der befragten
Experten die Finanzierungsbedingungen für Gründungen in Deutschland als besonders schlecht einstufen.
Deshalb wäre es doch dringend geboten, Herr Brüderle,
die Bedingungen für Wagniskapital zu verbessern. Ich
frage mich: Wann werden Sie die bereits im Januar 2010
angekündigte Überprüfung der steuerlichen Verbesserung für Wagniskapital endlich abgeschlossen haben?
({6})
Wann können wir mit konkreten Vorschlägen für eine
Reform des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes rechnen?
Als SPD setzen wir auf erfolgreiche Unternehmen, die
Wagniskapital bereitstellen, auch unabhängig vom HighTech-Gründerfonds; denn sie können ihre Erfahrungen
mit den Gründern teilen. Das beweisen die Wagniskapitalgesellschaften, die es bereits gibt. Wir haben das
„Corporate Venture Capital“ genannt. Hier sollten Sie
schnellstmöglich aktiv werden, um das zu erleichtern.
Drittens: die Innovationsförderung. Auch dazu wurde
heute schon zu Recht etwas gesagt. Die Koalitionsfraktionen haben die steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung in ihren Antrag hineingeschrieben, obwohl sich, wenn ich mich richtig erinnere, Ihr Kollege
Pfeiffer in der Bundestagsdebatte am 20. Januar von der
Einführung der steuerlichen Förderung in dieser Legislaturperiode bereits verabschiedet hat.
({7})
Unklar bleibt also, was Sie eigentlich wollen und wann
Sie damit beginnen wollen. Die SPD ist ganz klar für eine
steuerliche FuE-Förderung. Diese soll die Projektförderung ergänzen. In Ihrem Antrag wird unter Punkt 7 wieder
nur schwammig von der Einführung der FuE-Förderung
„unter Berücksichtigung des gebotenen Konsolidierungskurses“ gesprochen.
Sehr geehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen,
zusammenfassend ist zu sagen, dass Sie sich mit Ihrem
gesamten Antrag nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Er ist unkonkret, und Sie schieben die Probleme vor
sich her. Ich habe die Befürchtung, dass dem Motor Mittelstand bald der nötige Schmierstoff ausgeht, um auf
Dauer das notwendige Tempo zu bringen.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Herr Gysi, Sie wollten sich heute als neuer Mittelstandsbeauftragter präsentieren. Ich schätze ja Ihren Sinn für
subtilen Humor. Ihre Partei ist mitnichten die Mittelstandspartei. Sie schafft es noch nicht einmal zur Mittelmaßpartei.
({1})
Sie haben gefragt, wo denn die Spareinlagen sind.
Wissen Sie, Herr Gysi, mich würde wirklich interessieren, wo die Spareinlagen der SED-Vermögen gelagert
sind. Auch das könnte von Interesse sein.
({2})
Diese Frage hören Sie nicht gern. Sie haben sich ja
rechtlich nicht davon losgesagt. Insofern müssten Sie
auch wissen, wie gute Geldanlage außerhalb Deutschlands funktioniert.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, noch vor wenigen Jahren sprach das Wall
Street Journal von Deutschland als dem kranken Mann
Europas. Das war 2005 unter der Regierung von Bundeskanzler Schröder. Und heute? Heute sieht es anders
aus.
({3})
Heute spricht zum Beispiel die Washington Post davon,
dass die deutsche Wirtschaft die stärkste in der Welt sei,
und das unter der Regierung von Bundeskanzlerin
Angela Merkel.
({4})
Heute ist Deutschland zur Konjunkturlokomotive in
Europa geworden, und das übrigens in einer Zeit, in der
sich andere Volkswirtschaften noch mühselig aus dieser
Krise herauskämpfen.
({5})
Natürlich gibt es auch noch Nachwehen. Ich denke,
an dieses Problem müssen wir mit Demut herangehen.
Nichtsdestotrotz ist klar, dass unsere Wettbewerbsposition nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise stärker ist
als zuvor. Nach etwa 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum
im vergangenen Jahr schauen wir jetzt auf 2,3 Prozent
Wachstum im Jahr 2011. Natürlich darf nicht jedes
Wachstum blind bejubelt werden. Umso mehr freut es
mich, dass der Aufschwung an Breite und an Tiefe gewonnen hat. Die deutsche Wirtschaft engagiert sich nach
wie vor intensiv im Export. Die Exportwirtschaft sichert
Arbeitsplätze.
In diesem Zusammenhang möchte ich der Opposition
eines sagen: Auch die Ernährungswirtschaft sichert Arbeitsplätze.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie sagen,
es sei unanständig, wenn wir Nahrungsmittel produzieren und ins Ausland schicken, Sie sagen, wir würden
nicht nachhaltig produzieren, weil wir über Bedarf produzieren. Es ist unanständig, so etwas in den Ausschüssen zu behaupten.
({7})
Ich habe noch nie gehört, dass Sie sich über das importierte argentinische Rindfleisch beschweren. Ich danke
allen, die an der Exportwirtschaft beteiligt sind, weil sie
Arbeitsplätze und Zukunft sichern.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst das Sorgenkind, das wir hatten, der inländische Konsum, hat sich
erholt. So haben wir für 2011 eine Prognose von rund
2 Prozent Steigerung. Und das Allerschönste ist: Auch
die Schröder’sche Massenarbeitslosigkeit haben wir weit
hinter uns gelassen.
({9})
Statt 5 Millionen Arbeitslose noch im Jahr 2005 haben
wir jetzt nur noch 3 Millionen Arbeitslose, und die Tendenz ist weiter sinkend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Heil, Sie müssen sich erinnern: Schröder sagte ja
im Jahr 1998, er werde die Arbeitslosigkeit halbieren.
Das hätte er gern für sich beansprucht.
({10})
- Sie sagen: Das haben wir geschafft. Spätestens daran
sieht man, dass das Bildungssystem an manchen Stellen
des Mathematikunterrichts verbesserungsbedürftig ist.
({11})
Lieber Herr Heil, 5 Millionen Arbeitslose waren es
unter Gerhard Schröder. Diese christlich-liberale Regierung hat es in greifbarer Nähe, dass die Arbeitslosigkeit
halbiert werden wird. Das danken ihr die Menschen;
denn sie sind in Lohn und Brot. 40 Millionen Menschen
sind in Beschäftigung. Das ist ein Ergebnis guter Politik,
die Sie nicht schlechtmachen sollten. Es tut Ihnen weh;
das weiß ich.
({12})
Aber dieses intelligente politische Krisenmanagement,
dieses Szenario, war richtig und war wichtig. Wir haben
die Kurzarbeit und die Konjunkturpakete auf den Weg
gebracht. Und noch eines: Würden Sie einmal mit dem
Mittelstand sprechen, dann würden Sie auch erkennen,
dass dabei genau das, was der Kollege Fuchs, was der
Kollege Brüderle, was die vielen anderen Kolleginnen
und Kollegen der christlich-liberalen Koalition erkämpft
haben, nämlich die Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro seit Jahresbeginn 2010,
({13})
zum Tragen gekommen ist. Dass dies zum Tragen gekommen ist, spüren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb sage ich: Herzlichen Dank all jenen, die bereit sind zu investieren!
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gehört
der Fairness halber dazu, zu sagen, dass Sie durchaus
ökonomischen Sachverstand und Vernunft hatten, als Sie
noch auf der Regierungsbank saßen,
({15})
zumindest waren Sie der ökonomischen Vernunft gegenüber aufgeschlossen. Das hat sich in der Opposition leider etwas gedreht. Wenn man jetzt betrachtet, was bei
Ihnen auf der Oppositionsbank los ist, dann merkt man,
dass der Fachkräftemangel akuter ist als jemals gedacht.
({16})
Das zeigt schon allein die Tatsache, dass Herr Gabriel
die Liberalisierung der Zeitarbeit - übrigens ein echter
Erfolg der rot-grünen Agenda 2010 - plötzlich als zentralen Fehler bezeichnet und fröhlich die Rolle rückwärts
macht.
Schauen wir zum Beispiel nach Rheinland-Pfalz.
({17})
Dort gibt es Unternehmen wie Mercedes-Benz in Wörth,
die das Prinzip eines dreistufigen Rekrutierungsprogrammes verfolgen. Dort wird schulbuchmäßig derjenige, der ausscheidet, durch einen bisher befristet Beschäftigten ersetzt, der nun unbefristet angestellt wird.
Ein neuer Zeitarbeitnehmer erhält wiederum einen befristeten Vertrag. So rückt einer dem anderen nach. So
wurden 40 Prozent der Zeitarbeitnehmer zu festen Mitarbeitern. Das ist ein Erfolgsmodell. Die Landesregierung in Rheinland-Pfalz möchte genau dieses abschaffen.
({18})
Herr Heil hat eine Nachfrage; ich erkläre es ihm
gerne.
Dann will ich dem nicht im Wege stehen. Bitte schön,
Herr Kollege Heil.
({0})
Liebe Frau Klöckner, sehr gnädig von Ihnen, dass Sie
mir etwas erklären wollen. Deshalb darf ich Sie etwas
fragen: Sind Sie mit uns der Meinung, dass die Zeit- und
Leiharbeit für Unternehmen ein vernünftiges Flexibilitätsinstrument sein sollte, um die Auftragsspitzen von
Unternehmen abzudecken, nicht aber - hier mag der Unterschied sein - ein Einfallstor für Lohndumping? Ich
sage es noch einmal: Für Auftragsspitzen von Unternehmen ist Leiharbeit ökonomisch vernünftig, aber wir erleben es, dass das Fehlen des Grundsatzes „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ zwischen Stamm- und Leihbelegschaften
({0})
in der Zeit- und Leiharbeit zu Lohndumping führt.
Meine Frage an Sie, Frau Klöckner, ist: Ab wie vielen
Wochen oder Monaten sind Sie dafür, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt
gilt?
({1})
Sind Sie wie die FDP der Meinung, dass die Grenze bei
neun Monaten liegen sollte? Ich sage Ihnen: Drei Monate, innerhalb welcher 50 Prozent der Arbeitnehmer
eingesetzt werden, sind die Grenze.
({2})
- Herr Kauder, beruhigen Sie sich doch einmal. Es ist
nicht gut für die Gesundheit, wie Sie sich aufregen.
({3})
- Herr Kauder, Dünnhäutigkeit ist das eine, aber wir
wollen doch mit Frau Klöckner die Frage klären.
Meine einfache Frage an die Spitzenkandidatin der
rheinland-pfälzischen CDU: Nach welcher Einarbeitungszeit gönnen Sie den Menschen gleichen Lohn für
gleiche Arbeit?
Lieber Herr Heil, es hilft, wenn man ins Gesetz
schaut.
({0})
Wenn man darin liest, dann kann man einiges verstehen.
Ich verstehe, dass es in der Opposition schwierig geworden ist, sich eine Position zu erkämpfen.
({1})
- Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Es ist unanständig, die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschimpfen, die über die Leiharbeit in feste Arbeit gekommen sind.
({2})
Es ist unanständig, weil es viele Betriebe in Deutschland
gibt, die mithilfe der Leiharbeit die Auftragsspitzen abpuffern konnten.
({3})
Es ist auch unanständig, dass Sie diese kritische Frage
nicht Ihrem Parteikollegen Beck in Rheinland-Pfalz stellen, der beim Nürburgring übrigens 400 Millionen Euro
versenkt hat und jetzt als Landeseigentümer dort Lohndumping betreibt; denn die Putzkräfte dort verdienen
weniger als 5 Euro pro Stunde.
({4})
Ich frage Sie: Wann werden Sie glaubwürdig?
({5})
- Lesen Sie das Gesetz!
({6})
Ich bedanke mich sehr herzlich bei unserem Wirtschaftsminister, ich bedanke mich bei unseren Kolleginnen und Kollegen und vor allen Dingen beim Mittelstand
in dieser Republik. Wir müssen es schaffen, die Bildung
intensiv voranzutreiben und die Ausbildungsreife junger
Menschen zu garantieren, sodass es für viele Arbeitgeber nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, welches
Wissen in welchem Abschluss steckt.
({7})
Deshalb müssen wir von dem Flickenteppich in Deutschland wegkommen. Ich fordere die SPD auf, sich der Initiative der CDU-Länder anzuschließen, ein gemeinsames
Abitur oder auch gemeinsame Abschlüsse für die Sekundarstufe I einzuführen;
({8})
denn eines ist klar: Nur mit gut ausgebildeten jungen
Menschen und mit Freiheit für die Betriebe werden wir
in Deutschland weiterhin die Lokomotive in Europa
sein.
Noch einmal: Mein Dank gilt den Unternehmerinnen
und Unternehmern sowie den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.
({9})
Seien Sie gewiss: Die CDU und die FDP stehen an der
Seite des Mittelstands. Wir werden sie nicht beschimpfen, wie das die Opposition tut, weil sie damit Punkte
machen will.
Herzlichen Dank.
({10})
Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man
sollte sich doch noch einmal an das erinnern, was in den
letzten Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, in den
Wirtschaftsberichten und von den Fachleuten zur wirtschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck kam. Es waren
die Minister in der schwarz-roten Koalition, Steinbrück,
Scholz und andere, die Anfang 2009 die Konjunkturprogramme I und II, die Kurzarbeitergeldregelung und die
Abwrackprämie auf den Weg gebracht haben. Das wurde
anerkannt. Das war der richtige Weg.
({0})
Man wird sich erinnern: Es waren die FDP und dieser
Herr Wirtschaftsminister, die dagegen polemisiert haben. Die Kurzarbeitergeldregelung von Scholz war das
absolute Maß der Dinge. Darauf sind wir als Sozialdemokraten stolz.
({1})
Wenn über Leiharbeit und über den Niedriglohnsektor
diskutiert wird, muss man einmal zur Kenntnis nehmen,
dass wir jährlich über 11 Milliarden Euro aus öffentlichen Kassen, Staatsgeld, aufwenden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die für wenig Geld arbeiten
müssen, eine Aufstockung zu zahlen. Dieses Geld auszugeben, ist überflüssig. Deshalb brauchen wir einen vernünftigen Mindestlohn, und deshalb brauchen wir vernünftige Regelungen in der Leiharbeit.
({2})
In der Debatte heute ist nach meinem Dafürhalten
das, was wir kürzlich, am 25. Januar, im Handelsblatt lesen konnten, nicht ausreichend thematisiert worden.
Ernst & Young haben eine Erhebung durchgeführt, nach
der die Hälfte der mittelständischen Firmen Umsatzeinbußen befürchten, weil Fachkräfte fehlen, der Fachkräftebedarf nicht ganz zu decken ist. Darauf haben wir
schon in den letzten Jahren hingewiesen. Wir haben immer wieder, hier im Deutschen Bundestag und anderswo, gefordert: Bildet mehr aus! Denn wer heute ausbildet, hat morgen keine Probleme mit Facharbeitern.
Wer nicht ausbildet, muss anfangen, mit dem Lasso zu
suchen. Das ist der falsche Weg.
({3})
Rechtzeitig auszubilden, das ist Personalpolitik, sichert
Beschäftigung, schafft Umsatz.
Wir als SPD haben 2008 Papiere, Konzepte zum
Fachkräftebedarf vorgelegt. Ich will auf einen Themenbereich hinweisen, für den heute keine Antwort gegeben
worden ist; ich glaube aber, wir müssen ihn angehen.
Sehr viele junge Leute im Übergang von der Schule zur
Berufsausbildung, fast 400 000, sind im sogenannten
Übergangssystem. Ich weiß, dass die Bundesbildungsministerin mit anderen dabei ist, diesen Dschungel zu
durchforsten. Es gibt eine Vielfalt von Maßnahmen, die
höchst ineffizient sind. Es wird Zeit, dass wir hier nach
dem Motto „Weniger ist mehr“ verfahren und mehr
junge Leute aus den sogenannten Übergangsmaßnahmen
in konkrete Ausbildung führen. Dafür muss man Geld in
die Hand nehmen und Aktivitäten entfalten. Das vermissen wir bei der Bundesregierung.
Bund und Länder sind in der Qualifizierungsoffensive
für Deutschland die Verpflichtung eingegangen, die Zahl
der jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung von
17 Prozent in 2008 auf 8,5 Prozent bis 2015 zu halbieren. Wenn wir dies tatsächlich schaffen, würden wir
nicht nur etwas für den Mittelstand tun, sondern insgesamt für die jungen Menschen und für die Unternehmen
in unserem Land.
({4})
Wir haben in Deutschland mittlerweile - das ist durch
mehrere Studien belegt - über 2 Millionen junge Erwachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren ohne Berufsabschluss. Wir haben junge Männer und junge Frauen mit
Migrationshintergrund - 38 Prozent der Männer, 40 Prozent der Frauen -, die keine Ausbildung haben. Das sind
Millionen von Menschen.
Diese Zahlen verdeutlichen: Wir brauchen mehr Investitionen in Bildung, in Qualifikation, in Berufsausbildung. Wir sind der Auffassung, hier handelt diese Regierung zu wenig. Was macht sie denn? Sie kürzt und
streicht den Ausbildungsbonus, der dazu dient, die Zahl
der Auszubildenden zu erhöhen. Entsprechende Umfragen - das stellt auch der Bundesrechnungshof in seiner
Bewertung fest - haben unter anderem ergeben, dass vor
allen Dingen kleinere Unternehmen dank dieser finanziellen Unterstützung erstmals wieder in Ausbildung
eingestiegen sind. Warum wird das gestrichen, wenn wir
wissen: „Wir brauchen junge Leute!“?
Sie haben den Rechtsanspruch darauf, einen Hauptschulabschluss nachholen zu können, gestrichen. Sie haben den Eingliederungstitel um 2 Milliarden Euro gekürzt. Auch das trifft junge Leute. Stattdessen wird über
Zuwanderung ausländischer Fachkräfte diskutiert. Millionen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss, und
dann wollen wir noch welche hereinholen! Das ist der
falsche Weg. Die Arbeit in Deutschland muss mit denen
gemacht werden, die hier in Deutschland leben, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Das wollen wir als SPD.
({5})
Letztendlich geht es doch darum, wenn wir den Mittelstand stärken und ein Stück weit nach vorne bringen
wollen, die Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen und den Menschen die Chance zu geben,
ihre Arbeitskraft zu vernünftigen Bedingungen anzubieten. Die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und Weiterbildung muss erhöht werden. Es müssen eine zweite
und dritte Chance eröffnet werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass keiner zurückgelassen wird, dass das
Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen möglich
ist - darauf habe ich schon hingewiesen - und dass die
Zahl der Geringqualifizierten, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, bis 2015 auf 55 Prozent gesteigert wird.
Ja, hier stehen wir vor großen Aufgaben. Wir sind der
Auffassung, dass man dabei Folgendes berücksichtigen
sollte: Je höher die betrieblichen Kosten, desto höher die
finanzielle Beteiligung der Betriebe und Unternehmen;
je höher der persönliche Gewinn und das persönliche
Bildungsnieveau, desto höher die Selbstbeteiligung des
Individuums; je niedriger das vorhandene Bildungs- und
Qualifikationsniveau und je höher die Benachteiligung,
desto mehr Unterstützung vom Staat, vom Bund, von
Ländern und Kommunen als Korrektiv für mehr Chancengleichheit für Benachteiligte auch im Weiterbildungsbereich. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir
auch im Sinne von Integration, im Sinne von Mitnehmen
von Menschen, die hier in unserem Land leben, eine
große Weiterbildungskampagne starten. Wir brauchen
sie. Sie ist notwendig und wichtig.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der Fachkräftemangel - darauf hat die Bundesagentur für Arbeit Anfang des Jahres hingewiesen - kann vermieden werden,
wenn wir nicht weiterhin die Frauen von der Arbeitswelt
ausgrenzen.
({6})
Es wurden auch weitere Faktoren genannt: Es geht um
Qualifizierung und Weiterbildung; es geht um Reduzierung der Zahl der Studienabbrecher und der Ausbildungsabbrecher; es geht auch darum, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss zu reduzieren.
Letztendlich lebt der Mittelstand davon, dass er gute
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Ich selber
lebe in einer Mittelstandsregion. Das Ziel muss sein,
gute Bezahlung für gute Arbeit durchzusetzen, statt den
Leiharbeits- und den Niedriglohnsektor auszuweiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Der Kollege Hinsken ist der nächste Redner für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auf diese heutige Mittelstandsdebatte habe ich mich gefreut.
({0})
Um den Mittelstand steht es momentan Gott sei Dank relativ gut. Das ist vor allen Dingen dieser Bundesregierung zuzuschreiben.
({1})
Das soll auch die breite Öffentlichkeit wissen. Ihnen
werden wir es so oft sagen, bis Sie es endlich einmal kapieren und bereit sind, das zu schlucken.
({2})
Unser Mittelstand ist eine tief in diesem Staat verankerte Gesellschaftskraft: nah am Menschen und für die
Gemeinschaft. Dass Deutschland so gut dasteht, dass es
weit besser dasteht als alle europäischen Nachbarn, hat es
gerade seinem starken Mittelstand zu verdanken. Wenn
die Politik also heute eine Lehre aus der Krise zieht - und
das muss sie -, dann die, dass sich Politik für den Mittelstand lohnt. Daher kommt es jetzt, in Zeiten der kräftigen
Erholung, ganz entscheidend darauf an, dass die Bundesregierung an einem mittelstandsgerechten und nachhaltigen Kurs festhält. Nur so lässt sich der Aufschwung verstetigen.
Herr Wirtschaftsminister Brüderle, Sie haben es zwar
kurz, aber prägnant auf den Nenner gebracht, dass das
Ihre Richtschnur für eine Politik im Sinne des Mittelstands innerhalb der Bundesregierung ist.
({3})
Die Unionsfraktion ist die Fraktion zweier Parteien
für den Mittelstand. Wir lassen uns von niemandem
übertreffen, wenn es speziell um die Stärkung des Mittelstandes geht.
({4})
Unsere Politik ist zukunftsorientiert, verlässlich und leistungsfördernd. Das ist ein bisschen anders als das, was
zum Beispiel Sie von den Grünen wollen.
({5})
Liebe Christine Scheel, Sie wollen doch den Mittelstand belasten, indem Sie zum Beispiel die Bürgerversicherung einführen wollen und die Beitragsbemessungsgrenze auf 5 500 Euro deutlich anheben wollen.
({6})
Sie wollen eine Komplettsanierung aller Gebäude innerhalb von 40 Jahren und die vollständige Erzeugung von
Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Das führt
zu höheren Preisen und Mieten. Sie wollen, dass die
Freiberufler in Zukunft Gewerbesteuer zahlen. Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben.
({7})
Das heißt schlicht und einfach auf den Nenner gebracht:
Sie wollen die Leistungsträger unserer Gesellschaft noch
mehr belasten, als sie ohnehin schon belastet sind. Da
machen wir nicht mit.
({8})
Vernünftige Rahmenbedingungen sind das A und O, und
dafür stehen wir.
Selten hat der Mittelstand so zuversichtlich in die Zukunft geblickt wie zurzeit. Das möchte ich insbesondere
an die Vorredner Herrn Friedrich von der SPD und an
Sie, Herr Gysi, gerichtet sagen. Das KfW-Ifo-Mittelstandsbarometer erreichte im Dezember 2010 einen Rekordstand beim Geschäftsklima. Ein wichtiger Indikator
dafür, wie der Mittelstand momentan dasteht, ist darin zu
sehen, dass sich die Eigenkapitalquote in der Krise verbessert hat. Sie stieg von 12,8 Prozent auf 15,6 Prozent.
In diesem Jahr entstehen, so die Bundesregierung,
320 000 neue Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Mittelstand. Die über 4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer, Selbstständige in Industrie,
Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freien Berufen
sind damit der Motor für Wachstum, Beschäftigung und
Ausbildung in Deutschland. Dafür kann nicht genug gedankt werden. Dafür gilt es sich nachhaltig immer wieder einzusetzen.
({9})
- Selbstverständlich dürfen Sie.
Bitte sehr, Herr Kollege Gysi.
Herr Hinsken, ich habe nur eine Frage: Haben Sie zur
Kenntnis genommen, dass das Barometer, von dem Sie
gesprochen haben, auch veröffentlicht hat, dass 25 Prozent der Kreditverhandlungen der kleinen und mittelständischen Unternehmen mit den Privatbanken scheitern, das heißt, dass sie keine Kredite bekommen? Was
gedenken Sie denn dagegen zu tun? Sollten wir vielleicht eine direkte Förderung unter Umgehung der IKB
und der Geschäftsbanken ins Auge fassen, also andere
Wege einschlagen, um die Zahlungsfähigkeit der entsprechenden Unternehmen zu erhöhen?
Erstens, verehrter Herr Kollege Gysi, sind nicht
25 Prozent der Kreditverhandlungen negativ betroffen.
({0})
Zweitens möchte ich ausdrücklich darauf verweisen:
Wenn es hinten und vorne fehlt, dann geht halt nichts.
Das ist ein Stück Ordnungspolitik, der wir Rechnung zu
tragen haben.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig.
({2})
Wir werden vor allen Dingen das Notwendige machen. Ich finde es gut, dass der Bundeswirtschaftsminister einen Kreditmediator eingesetzt hat
({3})
- wenn ich schon gefragt werde, dann möchte ich auch
antworten dürfen -, weil ich nach einem Gespräch mit
Herrn Metternich in Erfahrung bringen durfte, dass allein im letzten Jahr über 1 000 Fälle beraten wurden, wo10060
nach davon allein 750 auf die Beratung entfallen und
dass bei 247 Fällen intensiv direkt Einfluss genommen
wurde. Zu guter Letzt konnten 45 Betriebe mit einem
Volumen von 60 Millionen Euro auf der einen Seite und
dem weiteren Verbleib von über 3 100 Arbeitsplätzen
auf der anderen Seite gerettet werden. Es ist für mich
schon wichtig, das in der Antwort auf Ihre Frage auszuführen.
({4})
Herr Kollege Hinsken, Sie können jetzt auch in Ihrer
vorbereiteten Rede fortfahren.
({0})
Ich lasse eine weitere Zwischenfrage zu.
Ich möchte eine kleine Zusatzfrage stellen. Basel III
wird die Bedingungen für die Kreditvergabe verschärfen. Es gibt kein Gegensteuern der Regierung. Meinen
Sie nicht, dass man etwas dagegen tun müsste?
Herr Gysi, auch hier liegen Sie ein bisschen falsch:
({0})
Die Regierung steuert selbstverständlich entgegen; sie
hat das Interesse des Mittelstandes im Auge. Die Regierung wird speziell bei Basel III das Notwendige an Maßnahmen und Anreizen tun, das unserer Wirtschaft dient.
Sie können versichert sein: Die Regierung kann das besser als Sie.
({1})
Meine Damen und Herren, zurzeit führen wir eine
große Diskussion über die Frauenquote.
({2})
Hier möchte ich die Wirtschaft auffordern, es dem Handwerk, einem der größten Mittelstandsbereiche, nachzumachen; denn hier sind Frauen in den Betrieben längst auf
dem Vormarsch. Jedes vierte Handwerksunternehmen
wird zurzeit von einer Frau gegründet. Bei den Meistern
ist ein konstanter Frauenanteil von über 20 Prozent, bei
den Lehrlingen von über 27 Prozent festzustellen. Immer
öfter übernehmen die Töchter den Familienbetrieb und
bringen schon in jungen Jahren viel Ideenreichtum und
Gründerwissen mit.
Warum ist diese Mittelstandsdebatte so wichtig? Weil
sowohl in Europa als auch in den USA die kleinen und
mittleren Unternehmen fast überall die Gesamtzahl der
Unternehmen ausmachen: Über 99 Prozent der Betriebe
sind KMU. Im Jahr 2005 waren in der EU fast 20 Millionen Unternehmen im nichtfinanziellen Sektor der gewerblichen Wirtschaft tätig. Diese Betriebe zeigen Flexibilität. Sie sind bereit, sich zu behaupten; sie sind bereit,
alles zu machen und zu tun, um nicht unterzugehen.
Was die Gründungsdynamik anbelangt, ist noch etwas
zu machen. Wir brauchen auch in der Bundesrepublik
Deutschland mehr denn je eine starke Gründungswelle.
Ich bin der Meinung, dass die jungen Mitbürger in den
Schulen nicht mehr nur ausgebildet werden sollten, um
einmal tüchtige Arbeitnehmer zu werden, sondern auch,
um einmal tüchtige Unternehmer zu werden, also den
Weg in die Selbstständigkeit zu gehen.
({3})
Was den Fachkräftemangel anbelangt, verehrte Frau
Kollegin Scheel, bin ich der Meinung, dass dieses Problem nicht isoliert gesehen werden darf; es muss vielmehr mit dem Thema der Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Verbindung gebracht werden. Ich kann mir
durchaus vorstellen, dass ein älterer Mitbürger bereit ist,
sich bis zum 67. Lebensjahr voll und ganz einzubringen,
wenn er eine Wochenarbeitszeit von weniger als
40 Stunden - vielleicht von 25 oder 30 Stunden - zu absolvieren hat.
({4})
Da ist vor allen Dingen die Wirtschaft gefordert, etwas
zu machen und zu tun. Denn eines steht unbestritten fest:
Bis zum Jahr 2025 wird das Erwerbstätigenpotenzial in
Deutschland um mindestens 5 Millionen Personen zurückgehen.
Meine Damen und Herren, wenn ich bei Veranstaltungen bin, werde ich von einzelnen Mittelständlern oftmals
gefragt: Was tut ihr denn überhaupt? Es ist doch unmöglich, diese -
Herr Kollege, Sie können jetzt nicht ausführlich von
Ihren Gesprächen berichten, sondern allenfalls eine
kurze, zusammenfassende Bemerkung dazu machen.
Jawohl. Ich möchte dann nicht von diesen wichtigen
Gesprächen berichten,
({0})
obwohl das sehr erleuchtend gewesen wäre.
Ich erlaube mir, darauf zu verweisen, dass die von uns
vorgeschlagenen 15 Punkte viele Maßnahmen beinhalten. 10 Punkte davon sind exzellent. Diese gilt es umzusetzen.
({1})
Wir werden das machen und tun, um die Herausforderungen zu meistern. Denn wenn wir Deutschland auf Erfolgskurs halten wollen, brauchen wir keine „Dagegen“-, sondern eine „Dafür“-Kultur. Dafür stehen wir, nicht Sie.
Danke schön.
({2})
Die Kollegin Lena Strothmann erhält nun das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deutsche Handwerk ist eine echte Jobmaschine. Wir erwarten
in diesem Jahr mindestens 25 000 neue Arbeitsplätze.
Wenn wir in Deutschland vom Mittelstand als Jobmotor
und als Motor für Wachstum und Beschäftigung sprechen, dann reden wir immer auch über das Handwerk;
denn mit seinen rund 1 Million Betrieben macht das
Handwerk rund ein Viertel des gesamten Mittelstands in
Deutschland aus. Knapp 5 Millionen Menschen arbeiten
in Handwerksbetrieben, und fast 500 000 junge Menschen bekommen dort eine qualifizierte Ausbildung. Damit sind 11,8 Prozent aller Erwerbstätigen und knapp
30 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk tätig.
Leider wird das Handwerk häufig unterschätzt - ich
hoffe allerdings, in diesem Hohen Hause nicht mehr -,
({0})
obwohl sich das Handwerk seit vielen Jahren als stabilisierender Faktor unserer Wirtschaft erweist. Mit seiner
Kraft und mit seiner Substanz hat das Handwerk auch
die Wirtschaftskrise sprichwörtlich gemeistert. Zugegebenermaßen mussten wir mit einigen Maßnahmen unterstützen. Ich nenne hier zum einen die Verdoppelung des
Steuerbonus auf Handwerkerleistungen. Diesen sollten
wir in jedem Falle fortführen.
({1})
Zum anderen konnten wir mit der Aufstockung der Fördermittel für die energetische Gebäudesanierung und für
energieeffizientes Bauen
({2})
in Deutschland 290 000 Arbeitsplätze sichern. Auch dieses Programm sollten wir in Zukunft fortführen.
({3})
Ohne die grundsätzlich gute Struktur und ohne den
Willen, Arbeitsplätze zu erhalten und junge Menschen
auszubilden, wäre das Handwerk nicht gestärkt aus der
Krise herausgekommen. Auch das gehört zur Wahrheit.
Der Aufschwung, an dem wir alle hart gearbeitet haben,
ist jetzt da. Die Stimmung im Handwerk ist sehr gut.
„Das Handwerk genießt den Aufschwung“, „Das Handwerk hat Appetit auf den Aufschwung“, so titelte in dieser Woche die Presse in meiner Heimat OstwestfalenLippe. Bundesweit erwarten wir im kommenden Jahr ein
Umsatzplus von 5 Prozent. 84 Prozent der Betriebe sehen ihre Zukunft positiv und sind zufrieden. Das sind
immerhin 10 Prozent mehr als noch im vergangenen
Jahr.
Meine Damen und Herren, ich kenne meine Handwerker. Sie sind bei Zukunftsprognosen und Konjunkturumfragen immer eher vorsichtig und eher skeptisch.
Deshalb sind die aktuellen Aussagen für mich der beste
Beweis für den Stimmungsumschwung in unserem
Land. Bürgerinnen und Bürger investieren wieder in
Werte, in Haus, Hof und Garten. Die Betriebe erhalten
mehr Aufträge, sie haben wieder Freude an der Zukunftsplanung, an Investitionen und Innovationen. Es
geht ihnen gut, und sie haben mit der christlich-liberalen
Bundesregierung einen verlässlichen Partner.
({4})
Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass sich diese positive Entwicklung fortsetzt. Ein wichtiger Grundstein für
dieses Fortkommen sind die Innovationen. Sie sind der
Motor für Wirtschaftswachstum. Auch hier ist das Handwerk gefragt; denn es ist entgegen der landläufigen Meinung besonders innovativ. Laut einer Prognos-Studie ist
es sogar hochinnovativ; denn das Handwerk ist immer
direkt an der Umsetzung neuer Technologien im Großen
und im Kleinen beteiligt. Ohne das Handwerk kommt
keine Photovoltaikanlage auf das Dach, und ohne das
Handwerk würden keine schadstoffarmen Autos auf der
Straße fahren.
({5})
Täglich stellen Handwerker ihre Innovationskraft unter Beweis, wenn sie für den Kunden individuelle Lösungen entwickeln und einbauen. Die kontinuierliche
Entwicklung innovativer Produkte gehört, auch wenn sie
in der Regel nicht beim Patentamt landen, zum Selbstverständnis des Handwerks. Vom Rad aus Stein bis zur
Leichtmetallfelge - ohne das Handwerk wäre dieser
Fortschritt nicht möglich gewesen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es werden auch in Zukunft große Herausforderungen auf uns zukommen. Wir haben in unserer Gesellschaft immer mehr ältere Menschen. Die Menschen
werden dank das medizinischen Fortschritts immer älter.
Dadurch ändern sich auch die Anforderungen an Wohnungen, Straßen und öffentliche Gebäude. Wir müssen
sie seniorengerecht gestalten bzw. umgestalten. Es werden also viele neue Dienstleistungen in diesem Seniorenmarkt notwendig sein. Ohne das Handwerk ist auch das
nicht zu schaffen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht nur
für unsere Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für
unsere Gesellschaft, dass die Innovationskraft des Handwerks gestärkt wird. Voraussetzung für solche Innovationen sind qualifizierte Fachkräfte.
({6})
Leider melden bereits viele unserer Betriebe, dass sie
keine Nachwuchskräfte finden. Deswegen brauchen wir
dringend gut ausgebildete junge Menschen. Nur mit ihnen können wir auch im europäischen Wettbewerb unseren hohen Qualitätsstandard halten und damit Ausbil10062
dungsplätze, Arbeitsplätze und unseren Wohlstand
sichern.
Allerdings fehlten allein im Herbst bereits 7 000 Auszubildende. Diese Lücke wird sich noch vergrößern,
wenn wir nichts dagegen tun. Deswegen müssen wir mit
der Vorstellung aufräumen, im Handwerk gebe es nur
einfache Tätigkeiten.
In den vergangenen Jahren hat sich im Handwerk vieles geändert. Die handwerkliche Arbeit erfordert mehr
technisches Wissen. Sie ist anspruchsvoller geworden,
und die Berufsbilder der 150 Ausbildungsberufe verändern sich. Gleichzeitig steigen damit aber die Anforderungen an die Bewerber und die Berufsausbildung. Deshalb ist es in Zukunft wichtig, leistungsstarke Schüler
für das Handwerk zu gewinnen.
Das ist eine Herausforderung, der sich das Handwerk
stellen muss; denn die Schulabgänger der Gymnasien haben oft eine andere Lebensplanung, wollen ausschließlich
an die Hochschulen. Wir dürfen uns als Politik diesem
Trend nicht anschließen und nicht schwerpunktmäßig allein die akademische Ausbildung fördern. Eine Ausbildung im Handwerk ist eine gute Alternative zum Studium. Außerdem sucht die Wirtschaft junge Menschen
mit Praxisbezug. Sie bietet ebenso zahlreiche Chancen
und Aufstiegsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren,
wir brauchen also nicht nur Fachkräfte, sondern auch junge
Menschen, die Unternehmen übernehmen. Wir brauchen
qualifizierte Nachfolger für unsere Betriebe.
({7})
Die Bundesregierung unterstützt dankenswerterweise
schon jetzt die Betriebe beim Generationswechsel mit
der Aktionsplattform „nexxt“.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Natürlich brauchen wir mehr Akademiker in
unserem Land, aber unter dem Fachkräftemangel leidet
auch das Handwerk. Deshalb muss die duale Ausbildung
ein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik bleiben. Dies
gilt es, nach allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlich
braucht das Handwerk Unterstützung beim Fachkräftemangel, bei der Unternehmensnachfolge und bei der
Umsetzung von Innovationen. Damit verstetigen wir den
Aufschwung, sorgen für Arbeits- und Ausbildungsplätze
und sichern Wachstum und Wohlstand in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dieter Jasper für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Im letzten Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum von
3,6 Prozent. In diesem Jahr wird mit einem Wachstum
von 2,3 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosigkeit ist mit
rund 3 Millionen Arbeitslosen so niedrig wie seit zwei
Jahrzehnten nicht mehr. Die Inflationsrate liegt zwischen
1 Prozent und 2 Prozent.
Dieser Dreiklang aus hohem Wirtschaftswachstum,
sinkender Arbeitslosigkeit und niedriger Inflationsrate
hat dazu geführt, dass wir vom kranken Mann in Europa
zur europäischen Wachstumslokomotive geworden sind.
Diese überaus positive Entwicklung hat natürlich Ursachen. Es sind in erster Linie kleine und mittelständische
Unternehmen, die mit Risiko und Leistungsbereitschaft
Wachstum, Wohlstand und Innovation gesichert haben.
Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag habe
ich fast 20 Jahre lang als mittelständischer Familienunternehmer gearbeitet. Wir betätigen uns im Bereich des
Maschinenbaus. Seit vielen Jahren sind wir es gewohnt,
uns dem nationalen und internationalen Wettbewerb zu
stellen. Somit bin ich dem Mittelstand nicht nur verbunden, sondern ich weiß aus eigener Erfahrung, wie ein
Mittelständler fühlt und agiert,
({1})
welche Erwartungen er hat und welche Dinge für ihn
wichtig sind.
Eine oft gestellte Frage ist, was wohl das wichtigste
und wertvollste Gut unseres Unternehmens ist. Da brauche ich nie lange zu überlegen: Es ist der Mensch. Eine
der Grundvoraussetzungen für ein mittelständisches Unternehmen sind gut qualifizierte und motivierte Mitarbeiter.
({2})
Die besten Anlagen und Maschinen sind wertlos, wenn
keine Menschen da sind, um diese zu bedienen. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Akquisition und vor allem
der Erhalt von qualifiziertem Personal eine der wichtigsten Aufgaben, die ein mittelständischer Unternehmer
hat. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung muss alles getan werden, um vermehrt leistungsstarke Schulabgänger für eine betriebliche Berufsausbildung zu gewinnen.
Hier hilft der im Oktober letzten Jahres von der Bundesregierung, den Ländern und der Wirtschaft unterzeichnete
Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs.
In diesem Programm wird auch der Tatsache Rechnung
getragen, dass es weiterhin viele junge Leute gibt, die
Schwierigkeiten beim Übergang in die Ausbildung haben. Es ist wichtig, dass wir hier niemanden zurücklassen. Dennoch muss immer wieder betont werden - das hat
auch meine Kollegin Lena Strothmann getan -, dass auch
und gerade im handwerklichen und im industriellen Bereich eine gute Ausbildung und eine gute Qualifikation
von herausragender Bedeutung sind.
({3})
Ein zentraler Punkt, über den gerade in den letzten
Tagen wieder vermehrt diskutiert wurde, ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das
trifft insbesondere auf die Frauen zu.
({4})
- Ja, das finde ich. - Wir können es uns nicht erlauben,
auf hochqualifizierte weibliche Fachkräfte zu verzichten, nur weil keine Möglichkeiten der Kinderbetreuung
vorhanden sind. Neben staatlichen Angeboten gibt es in
unserer Region bereits etliche Firmen, die sich in diesem
Bereich besonders hervortun und durch familiengerechte
Angebote ganz neue Facharbeiterschichten für sich erschließen. Für viele Berufstätige sind neben dem Lohn
gerade auch diese maßgeschneiderten familiengerechten
Jobangebote von zentraler Bedeutung, wenn sie sich um
einen Arbeitsplatz bewerben.
Noch eines wird deutlich: In Zukunft werden die Unternehmen immer mehr um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werben und kämpfen. Viele Mittelständler haben
diese Situation erkannt und reagieren entsprechend. Um
den eigentlichen Arbeitsplatz herum entstehen vielfältige Angebote, um Mitarbeiter zu finden, zu binden und
zu motivieren.
Das gilt natürlich auch für die älteren Mitarbeiter. Wir
müssen Vorbehalte aufgeben und mit falschen Vorurteilen aufräumen. Die Erfahrung dieser Menschen ist unbezahlbar. Es bedarf oft nur kleiner Hilfestellungen, damit
sie weiterhin aktiv und produktiv am Erwerbsleben teilnehmen können. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich,
sondern auch volkswirtschaftlich von hohem Nutzen.
Entscheidend ist der richtige Mix aus Auszubildenden,
alten und jungen Menschen. Wenn dieser Mix gelingt,
dann ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches
gemeinsames Wirtschaften. Ist dieser Mix einmal gefunden, dann wird ein Mittelständler alles tun, um diesen zu
erhalten. Gerade in den Zeiten der Krise haben viele Unternehmer an ihren Mitarbeitern festgehalten, damit im
Aufschwung wieder eine schlagkräftige Mannschaft zur
Verfügung steht.
Auch hier zeigt sich wieder, dass insbesondere kleine
und mittelständische Unternehmen nicht in Quartalsergebnissen denken, sondern in längerfristigen Zeiträumen. Dieses Denken wurde durch die von der Bundesregierung beschlossene Regelung zum Kurzarbeitergeld
unterstützt. Nur so konnte aus gemeinsamer Kraft gelingen, dass wir gestärkt aus der Krise herausgekommen
sind. Es zeigt sich, dass sich Wirtschaftspolitik nicht in
schönen Worten erschöpft, sondern an der richtigen
Stelle ganz konkret helfen kann.
Eine weitere Frage, die oft gestellt wird, ist, was uns
Mittelständler am meisten beschwert. Da fallen mir zwei
Stichworte ein: die Bürokratie und die Energie. Die
überbordende Bürokratie ist für jedes Unternehmen eine
große Last. Gerade die kleinen und mittelständischen
Betriebe leiden besonders. Hier fehlt es oft an Knowhow und an Personal, um den Abgabe- und Informationspflichten gerecht zu werden. Hier ist nicht nur der
Deutsche Bundestag aufgefordert, den Bürokratieaufwand deutlich zu reduzieren.
Der Normenkontrollrat macht in unserem Parlament
eine gute Arbeit und bekommt zunehmend mehr Aufgabenstellungen zugewiesen. Eckart von Klaeden beschreibt die Situation treffend, wenn er formuliert, dass
es mit den Bürokratiekosten so ist wie mit Zahnschmerzen: Wenn du sie hast, bringen sie dich fast um, wenn sie
weg sind, hat man sie auch schnell wieder vergessen. Dennoch ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tatsächliche Bürokratieaufwand enorm. Diese Hemmnisse
müssen nicht nur auf deutscher, sondern auch auf europäischer Ebene konsequent abgebaut werden. Die Unternehmen brauchen Luft zum Atmen, für Engagement und
Eigeninitiative.
Auch das Thema Energie möchte ich kurz anreißen.
Bei allem Streben nach einer Zukunft mit einer Energieversorgung aus ausschließlich regenerativen Energiequellen darf die damit einhergehende immense Kostenbelastung der Unternehmen nicht vergessen werden. Es
sind gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die standorttreu und standortgebunden sind. Die
Energiekosten sind für sie ein Fixum, da sie in der Regel
nicht die Möglichkeit haben, auszuweichen und ihre
Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern.
Zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist es deshalb wichtig, Energiepolitik nicht ideologisch,
sondern ökonomisch und sachorientiert zu betreiben. Die
Bezahlbarkeit und die Sicherheit der Energieversorgung
sind normative Voraussetzungen für die Existenz eines
Betriebes. Die kumulierte Belastung aus Strompreis,
Stromsteuer, EEG-Abgabe, Emissionshandel usw. darf
die Unternehmen nicht erdrücken und ihrer Wettbewerbsfähigkeit berauben.
Es gibt viele Themen, die den Mittelstand berühren:
Fragen der Unternehmensnachfolge und der Finanzierung, Forschung und Entwicklung, Rohstoffsicherheit
und viele andere mehr.
Viele dieser Fragestellungen werden von uns in der
christlich-liberalen Koalition richtig erkannt. Zahlreiche
Aktivitäten wie die Hightech-Strategie, der Nationale
Pakt für Ausbildung, die Mittelstandsinitiative usw. sind
mehr als nur Schritte in die richtige Richtung. Der Mittelstand ist das Herzstück unseres Wirtschaftssystems.
Wir müssen daran arbeiten, einen effizienten Ordnungsund Handlungsrahmen zu schaffen, in dem dieses Herzstück seine optimale Leistung erreichen kann.
Während andere Parteien in diesem Hause kommunistischen und sozialistischen Ideologien nachjagen, sind
wir bereit, uns den Realitäten zu stellen und auf den
Grundprinzipien der Marktwirtschaft eine sachorientierte
und zweckgebundene Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Das ist gut für unsere Unternehmen, und das ist gut für die
Menschen in unserem Land.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/4684 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, da-
mit sind Sie einverstanden. - Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohnes ({0})
- Drucksache 17/4665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ({2})
- Drucksache 17/4435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 90 Minuten dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deutschen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zur
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir haben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten
derzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent derjenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Situation, dass laut Studien mittlerweile über 5 Millionen
Menschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stunde
verdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde!
Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Millionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro die
Stunde verdienen,
({0})
dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. Wer
Leistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen guten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, der
braucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.
Es ist Zeit, zu handeln.
({1})
Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leistungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen und
Herren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerb
zuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerinnen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlen
wollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beim
Lohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert werden, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchen
fairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.
({2})
Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder oben
auf den Zuschauerbänken sitzen - ({3})
- Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ich
sage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er gegenüber den arbeitenden Menschen in Deutschland in
dieser Stunde hat.
({4})
Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 Milliarden
Euro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armutslöhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Euro
geben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslosengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenen
sind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber.
({5})
Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stundenlöhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben können.
Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, werden Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über
360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bis
abends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu können, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt
holen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familien
und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hart
arbeiten, unwürdig.
({6})
Hubertus Heil ({7})
Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Land
mit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Armutslohnbewirtschaftung zu leisten haben.
({8})
Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt.
Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchenübliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchen
schon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafür
sorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind,
indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen
Wirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Mindestlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen.
Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Mindestlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarifautonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Arbeitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gut
genug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dass
es zu keiner anständigen Lohnfindung kommt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgen
schon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Verhandlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Unfähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst gescheitert sind.
({9})
- Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich war
ja dabei. Ich habe es doch erlebt. - Am Montag und
Dienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chefsache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war,
ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wir
gemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsache
ist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um die
Zukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel noch
Bundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei Ihnen
Scheitern.
({10})
Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge gemacht. Wir müssen uns bemühen - darüber wird noch an
anderer Stelle zu reden sein -, den Regelsatz im Bereich
Hartz IV verfassungskonform zu gestalten.
({11})
Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem,
was Frau von der Leyen vorgelegt hat.
Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung der
Schulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich dafür zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien Hilfe bekommen.
Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Tollhaus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereit
ist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit zu tun.
({12})
Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlich
noch liberal.
Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünftiges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspitzen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nicht
weiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Land
sein.
({13})
Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vorfeld des 1. Mai 2011 - ab diesem Datum gilt die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa - einen Mindestlohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meine
allerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das,
was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindestlohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleihfreie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohnuntergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind aber
nicht bereit, dem zuzustimmen.
({14})
Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukt
eines Referenzlohns, den man dann auch noch unterschreiten kann. Wenn Sie die Leute „verklappsen“ wollen, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohn
in der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine.
Das andere - das Wichtigere - ist, dass wir den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchsetzen.
({15})
Zu Frau Klöckner - jetzt ist auch sie weg - kann ich nur
sagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau.
Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte:
Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. Die
Rheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nicht
mehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen:
Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mit
dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet,
dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht.
Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nach
dem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit.
Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber es
gibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor geworden ist.
({16})
Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinethalben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit von
vier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wir
sogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu
Hubertus Heil ({17})
realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirklichung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müssen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair,
wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen hohen und der andere einen niedrigen Stundensatz bekommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stammbelegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatz
somit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetzt
wird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbraucht
wird. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist eine Frage
von Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft.
Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im
Streit um Hartz IV eine Lösung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur
zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von
hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutschland!
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Faire Löhne für gute Arbeit gehören zu einer funktionieren sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Daran machen gerade wir, die Union, die Partei der sozialen Marktwirtschaft, keine Abstriche.
({1})
Das ist eine Position, die selbstverständlich nicht nur
die Gewerkschaften, sondern Gott sei Dank auch viele
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einnehmen. Der Präsident der Arbeitgeberverbände des Hessischen Handwerks ist kürzlich in der FAZ mit den Worten zitiert worden:
Es kann nicht sein, dass unsere guten Mitarbeiter in
eine Lohnspirale nach unten gezogen werden.
Damit hat er recht.
({2})
Durch die Anträge, die heute vorliegen und mit denen
die SPD und die Grünen einen vom Staat verordneten
und dekretierten Mindestlohn einführen wollen,
({3})
wird allerdings die Tatsache verwischt, dass wir in der
Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten,
Herr Kollege Heil, ein Instrumentarium geschaffen haben, um Mindestlöhne in Deutschland einzuführen.
({4})
Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das Sie
schon erwähnt haben, novelliert und darin eine ganze
Reihe von Branchen neu aufgenommen.
({5})
Wir haben das Mindestarbeitsbedingungengesetz novelliert,
({6})
um in all den Bereichen, in denen es wenige oder keine
Tarifverträge gibt, die Möglichkeit zu schaffen, dass auf
Antrag, zum Beispiel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern
oder auch von beiden gemeinsam, Mindestlöhne festgesetzt werden.
Ich finde es schon bemerkenswert: Kaum sind die Sozialdemokraten ein bisschen länger als ein Jahr in der
Opposition, können Sie sich offensichtlich nicht mehr an
das erinnern, was Sie mit uns zusammen beschlossen haben.
({7})
Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Weiß, Sie haben hier gerade auf die Möglichkeiten nach dem MiArbG hingewiesen. Können Sie uns
vielleicht sagen, wie viele Mindestlöhne über das
MiArbG zustande gekommen sind und wie häufig die
Bundesregierung in Kenntnis der Tatsache, dass es große
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt, selber tätig
geworden ist und Branchen vorgeschlagen hat, in denen
Mindestlöhne gezahlt werden sollten?
({0})
Frau Kollegin Pothmer, es liegt bislang ein Antrag
({0})
der dbb Tarifunion vor, um nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einen Mindestlohn für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Callcentern einzuführen.
({1})
Der Vorsitzende des noch von dem früheren Bundesarbeitsminister Olaf Scholz eingesetzten Hauptausschusses,
({2})
der nach diesem Gesetz notwendig ist, ist Klaus von
Dohnanyi, der bekanntlich ebenfalls einer großen deutschen Partei angehört.
({3})
- Ich wollte den Sozialdemokraten auch einmal etwas
Nettes sagen. ({4})
Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Klaus von
Dohnanyi, muss sich nun mit diesem Antrag beschäftigen. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr von Dohnanyi
deswegen noch keine Entscheidung im Hauptausschuss
herbeigeführt hat, weil seine Gespräche mit den Mitgliedern dieses Hauptausschusses, der zur einen Hälfte mit
Arbeitgebervertretern und zur anderen Hälfte mit Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetzt ist, in dieser Frage noch nicht zu einer Einigung geführt haben.
Deswegen ist die Frage, wann dieser Antrag der dbb Tarifunion beschieden wird, keine Frage an die Bundesregierung,
({5})
sondern eine Frage an Herrn von Dohnanyi und an den
Hauptausschuss.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil ({6}) ({7}):
Die Antwort war: Gar keine! Keine Branche
hat einen Mindestlohn über das MiArbG! Brigitte Pothmer ({8}): Das war nichts! Wir haben nichts! Keine
Mindestlöhne! Das MiArbG bringt nichts!)
Entschuldigung. Diese Frage richtet sich nicht an die
Bundesregierung oder an den Deutschen Bundestag. ({9})
Wir, Herr Kollege Heil, haben in der Großen Koalition
Regelungen geschaffen, nach denen der Hauptausschuss
zuständig ist.
({10})
Der Hauptausschuss entscheidet. Appellieren Sie an den
Hauptausschuss und an Ihr Parteimitglied Klaus von
Dohnanyi! Er ist dafür zuständig, nicht die Bundeskanzlerin und auch nicht der Deutsche Bundestag.
({11})
Wir haben bereits mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das wir zusammen novelliert haben, allgemeinverbindliche Mindestlöhne für eine Reihe von Branchen
in ganz Deutschland festgelegt: im Bauhauptgewerbe, in
etlichen Branchen des Baunebengewerbes, für die Gebäudereiniger, Wäschereidienstleistungen, die Abfallwirtschaft und die Pflegebranche. Gestern hätten Sie von
Rot und Grün im Vermittlungsausschuss die Chance gehabt, für drei weitere Branchen in Deutschland eine konkrete Vereinbarung zur Einführung von Mindestlöhnen
zu treffen, nämlich für die Zeitarbeit, das Wach- und
Schließgewerbe und die Weiterbildungsbranche.
({12})
Herr Heil, wenn Sie das, was Sie zur Notwendigkeit
von Mindestlöhnen vorgetragen haben, wirklich ernst
meinten, dann hätten Sie die ausgestreckte Hand der Koalition und der Bundesregierung zur Vereinbarung von
drei zusätzlichen Mindestlöhnen gestern nicht ausschlagen dürfen.
({13})
- Herr Kollege Heil, Sie, die Sozialdemokraten und die
Grünen, haben dieses Thema in die Verhandlungen des
Vermittlungsausschusses eingebracht, nicht wir.
({14})
Peter Weiß ({15})
Ich wiederhole: Wenn Sie es mit Mindestlöhnen wirklich
ernst meinten,
({16})
dann hätten Sie das Angebot im Vermittlungsausschuss,
für drei weitere Branchen eine konkrete Vereinbarung zu
treffen, nicht ausschlagen dürfen. Insofern ist alles, was
Sie sagen, schlichtweg unglaubwürdig.
({17})
Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Heil zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Heil.
Kollege Weiß, ich will Ihnen nichts vorwerfen, sondern Sie aufklären, weil Sie an den Verhandlungen nicht
beteiligt waren. Ohnehin hat sich Ihre Fraktion relativ
stark zurückgehalten. Ich muss Ihnen mitteilen: Es sind
keine Mindestlöhne für drei Branchen angeboten worden.
Im Einzelnen war es folgendermaßen: Sie haben keinen richtigen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeit,
sondern einen Placebomindestlohn vorgeschlagen. Sie
haben gestern auf Druck der FDP im Vermittlungsausschuss beim Wach- und Sicherheitsgewerbe noch eine
Änderung vorgenommen, nämlich dass Sie als Bundesregierung das Verfahren nur begleiten wollen. Tun Sie
bitte nicht so, als hätten Sie einen Mindestlohn zugesagt.
Last, but not least haben Sie für die Weiterbildungsbranche keinen Weg aufgezeigt, wie wir tatsächlich zu
einem Mindestlohn kommen.
In Unkenntnis kann man viel Unsinn erzählen, Herr
Weiß. Meine Bitte ist: Machen Sie den Menschen nichts
vor! Sie haben keine Mindestlöhne angeboten. Vor allen
Dingen haben Sie nichts getan, um dem Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gerecht zu werden.
Meine Frage ist: Sind Sie wie Ihr Koalitionspartner
FDP der Meinung, Herr Weiß, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach neun Monaten
gelten soll, wissend, dass die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zeit- und Leiharbeitsbranche, nämlich fast 90 Prozent, nichts davon hätte? Ist
das die Meinung von Herrn Weiß, dem CDU-Vertreter
der Arbeitnehmerschaft? Bitte nicht ausweichen!
({0})
Nein, ich weiche nicht aus, Herr Kollege Heil.
Wenn Sie schon über Formalien reden wollen
({0})
- doch, das war so -,
({1})
dann will ich Folgendes klarstellen: Im Vermittlungsverfahren können formal nur am Gegenstand des Sozialgesetzbuches II Änderungen vereinbart und vorgenommen
werden. Alles andere sind politische Verabredungen.
Dazu hat die Bundesregierung eine Protokollerklärung
vorgelegt, die morgen auch dem Bundesrat vorliegen
wird. Darin bringt die Bundesregierung ihren klaren
Willen zum Ausdruck, nach den Regeln des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verbindlichen Mindestlohnregelungen bei der Leiharbeit, im Wach- und Dienstleistungsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche zu
kommen.
Sie haben nach dem Grundsatz des Equal Pay gefragt.
({2})
Equal Pay, die gleiche Bezahlung von Stammbelegschaft
und Leiharbeitern, ist Bestandteil des Gesetzes. Die rotgrüne Koalition hat damals
({3})
die Sonderregelung in das Gesetz eingefügt, dass per Tarifvertrag von dem Equal-Pay-Grundsatz abgewichen
werden kann.
({4})
Rot-Grün trägt die Verantwortung dafür, dass in
Deutschland nicht nach dem Equal-Pay-Grundsatz bezahlt wird. Sie haben dieses Gesetz verabschiedet.
({5})
- Ich trage alles vor, Herr Heil. - Sie können der Protokollerklärung der Bundesregierung entnehmen, was festgelegt wurde.
({6})
- Ich trage sie doch vor. Sie stellen hier Behauptungen
auf. Wie es war, kann jeder in den Drucksachen schwarz
auf weiß nachlesen.
Die Bundesregierung hat in der Protokollerklärung
Folgendes festgelegt: Wir erwarten jetzt von den Tarifpartnern, dass sie Tarifverträge schließen und RegelunPeter Weiß ({7})
gen schaffen, ab wann in der Leiharbeitsbranche Equal
Pay und kein abgesenkter Lohn gilt. ({8})
Wenn das in einem Jahr nicht erfolgt ist, dann werden
wir gesetzgeberisch handeln. Aber es sollen erst einmal
diejenigen verhandeln, die dafür Verantwortung tragen.
({9})
Ich finde es unglaublich, welche Show Sie veranstalten und wie Sie sich einfach der Verantwortung entziehen. Die Verantwortung liegt bei denen, die dafür zuständig sind, Tarifverträge abzuschließen. Das sind die
Arbeitgeber und die Gewerkschaften.
({10})
Weil es mir aber nicht um Wahlkampf und auch nicht
um politische Polemik geht,
({11})
sondern weil es mir darum geht, dass das Prinzip „Faire
Löhne für gute Arbeit“ in Deutschland durchgesetzt werden kann,
({12})
habe ich die herzliche Bitte, dass sich die Ministerpräsidenten der Sozialdemokraten morgen im Bundesrat noch
einmal ernsthaft die Frage stellen, ob sie nicht doch einer
Vereinbarung mit der Bundesregierung und der Regierungskoalition hier im Deutschen Bundestag zustimmen
wollen,
({13})
die es möglich macht, dass wir für drei weitere Branchen
in Deutschland eine konkrete Verabredung zur Einführung von Mindestlöhnen bekommen und dass das die
Behandlung des Themas Sozialgesetzbuch II, bei dem
kein Unbeteiligter mehr versteht, worüber wir eigentlich
streiten, zu einem befriedigenden und guten Abschluss
gebracht wird.
({14})
Herr Weiß, der Kollege Schaaf hat den Wunsch nach
einer Zwischenfrage. Würden Sie sie zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, da Sie hier Redlichkeit einfordern: Würden Sie mir recht geben, dass es im Zusammenhang mit der Verabschiedung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes einen Antrag der Tarifparteien in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche gab, über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung den vereinbarten Mindestlohn
zu garantieren,
({0})
dass Sie, die Union, die Unterstützung für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit dem Hinweis auf
konkurrierende Tarifverträge verweigert haben und dass
die konkurrierenden Tarifverträge, die Sie als Begründung für einen nicht vereinbarten Mindestlohn in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche angemahnt haben, von einer Gewerkschaft abgeschlossen worden sind, die nicht
tariffähig war, nämlich von einer CGB-Gewerkschaft?
Sie haben sich darauf berufen, dass es konkurrierende
Tarifverträge gibt. Ginge es nach uns, nach den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern in der Zeit- und Leiharbeitsbranche, gäbe es schon seit zwei Jahren einen Mindestlohn. Sie haben das verhindert, Herr Weiß. Würden
Sie das bestätigen?
({1})
Herr Kollege Schaaf, Sie haben diese Frage in Bundestagsdebatten schon mehrmals gestellt.
({0})
Ich muss Ihnen auf diese Frage die gleiche Antwort wie
zuvor geben: Es ist richtig, dass wir in der Großen Koalition über die Frage gesprochen haben, ob wir Regelungen
zur Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Es war damals leider so - ich bedauere, dass es
so war -, dass die vier Arbeitgeberverbände, die es in
Deutschland in der Zeitarbeitsbranche gibt, dieses Vorhaben wegen ihrer unterschiedlichen Tarifverträge bekämpft haben.
({1})
So konnten wir die Frage, ob es einen Tarifvertrag gibt,
den wir nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklären können und durch den die
entsprechenden Bedingungen erfüllt werden, nicht klären.
Peter Weiß ({2})
Es gibt in der Zeitarbeitsbranche in dieser Frage heute
Gott sei dank eine Weiterentwicklung:
({3})
Auch durch gutes Zureden haben sich alle vier Arbeitgeberverbände in der Zeitarbeitsbranche mit allen Gewerkschaften auf einen gemeinsamen Mindestlohn verständigt. Damit liegen jetzt die Voraussetzungen dafür vor,
({4})
dass wir ohne weiteren Streit den gemeinsamen Mindestlohn bei allen Zeitarbeitsverbänden in Deutschland
für allgemeinverbindlich erklären könnten.
({5})
Das ist der große Unterschied zu dem, was in der Zeit
der Großen Koalition geschehen ist.
({6})
In den Anträgen und auch in der Rede des Kollegen
Heil ist nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden,
dass am 1. Mai dieses Jahres die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger
aus der Europäischen Union eingeführt wird, deren Herkunftsländer im Jahr 2004 der EU beigetreten sind.
Herr Weiß, ich hätte noch die Zwischenfrage von
Frau Mast zu bieten. Möchten Sie die zulassen? - Bitte.
Herr Kollege Weiß, ich möchte die Frage wiederholen, die Ihnen Hubertus Heil gestellt hat und die Sie
nicht beantwortet haben. Ursula von der Leyen, Angela
Merkel und die FDP haben vor neun Monaten einen
Kompromiss zum Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ vorgelegt, den Sie in der Koalition gemeinsam tragen können. Als Leiharbeitnehmerin oder Leiharbeitnehmer muss man in Deutschland neun Monate warten,
bevor man das gleiche Geld wie die Kollegin oder der
Kollege bekommt. Meine Frage lautet: Wie ist Ihre Haltung zu diesem Vorschlag?
({0})
Frau Kollegin Mast, um es noch einmal festzuhalten:
Die derzeitige gesetzliche Regelung in Deutschland ist
in der Tat so - damals von der rot-grünen Koalition beschlossen -, dass ein Zeitarbeiter, ein Leiharbeiter per
Tarifvertrag auf Dauer schlechter gestellt werden kann
als ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft.
({0})
Das ist die heutige Rechtslage.
({1})
- Ja, langsam! - Wir sind bereit und willens, die unbefristete Absenkung des Lohns abzuschaffen und das
Ganze zu befristen.
({2})
Nun ist es so:
({3})
Frau Kollegin Mast, die Frage, die Sie mir stellen, muss
nicht der Abgeordnete Peter Weiß oder der Deutsche
Bundestag beantworten,
({4})
diese Frage müssen die Tarifpartner beantworten, die
diese Tarifverträge abgeschlossen haben.
({5})
Frau Kollegin Mast, damit wir nicht unnötig in die
Tarifautonomie eingreifen müssen, haben wir gesagt:
Wir setzen jetzt eine Frist von einem Jahr. In diesem einen Jahr sollen uns die Tarifpartner ein befriedigendes
Ergebnis zum Thema Equal Pay vorlegen. Wenn sie das
nicht tun, dann werden wir handeln. Wenn es die Tarifpartner selbst nicht schaffen, dann werden wir einen
Zeitpunkt festlegen, ab dem Equal Pay in Deutschland
gezahlt werden muss.
({6})
- Das ist keine Feigheit von mir, Herr Kollege Heil. Mut
müssen die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerkschaften aufbringen. Wenn sie ihn nicht aufbringen,
dann sind wir willens, zu handeln. Darin besteht der
Mut.
({7})
Obwohl wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und im
Mindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeiten geschaffen haben, branchenbezogene Mindestlöhne festzulegen, wird vorgeschlagen, einen Mindestlohn per staatlichem Dekret zu bestimmen. Interessanterweise wird von
den Sozialdemokraten ein Mindestlohn von 8,50 Euro in
der Stunde und von den Grünen 7,50 Euro in der Stunde
vorgeschlagen. In einer ganzen Reihe von Branchen, die
heute schon eine Mindestlohnregelung haben, liegt der
Mindestlohn über 7,50 Euro oder 8,50 Euro,
({8})
Peter Weiß ({9})
weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu der
Auffassung gekommen sind, dass es wirtschaftlich vertretbar ist, einen höheren Mindestlohn zu zahlen. Das ist
zu begrüßen.
({10})
Die Frage, die Sie sich stellen müssen, heißt: Wird
dann, wenn ein staatlicher Mindestlohn festgelegt wird,
in all den Branchen, in denen heute schon ein besserer,
höherer Mindestlohn gilt, die Bereitschaft abnehmen,
überhaupt Vereinbarungen über einen besseren Mindestlohn zu treffen? Müssen nicht diejenigen, denen schon
heute ein höherer Mindestlohn zugesagt worden ist, damit rechnen, dass ihre Verträge auslaufen, nicht verlängert werden und sie zurückfallen auf das, was per staatlicher Gesetzgebung verordnet worden ist? Die Frage
müssen Sie beantworten.
Diese Frage haben zu Recht auch kluge Gewerkschafter und Sozialdemokraten gestellt. Ich will daran erinnern, dass der frühere Vorsitzende der IG BCE, Hubertus
Schmoldt ({11})
- ein kluger Mann; Sie haben recht -, auf die Frage nach
der geeigneten Höhe für einen Mindestlohn geantwortet
hat - ich zitiere -: Das muss in den einzelnen Branchen
ausgehandelt werden, wie jeder normale Tarifvertrag
auch. Wo Hubertus Schmoldt recht hat, hat er recht.
({12})
Es wäre gut, die Sozialdemokraten wie auch die Grünen
würden diesem Ratschlag von Hubertus Schmoldt Rechnung tragen.
Wir, die Union, stehen für Folgendes: Zur sozialen
Marktwirtschaft gehören faire Löhne für gute Arbeit.
Wir haben mit zwei Gesetzen das Instrumentarium dazu
geschaffen. Wir wollen es nutzen. Das, was Sie beantragen, ist letztendlich die Verabschiedung von dem, was
Sie selber mit uns zusammen geschaffen haben. Die Tatsache, dass Sie im Vermittlungsausschuss so gehandelt
haben, wie Sie gehandelt haben, zeigt, dass Sie es gar
nicht ernst meinen. Bitte, korrigieren Sie morgen durch
Ihre Ministerpräsidenten diese Haltung. Es gibt eine
Chance für mehr allgemeinverbindliche Mindestlöhne in
Deutschland. Nutzen wir sie! Ergreifen Sie die ausgestreckte Hand der Union und der Regierung! Schlagen
Sie sie nicht aus; dann sind Sie glaubwürdig.
({13})
Klaus Ernst hat jetzt für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Weiß, Sie haben eben einen
glänzenden Auftritt gehabt, als Sie bewiesen haben, wie
man um eine Frage herumeiern kann, ohne sie zu beantworten. Das war wirklich ein Glanzstück.
({0})
Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Sie haben offensichtlich keine Ahnung von der betrieblichen Realität. Wenn Sie die hätten, würden Sie feststellen, dass es
kaum einen Menschen gibt, der in einem Betrieb anfängt
und dasselbe verdient wie der, der vielleicht schon 5, 10
oder 20 Jahre in diesem Betrieb arbeitet. Das ist die Realität. Deshalb ist es überhaupt nicht notwendig, eine Regelung zu treffen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer, wenn sie an einen Betrieb verliehen
werden, auch noch weniger erhalten als die anderen Arbeitnehmer, die in dem Betrieb anfangen. Warum eigentlich? Die Neun-Monate-Regelung ist Humbug. Sie stehen in dieser Frage offensichtlich auf der Seite der FDP;
sonst hätten Sie, Herr Weiß, hier eine klare Antwort gegeben. Die sind Sie schuldig geblieben.
({1})
Sie, Herr Weiß, lenken offensichtlich sehr gern von
der Verantwortung dieser Regierung und auch von Ihrer
eigenen ab. Sie lenken ab, wenn Sie sagen: „Das sollen
doch bitte schön Gewerkschaften und Arbeitgeber regeln“, nur weil Sie sich weigern, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Für die
Armut in Deutschland, für die Armut der Menschen, die
arbeiten und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben können, sind diese Regierung und Sie, Herr Weiß, mitverantwortlich. Dafür können sich die Menschen in diesem
Land bei Ihnen bedanken, um das in aller Klarheit zu sagen.
({2})
Um es deutlich zu machen: Angesichts der 1,4 Millionen Menschen, die hier trotz Arbeit ihren Lohn aufstocken müssen, wovon 330 000 in Vollzeitarbeit arbeiten,
angesichts von 6,55 Millionen Niedriglöhnern in diesem
Land - wir wissen, dass ihre Zahl steigt, seit Sie regieren - könnten Sie ein wenig demütiger sein, wenn Sie
hier nach vernünftigen Lösungen gefragt werden. Schieben Sie die Verantwortung nicht auf andere ab.
Das Nichtstun der Bundesregierung ist Ursache für
diese Armut. Frau von der Leyen ist heute nicht da. Dafür habe ich Verständnis; denn sie musste nachts viel arbeiten. Sie weiß jetzt, wie das ist.
({3})
Die Bundesarbeitsministerin dieses Landes saust immer
durch die Gegend und redet von den Kindern, für die sie
sich ganz besonders verantwortlich fühlt. Dazu kann ich
Ihnen sagen: Kinderarmut ist immer Armut der Eltern.
Wenn die Eltern durch nicht vorhandene Mindestlöhne
armgemacht werden, ist auch die Bundesarbeitsministerin persönlich dafür verantwortlich, wenn sie sich in dieser Weise verhält.
({4})
Wir wissen, dass insbesondere Frauen von Mindestlöhnen betroffen sind und dass von drei Menschen, die
unter 1 000 Euro verdienen, zwei Frauen sind. Es ist
zwar schön, dass sich Frau von der Leyen dafür einsetzt
- das unterstützen auch wir -, dass auch in den Führungsetagen Frauen sitzen; es arbeiten aber ganz viele
Frauen in den Betrieben, die ihre Existenz nicht sichern
können, weil die Bundesarbeitsministerin und diese Regierung Mindestlöhne verweigern. Das ist ein Zustand,
den Sie ändern müssen. Diesen Zustand können Sie
nicht einfach weglächeln.
({5})
Jetzt zur FDP, weil ich von ihr den einen oder anderen
netten Zwischenruf gehört habe. „Leistung muss sich
lohnen“, höre ich da. Wissen Sie, was sich bei Ihnen lohnen muss? Offensichtlich soll sich die Abzockerei bei
Ihnen lohnen. Ich habe vorhin in der Debatte die Rede
Ihrer Fraktionsvorsitzenden gehört. Wenn man sich dagegen verwahrt, dass die CDs veröffentlicht werden, mit
denen die zur Verantwortung gezogen werden können,
die Steuerhinterziehung betreiben, dann schützt man damit die Abzocker und Steuerhinterzieher und kümmert
sich offensichtlich nicht um die Menschen in diesem
Land, die einen Mindestlohn brauchen. Das ist die Haltung der FDP.
({6})
Es ist unglaublich, dass eine Partei, deren Umfragewerte offensichtlich unter 5 Prozent liegen, vernünftige
Löhne für Millionen von Menschen verhindern kann.
Das ist ein unglaublicher Zustand in diesem Land.
({7})
Meine Damen und Herren, die Gesetzentwürfe der
Grünen und der SPD gehen in die richtige Richtung. Einige Fragen bleiben trotzdem. Eine Frage bezieht sich
auf die 7,50 Euro Mindestlohn im Gesetzentwurf der
Grünen.
({8})
- Mindestens. Das ist ja in Ordnung. - Nun fordern Sie
beim Bezug von Arbeitslosengeld II einen Regelsatz von
420 Euro. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass
bei einem Regelsatz von 420 Euro beim Arbeitslosengeld II der Mindestlohn mindestens 7,80 Euro betragen
müsste.
({9})
- Könnten Sie vielleicht einmal die Luft anhalten? Sie
ersticken ja fast. - Ich kann nur sagen: Jeder, der einen
Mindestlohn unter 7,80 Euro verdient, ist logischerweise
berechtigt, ergänzendes Arbeitslosengeld II zu beziehen,
also Aufstocker zu sein. Das kann doch nicht sein. Sie
können doch nicht Mindestlöhne fordern und gleichzeitig alle, die den Mindestlohn beziehen, ins Aufstocken
treiben.
({10})
Zur SPD muss ich sagen: Sie fordern 8,50 Euro. Sie
wissen genauso gut wie ich, dass jemand mit einem
Lohn von unter 9,46 Euro in der Stunde nach 45 Versicherungsjahren noch eine Grundsicherung im Alter bekommen muss, weil seine Rente zu niedrig ist. Deshalb
sagen wir den Grünen: Jeder Lohn unter 7,80 Euro führt
dazu, dass Sie die Leute zu Aufstockern machen und
dass der Staat die Löhne zahlen muss, was Sie doch eigentlich hier bemängeln. Der SPD muss ich sagen: Jeder
Lohn unter der Grenze von 9,46 Euro führt dazu, dass
Sie die Menschen hinterher in die Altersarmut treiben.
Deshalb sagen wir: Es ist schon richtig, dass wir 10 Euro
fordern.
({11})
Im Übrigen kann ich nicht verstehen, warum sich
SPD und Grüne in dieser Frage nicht am Ausland orientieren. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von
9,73 Euro, in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von
9 Euro.
({12})
Warum, bitte schön, machen Sie den billigen Jakob? Gehen Sie doch voran und machen Sie mehr als die anderen! Sie sollten nicht immer hinter den anderen herlaufen, meine Damen und Herren.
({13})
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen noch sagen, dass laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung
({14})
70 Prozent der Bürger auf die Frage, ob sie einen gesetzlichen Mindestlohn wollen, mit Ja geantwortet haben.
Bei dem reichsten Fünftel der Gesellschaft waren es übrigens noch 57 Prozent, die sich für einen Mindestlohn
ausgesprochen haben. Dass Ihnen Ihre Klientel davonläuft, haben Sie ja schon gemerkt.
({15})
Wenn die Bürger dieses Landes in dieser Frage mehrheitlich eine klare Position einnehmen und einen MinKlaus Ernst
destlohn fordern, aber diese Regierung einen solchen
verweigert, dann handelt diese Regierung gegen die
Mehrheit der Bürger dieses Landes. Das ist der eigentliche Skandal.
({16})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Heil,
lieber Herr Ernst, liebe versammelte Gesellschaft der
Zwischenfrager! Vielleicht gestatten Sie, dass ich an diesem Punkt der Debatte auf die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe eingehe.
({0})
Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegen Gesetzentwürfe vor. In beiden Gesetzentwürfen wird die
Einrichtung einer Kommission gefordert, die einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bestimmen
soll.
({1})
Diese Kommission soll vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingerichtet werden. Das kann man,
auch wenn man das Ziel an sich nicht teilt, noch nachvollziehen. Beide Gesetzentwürfe verweisen vollkommen zu Recht darauf, dass die Kommission die sozialen
und ökonomischen Auswirkungen des Mindestlohns bei
der Fortschreibung berücksichtigen soll.
Doch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD, kommt der große Widerspruch in Ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlich
überhaupt nicht nachvollziehbar, warum die Kommission, die Sie einsetzen wollen, nicht entscheiden darf,
wie hoch der Ausgangsmindestlohn ist und ob zum Zeitpunkt der Einsetzung einer solchen Kommission ein
Mindestlohn überhaupt sinnvoll ist. Es ist doch erstaunlich, dass Sie Ihrer eigenen Kommission von Anfang an,
noch bevor sie überhaupt eingesetzt ist, misstrauen.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie sind sich
selbst nicht sicher, ob Sachverständige, wenn sie gefragt
würden, überhaupt einen Mindestlohn befürworten würden, geschweige denn in der von Ihnen vorgeschlagenen
Höhe von 8,50 Euro bei der SPD und 7,50 Euro bei den
Grünen. Das zeigt, wie viel Vertrauen Sie in Ihre eigene
Kommission, in Ihren eigenen Vorschlag haben, nämlich
überhaupt nicht. Entweder sind Sie von der Idee einer
unabhängig arbeitenden Kommission und von deren
Sachverständigkeit überzeugt - dann müssen Sie sie unabhängig arbeiten lassen - oder Sie sind es eben nicht.
So wie Sie es sich vorstellen, ist eine solche Kommission eine bloße Maskerade für politisch willkürlich festgesetzte und geschätzte Löhne.
Ich möchte auf die von Ihnen stets mantraartig vorgetragene Begründung eingehen, dass Menschen, die einen
Mindestlohn nach Ihren Vorstellungen bekommen, dann
keine staatliche Unterstützung mehr benötigen würden.
Dabei verkennen Sie die heute schon gültigen Fakten.
Diese widerlegen Ihre Vorstellung sehr deutlich und für
jeden nachvollziehbar. Sie wissen ganz genau, dass
98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten über ein existenzsicherndes Einkommen verfügen. Es sind nach Angaben
der BA nur etwa 4 100 alleinstehende Arbeitnehmer, die
trotz Vollzeitjob auf ergänzende staatliche Hilfen dauerhaft angewiesen sind.
({2})
Die Situation, dass der eigene Lohn nicht zum Leben
ausreicht, ist heute in aller Regel nur für Alleinerziehende und für Paare mit mehreren Kindern zutreffend.
({3})
Um diese aber unabhängig von zusätzlichen staatlichen
Leistungen zu machen - auch das wissen Sie -, würde es
eines Stundenlohns von mindestens 13 Euro bedürfen;
aber den fordert noch nicht einmal die Partei Die Linke.
Sie werden das Aufstocken, das Sie hier immer diskreditieren und problematisieren, weder durch einen Mindestlohn von 8,50 Euro noch von 7,50 Euro verhindern
können. Hören Sie deshalb endlich auf mit der Diskriminierung von Aufstockerinnen und Aufstockern. Es ist
nichts Ehrenrühriges, seinen Lohn durch Arbeitslosengeld II aufzustocken.
({4})
Es ist auf jeden Fall besser, als arbeitslos zu sein.
({5})
Aufstocken ist für viele ein erster Schritt zurück in ein
Erwerbsleben ganz ohne Transferbezug.
({6})
Im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen werden die gleichen Fehler wie im SPD-Entwurf gemacht.
Auch Sie bestimmen die Höhe des Mindestlohns erst
einmal politisch selbst und lassen dann erst Ihre Kommission arbeiten. Auch Sie misstrauen Ihrem eigenen
Vorschlag, auch Sie misstrauen der Sachverständigkeit
Ihrer Kommission.
Ich will auf die Löhne eingehen,
({7})
die Sie vorschlagen: 7,50 Euro bei den Grünen - ich
habe es bereits erwähnt -, 8,50 Euro bei der SPD, und
die Linken schlagen 10 Euro vor. Wer von Ihnen hat
denn nun recht?
({8})
Was ist die richtige Höhe des Mindestlohns? Vielleicht
können mir die Grünen die Frage beantworten, weswegen sie nur 7,50 Euro fordern und nicht 8,50 Euro. Frau
Pothmer, Sie sprechen nach mir, vielleicht können Sie
das erklären. Wieso fordert die SPD eigentlich nicht
10 Euro, wenn die Linkspartei 10 Euro für richtig hält?
({9})
Warum fordert die Partei Die Linke nicht 12 Euro, was
der baden-württembergische Landesverband der Linken,
wie ich von meinem Kollegen Herrn Schlecht erfahren
habe, bundesweit für richtig hält? Warum folgen Sie
nicht Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg? Sie sehen: Offensichtlich ist die Höhe des Mindestlohns politisch nicht so leicht festzulegen.
({10})
Ich frage mich generell, warum Sie zum Beispiel
nicht dem von Ihnen sonst immer so geschätzten Wirtschaftsweisen Peter Bofinger folgen, der sich zwar für
einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, aber nur in
Höhe von 5 Euro, weil - so sagt er - höhere Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten würden.
Der Mindestlohn, wie Sie ihn sich vorstellen, wird
nicht nur, sondern ist bereits zum politischen Spielball
geworden. Ich bin mir sicher, dass die Grünen bis zur
nächsten Bundestagswahl nicht bei einem Mindestlohn
von 7,50 Euro bleiben werden. Falls eine Partei mehr als
10 Euro fordern sollte, dann wird die Linke diese sofort
überbieten.
({11})
Aber wir sind hier nicht bei einer Auktion, sondern wir
sollten nach einer verantwortungsvollen Politik streben,
die die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht und
nicht gefährdet.
Wir als christlich-liberale Koalition setzen uns für
diejenigen ein, die Arbeit suchen. Wir kümmern uns sowohl um die Menschen, die im Erwerbsleben sind, als
auch um diejenigen, die dieses Glück gerade nicht haben. Wir bauen nicht mit Mindestlöhnen Mauern auf, sodass diese Menschen den Arbeitsmarkt nie betreten können, sondern wollen ihnen Brücken bauen und
Möglichkeiten erhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Jetzt hat das Wort Brigitte Pothmer für Bündnis 90/
Die Grünen. Ihr wollen wir sehr herzlich danken, dass
sie uns an ihrem Geburtstag mit einer Rede beehrt, und
von Herzen gratulieren.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Was wäre schöner, als
mit Ihnen allen meinen Geburtstag zu feiern?
({0})
- Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass Sie mir
einmal zuhören, Frau Krellmann.
„Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, hat Victor Hugo gesagt. Eines kann ich Ihnen versichern: Der Mindestlohn ist so eine mächtige
Idee.
({1})
Die Zeit des Mindestlohns ist längst gekommen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP und CDU/CSU,
das können Sie schon daran erkennen, dass der Widerstand bröckelt und dass Sie zunehmend in die Defensive
geraten.
({2})
Der Niedriglohnsektor hat sich immer weiter ausgebreitet. Herr Kober, Sie sprachen von einem logischen
Denkfehler. Dazu will ich Ihnen einmal sagen: Wir haben nicht nur die im Blick, die alleinstehend sind und
aufstocken; wir haben alle die im Blick, die Löhne von
zum Beispiel unter 5 Euro die Stunde bekommen. Wegen dieser Menschen - das sind fast 2 Millionen in diesem Land - brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn.
({3})
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit droht jetzt weitere
Niedriglohnkonkurrenz. Deshalb brauchen wir einen
ordnungspolitischen Rahmen, auch um den sozialen
Frieden in diesem Land zu erhalten. Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind wahrlich nicht
fremdenfeindlich, aber wenn sie die Erfahrung machen
müssen, dass die Polen, die Slowenen, die Litauer als
Lohndrücker auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen,
dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die Fehler
Ihrer Politik gegen die ausländischen Beschäftigten wenden, und das wollen wir verhindern.
({4})
80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fordern
inzwischen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber mittlerweile, lieber Herr Kober, sind es auch die Führungskräfte in Deutschland, die eine gesetzliche Lohnuntergrenze wollen.
({5})
Mehr als ein Drittel der Topmanager sagt: Wir brauchen
gerade wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine gesetzliche Lohnuntergrenze.
({6})
Sie müssen sich einmal fragen, für wen Sie eigentlich
noch sprechen. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie
die Interessen der 15 Prozent vertreten, die Sie, wenn
auch irrtümlicherweise, einmal gewählt haben, oder wollen Sie nur noch die 4 Prozent in den Blick nehmen, die
sich jetzt in den Umfragen für Sie entscheiden?
({7})
Ihr Kollege Kauch hat das längst verstanden. Wo ist
er eigentlich? Er hätte heute einmal reden sollen.
({8})
Er hat nämlich gesagt: Die ablehnende Haltung meiner
Partei zum gesetzlichen Mindestlohn muss infrage gestellt werden. Wir müssen die Denkverbote bei der FDP
aufheben.
({9})
Ihr sächsischer Wirtschaftsminister sagt: Die Ablehnung
eines gesetzlichen Mindestlohns darf kein Dogma sein. Lieber Herr Kober, was hat Herr Kauch, was hat Herr
Morlok, was Sie nicht haben?
({10})
Jetzt wende ich mich an Sie, die Kollegen von der
CDU/CSU. Es ist doch Ihr Kollege Christian Bäumler, der
stellvertretende Bundesvorsitzende Ihres Arbeitnehmerflügels, gewesen, der alle Hoffnung auf die Hartz-IV-Verhandlungen gesetzt und gesagt hat: Damit wollen wir
den Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn schaffen. Er ist jetzt genauso enttäuscht
({11})
wie ich, Herr Weiß, und zwar von Ihren Verhandlungsführerinnen und Verhandlungsführern.
({12})
Es ist wirklich dreist und es ist „Out of Rosenheim“,
wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten lauter
Mindestlöhne angeboten. Ich habe mir die Protokollnotiz zu dem Vorschlag der Einführung von Mindestlöhnen
in der Weiterbildungsbranche und in der Sicherheitsbranche noch einmal angeschaut. In der Protokollnotiz
für den Bundesrat beschreiben Sie nur den Prozess, wie
man zur Erstreitung von Mindestlöhnen kommen
könnte. Und dabei verschärfen Sie die Anforderungen an
die Erstreckung von Mindestlöhnen noch zusätzlich. Es
wäre gut, Herr Weiß, wenn Sie mir einmal zuhören würden; in Ihrer Protokollnotiz steht nämlich, dass der Tarifausschuss einstimmig darüber entscheiden muss. Das ist
falsch. Davon steht überhaupt nichts im Gesetz. Das ist
eine Verschärfung. Das zeigt auch, dass Sie Mindestlöhne in diesen Branchen gar nicht wollen. Da ist nichts,
aber auch gar nichts in trockenen Tüchern.
({13})
Über Ihren Vorschlag zu Mindestlöhnen in der Zeitarbeit ist hier schon geredet worden. Dazu brauche ich
nicht mehr viel auszuführen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Das, was Sie vorgeschlagen haben, wird für die Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter nicht wirklich eine Lösung darstellen, weil nach Ihrem Vorschlag diejenigen,
die in Niedriglohnbranchen arbeiten, weiterhin Hungerlöhne bekommen sollen. Der Placeboeffekt von Equal
Pay ist hier auch schon thematisiert worden. Diese Politik der Anscheinserweckung hilft nun wirklich niemandem weiter.
Jetzt wollen Sie das alles wieder an die Tarifparteien
delegieren. Diese sollen es richten, und wenn sie es nicht
schaffen, soll eine Kommission eingesetzt werden. Sie
vertagen damit das Problem erstens auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Zweitens frage ich mich, Herr Kober, woher plötzlich Ihre Wertschätzung für die Tarifparteien
kommt.
({14})
Ich habe noch gut im Ohr, was Ihr Parteivorsitzender
über die Gewerkschaften gesagt hat. Ich will es Ihnen
noch einmal in Erinnerung rufen. Es ist noch nicht lange
her, da hat Ihr Parteivorsitzender gesagt:
Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland.
Er hat weiter behauptet, die Politik der Gewerkschaften
koste mehr Jobs, als die Deutsche Bank jemals abbauen
könnte. Das vor dem Hintergrund der Politik, die die Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise gemacht haben!
({15})
Das vor dem Hintergrund des Beitrags, den sie geleistet
haben, dass Arbeitsplätze erhalten werden konnten! Das
ist wirklich eine Unverschämtheit.
({16})
Ihre neue Wertschätzung der Gewerkschaften nimmt Ihnen doch niemand mehr ab. Ihr sozialpolitisches Credo
lautet doch: gegen mehr Mitbestimmung, immer gegen
Arbeitnehmerrechte
({17})
und jetzt mit voller Kraft gegen den gesetzlichen Mindestlohn.
Herr Kober, Sie haben ja noch einmal behauptet, Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze.
({18})
- Also, angeblich. - Schauen Sie einmal auf die Homepage des BMAS. Ihr Ministerium ist da schon weiter.
Dort heißt es ausdrücklich, dass es keine negativen Beschäftigungseffekte gibt, wenn Mindestlöhne sinnvoll
eingeführt werden.
({19})
Dazu machen wir Ihnen in unserem Gesetzentwurf einen
Vorschlag. Wir wollen, dass eine Mindestlohnkommission eingesetzt wird, die sehr genau hinschaut, wie sich
Mindestlöhne in einer bestimmten Branche auswirken,
und entsprechende Anpassungen vornimmt. Das ist unser Vorschlag. Natürlich wollen wir, dass die Tarifparteien Mindestlöhne oberhalb dieser unteren Lohngrenze
verabreden können. Das haben ja auch Sie, Herr Weiß,
noch einmal in den Mittelpunkt gestellt. Ich kann mir
also sicher sein, dass auch Sie unserem Gesetzentwurf
zustimmen werden.
({20})
Ich sage Ihnen noch einmal
Frau Kollegin!
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -: Rüsten
Sie ab in Sachen Mindestlohn! Nachdem ich Ihre Redebeiträge gehört habe, meine ich, zwischen den Zeilen lesen zu können, dass auch Sie einen gesetzlichen Mindestlohn wollen. Herr Weiß, geben Sie es doch zu!
({0})
Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat sehr viel unternommen, um endlich mit Frau Pothmer gemeinsam Geburtstag zu feiern. Er hat dafür gesorgt, dass wir aus diesem Anlass eine Sitzung des Deutschen Bundestages
durchführen.
({0})
Wir gratulieren auch Ihnen, Herr Wadephul, sehr herzlich und wünschen Ihnen Gottes Segen.
({1})
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die charmante
Begrüßung!
({0})
- Ja, wir beide und Bertolt Brecht. Darüber kann man
philosophieren. Ich sehe, wie Frau Pothmer zu Tränen
gerührt ist. Ich gratuliere auch ihr von Herzen. Gesundheit muss man ihr nach dieser vitalen Rede ja gar nicht
mehr wünschen. Nachdem sie sich auch phänotypisch
mit ihrer Kleidung der Union annähert, können wir vielleicht in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeiten suchen,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Ich habe das erfreut zur Kenntnis gekommen. Ihre ohnehin vorhandene Attraktivität wird dadurch nochmals gesteigert.
({2})
- Herr Heil, machen Sie sich keine Hoffnungen.
({3})
Von den Sozialdemokraten haben wir in unserem vergangenen Lebensjahr, Frau Pothmer, schon einmal etwas
Ähnliches in Form eines Antrags bekommen, der jetzt
von den Juristen in Gesetzesform gebracht worden ist.
Die Argumente dazu sind ausgetauscht, und man fragt
sich, was der Gesetzentwurf heute eigentlich soll. Aber
wer die Rede von Herrn Heil verfolgt hat, hat das schnell
gemerkt: Er hat dieses Thema mit der Regelsatz-Debatte
und mit der Blockade verknüpft, die Rot-Grün im Vermittlungsausschuss zulasten der Bedürftigen durchgeführt hat. Man erkennt: Hier soll Wahlkampf geführt
werden. Es geht Ihnen nicht um die Bedürftigen und diejenigen Menschen, die - der Kollege Weiß hat darauf
hingewiesen - in drei wichtigen Branchen einen Mindestlohn hätten bekommen können, sondern Sie brauchen Wahlkampfmunition. Angesichts Ihrer Umfragewerte verstehe ich das zwar, aber in Ordnung ist es nicht,
Herr Kollege Heil.
({4})
Wenn wir uns einmal Ihre Aussagen zur beschäftigungspolitischen Ausgangslage in Deutschland vor AuDr. Johann Wadephul
gen führen, dann könnte man den Eindruck haben, als
lebten wir in einem Land, in dem Armut und Not nur so
grassierten. Wenn Sie aber die beschäftigungspolitische
Situation und auch die Arbeitslosenstatistiken Deutschlands einmal innerhalb der Europäischen Union vergleichen, dann stellen Sie fest, dass wir gerade aufgrund der
Entwicklung des vergangenen Jahres - insofern hätten
Sie seit der Erstantragstellung vielleicht einmal darüber
nachdenken müssen - an fünfter Stelle von allen 27 EUMitgliedstaaten stehen.
({5})
- Der Äthiopien-Vergleich leuchtet mir jetzt nicht unmittelbar ein.
({6})
Dies ist ein Erfolg unserer Politik und einer ausgewogenen Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, in die man, wenn man Erfolg haben will, nur dann
eingreifen soll, wenn man wirklich ein besseres Regelwerk zu bieten hat. Aber das ist bei nüchterner Betrachtung der beiden Gesetzentwürfe und der Vorstellungen
der Linken nicht der Fall.
({7})
Der Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen,
dass das, was Sie hier vorschlagen, schon in sich nicht
konsistent ist. Man kann einmal bei der Höhe der Sätze
anfangen - Herr Kober hat sie schon aufgezählt -:
7,50 Euro, 8,50 Euro, 10 Euro. Man könnte im Grunde
wie auf einer Versteigerung fragen: Wer bietet mehr?
Wenn man Ihren Vorschlag für einen Mindestlohn,
Herr Ernst, zugrunde legen und Ihre Regelsatzberechnungen dazunehmen würde, dann käme man zu dem
Schluss, dass auch die von Ihnen geforderten 10 Euro
nicht ausreichen würden. Insofern ist Ihre Berechnung
noch nicht einmal in sich konsistent. Aber das alles muss
am Schluss irgendjemand bezahlen, im Zweifel die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({8})
Bei der Haushaltslage in Deutschland ist das schlicht
und ergreifend nicht verantwortbar. Deswegen, Herr
Kollege Ernst, sind diese Vorstellungen - sowohl die Ihrigen als auch die Vorstellungen der Grünen und der
SPD - zum jetzigen Zeitpunkt zurückzuweisen.
({9})
Herr Kollege, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Danke, Herr Kollege. - Sie haben gerade gesagt,
wenn im Ergebnis ein Mindestlohn herauskäme, dann
müsste im Zweifelsfall der Steuerzahler die Kosten tragen.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Steuerzahler
durch den nicht vorhandenen Mindestlohn und dadurch,
dass er permanent die zu niedrigen Hungerlöhne aufstocken muss, schon jetzt belastet ist? Vorhin ist in der Debatte von 11 Milliarden Euro jährlich gesprochen worden.
Zweitens. Würden Sie mir zustimmen, dass bei einer
Erhöhung des Mindestlohns die notwendigen staatlichen
Zuschüsse sinken könnten, der Steuerzahler also, entgegen Ihrer Auffassung, eher entlastet und nicht belastet
würde?
Drittens. Sie haben über die Frage einer Untergrenze
diskutiert und in diesem Zusammenhang von einem
Überbietungswettbewerb gesprochen. Sind Sie nicht der
Auffassung - ganz einfach gefragt -, dass es auch zur
Würde des Menschen gehört, dass er von dem Lohn für
seine Vollzeitarbeit leben können muss, ohne der staatlichen Fürsorge anheimzufallen?
({0})
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal habe ich mich
bei den Ausgaben, die den Steuerzahler treffen würden,
auf die Regelsätze bezogen. Sie sind aus unserer Sicht
nachvollziehbar berechnet. Wir haben übrigens keinen
gegenläufigen Vorschlag von der Opposition zur Kenntnis nehmen können.
({0})
Sie behaupten immer nur, Frau Kollegin Ferner, unsere
Berechnung sei verfassungswidrig. Aber Sie haben
keine konsistente Gegenberechnung vorgelegt; Sie sind
sie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, auch
in den Nachtsitzungen.
({1})
Herr Kollege Ernst, ich finde es übrigens abenteuerlich, hier Frau von der Leyen vorzuwerfen, sie sei keine
Nachtarbeit gewohnt.
({2})
Sie liegen vollkommen falsch, wenn Sie glauben, Mütter
seien keine Nachtarbeit gewohnt.
({3})
Frau von der Leyen hat wirklich eine Ahnung davon,
was es bedeutet, nachts aktiv zu sein.
({4})
- Sie haben es vorhin so formuliert. Stellen Sie es gegebenenfalls richtig.
Der zweite Punkt. Wir streiten doch nicht über die
Frage, welches Mindesteinkommen ein Mensch braucht,
um leben zu können.
({5})
- Hören Sie jetzt vielleicht freundlicherweise zu! Auch
ich habe einen Geburtstagswunsch; er ist identisch mit
dem Wunsch der Kollegin Pothmer.
({6})
- Danke. - Wie gesagt, darüber streiten wir nicht. Die
Frage ist doch, wie sich das Mindesteinkommen zusammensetzt und wie wir in einem ganz bestimmten Bereich
Arbeit für Menschen generieren können.
Es war Wolfgang Schäuble, der schon in den 90erJahren darüber nachgedacht hat, Kombilohnmodelle zu
entwickeln. Herr Heil, die Regierung Schröder hat das
dann erfolgreich umgesetzt. Man hatte damals die Idee:
Wir müssen im Niedriglohnsektor Arbeit für Menschen
generieren, weil es auch zur Menschenwürde gehört,
dass man eine Aufgabe hat und für seine Arbeit eine Entlohnung bekommt. Wenn diese Entlohnung nicht ausreicht, um davon menschenwürdig zu leben, dann ist es
eine Selbstverständlichkeit, dass der Staat hier ergänzend unterstützt und eingreift. Das ist im Kern ein richtiger Ansatz, zu dem wir weiterhin stehen.
({7})
Auch Rot und Grün sollten eigentlich dazu stehen,
denn gerade im Niedriglohnsektor haben wir außerordentlich viele Arbeitsplätze geschaffen. Natürlich soll
es nicht bei diesen Arbeitsplätzen bleiben; das sind doch
Einstiegsarbeitsverhältnisse, die eine Brücke zu solchen
Arbeitsverhältnissen schlagen können, in denen mehr
Einkommen erzielt werden kann,
({8})
sodass keine ergänzende staatliche Unterstützung benötigt wird. Das ist doch der Kern.
Wir haben hier vorhin eine Debatte über den Mittelstand geführt. Sie müssen einmal die Kehrseite der Medaille sehen: Wenn wir hier einen Mindestlohn festsetzen, dann müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
- das sind oftmals beispielsweise kleine Handwerksbetriebe, von denen in der vorangehenden Debatte die
Rede gewesen ist - diesen Mindestlohn in der Folge erwirtschaften. Wir alle können immer mit dem berühmten
Beispiel von der Friseuse kommen. Nur, schauen Sie
sich einmal die wirtschaftliche Realität in Deutschland
an: Viele Handwerksbetriebe haben Mühe, höhere Preise
am Markt durchzusetzen.
Da befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie
im Lebensmittelbereich. Hier sagen alle immer: Lebensmittel müssen angemessen Geld kosten dürfen. Nur ist
der Verbraucher nicht immer bereit, das dafür notwendige Geld auszugeben. Das ist nun einmal die Realität.
Das finde ich persönlich nicht richtig - Sie wahrscheinlich auch nicht -, aber es ist die Realität. Insofern ist es
wohlfeil, zu sagen: Ein Mindestlohn ist sozusagen das
Patentrezept. Nein, ein Mindestlohn - das muss man ehrlicherweise sagen - birgt die Gefahr, dass reguläre,
sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor verschwinden und im Bereich der
Schwarzarbeit landen.
({9})
Das ist die Kehrseite der Medaille. Das ist zwar nicht
schön, aber man muss es an dieser Stelle ehrlicherweise
ansprechen.
Ich würde mich gerne den vermeintlich unabhängigen
Kommissionen zur Festlegung des Mindestlohns widmen, die in beiden Gesetzentwürfen auftauchen. Dabei
möchte ich zwei Aspekte beleuchten. Zum einen geht es
um die Frage, wie unabhängig solche Kommissionen eigentlich sein können: Wie viel Unabhängigkeit trauen
Sie ihnen zu? Das Ende der Unabhängigkeit beginnt,
wenn Sie den Kommissionen vorschreiben würden, dass
der Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro bzw. 8,50 Euro
pro Stunde liegen darf. Ich frage Sie nach Ihrer realistischen Einschätzung: Glauben Sie eigentlich wirklich,
dass die entsprechende Zahl, wie auch immer sie festgesetzt würde, aus den politischen Auseinandersetzungen
im Rahmen von Wahlkämpfen herausgehalten werden
könnte? Ich glaube, nicht aus einem Wahlkampf. Frau
Mast, die Grünen haben auch noch gesagt, wir müssten
regionale Unterschiede machen.
({10})
Das heißt, wir müssten in den einzelnen Bundesländern
eine unterschiedliche Mindestlohnhöhe definieren.
({11})
Dann würde jeder Landtagswahlkampf im Kern aus der
Aussage bestehen: Ich biete mehr Mindestlohn, und deswegen wählt bitte meine Partei. Das wäre das Ende der
Tarifautonomie und der Beginn der politischen Bestimmung des Mindestlohns.
({12})
Ob wir den Menschen damit einen Gefallen tun würden,
ist die große Frage.
({13})
Lange Rede, kurzer Sinn:
({14})
Wir haben in Deutschland - das ist der Unterschied zu
den wichtigsten europäischen Nachbarländern, mit denen Sie uns hier vergleichen - Tarifautonomie und stabile Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind übrigens
beteiligt, wenn vom Mindestarbeitsbedingungengesetz
abgewichen wird.
({15})
Das machen nicht irgendwelche gruseligen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber allein. Die Gewerkschaften sind
immer dabei, Herr Kollege Heil. Das sollten Sie nicht
vergessen. Wir haben eine Tarifautonomie, die sich in
über 60 Jahren bewährt hat. Sie sorgt dafür, dass wir auf
schwierige wirtschaftliche Situationen, wie das 2009 der
Fall war, flexibel reagieren können. Den wirtschaftlichen Aufschwung, den wir in Deutschland erlebt haben,
das Jobwunder, das wir in Deutschland erlebt haben,
({16})
haben wir kluger Politik zu verdanken. Wir haben nie
verschwiegen, dass das mit der Agenda 2010 begonnen
hat. Sie verschweigen das schamhaft, was ich tragisch
finde.
({17})
Der Aufschwung hat aber auch damit zu tun, dass wir
nachfolgend gute strukturpolitische Entscheidungen in
Deutschland getroffen haben. Nicht zuletzt verdanken
wir das Jobwunder aber der Intelligenz und dem Augenmaß der Tarifpartner.
({18})
Die Tarifpartner haben unser Vertrauen. Wir sollten
sie bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen und versuchen, politische Einmischung so weit wie möglich zu
verhindern.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat Ottmar Schreiner von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang möchte ich ein paar Bemerkungen zu meinen Vorrednern machen, um die Diskussion etwas zu beleben. Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Weiß, dem
Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der CDU/CSUFraktion:
({0})
Herr Weiß, bei allem Respekt, ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie die Frage, ob Sie eine Neunmonatsfrist, die
von der FDP vorgeschlagen worden ist, als Voraussetzung für die Umsetzung des Anspruches „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ für angemessen halten, nicht beantwortet haben. Das ist nicht gerade ein Ausweis einer besonders mutigen Haltung.
({1})
Vertretern der Arbeitnehmerschaft müsste es doch möglich sein, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um
eine klassisch liberale Position handelt, die an Irrsinn
kaum zu überbieten ist. Wir alle wissen, dass die Beschäftigungsverhältnisse in diesem Bereich in der Regel
eine Laufzeit von neun Monaten unterschreiten.
({2})
Das zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung sich nicht
auf die Realität bezieht. Sie ist nicht für die Wirklichkeit
gedacht, sondern für irgendetwas anderes. Vielleicht ist
sie für die FDP-Wirklichkeit gedacht, aber nicht für die
wirkliche Wirklichkeit.
Es wäre angemessen, wenn auch der CDU/CSU-Vertreter der Arbeitnehmerschaft dazu eine klare Position
formulieren würde, zumal es für die Koalition inzwischen peinlich wird. Heute Morgen habe ich in einer
überregionalen Tageszeitung ein Interview mit dem Chef
von Manpower gelesen. Manpower ist weltweit eine der
größten Verleihfirmen. In diesem Interview wird Jeffrey
Joerres, Chef des internationalen Personaldienstleisters
Manpower, zitiert. Er „steht der derzeit diskutierten gleichen Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten ({3}) offen gegenüber“.
({4})
Ein wörtliches Zitat aus dem Interview: „Wenn es so
kommt, dann stellen wir uns darauf ein.“
Die sind alle viel weiter als die FDP und im Gefolge
Herr Weiß und die Herren und Damen von der CDU/
CSU.
({5})
Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß
zulassen?
Ja, sicher. Wir wollen ja die Debatte beleben.
Herr Kollege Schreiner, ich finde es persönlich sehr
erfreulich, dass der Chef einer großen Zeitarbeitsfirma
eine solche Erklärung abgibt. Es ist aber auch diese
Frage zu beantworten: Warum schließt Manpower nicht
bereits morgen mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag
ab, in dem festgelegt wird, dass für Zeitarbeitsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die über Manpower vermittelt
werden, ab dem ersten Tag Equal Pay gezahlt und der
Lohn nicht abgesenkt wird?
Peter Weiß ({0})
({1})
- Herr Kollege Ernst, ich frage jetzt den Kollegen
Schreiner.
Sie haben damals im Bundestag das heute geltende
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mitbeschlossen, das vorsieht, dass eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und
Festangestellte gilt; es sei denn, per Tarifvertrag wird
nach unten abgewichen. Es ist also jederzeit möglich,
diese Abweichung per Tarifvertrag wieder aufzuheben
und eine gleiche Bezahlung herzustellen.
Dann soll doch Manpower diesen Tarifvertrag schließen, aber nicht uns, der Politik, dieses Thema zuspielen.
Es liegt doch in erster Linie in der Verantwortung der Tarifpartner und nicht in der des Deutschen Bundestages,
Equal Pay herzustellen.
({2})
Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, dass das tarifliche Unterbieten der „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“Regelung von einer Gewerkschaft angepackt worden ist,
der die zuständigen Gerichte die Tarifmächtigkeit abgesprochen haben. Damit sind natürlich die anderen Gewerkschaften massiv unter Druck gesetzt worden mit
dem Ergebnis, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ tariflich nicht mehr gehalten werden
konnte. Das war die Lage in den vergangenen Jahren.
Wenn das so ist, dann ist der Gesetzgeber aus Gemeinwohlgründen verpflichtet, Schlimmeres zu verhindern und seinerseits Regelungen zu treffen.
({0})
- Ich weiß nicht, ob der Christliche Gewerkschaftsbund
verschwunden ist oder ob es ihn noch irgendwo in Reserve gibt.
({1})
Dieser ist offenkundig in diesen tariflichen Fragen zu allem fähig und zu nichts wirklich nutze.
({2})
Der Chef von Manpower sagt weiter:
Der Grundgedanke, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird, ist ja richtig - auch wenn es im Einzelfall nicht immer so einfach ist.
Das ist okay. Das geht aber auch an die Adresse der FDP.
Wenn die großen Leiharbeitsfirmen den Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für richtig halten und
sagen, dass sie sich damit arrangieren können, wenn der
Gesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, dann stellt
sich die Frage, wessen Interessen Sie hier eigentlich
noch vertreten. Wahrscheinlich vertreten Sie nur noch
Ihre eigenen Interessen. Es gibt aber niemanden mehr,
der sich von Ihnen vertreten fühlt.
({3})
Hier zeigt sich die Koalition schon relativ hilflos.
Weiter weist Manpower darauf hin, auch ein Mindestlohn von 7,60 Euro für Ungelernte sei akzeptabel. Er
sagt:
… das zahlen wir sowieso schon, und es würde der
Branche guttun. Insofern stehen wir dem Mindestlohn offen gegenüber.
Meine Güte, ich frage mich, wer in dieser Republik
noch Ihre Position unterstützt.
Lidl steigt an die Spitze des Klassenkampfes und fordert einen Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde.
({4})
Man könnte die Palette der Einrichtungen, die das fordern, erweitern. Im Kern gibt es niemanden mehr, der
die Position der Koalition bei dieser Frage unterstützt.
Das ist die erste Bilanz, die man an dieser Stelle ziehen
kann.
({5})
Herr Weiß, Sie haben ferner mit Nachdruck darauf bestanden, dass zu Folgendem Stellung bezogen wird. Sie
sagten, wenn der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn festlege, dann entstehe ein Druck
nach unten in Richtung dieses allgemeinen Mindestlohns.
Sie fragten, wie man damit umgehen solle.
Wenn das richtig wäre, müsste es entsprechende Erfahrungen aus dem Ausland geben. Sie wissen, dass in
über 20 EU-Ländern ein gesetzlicher Mindestlohn gilt.
Aus keinem dieser Länder wird berichtet, dass das eingetreten ist, was Sie befürchten.
Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe
von sozialpolitischen Regelungen, wie etwa das Bundesurlaubsgesetz, die Arbeitszeitgesetzgebung usw., mit denen der Gesetzgeber Mindeststandards festgelegt hat.
Diese Regelungen können jederzeit von den Tarifparteien verbessert werden. In der Realität werden sie auch
verbessert. Von einer Sogwirkung nach unten kann also
in keinem Fall die Rede sein.
Ich habe nicht so richtig verstanden, worauf Herr
Wadephul im Ernst hinauswollte.
({6})
Herr Wadephul, unter anderem haben Sie gesagt, dass es
Besorgnisse hinsichtlich der Beschäftigungseffekte gebe.
Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Laden Sie doch
einmal die Low Pay Commission des britischen Parlaments nach Deutschland ein. Diese Kommission existiert
schon seit etlichen Jahren und setzt sich zusammen aus
Vertretern der Industrie, des Handwerks, der GewerkOttmar Schreiner
schaften und der Wissenschaft. Auch uns schwebt eine
solche Zusammensetzung einer solchen Kommission vor.
Fragen Sie die Low Pay Commission aus Großbritannien
nach ihren spezifischen Erfahrungen bezogen auf die Fragen, die Sie hier formuliert haben. Sie würden sich wundern und glauben, Sie hätten es mit einer sozialdemokratischen Vereinigung zu tun,
({7})
und das ausgerechnet in Großbritannien, wo dies nicht
unbedingt zu erwarten ist.
Kein Vertreter der Koalition hat auch nur einen einzigen Satz zu den neuen Herausforderungen ab dem
1. Mai dieses Jahres gesagt.
({8})
Was ist, wenn die uneingeschränkte Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den mittel- und
osteuropäischen Ländern, die seit 2004 EU-Mitglied sind,
zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft tritt? Was ist, wenn zum
Beispiel polnische Arbeitgeber polnische Arbeitnehmer
oder baltische Arbeitgeber baltische Arbeitnehmer zu in
ihrer Heimat üblichen Preisen in Deutschland einsetzen?
Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen den Wettbewerb von Regionen und schon gar nichts gegen den Wettbewerb von Unternehmen, aber wir haben etwas gegen
den Wettbewerb von Unternehmen, wenn er auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen wird. Das werden wir nicht akzeptieren.
({9})
Deshalb ist das ein für uns wesentlicher Punkt.
Das bisherige Kernargument, die Beschäftigung sei gefährdet, ist anscheinend fallen gelassen worden. Wenn dieses Argument richtig wäre, müssten wir Anhaltspunkte dafür haben, dass es in den acht Branchen, in denen in der
letzten Zeit die Allgemeinverbindlichkeit formuliert worden ist, zu entsprechenden negativen Beschäftigungseffekten gekommen wäre. Davon kann überhaupt keine
Rede sein. Nehmen Sie die jüngsten amerikanischen Studien; diese zeigen in die gleiche Richtung. Sie sind im Bereich der wissenschaftlichen Evaluation von Mindestlöhnen national und international hoffnungslos isoliert.
({10})
Der entscheidende Punkt, den ich Ihnen gar nicht
mehr richtig darlegen kann, weil ich sehe, dass meine
Redezeit gleich abläuft, betrifft die Frage nach den wesentlichen Antriebsgründen für die Forderung nach Mindestlöhnen. Sie sind nicht primär ökonomischer Art. Sie
sind zwar auch ökonomischer Art - Stichwort: Binnennachfrage und dergleichen mehr -, aber sie sind im Wesentlichen eine Frage des Anstandes und der Fairness auf
dem Arbeitsmarkt und eine Frage des Wertes der Arbeit.
({11})
Da müssten die Christdemokraten Farbe bekennen. Es
ist ein klassisch liberaler Grundsatz, dass in einer Marktwirtschaft die Preise und Löhne, die es auf dem Markt
gibt, auf dem Markt gebildet werden. Demnach hätten
wir es auf dem Arbeitsmarkt mit einer Art Kartoffelmarkt zu tun. Aber der Arbeitsmarkt ist mit einem Kartoffelmarkt nicht vergleichbar, weil wir es auf dem Arbeitsmarkt mit Menschen zu tun haben, und Menschen
haben Würde. Daraus ergibt sich der Wert der Arbeit des
Menschen.
({12})
Das können Sie in vielen Dokumenten der katholischen
Soziallehre und in den entsprechenden evangelischen
Schriften nachlesen. In diesem Punkt unterscheiden wir
uns fundamental von den Liberalen.
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Ich bin eigentlich nicht am Ende, aber ich komme
zum Ende.
({0})
Nur das war meine Bitte.
Die Kollegen, die hier immer betonen, dass sie christliche Politik machen, machen insoweit keine christliche
Politik. Sie machen auf diesem Feld FDP-Politik.
Herr Kollege.
Hier wären Sie gut beraten, in sich zu gehen und sich
vielleicht einmal etwas gründlicher mit der Lehre der
christlichen Kirchen zum Thema Arbeit zu befassen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und gute Besserung.
({0})
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Heil, Sie haben heute das gemacht, was
wir auch im Vermittlungsausschuss erlebt haben. Sie haben sich über das Thema, um das es eigentlich geht - in
diesem Fall Ihre Gesetzentwürfe zu gesetzlichen Min10082
Johannes Vogel ({0})
destlöhnen -, hinaus geäußert. Deswegen möchte auch
ich kurz auf ein anderes Thema, auf die Zeitarbeit, eingehen. Wissen Sie, der Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist, dass wir nicht leichtfertig wegwerfen wollen,
was Sie einmal für dieses Land erreicht haben.
Es gibt Unterschiede zwischen dem Modell der Zeitarbeit, das wir in Deutschland haben, und den Modellen,
die es im Ausland gibt. In Deutschland ist die Zeitarbeit
in den letzten Jahren ein Jobmotor gewesen, übrigens
gerade für diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit kommen.
({1})
- Doch. - Zwei Drittel der Menschen in der Zeitarbeit
kommen aus der Arbeitslosigkeit, und 40 Prozent derjenigen, die in der Zeitarbeit arbeiten, sind ohne Qualifikation, haben keinen Berufsabschluss. Für diese ist die
Zeitarbeit der Weg in den Arbeitsmarkt.
({2})
Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wir
das nicht leichtfertig wegwerfen wollen.
Dass Sie uns hier vorwerfen, wir wollten den Missbrauch bei der Zeitarbeit nicht verhindern - dies wollen
wir natürlich machen -,
({3})
finde ich bemerkenswert. Diese Koalition hat doch die
Schlecker-Klausel vorgelegt.
({4})
Es war diese Koalition, die schon letzten Sommer gesagt
hat: Wir müssen uns für Equal Pay einsetzen, damit
Stammarbeitskräfte nicht durch Zeitarbeiter ersetzt werden, weil man diesen einen niedrigeren Lohn zahlen
kann. Das wollen wir. Deshalb schlagen wir eine Regelung zu Equal Pay vor. Allerdings wollen wir dies nach einer klugen Frist, Herr Heil, weil es unser Ziel ist, den
Steg, den die Zeitarbeit laut IAB heute in den Arbeitsmarkt bildet, zu einer Brücke auszubauen, damit mehr
Menschen darüber gehen können, und ihn nicht abzureißen, wie Sie es wollen; denn dies würde die Zahl der
Langzeitarbeitslosen in Deutschland erhöhen.
({5})
Kommen wir jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Tarifautonomie in Deutschland ist für uns - das, was uns
Liberalen hier unterstellt wurde, ist falsch - ein hohes
Gut. Wir glauben, dass die Lohnfindung bei Arbeitgebern und Gewerkschaften in guten Händen ist. Deshalb
wollen wir sie dort belassen. Der Punkt ist: Das ist ein
Erfolgsmodell.
({6})
Das hat neben der starken mittelständischen Wirtschaft
- liebe Frau Kollegin Pothmer, ich komme gleich zu Ihnen ({7})
und der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft übrigens entscheidend zum deutschen Jobwunder beigetragen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir die
niedrigste Arbeitslosenquote aller großen Länder in Europa und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote überhaupt haben. Das wollen wir im Gegensatz zu Ihnen
nicht wegwerfen.
Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
({8})
Alles Gute! Aber gerade weil Ihr Geburtstag eigentlich
ein Tag der Freude für uns alle ist, ebenso wie der Geburtstag des Kollegen Wadephul, muss ich Ihnen sagen:
Bei Ihnen habe ich mich gewundert, dass auch Sie heute
das dunkle Bild der drohenden Gefahr aus dem Osten
durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeichnet haben.
({9})
Sie wissen doch so gut wie ich: Alle Untersuchungen haben gezeigt, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte im
Gegensatz zu Deutschland schon geöffnet hatten, keine
Probleme hatten, dass dort kein Lohndumping entstanden ist,
({10})
sondern dass ihre Volkswirtschaften - im Gegenteil - sogar gewachsen sind. Das gilt auch für die Länder, die
keine gesetzlichen Mindestlöhne haben;
({11})
denken Sie nur an die Länder in Skandinavien, zum Beispiel an unseren nördlichen Nachbarn Dänemark.
({12})
Nun zu den Mindestlöhnen. Sie verweisen immer auf
Großbritannien. Ich würde es mir nicht so leicht machen,
zu sagen: In den Ländern, die einen Mindestlohn haben,
ist alles gut. Wir sehen doch in Europa: Es funktioniert. Wenn ich mir die Situation in Frankreich und Spanien
anschaue, wo es sehr starre gesetzliche Mindestlöhne
gibt, dann kann ich nur sagen: Das wünsche ich mir
nicht. Eine dreimal bis fünfmal so hohe Jugendarbeitslosenquote, wie wir sie in Deutschland haben, wünsche ich
mir nicht.
Johannes Vogel ({13})
({14})
Wir können uns gerne die Situation in Großbritannien
anschauen; Ihr Vorbild ist ja die Low Pay Commission.
Wenn man das tut, muss man sich aber die Situation in
Großbritannien insgesamt anschauen. Der Arbeitsmarkt
ist nämlich ein Gesamtkunstwerk. Wenn er kein Gesamtkunstwerk ist, dann besteht die Gefahr, dass es umfassender Pfusch ist. Wir können gern über Großbritannien
reden. Dann reden wir aber bitte auch darüber, dass es
dort keinen Mindestlohn für unter 21-Jährige gibt, dann
reden wir auch über den britischen Kündigungsschutz
und über eine Commission, die zum Beispiel unabhängig von politischer Einflussnahme Löhne festsetzen
kann.
({15})
Wenn Sie in Deutschland einen Mindestlohn von umgerechnet 6,97 Euro haben wollen, können wir darüber
reden. Aber genau das wollen Sie nicht, liebe Frau Kollegin Pothmer. In Großbritannien beträgt der Mindestlohn, umgerechnet in Euro, aktuell 6,97 Euro. Genau
diesen Betrag hat die unabhängige wissenschaftliche
Kommission festgelegt. Genau dies wollen Sie aber
nicht. Sie bringen folgendes Kunststück fertig: Sie sagen
auf der einen Seite: „Ja, wir wollen eine solche Kommission“, sagen aber auf der anderen Seite: „Wir legen politisch die Untergrenze fest, eine Grenze, die sie nicht
unterschreiten darf.“ Was wäre denn, wenn die Wissenschaftler herausfinden würden, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, dass der angemessene Mindestlohn 7 Euro beträgt? Dürften sie das dann gar nicht
feststellen? Oder dürften sie das schon wissenschaftlich
feststellen, aber die Politik würde dann etwas anderes
machen? Indem Sie hier politischen Einfluss nehmen,
tun Sie genau das, was wir im Zusammenhang mit gesetzlichen Mindestlöhnen immer als Horrorszenario bezeichnen,
({16})
nämlich dass die Politik ein Lohndiktat ausspricht und
dann in der Politik ein Überbietungswettbewerb einsetzt
- ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfrage zu -, der
Arbeitsplätze gefährdet.
({17})
Dann sind wir schnell bei einem Mindestlohn von
8,50 Euro, den die SPD schon fordert.
Herr Kollege, möchten Sie die Frage von Frau
Hendricks zulassen?
Nein, vielen Dank.
({0})
- Nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Bitte stellen
Sie die Zwischenfrage.
Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das mit dem Antidiskriminierungsgesetz vereinbar ist.
({0})
- Frau Hendricks, bitte.
Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die schon früher das Recht auf Freizügigkeit, in
andere europäische Länder zu ziehen, hatten, zum Beispiel aus Polen nach Großbritannien, Irland, Schweden
oder Norwegen, einem Land, das der Europäischen
Union gar nicht angehört - ich will sie einmal Wanderarbeiter nennen -, in Länder gewandert sind, in denen es
einen Mindestlohn gibt? Ist Ihnen auch bekannt, dass der
von Ihnen gerade angesprochene Mindestlohn in Großbritannien von unter 7 Euro nur deswegen zurzeit unter
7 Euro liegt, weil das Pfund im Zuge der Wirtschaftsund Finanzkrise im Verhältnis zum Euro deutlich verloren hat, dass der Mindestlohn vorher umgerechnet bei
knapp 9 Euro lag
({0})
und dass wegen einer Pfund-Schwäche die Mieten oder
das Brot in Großbritannien nicht teurer geworden sind,
sondern dass es sich nur um eine Währungsrelation handelt?
Liebe Frau Kollegin - erstens -, das ist mir bekannt.
({0})
Zweitens. Sie müssen dann aber auch über die Länder
reden, in denen es keinen Mindestlohn gibt und in die
die Menschen trotzdem eingewandert sind; ich habe
eben schon auf unseren nördlichen Nachbarn Dänemark
verwiesen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen,
Wanderung sei nur unschädlich, wenn es gesetzliche
Mindestlöhne gebe. Das ist schlicht nicht zutreffend.
Was das Beispiel Großbritannien angeht, so ist mein
Punkt nicht die Lohnhöhe. Darüber können wir gerne reden, aber - das sagte ich schon - dann müssen wir auch
über andere Konstellationen des Arbeitsmarkts reden.
Nein, mein Punkt ist, dass Großbritannien eine unabhängige Kommission eingesetzt hat. Genau das wollen
Sie nicht. Sie wollen eine unabhängige Kommission,
aber die Untergrenze soll die Politik festsetzen. Dann
kommt es zu einem Überbietungswettbewerb. 7,50 Euro
Johannes Vogel ({1})
fordern die Grünen. Die SPD macht sich gar nicht mehr
die Mühe, Wissenschaftler in die Kommission einzuladen; das ist in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen. Großbritannien sehe ich insofern nicht mehr als Ihr
Vorbild. Sie sind dann schon bei 8,50 Euro. Nach langer
Überlegung sind Sie zu dem Schluss gekommen,
8,50 Euro könnte die richtige Untergrenze sein. Überraschenderweise ist es genau die Untergrenze, die auch der
DGB vorschlägt. Das ist gleichzeitig eine Reaktion auf
die Linken, die 10 Euro fordern. Hier setzt also ein
Überbietungswettbewerb in eine Richtung ein, die wir
nicht wollen können.
Deshalb geben wir dem Staat nicht das Lohndiktat in
die Hand, sondern lassen die Lohnfindung dort, wo sie
hingehört, nämlich bei Arbeitnehmern und Gewerkschaften.
({2})
- Vielen Dank, Herr Kollege.
Auf ein letztes Argument möchte ich noch einmal
eingehen. Uns wird Folgendes immer wieder vorgeworfen: Indem Sie die Lohnfindung bei Arbeitnehmern und
Gewerkschaften lassen, lassen Sie in Deutschland Dumpinglöhne zu, was zur Folge hat, dass Menschen massenhaft auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind.
Sie müssen aufstocken und dann Hartz IV beantragen.
({3})
- Das ärgert mich, weil es eben nicht stimmt, Frau Kollegin. Sie behaupten immer wieder, dass 1,2 Millionen
Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken
müssten, weil - die Fachkollegen wissen das; und deswegen ärgert es mich, dass Sie dieses Argument wider
besseres Wissen immer wieder bringen - die Lohnhöhe
so niedrig sei. Das ist einfach nicht zutreffend.
({4})
Drei Viertel der Aufstocker arbeiten Teilzeit.
({5})
Da ist nicht die Lohnhöhe, sondern die Arbeitszeit das
Problem. Bei dem anderen Viertel ist die Größe der Bedarfsgemeinschaften entscheidend. In Deutschland erfährt man Unterstützung, auch wenn man eine große Familie hat.
({6})
Das ist auch gut. Das ist eine sozialpolitische Errungenschaft, die wir alle verteidigen wollen.
Herr Kollege!
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin.
Das ist gut.
Man muss dann aber auch sagen: Wenn wir erreichen
wollen, dass ein Alleinverdiener den Lebensunterhalt
seiner vierköpfigen Familie mit seinem Lohn bestreiten
kann, ohne auf Hartz IV angewiesen zu sein, dann liegen
wir bei einem Äquivalenzlohn von 12 Euro. Das fordert
noch nicht einmal die Linkspartei.
Herr Kollege, jetzt wäre dann „gleich“.
Ich komme zum letzten Satz. - Die Wahrheit ist
doch: In Deutschland - das zeigen die Aufstockerzahlen
des IAB - müssen 36 000 Menschen aufgrund der Lohnhöhe aufstocken und Hartz IV beziehen.
({0})
Wir können gerne darüber reden, dass das 36 000 Menschen zu viel sind. Diese Zahl ist aber weit entfernt von
1,2 Millionen.
({1})
Herr Kollege!
Das heißt somit nicht, dass wir dem Staat die Lohnfindung in die Hand geben sollten. Vielmehr wollen wir
sie dort belassen, wo sie hingehört, nämlich bei den Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist eigentlich schon abgemachte Sache,
({0})
wenn man hört, was drei Viertel der Menschen hier in
Deutschland sagen, und wenn man sich einig ist, dass ein
Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, und wenn man registriert, dass mittlerweile sogar Arbeitgeber und ihre Gewerkschaften für Mindestlöhne sind und dass es in mehr
als 20 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich
persönlich würde unheimlich gerne über die Höhe eines
Mindestlohns streiten und mich damit auseinandersetzen.
Ich habe die Debatten sehr genau verfolgt. Der Gesetzentwurf der Grünen enthält einen Mindestlohn von
mindestens 7,50 Euro. Der Gesetzentwurf der SPD enthält einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Linke fordert
im Grunde 10 Euro. Heute Morgen habe ich Herrn
Lindner gehört. Er sprach von 11 Euro. Herr Kober
sprach von 13 Euro. Das nehmen wir gerne in unsere
Überlegungen auf und diskutieren über die Höhe des
Mindestlohns. Wir diskutieren allerdings nicht über das
Ob des Mindestlohns.
({1})
Ich sage es noch einmal: Über diese Frage würde ich unheimlich gerne mit Ihnen streiten - aber nicht darüber,
ob wir das einführen.
Die Oppositionsparteien in diesem Deutschen Bundestag stehen auf der Seite der Menschen auf der Straße.
Ich bitte Sie: Beachten Sie, wer in Deutschland die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns blockiert
und wer sie nicht blockiert.
({2})
Wenn man eine Volksabstimmung über die Einführung eines Mindestlohns durchführen würde, dann
würde - da bin ich mir sicher - sich das Volk für einen
Mindestlohn aussprechen. Bei einer Abstimmung hier
im Deutschen Bundestag würde es allerdings nicht zur
Einführung eines Mindestlohns kommen.
({3})
Die Antwort auf die Frage, wer in diesem Land eigentlich die Einführung flächendeckender Mindestlöhne
blockiert, ist ganz klar: Das sind FDP und Union. Ich
will gerne noch einmal drei Beispiele aufgreifen, die in
der Diskussion hier auch schon eine Rolle gespielt haben.
Erstes Beispiel. Es geht darum, was im Zusammenhang mit der Mindestlohn-Kommission passiert ist, die
2009 im Zuge der Reform des Mindestarbeitsbedingungengesetz unter der Großen Koalition wiederbelebt
wurde. Deren Aufgabe ist es eigentlich, zu prüfen, ob in
Branchen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, ein Mindestlohn erforderlich ist. Das traurige Ergebnis nach eineinhalb Jahren ist gerade einmal eine Sitzung mit null
Ergebnissen.
({4})
Die Callcenterbranche wartet schon seit über einem Jahr
auf eine Reaktion. Die Mindestlohn-Kommission hat
nichts erreicht. Absoluter Stillstand!
Zweites Beispiel. Die Einführung von Branchenmindestlöhnen. Vor der Wahl wurde den Beschäftigten in der
Weiterbildungsbranche der Mindestlohn versprochen.
Kaum ist das Ministerium unter der Fuchtel der CDU,
({5})
ist davon keine Rede mehr. Zwei Jahre nichts!
({6})
- Da ist nichts passiert. Ich sage: Das ist eine Schlamperei. Die Folgen davon tragen die Beschäftigten, Herr
Weiß.
({7})
Herr Weiß, das müssten Sie eigentlich ganz genau
wissen: Wenn ein Betrieb so wie diese Bundesregierung
oder dieses Ministerium arbeiten würde, dann wäre er
schon fast in der Insolvenz, und wenn Beschäftigte sich
so verhalten würden, dann hätten sie schon längst eine
Kündigung oder Abmahnung bekommen.
({8})
Ich hoffe, dass Ihnen die Menschen spätestens bei den
nächsten Landtagswahlen die Quittung für dieses skandalöse Verhalten geben werden.
Im Gegensatz zu der CDU versucht die FDP gar nicht
erst, den Eindruck zu erwecken, dass sie Arbeitnehmerinteressen irgendwie für wichtig hält. Die Partei der sogenannten Liberalen besteht aus Mindestlohnblockierern
erster Klasse. Die Taschen der Bosse werden gefüllt, und
es wird dafür gesorgt, dass die Betriebe parallel dazu
trotzdem Niedriglöhne für ihre Beschäftigten zahlen
können. Es steckt nichts hinter Ihrer Aussage, Arbeit
müsse sich wieder für alle lohnen. Arbeit muss sich lohnen, aber nur für einige Ihrer Freunde.
Drittes Beispiel. Leiharbeitsbranche. Der einzige Bereich, für den wir keinen Mindestlohn brauchen, ist die
Leiharbeitsbranche. Hier brauchen wir gleiches Geld für
gleiche Arbeit - und das ab dem ersten Tag.
({9})
Die einzige Ausnahme: Man muss hinschauen, was in
der sogenannten verleihfreien Zeit passiert.
Auch hier können Sie Ihre Interessen nicht wirklich
verbergen. Ihr Kollege Kolb hat Equal Pay nach drei
Monaten gefordert. Jetzt fordern Sie die gleiche Bezahlung nach neun Monaten. Neun Monate vereinbarte Ausbeutung: Das ist nichts anderes als ein öffentlicher Kniefall vor der Leiharbeitsbranche.
({10})
Meine Damen und Herren von der FDP und der CDU,
Sie sind die Parteien der Lobbyisten. Das Beispiel Mövenpick lässt im Zusammenhang mit der FDP tief blicken.
({11})
Jetzt gibt es die historische Chance zur Einführung von
gesetzlichen Mindestlöhnen. Die Zahlen sind bekannt.
Kein Mensch glaubt mehr das Märchen von der Jobvernichtung durch Mindestlöhne, da das in 20 Ländern
wirklich einwandfrei funktioniert. Legen Sie endlich
Ihre Verbohrtheit ab und retten Sie die soziale Absicherung der Beschäftigten in Deutschland.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011
ist Grund genug.
({12})
Es kann nicht sein, dass Deutschland in 79 Tagen dazu
beiträgt, die Löhne in Europa weiter zu drücken. Hier
hilft nur ein gesetzlicher Mindestlohn.
Für die Linke ist klar: Branchenmindestlöhne alleine
reichen nicht aus, um alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzusichern.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Deswegen brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne,
durch die alle Menschen davor geschützt werden, in den
Niedriglohnbereich zu fallen. Nach unserer Auffassung
ist dafür eine Höhe von 10 Euro notwendig.
({0})
Frau Krellmann.
Letzter Satz. - Durch einen Mindestlohn von 10 Euro
wird den arbeitenden Menschen von heute auch eine armutsfeste Rente von morgen gesichert.
Vielen Dank.
({0})
Beate Müller-Gemmeke spricht jetzt für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Letztes Jahr hat sich der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz in der Frankfurter Rundschau
gegen Mindestlöhne ausgesprochen. Er hat darauf hingewiesen, dass all diejenigen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Öffnung der Arbeitsmärkte profitieren,
die preisgünstigere Produkte favorisieren. Verlierer seien
laut Franz die hiesigen Arbeitskräfte, die sich nicht anpassen könnten oder wollten. Das war meiner Ansicht
nach eine unverantwortliche und ignorante Aussage,
({0})
und zwar insbesondere aus Sicht der 21 Prozent der Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und deshalb mit Existenzsorgen leben müssen. Für sie kann
solch eine Aussage nur wie blanker Hohn klingen.
Ich kann nur hoffen, dass diese Haltung und diese
Sicht der Dinge in den Regierungsfraktionen nicht mehrheitsfähig sind. Aber Reden reicht nicht; es muss auch
endlich gehandelt werden.
Die Beschäftigten, und zwar die in- und ausländischen, erwarten von uns verantwortlichen Politikern,
dass wir im Zuge der Freizügigkeit für Gerechtigkeit,
angemessene Arbeitsbedingungen und faire Löhne sorgen.
({1})
Genau das bezwecken wir mit unserem Gesetzentwurf.
Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der nur eine Untergrenze sein kann, fordern wir mehr branchenspezifische Mindestlöhne.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll endlich für
alle Branchen geöffnet werden. Es ist allseits bekannt,
dass die Tarifbindung durch die Tarifflucht der Betriebe
immer weiter abnimmt. Dem darf man nicht tatenlos zuschauen. Übernehmen die Betriebe nicht mehr die notwendige gesellschaftliche Verantwortung, dann muss die
Bundesregierung Verantwortung übernehmen und zumindest auch mit Blick auf die Freizügigkeit branchenspezifische Mindestlöhne ermöglichen.
({2})
Wir wollen auch den Tarifausschuss im Arbeitnehmer-Entsendegesetz abschaffen. Hier geht es um Mindestlöhne, die von den zuständigen Tarifpartnern zum
Teil sehr hart verhandelt und ausgehandelt wurden. Zukünftig dürfen diese Mindestlöhne nicht mehr blockiert
werden.
Wir wollen den Entgeltbegriff verändern. Beschäftigte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen
endlich entsprechend der vertraglich festgelegten Arbeitszeit entlohnt und somit mit allen anderen Beschäftigten gleichgestellt werden. Das verhindert auch Wettbewerbsverzerrungen und stärkt die Betriebe, die dieses
Schlupfloch nicht missbrauchen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf
die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich kein Verständnis
mehr für die ideologische Blockade von Schwarz-Gelb.
Ihre Blockade von Mindestlöhnen passt angesichts der
hohen Lohnunterschiede zwischen alten und neuen EUStaaten nicht mehr in die Zeit.
Die Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dürfen nicht dazu missbraucht werden, soziale Standards zu
verschlechtern. Sie dürfen auch nicht dazu führen, dass
tariftreue Arbeitgeber vom Markt verdrängt und immer
mehr Beschäftigte in den Niedriglohnbereich getrieben
werden. Öffnen Sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
endlich für alle Branchen und machen Sie den Weg frei
für einen gesetzlichen Mindestlohn!
Vielen Dank.
({3})
Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Abermals diskutieren wir, diesmal auf
Initiative der Grünen und der SPD, über die Einführung
flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland.
({0})
- Auch von der Linken erwarte ich einen solchen Antrag
in den nächsten Wochen. Das bringen Sie alle paar Wochen vor.
Die Regierungskoalition ist nach wie vor der Auffassung - darauf haben wir schon mehrmals hingewiesen -,
dass ein flächendeckender branchenübergreifender Mindestlohn die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Dadurch werden nämlich keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, meine Damen
und Herren der SPD und der Grünen. Es ist ein einfacher
Zusammenhang: Ist der festgesetzte Mindestlohn zu
hoch, dann vernichtet er Arbeitsplätze und Chancen für
arbeitswillige Arbeitslose mit allen negativen Wirkungen
für die Betroffenen und die Sozialsysteme. Ist er zu niedrig, dann entfaltet er keine Wirkung.
Von den Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen,
dass ein Überbietungswettbewerb der einzelnen Parteien
nicht nur in Wahlkampfzeiten einsetzen wird. Wie
schnell das passieren kann, haben wir in dieser Debatte
gemerkt. Vorhin hat Klaus Ernst von einem Mindestlohn
von 9,73 Euro in Luxemburg gesprochen. Herr Ernst,
Sie müssen mal Ihren Redenschreiber ins Gebet nehmen.
Vielleicht sollte er mal genauer nachschauen. Seit
1. Januar liegt der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Luxemburg bei 10,17 Euro. Da sehen Sie, wie
schnell einem bei der Mindestlohnspirale schwindelig
werden kann.
({1})
- Oder wie schlecht die Recherche der Linkspartei ist.
({2})
Meine Damen und Herren, unser zentrales Ziel muss
es sein, konsequent gegen unzumutbare Billiglöhne vorzugehen. Ab dem 1. Mai wird sich der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus
Mittel- und Osteuropa öffnen. Wie von den Vorrednern
bereits ausgeführt, droht insbesondere in der Branche
der Zeitarbeit ein Import ausländischer Billigtarifverträge nach Deutschland. Das ist richtig, da werden wir
aufpassen müssen.
Stundensätze von 3 bis 4 Euro würden die Lohnspirale deutlich nach unten drücken. Gerade die Situation
für Geringverdiener würde dadurch erheblich erschwert.
Deshalb streben wir eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit an. Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass bald im Vermittlungsausschuss doch noch ein
Kompromiss für die Zeitarbeit gefunden werden wird.
Ich hatte Mitte Dezember von diesem Pult aus an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD appelliert, noch mal
mit ihren Ministerpräsidenten darüber zu reden, ob man
dem Hartz-IV-Bildungspaket im Interesse der Betroffenen, der Familien, der Kinder nicht doch zustimmen
könnte. Ich appelliere jetzt abermals von diesem Pult aus
an Sie. Ich weiß, Frau Kollegin Lösekrug-Möller spricht
nach mir; sie ist eine sehr weise Frau aus der Fraktion
der SPD.
({3})
Vielleicht können Sie diesbezüglich im Interesse der Betroffenen noch mal ernsthaft nachdenken. Es geht hier
nicht um Machtkämpfe. Das verstehen die Mitbürgerinnen und Mitbürger weder an den Fernsehgeräten noch
hier auf den Tribünen. Es geht darum, eine Lösung für
bedürftige, für arme Kinder zu finden, es geht auch darum, eine Lösung für die Kommunalfinanzen zu finden.
Auch das ist etwas, bei dem ich gespannt bin,
({4})
ob die Oberbürgermeister, die von der SPD gestellt werden, ihre Ministerpräsidenten vielleicht noch einmal ins
Gebet nehmen und die dann sagen: Jawohl, wir bekommen im SGB-XII-Bereich eine merkliche Entlastung in
Milliardenhöhe, ohne dass dies im Urteil des Bundesverfassungsgerichts explizit erwähnt worden ist. Auch das
ist klar.
({5})
Deshalb mein Appell: Denken Sie an die Betroffenen,
denken Sie nicht an die nächsten Landtagswahlen, liebe
Genossinnen und Genossen von der SPD!
({6})
- Herr Ernst will eine Frage an mich richten. Ich würde
sie erlauben, Frau Präsidentin.
Bitte schön. Herrn Ernst wollen wir nicht stoppen.
Den kann man nicht stoppen, glaube ich, so einen engagierten Gewerkschafter.
Herr Lehrieder, Sie haben gerade dargestellt, dass es
nun an der SPD und an den Grünen im Vermittlungsausschuss liegen würde, wenn die drei Branchen nicht ins
Entsendegesetz aufgenommen würden. Sie haben gesagt, im Interesse der Kinder müsste man das tun. Würden Sie mir zustimmen, dass die gegenwärtig regierende
Bundesregierung das auch ohne die SPD beschließen
kann, dass sie, wenn es ihr tatsächlich um die Kinder
ginge, die SPD dafür überhaupt nicht brauchte? Sie
könnte das als Regierung einfach machen.
({0})
Sie könnte doch, ohne dass sie die SPD jetzt in irgendeiner Form um Zustimmung bitten muss, im Interesse der
Kinder und der Betroffenen für diese drei Branchen das
Entsendegesetz zur Anwendung bringen, oder ist das
falsch, Herr Lehrieder?
({1})
Lieber Kollege Ernst, es geht hier nicht um die Aufnahme irgendwelcher Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz.
({0})
Das ist Verhandlungsmasse, die die SPD verständlicherweise in den Vermittlungsausschuss mit hineingepackt
hat. Herr Ernst, Sie wissen, dass wir im Bundesrat
34 Stimmen haben. Für eine Mehrheit brauchen wir
35 Stimmen. Ganz knapp reicht es nicht. Das heißt, für
ein positives Vermittlungsergebnis wären wir der SPD
für eine geneigte Mitwirkung sehr dankbar.
({1})
- Selbstverständlich können wir das selber machen.
({2})
Wir werden sehen, inwieweit wir ab 1. Mai im Bereich der Leiharbeit entsprechende Verwerfungen haben
werden oder nicht, und wir werden schauen, was tatsächlich an Zuwanderung kommt. Wir haben genau dieselbe
Diskussion wegen der demografischen Entwicklung.
Wir werden in manchen Branchen über die Zuwanderung nach Deutschland froh sein. Wir müssen erst mal
abwarten - das war ja genau die Diskussion, die die Vorredner schon angesprochen haben -, wie viele Menschen
aus den neuen Ländern zu uns kommen. Man hatte ja vor
zehn Jahren 200 000 Menschen in der IT-Branche erwartet - bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst -, später erwartete man 70 000.
({3})
Die Erlaubnis wurde für 20 000 ausgestellt. Tatsächlich
sind in den Jahren 2001/2002 gerade mal 2 500 bis 3 200
IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen.
({4})
- Ich erkläre es Ihnen liebend gern noch einmal, Herr
Ernst. Sie sollten mal in den Ausschuss kommen, Sie
sollten sich als Mitglied für den Ausschuss benennen
lassen. Dann kriegen Sie die Diskussion live mit. Für das
Bildungspaket für die Kinder brauchen wir die Länder.
Ich kann es Ihnen gern noch einmal erklären, ich kann es
Ihnen nachher auch schriftlich geben, falls Sie dies wünschen. Aber wir brauchen für das Bedarfspaket für die
Kinder schlicht und ergreifend die Mitwirkung der Bundesländer.
Daran scheitert es. Das ist auch der Grund, warum wir
im Vermittlungsausschuss in den letzten sechs, sieben
Wochen zäh verhandelt haben und bedauerlicherweise
noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Die drei
Branchen sind Nebenkriegsschauplätze. Das ist ein Vermittlungsausschuss, und das wissen Sie so gut wie ich.
({5})
- Wir werden es beobachten und schauen, was dann
kommt. Okay? Sie dürfen sich jetzt setzen, Herr Ernst. Noch eines, Herr Ernst: Es tut weh, gerade von einem
Gewerkschafter immer wieder diese Rufe nach einem
Gesetz für Mindestlohn zu hören. Immer wieder diese
Bevormundung.
({6})
Sie haben offensichtlich zu wenig Respekt vor Ihrer eigenen Courage.
({7})
- Ich bin jetzt auf Seite 4, aber ich habe noch 14 Seiten.
Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wie
Sie ihn fordern, ist nicht zielführend. In der Dienstagsausgabe des Handelsblattes - hierauf hat die Kollegin
Müller-Gemmeke von den Grünen zutreffend hingewiesen - legt der Wirtschaftsweise Professor Wolfgang Franz
dar, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn volkswirtschaftlich betrachtet falsch ist. Er führt aus,
dass der Druck auf Löhne und Arbeitsplätze nicht nur entsteht, wenn beispielsweise ein polnischer Arbeiter zu
niedrigen Arbeitskosten ein preiswertes Produkt auf deutschem Boden herstellt, sondern auch, wenn dasselbe Produkt in Polen produziert wird und dann nach Deutschland
importiert wird. Letzteres gehört zu unserem Alltag.
Franz argumentiert, dass die Wohlfahrt der Konsumenten dann am höchsten ist, wenn keine Reglementierungen getroffen werden und im Übrigen uneingeschränkte Mobilität ermöglicht wird. Selbst wenn Franz
in der Ablehnung des flächendeckenden Mindestlohnes
zuzustimmen ist, so gehört es dennoch zum GrundverPaul Lehrieder
ständnis unseres Sozialstaats, Benachteiligungen auszugleichen.
Es ist notwendig, Ausnahmen zu machen und in einzelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären, wie beispielsweise in der
Pflegebranche, im Bauhauptgewerbe oder im Bereich
der Gebäudereinigung. Es ist richtig, was der Kollege
Schreiner vorhin ausgeführt hat: Wir müssen aufpassen,
welche Branchen nach der Öffnung der Grenzen am
1. Mai dieses Jahres verstärkt nach Deutschland kommen werden. Reichen die bisherigen Regelungen aus,
beispielsweise im Bauhauptgewerbe, in der Pflegebranche, wo wir bereits branchenspezifische Mindestlöhne
einführen konnten? Müssen wir bei Verwerfungen unter
Umständen weitere Branchen einbeziehen? Hier sind wir
gesprächsoffen. Wir respektieren - anders als die Linken - die gewerkschaftliche Tarifautonomie und das
Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften. Sie sind für
die Lohnfindung zuständig, nicht der Bundestag, nicht die
Politiker. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter
können das allemal besser. Herr Ernst, ich erwarte, dass
Sie Ihrer Verantwortung als Gewerkschafter auch in Zukunft gerecht werden.
Würden Sie die Zwischenfrage von Frau Krellmann
zulassen?
Ja, ich warte darauf, dass Sie mich fragen.
Vielen Dank. - Ich frage Sie als Gewerkschafterin.
Mir ist die Beschlusslage bekannt. Was glauben Sie eigentlich, warum der DGB beschlossen hat, dass es einen
Mindestlohn von 8,50 Euro geben soll? Das geschieht
doch nur deswegen, weil Gewerkschaften hinter einer
Mindestlohnforderung stehen. Das ist nicht nur Thema
der Grünen, der SPD und der Linken, das ist mittlerweile
ein Thema aller Gewerkschaften. Haben Sie das registriert?
Frau Krellmann, die Gewerkschaften hinken sogar
den Mindestlohnforderungen der Linkspartei hinterher.
Sie sind schon bei 10 Euro; damit haben Sie die Gewerkschaften um 1,50 Euro überholt.
({0})
- Das stimmt doch, oder? Stimmt es nicht? 10 Euro ist
Ihr aktueller Tarif; Herr Ernst bestätigt es. Die Linke ist
bei 10 Euro, die Gewerkschaften sind bei 8,50 Euro, die
SPD ist auch bei 8,50 Euro. Daran sehen Sie, dass die
Tariffindung in politischer Hand nur suboptimal ist. Besser ist es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe
übernehmen.
Frau Krellmann, auch von Vorrednern wurde schon
darauf hingewiesen, dass außer dem dbb bisher keine
Gewerkschaft die Lohnfindungskommission angerufen
hat und über diese Kommission in den letzten zwei Jahren etwaige Verwerfungen hat feststellen lassen. Herr
Kollege Weiß hat darauf bereits völlig zutreffend hingewiesen. An dieser Stelle könnten Gewerkschaften, wenn
sie tatsächlich der Auffassung sind, dass in manchen
Branchen Verwerfungen vorhanden sind, etwas für die
betroffenen Arbeitnehmer ins Feld führen. Das haben sie
aber nicht gemacht. Man muss das Mitwirken der Gewerkschaften abwarten; denn sie sind nach meinem Verständnis von Vertragsfreiheit und Tarifautonomie allemal besser berufen, solche Konditionen - seien es
Arbeitszeiten, Löhne, oder Urlaubsansprüche - auszuhandeln als wir Politiker. Hier müssen wir bescheiden
sein und nicht so tun, als wüssten wir selber alles besser.
Ziel ist es, allen Menschen in unserem Land die Möglichkeit zu geben, durch Arbeit - dabei ist die Qualifikation egal; auch darauf müssen wir aufpassen - genug
Geld zu verdienen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen. Jedem Menschen in unserem Land wird
ein Existenzminimum gewährt, den Geringverdienern,
denen, die Arbeit suchen, und denen, die keiner Arbeit
mehr nachgehen können. Was soll ein Mindestlohn von
7,50 Euro oder 8,50 Euro bringen? Zunächst einmal hat
Deutschland schon jetzt eine Grundsicherung für
Hartz-IV-Empfänger durch einen impliziten Mindestlohn. Betrachtet man beispielsweise die Hartz-IV-Sätze
für eine vierköpfige Familie - es wurde schon darauf hingewiesen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen -, so
käme man auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro.
Herr Lehrieder, ich hätte noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Alpers anzubieten.
Sehr gern, es ist noch früh am Tag.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Lehrieder, ich muss doch noch
einmal nachfassen.
Das dürfen Sie.
Sie sprachen von der Tarifautonomie, auf der die Gewerkschaften bestehen würden. Erstens habe ich folgende
Nachfrage: Sie sagten, es sei nur der DGB, der einen gesetzlichen Mindestlohn fordere. Der DGB ist - vielleicht
ist das noch nicht zu Ihrer Kenntnis gekommen - der
Dachverband aller Einzelgewerkschaften. Deshalb hätte
ich gerne, dass Sie mir das Wort „nur“ erklären. Zweitens
sprachen wir nicht über die Höhe des Mindestlohns, sondern wir haben uns prinzipiell für dessen Einführung ausgesprochen. Ich möchte wissen: Ist Ihnen bekannt, dass
auch die meisten Einzelgewerkschaften dies fordern,
nicht nur der DGB? Der Gewerkschaftsbund sagt ebenso
wie wir, dass wir zur Mindestabsicherung einen Mindestlohn brauchen. Die Tarifautonomie wird dadurch nicht
beeinträchtigt. Vielmehr können die einzelnen Branchen
die jeweiligen Tarife aushandeln.
Liebe Frau Kollegin, vielleicht habe ich mich etwas
missverständlich ausgedrückt, vielleicht haben Sie auch
die Buchstaben nicht verstanden, die ich gesagt habe.
Nur der dbb, der Deutsche Beamtenbund, hat den Antrag
auf Feststellung von Verwerfung gestellt. Dass natürlich
eine Vielzahl von Gewerkschaften, darunter auch Verdi,
Mindestlöhne fordert, ist mir nicht unbekannt. Das ist
Punkt eins.
Punkt zwei: Ihre Forderung nach einem Mindestlohn
von 10 Euro ist nicht gänzlich neu. Sie brauchen sich
nicht zu verstecken und brauchen sich auch nicht dafür
zu schämen. Diese Forderung ist bekannt. Wenn Sie sagen, Sie forderten nur einen Mindestlohn und ließen die
Höhe offen - vielleicht tun Sie das in einem Antrag in einem Vierteljahr -, dann entgegne ich Ihnen: In Ihren Papieren steht ein Mindestlohn von 10 Euro. Punkt, aus.
Sie brauchen sich deswegen nicht zu verstecken.
({0})
Die Zwischenfrage war gestellt. Sie ist jetzt beantwortet.
Ich möchte noch etwas zum dritten Teil der Frage sagen. Wie lautete der dritte Teil der Frage, Frau Kollegin?
Ich glaube, dass uns das jetzt nicht viel weiter führt.
Möchten Sie den dritten Teil der Frage wiederholen? Dann dürfen Sie das jetzt tun.
Sind wir uns einig, dass alle Gewerkschaften einschließlich des Dachverbandes einen gesetzlichen Mindestlohn fordern? Der Unterschied liegt nur in der Höhe.
Danke. Ich weiß Bescheid. - Sie sagen, wenn man
8,50 Euro als Basis nimmt, so ist es einem unbenommen,
darüber hinaus noch einen höheren Lohn auszuhandeln.
Dabei besteht aber das Risiko, dass die Löhne in den bis
jetzt bestehenden Tarifverträgen, die etwas höher liegen,
mit der Begründung gesenkt werden, man brauche nicht
mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht automatisch so, dass der Mindestlohn eine Verbesserung ist,
sondern er kann auch zu einer Verschlechterung der Bezahlung führen. Das ist also, mit Verlaub, Frau Kollegin,
kein Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn.
({0})
Ich hatte darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige
Hartz-IV-Familie auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro
käme. Das ist immer noch deutlich höher als der höchste
europäische flächendeckende Mindestlohn, der in Luxemburg bei 10,16 Euro - ich wiederhole es gerne liegt. Das ist auch höher als der von der SPD und den
Grünen geforderte Betrag von 8,50 Euro bzw. 7,50 Euro.
Das Argument, die sogenannten Aufstocker, also die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich
Hartz IV erhalten, gäbe es bei einem Mindestlohn nicht,
ist ebenfalls falsch und wird durch Wiederholung auch
nicht wahrer. Von den Aufstockern arbeiten rund 75 Prozent in Teilzeitarbeit. Ich glaube, es war der Kollege
Vogel oder Pascal Kober, der darauf hingewiesen hat. Jeder weiß, dass man von Teilzeitarbeit alleine nicht leben
kann. Das restliche Viertel hat im Prinzip auskömmliche
Löhne. Wenn die Löhne nicht reichen, so liegt das meist
daran, dass nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch
seine Familie zu ernähren ist. Auch das ist ausgeführt
worden. Hartz IV als ergänzende Sozialleistung unterliegt dem Sozialprinzip. Das heißt, es wird nicht nach
der Arbeitsleistung des Erwerbstätigen gefördert, sondern der Bedarf der Familie wird gedeckt. Wenn es nicht
reicht, so liegt dies meist daran, dass eine Familie zu ernähren ist, und nicht an der Höhe der Stundenlöhne. Nur
circa 35 000 Personen - Sie, Herr Ernst, haben die Zahl
in Zweifel gezogen - haben bei Vollzeit einen so geringen Lohn, dass sie ausschließlich davon nicht leben können. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind die
Löhne für einfache Arbeit oft so weit angehoben worden, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer
wurden. Oft bleiben dann die niedrigsten Tarifgruppen
unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren in diesen Branchen Arbeitsplätze zum Teil gestrichen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
neuer Stellen ganz zu schweigen. Das von meinen Vorrednern ebenfalls bereits benannte Alternativangebot der
Schwarzarbeit will ich gar nicht noch einmal bemühen.
Ich gehe davon aus, dass sich jeder in Deutschland rechtstreu verhält.
Dasselbe würde für einen gesetzlichen Mindestlohn
auf hohem Niveau gelten: Er würde zwar ausländische
Billigarbeitskräfte fernhalten, aber bei uns auch Beschäftigungschancen für Niedrigqualifzierte verringern.
Den Rest meines Manuskripts will ich Ihnen ersparen.
Ich darf aber die Gelegenheit nutzen, Frau Kollegin
Pothmer, Herr Kollege Wadephul, auch von dieser Stelle
aus zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ich
wünsche ihnen weiterhin eine freudige Debatte und einen schönen Tag.
Danke schön.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin LösekrugMöller das Wort.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Wir haben gleich einen Film in Überlänge hinter uns.
Zurzeit läuft hier die Berlinale. Mein Eindruck ist, dass
Teile des Hauses einen Film aufgeführt haben, der leider
nicht nominiert wurde. Das finde ich sehr bedauerlich,
aber ich verstehe es. Vielleicht hätten Sie diese Brillen
gebraucht, die es möglich machen, 3D zu sehen. Das ist
ja der Renner auf der Berlinale.
({0})
Welcher Effekt ist das? Man sieht auf einmal räumlich
und plastisch, was ist. Ich denke, diese Hilfe wäre nötig
gewesen.
Wir reden heute über zwei Gesetzentwürfe, von denen
- dessen bin ich mir sicher - die meisten Menschen, die
uns, wo auch immer, zuhören oder zuschauen, sagen:
Dafür ist es allerhöchste Zeit. Auch will ich sagen: Wir
haben auch Prominente auf unserer Seite.
Mindestlöhne
- sagt da jemand sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe,
sondern einfach ein Instrument. Ich bin
- sagt diese Person im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, die
Vollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Lebensunterhalt für sich selbst zu bestreiten.
({1})
Jetzt klatschen doch bitte auf alle Fälle die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Denn es war Ihre
Ministerin von der Leyen, die dies am 21. Februar 2010,
also vor einem Jahr, in einem Gespräch im Tagesspiegel
genau so formuliert hat. Recht hat die Ministerin.
({2})
Weil sie nicht da ist, sage ich: Schöne Grüße. Was vor einem Jahr richtig war, ist auch heute noch zielführend.
Worüber diskutieren wir hier? Wir diskutieren darüber,
wie wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen können.
Wir haben heute viele Redebeiträge gehört, die eigentlich
eines bewiesen haben: Mit den kleinen Instrumenten, die
wir derzeit haben, kommen wir der Lösung nicht näher.
Es reicht nicht. Wir haben es erlebt, Branche für Branche.
Ich nehme eine kleine Branche, nämlich die der beruflichen Weiterbildung, heraus. An ihr wird deutlich, warum
das scheitert: weil im Prinzip gar nicht gewollt ist, dass es
funktioniert. Ich finde, das muss man dann auch so sagen.
Es ist offenkundig nicht gewollt.
({3})
Ich halte mich aus dem Streit über die Ergebnisse des
Vermittlungsausschusses heraus. Mir geht es so wie vielen hier im Plenarsaal. Wir sind nicht dabei gewesen; wir
sind informiert worden.
({4})
Jede Seite sagt, sie habe gute Gründe für ihre Position
gehabt. Das respektiere ich, Herr Kober. Aber was ist
jetzt das Ergebnis?
({5})
Ergebnis ist, dass Sie heute darum bitten, wir sollten Ja
sagen zu einem Kompromiss, von dem die SPD sagt, er
führe überhaupt nicht in die richtige Richtung. Wir wollen Bildungspakete und Infrastruktur und keine kleinen
Päckchen, die in die Familien getragen werden.
({6})
Wir wollen - Herr Kollege Weiß, das sind wir allen Arbeitnehmern schuldig - in Sachen Leiharbeit eine Regelung, die die Menschen, die in Leiharbeit sind, nicht veralbert, sondern mit ihren Anliegen wirklich ernst nimmt.
({7})
Wenn man das, was auf dem Tisch liegt, betrachtet,
dann stellt man fest, dass wir davon Lichtjahre entfernt
sind. Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit dem
Anscheinerwecken von Emsigkeit. Die Menschen haben
es nicht verdient, dass man so tut, als würde man ihnen
helfen, und sie vertröstet und sozusagen mit kleinen
Schritten in eine vermeintlich bessere Zukunft führt. Uns
ist es doch hier im Haus gelungen, die finanziell und
wirtschaftlich schwierige Krise durch einen starken Impuls so zu gestalten, dass Unternehmen gut aus der Krise
herauskamen. Jetzt wird es Zeit, dass wir auch den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen helfen, und helfen
können wir ihnen mit einem gesetzlichen Mindestlohn.
Das muss die rote Linie sein, die in Deutschland nicht
überschritten werden darf.
({8})
Wir haben heute mehr als zehn Argumente für die Einführung des Mindestlohns gehört. Sie zieren sich wegen
der unterschiedlichen Höhe von Mindestlöhnen - bei den
Grünen ist sie etwas höher als bei uns, den Sozialdemokraten - und behaupten: Das kann man einer Kommission
nicht zumuten. Ich habe genau zugehört und stelle fest:
Das ist Ihr einziges Kriterium, warum Ihrer Meinung
nach die Gesetzentwürfe nicht in Ordnung sind. Dann erwarte ich aber von Ihnen, dass Sie einen Gesetzentwurf
vorlegen, der die Einrichtung einer Kommission vorsieht,
aber nicht vorgibt, wo sie anfängt. Einen solchen Gesetzentwurf kenne ich aber nicht.
({9})
Wenn wir auf die Deutschlandkarte blicken, dann stellen wir fest: Deutschland ist ein Niedriglohnland. Wir
können sagen: Was wir an bestehenden Möglichkeiten
haben, funktioniert so nicht. Schauen wir auf BadenWürttemberg, dann stellen wir fest: Die können zwar kein
Hochdeutsch, aber dafür können sie Niedriglohn. Dort
stockt jede dritte Alleinerziehende auf.
({10})
- Ja, aber hören Sie mir doch erst einmal zu. Sie können
die Zahlen aus Baden-Württemberg doch nicht sozusagen durch Einrede eliminieren. In Sachsen, Herr Weiß,
ist jeder Vierte Geringverdiener.
({11})
In NRW - damit Sie mir keine parteipolitische Einseitigkeit vorwerfen - sind 23 Prozent der Aufstocker Vollzeit
beschäftigt.
({12})
Das muss man sich vor Augen führen: Jeder Vierte rackert sich ab und schuftet, und am Ende des Monats
muss er trotzdem Transferleistungen in Anspruch nehmen. Das finden wir nicht in Ordnung. Das hat mit der
Würde von Arbeit nichts zu tun.
({13})
Ich bin meinem Kollegen Ottmar Schreiner sehr
dankbar; denn er hat auf den Punkt gebracht, worum es
den Sozialdemokraten geht. Es geht darum, dass wir die
Würde ernst nehmen.
({14})
Ich will allen Christen sagen: Das ist ein biblisches Maß.
Lesen Sie bei Matthäus nach, ich glaube, es steht in Kapitel 20, 1-16: Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.
Das kann eine gute Hilfestellung sein, wenn man nicht
mehr weiter weiß, wie man sich politisch orientieren soll.
Ich finde, Sie könnten Größe zeigen und sagen: Es
liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Vielleicht finden wir sie
nicht in jedem Punkt richtig, aber die Richtung stimmt.
Paul, ich würde mich deshalb freuen, wenn du dich der
Sache annehmen würdest.
Vielen Dank.
({15})
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Frankfurter Abgeordneter darf man bisweilen an den
großen Sozialethiker und Jesuitenpater Oswald von
Nell-Breuning erinnern,
({0})
der zu vielen Themen, die unsere Arbeitsgebiete betreffen, kluge Dinge gesagt hat, zum Beispiel zum Thema
Lohnfindung in seinem 1960 erschienenen Buch Kapitalismus und gerechter Lohn. Dort heißt es, dass die
menschliche Arbeitskraft keine Ware ist. Es sei historisch
die große himmelschreiende Sünde einiger nationalökonomischer Theoretiker, die Lohnbildung allein den Marktgesetzen unterwerfen zu wollen.
({1})
Nun haben das die klugen Stammväter des Liberalismus, allen voran Adam Smith, lieber Herr Heil, nie behauptet. Der Lohn, so Smith, müsse hinreichend sein, einem Menschen Unterhalt zu verschaffen und ihn in die
Lage zu versetzen, seine Familie zu ernähren. Goldene
Zeiten, in denen die Wirtschaftswissenschaft noch Teil
der Moralphilosophie war!
Unsere heutige Debatte dreht sich nicht um eine Differenz im Ziel, sondern um den richtigen Weg dorthin.
Keiner von uns will die Lohnbildung allein dem Markt
überlassen. Keiner von uns in der Koalition befürwortet
einen Paläoliberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn wir
etwa im Koalitionsvertrag davon sprechen, das Verbot
sittenwidriger Löhne gesetzlich festschreiben zu wollen,
dann stellen wir gleichsam fest: Es gibt absolute Untergrenzen. - Auf die Sittenwidrigkeit will ich später zurückkommen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Heil zulassen?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen dürfen, und ich bin mir sicher, dass das Informationsbedürfnis des Kollegen Heil auf diese Art und Weise nachhaltig
gestillt werden wird.
({0})
Über viele Jahre war die Lohnfindung das Geschäft
der Tarifpartner, ohne dass das hinterfragt worden ist.
Das ist problematisch geworden - aus vielerlei Gründen.
Wir haben in den vergangenen Jahren Instrumentarien
entwickelt, damit umzugehen: die branchenbezogenen
Mindestlöhne, das Entsendegesetz, das Mindestarbeitsbedingungengesetz und vieles mehr. Das war aus unserer
Sicht richtig, weil es die Hauptverantwortung bei den
Tarifpartnern beließ und erst dann, nämlich subsidiär,
staatliches Handeln ins Spiel gebracht wurde.
Nun sind auch und gerade im christlich-sozialen Bereich durchaus weiter gehende Forderungen erhoben
worden,
({1})
die von einer gewissen Ungeduld zeugen. So sprechen
sich sowohl die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung
als auch das Kolpingwerk für gesetzliche Mindestlöhne
aus.
({2})
Auch das gehört zum Gesamtbild der Lage, die wir heute
diskutieren.
Ich glaube aber nicht, dass es nur einen Weg gibt, zu
einem gerechten Lohn zu kommen; mehr noch: Ich halte
vieles von dem, was in den vorliegenden Gesetzentwürfen formuliert wird und auch von KAB und Kolpingwerk vorgeschlagen wird, auch und gerade aus christlich-sozialer Sicht für falsch.
Wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn nachdenkt - ich will dieses Hohe Haus durchaus einmal als
Ort des Nachdenkens und nicht nur des konfrontativen
Debattierens nutzen -, dann darf man das Prinzip der
Subsidiarität nicht aus dem Blick verlieren. Es müsste
am Anfang aller Überlegungen zum gesetzlichen Mindestlohn stehen.
Deswegen müsste aus christlich-sozialer Sicht ein gesetzlicher Mindestlohn die Möglichkeit einer tariflichen
Öffnungsklausel enthalten. Tarifautonomie geht vor Gesetz, aber die Tarifautonomie dürfte nicht alles; denn
eine gesetzliche Mindestlohngrenze erst gäbe der Möglichkeit Gestalt, eine einheitliche Höhe für die Sittenwidrigkeit der Löhne festzusetzen. Anderenfalls bliebe
die Feststellung der Sittenwidrigkeit reines Richterrecht,
abhängig von der Region, der Branche und vielem anderen. Umgekehrt: Wer eine solche Sittenwidrigkeit eindeutig festlegen wollte, bräuchte eine Bezugsgröße, und
die lieferte nur ein Mindestlohn; er wäre eine normative
Bezugsgröße für die Sittenwidrigkeit von Löhnen.
Ich bin immer wieder überrascht von der Beliebigkeit,
mit der über die Höhe eines Mindestlohns diskutiert
wird. Ein wenig ins Blaue hinein wird da geschätzt und
gewünscht - genauso wie bei den Hartz-IV-Regelsätzen.
({3})
Für mich könnte es aus christlich-sozialer Perspektive
nur eine Erwägung geben, die die Höhe eines Mindestlohns definiert, und die wäre: Wer sein ganzes Berufsleben lang rechnerisch nur den Mindestlohn bekommen
hat, muss am Ende eine Rentenanwartschaft verdient haben, die über der Grundsicherung liegt.
Ein solches Abstandsgebot ist durch den Wert der Arbeit selbst geboten. Erst aus diesem Abstandsgebot und
aus seiner Berechnung heraus ließe sich über die Höhe eines Mindestlohns reden. Mit anderen Worten: Die Höhe
eines Mindestlohns müsste sich nach der Möglichkeit berechnen, eine Rentenanwartschaft über der Grundsicherung zu erwerben. Nach allem, was wir bisher wissen: Mit
7,50 Euro ist das nicht zu machen.
Wenn ich aus christlich-sozialer Sicht über das Thema
Mindestlohn nachdenke, würde ich auch keineswegs zu
dem Vorschlag kommen, eine Kommission zur Festlegung des Mindestlohns einzurichten, wie es etwa im
Entwurf der Grünen formuliert ist. Wie schwierig solche
Diskussionen manchmal sein können, zeigt die Debatte
um die Höhe der Regelsätze. Vor Wahlen wird dann regelmäßig eine Diskussion zu haben sein über die Höhe
des Mindestlohns, darüber, nach welchen Kriterien er
festgelegt wird, und das hielte ich für problematisch.
Auch eine formal unabhängige Kommission könnte sich
lautstark vorgetragenen politischen Begehrlichkeiten
kaum verschließen. Eleganter fände ich dann doch den
Weg, einen Mindestlohn an die Rentenentwicklung zu
koppeln. Damit wäre zum einen das Abstandsgebot gewahrt, zum anderen wäre implizit auch die Mahnung der
katholischen Soziallehre berücksichtigt, dass die gerechte Entlohnung natürlich immer mehrere Bestimmungsgründe hat.
Es ist richtig: In der Politik entscheidet nicht das
Wünschbare, sondern das politisch Mögliche. Aber ein
wenig mehr Fantasie darf man auch entwickeln. Die
Leitplanken, innerhalb derer sich die Fantasie entwickelt, sind durch die Begriffe „Subsidiarität“, „Tarifautonomie“ und „gerechter Lohn“ vorgegeben. Die Gesetzentwürfe von SPD und Grünen scheinen mir eher davon
geprägt zu sein, dass Subsidiarität und Tarifautonomie
kaum eine Rolle spielen. Ordnungspolitisch halte ich das
für falsch. Aber darüber zu streiten, wie wir einen gerechten Lohn verwirklichen, scheint mir richtig zu sein,
weil wir uns im Ziel, die Arbeit nicht als Ware zu begreifen und die Lohnbildung nicht allein den Märkten zu
überlassen, durchaus einig sind. Dass wir damit alle dazu
beitragen, im Sinne von Oswald von Nell-Breuning die
kapitalistische Wirtschaftsweise normativ zu veredeln,
ist für mich ein versöhnliches Ende einer manchmal
durch schrille Töne und tagespolitische Zuspitzungen
getragenen Debatte.
({4})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heil das
Wort.
Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer, ich schätze Sie als reflektierenden, nachdenklichen Menschen. Allerdings - das
muss ich Ihnen bei der ganzen Geschichte sagen -, die
Menschen werden von warmen Worten nicht satt.
({0})
Deshalb möchte ich Ihnen einmal etwas zum Thema Subsidiarität und Lohnfindung erzählen. Wir sind für Tariflöhne. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, sind wir für
den Vorrang branchenspezifischer Tariflöhne, der aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes festgeschrieben werden kann - und nichts anderes. Wir wissen aber
auch, dass es inzwischen Branchen gibt, wo das so nicht
mehr funktioniert, wo also ein gesetzlicher Mindestlohn
notwendig ist.
Hubertus Heil ({1})
Jetzt will ich Ihnen eines sagen: Ich kann es nicht
mehr ertragen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
jedes Mal, wenn wir über das Thema sprechen, Sie, so
sonor Sie es auch hier vortragen, als netten Menschen
am Schluss reden lässt,
({2})
Sie etwas herumphilosophieren, aber am Ende nichts herauskommt. Placebo-Mindestlöhne nützen den Menschen nichts. Herr Dr. Zimmer, was die Festlegung im
Koalitionsvertrag, sittenwidrige Löhne gesetzlich als unterste Kante festzuschreiben, bedeutet, will ich Ihnen
praktisch belegen. Ehe Löhne sittenwidrig werden, kann
man heutzutage nach Richterrecht bis zu einem Drittel
vom niedrigsten Tarif nach unten abweichen. Bezogen
auf das Friseurhandwerk in Sachsen hieße das beispielsweise, dass erst bei 2,04 Euro Stundenlohn der Lohn sittenwidrig würde. Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass
2,04 Euro die unterste Kante sein soll? Anhand dieser
Frage erkennen Sie, dass Sie nicht um einen gesetzlichen
Mindestlohn herumkommen.
Auch eine zweite Frage kann ich Ihnen als jemandem
mit einem sozialen Herz, der sich hier auf Oswald von
Nell-Breuning und die katholische Soziallehre, die mir
auch als evangelischem Christen sehr sympathisch ist,
bezieht, leider nicht ersparen: Ab welchem Zeitpunkt
soll nach Ihrer Überzeugung, also Ihrer persönlichen,
auch wenn sie im Gegensatz zu der Ihrer Kolleginnen
und Kollegen steht, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unabweichbar gelten? Die FDP spricht von neun Monaten
und hat die CDU/CSU in Geiselhaft genommen. Was ist
Ihre Auffassung als Sozialexperte, ab welchem Zeitpunkt der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
gelten soll, Herr Zimmer?
Herr Dr. Zimmer zur Erwiderung, bitte.
Danke schön, Herr Kollege Heil. Ich bin für die Frage
sehr dankbar, obwohl sie in den argumentativen Zusammenhang der Punkte, die wir bei Mindestlöhnen diskutieren, nicht so recht hereinzupassen scheint; aber sei es
drum.
Ich glaube, ich würde mich zunächst einmal mit Ihnen
und mit anderen, die damals in der rot-grünen Koalition
die Möglichkeit geschaffen haben, von Equal Pay abzuweichen, zusammensetzen.
({0})
Ich würde dann Sie, lieber Herr Heil - da bitte ich als
neuer Kollege um Verständnis; Sie sind ja schon sehr
viel länger dabei -,
({1})
doch einmal fragen: Gab es denn damals eigentlich gute
Gründe, dies zu tun und ohne Fristen zuzulassen,
({2})
und sind diese guten Gründe noch valide?
({3})
Erst dann, wenn wir darüber gesprochen haben, würde
ich eine zweite Frage anschließen, nämlich, was wir daran ändern müssen. Deswegen sehe ich mich heute außerstande, mich auf eine entsprechende Frist festzulegen, weil ich Ihre Argumente zu dieser Frage überhaupt
nicht kenne.
({4})
Der nächste Punkt: Wir sind hier im Plenarsaal des
Deutschen Bundestages. Ich glaube schon, dass Argumente hier eine gewisse Rolle spielen, getreu dem
Hegel’schen Motto: Ist das Reich der Ideen erst revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand. - Insofern
habe ich, auch was meine Position zu Mindestlöhnen angeht, durchaus die Hoffnung, dass sich der zwanglose
Zwang des besseren Arguments langfristig durchsetzen
möge.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4665 und 17/4435 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f
sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 f auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksache 17/4144 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des BVL-Gesetzes
- Drucksache 17/4381 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Digitalisierung vergriffener und verwaister
Werke
- Drucksache 17/4661 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene
Qualifikationen anerkennen
- Drucksache 17/4615 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit hat Vorrang - Atomkraftwerk Gra-
fenrheinfeld sofort abschalten
- Drucksache 17/4688 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rheintalbahn - Modellprojekt für anwohnerfreundlichen Schienenausbau
- Drucksache 17/4689 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({4}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der „Internationalen Konvention gegen
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
und die Ausbildung von Söldnern“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/4663 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({6}), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot privater militärischer Dienstleistungen
aus Deutschland
- Drucksache 17/4673 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Brennelemente-Zwischenlager am Forschungszentrum Jülich ertüchtigen
- Drucksache 17/4690 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen
- Drucksache 17/4670 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes
Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
- Drucksache 17/4652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern - Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren
- Drucksache 17/4671 10096
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a bis l. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des BerufskraftfahrerQualifikations-Gesetzes
- Drucksache 17/3800 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/4660 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4660, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3800 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften
des Haushaltsbegleitgesetzes 2004
- Drucksachen 17/3632, 17/3984 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({13})
- Drucksache 17/4597 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding ({14})
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4597, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3632
und 17/3984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten
Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes
und anderer Gesetze
- Drucksachen 17/3960, 17/4146 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15})
- Drucksache 17/4596 Berichterstattung:
Abgeorndete Patricia Lips
Nicolette Kressl
Dr. Birgit Reinemund
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4596, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3960
und 17/4146 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktionen der SPD und der Linken.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der dritten Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({16})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009
- Drucksache 17/4600 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
Michael Hartmann ({17})
Christian Lange ({18})
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler
Hier liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung nach § 31 GO der Kollegin
Kathrin Vogler vor.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Zur Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses möchte ich folgende Erklärung abgeben:
Ich werde der vorliegenden Beschlussempfehlung
nicht zustimmen, obwohl meine Fraktion, wie auch die
anderen Fraktionen des Hauses, sie im Grundsatz mitträgt. Das finde ich erklärungsbedürftig.
Die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses enthält in Anlage 47 den Einspruch eines Wählers aus meinem Wahlkreis 129, Steinfurt III, gegen das
Ergebnis der Bundestagswahl in diesem Wahlkreis. Der
Wähler führt dort unter anderem an, dass der Stimmzettel für die Wahl nicht korrekt gewesen sei, weil der Kandidat der CDU, Dieter Jasper, dort mit einem Doktortitel
aufgeführt war, den er legal nicht hätte führen dürfen,
weil dieser bei einer sogenannten Titelmühle in der
Schweiz gekauft und nicht durch wissenschaftliche Tätigkeit erworben wurde.
({0})
Der Wahlprüfungsausschuss stellt wohl richtig fest,
dass der Einspruch dieses Bürgers wegen Fristablaufs
nicht mehr zulässig sei. Die Frist zum Einspruch gegen
das Wahlergebnis der Bundestagswahl beträgt zwei Monate nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses. Im
beschriebenen Fall war es aber so, dass der Tatbestand
der Öffentlichkeit bis nach Ablauf der Frist gezielt verheimlicht wurde. Erst im Februar 2010 brachten Medienrecherchen den Skandal ans Licht.
Zu diesem Zeitpunkt hätte nur noch der Präsident des
Deutschen Bundestags die Wahl anfechten können. Ich
habe damals den Präsidenten des Hauses angeschrieben
und ihn gebeten, die Wahl im Wahlkreis 129 anzufechten
und Neuwahlen zu veranlassen. Von vielen Wählerinnen
und Wählern habe ich damals nämlich gehört, dass sie
Herrn Jasper nicht gewählt hätten, wenn sie vorher von
seinem Titelbetrug gewusst hätten. Da sein Vorsprung
gegenüber dem Mitbewerber von der SPD, Dr. Reinhold
Hemker, nicht einmal 2 Prozent der Stimmen betrug,
wäre das Direktmandat möglicherweise nicht an Herrn
Jasper gegangen, wäre den Wählerinnen und Wählern
der Titelkauf vorher bekannt gewesen.
Obwohl der Fristablauf eindeutig und nicht von der
Hand zu weisen ist, habe ich den Eindruck, dass in diesem Fall der Ablauf der Einspruchsfrist bewusst oder zumindest fahrlässig herbeigeführt wurde.
({1})
Nach seinen eigenen Aussagen, zitiert in den Westfälischen Nachrichten, hat Dieter Jasper schon im Oktober
2009 gegenüber dem Bundestagspräsidium offengelegt,
dass er den Titel nicht legal hätte führen dürfen. Ich gehe
davon aus, dass auch die Führung der Unionsfraktion informiert gewesen sein muss.
({2})
Wenn die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt über
den Titelbetrug informiert worden wäre, hätte eine Beschwerde fristgerecht eingereicht werden können.
({3})
Dass Bundestagspräsident Dr. Lammert diese Mauschelei seines Parteifreunds gedeckt hat, hat mich politisch
und menschlich schwer enttäuscht.
({4})
Zumindest aber hätte der betroffene Kollege den Anstand besitzen können, sein auf Lug und Trug basierendes Mandat freiwillig zurückzugeben.
({5})
Insgesamt stellt sich für mich die Frage, ob die absolute Frist für Wahleinsprüche, die der Rechtssicherheit
dienen soll, letzten Endes nicht ein Klima der Vertuschung begünstigt, das für die Demokratie womöglich
schädlicher ist als ein geringes Restrisiko an Rechtsunsicherheit.
({6})
Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind in der Politik unverzichtbar; sie sind in diesem Fall mit Füßen getreten
worden.
({7})
Vermutlich könnte nur das Bundesverfassungsgericht
diese Frage endgültig klären, es sei denn, wir als Gesetzgeber nehmen den Fall zum Anlass, das Bundeswahlgesetz zu ändern; dafür würde ich mich stark machen.
Meine Unterstützung gilt in diesem Fall dem Einspruchsführer. Auch deswegen stimme ich gegen diese
Beschlussempfehlung.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? ({0})
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei einigen Gegenstimmen aus der
Fraktion Die Linke, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Mitglieder aller Fraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 210 zu Petitionen
- Drucksache 17/4534 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 211 zu Petitionen
- Drucksache 17/4535 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 211 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 212 zu Petitionen
- Drucksache 17/4536 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 213 zu Petitionen
- Drucksache 17/4537 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 214 zu Petitionen
- Drucksache 17/4538 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 215 zu Petitionen
- Drucksache 17/4539 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 216 zu Petitionen
- Drucksache 17/4540 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktionen SPD und
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 217 zu Petitionen
- Drucksache 17/4541 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote
Ich eröffne die Aussprache.
Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Caren
Marks für die SPD-Fraktion.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen. Sie bekommen nichts“, so Simone de Beauvoir.
So wird es kommen mit dieser schwarz-gelben Bundesregierung; denn diese Regierung unternimmt nichts,
um die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu
verbessern. So sind Frauen in Führungspositionen immer noch mit der Lupe zu suchen. Aber anstatt entschlossen als Bundesregierung zu handeln, streiten sich
erst einmal die Frauen- und die Arbeitsministerin in aller
Öffentlichkeit. Während die zuständige Frauenministerin Schröder stur auf Freiwilligkeit der Unternehmen
setzt, hat Frau von der Leyen ganz plötzlich die Notwendigkeit einer gesetzlichen Quote erkannt.
({0})
Wirtschaftsminister Brüderle mischt sich auch noch in
den Streit ein und springt Frau Schröder zur Seite. Er hat
nicht begriffen, dass die Wirtschaft von mehr Frauen an
der Spitze profitieren würde. Schade eigentlich, dass die
Streithähne bei der Debatte heute nicht anwesend sind.
({1})
Dann kam das Machtwort der Kanzlerin: Mit ihr
werde es keine Quote geben. Frau Merkel lässt die
Frauen zum wiederholten Male im Stich. Dabei zeigen
aktuelle Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der
Frauen die Einführung einer Quote für richtig und notwendig hält.
({2})
Hier bleibt nur ein Schluss: Machterhalt durch verordneten Koalitionsfrieden steht für die Kanzlerin über erforderlichem Regierungshandeln. Das ist eine Klatsche ins
Gesicht der Frauen in unserem Land.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dass
Frau von der Leyen wie bei so vielen sozialdemokratischen Forderungen auch in diesem Fall wieder einmal
auf die Position der SPD geschwenkt ist. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert schon seit langem eine gesetzliche Frauenquote von mindestens 40 Prozent in Aufsichtsräten und Vorständen großer Unternehmen.
({4})
In ihrer Zeit als Familienministerin und Frauenministerin haben wir von Frau von der Leyen eine solche Forderung nicht vernommen. Bereits damals hätte sie sich für
eine gesetzliche Quote und somit für die Frauen in diesem Land starkmachen können.
({5})
Doch es geht der Ministerin nicht wirklich um die
Frauen. Die Zeit ist günstig. Es geht ihr - wie so oft vor allem um eine gute PR.
({6})
Ganz aktuell hätte sie sich als Arbeitsministerin bei
den Hartz-IV-Verhandlungen für einen gesetzlichen
Mindestlohn starkmachen können, von dem vor allem
Frauen profitiert hätten. Hat sie aber nicht, wie wir wissen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Weshalb Frauenministerin Schröder nach wie vor unbeirrt nur auf unverbindliche Selbstverpflichtungen der
Unternehmen setzt, ist definitiv nicht nachzuvollziehen.
Fakt ist, die vor zehn Jahren von der Bundesregierung
mit der Wirtschaft geschlossene Vereinbarung hat keine
Erfolge gebracht. Der Frauenanteil in Führungspositionen ist nach wie vor beschämend gering. Doch Frau
Schröder zieht aus dieser Erfahrung keine entsprechenden Schlussfolgerungen. Das rigorose Nein der Kanzlerin zur Quote ist nicht nur eine Ohrfeige für Frau von der
Leyen, sondern eine Ohrfeige für alle Frauen.
({8})
Auch die Kanzlerin hofft wohl darauf, dass die männerdominierten Chefetagen zukünftig lernfähig werden. Ich
denke, diese Hoffnung ist alles andere als berechtigt.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftliche Debatte über die Notwendigkeit einer Frauenquote
wurde von Norwegen angestoßen. Norwegen hat als erstes Land eine Geschlechterquote von 40 Prozent für
Aufsichtsräte eingeführt. Dies ist übrigens im Jahr 2003
geschehen. Heute ist eine Quote von 42 Prozent erreicht.
Vor der Gesetzesverabschiedung lag die Quote bei
7 Prozent.
Diese Erfahrungen in Norwegen machen doch mehr
als deutlich: Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gesetzliche Quote; sanktionsbewehrt muss sie zudem sein. Die
Quote ist in Norwegen akzeptiert. Sie funktioniert und
löst keine Debatten mehr aus. In Spanien ist im Jahr
2007 eine Frauenquote eingeführt worden. Ganz aktuell,
im Januar 2011, hat das französische Parlament die Einführung einer Frauenquote für die Wirtschaft beschlossen. Ein Frauenanteil von 40 Prozent in Vorstandsetagen
muss binnen sechs Jahren erreicht werden.
({10})
Was erleben wir aber gegenwärtig bei uns? Kabinettsmitglieder streiten sich untereinander. Die Kanzlerin
versucht, die Diskussion zu ersticken. Doch es wird ihr
nicht gelingen, diese Diskussion in der Gesellschaft zu
ersticken. Im Kabinett hat sie das vielleicht für einen
Moment geschafft, in der Gesellschaft wird ihr das aber
nicht gelingen.
Die Forderungen der Frauen werden zu Recht lauter.
Die gesetzliche Quote wird kommen müssen, wenn nicht
mit dieser Regierung, dann - so sage ich den Frauen im
Land - spätestens im Jahr 2013 mit einer anderen Regierung.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Nadine Schön für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nein, ich mag die Quote nicht - eigentlich. Es
müsste doch auch ohne gehen - eigentlich. Meine Altersgenossinnen und ich sind hervorragend ausgebildet,
und es gibt doch Möglichkeiten der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Uns stehen doch alle Wege offen.
Was sollte uns aufhalten? Eigentlich wissen die Firmen,
dass gemischte Teams erfolgreicher sind. Sie wissen,
dass sie Frauen auf allen Ebenen brauchen.
({0})
Es müsste doch eigentlich auch auf freiwilliger Basis gehen. - Es sollte, es müsste, eigentlich. Es sollte und
müsste sich ohne Druck entwickeln. Das hat man schon
2001 gesagt. Dann wurde verkündet, dass man keine
Quote brauche, weil sich von nun an alles gut entwickeln
werde. Sogar eine freiwillige Selbstverpflichtung wurde
abgeschlossen. So überzeugt war man davon, dass man
den Anteil von Frauen in Führungspositionen alsbald erhöhen werde. Klare Ziele hat man nicht definiert.
Sehr geehrte Frau Marks, weil Sie sich hier derart
echauffieren:
({1})
Die Geschichten von damals, als Sie eine Frauenquote
gefordert haben und Bundeskanzler Schröder mit seinen
Bossen Sie zurückgepfiffen und die freiwillige Selbstverpflichtung präsentiert hat, sind legendär.
({2})
Deshalb würde ich mich an Ihrer Stelle hier sehr zurückhalten.
({3})
Fakt ist leider: Die Bilanz nach zehn Jahren ist ernüchternd. In den Vorständen sind nicht einmal 3 Prozent Frauen; in den Aufsichtsräten sieht es kaum besser
aus. Eine gute Ausbildung und eine familienfreundliche
Arbeitswelt hielt man auch in Norwegen und Frankreich
lange Zeit für ausreichend. Die beiden Länder sind in
dieser Hinsicht - das müssen wir zugeben - vorbildlich.
({4})
Doch auch hier musste man erkennen: Das allein reicht
nicht. Es gab trotzdem nicht mehr Frauen in Führungspositionen; es gab trotzdem eine gläserne Decke. Deshalb haben sich diese Länder entschlossen, zu strengeren
Maßnahmen zu greifen. Damit sind sie, wie in Norwegen zu beobachten ist, sehr erfolgreich.
({5})
Dass das „es sollte“, „es müsste“, „eigentlich“ und
„es wird schon“ nicht funktioniert, diese bittere Erfahrung haben nun schon genug andere vor uns machen
müssen. Ausbildung ist wichtig, Coaching ist wichtig,
Kinderbetreuung ist wichtig, auch der eigene Aufstiegswille ist wichtig, doch das alles führt nicht in die Chefetage. Das belegen zahlreiche Studien und die genannten
Beispiele. Denn der Vorstand wird vom Aufsichtsrat gewählt, und wer für den Aufsichtsrat vorgeschlagen wird,
das bestimmt der Aufsichtsrat selbst. Interessante Einblicke, wie das funktioniert, hat uns neulich das manager
magazin ermöglicht. Man spielt zusammen Fußball, geht
zusammen wandern und Ski fahren. Dabei wird dann
überlegt, wer zu einem passt, wen man aufnehmen
könnte. Dadurch bleibt man halt unter sich.
({6})
Das ist wahrscheinlich kein böser Wille; aber es ist die
Realität. Es ist eine Realität, die 50 Prozent der Bevölkerung außen vor lässt. Solange keine Frauen in diesen Zirkeln vorkommen oder nur vereinzelt dort zu finden sind,
so lange wird sich daran nichts ändern.
({7})
Um diese Strukturen aufzubrechen, braucht man klare
Vorgaben. Ist erst einmal eine qualifizierte Größe, eine
gewisse Anzahl an Frauen vorhanden, regelt sich der
Rest von alleine.
({8})
Auf dem Weg zu dieser qualifizierten Größe - damit ist
nicht die Art der Qualifikation gemeint, sondern eine gewisse Mindestanzahl, liebe Kollegin Marks; dies sage
ich nur zur Erläuterung ({9})
ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik gefragt. Wir können nicht weiter vor uns hin dümpeln. Wir
brauchen konkrete und verbindliche Schritte mit klaren
Zielen.
({10})
Nadine Schön ({11})
Wir müssen dabei nicht alle über einen Kamm scheren. Eine feste Quote kann durchaus zu Schwierigkeiten
führen.
({12})
Jedes Unternehmen kann sich mit der Flexiquote seinen
eigenen Fahrplan zurechtlegen;
({13})
denn ein Automobilunternehmen - das werden wohl
auch Sie wissen - ist von Natur aus eher männlich geprägt
({14})
als zum Beispiel eine Bank, die durchaus viele Juristinnen und BWLerinnen beschäftigt und eine Quote leichter und schneller erfüllen kann.
({15})
Klar ist aber: Wir müssen politisch und, wie ich
meine, auch gesetzlich einfordern, dass in großen Konzernen in Gremien mit zum Beispiel zehn Mitgliedern
sehr bald mindestens drei Stühle von Frauen besetzt werden. Das ist, denke ich, das Mindeste, das wir verlangen
können.
({16})
Ich will keine weiteren zehn Jahre darauf warten. Wir
brauchen einen Stufenplan mit konkreten und verbindlichen Schritten, um dieses Ziel zu erreichen.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen in
Norwegen und Frankreich haben gezeigt - das konnten
wir auch in Deutschland beobachten -: Ohne diese konkreten, verbindlichen Schritte werden wir nicht vorankommen. Die Liste derjenigen, die schon immer gegen
eine Quote waren, ist lang. Aber immer länger wird die
Liste derjenigen, die feststellen: Es geht einfach nicht
ohne.
({18})
In der Titelgeschichte des Spiegel von vor zwei Wochen
ist sehr deutlich geworden, dass sich diese Erkenntnis
bei vielen durchgesetzt hat: Caren Miosga und Ilse
Aigner - sie wurden bereits genannt -,
({19})
die beiden Redakteurinnen, 73 Prozent der Frauen und
60 Prozent der Männer sind mittlerweile für eine Quote
für Führungspositionen.
({20})
Auch ich gehöre zu diesen 73 Prozent der Frauen. Ich
habe mich dazu durchgerungen, eine Quote zu wollen;
denn ich will nicht, dass meine Altersgenossinnen und
ich die nächste Generation sind, die an der gläsernen Decke kleben bleibt.
Vielen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war
eine gute Argumentation, die deutlich gemacht hat, warum die CDU-Vorsitzende unrecht hat,
({0})
wenn sie sagt, man brauche keine Quote, wie wir soeben
von Frau Schön gehört haben. Es ist bedauerlich, dass es
kein einziges der Regierungsmitglieder, die sich immer
wieder zu diesem Thema geäußert haben, für notwendig
hält, mit uns, dem Parlament, darüber zu diskutieren.
({1})
Es gab einmal eine Zeit, in der für die Mehrheit unvorstellbar war, dass Frauen wählen. Heute ist das Frauenwahlrecht Realität. Aber es lohnt, die Argumente, die
damals ins Feld geführt wurden, um das Frauenwahlrecht aufzuhalten, zu studieren. Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir gab in ihrem Klassiker Das
andere Geschlecht einen sehr amüsanten Überblick über
die Argumente, die damals galten. Es hieß, die Frau
würde ihren Charme verlieren, wenn sie wähle. Sie beherrsche den Mann doch auch ohne Stimmzettel. Oder
- ganz schlimm -: Politische Diskussionen würden zur
Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten führen.
Eine andere Aussage lautete: Die Hände von Frauen sind
nicht bestimmt zum Falten von Stimmzetteln.
({2})
Heute rufen solche Argumente bei uns natürlich nur
amüsiertes Lachen hervor. Überzeugen können die Argumente niemanden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass in
naher Zukunft all die Argumente, die heute noch gegen
eine Quote in Aufsichtsräten angeführt werden, dasselbe
Schicksal erfahren: dass wir nur noch amüsiert über sie
lachen und sagen, dass sie eher etwas fürs Museum sind,
unter der Überschrift „Es war einmal …“
({3})
All den Gegnerinnen und Gegnern der Frauenquote sei
gesagt: Sie können den Fortschritt vielleicht verzögern;
aber Sie können ihn nicht aufhalten. Sie kämpfen gegen
die Zukunft.
({4})
Leider sind diese Argumente immer noch Realität. Insofern müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Ein
klassisches Abwehrmuster besteht in der Unterstellung,
es gebe nicht genügend kompetente Frauen. Das ist sehr
bezeichnend. Auch als in Norwegen im Jahre 2006 die
40-Prozent-Quote eingeführt wurde, warnte manch einer
vor einem Mangel an kompetenten Frauen. Die Praxis
konnte diese Sorge ausräumen. Glauben Sie ernsthaft,
dass all die Männer, die hochbezahlte Posten in Aufsichtsräten haben, nur aufgrund ihrer Kompetenz dort
sitzen?
({5})
Glauben Sie ernsthaft, dass dabei nicht auch Vitamin B,
also Beziehungen zu - ich sage es einmal so - eher männerlastigen Machtnetzwerken, eine Rolle gespielt hat?
({6})
Eine weitere Verzögerungstaktik besteht darin, auf die
Freiwilligkeit der Wirtschaft zu setzen. Das haben schon
mehrere Regierungen hintereinander versucht. Das Ergebnis ist bekannt: Weniger als 1 Prozent der Vorstände
in den 100 größten deutschen Unternehmen sind weiblich. Insgesamt, so sagt man, besetzen Frauen maximal
10 Prozent der Posten in Aufsichtsgremien. Die Bundeskanzlerin und Ministerin Schröder wollen trotzdem weiterhin auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft setzen. Ich
sage es einmal so: Im Vergleich dazu ist der Glaube an
den Weihnachtsmann ein geradezu seriöses Projekt.
({7})
Die Linke meint: Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit
wollen, dann brauchen wir verbindliche Regelungen.
Wir dürfen uns von der Wirtschaft nicht länger auf der
Nase herumtanzen lassen.
({8})
Die Frauenquote in Aufsichtsräten ist natürlich kein
Allheilmittel zur Überwindung des Patriarchats. Dazu
sind die Benachteiligungen von Frauen zu tief in unserer
Gesellschaft verankert. So manches Gesetz verschärft
sie sogar. Eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen,
sind die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft bei Hartz IV. Das Wort „Bedarfsgemeinschaft“ ist
Behördendeutsch und bedeutet, dass Menschen, die länger als ein Jahr zusammenleben, automatisch unterstellt
wird, sie hätten eine eheliche Gemeinschaft, sodass ihre
Einkommen im Hinblick auf die Höhe von Sozialleistungen angerechnet werden.
Kürzlich habe ich mich in meiner Funktion als Ausschussvorsitzende mit Frauenverbänden ganz unterschiedlicher politischer Couleur getroffen. Mir wurden
sehr bewegende Fälle geschildert, die deutlich gemacht
haben, dass die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft gerade Frauen in unerträgliche Situationen
bringen. Zum Beispiel wird es Alleinerziehenden, die
Teilzeit arbeiten und deswegen auf Hartz IV angewiesen
sind, faktisch unmöglich gemacht, eine neue Beziehung
einzugehen. Denn wenn sie einen neuen Partner finden
und mit diesem zusammenziehen wollen, wird dessen
Einkommen sofort beim Kind angerechnet. Auch das ist
nicht im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit.
({9})
Ich rufe all jenen Frauen und Männern, die sich heute
so engagiert für Geschlechtergerechtigkeit auf den oberen Etagen einsetzen, zu: Sorgen wir dafür, dass
Geschlechtergerechtigkeit auf allen Etagen der Einkommenshierarchie herrscht! Wir brauchen Geschlechtergerechtigkeit in den Chef- und Chefinnenetagen genauso
wie im Erdgeschoss. Stellen wir endlich die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand!
({10})
Die Linke meint, es bedarf beides: der Abschaffung
der Bedarfsgemeinschaft sowie einer Quote für Aufsichtsräte. Dafür spricht vieles, unter anderem Folgendes: Je mehr Chefinnen es gibt, desto mehr wird unsere
Vorstellung von guter Führung von ihren männlichen
Prototypen losgelöst. Diese Vorbildwirkung auf die Berufswünsche von jungen Mädchen ist nicht zu unterschätzen.
({11})
Wir wollen schließlich, dass in Zukunft mehr junge
Mädchen, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden,
nicht „Balletttänzerin“, sondern auch „Chefin“ antworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif für
eine geschlechtergerechte Besetzung der Aufsichtsräte.
Mindestens jeder zweite Aufsichtsposten gehört in Frauenhand.
Danke schön.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bracht-Bendt für
die FDP-Fraktion.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn es nach der SPD-Fraktion ginge, würde man die
Gesetzeskeule herausholen, und alle Fragen wären gelöst.
({0})
Erst einmal gibt es eine staatlich verordnete Frauenquote, und dann werden familienfreundliche Arbeitszeiten ganz einfach per Gesetz geregelt, wie es die SPDFraktion erst vor wenigen Tagen in einer Pressemitteilung gefordert hat.
Die Wirtschaft an die Kandare zu nehmen und ihr
vorzuschreiben, wen sie einstellen soll und wie Familienfreundlichkeit umzusetzen ist, ist ein Witz. Mit uns Liberalen ist das nicht zu machen.
({1})
Es steht außer Frage: Nach wie vor sind gerade einmal
3,2 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten Unternehmen mit Frauen besetzt. Das ist nicht akzeptabel, und
das muss sich ändern. Aber starre, gesetzlich verankerte
Frauenquoten sind der falsche Weg.
({2})
Ich bin froh, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel der
Frauenquote eine Absage erteilt hat. Starre Quoten sind
mit dem Grundgesetz ohnehin nicht vereinbar, wie der
Verfassungsrechtler Ossenbühl dem Familienministerium gerade bescheinigt hat,
({3})
weil sie - ich zitiere - „nicht auf die Herstellung von
Chancengleichheit, sondern der Ergebnisgleichheit gerichtet sind“. Dieses Urteil bestätigt die Einschätzung
der FDP-Fraktion.
({4})
Für uns ist eine starre Quote nichts anderes als Planwirtschaft.
({5})
Personalauswahl im Betrieb ist keine Sache des Staates.
Dass die SPD und die Grünen in der Quote das Allheilmittel sehen, ist nicht neu.
({6})
Warum unter rot-grüner Regierung hier nichts passiert
ist, frage ich mich natürlich.
({7})
Ich frage mich aber auch, warum die Arbeitsministerin
ausgerechnet jetzt, wo es endlich Signale für einen Wandel in der Wirtschaft gibt, eine starre Quote in der Verbindung mit Sanktionen einfordert.
({8})
Das steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, und
dieser stellt für uns Liberale in dieser Legislaturperiode
die Grundlage dar. Im Koalitionsvertrag haben wir einen
Stufenplan verabschiedet, und dieser sieht als ersten
Schritt die Berichtspflichten, also die Offenlegung der
Unternehmen über die Besetzung ihrer Führungspositionen, vor.
({9})
2013 wollen wir evaluieren, und dann werden wir sehen,
was zu tun ist.
Wir Liberale setzen auf die Eigenverantwortung der
Unternehmen.
({10})
Selbstverpflichtung, wie es die Telekom vormacht, ist
für die FDP-Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt das Instrument, das wir von den Unternehmen erwarten. Die Wirtschaft ist also in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, damit Frauen auf dem Weg nach oben nicht länger
ausgebremst werden.
({11})
Die FDP-Fraktion unterstützt die Kanzlerin in ihrem Appell, das nicht auf die lange Bank zu schieben.
Für uns ist Diversity das Schlüsselwort. Dabei kann
es aber nicht nur um das Geschlecht gehen, sondern es
muss auch um Herkunft und Lebenserfahrung gehen.
Die Mischung macht erfolgreich. Jeder feste Prozentsatz
ist für mich eine Form der Diskriminierung, weil er bei
der Personalauswahl unter Umständen Anforderungen
an die Stelle überlagert. Außerdem degradiert eine
Quote alle Frauen, die es auch so geschafft hätten.
({12})
Meine Damen und Herren, wenn wir über zu wenige
Frauen auf dem Chefsessel reden, dann haben wir meistens die Situation in großen Konzernen vor Augen. Wir
sollten uns einmal an mittelständischen Unternehmen
orientieren; denn hier sind Frauen in Führungspositionen
längst keine Ausnahme mehr.
({13})
Der Mittelstand praktiziert längst, worüber wir die ganze
Zeit reden. Viele Unternehmen sind flexibel bei der Gestaltung von Arbeitszeiten; es gibt individuelle Lösungen. Die Grundhaltung ist dort häufig eine andere als in
den Konzernen: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinder
hat, ist flexibel, pragmatisch, organisiert und belastbar.
Familie ist längst keine Privatsache mehr. Viele
Frauen verabschieden sich nach der Geburt eines Kindes
nicht mehr für einige Jahre aus der Arbeitswelt - und das
ist auch gut so. Jedes Jahr Auszeit aus dem Beruf heißt
weniger Gehalt und weniger Rente. Vorbei sind auch die
Zeiten, in denen die Väter kein Problem mit langen
Bürozeiten hatten. Viele Väter sind nicht länger bereit,
ihren Nachwuchs nur am Wochenende zu erleben. Die
Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich
nicht nur mit Kindern, sondern auch, wenn pflegebedürftige Angehörige zu versorgen sind.
Dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft jetzt die Charta
für familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet hat,
zeigt, dass Politiker und Wirtschaftsvertreter dieses
Thema ernst nehmen. Langzeitkonten, Telearbeit, Teilzeit oder Gleitzeit sind die Stichworte, mit denen die
Vereinbarkeit erleichtert wird. Familiengerechte Strukturen erfordern Kreativität und schaffen Win-win-Situationen. Das ist es, was wir wollen.
({14})
Wir wollen keine einseitigen Lösungen, sondern Arbeitsbedingungen, die den Spagat zwischen Familie und
Beruf für Frauen und Männer erleichtern.
({15})
Das steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter,
sondern auch die Produktivität des Unternehmens.
Berichtspflichten als erster Schritt des Stufenplans,
die Selbstverpflichtung der Unternehmen und flexible
Arbeitszeiten - das sind für mich im Moment die wichtigsten Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nach
dem, was Sie heute hier ausgeführt haben, erstaunt es
mich schon, dass es Ihnen in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist, gemeinsam mit der SPD den
Stufenplan auf den Weg zu bringen.
({17})
Die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist nun die nächste Rednerin.
({0})
Meine Damen! Meine Herren! Als wir im Dezember
des letzten Jahres über den Antrag der Grünen diskutiert
haben, eine Mindestquote für Frauen und Männer in den
Aufsichtsräten von 40 Prozent einzuführen, war die Debatte durchaus kritischer als heute; das will ich durchaus
konzedieren. Es könnte hier also einmal Morgenröte am
Himmel entstehen.
({0})
Trotzdem muss ich sagen, dass die Aufführung zu der
Quote mit einer nicht zuständigen Arbeitsministerin, einer zuständigen Ministerin und einer Kanzlerin für mich
doch irgendwie ganz großes Kino war.
({1})
Ich finde es aber schade, dass dieser Film in den Medien
aufpoppen darf, während es keine einzige der Vertreterinnen für nötig gehalten hat, hier zu erscheinen und mit
uns darüber zu diskutieren.
({2})
Ich verstehe die Zwischenrufe der Frauen zu einer
früheren, anderen Regierungsbeteiligung. Ich will aber
gar nicht nur Aufarbeitung betreiben.
({3})
Ich zitiere einen Satz, der von mir kommen könnte, aber
in dieser Variante nicht von mir kommt. Der Satz heißt:
Es ist ein ziemlicher Skandal, dass in den 200 größten
deutschen Unternehmen nur 3 bis 4 Prozent der Spitzenfunktionen mit Frauen besetzt sind. - Er stammt von
Frau Merkel.
({4})
Wer den Mund so spitzt, der muss aber auch pfeifen.
({5})
Wer die Richtlinienkompetenz hat, der sollte auch einen
Vorschlag machen, der hier diskutiert wird. Gutes Zureden hilft hier nicht.
Nach 60 Jahren Verfassung des Grundgesetzes und
10 Jahren Selbstverpflichtung müssen wir uns doch fragen: Wo ist eigentlich das Primat der Politik?
({6})
Wir müssen heute feststellen, dass die Frauen in diesem
Land das nicht mehr akzeptieren. Unternehmerinnen haben den Verband FidAR gegründet, eine Initiative für
mehr Frauen in die Aufsichtsräte. Der Deutsche Juristinnenbund setzt sich seit ewig und drei Tagen dafür ein.
Der Verband deutscher Unternehmerinnen ist mittlerweile ganz dicht dran. Alle sagen: Wir wollen nicht mehr
warten; wir wollen jetzt Taten sehen.
({7})
Das spricht insbesondere uns Frauen im Bundestag an.
Mit Verlaub, ein leichter Spott muss sein: Das Motto
„Verpflichtung zur Selbstverpflichtung“, das die Ministerin ausgegeben hat, erinnert mich an eine Übersetzung
des Wortes „Schizophrenie“ ins Deutsche: Spaltungsirresein. Sie will eine Verpflichtung zur Selbstverpflichtung - nach 60 Jahren Grundgesetz und 10 Jahren
Selbstverpflichtung. Wir haben zudem nach der Wende
einen Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz verankert.
Denn schon das, was Elisabeth Selbert und andere
Frauen seinerzeit im Parlamentarischen Rat erkämpft haben, wurde für zu eng empfunden und in einen aktiven
Gleichstellungsauftrag umgewandelt. Der Staat muss für
die Gleichstellung Sorge tragen. Nach alledem reicht uns
die Verpflichtung zur Selbstverpflichtung nicht.
({8})
Wenn jetzt jemand sagt, eine Quote sei diskriminierend - tatsächlich wäre sie keine Frauenquote, sondern
eine Mindestquote beider Geschlechter -, dann sollten
wir zunächst einmal die jetzige Situation betrachten.
({9})
Eine fast hundertprozentige Männerquote in den Vorständen und Aufsichtsräten ist die schärfste Diskriminierung. Dieser Zustand ist verfassungswidrig.
({10})
Der aktive Gleichstellungsauftrag, dass Frauen überall
vertreten zu sein haben, wird nicht ernst genommen und
nicht realisiert. In Wahrheit geht es uns nicht darum, Privilegien für Frauen zu schaffen, sondern darum, diesen
verfassungswidrigen Zustand endlich abzuschaffen.
({11})
Die Frauen machen die Hälfte der Menschen des Landes
aus. Nicht wir Frauen müssen begründen, warum wir
wohin wollen, sondern die Männer müssen begründen,
warum immer nur sie die Stühle besetzen. Das ist die
Wahrheit.
({12})
Wie erklären wir eigentlich den Abiturientinnen, deren Anteil 55 Prozent beträgt, diese Situation? Frau
Schön hat vorhin gesagt, ihre Generation solle nicht
auch noch warten müssen. Wie erklären wir den Hochschulabsolventinnen, deren Anteil 51 Prozent beträgt,
dass sie warten sollen? Der Anteil der Absolventinnen
der Wirtschaftswissenschaften beträgt bei besseren Abschlüssen als die männlichen Absolventen 55 Prozent.
Wie erklären wir dem deutschen Unternehmerinnenverband mit seiner Datenbank für topqualifizierte Frauen, in
der 400 Frauen geführt werden, die sofort in die Aufsichtsräte eintreten könnten, dass wir nicht endlich Maßnahmen ergreifen?
({13})
Ich will nicht mit einem Zitat von Elisabeth Selbert
schließen, die die SPD in den Parlamentarischen Rat entsandt hat, sondern mit einem Satz von Monika Grütters
von der CDU, die gesagt hat, es wäre naiv, einfach so
weiterzumachen. Lassen Sie mich von Herzen einen
Wunsch an alle Männer, aber vor allem an alle Frauen
des Deutschen Bundestags richten. Wer, wenn nicht wir
Frauen, ist jetzt gefragt, zu sagen: „Das Recht nehmen
wir uns auch raus“? Bei Themen wie Patientenverfügung
oder PID nehmen sich oft Frauen, aber auch viele Männer mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit das Recht heraus, eine Initiative aus der Mitte des Hauses vorzuschlagen.
({14})
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Nachdem wir den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und
erkämpft haben, dass die Vergewaltigung in der Ehe genauso strafbar ist wie die Vergewaltigung außerhalb der
Ehe, sage ich deutlich: Meine Fraktion ist bereit, den
40-Prozent-Antrag beiseitezuschieben und gemeinsam
mit Ihnen die Initiative zu ergreifen. Darum werbe ich.
Alle Frauen dieses Bundestages verfassen gemeinsam
einen neuen Antrag. Lassen Sie uns mit dem Aufsichtsrat anfangen.
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Wir Frauen müssen das jetzt beginnen.
({0})
Die Kollegin Dorothee Bär hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir müssen hier heute nicht debattieren, was
wäre, wenn hier vor zehn Jahren seriöse Politiker regiert
hätten
({0})
und nicht Cohiba, Barolo und Brioni die Politik der Bundesrepublik Deutschland geprägt hätten.
({1})
Man muss sich nur einmal alte Zeitungsartikel anschauen. Familienministerin Bergmann hat schon im
September 2000 Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz vorgelegt. Dann gab es, wie zu erwarten, Widerspruch von Hundt und Rogowski bei Bundeskanzler
Schröder. Daraufhin hat Herr Uwe-Karsten Heye gesagt
- Zitat in der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2001 -:
Es gibt auf beiden Seiten keine große Neigung, ein großes regulatives Gesetz zu machen.
({2})
Gleiches Zitat von Wirtschaftsminister Werner Müller:
Wir brauchen eine Selbstverpflichtung. Auch bei den
Grünen, Frau Margareta Wolf, Parlamentarische Staatssekretärin, heißt es: Wir setzen auf Eigeninitiative. Gesetzliche Verpflichtungen brauchen wir nicht.
({3})
Im Juli 2001 war es dann so perfide, dass die arme
Frau Bergmann von Bundeskanzler Schröder gezwungen wurde,
({4})
auf Druck das Scheitern auch noch positiv darzulegen.
Sie musste bejubeln, dass es quasi zu keinem Ergebnis
gekommen war, und hat in einem langen Interview mit
der Welt am 5. Juli 2001 gesagt: Wir haben etwas ganz
Großartiges geleistet. Das wird die Republik verändern.
({5})
Ich darf sie noch einmal aus 2001 zitieren, als sie gesagt
hat: Gute Kräfte werden knapp. Das Thema Chancengleichheit ist in Deutschland zu lange vernachlässigt
worden. - Das spannendste Zitat, das man nicht nur
2001 glauben konnte, sondern das auch für 2011 angemessen wäre: Nach wie vor ist vielen hiesigen Arbeitgebern, im Vergleich zu den USA, noch nicht klar geworden, über welches Potenzial wir hier mit den gut
qualifizierten Frauen verfügen, die wir in der nächsten
Zeit dringend brauchen werden.
({6})
Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass damals schon
erkannt wurde, was sich eigentlich bis zum Jahr 2011
überhaupt nicht geändert hat. Jetzt gibt es eine Aktuelle
Stunde mit dem Thema „Unterschiedliche Auffassungen
in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote“.
({7})
Ich muss einmal sagen: Das Thema „Frauenquote“ bzw.
„Beteiligung von Frauen“ ist in keiner anderen Regierung so angekommen wie in dieser Bundesregierung.
({8})
Man kann es negativ sehen, so wie Sie, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt. Man kann das aber auch
positiv sehen. Ich sehe das positiv, weil es bedeutet, dass
das Thema angekommen ist, dass sich in der Zielsetzung, dass wir mehr Frauen brauchen, alle einig sind,
dass erkannt wurde, dass wir mehr Frauen in Führungspositionen brauchen und dass es jetzt um ein Ringen um
die beste Lösung geht.
({9})
Man kann machen, was vor zehn Jahren die rot-grüne
Bundesregierung getan hat, sich nämlich mit erhobenem
Zeigefinger hinstellen und den Unternehmen sagen:
„Du, du, du! Wenn ihr jetzt nichts macht, dann passiert
wieder nichts.“
({10})
Man kann aber auch einmal überlegen, wie es weitergeht.
Meine Kollegin Nadine Schön hat schon ausgeführt,
dass es da etwas ganz Schlimmes gibt. Dieses schlimme
Wort heißt Quote. Ich bin der festen Überzeugung, dass
das Schlimmste an der Quote das Wort „Quote“ ist; denn
wir haben das Problem, dass das ein verbranntes Wort
ist.
({11})
- Das Problem ist, dass Sie durch Ihr Geschrei überhaupt
nicht kapieren, was ich hier sage; aber das spricht natürlich auch eine deutliche Sprache.
({12})
Es geht immer auch um das Qualitätsargument. Wenn
Sie sich einmal den Bundestag mit seinen etwa
600 männlichen und weiblichen Abgeordneten anschauen, dann stellen sie fest, dass jeder zweite Abgeordnete und jede zweite Abgeordnete hier ein Quotenabgeordneter und eine Quotenabgeordnete ist.
({13})
Jeder Einzelne, der über die Liste gewählt wurde, ist ein
Quotenabgeordneter, weil jeder auf der Landesliste gelandet ist, weil man eine Frau oder ein Mann ist, weil
man aus einer bestimmten soziologischen Gruppe
kommt, weil man aus Proporzgründen einen bestimmten
Bereich seines jeweiligen Landes vertritt. Wenn es also
immer nur bei Frauen heißt, es gehe um die Qualität,
dann ist das mit uns nicht zu machen. Ich persönlich bin
nicht bereit, das, was Rot-Grün vor zehn Jahren vermurkst hat, noch einmal zehn Jahre lang mitzumachen.
({14})
Wir wollen die Zustände jetzt ändern und keine leeren
Drohungen mehr. Uns geht es nicht mehr um das Ob, es
geht nur noch um das Wie. Deswegen bin ich unseren
Ministerinnen sehr dankbar. Sowohl Frau von der Leyen
als auch Frau Schröder haben sich klar dazu bekannt.
Das ist wesentlich mehr, als Sie in zehn Jahren gemacht
haben. Denjenigen, die behaupten, dass es dramatisch
wäre, dass die Ministerinnen heute nicht anwesend sind
({15})
- hören Sie mal zu, Frau Künast; nicht nur an Wahlkampf denken, sondern auch mal zuhören -,
({16})
kann ich nur sagen: Es macht eine gute Chefin aus, so
gut zu sein, dass sie sogar an ihren männlichen Staatssekretär delegieren kann.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuallererst möchte ich den Vorschlag der Kollegin Künast für
die SPD-Fraktion annehmen. Frau Künast, wir haben
aber die Bitte, dass die Kerle auch unterschreiben dürfen, von mir aus hinten.
({0})
Ernsthaft gesprochen finde ich, dass wir uns bei diesem Thema ein gutes Maß an Souveränität nehmen dürfen. Wir dürfen doch sagen - das ist der berechtigte Vorwurf von CDU/CSU und FDP -, dass wir in unserer
Regierungszeit die Quote nicht hinbekommen haben.
Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt. Wir haben der
Wirtschaft zu lange geglaubt, übrigens nicht nur da. Ich
war einmal Umweltminister. Fragen Sie doch den jetzigen, wie viele Selbstverpflichtungserklärungen die deutsche Wirtschaft im Umweltschutz abgegeben hat: im
Dutzend billiger. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist nur: Sie wollen denen immer noch glauben. Wir
tun das nicht.
({1})
Ich kenne Ausnahmen, die der Wirtschaft nicht glauben
wollen. Eine sehe ich vor mir.
Lassen Sie es uns nicht so schwer machen. Wir können zunächst mit dem Stufenplan anfangen. Es geht
doch um Folgendes: Sie alle, auch die Vorrednerin, wissen besser als jeder männliche Kollege, der hier redet,
dass die Sichtweise von Männern und Frauen auf den
gleichen Alltag oftmals ganz unterschiedlich ist. Die
Quote soll dazu dienen, dass die Sichtweise von Frauen
in die Vorstands- und Führungsetagen von Unternehmen
einkehrt.
({2})
Darum geht es. Warum? Wieso sollten, wenn das nicht
der Fall ist, die Männer, die da sitzen, bessere Arbeitszeiten organisieren? Die Männer haben diese Belastung
zwischen Kindern und Beruf oder - noch konkreter zwischen Karriere und Kindern überhaupt nicht. Das
müssen doch in der Zeit ihre Frauen machen. Oder sie
haben keine Kinder. Es geht doch darum, dass die Arbeitszeitmodelle verbessert werden, dass wir Arbeit und
Leben wieder besser miteinander verbinden können, und
das partnerschaftlich.
({3})
In der Rushhour des Lebens, im Alter zwischen 20
und Ende 40, sollen wir alles machen: Karriere machen,
Kinder bekommen und eine gute Partnerschaft führen.
Das wird in Wahrheit nicht funktionieren, wenn nicht
auch andere Modelle des Zusammenlebens und des Zusammenführens von Arbeiten und Leben möglich sind,
zum Beispiel mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen.
Das muss doch auch Ihr Interesse sein. Es geht darum,
hier etwas voranzubringen, und nicht darum, hier einen
Schaumstreit abzuhalten. Ihre Kanzlerin hat jetzt eine
Ministerin in den Senkel gestellt und der anderen auch
nicht richtig geholfen. Ich sage bei Flexiquoten und all
solchem Quatsch nur eins: Es gibt einen alten Grundsatz:
Mit Gänsen können Sie nicht über einen Weihnachtsbraten diskutieren.
({4})
Das geht nicht, auch nicht, wenn es männliche Gänse
sind; da schon gar nicht. Das funktioniert nicht. Lassen
Sie es also sein.
Am Ende möchte ich ein Beispiel nennen, wo wir im
Alltag etwas nicht tun, was aber den Frauen richtig helfen könnte: Ich bin sehr für die Quote, aber ich will mir
nicht mehr diktieren lassen, dass das nur für Redaktionsleitungen im Spiegel wichtig ist oder für die Vorstände
der 30 DAX-Konzerne. Ich will, dass wir auch für die
Frauen etwas machen, die davon lange Zeit nichts haben
werden: für die Kassiererinnen im Einzelhandel, für die
Beschäftigten im Handwerk und für andere. Für diese
Gruppe müssen wir endlich durchsetzen: Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit. Darum geht es doch in Deutschland.
({5})
Da fallen Sie den Frauen in den Rücken, Frau von der
Leyen vorweg; denn das Prinzip „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ war Gegenstand der Hartz-IV-Verhandlungen. Dort haben Sie dagegen gestimmt. Die Mehrzahl
der Leiharbeitnehmer sind Frauen. 70 Prozent der
Frauen müssen für miserable Löhne arbeiten. Sie haben
es in der Hand, für diese Frauen etwas zu tun: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit. Sie aber lassen alles laufen und
kümmern sich nicht.
({6})
- Nein, es geht nicht um Veralbern. Es geht schon darum, dass du nicht nur abstrakte Debatten für einen Teil
der Gesellschaft führst, es geht schon darum, dass du
zeigst, dass du die im Blick hast, die ganz schlecht verdienen.
Jedes Jahr werden wir von der Europäischen Kommission gemahnt, dass es in Deutschland, was die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen betrifft, am
schlechtesten bestellt ist. Fast 25 Prozent weniger verdienen Frauen gegenüber Männern bei vergleichbaren
Tätigkeiten. Im selben Betrieb, in derselben Altersstufe,
im selben Beruf liegen die Frauenlöhne 12 Prozent unter
denen ihrer Kollegen an der Werkbank oder im Einzelhandel nebenan. Das wird jedes Jahr angemahnt.
Olaf Scholz hat als Arbeitsminister in der Großen Koalition dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Wer hat
den denn gestoppt? Den hat unter anderem Frau von der
Leyen im Kabinett gestoppt.
({7})
CDU und CSU waren nicht bereit, diesen Gesetzentwurf, der ein Schritt auf dem Weg zu gleichem Lohn für
gleiche Arbeit war, ins Kabinett einzubringen, geschweige denn in den Deutschen Bundestag. Reden Sie
also nicht ständig über etwas, was Sie im Alltag in
Wahrheit nicht wollen, sondern setzen Sie sich als Parlamentarier und Parlamentarierinnen so durch, wie die
Kollegin Künast es gesagt hat! Unsere Unterstützung haben Sie. Aber machen Sie das nicht nur für die DAXVorstände, sondern auch für die, die es verdammt schwer
haben, für gute Arbeit endlich gutes Geld zu bekommen!
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Marco Buschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nichts hat das Desinteresse von Herrn Gabriel
am Thema so belegt wie diese Rede. Sie haben nicht zur
Sache gesprochen,
({0})
sondern Sie haben die Aktuelle Stunde missbräuchlich
zum Forum für eine Wahlkampfrede gemacht, die zum
Thema dieser Aktuellen Stunde nichts beigetragen hat.
Nichts dokumentiert das Desinteresse mehr als dieser
Beitrag.
({1})
Jetzt kommen wir zurück zur Aktuellen Stunde, in der
es eigentlich um zwei Themenbereiche geht. Der eine
betrifft, wenn ich es so nennen darf, den Vorwurf der
Vielstimmigkeit in der Bundesregierung, der andere betrifft die Frage, warum man nicht mit starren Quoten arbeitet. Auf beides möchte ich jetzt eingehen, weil ich das
für ein wichtiges Thema halte.
({2})
Frau Künast, es ist ganz interessant - den Ball nehme
ich auf -, dass Sie der Bundesregierung den Vorwurf der
Vielstimmigkeit machen. Ich kann erst einmal nicht erkennen, was ein Problem daran sein soll, mit unterschiedlichen Arbeitshypothesen in eine Diskussion zu
gehen. Zu diskutieren, muss auch einer Bundesregierung
möglich sein. Dass Sie, ausgerechnet die Grünen, der
Bundesregierung Vielstimmigkeit vorwerfen, ist doch
ein Treppenwitz. Ich darf Sie an eines erinnern: Ihre Parteivorsitzende Claudia Roth, die das Thema offensichtlich nicht ausreichend interessiert, um hier an der Debatte teilzunehmen, konnte es gar nicht abwarten, um
sich auf Frau von der Leyen zu stürzen, als sie ihr Modell vorstellte. Sie hat dann den Vorwurf erhoben - ich
darf die dpa vom 31. Januar zitieren -, das sei eine Mogelpackung, weil sich der Vorschlag nur auf die börsennotierten Unternehmen beziehe, also die großen Unternehmen.
({3})
Das sei das Schlechte an dem Vorschlag. Das Interessante ist, dass die grünen Fachleute, wenn sie hier Anträge stellen, genau das fordern. Zuletzt haben sie das in
der Drucksache 17/3296 gefordert. Da heißt es wörtlich:
Der Mindestquote unterfallen börsennotierte und
der Mitbestimmung unterliegende Gesellschaften.
Es sind also nur große Unternehmen.
({4})
Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sie Frau von der
Leyen ausgerechnet in dem Punkt einen Vorwurf machen, bei dem Gemeinsamkeiten mit den Grünen bestehen. Das zeigt: Frau Roth ging es überhaupt nicht um die
Sache - sie hat sich damit überhaupt nicht vertraut gemacht -, sondern ihr ging es nur um Verhetzung eines
Mitglieds der Bundesregierung.
({5})
Sie hatte dabei so viel Schaum vorm Mund, dass sie gar
nicht mehr erkennen konnte, was die eigenen Fachleute
vortragen. Das ist eben auch eine Form von Misstrauen.
Nun komme ich zur Frage der Quote und der Frage,
warum wir uns in der Koalition und auch in der Regierung dagegen entschieden haben. Einmal ist aus gesellschaftsrechtlicher Sicht - ich stehe ja als Rechtspolitiker
hier - darauf hinzuweisen, dass es Kollateralschäden
auch in Norwegen gibt. Sie alle kennen die Beispiele:
Rechtsformwechsel, Delistings, also die Rückgabe der
Börsennotierung. Sie alle wissen auch, dass die Quote
eben nicht über Nacht dazu geführt hat, dass mehr
Frauen in Verantwortung kommen. Vielmehr konzentriert schlichtweg die gleiche Anzahl an Frauen mehr
Mandate auf sich. Das hat in Norwegen zu dem ganz unangenehmen Effekt geführt, dass mittlerweile eine neue
Diskriminierung umgeht. Es geht der Begriff der „Goldröcke“ um. Man schaut eben nicht mehr auf die Leistungen der Frauen, sondern macht ihnen neue Vorwürfe.
Das ist kein Vorteil für die Frauen.
({6})
Sie verweigern sich auch einer fundierten Analyse.
Frau Künast knüpft immer an die Berufsabschlüsse an
und zieht dann den Rückschluss auf die berufliche Karriere. Das Entscheidende ist doch, was dazwischen passiert. Wenn wir in die Erwerbsbiografien schauen, stellen wir fest, dass der entscheidende Dreh für den Sprung
in diese Führungspositionen irgendwo zwischen 35 und
40 Jahren gesetzt wird. Da kommt der große Swing.
({7})
Es ist auch hochinteressant, zu sehen, dass viele top ausgebildete, kluge und auch erfolgreiche Frauen genau in
diese Zeit die Kinderphase legen.
({8})
Das heißt doch, dass das Thema der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf und nicht die Quote das Entscheidende ist.
({9})
Ich sage Ihnen an einem Beispiel, wie das Frauen, die
beruflich sehr erfolgreich sind, sehen. Ich möchte
Daniela Weber-Ray, eine fantastische Frau, zitieren. Sie
ist Partnerin einer internationalen Sozietät, und sie
schrieb im Handelsblatt vor zwei Tagen:
Wir brauchen Unterstützung des Staates nicht hinsichtlich einer gesetzlichen Quote, sondern um den
Wandel der KKK-Kultur weg von Kinder, Küche,
Kirche hin zu Kinder, Krippe, Karriere zu vollziehen.
Das ist es, worum wir uns kümmern müssen.
({10})
Zuletzt möchte ich Sie noch an etwas erinnern. Sie
tun immer so, als würde in Deutschland nichts passieren.
Es ist eine ganze Menge passiert, seit diese Regierung
im Amt ist. Insofern möchte ich der Kollegin Dorothee
Bär beipflichten. Seit 2010 - nach der Regierungsübernahme ({11})
haben wir einen geänderten Corporate-Governance-Kodex, der jetzt auf mehr Diversity inklusive stärkerer Beteiligungen der Frauen setzt.
({12})
Und siehe da: Wir haben eine zuständige und anwesende
Ministerin, die die Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Seitdem sehen wir doch, dass etwas passiert. Wir sehen es
bei Eon und bei der Telekom. Daimler bringt Kandidatinnen ins Spiel, Karstadt bringt Kandidatinnen ins Spiel.
({13})
Die extrem prominenten Personalmaklerinnen Christine
Stimpel und Yvonne Beiertz sagen doch, sie kommen bei
der Vermittlung weiblicher Führungskräfte der Nachfrage gar nicht mehr hinterher.
Das mag noch zu langsam sein. Vielleicht können wir
es uns schneller vorstellen. Aber man kann Strukturen,
die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte falsch eingependelt haben, nicht mit Gewalt über Nacht ändern.
Wir gehen einen Weg, der zielgerichtet ist, und wir
werden Erfolg haben. Im Ergebnis muss man Ihnen,
Herr Gabriel und Frau Künast, sagen: Der Anlass dieser
Aktuellen Stunde war nicht die Sache. Sie wollten hier
Wahlkampf machen und mehr nicht. Das hat das Thema
nicht verdient. Dafür ist es zu wichtig.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun
Monika Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Buschmann, Sie waren leider wieder der Tiefpunkt
der Debatte.
({0})
Ich weiß ja nicht, wo die Männer die gebärfähige
Phase setzen. Aber wenn Sie eins und eins zusammenzählen können, kommt vielleicht auch bei Ihnen an, dass
die 30- bis 40-jährigen Frauen dort hineinfallen. Vielleicht sind Sie irgendwann lernfähig.
({1})
Wir diskutieren hier ein Thema, und ich habe das Gefühl, wir kommen nur sehr mühsam voran. Es ist wirklich absurd, dass eine allgemein als wichtig anerkannte
Maßnahme nicht umgesetzt wird. Sogar die FDP diskutiert wieder über eine parteiinterne Quote. Holen Sie
sich eventuell bei der Kollegin Bär von der CSU Anregungen. Die haben das vor kurzem geschafft.
Das Schauspiel, das die Koalition und die Bundesregierung zu diesem Thema aktuell liefern, befindet sich
leider auf Boulevardniveau. Deutschlands Männer und
Frauen schauen fassungslos auf das peinliche Stück. Dabei wäre es längst Zeit für Nägel mit Köpfen.
({2})
Stattdessen haben wir das Machtwort der Kanzlerin, die
der Frauenquote wieder einmal eine Absage erteilt. Sie
trifft sich lieber gemeinsam mit Ministerin Schröder mit
Vertretern der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Immerhin glauben Letztere nicht mehr, dass der Frauenanteil in Deutschlands Wirtschaft von alleine steigt. Arbeitgeberpräsident Hundt erklärt aber, dass mehr als 95 Prozent aller Unternehmen bereits Modelle zur Arbeitszeitflexibilisierung anbieten. Ich frage mich: Warum braucht
es die x-te Charta dazu? Bezeichnend ist, dass die Charta
wieder einmal von vier Männern unterzeichnet wurde.
Erfrischend war auch, in den letzten Tagen zu hören, was
Herr Ackermann dazu gesagt hat: Frauen in Führungspositionen machen das Leben „farbiger“ und „schöner“.
Da ätzten selbst das Handelsblatt und Ministerin Aigner,
das sei doch ein typischer Ackermann, nach dem Motto
„Unser Vorstand soll schöner werden.“
Kanzlerin Merkel hat zumindest erkannt: Es ist ein
„ziemlicher Skandal“, dass wir kaum Frauen in Führungspositionen haben. Aber skandalöse Zustände ändert man doch nicht mit einer Charta oder einer Vereinbarung. Wir haben in den letzten zehn Jahren gemerkt,
dass die Wirtschaft nichts von alleine macht. Die freiwillige Vereinbarung von 2001 wurde von Frau Bär schon
breit zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, wir sind alle etwas weitergekommen, und es hat
sich herausgestellt, dass einfach nichts passiert. Von daher: Bitte keine weiteren freiwilligen Vereinbarungen
und Chartas.
({3})
Ministerin Schröder spricht immer von der staatlichen
Einheitsquote. Schauen Sie bitte über den Tellerrand die Beispiele sind heute schon genannt worden - nach
Frankreich, Spanien oder Norwegen. Überall hat man
gemerkt: Ohne Quote geht es nicht. Wenn Ihnen das
Wort Quote nicht gefällt, dann nehmen Sie bitte ein anderes Wort. Es ist uns völlig egal. Sie können „Frauenqualität“ sagen oder was auch immer. Es kommt nicht
auf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass sich
in unserem Land etwas bewegt.
({4})
In Deutschland gibt es beispielsweise Unterschiede
zwischen Ost und West. Die wenigen Frauen in den Führungspositionen finden sich häufiger im Osten unseres
Landes. Das zeigt eine aktuelle Studie des IAB. Eine Ursache ist zum Beispiel die kürzere Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit. Das liegt unter anderem an der besseren Kinderbetreuung im Osten. Eine weitere Komponente kommt hinzu: Im Osten war die Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen völlig normal und auch die
Übernahme von Führungspositionen viel anerkannter,
als es teilweise noch heute im Westen der Fall ist. Ich
finde, das ist ein Beispiel, bei dem der Westen einmal etwas vom Osten lernen kann.
({5})
Ein weiteres Argument ist der gerade vorgestellte
Gleichstellungsbericht des Familienministeriums. Auch
dort heißt es: Die Quote ist erforderlich. - Ich frage mich
wirklich: Welche Argumente brauchen Sie noch? Auch
Frau Kollegin Grütters wurde heute schon zitiert. Sie
sagt, es wäre naiv, weiter auf eine Selbstverpflichtung zu
setzen. Es ist schön, dass die Justizministerin anwesend
ist. Sie hat gestern eine Pressemitteilung herausgegeben.
Ich zitiere kurz daraus:
Dringender Handlungsbedarf besteht bei … Frauen
in Führungspositionen. Mehr Frauen in Spitzenpositionen sind nicht nur im Interesse der Gesellschaft, sondern gerade auch im Interesse der Wirtschaft.
Das sehe ich genauso. Es ist ökonomisch völlig unsinnig, gut qualifizierte Frauen am Aufstieg zu hindern.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
macht endlich etwas und gebt nicht nur gute Pressemitteilungen heraus!
({7})
Über unseren Gesetzentwurf hat Renate Künast schon
etwas gesagt. Im Mai wird es eine Anhörung im Rechtsausschuss geben. Herr Buschmann, ich hoffe, dass auch
Sie dann endlich schlauer werden.
({8})
Begrüßenswert ist weiterhin, dass Nordrhein-Westfalen
jetzt eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat.
Zum Schluss meine Bitte: Lassen Sie uns endlich gemeinsam in unserem Lande handeln, damit wir von der
Position eines gleichstellungspolitischen Entwicklungslandes herunterkommen.
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und
Kolleginnen! Wir diskutieren hier über die Äußerungen
der Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich stelle zunächst
einmal fest: Diese Äußerungen haben dem Thema endlich die Bedeutung und die Aufmerksamkeit verschafft,
die es braucht.
({0})
Machen wir uns nichts vor: Wir diskutieren seit Monaten über einen konkreten Gesetzesvorschlag der Grünen. Auch die Frauen in der Unionsfraktion haben Beschlüsse zum Thema gefasst und der Presse vorgestellt.
Es gab auch den einen oder anderen Artikel im Handelsblatt und im Spiegel. Aber erst dieser Hintergrund, die
Diskussion im Kabinett, gibt dem Thema jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient.
({1})
Wir haben ganzseitige Anzeigen im Handelsblatt, in
denen dazu aufgerufen wird: Macht es endlich freiwillig!
Sonst kommt die Quote. - Der Vorstandsvorsitzende der
Deutschen Bank - gerade schon genannt - meldet sich
zu Wort.
({2})
So manche Wortmeldung zeigt, dass diese Diskussion
sehr nötig ist.
({3})
Sie betonen vor allem die Unterschiede, die Uneinheitlichkeit in den Äußerungen der Ministerinnen und
der Kanzlerin. Ich möchte zunächst einmal auf die Gemeinsamkeiten eingehen. Sie stimmen überein in dem
Befund, dass der Status quo völlig unakzeptabel ist, dass
es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass die Situation den Unternehmen schadet. Sie ist ungerecht für die
Frauen, die den gleichen Zugang einfach nicht erhalten,
obwohl sie die gleiche Qualifikation mitbringen. Übereinstimmung besteht auch darüber, dass wir über einen
Mindestanteil in der Größenordnung von plus/minus
30 Prozent reden.
Ich möchte die Gelegenheit dieser Diskussion nutzen,
um noch einmal zu betonen: Die Quote oder eine größere Frauenbeteiligung nützt vor allem den Unternehmen, nicht deshalb, weil Frauen durchweg besser sind
- es gibt auch gute Männer in diesen Gremien -, sondern deshalb, weil die Mischung unterschiedlicher Erfahrungen und Denkweisen zu besseren Ergebnissen
führt.
({4})
Wenn zehn Leute in einem Gremium den gleichen Hintergrund haben, dann ist das schlichtweg zu schmalspurig. Jeder, der mit einer anderen Erfahrung dazukommt,
ist eine Bereicherung. Das ist der Ansatz der Diversity.
Dafür kämen auch andere Kriterien infrage, aber „Geschlecht“ ist sicherlich das Kriterium, das sich als Erstes
aufdrängt und das naheliegt. Das ist für diejenigen, die
sich mit dem Thema beschäftigen, mittlerweile wirklich selbstverständlich. Wer das noch nicht mitbekommen hat, der kann sich gern einmal die Studien von
McKinsey und von Catalyst ansehen.
Nun müssen wir den Blick sicherlich auch auf die Unterschiede richten. Die Familienministerin hat einen Stufenplan vorgelegt, der positive Elemente enthält.
({5})
Er umfasst auch die Vorstände.
({6})
Zum ersten Mal wird auch das operative Geschäft in den
Blick genommen. Er hat ein flexibles Element; darüber
lässt sich sicherlich diskutieren. Er verlangt transparente
Angaben und Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin davon
überzeugt, dass schon allein das Wirkung zeigen wird.
Ich kann mir hier eine Bemerkung nicht verkneifen:
Wenn damals die Vereinbarung zwischen dem Boss der
Bosse und der Wirtschaft
({7})
so konkret gewesen wäre wie die jetzige Vereinbarung,
dann wären wir heute an einem anderen Punkt.
({8})
Ich kann mir auch nicht verkneifen, zu sagen, dass
unsere Partei diejenige ist, die die höchste Führungsposition, die dieses Land zu vergeben hat, mit einer Frau besetzt hat; wir stellen die Kanzlerin.
({9})
Auch das ist sicherlich etwas, was für die Frauen in
Deutschland Symbolwirkung hat.
Aber ich will auch nicht darum herumreden: Es gibt
wesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten, was
die Verbindlichkeit angeht. Ich rede hier nicht zum ersten Mal zum Thema Quote. Ich sage ganz klar: Es ist aus
meiner Sicht nicht ausreichend, wenn als schlimmste
Sanktion, als Worst Case, die Pflicht zur Selbstverpflichtung kommt, ohne Zeitplan, ohne feste Zielvorgaben,
ohne konkrete Sanktionen. Das kommt mir ein bisschen
so vor, als würde man den Aufsichtsräten sagen: Ihr
müsst jetzt hundertmal „Frauen in den Führungspositionen in meinem Unternehmen sind wichtig und gut“
schreiben, und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung
über.
({10})
Man muss auch sehen: Die nächsten Wahlen zu den
Aufsichtsräten sind im Jahr 2013 und dann erst wieder
2018. Nun muss es eine Zeitschiene geben; das ist ganz
klar. Aus meiner Sicht muss spätestens für 2018 wirklich
verbindlich gesetzlich geregelt sein, was passiert.
({11})
Dafür brauchen wir diese gesetzliche Regelung schon
jetzt. Das macht dann bereits für 2013 einen Unterschied. Wenn man weiß: „2018 gibt es keinen Weg mehr
daran vorbei“, dann wird man schon 2013 mit einer anderen Einstellung darangehen.
({12})
Wenn wir aber sagen: „Macht mal bis 2013, dann
schauen wir, ob wir etwas anderes brauchen“, dann ist
die Dynamik aus der Sache heraus, und wir werden nicht
entsprechend weiterkommen.
({13})
Ohne verbindliche Regelungen am Horizont werden
sich die Closed Shops nicht öffnen. Sie schließen qualifizierte Frauen aus; sie schließen aber auch gute Männer
aus, die nicht ins Schema passen.
({14})
Wie fest da die Strukturen gefügt sind, das hat uns das
manager magazin gerade noch einmal beschrieben.
Wenn man das liest, dann stellt man fest, dass das nichts
mit Bestenauslese zu tun hat, sondern dass es dabei um
Dinge wie Männerfreundschaften, Bergtouren, Jagderlebnisse und dergleichen geht. Von VW wissen wir ja,
was noch so infrage kommt, um die Gruppendynamik zu
stärken.
Ich habe nichts gegen Männerfreundschaften und
Freizeit ohne Frauen, aber das kann nicht das Kriterium
sein, wenn es um Führungspositionen in der deutschen
Wirtschaft geht.
({15})
Deshalb lautet mein Petitum: Wir brauchen einen Stufenplan. Wir müssen darüber im Gespräch bleiben, bei
allen, die es brauchen.
Vielen Dank.
({16})
Nun hat das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie so oft in dieser Wahlperiode haben wir miterleben
müssen, wie sich diese Koalition in Widersprüchen und
gegensätzlichen Haltungen überbietet. Ob bei den Haushaltsdiskussionen, in der Steuerpolitik, bei Hartz IV oder
in der Außenpolitik, immer gab es etwas anderes, aber
leider nie etwas Besseres aus dem Regierungslager.
Nun hat Frau Ministerin von der Leyen die Quote für
Frauen in Führungspositionen für sich entdeckt, und das
zu einem Zeitpunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo
sie eigentlich ganz andere Sorgen umtreiben müssten.
({0})
Erinnern wir uns noch einmal kurz: Nach Monaten des
Nichthandelns bzw. Nichtverhandelns nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgericht zum SGB II rettete sich
Frau von der Leyen mit einer ziemlich sinnfreien Chipkartendiskussion öffentlichkeitswirksam über das Sommerloch, um uns danach vorzuwerfen, wir würden mit
ihr nicht über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils reden wollen.
Nun entdeckt sie ihre ganz persönliche Betroffenheit
und Sorge um die vielen Frauen in unserem Lande, die
gut ausgebildet sind, aber nicht in führenden Positionen
der Wirtschaft zu finden sind, und das wieder sehr öffentlichkeitswirksam. Da stört sie auch nicht ihre gegensätzliche Haltung zur Familienministerin, auch nicht ihre
gegensätzliche Haltung zur Bundeskanzlerin. Nein, sie
kocht ihr ganz persönliches Süppchen, um sich zu profilieren und wieder einmal von der Verhandlungsschwäche der Koalition im Vermittlungsausschuss abzulenken.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat sie ja nun wieder ins Glied
zurückgeschickt. Was kommt nun für die Frauen in unserem Land dabei heraus? Nichts, wieder einmal gar
nichts.
({2})
Vorhin haben Sie mit vielen schrägen Argumenten einen
Antrag zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns
abgelehnt, wohl wissend, dass 70 Prozent der Beschäftigten in der Niedriglohnbranche Frauen sind. Es wurde
auch schon dreimal festgestellt, dass weder eine Arbeitsministerin noch eine Familienministerin noch eine Bundeskanzlerin dafür Interesse zeigt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauen haben es
einfach nicht verdient. Es ist wirklich eine Frechheit, dass
ihre Interessen für Machtspielchen von drei Doktorinnen, die es in Führungspositionen geschafft haben - Frau
Schröder im Übrigen auch durch die Hessen-Quote -,
missbraucht werden.
Sie, liebe Koalitionäre, haben jetzt wirklich die verdammte Pflicht - ich bin für viele Ihrer Redebeiträge
sehr dankbar -, diesem Eindruck entgegenzutreten. Unterstützen Sie die Einführung einer gesetzlichen Quote
nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im öffentlichen
Dienst, auch in den Hochschulen und in der Wissenschaft! Unterstützen Sie gesetzliche Regelungen zur Entgeltgleichheit! Machen Sie auch wirklich deutlich, dass
es Ihnen tatsächlich ernst ist mit Gleichstellung in unserem Lande! Diesen Beweis sind Sie uns noch schuldig.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ewa Klamt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Man kann die Zahlen nicht oft genug nennen: Frauen stellen 55,7 Prozent der Abiturienten in
Deutschland, 51 Prozent der Hochschulabsolventen, rund
44 Prozent promovieren im Anschluss. Diese Zahlen
zeigen das Potenzial junger, gut ausgebildeter Frauen in
unserem Land auf.
({0})
Wie es in den Aufsichtsräten aussieht, wissen wir: gerade einmal 10 Prozent Frauen. Nur 3,2 Prozent Frauen
bekleiden Vorstandsposten. In den 30 DAX-Unternehmen sind von 182 Vorstandsposten gerade einmal 4 mit
Frauen besetzt; das sind 2,2 Prozent. Wir müssen also
feststellen: Irgendwo nach Abitur, Studium und Sprung
in die Arbeitswelt verlieren wir viel Frauenpotenzial.
Wir verlieren damit Arbeitskraft, Kreativität, Innovationsfähigkeit und Wissen. Wir verschenken viel unseres
Potenzials, obwohl doch feststeht, dass wir im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe stehen.
Über das Problem besteht meines Erachtens Einigkeit; die Lösung ist jedoch strittig. Ich sage, dass man in
dieser Frage durchaus unterschiedlicher Meinung sein
kann. Dass wir innerhalb unserer Fraktion debattieren,
ist für mich kein Problem. Das ist vielmehr eine gute inhaltliche Auseinandersetzung, und die hat noch nie geschadet.
({1})
Das ist mir auf jeden Fall lieber als ein Bundeskanzler
Schröder, der vor gut einem Jahrzehnt bei Wein und
Zigarren der Wirtschaft versprochen hat, keine Maßnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in Spitzenpositionen zu ergreifen.
({2})
Dass die Frage „Frauenquote in Unternehmen“ äußerst unterschiedlich gesehen wird, zeigt auch die Diskussion innerhalb der verschiedenen Generationen von
Frauen. Ich kann den Frust und den Ärger einer jeden
jungen Frau verstehen, wenn sie - berechtigterweise nach langer Ausbildung nach ihren Fähigkeiten und
nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden möchte.
Diese gut ausgebildeten Frauen sind jung, ungebunden,
flexibel und meist noch ohne Kinder. Sie befinden sich
am Beginn ihrer Karrieren, an einem Punkt, an dem in
der Regel noch keine gläserne Decke zu spüren ist. Eine
Frauenquote kommt aus ihrer Sicht einer Beleidigung
gleich, unterstützt durch das unschöne wie auch unsinnige Wort der Quotenfrau, das reflexartig die Debatte begleitet.
({3})
Dem halte ich entgegen: Quote und Qualifikation schließen sich nicht gegenseitig aus.
({4})
Im Gegenteil: Die Quote kann ein Instrument sein, der
Qualifikation zur vollen Entwicklung zu verhelfen;
({5})
denn leider - das sage ich mit absoluter Ernüchterung sind wir mit der freiwilligen Verpflichtung in den letzten
zehn Jahren keinen Schritt weitergekommen.
({6})
An den nackten Zahlen hat sich seither wenig geändert.
Liegt es also daran, dass, wie uns die Wirtschaft immer
wieder gern erklärt, die Top-Positionen nur von den Besten eingenommen wurden? Ist es die männliche Exzellenz, die gesiegt hat?
({7})
Da sage ich etwas populistisch: Eine Weltwirtschaftskrise hätte es dann wohl ebenso wenig wie eine Bankenkrise geben dürfen.
({8})
Meine Damen und Herren, ich bin ernüchtert. Auch
ich habe einmal zu jenen Frauen gehört, die glaubten,
dass wir Frauen die Zukunft gleichberechtigt mit den
Männern gestalten.
({9})
Als ich 18 war, sprach kein Mensch über eine Quote. Im
Gegenteil, mein Vater sagte mir mit großer Begeisterung: Du gehörst der Generation Frauen an, denen aufgrund von Bildung und guter Ausbildung alle Türen offenstehen. - Wenn mir damals jemand vorausgesagt
hätte, dass ich fast 40 Jahre später im Deutschen Bundestag konstatieren muss, dass in Deutschland die Teilhabe von Frauen in den höchsten Positionen der Wirtschaft auf einer Stufe mit Indien steht und damit
weltweit den letzten Platz einnimmt, hätte ich schallend
gelacht.
({10})
Heute sage ich: Wenn wir einer der leistungsstärksten
Wirtschaftsräume der Welt bleiben wollen, können wir
es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf das vorhandene
Potenzial von Frauen zu verzichten.
({11})
Kluge Unternehmer haben das selbst erkannt: Hochqualifizierte, kreative und motivierte Frauen sind nachweislich gut für den wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb erwarte ich, dass die Unternehmen bei der Neubesetzung
der Aufsichtsräte im Jahr 2013 beweisen, dass sie
Frauen in Führungspositionen wollen. Wenn nicht, müssen andere Mittel greifen.
({12})
Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding gibt
der Wirtschaft nur noch eine begrenzte Schonfrist. Wenn
die Konzerne nicht selbst aktiv werden, will Brüssel
rechtliche Vorgaben für eine Frauenquote in Aufsichtsräten machen. Das kann ich dann nur unterstützen.
({13})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christel Humme für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Klamt, Sie haben gut angefangen. Ich hatte gehofft, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden;
aber Sie haben an dieser Stelle wieder einmal Ihre
Chance verpasst.
({0})
Ich bin die letzte Rednerin und habe die Chance, alles
auf den Punkt zu bringen, was vorhin gesagt worden ist
und was in den letzten drei Wochen passiert ist. Ich muss
schon feststellen, dass die Bundesregierung so etwas wie
Realsatire gezeigt hat. Denn was haben wir erlebt? Was
ist passiert? Die Frauen in der Bundesregierung streiten
über die gesetzliche Frauenquote; die Männer in der
Wirtschaft reiben sich die Hände und behalten dank Frau
Merkel erst einmal ihre Macht. Klassisch, oder?
({1})
Wir alle haben noch die Ratschläge der Kanzlerin und
der Frauenministerin im Ohr. Sie haben den Frauen geraten: „Seid mutiger und tougher gegenüber euren Chefs,
dann klappt es mit der Karriere und mit der Bezahlung.“
Dazu muss ich sagen: Die Frauen in der Bundesregierung waren wirklich ein sehr schlechtes Vorbild. Nach
welchem Vorbild sollen sich die Frauen richten? Die
Frauen in der Bundesregierung haben nämlich gezeigt,
dass sie ohnmächtig sind; sie haben ihre Ohnmacht dokumentiert und erneut deutlich gemacht, wer in der Bundesrepublik eigentlich das Sagen hat. Auch hier zeigt
sich wieder das Markenzeichen von Schwarz-Gelb,
nämlich Klientel- und Lobbypolitik statt Politik für die
Frauen.
({2})
- Ja, keine Angst, Rita, ich komme gleich noch darauf.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Kanzlerin hat
ein Machtwort gegen die Frauen gesprochen - das haben
wir gehört -: Sie lehnt die gesetzliche Quote ab und setzt
auf Freiwilligkeit. Dabei ist der Handlungsdruck - das
wissen wir alle ganz genau - sehr groß.
Frau Bracht-Bendt, Sie unterhalten sich gerade so
nett. Ich finde es interessant, dass Sie, Frau BrachtBendt von der FDP, gesagt haben, eine Frauenquote disqualifiziere die Frauen. Dann frage ich Sie allen Ernstes:
Warum hat der Bundesvorstand der FDP kürzlich - er
kommt auf die Spur - eine 30-Prozent-Frauenquote für
die Parteigremien beschlossen? Warum hat der Frauenverband der FDP gesagt: „Das reicht uns nicht, wir brauchen eine 40-Prozent-Quote“?
({3})
Inwiefern ist das eine Disqualifizierung der Frauen?
({4})
- Wir werden Ihren Bundesparteitag sehr gut beobachten.
Der Handlungsdruck ist natürlich immens. Wir stehen
im europäischen Vergleich nicht besonders gut da. Wir
sind keineswegs ein Exportland, wenn es um Gleichstellung geht. Im Gegenteil: Wir sind hier ein Entwicklungsland; bei uns ist die auch heute viel zitierte gläserne Decke immer noch aus Panzerglas.
Wir wissen auch, warum das so ist. Ja, wir haben
2001 eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft
geschlossen. Wir waren dabei: Frau Ferner, ich und andere. Wir wissen noch ganz genau, dass wir gesagt haben: Wenn die freiwillige Vereinbarung kein Ergebnis
zeitigt, dann kommt ein Gesetz zur Verpflichtung der
Privatwirtschaft. Das war die Ausgangssituation.
({5})
Wir hatten aber Pech: Es kam zu einer Großen Koalition, und wir mussten Koalitionsverhandlungen mit Frau
von der Leyen führen.
({6})
Das Thema einer gesetzlichen Frauenquote war in den
Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht zu setzen; das
muss man an dieser Stelle feststellen.
({7})
Insofern verstehe ich Sie, Frau Bär und Frau Schön,
überhaupt nicht. Kritisieren Sie doch nicht dauernd die
Freiwilligkeit! Was wollten wir damals erreichen? Wir
wollten mehr Chancengleichheit für Frauen im Berufsleben. Wir wollten mehr familienfreundliche Betriebe. Wir
wissen, die Bilanz ist ernüchternd. Aber was haben Sie
daraus gelernt, Frau Bär?
({8})
- Sie können nur schreien! Hören Sie bitte zu!
({9})
Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht? Sie haben die
Wirtschaft eine Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten unterschreiben lassen.
({10})
Was haben Sie genau getan? Sie haben einen Teil aus der
freiwilligen Vereinbarung von 2001 herausgepickt und
„Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten“ genannt.
({11})
Sie haben den Leuten suggeriert, dass Sie etwas Neues
machen,
({12})
aber in Wirklichkeit führen Sie sie an der Nase herum,
weil Sie nämlich gar nichts tun für familienfreundlichere
Arbeitszeiten. Das ist das Schizophrene an der Situation.
({13})
Alle zehn Jahre neue Unterschriften sind kein Fortschritt
für uns. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Das wäre
unserer Meinung nach ein Fortschritt.
({14})
- Frau Bär, lassen Sie das doch einmal sein. Das Herumschreien bringt doch nichts.
({15})
Wir wollen - das ist ganz klar - eine Quote von
40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich
regeln. Dabei geht es uns nicht nur um die Topmanagerin - das wurde vorhin zwar schon gesagt, aber das
möchte ich trotzdem noch einmal deutlich machen -,
({16})
sondern es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt. Das ist das Entscheidende.
Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwar
die Frauenerwerbsquote gestiegen, aber das Arbeitsvolumen gesunken ist.
({17})
Es hat eine Umverteilung der Arbeit unter Frauen stattgefunden. Die Frauen haben einen sehr hohen Preis dafür bezahlt.
({18})
Ein Großteil der Frauen ist trotz eigener Erwerbstätigkeit
von einer eigenständigen Erwerbssicherung weit entfernt. Ich habe erwartet, dass die Frauenministerin und
die Arbeitsministerin Schritte in Richtung eines gesetzlichen Mindestlohns einleiten; denn der hätte den Frauen,
die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, geholfen.
({19})
Aber auch hier stelle ich fest: Nichts tun und Klientelpolitik, das sind Ihre Markenzeichen.
Schönen Dank.
({20})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer ({1}),
Wolfgang Börnsen ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Patrick Kurth ({3}), Lars
Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden
- Drucksachen 17/4193, 17/4651 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({4})
Patrick Kurth ({5})
Claudia Roth ({6})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit
sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte
beiwohnen wollen, ihre Plätze einnehmen würden, wäre
ich dankbar; denn dann können wir uns auf die Redner
konzentrieren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSUFraktion.
({7})
Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den
Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der
deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden“ abschließend beraten und entscheiden.
Das Ziel unseres Antrags ist klar: Wir wollen an die in
Stuttgart am 5. August 1950 erfolgte Proklamation der
Charta der Heimatvertriebenen erinnern und anlässlich
dieses Jubiläums erneut die Leistung der Heimatvertriebenen unterstreichen. Wir wollen erreichen, dass der
Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird.
({0})
Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und auf den
Beitrag von Vizepräsident Wolfgang Thierse eingehen,
den der Kollege Thierse als Gegner unseres Antrags bei
der ersten Lesung am 16. Dezember 2010 hier zu Protokoll gegeben hat, auf den ich daher erst heute hier im
Plenum Bezug nehmen kann.
Verehrter Herr Kollege Thierse, Sie haben sich in Ihrer Rede erkennbar bemüht, den Erwartungen Ihrer
Partei zu entsprechen, denen zufolge wie in einem
Pawlow’schen Reflex alles abzulehnen ist, was irgendwie mit dem Bund der Vertriebenen zu tun hat.
(Dr. Lukrezia Jochimsen ({1}): Davon kann nicht die Rede sein!
Sie haben sich dieser wenig schmückenden Aufgabe
achtbar entledigt, obwohl es Ihnen stellenweise schwergefallen sein dürfte, dem in Wahrheit durchweg legitimen Ansinnen unseres Antrags zu widersprechen.
So sprachen Sie etwa gleich einleitend von einer angeblich viel zu späten Vorlage des Antrags - Monate
nach dem 5. August -, bewerteten aber den Antrag im
nächsten Atemzug als Schnellschuss. Was soll es denn
jetzt sein? Zu langsam oder zu schnell? Beides zusammen geht nicht.
Zum 5. August 1950 möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Am 5. August 1950 ist mit der Charta der Heimatvertriebenen ein einzigartiges Dokument verabschiedet
worden.
({2})
Wir unterstützen mit unserem Koalitionsantrag die heute
in Stuttgart von dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus klar erhobene Forderung:
Dieser Tag hätte es verdient, zu einem nationalen Gedenktag in Deutschland zu werden.
({3})
Herr Kollege Thierse, inhaltlich gravierend waren einige Ausführungen von Ihnen an anderer Stelle, auf die
ich eingehen muss. Als Sie den verdienstvollen Verzicht
der Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung erwähnten, relativierten Sie diesen mit dem Hinweis, als
Angehörige der Kriegsverursachernation Deutschland
habe den Vertriebenen gar keine Rache zugestanden, und
man könne es schlecht als Leistung betrachten, auf etwas
zu verzichten, das man gar nicht beanspruchen dürfe.
In der Ausschussberatung haben Sie sich verstiegen,
zu sagen - nachzulesen auf Seite 5 der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und
Medien -, dies sei ein „moralisch skandalöser Satz“.
({4})
Ich möchte Ihnen mit folgendem Zitat entgegnen:
Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei
- „an einem menschlichen und toleranten Deutschland“ eine wichtige Rolle gespielt. Zwei Punkte möchte
ich daraus hervorheben, die auch in Zukunft nicht
vergessen werden dürfen: Da ist zunächst der Verzicht auf Rache und Vergeltung.
So Sigmar Gabriel, weiland Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und jetzt Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
({5})
Ist das ein moralisches Skandalon, Herr Kollege
Thierse?
Der Kollege Thierse kritisiert auch das Ziel unseres
Antrags, dem Thema Vertreibung mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken. Herr Thierse, Sie halten die für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ veranschlagten Forschungsgelder für zu hoch und
wollen den postulierten Nachholbedarf in der Forschung
nicht erkennen. So Ihre Ausführungen am 16. Dezember
2010 ausweislich Ihrer Protokollerklärung im Deutschen
Bundestag.
Gerade gegenwärtig mehren sich indessen die Stimmen von wissenschaftlicher Seite, dass die Aufarbeitung
des Leids der deutschen Heimatvertriebenen zu den besonders drängenden Desideraten der Forschung gehört.
({6})
Das Hamburger Magazin Der Spiegel, das nicht gerade
im Verdacht steht, das Hausblatt des Bundes der Vertriebenen zu sein, hat in diesen Tagen in seiner renommierten Historienreihe eine aktuelle Sonderausgabe zum
Thema Vertreibung herausgebracht mit dem Titel: „Die
Deutschen im Osten - Auf den Spuren einer verlorenen
Zeit“. Selbst Spiegel Online widmet sich dem Thema mit
einem Beitrag mit dem Titel: „Damals in Ostpreußen“.
Ich zitiere von Seite 15 dieser Schrift, dass die Deutschen und ihr verlorener Osten ein noch immer nicht erledigtes Kapitel der deutschen Historiografie seien.
Tatsächlich bietet die Vertreibung der Deutschen viel
Stoff, der es verdient, bewahrt, aufgearbeitet und weiterThomas Strobl ({7})
gegeben zu werden, gerade auch an die jüngere Generation.
({8})
Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Geschichte von Flucht und Vertreibung ist es wert, dass
man sie hört.
({9})
Das sagt im Übrigen der bekannte polnische Regisseur
Jan Klata, dem das Thema sehr am Herzen liegt. Vertreibung, so Klata in der besagten Spiegel-Ausgabe, sei eine
Geschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täglich wiederholt: in Darfur, im Kosovo, in Bosnien. Ich
finde, er hat recht.
In der Tat kann man viel erfahren, wenn man sich dem
Thema Vertreibung als Bestandteil der eigenen Nationalidentität stellt und mehr über das in Erfahrung bringt,
was die Ostgebiete für Deutschland einst bedeutet haben.
Ich war zum Beispiel überrascht, im Heft des Spiegels
von der deutschen Gemeinde Budakeszi zu erfahren. Budakeszi liegt bei Budapest und ist mir als ungarischer
Partner der Stadt Neckarsulm bekannt, der größten
Landkreisgemeinde in meinem Wahlkreis. Dass Budakeszi von Deutschen gegründet wurde, von Donauschwaben, und noch heute viele Deutsche dort leben, darunter auch die Verwandten des hier im Hause nicht ganz
unbekannten Grünenpolitikers Joschka Fischer, war mir
neu. So lernt man immer dazu. Es gibt viele solche Informationen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wiederbelebt werden sollten, weil sie zur Geschichte unseres Volkes gehören.
({10})
Das Gute ist: Man kann dieses Wissen unschwer erwerben, wenn man die Forschung hinreichend unterstützt und das Thema Vertreibung ohne ideologische
Scheuklappen angeht. Dies tut übrigens seit Jahren der
Literaturnobelpreisträger Günter Grass, zu dessen nach
meiner Auffassung nicht geringsten Verdiensten gerechnet werden darf, dass er die jahrzehntelange Verdrängung des Themas Vertreibung als „bodenloses Versäumnis“ erkannt hat. Er machte diese Verdrängung mithilfe
eines Romans rückgängig und führte so das Thema
Flucht und Vertreibung einer breiteren Öffentlichkeit zu.
Grass dabei zu unterstützen, das von ihm erkannte und
so benannte Versäumnis wiedergutzumachen, ist ein
Zweck - und nicht der geringste - unseres Antrags.
Nicht mehr und nicht weniger.
Damit komme ich zum Schluss und plädiere in diesem Sinne erneut und eindringlich für die Zustimmung
zu diesem Antrag. Wenn Sie von der Opposition diese
Zustimmung nicht uns zuliebe gewähren wollen, so tun
Sie es zumindest aus Respekt vor Günter Grass, der ja,
wenn ich richtig informiert bin, seit Jahrzehnten ein engagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands ist.
({11})
Tun Sie es Ihrem Genossen zuliebe und dokumentieren
Sie damit auch, dass Sie nicht zu systematischen Verdrängern und bodenlos Säumigen gehören wollen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse für
die Fraktion der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruchnahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher entsetzt.
({0})
Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht.
({1})
Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und
Vertreibung geschrieben werden muss und wir uns immer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das ist
unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das
tut.
({2})
Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich,
weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deutschen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch - so
steht es in Ihrem Antrag - Aussöhnung wollen. Die
Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein
zeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr
1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Not
erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer
neuen, kalten Heimat angekommen sein.
({3})
So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die
ihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebenen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rachegefühle und Vergeltungsverlangen.
Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehrfach darauf hingewiesen - ich finde: sehr treffend -, dass
man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man
einen Anspruch hat.
({4})
Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonnenen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechen
keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache.
({5})
Darin sind wir uns doch hoffentlich einig.
({6})
Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die
heute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemand
mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese
- ich zitiere -:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
({7})
Welch fatale moralische Anmaßung - als hätte es den
Holocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht gegeben.
({8})
Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem
Abstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vollem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewissermaßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnen
und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutragen, wie Sie es tun,
({9})
das ist weder moralisch noch politisch legitim.
({10})
Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt
einen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denen
man sich versöhnen will.
({11})
Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbesondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger als
zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht
verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das
bedeutete.
Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor
70 Jahren wurden Polen - nur als ein Beispiel - als rassisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt
und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren
Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es
wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute
noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht
und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutschland sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr
die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenenpolitiker durch zwiespältige Äußerungen.
({12})
Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik
zu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich,
so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes
Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhaltbare Aussagen wie diese - ich zitiere wieder aus Ihrem
Antrag -:
Die Deutschen nehmen Vertreibungen … mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer
jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.
Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Geschehen.
({13})
Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren
Geschichte massiv andere Völker vertrieben und unendliches Leid über sie gebracht haben und danach auch
selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte ist
immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für
jeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann es
auch kein Verständnis für die Umstände und Folgen geben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöhnung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das
Grundproblem Ihres Antrags.
({14})
Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorieren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen.
Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zunächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesrepublik Deutschland - sie gehören zu ihrer Erfolgsgeschichte - und die großen Anstrengungen der Vertriebenen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ihrer Herkunft bestand weiter.
Unvergessen ist - ich nenne nur ein Beispiel -: Als
1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unterstützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft
Solidarnosc.
({15})
Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich
aus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trauernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der
Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu
schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die
Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die
uns die Einigung Europas eröffnet hat.
Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Einzelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener,
die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öffentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in
die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es gegeben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie
viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstanDr. h. c. Wolfgang Thierse
den? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurierungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmälern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur
Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für
ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.
Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Begegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Entwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antrag
schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der Forderungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wiederhole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, vorangebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptionelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stiftung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt.
Von einem Nachholbedarf bei der Forschung - Sie haben davon gesprochen - kann ebenfalls nicht die Rede
sein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förderprogramm zur Erhaltung und Auswertung deutscher
Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt.
Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen
Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen
Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen
Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung dieses Programms nicht zu?
Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer von
Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe,
selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. Sowohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestagspräsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Gedenktag ausgesprochen. Die beiden haben recht.
({16})
Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Koalition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten
aus einem gestern erschienenen Kommentar von Professor Dr. Krzysztof Ruchniewicz - er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ - belegen:
Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und Angehörige anderer Nationen, die von den Deutschen
im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und ermordet wurden, stellt das Dokument
- die Charta keine Grundlage für eine Versöhnung dar.
Weiter:
Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen
Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer
Verkündung so einseitig und reflexionslos betrachten können.
Weiter:
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen … ist
kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die
1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr erschienene polnische Bischofsbrief an ihre deutschen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wir
gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“
Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch
das völlig falsche Signal.
Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschieben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist
ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen Anstrengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung
und die Leiden und Opfer dieses Unrechts.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland war
und bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demokratischen Staat, seine politische Praxis und seine politische Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit
zu begreifen. Das ist unser gemeinsames politisches
Fundament, unser gemeinsames moralisches Fundament. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag
des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gewählt.
Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für die
Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert
nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst
Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche andere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser doppelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte
moralische Verpflichtung. Genau diesen, den entscheidenden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch
und überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Lars Lindemann für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute ein für viele sehr emotionales Thema. Kaum
war der Antrag eingeführt - ich erinnere mich an unsere
Ausschussdebatte -, gab es nicht nur entrüstete Gesichter, sondern schwand vor allem auf den Oppositionsbänken die Fähigkeit, zuzuhören. Ich nehme sehr wohl
wahr, dass das heute anders ist. Ich denke, wir haben genügend Grund, die Sache mit etwas mehr Bedacht zu
diskutieren und uns gegenseitig zuzugestehen, dass wir
alle lautere Motive haben, wenn wir das hier besprechen.
Im Antrag der Koalition wird der Brief der polnischen
Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965
zitiert; Herr Thierse hat das eben auch getan. Darin heißt
es: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Um Vergebung kann man für sich aber nur bitten, wenn man
selbst bereit war und es auch bleibt, über die eigene
Schuld offen zu sprechen, nicht zu leugnen und aufrichtig und glaubhaft auf denjenigen zuzugehen, an dem
man sich vergangen hat.
({0})
Dies hat Deutschland getan. Wir alle als deutsche Parlamentarier stehen dafür ein, dass es Teil der Staatsräson
ist und bleibt, dass wir zu der Schuld stehen, die im Namen unseres Volkes durch die Nationalsozialisten auf
uns geladen wurde.
({1})
Deutschland hat aufrichtig um Vergebung gebeten. Ich
erinnere hier an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Wir
alle kennen das Bild, das hier gemeint ist.
({2})
Wir setzen uns mit diesem Thema sehr bewusst auseinander, und Deutschland ist so heute ein für seine
Aufrichtigkeit und Leistungen geachtetes Mitglied der
internationalen Staatengemeinschaft. Durch diese unsere
Einstellung - das will ich hier für meine Fraktion ganz
ausdrücklich und ganz deutlich sagen - nehmen wir die
eigene, bis in die meinige Generation hineinwirkende
Vertreibungserfahrung von uns Deutschen als zentrales
Element mit in die weiteren Bemühungen um die Versöhnung auf und geben wir dieser Erfahrung einen entsprechenden Platz, wie es im Antrag der Koalition geschehen ist.
Die Vertreibungen beispielsweise aus Polen und
Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen von den
Betroffenen als Unrecht empfunden werden. All diejenigen, die den Verlust an Heimat zu beklagen haben, was
an sich schon schlimm genug ist, oder die Gewalt gegen
sich oder Angehörige ihrer Familie ertragen mussten,
habe eine ganz persönliche Erfahrung, die in den Fokus
der Überlegungen der Regierungskoalition gerückt
wurde.
Durch einen solchen Ansatz wird nicht relativiert,
sondern versucht, die Erfahrungen der Betroffenen und
eben nicht die Emotionen, die einige hier mit einbringen,
aufzunehmen und verantwortungsvoll in die Überlegungen zu der weiteren Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nach innen und nach außen einzubeziehen. Darum werbe ich um Ihre Zustimmung zu
unserem Antrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Luc Jochimsen für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten
zusammen.
({0})
Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier an
dieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzufügen
({1})
außer dem Bedauern, dass es der gesamten Opposition
seitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen davon zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen.
Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleuten
hat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern.
({2})
So entsteht mit der heutigen Abstimmung über den
Antrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen werden, großer Schaden für unser Parlament und seine Wirkung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mit
diesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Davon bin ich fest überzeugt.
({3})
Allein mit Ihrem Ansinnen - das vertreten Sie in Ihrem Antrag -, dass sich anlässlich des 60. Jahrestages
der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen
der Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, diese
Charta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zu
betrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments.
Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesem
Dokument ein Gründungsdokument der Bundesrepublik
sehen.
({4})
Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mit
Ihrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Gedenktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor
60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SSObersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion,
SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm,
Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichstagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschen
Volksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernichtungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unterstützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille,
SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SSHauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgman
von Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischen
Deutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen
flammenden Protest gegen den Menschenraub an Adolf
Eichmann auf argentinischem Boden und den Prozess in
Israel veröffentlichte,
({5})
Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreislandwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämpfung in Weißrussland.
Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlich
völlig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns im
Jahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parlaments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, oder
sind Sie einfach unwissend?
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlament
der Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namen
der Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skandal.
({6})
„Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Verzicht auf Rache‘ beruht. Das ist völlig undenkbar.“ Dies
schrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz von
der Universität Wroclaw - Vizepräsident Thierse hat ihn
vorhin schon zitiert - in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau.
Am Ende der Charta heißt es:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganze
Verkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigantischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich:
Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nicht
die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein,
die Heimatvertriebenen sind die vom „Leid dieser Zeit
am schwersten Betroffenen“.
({7})
Eine solche Form der Verkehrung von historischer
Dimension, der Relativierung deutscher Schuld und der
Verkehrung von Ursachen und Folgen war und ist typisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. Dass
Union und FDP eine solche Geschichtssicht noch heute
als verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, ist
ungeheuerlich.
({8})
Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitler
nicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nicht
dabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden,
Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden.
Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verloren
sie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kinder erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Rest
des Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frankfurt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinen
Eltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht auf
Rache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichten
könnten - 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit.
Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist,
an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, an
Aussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehen
Sie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät.
({9})
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit
in dieser Debatte geht nicht um die Frage, ob wir das
Schicksal der Heimatvertriebenen anerkennen. Dieser
Streit geht auch nicht um die Frage, ob wir die Geschichte der Vertreibung in ihrem historischen Kontext
aufarbeiten wollen. Dieser Streit geht im Kern um die
Frage, ob wir als Deutscher Bundestag uns auf das Dokument der Charta der Heimatvertriebenen positiv beziehen und das Ganze auch noch dadurch unterstreichen,
dass wir den Tag ihrer Unterzeichnung zum Gedenktag
der Bundesrepublik Deutschland machen. Dazu sage ich
Nein.
({0})
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
hat es das noch nicht gegeben, dass ein Antrag, in dem
die Einführung eines Gedenktages verlangt wird, im
Deutschen Bundestag mit knapper Koalitionsmehrheit
durchgeprügelt wird. Der vorliegende Antrag enthält erst
einmal nur einen Prüfauftrag.
({1})
Leider ist das Außenministerium auf der Regierungsbank nicht mehr vertreten; ansonsten hätte ich Frau
Pieper gebeten, mit der FDP dafür zu sorgen, dass die
Partei von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher
verhindert, dass wir unsere osteuropäischen Nachbarn,
die ehemaligen Kriegsgegner, die uns die Hand zur Versöhnung gereicht haben, einem solchen Affront aussetzen.
({2})
Frau Steinbach, Krzysztof Ruchniewicz, Mitglied des
Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ - der BdV hat sie durch eine
Gesetzesänderung von der Bundesrepublik Deutschland
praktisch gekapert -, schreibt Ihnen meines Erachtens
sehr sensibel ins Stammbuch, wie man die Charta in ihrer Genese und in ihrem Sinngehalt verstehen kann. Er
Volker Beck ({3})
nennt sie das „Produkt einer traumatisierten Gruppe“. Er
schreibt:
Relativierend kann man sagen, dass die Charta ein
Kind ihrer Zeit war, das Produkt einer traumatisierten Gruppe, die sich bemühte, die eigene Lebenswelt neu aufzubauen, wobei sie sich in den Mythos
des unschuldigen Opfers flüchtete. Aus diesem
Grund wurde in den in diesen Kreisen geschriebenen Büchern und Materialien über die alte Heimat
die Zeit des Nationalsozialismus fast völlig ausgeblendet. Man kann das historisch und psychologisch nachvollziehen, muss es aber nicht gutheißen.
Gegenüber der historisch verständlichen Genese müssen wir nicht verurteilend auftreten. Wir können verstehen, woher diese Menschen kamen, dass sie sich neu zurechtfinden wollten und dass sie sich auch mit ihrer
eigenen Genese ein bisschen selbst betrogen haben.
Aber wir als Deutscher Bundestag können uns das nicht
zu eigen machen - heute, über 60 Jahre danach, nach allem, was wir darüber wissen, was von deutscher Hand in
den besetzen Gebieten, in den überfallenen Ländern und
in unserem eigenen Land gegenüber vielen Opfern des
Nationalsozialismus verbrochen wurde. Das darf nicht
sein.
({4})
Wir haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt.
Darin ist der ganze Feststellungsteil mit seiner ganzen
historischen Wirrnis und Klitterung gestrichen. Wir beziehen uns auf die entsprechenden Forderungen zur historischen Aufarbeitung und zum Gedenken - ich meine,
da müssen wir wirklich Klartext reden -, wenn wir feststellen: Über einen Gedenktag kann man mit uns reden;
aber der 5. August kommt nicht infrage, weil das eine
Akklamation der Aussagen der Charta der Vertriebenen
bedeuten würde. Es würde anerkannt, dass die Vertriebenen diejenigen waren, die am meisten in dieser Zeit gelitten haben, dass man großzügig auf das Recht verzichtet, Vergeltung zu üben. Das sind Aussagen, die sich der
Deutsche Bundestag nicht zu eigen machen darf, auch
wenn er über ein solches Gedenken konstruktiv nachdenkt. Nehmen Sie diese Geste der Anerkenntnis als Ermahnung entgegen, hier nicht mit dem Kopf durch die
Wand zu gehen.
Warum nehmen wir als Gedenktag nicht den 20. Juni,
den Weltflüchtlingstag? Die UN-Vollversammlung hat
den 60. Jahrestag der Schaffung des Amtes des UNHCR
zum Anlass genommen, diesen Tag zum Weltflüchtlingstag zu proklamieren.
Der UNHCR ist für Vertriebene und Flüchtlinge gleichermaßen zuständig. Damit würden wir ein Zeichen
setzen, dass wir die Versöhnung mit den ehemaligen
Kriegsgegnern wollen, dass wir denjenigen vergeben,
die auch Deutschen gegenüber Unrecht verübt haben,
und dass wir aus der Geschichte die Lehre ziehen, dass
wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für Vertriebene und Flüchtlinge haben, die es auf dieser Welt
immer noch gibt, zum Beispiel in Darfur, im Kosovo
und in anderen Gegenden dieser Erde.
Wenn Sie sich von der Koalition mit so großer Verve
gegen Vertreibung und Verfolgung, die zu Flucht führt,
engagieren, dann ist es für uns umso unverständlicher,
dass Sie noch immer die Aufnahme von weiteren iranischen Flüchtlingen aus der Türkei blockieren, dass Sie
weiterhin Roma aus dem Kosovo abschieben lassen und
dass Sie sogar traumatisierten Flüchtlingen einen jahrelangen schwierigen Prozess um die Anerkennung als
Verfolgte aufbürden.
Wenn es Ihnen mit dem ernst ist, was Sie hier so großspurig behaupten, nämlich dass wir angesichts unserer
Geschichte besonders sensibilisiert sind, dann sind diese
Fragen der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit Ihrer
Aussage. Diese Ernsthaftigkeit kann ich leider nicht erkennen. Vielleicht führen aber die Überlegungen, wie
wir dieses Thema historisch angemessen bearbeiten und
wie wir dieses Themas angemessen gedenken, dazu,
dass sich in unserer Gesellschaft etwas produktiv verändert.
Ich bin durchaus für eine Ausstellung zum Thema
Vertreibung. Allerdings bin ich dafür, sie auf andere
Füße zu stellen. Zum einen sollte das ganze Haus mit
seinen Gremien daran beteiligt werden. Zum anderen
sollte der Einfluss des BdV zurückgefahren und dafür
gesorgt werden, dass historische Wahrhaftigkeit und die
Einordnung der Schicksale in den historischen Kontext
auch dort Platz greifen kann.
Ich möchte Ihnen als Kind einer Vertriebenenfamilie
etwas erzählen. Das, was der polnische Wissenschaftler,
der dem Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehört, gesagt hat,
ist wahr; das kenne ich aus der Geschichte meiner eigenen Familie. Meine Großeltern sind nach dem Ersten
Weltkrieg aus Slowenien ins Sudetenland vertrieben
worden. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie - ich
stamme aus einer österreichischen Offiziersfamilie - aus
dem Sudetenland vertrieben. In unserer Familiengeschichte gab es die Sage, dass es mit den Tschechen vor
dem Krieg irgendwie ganz schwierig war. Gleichzeitig
hatte mein Großvater dem tschechischen Staat gegenüber das Angebot ausgeschlagen, als General in der
tschechischen Armee zu dienen. So schlimm kann es mit
der Diskriminierung der Deutschen im Vielvölkerstaat
der Tschechoslowakei nicht gewesen sein.
({5})
Angeblich war auch niemand Nazi, niemand in der
Sudetendeutschen Partei. Als ich kürzlich beim Umzug
meiner Mutter Unterlagen aufgeräumt habe, habe ich herausgefunden, dass ein Teil der Narration der Geschichte
unvollständig war: Natürlich war mein Vater in der Sudetendeutschen Partei. Als er 1939 ins Reich gegangen
ist, war er auch Mitglied im Nationalsozialistischen
Kraftfahrerbund. Er war zwar kein engagierter Nazi,
kein SS-Offizier wie die Unterzeichner der Charta der
Heimatvertriebenen; trotzdem hat man sich in die Tasche
gelogen, wie man sich vor der Vertreibung gegenüber
den ehemaligen tschechischen und slowakischen Nachbarn gebärdet hat, wie man sich politisch positioniert hat
und dass man als österreichische Minderheit im tscheVolker Beck ({6})
choslowakischen Staat nicht bereit war, sich zu integrieren und an diesem gemeinsamen Staat mitzuwirken, weil
man in der Minderheit war.
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.
Diese Geschichten - nicht nur das schwere Schicksal
der Vertreibung, das nach diesem Kapitel folgte - müssen in einer solchen Ausstellung, wenn sie Wahrhaftigkeit und Aufarbeitung befördern soll, ebenfalls erzählt
werden.
({0})
Das Wort hat nun Klaus Brähmig für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wer in diesen Tagen nach wahrer Versöhnung
sucht, sollte nicht in ein Fernsehstudio nach Hamburg
fahren, sondern das Edith-Stein-Haus in Breslau besuchen. Wer in der schlesischen Geburtsstadt von Teresia
Benedicta vom Kreuz die Geschichte der heiliggesprochenen Ordensschwester studiert, erfährt, dass die Patronin Europas eine Frau war, die vorbildlich im Hinblick
auf Versöhnung war. Das Geheimnis der Versöhnung
heißt nämlich nicht Abrechnung, sondern Erinnerung.
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ muss im
21. Jahrhundert in einen größeren, mitteleuropäischen
Zusammenhang gestellt werden. Die deutschen Heimatvertriebenen leisten an der Basis echte Versöhnungsarbeit. Ich verweise nur auf zwei bemerkenswerte Beispiele. Zum einen fand im letzten Jahr das erste deutschpolnische Heimattreffen in Kolberg statt. Zum anderen
bedauerte der rumänische Innenminister auf dem Heimattag der Siebenbürger Sachsen 2010 die Aussiedlung
der deutschen Minderheit und kündigte neue Beziehungen an. Hinter der Brückenfunktion steht eben keine
leere Formel, sondern die Chance zu wahrer Aussöhnung. Nur aus der positiven Bewältigung der Kriegsund Nachkriegsgeschichte erwächst gegenseitiges Verständnis, aus dem sich vielleicht sogar ein Mehr an europäischer Solidarität ergibt.
({0})
Angesichts der aktuellen Entwicklung in Minsk und
Kiew könnte ein neuer Zusammenhalt in Mitteleuropa
eines Tages von zentraler Bedeutung sein.
Das Thema des Antrags ist deshalb für Deutschland
wie für Europa von großem Gewicht. Um die teils hysterische Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen zu
bringen, sind ein paar grundsätzliche reflektierende Äußerungen angebracht. Der Zweite Weltkrieg stellt bis
heute den größten und verheerendsten Konflikt in der
Menschheit dar. Tatsache ist - das findet sich im vorliegenden Antrag wieder -, dass die deutsche Kriegsschuld
außer Frage steht - Punkt. Diesem Satz darf kein Aber
folgen; sonst wäre er tatsächlich, lieber Kollege Thierse,
ein Alibisatz. Neben dem jährlichen Holocaustgedenktag, der in diesem Hohen Haus stets begangen wird, gibt
es laut einer Dokumentation der Bundeszentrale für politische Bildung bundesweit über 2 000 NS-Gedenkstätten, die täglich von Hunderten Schulklassen und Zigtausenden Besuchern besichtigt werden. Dieses Faktum
widerlegt als konkretes Beispiel den diffusen Vorwurf,
es gebe hierzulande Tendenzen, sich jetzt als Opfervolk
zu stilisieren. Es gibt keine solche Geschichtspolitik, und
Christdemokraten wie Liberale weisen dies mit aller
Entschiedenheit zurück.
({1})
Kein Land weltweit hat sich mit seiner jüngsten Vergangenheit und Geschichte so intensiv auseinandergesetzt,
wie wir es getan haben und wie wir es auch zukünftig
tun werden.
({2})
Wer außerdem allen Ernstes eine neue Kollektivschulddebatte vom Zaun bricht, zeugt nicht gerade von
Klugheit und Weitsicht.
({3})
Sollte sich dahinter schieres Misstrauen verbergen, hätte
man tatsächlich nichts aus dem Kalten Krieg gelernt.
Wohl aber gilt es, den Eindruck zu vermeiden, von den
massenhaften Gräueln des Zweiten Weltkriegs seien lediglich zwei Gruppen, Juden und Deutsche, betroffen gewesen. Deshalb haben wir in unserem Antrag ausdrücklich festgehalten, dass mit Gedenkvorhaben des Bundes
in Berlin auch die Aufgabe verbunden sein muss, an die
Vertreibung von über 1 Million Polen aus den damaligen
polnischen Ostgebieten und Hunderttausender Ukrainer
im Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen Westverschiebung Polens zu erinnern.
Bei allem Respekt vor berechtigter Kritik - ich habe
alle Reden der ersten Lesung und die Wortbeiträge des
Kulturausschusses gründlich analysiert -: Dabei ist die
Opposition deutlich über das Ziel hinausgeschossen.
({4})
Ich habe den Eindruck, Sie haben das Kernanliegen unseres Antrags nicht einmal ansatzweise erfasst. Ja, die
Stuttgarter Charta ist ein Zeitdokument, dessen Sprache
uns heute fremd erscheint und dessen Entstehung man
aus den damaligen Umständen erklären muss.
({5})
Dies ist nach wie vor eine Forschungslücke. Aber Sie
verbeißen sich in der Textkritik, anstatt die historische
Bedeutung des Dokuments zu erkennen, die gerade in
der Absage an radikale Kräfte und in der Eigenverpflichtung zur Integration liegt.
({6})
Natürlich erwähnt niemand von Ihnen das im Antrag
wiedergegebene Zitat des ehemaligen Bundesinnenministers Schily. Er räumte auf dem Tag der Heimat 1999 in
Berlin offen ein, dass die politische Linke zeitweise über
die Vertreibungsverbrechen und das Leid der Vertriebenen hinweggesehen habe.
({7})
Oder ist Otto Schily nicht mehr Mitglied der SPD?
Anstatt einen konstruktiven Beitrag zu leisten, hängen
Sie sich lieber mit blindem Eifer an Personalien auf, die
in dem Antrag überhaupt nicht zur Disposition stehen.
({8})
Weder haben Sie sich die Mühe gemacht, einen eigenen
Antrag zu entwerfen, noch ist es Ihnen eingefallen, eine
ausgewogene wissenschaftliche Befassung mit der Charta
anzuregen.
Meine Damen und Herren, es ist schon im persönlichen Bereich oft schwer genug, sich auszusöhnen. Wie
soll da Versöhnung zwischen Völkern möglich sein,
wenn es um millionenfaches Leid auf beiden Seiten
geht? Muss es uns nicht wie ein Wunder anmuten, dass
wir Deutsche gerade in den Ländern, in denen der
Zweite Weltkrieg am Schlimmsten gewütet hat, heutzutage wieder freundlich aufgenommen werden? Das letzte
Kapitel dieses Krieges ist jedoch noch nicht abgeschlossen, und dessen Aufarbeitung darf von unserer Nation
nicht unterschätzt werden.
({9})
So wie der damalige Umzug der Regierung nach Berlin dazu diente, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, zielt unser Antrag zum Thema „Flucht und Vertreibung“ in erster Linie auf die Versöhnung der
Deutschen mit sich selbst. Die nationale Katastrophe am
Ende des Zweiten Weltkrieges muss endlich von der gesamten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichte
begriffen werden. Daher ist ein Zeichen der Verbundenheit, ein nationaler Gedenktag mit den Vertriebenen und
deren Nachkommen, notwendig, um die Versöhnung zu
vollenden.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Nein. - Dies ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe
ersten Ranges, die wir ruhig, aber beharrlich angehen
und auch meistern werden.
An dieser Stelle danke ich meinen Kollegen Patrick
Kurth und Wolfgang Börnsen besonders herzlich für die
vertrauensvolle und ausgezeichnete Zusammenarbeit.
Wir haben nicht nur in dieser Legislaturperiode gemeinsam noch viel vor. Meine Bitte ist: Stimmen Sie diesem
Antrag zu.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Volker Beck das Wort.
Herr Kollege Brähmig, Sie haben mich gerade mit einer Aussage in Ihrer Rede etwas stutzen lassen. Sie haben gesagt, das Kapitel des Zweiten Weltkrieges sei
nicht abgeschlossen.
({0})
Meinten Sie die Aufarbeitung, oder wollten Sie damit
offene Rechtsfragen ansprechen, die sozusagen noch der
Klärung bedürfen? Ich finde es wichtig, dass wir in dieser Debatte wissen, auf welcher Grundlage wir reden.
Oder sehen Sie es wie Frau Steinbach, dass wir im Osten
eine Grenze haben, die eigentlich nicht unsere Zustimmung finden sollte?
Kollege Brähmig, Sie haben Gelegenheit zur Antwort. - Keine Reaktion.
({0})
Dann erteile ich dem Kollegen Patrick Kurth für die
FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Ich bin dankbar dafür, dass Sie, Herr
Thierse, heute hier reden konnten, obwohl Sie Dienst haben. Ich habe es bedauert, dass Sie beim letzten Mal
nicht reden konnten.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte
Frau Jochimsen, die Vertriebenen haben sich nach dem
Krieg Gott sei Dank nicht so benommen wie die SED
nach der Wende. Sie verklären und relativieren die GePatrick Kurth ({1})
schichte, Sie drehen die Historie um. Das haben die Vertriebenen nicht getan.
({2})
Keine Organisation in der Geschichte der Bundesrepublik hat derart die Geschichte verklärt, Verbrechen vertuscht, Gewalt verharmlost oder sich eines unanständigen Revanchismus und Relativismus bedient, wie Sie es
getan haben. Sie haben kein Recht, so zu reden,
({3})
erst recht nicht, da in der jüngeren Geschichte
Dr. Gregor Gysi von Ihrer Partei beim letzten Vertreibungsdiktator, Herrn Milosevic, in Serbien war und ihm
den Hof gemacht hat.
({4})
Herr Beck, ich möchte kurz darauf hinweisen: Die
Namen, die Sie nennen, sind verabscheuungswürdig.
Das ist so. Aber mehr als zwei Drittel der Vertriebenen
waren Frauen und Kinder. Auch das muss man zur
Kenntnis nehmen. Das müssen Sie, wenn es um Fragen
von Schuld und Ähnlichem geht, mit berücksichtigen.
Ich hatte schon beim letzten Mal das Gefühl und habe es
dieses Mal wieder, dass Sie hier einen persönlichen Igel
bürsten wollen und dazu die Plenardebatte des Deutschen Bundestages nutzen.
({5})
Das können Sie zwar auf persönlichem Wege machen,
aber nicht im Deutschen Bundestag angesichts eines solchen Themas.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Jochimsen?
Ja, bitte.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie mir absprechen, hier im Parlament das Wort ergreifen zu können? Ich möchte in diesem Zusammenhang
- obwohl es eigentlich überflüssig ist - darauf hinweisen, dass ich nie Bürgerin der DDR war. Ich gehöre auch
nicht zur Familie des früheren Präsidenten Milosevic.
Ich sage das, weil Sie beides erwähnt haben. Aufgrund
welcher Tatsachen wollen Sie mir das Recht absprechen,
hier im Bundestag zu reden?
({0})
Sie können über das Thema reden, aber ob Sie dabei
die moralische Keule schwingen können, ist eine andere
Frage. Angesichts der Tatsache, dass ein ehemaliger
Vorsitzender Ihrer Partei bei Milosevic Hof gehalten hat,
müssen Sie sich schon fragen, ob das in Ordnung war
und ob Sie hier so reden können.
({0})
Außerdem: Ihre Vorsitzende hat eine Debatte losgetreten
- in dieser Woche hat sie übrigens nachgelegt -, indem
sie sinngemäß sagte, dass der Kommunismus von Stalin,
Mao und Pol Pot nichts, aber auch gar nichts mit dem
Kommunismus in der Theorie zu tun hat.
({1})
Wenn Stalin nun nicht mehr als Kommunist durchgeht,
dann rate ich Ihnen, sich mit den Stalinisten in Ihrer Partei zu unterhalten, was die davon halten.
({2})
Sie können darüber reden - wir haben Sie auch ungestört
reden lassen -, aber ich spreche Ihnen ab, die moralische
Keule zu schwingen.
({3})
Der Zeitgeist bei der jüngeren Generation - darauf
möchte ich verweisen - ist ein anderer als der, den Sie
hier unterstellen. Es gibt ein neues und frisches Interesse
an Geschichte.
({4})
Es gibt ein neues und frisches Interesse auch an den Gebieten. Es gibt einen intensiven Austausch mit Polen und
Tschechien, der sehr gefragt ist, und es gibt entsprechende Literatur, zahlreiche Romane; Günter Grass
wurde erwähnt. Das hat nichts mit irgendwelchen Trachtenzeiten oder Funktionärsinteressen zu tun. Es gibt bei
den jungen Leuten ein unbefangenes Verhältnis, auf das
man aufbauen möchte.
Im Gegensatz dazu betreten Sie ausgetretene Pfade.
Auch in der Diskussion werden die alten Fronten sichtbar. Sie machen den entscheidenden Fehler, die Charta
als rückwärtsgewandtes Dokument zu sehen, das nur um
der Aufarbeitung des Krieges willen geschrieben worden
ist. Aus meiner Sicht ist es das nicht. Vor allen Dingen
im Jahr 2011 kann man das so nicht sehen.
({5})
Die Charta war und ist wegweisend und der Zukunft
zugewandt. Sie spricht von einem geeinten Europa. Sie
spricht von der Ächtung der Vertreibung weltweit. Dass
Vertreibung nach wie vor aktuelle und traurige Realität
ist, das mag doch niemand bestreiten. Es wäre wünschenswert, dass sich die Vertriebenen, die es weltweit
gibt, so verhalten würden wie die deutschen Vertriebe10126
Patrick Kurth ({6})
nen. Das wäre ein gutes Zeichen. Das ist die Strahlkraft
der Charta.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Bitte schön.
Offensichtlich halten Sie alle Oppositionsredner in
dieser Debatte für unehrlich.
({0})
- Das hat er mir gegenüber zum Ausdruck gebracht und
auch gegenüber der Kollegin Jochimsen. Aber vielleicht
kann er das klarstellen.
({1})
- Herr Strobl, ich habe jetzt das Wort.
Ich möchte eine Frage stellen.
({2})
- Herr Präsident, ich rede, sobald ich das Ohr des Hauses habe.
Kollege Beck, einfach durchhalten!
Ich bin da ganz gelassen.
({0})
Wir haben vorhin aus einem Artikel der Frankfurter
Rundschau zitiert. Es ging um einen Beitrag eines Mitglieds des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dieser stellt
eindeutig klar, wie die Charta und die Bezugnahme des
Bundestages auf diese Charta in Polen verstanden wird.
Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass es in der
polnischen Regierung bereits Irritationen darüber gibt,
was heute hier beschlossen werden soll.
Halten Sie ein solches Signal an Polen, an Tschechien, an die Slowakei wirklich für außenpolitisch angemessen? Sie von der FDP stellen den Außenminister.
Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass die alle - wie wir in
der Opposition - zu blöd sind, die Charta historisch richtig einzuordnen? Sie sollten einmal darüber nachdenken,
welche eindeutige Botschaft die Charta für unsere Nachbarn hat: die Relativierung der deutschen Verbrechen
und das Dramatisieren und Singularisieren des Leidens
der deutschen Heimatvertriebenen. Das muss doch auch
Ihnen als Liberale zu denken geben. Das vermute ich zumindest, wenn ich an die FDP von früher denke.
({1})
Herr Beck, ich weise mit aller Entschiedenheit zurück, dass ich - oder jemand anders aus der Regierungskoalition - der Opposition oder irgendjemandem in diesem Hause abspreche, sich hier äußern zu dürfen, oder
dass ich jemandem unterstelle - Ihre Worte -, gänzlich
blöd zu sein;
({0})
im Gegenteil. Ich weise aber darauf hin, dass einige hier
sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie die moralische
Keule schwingen.
Ich sage Ihnen, dass das Dokument, die Charta, im
Zeitzusammenhang gesehen werden muss. Damals war
es so, dass alle Parteien erklärten - ich will eigentlich
gar keine Namen nennen; Otto Grotewohl sprach von
der Amputation des deutschen Reichsgebietes; denken
Sie auch an Kurt Schumacher! -, dass man sich so mit
dieser Abtrennung nicht abfinden werde. Inhaltlich
stütze ich das überhaupt nicht; es ist überhaupt nicht
mehr Komment. Es ist völlig klar, dass das heute niemand mehr in irgendeiner Weise unterstützen würde.
({1})
Die Charta ist in einer Zeit entstanden, in der man
überall hörte, auch von alliierter Seite: Da ist das letzte
Wort noch nicht gesprochen.
({2})
Die Charta ist wegweisend und sagt: Wir als Betroffene
mischen uns dort nicht ein.
({3})
Wir verzichten darauf. Wir überlassen diese politische
Auseinandersetzung denen, die Politik machen. Nach
dieser Charta werden wir das so nicht mitmachen.
({4})
Wenn wir an andere Gebiete heute denken, erkennen
wir: Es wäre wirklich wichtig, dass Opfer sich in dieser
Weise äußern. Es geht dabei nicht darum, Schuld auf
sich zu nehmen, sondern um die Notwendigkeit, zu einer
Einigung zu kommen. Zu den Reaktionen in Polen kann
ich Ihnen sagen: Hier ist alle Vorsicht geboten.
({5})
Patrick Kurth ({6})
Irgendjemand hatte gefragt, warum der Charta-Antrag
so spät kam. Wir haben auf alle möglichen internationalen Notwendigkeiten Rücksicht genommen. Wir haben
sehr intensiv und lange daran gearbeitet.
({7})
Ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht nur die Regierungsfraktionen waren, die daran mitgearbeitet haben.
Ich versichere Ihnen, dass es hier ausschließlich darum
geht, die Charta in ihrer internationalen Verhältnismäßigkeit zu sehen.
({8})
Ich könnte das folgende Thema natürlich mit in die
Beantwortung der Frage nehmen, aber ich will darauf
verzichten.
({9})
Thema Gedenktag. Das ist ein Punkt, über den man
sich im Moment streitet. Damit das hier ganz klar ist:
Ein Gedenktag für Vertreibungen gilt nach unserer Vorstellung für alle Vertreibungen. Die Fokussierung auf die
Vertreibung der Deutschen wäre wieder ein Rückgriff
auf die Vergangenheit. Wir schauen nach vorn, und wir
haben auch die Vertreibungen im Blick, die seit jener
Zeit geschehen sind. Für uns gilt: Es geht um Vertreibungen, unabhängig von Ort, Zeit oder Umständen.
Ähnlich ist es beim Thema Gedenkstätte. Es werden
zum Teil Ängste geschürt, dass hier eine Gedenkstätte
nur für die deutschen Opfer entstehen soll. Ich sage deutlich: Das ist falsch. Es soll über eine Gedenkmöglichkeit
in der Dokumentationsstätte nachgedacht werden, die
aber nicht nur für die deutschen Opfer da ist; nein, es
geht - da wiederhole ich mich gern und so oft, wie Sie
möchten - um Vertreibungen weltweit.
Thema Rache. Ähnlich ist das mit der Begrifflichkeit
des Wortes „Rache“. Niemand hat das Recht auf Rache.
Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg und für alle Seiten. Das ist ein Leitgedanke, der bei den aktuellen Konflikten heute viel zu selten eine Rolle spielt. Ich sage
dazu auch deutlich: Verbrechen der Deutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen, aber Verbrechen der
Deutschen werden eben auch nicht kleiner durch die
Verbrechen an Deutschen. Schuld und Leid, das ist immer individuell.
Ich möchte zusammenfassen: Wir sorgen mit dem
Antrag dafür, dass die junge Generation diesem Thema
gegenüber weiterhin aufgeschlossen bleibt, ohne ideologische Verblendungen, und dass über dieses Thema offen gesprochen wird - nach allen Seiten. Das ist notwendig. Wir tun das nicht nur, damit sich die Leute erinnern
können, sondern auch - das ist das Entscheidende -, damit sie urteilsfähig bleiben.
({10})
Man muss urteilsfähig bleiben, egal ob es das eigene
Land oder eine andere Region betrifft.
Wir wollen die internationale Aufgabe. Wir wollen
nichts verklären. Es geht darum, dass wir friedlich mit
unseren Nachbarn zusammenleben und über alles das reden, was in der Vergangenheit über uns gekommen ist positiv, negativ.
Ich bedanke mich recht herzlich.
({11})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Lassen Sie mich mit drei
Zitaten beginnen. Das erste Zitat:
12 Millionen Vertriebene gründen keine militanten
Freikorps, die sich an den Gefühlen der Gekränkten
und Zukurzgekommenen mästen. Sie gründen auch
keine Untergrundarmee. Sie wurden nicht zum sozialen Sprengstoff - wie Stalin es wollte -, sondern
sie verzichteten früh auf Rache und wurden damit
zu etwas wie sozialem Sauerteig.
Sie beginnen sich Stück für Stück aus den Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den glücklicheren
Einheimischen zu befreien, ringen denen einen Lastenausgleich ab, schlucken den Groll über die Alltagsdemütigungen herunter, vertrauen auf ihre eigene Kraft und werden damit zum eigentlichen
Motor einer gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Modernisierung ihrer ganzen Umgebung.
Das zweite Zitat:
Umso beeindruckender liest sich auch aus heutiger
Perspektive die Charta, welche die deutschen Heimatvertriebenen gleichsam als ihr „Grundgesetz“
verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“ Und zweitens: „Wir werden jedes Beginnen
mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem
die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“
Ich denke, diesem Ziel sind wir heute - jedenfalls
auf dem größeren Teil unseres Kontinents - näher
als jemals in der Vergangenheit.
Und nun das dritte Zitat:
Alle, die in unserem Land leben - die Jungen und
die Älteren, Frauen und Männer, Arbeitnehmer und
Arbeitgeber, Deutsche und Ausländer, Vertreterinnen und Vertreter aus Bildung, Kirche, Kultur,
Medien, Politik, Sport, Verbänden, Vereinen und
Wissenschaft - haben daran mitgewirkt. An einem
Deutschland mit Chancen für alle. An einem
menschlichen und toleranten Deutschland. Die
Charta der Heimatvertriebenen hat dabei eine wichtige Rolle gespielt.
Stephan Mayer ({0})
Diese Zitate stammen nicht von Vertretern des Bundes der Vertriebenen, sie stammen auch nicht von Vertretern der CDU, der CSU oder der FDP, diese drei Zitate
stammen in der Folge von Frau Dr. Antje Vollmer, die
damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war,
vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder aus dem September 2000 und vom derzeitigen Parteivorsitzenden der
SPD, Sigmar Gabriel, damals in seiner Funktion als
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mich
beschwert und traurig macht, ist nicht, wie Professor
Ruchniewicz gestern in der Frankfurter Rundschau geschrieben hat, dass unser Antrag ein „Rückfall in Zeiten
des Kalten Kriegs“ sei, was mich wirklich traurig
stimmt, ist, dass die Beiträge der Opposition einen Rückfall in Zeiten darstellen, von denen ich eigentlich
glaubte, dass sie schon überwunden seien.
({2})
Ich möchte deshalb dringend an Sie appellieren: Besinnen Sie sich wieder der Auffassung und der Positionen,
({3})
die führende Vertreter Ihrer Parteien schon einmal vor
mehreren Jahren vertreten haben.
({4})
Man muss doch gar kein Anhänger und vielleicht
auch gar kein Freund des Bundes der Vertriebenen sein,
um anzuerkennen, dass die Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 ein historisch herausragendes
Dokument ist, ein singuläres Dokument, ein Akt der
Selbstüberwindung, wie es die Präsidentin des BdV, die
Kollegin Erika Steinbach, genannt hat.
({5})
Ich möchte auch in aller Deutlichkeit betonen, dass
wir uns davor hüten sollten, uns zu überheben - ich spreche da auch ganz bewusst den Herrn Kollegen Thierse
an -, indem wir die Charta der Heimatvertriebenen jetzt,
60 Jahre später, hier im wohltemperierten Plenarsaal des
Bundestages losgelöst von ihrem historischen Kontext
bewerten.
({6})
Die Charta der Heimatvertriebenen wurde verabschiedet von leidenden, gedemütigten, traumatisierten
Menschen.
({7})
Damals, 1950, lebten 49,5 Prozent der Heimatvertriebenen in Westdeutschland noch in Lagern,
({8})
34 Prozent der Heimatvertriebenen lebten in Notunterkünften. Ich bitte Sie wirklich eindringlich, dieses historisch herausragende Dokument, ein Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland, als das es der
Bundestagspräsident bezeichnet hat, wirklich im historischen Kontext zu betrachten.
({9})
Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich glaube wirklich, dass wir einen Fehler machen würden, wenn wir behaupten, man hätte den einen oder anderen Satz in der
Charta anders formulieren können. Die Heimatvertriebenen konnten doch gar nicht auf Rache und Vergeltung
verzichten, weil sie rechtlich gar keinen Anspruch darauf hatten. Die Charta der Heimatvertriebenen war kein
rechtliches Gutachten. Sie war auch keine historische
Abhandlung. Deswegen ist der Vorwurf verfehlt, zu sagen, die Heimatvertriebenen hätten in der Charta historisch plausibel zu wenig auf die Ursachen der Vertreibung Rücksicht genommen und seien zu wenig darauf
eingegangen. Nein, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, alle Deutschen - egal ob sie Vertriebene
sind oder nicht, egal ob sie einen Vertriebenenhintergrund haben oder nicht - können auf diese Charta stolz
sein,
({10})
und zwar ohne Schaum vor dem Mund und ohne Ideologie. Sie ist ein Zeichen der Kraft, der Zuversicht und der
Aufbruchsstimmung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Korte von der Fraktion Die Linke?
Sehr gerne.
Sehr geehrter Kollege Mayer, ich möchte auf die
Frage zurückkommen - Sie haben sie gerade angesprochen -, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist. Möchten
Sie wirklich behaupten, dass die von der Kollegin
Jochimsen vorhin detailliert genannten ehemaligen Mitglieder der SS - das waren zum Teil ranghohe SS-Offiziere - Opfer gewesen sind? Ist das ernsthaft Ihre Position?
Herr Kollege Korte, ich möchte eines in aller Deutlichkeit festhalten: Die Tatsache, ob jemand vertrieben
Stephan Mayer ({0})
wurde oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ihm persönliche Schuld nachgesagt werden kann oder nicht.
({1})
Es sind Menschen vertrieben worden, die in das nationalsozialistische Unrechtsregime mit eingebunden waren. Es sind aber weitaus mehr - millionenfach - Menschen vertrieben worden, die vollkommen unschuldig
waren. Herr Kollege Korte, der Umstand, ob man vertrieben wurde oder nicht, war nur darauf zurückzuführen, wo man lebte. Das war also ein zufälliger Aspekt.
({2})
Viele Menschen in Westdeutschland, die vielleicht selbst
große Schuld an den grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus gehabt haben, sind nicht vertrieben worden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem
Zweiten Weltkrieg sind aber weitaus mehr Menschen
vertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren.
({3})
Deren Schicksal zu gedenken, dafür sind wir nach wie
vor in vollem Umfang verantwortlich.
({4})
Die Charta war und ist ein herausragendes Dokument,
das für die weitere Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wegweisend war.
({5})
Wie schon erwähnt: Darauf können wir alle sehr stolz
sein.
Die Integrationsleistung von 12 Millionen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus meiner
Sicht eine der größten gesellschaftspolitischen Leistungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
({6})
Wir Deutsche haben den Auftrag, den wir nach dem
Zweiten Weltkrieg bekommen haben, meines Erachtens
sehr stringent und auch sehr behände angenommen und
auf politischer Seite dann 1952 mit dem Lastenausgleichsgesetz und 1953 mit dem Bundesvertriebenengesetz entsprechend begleitet. Ich finde, diesem historischen Dokument sind wir nach wie vor verantwortlich.
Deswegen ist es richtig, dass der 5. August endlich zum
nationalen Gedenktag erhoben wird, um dem schrecklichen Schicksal von 12 Millionen Heimatvertriebenen
und 3 Millionen Menschen, die bei der Flucht ums Leben gekommen sind, weiterhin dauerhaft zu gedenken
und um in die Zukunft gerichtet als Mahnung zu dienen.
Damit wollen wir erreichen, dass sich Derartiges in
Deutschland, aber auch auf dem ganzen Globus nie mehr
wiederholt.
({7})
In diesem Sinne möchte ich abschließend dringend an
Sie alle appellieren.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition darf ich die Haltung des früheren
Bundesinnenministers Otto Schily, seines Zeichens SPDMitglied, in Erinnerung rufen, der 1999 selbstkritisch
eingeräumt hat, dass es insbesondere aufseiten der Linken in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine Verharmlosung und eine Verniedlichung des Schicksals der
Heimatvertriebenen gegeben hat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Erika
Steinbach.
({0})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
Manches an den Beiträgen von der linken Seite war
schon erschütternd; das muss ich wirklich sagen.
({0})
Ein Teil der Deutschen hat aufgrund des Wohnortes eine
Kollektivstrafe über sich ergehen lassen müssen, obwohl
sie an den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht
mehr und nicht weniger schuld gewesen sind als ein
Hamburger, ein Berliner oder ein Münchner. Obwohl
- so sagt man - die „Hauptstadt der Bewegung“ München gewesen ist, sind die Münchner nicht vertrieben
worden. Die Deutschen, die in Ost- und Mitteleuropa gelebt haben, sind kollektiv einer Strafe unterzogen worden, die sie nicht mehr und nicht weniger als alle anderen verdient haben, nämlich gar nicht. Vertreibung ist ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
({1})
Jetzt muss man eines hinzufügen. Es wird immer gesagt, dass in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen steht:
Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und
Vergeltung.
Es gibt kein Recht auf Rache und Vergeltung; aber in
ganz vielen Menschen gibt es ein Gefühl, das auf Rache
und Vergeltung beruht. Ich hätte mir gewünscht, dass jemand wie der frühere Außenminister Fischer - er hat in
seinen Straßenkämpferzeiten Arafat, einen gewalttätigen
Menschen, der Rache für das Schicksal der Palästinenser
geübt hat, besucht - das Thema einmal anders betrachtet
hätte.
In der Charta kommt eine innere Überzeugung zum
Ausdruck: Wir wollen das Gefühl der Rache nicht zulassen; wir wollen unseren Schicksalsgefährten mit auf den
Weg geben, dass dieses Gefühl in uns nicht wachsen
darf; wir wollen den Weg des Friedens, der Versöhnung
und des Miteinanders gehen; wir wollen Europa in Frieden mit aufbauen, damit die Völker versöhnt miteinander leben können.
({2})
Mit der Art und Weise, wie Sie heute überheblich auf
all das schauen, was sich damals in den Menschen abgespielt hat, blenden Sie aus, dass die Verabschiedung eines solchen Dokuments in der damaligen Situation eine
übermenschliche Handlung war: acht- und zehnjährige
Jungen hatten erlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt wurden; Frauen hatten gesehen, wie ihre Kinder erschlagen
wurden;
({3})
viele haben noch 1955 hier in Berlin, im Gasometer, zu
sechst auf 6 Quadratmetern gelebt, ohne Fenster, ohne
alles. Das heute auszublenden, zeugt von wenig Mitgefühl für diejenigen, die ein Sonderschicksal erlitten haben.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „60 Jahre
Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung
vollenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4651, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4193 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Grünen auf
Drucksache 17/4693? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4651? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar
Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch
und barrierefrei gestalten
- Drucksachen 17/3433, 17/4659 Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Körber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach der Ausschussberatung befassen wir uns
heute abschließend mit dem Antrag der Linken „Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestalten“.
({0})
- Ja. - Dieser Antrag, den wir schon im Ausschuss beraten haben, macht deutlich, dass die Linken in Deutschland bezüglich der Wohnungspolitik kein kompetenter
Gesprächspartner sind.
({1})
Der Antrag zeigt, dass die Linke die tatsächliche Entwicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt vollkommen ignoriert.
({2})
Wir Abgeordnete können den Wohnungsmarkt bei
uns sehr wohl mit dem Wohnungsmarkt in anderen europäischen Ländern vergleichen. Ich finde, der Wohnungsmarkt in Deutschland ist vorbildlich. Dieser Antrag ist
realitätsfremd und unsachlich. Ich möchte nur einen
Punkt herausgreifen. In dem Antrag steht:
Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland
existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
({3})
Diese Aussage ist durchweg falsch.
Mir ist es wichtig, dass wir ein realistisches Bild von
der Wohnungsmarktsituation in Deutschland zeichnen
und die falschen Behauptungen der Linken korrigieren.
({4})
Das Wichtigste vorweg: Die Wohnraumversorgung in
Deutschland ist gut.
({5})
2006 gab es in Deutschland 39,6 Millionen Wohnungen.
Ich freue mich schon auf die Wohnraumerfassung; denn
dann werden wir aktuellere Daten haben. Von diesen
39,6 Millionen Wohnungen waren knapp 24 Millionen
Wohnungen Mietwohnungen. Das geht aus dem Bericht
über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft des Bundesbauministeriums hervor. Von diesen 39,6 Millionen
Wohnungen standen 2006 3,1 Millionen Wohnungen
leer. Das sind 8 Prozent des kompletten Wohnungsbestandes. Selbstverständlich existieren regionale Unterschiede bei der Wohnraumversorgung. Dennoch haben
wir keinen Wohnraummangel. Der Wohnungsmarkt entwickelt sich stabil.
Das gilt auch für die Mietpreise. Die Nettomieten sind
zwischen 1997 und 2007 jährlich um durchschnittlich
1,1 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Preissteigerungsrate in diesen Jahren lag mit 1,5 Prozent deutlich
höher. Die von den Linken beschworene dramatische
Preissteigerung bei den Mieten hat es nicht gegeben.
({6})
- Und wo leben Sie? Ich spreche von den Nettomieten.
Zwischen brutto und netto sollten Sie unterscheiden können. Das zu vertauschen, haben früher schon andere versucht.
Auch die Linke sollte Statistiken zur Kenntnis nehmen. Richtig ist, dass der Wohnungsmarkt sich selbstverständlich geänderten Rahmenbedingungen anpassen
muss. In einer sozialen Marktwirtschaft wird er das auch
tun.
In Deutschland ist ein Trend eindeutig feststellbar:
Mehr und mehr Menschen zieht es in die Städte und in
die Ballungsräume. Die Kehrseite dieser Entwicklung
ist, dass die Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum
weiter abnimmt. Insbesondere in den neuen Bundesländern ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Es ist unsere
Aufgabe, darauf zu reagieren.
In einer älter werdenden Gesellschaft müssen außerdem mehr Wohnungen barrierefrei ausgestaltet werden.
Deshalb hat das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufgelegt. Hierdurch schaffen wir von der Politik
Anreize zum barrierefreien Ausbau bestehender Wohnungen. Gleichzeitig müssen wir die CO2-Einsparpotenziale des Wohnungsbereichs möglichst optimal ausnutzen. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist
es gelungen, in den Jahren 2006 bis 2008 rund
800 000 Wohnungen energetisch zu sanieren. Auch hier
sind wir auf einem richtigen und guten Weg. Politisch
wird das begleitet. Es wäre schön, wenn das auch ohne
Anreizsysteme, aufgrund von Überzeugungen klappen
würde.
Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass alle Menschen in unserem Land, auch die sozial Schwächeren,
angemessen und menschenwürdig wohnen können. In
diesem Zusammenhang möchte ich das Wohngeld als
gut funktionierendes Instrument herausstellen. Mithilfe
des Wohngeldes können auch einkommensschwache
Haushalte in einer angemessenen und familiengerechten
Wohnung leben. Das Wohngeld wirkt dabei sehr zielgerichtet. Seine Höhe bemisst sich sowohl nach den regionalen Gegebenheiten am jeweiligen Wohnungsmarkt als
auch nach den individuellen Bedürfnissen des Wohngeldempfängers. Es ist das flexible und treffsichere Instrument der Wohnungspolitik.
({7})
Das sind nur einige der Maßnahmen, mit denen wir
einen zunehmend barrierefreien, umweltfreundlichen
und sozial ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutschland anregen. Vieles, was die Linke in ihrem Antrag fordert, ist bereits heute gängige Praxis.
({8})
Nun zur Forderung der Linken, ein Grundrecht auf
Wohnen gesetzlich zu verankern. Das Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat bereits
jetzt, die Versorgung der Bevölkerung mit angemessenem Wohnraum sicherzustellen. Der Staat hat die Aufgabe, Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel und menschenunwürdiges Wohnen zu bekämpfen. Die Zahlen
beweisen, dass diese Bundesregierung und frühere Bundesregierungen diese Aufgabe stets gut erfüllt haben.
Ein von den Linken gefordertes in der Verfassung
verankertes Grundrecht auf Wohnen würde an der Lebenswirklichkeit überhaupt nichts ändern. Wir als christlich-liberale Koalition sehen es stattdessen als unsere
Aufgabe an, unseren ausgewogenen Wohnungsmarkt
weiter zu optimieren. Dies wird insbesondere durch
wohldosierte Neuregelungen im Mietrecht gelingen.
Unser Mietrecht ist seit jeher Garant sozial ausgewogenen Wohnens in Deutschland. Das deutsche Mietrecht
hatte stets beides im Blick, die Interessen der Vermieter,
die natürlich ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit ihrer
Investition haben, und den Schutz der Mieter. Mietern
und Vermietern sollte also über das Mietrecht die Möglichkeit gegeben werden, einen angemessenen Vertrag
zu schließen, sodass beide wissen, woran sie sind, damit
sie eine gute Investitionsentscheidung oder die Entscheidung treffen können, in diesem Haus zur Miete zu leben.
CDU/CSU und FDP werden die Ausgewogenheit des
deutschen Mietrechts weiter erhöhen. Insbesondere im
Bereich der energetischen Sanierung sind Anpassungen
dringend notwendig. Im Sinne des Klimaschutzes wollen wir verstärkt Anreize zur energetischen Sanierung
schaffen.
Gleichzeitig haben die Mieter ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Wohnsituation nicht über Gebühr
durch Sanierungsmaßnahmen belastet wird. Auch hierbei streben wir eine sachgerechte Lösung an. Einen
Rechtsanspruch auf die Durchführung energetischer Sanierungen, wie ihn die Linke fordert, lehnen wir strikt
ab. CDU und CSU sind Mietern und Vermietern gleichermaßen verbunden. Wir suchen nach dem wunderbaren Mittelweg.
Meine Damen und Herren, meine Kollegen werden
weitere Aspekte dieses Antrags in die Debatte einführen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Ausschuss
noch über das Mietnomadentum debattieren werden.
({9})
- Sie haben das wunderbar gelesen. Sie haben auch gelesen, dass das keine statistische Grundgesamtheit war,
sondern dass das Fälle waren, anhand derer das Mietnomadentum in Deutschland untersucht wurde.
Ich halte es für wichtig, dass wir uns dieser Problematik widmen und dass wir Vermieter vor solchen Fällen
schützen. Das werden wir noch intensiv tun.
({10})
Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir einen ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutschland haben. Dass
das so ist, dafür ist allen Bundesregierungen der Vergangenheit zu danken. Wir bitten, der Beschlussempfehlung
des Ausschusses zuzustimmen.
({11})
Der Kollege Bartol hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Großen und Ganzen haben wir in Deutschland einen
ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Das ist gut so; denn
angemessener Wohnraum in einem lebenswerten Umfeld ist ein Grundbedürfnis, für dessen Befriedigung wir
uns immer eingesetzt haben. Das ist eine zentrale Motivation sozialdemokratischer Bau-, Wohnungs- und
Stadtentwicklungspolitik.
Der Wohnungsmarkt stellt sich regional aber sehr unterschiedlich dar. Darauf weisen Sie zu Recht hin, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Leerstände
in bestimmten Gebieten stehen steigenden Mieten zum
Beispiel in Ballungszentren gegenüber. Es gibt also
durchaus Herausforderungen, die es anzupacken gilt.
Doch leider wird der vorliegende Antrag der Linksfraktion uns bei diesen Aufgaben überhaupt nicht voranbringen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich
machen.
Erstens. Wohnungslosigkeit war Ende vergangenen
Jahres Thema hier im Plenum. Wir sind gerade dabei,
uns auf Berichterstatterebene intensiv damit zu beschäftigen. Ich finde es übrigens toll, dass sich die zuständigen Abgeordneten aus allen Fraktionen daran beteiligen.
Wir werden uns morgen mit Experten treffen und darüber beraten, welche Maßnahmen auf Bundesebene
vielleicht sinnvoll sein könnten.
Wohnungslosigkeit konnten wir bisher zum Beispiel
über Mietrecht und Wohngeld ganz gut begegnen. Die
quantitative Entwicklung der Wohnungslosigkeit in den
letzten 20 Jahren ist sehr positiv. Für Wohnraumpolitik
sind seit der Föderalismusreform hauptsächlich die Länder zuständig. In einigen Landesverfassungen ist ein
Grundrecht auf Wohnen verankert. Deshalb stellt sich
die Frage, ob uns eine besondere bundesgesetzliche Regelung, wie sie die Linksfraktion fordert, an dieser Stelle
wirklich weiterbringen würde.
Die Länder bekommen für die soziale Wohnraumförderung Geld aus dem Bundeshaushalt. Hier haben wir
einen Hebel, um den Wohnungsmarkt positiv zu beeinflussen. Ich fordere die Regierung auf, sicherzustellen,
dass die Länder die Mittel sinnvoll einsetzen.
({0})
Über 500 Millionen Euro pro Jahr sind kein Pappenstiel.
Bei derartigen Beträgen ist eine strenge Erfolgskontrolle, lieber Kollege Döring, sehr wichtig.
Zweitens. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag
eine deutliche Ausweitung des Wohngelds. Niemand,
der unterdurchschnittlich verdient, solle mehr als 30 Prozent seines Einkommens für seine Wohnung, für Miete,
Heizung, Wasser und Nebenkosten, ausgeben müssen.
Der Rest soll vom Staat übernommen werden. Nun hat
Schwarz-Gelb das Wohngeld gerade erst gekürzt. Die
Heizkostenkomponente, lieber Kollege Storjohann, ist
gerade abgeschafft worden. Sie war 2009 auf Betreiben
der SPD eingeführt worden. Lieber Herr Kollege, als Sie
von der Sinnhaftigkeit des Wohngeldes gesprochen haben, hätten Sie vielleicht kurz erwähnen sollen, dass es
ein großer Fehler war, die Heizkostenkomponente abzuschaffen.
({1})
Das Wohngeld kräftig aufzustocken, steht also leider
im Moment nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr müssen wir gemeinsam versuchen, mühsam Erreichtes zu
verteidigen und Abgeschafftes wieder einzufordern. Ihr
Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, ist - wie so oft in sozialpolitischen Angelegenheiten - leider völlig unrealistisch und in keiner Weise
durchsetzbar.
Die Kosten für Haushaltsenergie werden mittelfristig
immer weiter steigen. Daran kann niemand ernsthaft
zweifeln. So ist zum Beispiel Heizöl in den knapp zwei
Jahren seit der Einführung der Heizkostenkomponente
um über 20 Prozent teurer geworden. Die Regierung
lässt Einkommensschwache, für die steigende Heizkosten besonders schwer zu verkraften sind, völlig alleine.
So werden die Menschen in Arbeitslosengeld-II-Bezug
und in die Grundsicherung gedrängt. Das ist zurzeit die
Entwicklung. Eine solche Politik wird dafür sorgen, dass
sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.
Wohngeld ist mehr als eine soziale Transferleistung, es
trägt auch zu ausgewogenen Bevölkerungsstrukturen in
den Stadtteilen und damit zur Lebendigkeit und Attraktivität der Städte bei.
({2})
Schwarz-Gelb betreibt nicht nur unsoziale Rotstiftpolitik zulasten von Einkommensschwachen, Rentnern
und Alleinerziehenden, sondern verschärft auch die soziale Spaltung in den Städten. Wir fordern von der Regierung, das Wohngeld als zielgerichtetes Instrument für
eine angemessene Wohnraumversorgung wieder zu stärken. Die Einbeziehung der Heizkosten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist dabei ein ganz
wichtiger Aspekt.
({3})
Drittes und letztes Beispiel: die Städtebauförderung.
Ich freue mich, dass wir von der Opposition uns darin
einig sind, dass die Kürzungen der Mittel für die Städtebauförderung und insbesondere der Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ nicht hinnehmbar sind. Gemeinsam mit dem gerade gegründeten „Bündnis für eine
Soziale Stadt“ werden wir dafür eintreten, dass diese
Kürzungen im Haushalt 2012 zurückgenommen werden.
Dort, wo die Länder das Ausfallen der Bundesmittel für
Gebiete der „Sozialen Stadt“ nicht kompensieren - Berlin und Nordrhein-Westfalen tun dies -, sind viele Stadtteilprojekte ohne Zukunftsperspektiven. Wir fordern die
Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung für eine sozial ausgewogene Entwicklung der Städte und Gemeinden wieder gerecht zu werden.
({4})
Die Forderung der Linken nach einer Zusammenlegung der Städtebauförderungsmittel in einem Topf halte
ich für nicht hilfreich.
({5})
Steuerungsmöglichkeiten des Bundes bei programmatischen Schwerpunktsetzungen und einen expliziten Problembezug der einzelnen Programme möchte ich nicht
aufgeben. Die bisherige differenzierte Programmstruktur
hat sich bewährt und sollte aufgrund der programmbegleitenden Evaluation im Dialog mit den Ländern, den
Kommunen und den an der Programmumsetzung Beteiligten fortentwickelt werden.
Im Oktober letzten Jahres fand die erste Lesung dieses Antrags statt. Ich kann mich nur an sehr wenige Anträge erinnern, die so kurzfristig vor der entsprechenden
Plenarsitzung verteilt wurden. Anscheinend haben Sie
ihn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, erst im letzten Moment fertiggestellt. Ich muss es leider sagen: Er wirkt an vielen Stellen wie mit der heißen
Nadel gestrickt.
({6})
Unter dem Strich kann man sagen: Die Linksfraktion
macht mit diesem Antrag eine ganze Reihe von Fässern
auf, beschränkt die Begründung aber leider immer auf
ein paar Sätze. So ist ihr Antrag keine Grundlage für
eine zielführende Debatte. Das ist schade; denn angesichts der unökologischen und unsozialen Wohnungspolitik dieser Bundesregierung wären es einige Aspekte
sicher wert gewesen, sich ernsthafter mit ihnen zu befassen.
Wir brauchen eine gut ausgestattete Städtebauförderung, die sich nicht auf die Finanzierung von Beton beschränkt. Wir brauchen mehr energetisch sanierte Wohnungen, um sinnvolle Klimaschutzziele zu erreichen.
Dabei muss unter anderem die Politik dafür sorgen, dass
das Wohnen in den Innenstädten auch für Menschen mit
kleinem Einkommen bezahlbar bleibt.
Schwarz-Gelb macht bei all dem das Gegenteil. Die
Regierung kürzt die Mittel und beschränkt so die Städtebauförderung, sie streicht die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung zusammen, sie stellt Wohngeldempfänger
schlechter, und - das haben wir gerade vom Kollegen
Storjohann gehört - sie plant eine Mietrechtsnovelle, die
die Rechte der Mieterinnen und Mieter noch weiter einschränken soll.
({7})
Gegen diese Entwicklung stellt sich die SPD-Bundestagsfraktion. Ich würde mich freuen, wenn sich auch die
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion auf vernünftige Art und Weise daran beteiligen würden.
({8})
Die Kollegin Müller hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema „Wohnen in Deutschland“. Ich muss ganz ehrlich sagen: Etwas Zielführendes
konnte ich, als ich den Antrag das erste Mal gelesen
habe, nicht unbedingt erkennen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion der Linken. Ich glaube, wir sollten
uns mit diesem Thema beschäftigen, weil dem Hohen
Haus und uns allen bewusst ist, welch große Bedeutung
das Thema „Wohnen in Deutschland“ hat. Wir in der
christlich-liberalen Koalition tun das mit unserer Politik
der Städtebauförderung,
({0})
des Wohngeldes, der CO2-Gebäudesanierung und der sozialen Wohnraumförderung.
({1})
Petra Müller ({2})
- Ich wusste noch gar nicht, dass Sie im Hotel wohnen,
Herr Bartol.
({3})
Haben Sie denn wenigstens auch etwas davon, dass die
Mehrwertsteuer für die Hotellerie gesenkt wurde?
({4})
Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, zu Ihrem Antrag. Darin beschreiben Sie,
dass die Bundesregierung, alle wichtigen Fachverbände
und der Fachausschuss unseres Hauses - ich zitiere „ein weitgehend zutreffendes Bild der Situation des
deutschen Wohnungsmarktes“ zeichnen. Diese Bundesregierung und die Fachverbände, so schreiben Sie weiter, gehen davon aus, dass die Wohnungsversorgung in
Deutschland gut ist. So weit, so gut.
Nur einen Absatz weiter kommen Sie in Ihrem Antrag
aber zu der absurden Behauptung - Zitat -:
Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland
existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum.
({5})
Ich muss ehrlich sagen: Damit verblüffen Sie mich.
({6})
Einerseits sagen Sie: Alle Beteiligten zeichnen ein zutreffendes Bild. Andererseits sagen Sie: Nirgendwo gibt
es ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Ich
muss Sie wirklich fragen: Was wollen Sie eigentlich?
({7})
Ich muss Sie noch etwas fragen: Ist das Ihre scharfsinnige Analyse des deutschen Wohnungsmarktes, auf
der Sie Ihre politischen Forderungen aufbauen? Dann
kann ich nur eines sagen: Das ist eine sehr ideologisch
durchsetzte und untermauerte Analyse.
({8})
Die Versorgung mit Wohnraum in der Bundesrepublik
Deutschland ist seit Jahren grundsätzlich sichergestellt.
({9})
Für die natürlichen regionalen Unterschiede auf dem
Wohnungsmarkt machen Sie die Immobilienbranche
verantwortlich.
({10})
Die Immobilienbranche, zu der vorwiegend kleine und
mittlere Unternehmen sowie Einzeleigentümer gehören,
ist also Ihrer Meinung nach daran schuld. Richtig ist natürlich, dass es regionale Unterschiede gibt. In einigen
Regionen gibt es ein Überangebot, und in den megaurbanen Ballungsräumen ist die Angebotslage ausbaufähig.
Der Markt reguliert das von ganz alleine,
({11})
durch Angebot und Nachfrage.
({12})
Sie aber fordern ein Diktat aus Berlin. Sie fordern indirekt sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften.
({13})
Was Menschen zu tun oder zu lassen haben, was Menschen denken oder nicht denken und bauen oder nicht
bauen, das ist ihre eigene freie Entscheidung.
({14})
- Ich kann auch schreien.
Wir leben in einer freiheitlich-sozialen Marktwirtschaft. Eigentum ist in diesem Land ein geschütztes Gut.
({15})
Jeder hat das Recht, seine Lebensziele zu bestimmen,
seine Chancen zu suchen und zu nutzen.
({16})
- Ja, jeder.
({17})
Die Immobilienwirtschaft, die hier ein wenig an den
Pranger gestellt wird, ist von großer Bedeutung für die
Volkswirtschaft. Rund eine halbe Million Erwerbstätige
arbeitet in der Immobilienwirtschaft. Deshalb müssen
wir kleine und mittlere Unternehmen, die privaten
Eigentümer, die kommunalen und die gewerblichen
Wohnungsbaugesellschaften unterstützen. Die unternehmerische Freiheit durch ein ideologisches Korsett einzuengen, kann nicht unser Anliegen sein.
({18})
Deutschland ist ein Mieterland.
({19})
Sechs von zehn Deutschen leben in einer Mietwohnung.
({20})
Petra Müller ({21})
Ziel muss es daher sein - und das war immer unser Anliegen -, die Wohneigentumsquote zu erhöhen.
({22})
Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam die Bedeutung des Wohneigentums betont; denn es stärkt die regionale Verbundenheit und ist traditionelle Altersvorsorge. Das nenne ich bürgerliche Politik.
({23})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, was Sie vorschlagen, ist ein ganzer Katalog an
Forderungen - mal sind es Forderungen, die in die Länderhoheit fallen, mal sind es Forderungen, die in der
kommunalen Verantwortung liegen, und mal ist die Bundesebene zuständig. Ehrlich gesagt, so etwas ist Schaufensterpolitik.
({24})
Ich gehe auf die Punkte ein. Fakt ist - und da sind wir
uns wahrscheinlich alle einig -: Die Gesellschaft wird
älter. Wir erleben den demografischen Wandel. Wir
möchten, dass ältere Menschen lange und selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren eigenen
Wohnungen und in ihrem Quartier leben können.
({25})
Das ist es, was wir unterstützen. Wir unterstützen das
mit dem KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“.
Wir unterstützen auch die Verbesserung der Energieeffizienz; diese steht bei uns ganz oben auf der Agenda.
Mit dem Energieeffizienzgesetz ist es uns das erste Mal
gelungen, die Finanzierung der Förderung alternativer
Energien sicherzustellen, und wir reagieren mit dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Beide Maßnahmen
setzen Investitionsanreize. Das ist ganz wichtig für die
deutsche Wirtschaft, für die Eigentümer, für die Nutzer.
Beide Programme sind überaus erfolgreich.
Vielleicht noch ein Punkt - es wurde gerade angesprochen -: die Ausgleichszahlungen an die Länder.
Diese belaufen sich auf 518 Millionen Euro; das ist richtig. 518 Millionen Euro werden für soziale Wohnraumförderung eingesetzt. Gefördert wird die Barrierereduzierung im Bestand. Gefördert wird Modernisierung.
Gefördert werden Alten- und Pflegeheime und selbstverständlich auch der Neubau.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städtebau ist vielschichtig. Er muss differenziert betrachtet werden: nach
Region und Eigentümerstruktur, nach ökonomischen
und ökologischen Erfordernissen und natürlich nach sozialen Belangen. Genau das tun wir, und zwar zielführend und erfolgreich über die Städtebauförderung und
KfW-Programme.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen der
Linken, Sie fordern eine bedarfsgerechte Versorgung der
Menschen mit Wohnraum. Sie stellen eingangs Ihres Antrags fest, dass die Wohnungsversorgung gut ist. Der
Meinung sind wir auch, weil wir das leisten, und zwar
durch ein soziales Mietrecht, durch Wohngeld, durch
Wohnraumförderung der Länder.
({26})
Was Sie fordern, ist ein Diktat aus Berlin.
({27})
Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({28})
Das Wort hat die Kollegin Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen vor allem der Koalitionsfraktionen!
Was wir von Ihnen immer wieder hören, ist Folgendes:
Hartz IV ist gut. Die Wirtschaft ist gut. Auch der Wohnungsmarkt ist gut. Alles ist gut. - Sie haben die Möglichkeit, hier immer wieder zu verkünden: Alles, was Sie
machen, ist gut. - Es gibt Gott sei Dank die Opposition,
die Ihnen zeigt, dass es auch eine Kehrseite Ihrer Politik
gibt, und das will ich hier heute versuchen.
({0})
Eines der Kernanliegen der Linken ist es, die sozialen
Bedürfnisse der Menschen zu sozialen Rechten zu machen.
({1})
Die Realität sieht aber anders aus: Wohnungen werden
immer mehr zur gewöhnlichen Handelsware - mittlerweile auch auf dem internationalen Parkett.
({2})
Immobilien machen heute - und auch das sagt der
Wohnungsbericht - mit rund 86 Prozent den herausragenden Anteil am deutschen Anlagevermögen, also nicht
am Sozialvermögen des Staates, sondern am Anlagevermögen der Bürgerinnen und Bürger, aus.
Die Regierungen der letzten 20 Jahre haben diesen
Trend mit ihrer Politik stets befördert: mit Sonderabschreibungen für Anleger, mit der Förderung privaten
Wohnungsbaus, durch die der soziale Wohnungsbau verdrängt wurde, oder gar mit der Riester-Rente, mit der
suggeriert wird, dass man sich damit vor Altersarmut
schützen kann. Damit zieht sich der Staat immer weiter
aus der sozialen Verantwortung zurück: zum Beispiel
durch weitere Privatisierungen und den Verkauf an institutionelle Anleger, zum Beispiel durch die Kürzung von
Wohngeld im Haushaltsplan 2011, zum Beispiel durch
die Abschaffung der Gemeinnützigkeit von Wohnungsgesellschaften. Kurzum: Jeder soll sich selber kümmern,
der Markt soll das regeln.
({3})
Die Linke sieht das Wohnen als elementares menschliches Bedürfnis an. Das Recht, unter menschenwürdigen Bedingungen zu wohnen, gehört nach unserer Überzeugung zu den existenziellen sozialen Rechten eines
jeden Menschen unseres Landes.
({4})
Wohnen darf unter gar keinen Umständen zum Luxusgut
oder zum Armutsrisiko unserer Bürgerinnen und Bürger
werden.
({5})
Genau auf diesem schlechten Weg ist die Bundesregierung mit ihrer Politik aber.
Das gilt zum Beispiel für Hamburg. Hier herrscht
massive Wohnungsnot. Derzeit fehlen über 40 000 Wohnungen. Die Mieten sind in den letzten Jahren deswegen
regelrecht explodiert und im Durchschnitt um 28 Prozent
gestiegen. Damit meine ich nicht die Wohnungen in den
Luxusvillenvierteln.
({6})
Tausende Menschen versuchen verzweifelt, irgendwo
noch eine bezahlbare Wohnung zu finden.
({7})
Man fragt schon gar nicht mehr nach dem Zustand dieser
Wohnung, sondern man ist froh, wenn man überhaupt
eine bekommt.
Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen müssen
schon jetzt mehr als die Hälfte ihres Monatsbudgets fürs
Wohnen aufbringen - und das zum Teil für unsanierten
Wohnraum. Der krasseste Fall, der uns bekannt ist, ist
eine Steigerung der Miete nach energetischer Sanierung
um 244 Prozent.
({8})
Dadurch zeigt sich doch, dass der Markt hier, wo es um
Grundbedürfnisse eines jeden Menschen geht, absolut
versagt, wenn man es ihm alleine überlässt.
({9})
In Hamburg sind 150 000 Haushalte auf staatliche
Zuschüsse angewiesen, um die Miete noch irgendwie
zahlen zu können. Weil diese Leute dank der verfehlten
Regierungspolitik trotz Arbeit immer ärmer werden, hat
inzwischen jede zweite Familie in Hamburg einen Anspruch auf eine Sozialwohnung und einen Wohnberechtigungsschein. Dieser nützt ihnen aber nichts; denn sie
finden mit diesem Wohnberechtigungsschein keine
Wohnung mehr in Hamburg.
({10})
Auch in München, Köln, Düsseldorf und andernorts
könnten Sie Ähnliches beobachten, wenn Sie einmal
dorthin gingen, wo der größte Teil der Menschen lebt
oder wenigstens versucht, zu leben. Die Kehrseite ist:
gähnender Leerstand in schrumpfenden Regionen und
abgehängte Quartiere mit verfallender Infrastruktur und
zerstörten sozialen Beziehungen.
({11})
Einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause
trösten sich mit dem Durchschnitt und sagen immer wieder tapfer: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist
gut. Klar, Sie hätten recht, wenn diese Wohnungsuchenden in Hamburg, München, Köln oder Düsseldorf nach
Schwerin, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld oder Stendal ziehen könnten oder wollten.
Die Linke will eine Wohnungs- und Städtebaupolitik,
mit der die tiefgreifenden ökologischen, demografischen
und wirtschaftlichen Veränderungen, vor denen diese
Gesellschaft steht, konzeptionell und allumfassend betrachtet werden und auf die sich die Menschen in dieser
und in den kommenden Generationen, die Länder und
Kommunen, die Hauseigentümer, die Bauwirtschaft und
die Mieterinnen und Mieter verlassen können,
({12})
weil sie eben nicht der jeweiligen Kassenlage, den kurzfristigen Renditeerwartungen und irgendwelchen Klientelinteressen, sondern nur dem Grundgesetz und damit
allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes verpflichtet ist.
({13})
Wir wollen eine neue Objektförderung, die die Lasten
gerecht auf alle Schultern verteilt, die die Mieterinnen
und Mieter, aber auch die Wohnungseigentümer nicht
überfordert, die langfristige Investitionsanreize für die
Bauwirtschaft gibt und die die Länder und Kommunen
entsprechend ihrer regionalen Erfordernisse mitbestimmen lässt.
Wir wollen eine neue Subjektförderung, die es allen
Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, moderne, familiengerechte, altersgerechte und dem Bedarf entsprechende barrierefreie Wohnungen zu bezahlbaren Mieten
zu finden.
({14})
Wir werden diese ehrgeizigen Ziele nicht erreichen,
wenn wir allein der jährlichen Kassenlage und den Haushaltsvorgaben folgen und die Fördermittel zusammenstreichen, bis sie ins Haushaltskonzept passen, und wenn wir
die Bauwirtschaft sich ständig neu auf unberechenbare
Marktbedingungen einstellen lassen, sodass sie zum Beispiel heute mit Konjunkturprogrammen rechnen kann,
um sich schon morgen mit der Kürzung der Fördermittel
auseinandersetzen zu müssen.
Wohnen ist Daseinsvorsorge und damit vorrangig
Aufgabe des Staates, der Länder und der Kommunen.
Deshalb gehört das Wohnen ins Grundgesetz.
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Daniela
Wagner das Wort.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Ein Merkmal der Wohnungspolitik ist, dass sie zwischen einer enormen Vielfalt an gesellschaftspolitischen
und wirtschaftlichen Interessen, Herausforderungen und
Anforderungen vermitteln und abwägen muss. Das
Spektrum der Akteure umfasst international agierende
Investmentfonds oder Aktiengesellschaften, private oder
kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften oder Kleinstbesitzer, Amateurvermieter, Kleinstvermieter und letztlich auch die Mieter.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke liegt eine weitgehend richtige und zutreffende Analyse der aktuellen
Wohnungsmarktsituation in Deutschland zugrunde: genug Wohnungen, aber leider falsch verteilt. Die zwei
zentralen Herausforderungen der Wohnungspolitik sind
derzeit die energetische Gebäudesanierung und der altersgerechte Umbau: Allein 40 Prozent der deutschlandweit verbrauchten Endenergie wird im Gebäudebereich
verbraucht. Bis 2013 brauchen wir nach Angaben der
Expertenkommission „Wohnen im Alter“ 2,5 Millionen
altersgerechte Wohnungen zusätzlich.
Diese Herausforderungen müssen so gemeistert werden, dass sie für Mieterinnen und Mieter sozialverträglich, aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer
wirtschaftlich tragbar sind.
({0})
Wir brauchen neben dem ordnungs- und mietrechtlichen
Rahmen auch entsprechende Anreize für die Kleineigentümer sowie für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft.
Ihre Ansätze zur Objektförderung sind nicht rundweg
abzulehnen. So halte ich zum Beispiel Ihren Vorschlag,
die Förderung des Mietwohnungsbaus von der grünen
Wiese verstärkt auf Innenstädte zu lenken und dort zu
konzentrieren, durchaus für richtig. In einer schrumpfenden Gesellschaft muss man nicht ständig weitere Flächen im Außenbereich bzw. an den Stadträndern versiegeln.
({1})
Die im Antrag vorgeschlagene Zusammenlegung der
Städtebauförderungsprogramme klingt in Kombination
mit integrierten Stadtentwicklungskonzepten zwar interessant, birgt aber auch hohe Risiken wegen fehlender
politischer Steuerungsmöglichkeiten. Zudem bedarf sie
einer eingehenden rechtlichen Überprüfung, meine Damen und Herren von der Linken. Wichtiger wäre aus unserer Sicht vor allem eine massive Stärkung der Städtebauförderung.
({2})
Leider gehen Sie in Ihrem Antrag in keiner Weise auf
die Möglichkeiten der Objektförderung im Rahmen der
staatlichen Programme zur CO2-Gebäudesanierung und
zum altersgerechten Umbau ein, obwohl gerade diese
Programme erhebliche Potenziale der Objektförderung
enthalten, wenn die Mittel dafür erhöht werden, statt sie
zu kürzen, wie es zuletzt in den Etatberatungen der Fall
war.
Unter dem Punkt „Subjektförderung“ schlagen Sie in
Ihrem Antrag vor, das Recht auf eine menschenwürdige
Wohnung und auf die Versorgung mit Wasser und Energie gesetzlich zu garantieren. Wenn Sie das in die Verfassung aufnehmen möchten, dann müssen Sie das auch
deutlich formulieren. An der Stelle würde mir mehr
Klarheit gefallen. Anzumerken ist auch, dass ein solchermaßen formuliertes Grundrecht maßlos Illusionen
erzeugen und falsche Hoffnungen wecken kann.
({3})
Das würde ich gerade für diejenigen, die am Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben, äußerst schade finden.
({4})
Denn der garantierte Wohnraum muss auch zur Verfügung stehen, und zwar dort, wo er gebraucht wird.
Ihre Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen
bleibt unserer Meinung nach ohne konkrete Hinterlegung materiell wirksamer Maßnahmen folgenlos. Sie
dient auch nicht der Auseinandersetzung mit den bestehenden Interessenkonflikten und ist ein Luftschloss nach
dem Motto „Wir schreiben alles, was wünschenswert ist,
in die Verfassung, und dann wird es gut“. So einfach ist
es leider nicht.
({5})
Ich glaube, dass das auch keine Antwort auf Gentrifizierungsprozesse und Segregation ist; es sind vielmehr
Anreize für die Immobilienwirtschaft notwendig und
möglich. Denn gerade diese muss bei angespannten
Wohnungsmärkten zunehmend in den Neubau und sozial
verträgliche Mietwohnungen investieren. Zusätzlich
muss die Wohnungsbauförderung - aber das ist ja künftig vor allen Dingen Angelegenheit der Länder - so ausgestaltet werden, dass sie von der Wohnungswirtschaft
auch abgerufen wird. Derzeit passiert das nämlich kaum.
So sieht unserer Meinung nach auch aktiver Mieterschutz vor überhöhten Mietpreisen aus.
Sie fordern außerdem, dass die Räumung von Wohnraum unzulässig sei, wenn kein zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung steht. Eine solche Regelung ist aus
meiner Sicht nicht vertretbar;
({6})
denn sie würde die Hauseigentümer zu sehr in ihren
Rechten einschränken.
({7})
Man muss sich von Mietparteien auch trennen können,
wenn sie wirtschaftlich schädigen. Anders geht es nicht.
({8})
Wer kein Geld verdient, wird nicht investieren, wird
nicht mal instand halten.
Unser Mieterschutz ist im internationalen Vergleich
durchaus hervorragend aufgestellt. Wir haben mithin die
besten Mieterschutzrechte im europäischen Raum. Das
werden Sie auch feststellen, wenn Sie sich mal im europäischen Ausland umschauen.
Zum Schutz vor Obdachlosigkeit besteht übrigens
schon jetzt das Wiedereinweisungsrecht durch die Kommunen.
({9})
Sie können bei drohender Obdachlosigkeit wieder in die
Wohnung einweisen und müssen für die Kosten aufkommen.
({10})
Deswegen sage ich, es würde schon ausreichen, wenn an
der Stelle die Kommunen die präventiven Instrumente
wie zum Beispiel die Wohnungssicherungsstellen ausbauen könnten.
Ihre Forderung zur Neuausgestaltung des Wohngeldes
ist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine Vermietersubvention. Die hätten keinerlei Veranlassung mehr,
preiswerten Wohnraum zu bauen, preisbewusst zu vermieten bzw. preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu
stellen,
({11})
weil der Staat ja letztlich für jedwede Miethöhe einsteht.
Wir Grünen wollen eine passgenaue und zielgerichtete
Subjektförderung, wir wollen einen dynamischen Anpassungsmechanismus im Wohngeldrecht, und wir wollen vor allen Dingen auch die Einkommensgrenzen in
den Blick nehmen. Schließlich wollen wir auch die
Heizkostenkomponente, die Sie jetzt leider wieder abgeschafft haben,
({12})
zu einem Klimawohngeld weiterentwickeln, damit künftig das Bewohnen, das Anmieten einer energetisch hervorragend sanierten Wohnung aus Steuermitteln mit bezahlt oder zumindest subventioniert und unterstützt wird
und nicht das Heizen zum Fenster hinaus.
({13})
Das fände ich wichtiger, und das würde auch weiter den
Anreiz erhöhen, energetisch zu sanieren und die Häuser
in einen erstklassigen Zustand zu bringen, was mehr als
überfällig ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir sind
der Auffassung, man kann sich bei dem Antrag der Linken auf jeden Fall enthalten.
({14})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ludwig das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Wagner, Sie haben mir in ganz
vielen Punkten sehr aus der Seele gesprochen. Das
möchte ich an der Stelle sagen. Wenn Sie jetzt Ihre Rede
damit abgeschlossen hätten, dass Sie gesagt hätten, wir
können dem Antrag nicht zustimmen, wäre ich wesentlich zufriedener gewesen. Denn ich glaube, das hätte ihrem Inhalt deutlich mehr entsprochen.
({0})
- Nein, das spricht nicht für den Antrag. Da würde ich
mir mal keine falschen Hoffnungen machen.
({1})
Ich glaube, es gibt ein paar wichtige Punkte, in denen
wir uns durchaus einig sind und die wir auch gern aufgreifen möchten. Wir haben zum einen über die energetische Gebäudesanierung im Bestand gesprochen. Da ist
wirklich noch richtig Musik drin, wenn ich das an dieser
Stelle mal sagen darf. Ich bin ganz der Auffassung vieler
Kollegen, die hier schon gesprochen haben: Wir müssen
hier von staatlicher Seite, auch wenn wir sonst nicht die
ganz großen Fans von Subventionspolitik sind, Anreize
für die Eigentümer schaffen, denn wir bekennen uns an
dieser Stelle zunächst ganz klar zu einem privat dominierten Wohnungsmarkt. Ich finde es ausgesprochen
wichtig, dass wir private Eigentümer haben, die vermieten. Ich kann hier überhaupt keinen Nachteil erkennen;
denn auch ein privater Vermieter muss sich am Markt
behaupten, muss sehen, was er anbieten und vermieten
kann. Hier müssen wir eine Sensibilisierung herbeiführen, und zwar auf der Vermieterseite und auf der Mieterseite. Der Vermieter muss sehen, dass es sich lohnt, energetisch zu sanieren. Der Mieter muss merken - Frau
Kollegin, Sie haben es völlig richtig ausgeführt -, dass
es sich lohnt, eine Niedrigenergiewohnung - so nenne
ich es mal - anzumieten, weil er dadurch letztlich Miete
spart. Hier tritt neben den wirtschaftlichen Aspekt der
ökologische, weil die Umwelt geschützt wird. Das ist ein
staatliches Steuerungsargument, über das wir noch viel
intensiver nachdenken müssen; denn es lohnt sich. Wir
tun etwas für die Wirtschaft, wir tun etwas für die kleinen und mittelständischen Bauunternehmen, die davon
profitieren. Wir tun etwas für die Umwelt und für die
Mieter. Eine bessere Kombination gibt es an dieser
Stelle fast nicht.
Weiterhin ist mir etwas anderes sehr wichtig. Angebot
und Nachfrage spielen auf dem Wohnungsmarkt natürlich eine ganz große Rolle. Ich kann die Menschen nicht
zwingen, in verödende Gebiete zu ziehen, bloß weil dort
die Wohnungen leer stehen, sondern ich muss mich nach
den Bevölkerungsströmen richten, ob es mir passt oder
nicht. Außerdem muss ich mich nach den gesellschaftlichen Entwicklungen richten. Heute haben wir schon viel
über das Programm „Altersgerecht Umbauen“ gehört.
Ich möchte nicht nur vom altersgerechten Umbauen,
sondern auch vom behindertengerechten Umbauen sprechen.
({2})
Wir alle führen zunehmend die Diskussion über Integration und Inklusion behinderter Menschen in der Schule,
im Kindergarten oder am Arbeitsplatz. Diese Diskussion
umfasst auch die Inklusion behinderter Menschen am
Mietmarkt. Wenn wir wollen, dass diese Menschen möglichst zügig in die Mitte unserer Gesellschaft rücken und
daran so weit wie möglich teilnehmen, müssen wir ihnen
auch ermöglichen, entsprechende Wohnungen zu bewohnen und sich dort so selbstständig wie möglich zu
bewegen.
({3})
- Es ist doch okay, beruhigen Sie sich. - Deswegen müssen wir nicht nur altersgerecht, sondern auch behindertengerecht umbauen. Eine kleine Anmerkung am Rande:
Wenn ein Rollstuhl durch die geöffnete Tür passt, ist das
schön. Wenn ein Kinderwagen hindurchpasst, ist das
auch sehr schön. Das heißt: Auch familiengerechte Wohnungen sind für die Zukunft wichtig.
({4})
Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Völlig
richtig ist, dass der Bund nicht der Alleinhandelnde ist,
ebenso wenig wie der Vermieter der Alleinhandelnde
sein soll. Klar ist auch, dass wir sehr viel Verantwortung
an die Länder abgegeben haben. Ebenso klar ist, dass die
Kommunen darauf werden reagieren müssen.
Trotz Sparzwangs möchte ich das neue Städtebauförderprogramm des Bundesverkehrsministeriums „Kleinere Städte und Gemeinden - überörtliche Zusammenarbeit und Netzwerke“ erwähnen. Das halte ich für
ausgesprochen wichtig. Warum? Viele kleine Kommunen sind solitär, für sich genommen, nicht in der Lage,
eine Vielzahl an infrastrukturellen Herausforderungen
allein zu stemmen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, solche Herausforderungen gemeinsam mit Dörfern
und kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nachbarschaft zu bewältigen und entsprechende Angebote gemeinsam zu unterbreiten. Das schafft Synergieeffekte in
vielerlei Hinsicht. Wenn das Städtebauförderprogramm,
das Minister Ramsauer neu auflegt, in dieser Legislaturperiode genau diese Synergieeffekte zeitigt, können wir
ausgesprochen zufrieden sein.
Zum Mietrecht: Es ist schon gesagt worden, dass wir
sicherlich eines der sozialsten Mietrechte der Welt haben. Seien Sie versichert, dass wir nicht vorhaben, daran
etwas zu ändern. Wir haben aber vor, Missstände zu beseitigen. Einer der Missstände ist das Mietnomadentum.
Man kann sich über die Quantität nunmehr trefflich
streiten, aber die Qualität ist doch unbestritten. Wenn
Wohnungen bewusst unter dem betrügerischen Vorsatz
angemietet werden, den Mietzins nicht zu entrichten, die
Wohnungen entweder zu vermüllen oder komplett zu
zerstören und sie dann zu verlassen, dann kann man natürlich sagen, das seien bedauernswerte Einzelfälle.
Aber was sagen Sie dem Vermieter, dessen Altersvorsorge vermüllt wurde? Ist das dann auch nur ein bedauernswerter Einzelfall? Ist es nicht vielmehr so, dass wir
im Mietrecht da, wo wir die Möglichkeit haben, ohne
überzuregulieren vernünftige Lösungen genau für diesen
betroffenen Personenkreis schaffen müssen?
({5})
Das trifft dann sicherlich nicht die Falschen. Deswegen
gilt: Der Schutz des Mieters ist selbstverständlich. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese Frage
steht für uns nicht zur Debatte. Ebenso wichtig ist ein
ausreichender Schutz des Vermieters. Beides gehört
zwingend zusammen. Sonst bringe ich die Menschen
nicht mehr dazu, in Wohnungen oder Häuser zu investieren und diese zu vermieten. Stattdessen zwinge ich sie
dazu, zu sagen: Ich baue nur noch für den Eigenbedarf,
und der Rest ist mir völlig egal. Das wollen wir alle
nicht.
Der Großteil der Vermieter - entgegen der unterschwelligen Darstellung im Antrag der Linken - ist anständig und hat anderes im Sinn, als nur die Mieter abzuzocken oder zu vertreiben. Die Vermieter wollen schlicht
und ergreifend die ihnen zustehende Miete erhalten.
Dann sind sie auch bereit, zu investieren und freuen sich
über zuverlässige Mieter. Das ist der Normalfall in dieser Republik. Wir brauchen uns über gar nichts anderes
zu unterhalten.
Abschließend möchte ich sagen: Lieber Kollege
Bartol, ich freue mich sehr auf unser morgiges Fachgespräch. Ich finde das ausgesprochen gut. Wir haben uns
bisher gerne an den Gesprächen beteiligt und werden uns
auch morgen gerne an dem Gespräch beteiligen; denn
das Thema Wohnungslosigkeit ist immer mit menschlicher Tragik verbunden. Oft gibt es nicht nur finanzielle,
sondern auch tiefergehende soziale Hintergründe. Denen
wollen wir uns annähern. Ich denke, das ist ein wichtiges
Ansinnen. Deswegen sind wir morgen gern dabei. Ich
bin gespannt, zu welchem Ergebnis wir kommen werden.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Groß das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Ludwig, ich bin froh, dass Sie doch einige Kritikpunkte
gefunden haben. Sie haben angesprochen, dass wir noch
viel im Bereich Klimaschutz und Gebäudesanierung zu
tun haben. Sie haben von Inklusion, von barrierefreiem
Zugang zu Wohnungen und altersgerechtem Wohnen gesprochen. Bei der Rede Ihres Kollegen Storjohann habe
ich gedacht, wir lebten in einer Welt der Idylle. Er sprach
davon, dass der Wohnungsmarkt vorbildlich ist, wir uns
keine Sorgen mehr zu machen brauchen und uns zurücklehnen können.
({0})
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke - das
hat Herr Bartol schon deutlich gemacht - stellt die richtigen Fragen. Auch die Analyse ist zum großen Teil richtig. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass zum Teil die
falschen Schlüsse gezogen und die falschen Antworten
gegeben werden. In dem Antrag wurde auch darauf hingewiesen, dass eine bloße Zusammenlegung der Förderprogramme nicht weiterführend ist. Ein Teil der Programme ist sehr effektiv gewesen. Allerdings müssen
wir dafür sorgen, dass die Programme evaluiert und
letztendlich mit den Ländern und Gemeinden weiterentwickelt werden, damit sie zielgenau die Wirkungen entfalten, die wir beabsichtigen.
Lassen Sie mich ergänzend auf vier Punkte und damit
auch kurz auf meine Vorredner eingehen. Besonders in
den Ballungsgebieten steigen die Mieten - das ist nicht
abzustreiten - und die Preise für Wohneigentum. Im
Durchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen der
größte Einzelposten der Konsumausgaben, insbesondere auch durch die wachsenden Nebenkosten für Strom,
Heizung und Warmwasser. Prognostisch werden diese
Kosten weiter steigen. Zum Vergleich: 1991 betrugen
die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familieneinkommens. Ende des letzten Jahrzehnts waren es schon
weit über 25 Prozent. Wir haben viel über die Wohngeldreform gehört, wir haben aber auch heute schon gehört, dass die Heizkostenpauschale von der jetzigen
Bundesregierung zum 1. Januar 2011 wieder einkassiert
wurde. Das geht natürlich zulasten der niedrigsten Einkommen. Das wird sicherlich dazu führen, dass die Menschen wiederum mehr auf ihren Geldbeutel achten müssen.
War die Reform des Wohngeldes 2009 auch eine gute
Nachricht, so ist damit doch verbunden, dass immer
mehr Menschen dieses Wohngeld in Anspruch nehmen
mussten, weil ihre Realeinkommen abgenommen haben,
und zwar in den letzten zehn Jahren um 4 Prozent. Man
spricht davon, dass es ein verlorenes Jahrzehnt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. In Deutschland
arbeiten zudem zu viele Menschen für wenig Geld.
2 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn
von unter 6 Euro. Darauf gibt es eine richtige Antwort:
Wir müssen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn
einführen.
({1})
Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage vom Januar
2011 wollen zwei Drittel der über 70-Jährigen im eigenen Wohnraum verbleiben. Dazu müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Barrierefreiheit war das Stichwort.
Wir müssen dafür sorgen, dass sie Netzwerke haben und
sich darauf verlassen können, in ihren eigenen vier Wänden verbleiben zu können. Nach Schätzungen werden
bis 2025 über 2 Millionen senioren- und altersgerechte
Wohnungen gebraucht. Der jetzige Bestand liegt nach
Schätzungen bei 400 000 bis 500 000 Wohnungen. Nach
Angaben der Befragten können Umbaumaßnahmen und
Serviceleistungen durchschnittlich nur - ich betone: nur im Umfang von monatlich 280 Euro mitgetragen werden. Ich halte das schon für sehr viel. Also, es gibt viel
zu tun, um die Menschen zu begleiten und diesen Prozess sozialverträglich zu gestalten.
({2})
Entsprechende KfW-Programme wie „Altersgerecht
Umbauen“ müssen also unbedingt finanziell ausgebaut
und fortgeführt werden.
Wir müssen beim Thema Klima und Energie handeln.
Zügiges und planvolles Handeln ist angezeigt, um die
Klimaschutzziele zu erreichen und insbesondere die Verbraucher vor zu hohen Energiepreisen zu schützen.
Beim Gebäudebestand besteht ein hohes Einsparpotenzial. Die Sanierungsrate und die Modernisierungsquote sind mit circa 1 Prozent pro Jahr viel zu niedrig.
Nach Schätzungen von Experten benötigen wir 5 Milliarden Euro pro Jahr, um die Zielsetzung zu erreichen.
Eigentümer und Vermieter müssen also insoweit motiviert werden, und wir müssen die hohen Sanierungskosten sozial abfedern. Haushaltskürzungen, wie von der
Bundesregierung im Bereich der energetischen Gebäudesanierung und des Städtebauförderprogramms vorgenommen, sind kontraproduktiv und nicht zielführend.
Der Antrag der Linken sieht vor, die Kommunen
finanziell zu beteiligen. Ich befürchte, dass sie mit ihrer
Forderung den Kommunen einen Bärendienst erweisen
werden. Den Kommunen fehlt heute schon viel Geld,
und tatsächlich brauchen sie mehr Geld, um den Anforderungen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu
werden. Wir brauchen Lebensqualität in den Städten. Ich
glaube nicht, dass dies durch eine weitere finanzielle Belastung der Kommunen, die letztlich nicht durch den
Bund abgefedert wird, zu erreichen ist. Für uns Sozialdemokraten ist eine Abstimmung in und mit den Kommunen und Ländern und mit den Menschen vor Ort
Dreh- und Angelpunkt des Erfolgs.
({3})
Wir müssen Beteiligungsmodelle entwickeln und sowohl die Hauseigentümer als auch die Bewohnerinnen
und Bewohner, die Gewerbetreibenden vor Ort und die
Initiativen und Vereine mitnehmen. Städtebauliche Investitionen können durch die Einbeziehung aller Akteure
die gelebte Demokratie voranbringen. Eine bloße Forderung nach mehr Rekommunalisierung reicht nicht aus.
Die Kommunen brauchen mehr Geld, um die Entwicklung ihrer Städte, die Lebensqualität und gleichwertige
Lebensverhältnisse zu sichern.
Vielen Dank und Glück auf!
({4})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Götz das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Antrag, den wir heute diskutieren, wollen sich die Linken
im Deutschen Bundestag das Mäntelchen der Beschützer
der Mieter umhängen.
({0})
Es ist schon eine Frechheit. Der rot-rote Berliner Senat
versuchte, locker über 38 000 kommunale Wohnungen,
davon allein 20 000 in der Stadt Berlin, an einen arabischen Fonds zu verkaufen, und hier fordert die Linke,
die Veräußerung kommunaler Wohnungsbestände zu
verbieten.
({1})
Auch wenn der Milliardendeal in Berlin vorgestern gescheitert ist, macht dies die Widersprüchlichkeit zwischen dem Reden hier und dem Handeln dort, wo Verantwortung besteht, sehr deutlich.
({2})
Im Bundestag sozialistische Lehre in Reinkultur einzufordern und vor Ort mit dem Kapital zu verhandeln, das
ist mehr als scheinheilig.
({3})
Man kann ja darüber diskutieren, ob eine Stadt wie
Berlin so große Wohnungsbestände im Eigentum vorhalten muss. Diese Frage ist durchaus berechtigt, und diese
will ich auch nicht kritisieren. Aber dann darf man hier
nicht solche Anträge stellen.
({4})
Wir sehen für die Einführung eines speziellen Grundrechts auf Wohnen auf der Bundesebene weder einen
Bedarf noch halten wir ein solches Recht für geeignet,
die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zu verbessern.
Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Ja, warum nicht? Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege Götz, Sie haben auf die
Politik hier im Land Berlin Bezug genommen. Sie haben
recht, dass nach der Klage von CDU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP gegen den rot-roten Landeshaushalt in
der Wahlperiode 2002 eine große Wohnungsbaugesellschaft verkauft werden musste.
({0})
Das ist eine Entscheidung, die wir aus heutiger Sicht
falsch finden.
Aber ich will noch etwas zur gegenwärtigen Politik
sagen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
es genau zwei Parteien gibt, die sich dafür einsetzen,
dass der gesamte kommunale Wohnungsbestand in öffentlicher Hand verbleibt, und dass es genau drei Parteien gibt, die genau diese Position infrage stellen, nämlich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Ist Ihnen
das bekannt, und sind Sie bereit, dies in Ihre Argumentation mit einfließen zu lassen?
({1})
Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem damit, darüber zu diskutieren, dass kommunale Wohnungsbestände verkauft werden. Das ist nicht mein Problem.
Mein Problem ist - hier verhalten Sie sich widersprüchlich -, dass Sie in Berlin, wo Sie im Senat Regierungsverantwortung tragen, die Wohnungsbestände verkaufen, aber hier den Eindruck erwecken wollen, als seien
Sie die Retter der Mieter. Sie fordern die Aufnahme des
Rechts auf Wohnung ins Grundgesetz, und gleichzeitig
fordern Sie ein Verbot des Verkaufs von kommunalen
Wohnungsbeständen. Auf diese Widersprüchlichkeit
wollte ich aufmerksam machen.
({0})
Wir haben in Deutschland durch die Garantie der
Menschenwürde in Art. 1 unseres Grundgesetzes und
durch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip die
Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen
für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu
schaffen. Dazu gehört auch eine Unterkunft. Deshalb
gibt es seit Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau, die
Absicherung der Mietkosten durch Wohngeld und die
soziale Wohnraumförderung der Länder. In der heutigen
Debatte haben wir einiges darüber gehört. Das sind Instrumente, die sich bewährt haben. Hinzu kommt auch
die Unterbringung Obdachloser aufgrund der polizeiund ordnungsrechtlichen Vorschriften auf kommunaler
Ebene.
In Deutschland gibt es für jeden Wohnungssuchenden
eine Bleibe. Einen anderen Eindruck zu erwecken, ist
populistisch und unredlich. Vielleicht findet nicht jeder
seine Traumwohnung, das mag wohl sein, aber niemand
in Deutschland muss auf der Straße übernachten.
({1})
Nach meiner festen Überzeugung sind Maßnahmen, die
unmittelbar auf die Lebenssituation der von Obdachbzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Personen Einfluss
nehmen, wesentlich sinnvoller als symbolische Verfassungsänderungen. Insofern sind wir auf die Empfehlungen der Altkommunisten mit dem Erfahrungshorizont
der DDR nicht zwingend angewiesen.
({2})
Insgesamt hat die Wohnungsversorgung in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre einen Stand erreicht, bei
dem breite Schichten der Bevölkerung gut bis sehr gut
mit Wohnraum versorgt sind. Dies gilt insbesondere für
einkommensschwache Haushalte. Deshalb haben wir,
wie ich finde, zu Recht, im Jahr 2006 im Rahmen der
Föderalismusreform die Zuständigkeit für die soziale
Wohnraumförderung auf die Länder übertragen. Dafür
geben wir ihnen jährlich zweckgebunden mehr als
500 Millionen Euro, sodass regional differenziert, gezielt und bedarfsgerecht gefördert werden kann. Das ist
besser als Zentralismus aus Berlin. Die geforderte Beschränkung dieser Wohnungsbauförderung auf den öffentlichen Mietwohnungsbau ist eine klassische Ideologienummer der Linken. Für uns sind auch die privaten
Vermieter zur Sicherung des Wohnens von großer Bedeutung.
Besonders wichtig sind uns aber auch diejenigen, die
sich den Wunsch nach den eigenen vier Wänden erfüllen
wollen. Deshalb ist Wohneigentum eine der besten Möglichkeiten der Altersvorsorge. Wohneigentum schützt
wesentlich vor Altersarmut. Die Stärkung des Wohneigentums sollte daher unser gemeinsames Ziel sein.
Wir haben in unserem Land ein sehr ausgeprägtes und
differenziertes System der sozialen Sicherung, gerade in
der Wohnraumversorgung. So zählt nach dem Sozialgesetzbuch II die Übernahme der gesamten Kosten - ich
betone: der gesamten - für Unterkunft und Heizung zu
den Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Das wird bei
der aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze für
diesen Personenkreis, die wir in diesen Tagen führen,
gerne übersehen. Auch Erstausstattungen für die Wohnung, einschließlich Haushaltsgeräte, Wohnbeschaffungs- und Umzugskosten oder Mietkautionen, gehören
zu dem Leistungskatalog für Hartz-IV-Empfänger. Zur
Erinnerung: Der Bund beteiligte sich im vergangenen
Jahr mit 3,4 Milliarden Euro an den Kosten der Unterkunft. Die Kommunen sind mit mehr als 10 Milliarden
Euro dabei. Dieses Geld bringen die Menschen auf, die
täglich zur Arbeit gehen und ihre Steuern zahlen.
Natürlich gibt es bei der Wohnungspolitik noch Handlungsbedarf. Das ist unstrittig. Das Bessere war schon
immer der Feind des Guten. So ist vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung und einer zunehmend
älter werdenden Gesellschaft dem Aspekt der Barrierefreiheit ein größerer Stellenwert einzuräumen. Auch die
energetische Sanierung der Wohngebäude, von der vorhin gesprochen wurde, ist eine Herausforderung, die uns
noch viele Jahre begleiten wird.
Bei der Städtebauförderung ist es in einer großen
Kraftanstrengung gelungen, die Haushaltsansätze, die
erheblich heruntergefahren waren, wieder zu erhöhen.
Wir sollten jedoch nicht, wie im vorliegenden Antrag gewollt, Einzelprogramme der Städtebauförderung abschaffen, sondern wir sollten die inhaltliche programmatische Schwerpunktsetzung neu definieren und die
Programme optimieren und effizienter gestalten.
Für alle in Ihrem Antrag aufgeworfenen Themen sind
in Deutschland in vielen Jahren gute Instrumente - ob
nun Förderprogramme oder gesetzliche Regelungen entwickelt worden, die sich dem Grunde nach bewährt
haben. Diese können und sollten wir gemäß den veränderten Rahmenbedingungen - die Themen „Klimaschutz“,
„Barrierefreiheit“, „behindertengerechtes Wohnumfeld“
und viele andere mehr sind angesprochen worden - gemeinsam maßvoll weiterentwickeln.
Der kommunistische Rundumschlag, den Sie hier
vorhaben,
({3})
würde viel Gutes zerstören. Wir lehnen in Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger diesen Antrag ab.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Grund-
recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-
stalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4659, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3433 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Belarus - Repressionen beenden, Menschen-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
schaft stärken
- Drucksache 17/4685 -
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken
- Drucksache 17/4667 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1}),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer AbgeordVizepräsidentin Petra Pau
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken
- Drucksache 17/4686 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
19. Dezember 2010, also am Abend der Präsidentschaftswahl in Belarus, hat das Regime von Alexander
Lukaschenko sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl dieser im Vorfeld die Legitimität der Wahl als wichtig bezeichnet hatte, sah die Realität am Wahlabend ganz anders aus. Politische Reformen - das wissen wir heute waren dort nie geplant. Lukaschenko brauchte die EU
und brauchte Russland, um die größtmöglichen Vorteile
für sein marodes Wirtschaftssystem zu erreichen.
Wir hatten aufgrund der langsamen Annäherung von
Belarus an die EU die berechtigte Hoffnung auf eine
Öffnung des Landes, die berechtigte Hoffnung auf eine
Demokratisierung. Doch die Realität hat mit erschreckender Härte gezeigt: Ein demokratisches Belarus wird
es nur ohne Alexander Lukaschenko geben können.
Noch am Wahlabend setzte er auf die Sprache der Gewalt. Über 600 Personen wurden seitdem inhaftiert.
Menschenrechtsorganisationen und Medien müssen
Angst haben vor der Gewalt des Staates. Elementare
Menschenrechte werden vom Staat und von Sicherheitsorganen mit Füßen getreten.
Doch auf Lukaschenkos Tricks lassen wir uns nicht
mehr ein; in diesem Punkt sind sich alle Demokraten in
diesem Hause einig. Wir erkennen im Deutschen Bundestag die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nicht
an.
({0})
Sie waren nicht frei. Sie waren nicht fair. Sie waren manipuliert und hatten mit demokratischen Wahlen nichts
zu tun.
Wir fordern daher die Regierung Lukaschenko auf,
sofort alle politischen Gefangenen freizulassen. Wir fordern die Regierung in Belarus auf, sofort alle Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unabhängige Medien zu
beenden.
({1})
Die völlige Missachtung europäischer Werte und Regeln, die völlige Missachtung elementarer Menschenrechte durch die Regierung Lukaschenko können und
werden wir nicht hinnehmen. Deshalb haben wir eine
ganze Reihe konkreter Maßnahmen entwickelt, mit denen wir die Bundesregierung unterstützen wollen, die
sich bisher schon vorbildlich eingesetzt hat. Dabei stehen die Freilassung politischer Gefangener und die Hilfe
für die Opfer von Repression und Gewalt im Vordergrund.
Wir brauchen weitere Programme zur Unterstützung
von Studierenden und Jugendlichen, deren Wertesystem
sich nicht am Diktator orientiert, sondern an Demokratie, an Freiheit und an Europa. Das müssen wir verstärkt
fördern.
({2})
Wir begrüßen das Engagement des Europarates zur
Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratisierung. Das muss weiter so vorbildlich fortgeführt werden. Wir begrüßen auch die Entscheidung
des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Reisebeschränkungen und Sanktionen zu veranlassen für Präsident Lukaschenko und diejenigen, die für Gewaltaktionen, für politische Repressionen und für die Fälschung
der Wahlergebnisse verantwortlich sind.
Die EU muss weiter den Menschen in Belarus den
Rücken stärken. Dazu gehört natürlich, weiterhin eine
europäische Perspektive für Belarus offenzuhalten. Dazu
gehört aber zunächst auch, dass die EU an den Sanktionen gegen die Führung des Regimes festhält, und zwar
so lange, bis diese den Weg für einen demokratischen
Wandel freigibt. Dazu gehört jetzt auch, dass die EU an
Russland herantritt, um es zu gemeinsamen Handlungen
gegenüber dem Regime in Belarus zu bewegen. Russland erhebt den Anspruch, mit der EU dieselben Ideen
und Wertvorstellungen über Europas Identität und Zukunft zu teilen. Es sollte jetzt nicht wieder seine schützende Hand über den belarussischen Präsidenten halten.
({3})
Als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung
der OSZE ist mir wichtig, auch dort das Thema weiter zu
begleiten. Das OSZE-Büro in Minsk und der Medienbeauftragte müssen ebenso ungehindert wieder arbeiten
können wie das Büro für Demokratische Institutionen
und Menschenrechte. Die OSZE sollte eine unabhängige
internationale Kommission einsetzen, um die Vorgänge
vom 19. und 20. Dezember 2010 untersuchen zu lassen.
Dabei ist es auch wichtig, ein genaues Bild über die Situation der Menschenrechte zu bekommen.
Am Abend des 19. Dezember wurde in Belarus eines
klar: Die Autorität Lukaschenkos bröckelt. Er wird sie
auch nicht durch Schlagstöcke und durch Repressionen
wiedererlangen können. Wir sagen deutlich: Wir stehen
auf der Seite der Demokratie. Wir stehen auf der Seite
der Zivilbevölkerung, die den demokratischen Wandel
will. Und: Wir müssen hart bleiben, bis dieser Weg eingeschlagen wird.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
eine oder andere, der gut aufgepasst hat, denkt vielleicht,
wir alle sind ein bisschen meschugge, da wir drei fast
gleichlautende Anträge vorgelegt haben. Ich sage aber:
Das bedeutet, dass wir uns fast einig sind. Vielleicht
schaffen wir es auch noch, uns ganz zu einigen. Ansonsten müssen wir vielleicht einen anderen Weg beschreiten.
Der Antrag der Grünen unterscheidet sich von den
beiden anderen Anträgen, von dem der SPD und von
dem der Koalition, durch einen Vorschlag, der in Bezug
auf die Erteilung von Schengen-Visa in näherer Zukunft
etwas vorprescht.
({0})
- Ja, ich habe das ja auch begriffen. - Ich glaube nur, wir
müssen jetzt handeln, und zwar, ehe der ganze Prozess
bezüglich Rückführungsabkommen etc. zum Abschluss
gebracht worden ist. Wir wissen nämlich noch nicht einmal, ob Herr Lukaschenko dabei mitmachen würde. Insofern sollte man loben, was die Bundesrepublik
Deutschland am Dienstag gemacht hat, indem eine VisaRegelung eingeführt wurde, die wir in diesem Hohen
Hause im Übrigen schon einmal beschlossen hatten.
({1})
Diese erleichtert in der Tat einer ganzen Reihe von Menschen das Leben, indem der Zugang zu Visa vereinfacht
wird und dafür nicht mehr so viel oder sogar gar nichts
bezahlt werden muss. Ich denke, hier sind wir uns einig.
Es gibt einen zweiten Punkt, von dem wir erst heute
beim Treffen der OSZE-Parlamentariergruppe Kenntnis
erlangt haben. Es geht um Punkt 10, der ja auch auf eine
Diskussion, die wir hier schon geführt haben, zurückgeht. Mein Vorschlag, den Moskauer Mechanismus anzuwenden, ist von unserem Auswärtigen Amt aufgenommen worden; es hat uns aber zugleich darauf
aufmerksam gemacht, dass wir ein bisschen zu kurz
springen. Denn wir haben ja nicht gesagt, dass die
Gruppe, die aufgrund dieses Mechanismus eingesetzt
wird, eigentlich mehr tun soll, als nur die Geschehnisse
am 19. und 20. Dezember aufzuklären. Darüber hinaus
sollte sie sich nämlich auch ein Bild von der Lage der
Menschenrechte und der Grundfreiheiten in Belarus machen können. Sie müsste auch Gefangene besuchen und
Prozesse beobachten können.
({2})
Deshalb bin ich dafür, dass wir uns überlegen, ob wir
nicht in einem Schnellverfahren in der nächsten Sitzung
des Auswärtigen Ausschusses die Punkte 3 und 10 überarbeiten, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen; denn sonst wäre das Resultat Stückwerk. Dann
müsste nämlich jeder seinem eigenen Antrag zustimmen
oder sich enthalten. In einem Nachklapp müssten wir
dann versuchen, einen Antrag zu diesem Moskau-Mechanismus zustande zu bekommen. Aber auch das würde
sehr kurzfristig sein. Ich stelle anheim, ob wir im Laufe
dieser Debatte vielleicht eine gemeinsame Linie finden
können, entweder durch Überweisung oder mit einem
Abstimmungsverfahren, das vielleicht merkwürdig aussieht.
Wir alle wollen prinzipiell das Gleiche. Wir wollen,
dass die Situation in Belarus, wie sie jetzt besteht, aufhört. Ich finde ganz erstaunlich, was ich heute in
BelaPAN gefunden habe, nämlich dass Herr Lawrow,
der Außenminister Russlands, gegenüber der belarussischen Regierung zum Ausdruck gebracht hat, dass das,
was geschehen sei, absolut unnötig und unakzeptabel
sei. Alle inhaftierten Journalisten, die Kandidaten und
die Human Rights Defenders sollten entlassen und die
Anklagen sollten fallen gelassen werden. Er hat das mit
großem Nachdruck gesagt.
Ich muss bezüglich einer Diskussion vom letzten Mal
Abbitte tun. Hier geht es um den Punkt, wie weit man
Moskau einbezieht. Herr Mißfelder hat das damals mit großem Nachdruck gesagt. Ich habe allerdings ein bisschen
davor gewarnt, weil mein Eindruck war, dass Moskau
nicht unbedingt wild darauf ist, Lukaschenko zu einem
demokratischen Europäer zu erziehen. Aber vielleicht
kann man das, was Lawrow jetzt in dieser Stellungnahme
gesagt hat, tatsächlich als einen Ansatzpunkt nehmen, um
mit Russland zusammen etwas zu bewirken.
Wir wollen auch eine Unterstützung für die zivile Gesellschaft und für die Opposition. Gerade hat es eine Geberkonferenz gegeben, auf der viele eine ganze Menge
Geld zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, es ist ganz
wichtig, dass wir Wege finden, um sowohl die Opposition, die zwar leider zersplittert, aber dennoch demokratisch orientiert ist, als auch Menschenrechtler und Rechtsanwälte zu unterstützen, die im Moment sogar davon
abgehalten werden, die Präsidentschaftsprätendenten,
also die Herausforderer von Lukaschenko, zu verteidigen.
Darüber hinaus müssen wir aber auch Gewerkschafter,
Journalisten und Studenten unterstützen.
Mittlerweile sind 42 Menschen dafür angeklagt, dass
sie Aufstände angefacht hätten. Ihnen droht bis zu
15 Jahre Gefängnis. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir
auch für sie sehr stark eintreten.
Soweit meine Kenntnisse reichen, sind zwei der Kandidaten, nämlich Statkevich und Lebedko, wobei ich
beim Letztgenannten nicht so ganz sicher bin, noch im
Hungerstreik. Das muss man sich einmal vorstellen. Das
wird langsam dramatisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Zwar sind zwei der Angeklagten in den Hausarrest
entlassen worden. Aber wenn man sich einmal anguckt,
was für eine Art von Hausarrest das ist, dann kann einem
das Grausen kommen. Da sitzen zwei Geheimdienstler,
KGB-Leute, mit in der Wohnung. Das sind nicht so
große Wohnungen, wie man sie bei uns hat, sondern das
sind nur zwei Zimmer.
({3})
Sie dürfen nicht telefonieren, nicht zum Fenster hinausgucken, kein Internet benutzen und nur mit der eigenen
Frau reden, wenn es hochkommt. Das sind Irina Chalip,
die Ehefrau von Sannikow, und Nekljajew.
Wir haben unsere Forderungen formuliert. Die Bundesregierung hat zur Unterstützung von solchen Maßnahmen bereits Geld zur Verfügung gestellt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich; ich finde das sehr gut. Wir
haben schon in der Vergangenheit immer solche Gruppen bilateral unterstützt. Damals wurden die entsprechenden Gelder vor allen Dingen vom BMZ vergeben.
Damit haben wir die Projekte des IBB unterstützt, die
alle auf die zivile Gesellschaft gemünzt waren. Ich bin
froh, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf die
Visa als auch bei der Bereitstellung von Geldern gehandelt hat.
Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen: die Situation der Studenten in Belarus. Bei der letzten Wahl im
Jahr 2006 gab es ja auch widerspenstige Studenten; das
hat uns sehr erfreut. Damals sind 600 Studenten ihrer
Unis verwiesen worden. Im Moment scheint es eine kleinere Zahl zu sein. Der Rektor einer Uni hat gesagt: Nein,
nein, keiner wird relegiert. - Tatsächlich sind aber schon
8 Studenten relegiert worden, 60 weiteren wurde angedroht, dass ihnen dasselbe blüht. Deshalb noch einmal
die Bitte, insbesondere bei dieser Gruppe das zu tun, was
andere Länder auch tun, nämlich ihnen Stipendien und
Studienplätze zu verschaffen. Wir haben damals nur eine
sehr kleine Zahl von Studienplätzen vergeben. Ich
glaube, das ist eine lohnende Aufgabe.
Es gab einen Artikel mit dem Titel: „Weißrusslands
Wutstudenten“. Alle Welt beruft sich im Moment auf die
Wut. Ich glaube, das sind keine „Wutstudenten“, sondern
ganz wache, bewusste Bürger, die ein besseres, demokratisches Land haben wollen und große Solidarität mit
ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen. Sie verdienen unsere Solidarität.
({4})
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rat
der Außenminister hat Ende Januar harte Sanktionen gegen Belarus beschlossen. Wir werden heute einen Antrag
beschließen, in dem diese Sanktionen begrüßt und weiter
gehende Forderungen gegenüber Minsk erhoben werden.
Uns wird immer die Frage gestellt: Warum engagieren wir uns bei Belarus mehr als bei anderen Staaten, in
denen die Situation der Menschenrechte unbefriedigend
ist? Die Antwort ist leicht: Belarus gehört zu Europa,
ebenso übrigens Russland. Wolfgang Ischinger hat gerade gesagt: Belarus ist ein europäisches Land mit einer
europäischen Mission und einer europäischen Sprache. Recht hat er.
Im allergrößten Teil Europas sind die universellen
Werte - Menschenrechte, Demokratie - umgesetzt. Insofern können wir es nicht akzeptieren, dass die Regierung
eines europäischen Landes diese Werte sich selbst und
der Bevölkerung verweigert. Das behindert die Entwicklung und den Wohlstand in dem Land; es enthält den
Menschen, die dort leben, eine gute Entwicklung vor.
Die Menschenrechtslage in Weißrussland bleibt weit
hinter dem europäischen Standard zurück, übrigens auch
weit hinter dem, was Lukaschenko selbst erst im Dezember in Astana unterschrieben hat.
Nicht nur die Menschenrechtslage, sondern auch die
ökonomische Lage ist angespannt; Lukaschenko braucht
Geld und Kredite. Er glaubt bisher, er könne mit einer
Politik des Lavierens zwischen Ost und West weiterkommen. Wenn ich mir die russische Wirtschaft und Industrie
ansehe - das Fehlen von innovativen Industrien, Korruption, Rückgang der Auslandsinvestitionen -, dann
komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht Russland, das
eine blühende Entwicklung der belarussischen Wirtschaft
versprechen kann. Ganz objektiv betrachtet, ist also eine
stärkere Öffnung gegenüber der EU die einzige Chance
für Belarus.
Ich danke ganz besonders dem Ost-Ausschuss der
Deutschen Wirtschaft. Er hat sehr klare Worte dafür gefunden, dass die gegenwärtige Menschenrechtssituation
in Belarus weitere Fortschritte im ökonomischen Bereich verhindert. Im 21. Jahrhundert und in einer globalisierten Welt kann man ein Land nicht wie eine Kolchose
führen. Das führt politisch und ökonomisch ins Nirwana,
und wo das hinführt, kann man gerade auf den Straßen
Tunesiens und Ägyptens studieren.
Meine Damen und Herren, wir wollen den Dialog mit
Minsk nicht abwürgen. Aber es ist jetzt ausschließlich
Sache der dortigen Regierung, die Voraussetzungen für
ein erneutes Gespräch, eine erneute Kooperation zu
schaffen. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechtslage wird hier nichts gehen, ohne eine sofortige Freilassung der politischen Gefangenen sowieso nicht.
Die Reaktion dieses Regimes - darauf sollten wir immer wieder hinweisen - ist in erster Linie ein Zeichen
der Schwäche. Wir wissen, dass die politische Opposition in Minsk nicht besonders gut und stark aufgestellt
war und es keine revolutionäre Stimmung im Land gab.
Wer auf eine so schwache Organisation einprügelt, wie
Lukaschenko das getan hat, zeigt nur Schwäche. „Angstbeißen“ nennt man es, wenn ein Tier aus Angst aggressiv
wird.
Brasilien hat kürzlich 14 Tage lang gefeiert und
Samba getanzt, als Frau Rousseff mit 56 Prozent zur
Präsidentin gewählt wurde. Lukaschenko ist angeblich
mit 80 Prozent gewählt worden. Die Reaktion in Belarus
ist: Friedhofsruhe. Das ist der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur. - Jetzt könnt ihr ruhig einmal klatschen. Das wäre gut für das Protokoll.
({0})
- Samba geht auch, Herr Kollege, gerne.
Wir müssen die Zivilgesellschaft nicht nur unterstützen, sondern wir müssen den Menschen auch mehr Gelegenheiten geben, zu uns zu kommen. Ich sage hier: Das
Visa-Regime darf die Spaltung Europas nicht vertiefen.
({1})
Wir können nichts Besseres tun, als möglichst viele
junge Leute, Schüler und Studenten, hierherzuholen und
ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Way of Life
kennenzulernen. Das ist das Beste, was wir tun können.
({2})
Herr Staatsminister Hoyer, ich freue mich sehr, dass
die Bundesregierung bereits viel getan hat. Schon jetzt
werden Visa insbesondere an Schüler und Studenten, die
länger als sechs Monate bleiben, kostenfrei erteilt. Ich
habe beeindruckende Zahlen vorliegen: über 23 000 gebührenfreie Schengen-Visa. Machen Sie weiter so! Das
ist der richtige Weg.
({3})
Jetzt kommen wir einmal zu den Anträgen. Die Grünen haben unter Ziffer 3 beantragt, die Visumpflicht aufzuheben.
({4})
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie sich damit einhandeln. Dann hätten Herr Lukaschenko und seine
Freunde Gelegenheit, nach Europa einzureisen. Wenn
kein Visum erforderlich ist, kann er einreisen. Ich weiß
nicht, ob Sie das bedacht haben.
({5})
- Herr Liebich, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten,
({6})
hätten Sie festgestellt, dass wir, übrigens in Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, insbesondere für Schüler und Studenten mehr Liberalisierung haben wollen.
({7})
Jetzt haben wir zwei praktisch gleichlautende Anträge. Liebe Frau Zapf, ich habe mir das noch einmal genau angeschaut. Ihr Antrag enthält drei Worte mehr als
unserer. Ich schlage vor, dass Sie auf diese drei Worte
unter Ziffer 3 verzichten
({8})
und wir dem Antrag dann gemeinsam zustimmen. Wir
brauchen ein starkes Signal. Eine breite Mehrheit wäre
ein solches Signal. Ende des Monats tagt die Parlamentarische Versammlung der OSZE. Wir wollen einen Beschluss nach Wien mitnehmen. Es wäre schön, wenn
sich der Deutsche Bundestag mit möglichst breiter
Mehrheit entscheiden könnte.
Meiner Fraktion und mir ist nicht nur wichtig, dass
wir Visa-Erleichterungen vornehmen, womit die Bundesregierung schon angefangen hat, sondern auch, dass
wir dies mit zusätzlichen Maßnahmen flankieren. Die
Bundesregierung hat ihre Hilfe für die Zivilgesellschaft
in Belarus um 6,6 Millionen Euro aufgestockt. Die Geberkonferenz in Warschau hat die Mittel für Belarus gerade vervierfacht. Herr Hoyer, es ist wichtig, dass die
Gelder jetzt schnell in konkrete Programme fließen, damit die Betroffenen schnell davon profitieren, also Schüler und Studenten. Herr Hoyer, koordinieren Sie bitte die
Arbeit der Verantwortlichen in Ihrer Behörde, in der EU
und in den Bundesländern. Die Haushälter, die Bildungspolitiker und die Hochschulen müssen sich auf den
Weg machen, damit wir möglichst bald eine große
Gruppe belarussischer Studenten bei uns begrüßen können.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit
unserer letzten Debatte hier zum Thema Belarus hat sich
die Lage vor Ort wenig verbessert. Präsident Lukaschenko
hat seit seinen Repressionen gegen seine Gegenkandidaten und seit seinem Agieren gegenüber Demonstranten
wenig Milde gezeigt. Er hat kein Einlenken erkennen lassen. Auch die Freilassung einiger Inhaftierter - darunter
waren der Kandidat Wladimir Nekljajew und die Journalistin Irina Chalip - ist kürzlich nur aufgrund des massiven internationalen Drucks erfolgt.
Aber immer noch laufen Verfahren weiter. Immer
noch gibt es eine Beobachtung durch den Geheimdienst.
Und immer noch gibt es politische Gefangene. Das werden wir nicht unwidersprochen hinnehmen.
Präsident Lukaschenko darf nicht darauf hoffen, dass
wir wegen der dramatischen Entwicklung im Norden
Afrikas unsere europäischen Nachbarn vergessen. Wir
stehen auch in Belarus weiter an der Seite derjenigen, die
für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eintreten.
({0})
Gerade eben - die Vorredner haben darauf hingewiesen - haben wir die nächste Beratung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Wien vorbereitet. Sie
dürfen sicher sein, dass die Delegation des Deutschen
Bundestages parteiübergreifend und gemeinsam die Kritik, die wir hier formulieren, auch bei der OSZE-Parlamentarierversammlung vortragen wird.
Der Vorschlag, der uns heute vom Auswärtigen Amt
unterbreitet wurde, eine weitere Konkretisierung zum
Thema Moskau-Mechanismus vorzunehmen, ist sehr gut.
Ich finde, wir sollten nach einem vernünftigen Weg suchen, diesen sehr guten Vorschlag möglichst in einen gemeinsamen Antrag einfließen zu lassen. Herr Kollege
Wellmann, das funktioniert natürlich nicht so, wie Sie es
gerade vorgeschlagen haben.
({1})
Klar ist - das ist bisher von allen Rednern gesagt worden -, dass wir bei 90 Prozent der Fragen, die hier diskutiert werden, einen Konsens haben. Wenn alle Seiten guten Willen zeigen würden, dann bekäme man auch einen
Antrag aller Fraktionen hin.
Allerdings gibt es schon eine ernste Differenz. Diese
dürfen Sie auch nicht wegreden, Herr Wellmann, oder
den Kollegen von der Sozialdemokratie vorschlagen,
dass diese Differenz dadurch gelöst wird, dass Ihre Position übernommen wird. Es gibt doch eine Differenz innerhalb der CDU/CSU-Fraktion: Sie haben selbst beim
letzten Mal zum Ausdruck gebracht, dass Sie für eine
viel stärkere Visa-Freiheit sind als Ihre Kolleginnen und
Kollegen Innenpolitiker. Das ist die Differenz.
Deshalb unterscheiden sich auch die Anträge so sehr.
Zwischen der rechten Seite und der linken Seite dieses
Hauses besteht die Differenz darin, wie viel Freiheit man
den Menschen in Belarus tatsächlich gewähren möchte.
Darum können Sie hier nicht herumreden. Ich muss Ihnen sagen: Ihre Freiheitsreden würden dann besser klingen, wenn Sie den Leuten dort wirklich helfen würden.
({2})
Ich darf den Sacharow-Preisträger und Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch zitieren.
Dieser hat nicht Wirtschaftssanktionen gefordert. Vielmehr hat er gesagt, dass wir unsere Tore für die Weißrussen öffnen sollen. Die Bundesregierung überhört diesen
Wunsch, und beide Regierungsfraktionen überhören diesen Wunsch. Die Tore bleiben geschlossen. Das ist genau das falsche Signal, das Sie aussenden.
({3})
Wenn es die Möglichkeit gibt, den Antrag von Ihnen
und die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen an den Auswärtigen Ausschuss zurückzuüberweisen, dann sollten wir das tun.
({4})
- Ich komme noch zu unserem Abstimmungsverhalten.
Wir sollten in Ruhe über einen gemeinsamen Antrag
reden. Sie haben hier aber zum Ausdruck gebracht, dass
Sie das nicht wollen. Sie wollen an dieser Differenz festhalten. Die Tore sollen geschlossen bleiben. Dem kann
man definitiv nicht zustimmen.
Jetzt zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
({5})
- Ja. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und zum
Antrag von der SPD-Fraktion.
Sie beziehen sich in Ihren beiden Anträgen auf die
Beschlussfassung des Europäischen Parlaments und heißen sie gut. In dieser Beschlussfassung des Europäischen Parlaments wird leider auch zu nicht näher spezifizierten Wirtschaftssanktionen und zum Einfrieren aller
makrofinanziellen Hilfen und IWF-Darlehen aufgerufen.
Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das habe
ich hier im Plenum bereits beim letzten Mal gesagt.
Wenn wir diesen Passus beiseitelassen könnten und die
Punkte nehmen würden, auf die wir uns einigen könnten,
dann würden wir auch einen gemeinsamen Antrag hinbekommen. Dieser Formulierung des Europäischen Parlaments können wir allerdings nicht zustimmen.
Aber die Forderungen an die Regierung Lukaschenko,
umgehend alle inhaftierten politischen Gefangenen freizulassen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft,
gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unabhängige Medien zu beenden, das ist doch eine Position,
die alle Fraktionen dieses Hauses vertreten. Ich verstehe
nicht, warum wir es nicht schaffen, diese Position hier zur
Abstimmung zu stellen und so zu einer gemeinsamen Beschlussfassung des ganzen Hauses zu kommen.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin ein bisschen in Sorge, seitdem sich die öffentliche
Aufmerksamkeit von Belarus nach Ägypten orientiert
hat. Ich hoffe, dass wir Alexander Lukaschenko nicht die
Gelegenheit geben, die Gunst der Stunde zu nutzen und
die Opposition noch weiter zu zerschlagen, als er es bisher schon getan hat.
Wir brauchen - da sind wir uns einig - eine sehr entschiedene und sehr standhafte Politik gegenüber dem
Regime Lukaschenko. Ich will nicht darüber hinwegreden, dass es im Umgang mit solchen autokratischen Regimen immer eine schwierige Abwägung zwischen Dialog und Isolierung gibt, wobei wir uns, glaube ich, nach
wie vor einig sind, dass die Dialogpolitik mit Weißrussland zwar durchaus positive Seiten entfacht hat, zum
Beispiel das Aufblühen der Zivilgesellschaft, dass sich
Lukaschenko aber nach dieser dramatischen Verletzung
der Geschäftsgrundlage selbst in die Isolierung getrieben
hat.
Mir ist sehr wichtig, dass wir den Blick noch einmal
auf Russland richten; Kollegin Zapf hat das eben angesprochen. Tatsächlich hat sich Außenminister Lawrow
sehr deutlich geäußert, nachdem der Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 1. Februar dieses Jahres über Präsident Medwedew sehr stark
Druck gemacht und gefordert hat, dass sich Russland
deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte ausspricht. Wir müssen der russischen Seite sagen, dass sie,
die sie in einer politischen Union mit Weißrussland ist - ({0})
Herr Präsident, es ist ein bisschen schwierig, hier zu
sprechen. Können Sie die Kollegen bitten, ihre Verhandlungen außerhalb des Saales zu führen?
Es geht um das anschließende Abstimmungsverfahren. - Können wir die Debatte fortführen, Frau Zapf?
Dann müssen wir die Sitzung vor der Abstimmung kurz
unterbrechen.
Die Uhr ist übrigens weitergelaufen; das finde ich
nicht in Ordnung.
Ich lasse die Uhr gleich ein bisschen länger laufen.
In Ordnung.
Wir müssen sehr deutlich machen, dass Russland für
die Menschen, die in KGB-Haft sind, Verantwortung
hat. Auch Präsidentschaftskandidaten, die von russischer
Seite aufgebaut worden sind, sind unter den Gefangenen.
Wir müssen bei ihnen Angst um Leib und Leben haben.
Sannikow hatte seit dem 27. Januar keinen Außenkontakt. Hier ist Russland ganz deutlich gefragt. Das sage
ich auch in Richtung des Auswärtigen Amtes.
({0})
Wir sind uns in sehr vielen Fragen einig, dass sich
Lukaschenko selbst isoliert hat, dass es keine anti-belarussische Sanktionspolitik geben kann, aber eine deutliche Isolation des Regimes Lukaschenko. Damit sind wir
bei dem Juckepunkt unserer Debatte, bei der Frage, wie
wir es mit den Visa halten. Es ist manchen nicht ganz klar,
dass wir mit der Einbeziehung von Polen und dem Baltikum in den Schengen-Raum von unserer Seite die Mauer
in Europa wieder errichtet haben. Die jungen Menschen
aus Weißrussland konnten im kleinen Grenzverkehr vollkommen unproblematisch für 5 Euro pro Visum nach Polen und in das Baltikum reisen. Das heißt, sie waren quasi
Teil unseres europäischen Hauses. Mit der Verlagerung
des Schengen-Raums an die polnische Außengrenze haben wir den jungen weißrussischen Menschen den Weg
versperrt.
Herr Kollege Wellmann, erzählen Sie keinen Unsinn,
um Ihr schlechtes Gewissen zu verdecken. Es ist Unfug,
zu sagen, dass wir, wenn es Visumsfreiheit gebe, keine
Einreisen mehr verhindern könnten, zum Beispiel gegenüber Lukaschenko. Auch er müsste seinen Pass vorweisen; auch ihn könnte man an der Grenze abweisen.
Dass wir uns jetzt in diesem Punkt, der die größte Hilfe
für die weißrussische Zivilgesellschaft bedeuten würde,
durch die Schengen-Politik die Hände binden lassen, ist
nicht richtig.
Deswegen lautet unser klar formulierter Vorschlag,
im Rahmen der Schengen-Politik in der EU dafür zu sorgen, dass unsere notwendige außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Wir müssen in
der Lage sein, das zu tun, was unter den Gesichtspunkten
der Demokratie und der Menschenrechte außenpolitisch
notwendig ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger.
Deswegen sollten Sie hier keine Camouflage machen.
({1})
Ich war mit dem Kollegen Vaatz vergangene Woche
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Milinkewitsch
und die jungen Leute dort - gestern habe ich mit Lawon
Wolski, der Popikone der belarussischen Jugend, gesprochen - sagen: Es ist schwierig, zu entscheiden, was man
jetzt machen soll. Aber eines wissen wir: Ein wirksames
Instrument wäre die Reisefreiheit. - Deswegen müssen
wir uns hier die Freiheit nehmen, das auszusprechen,
was notwendig ist; darauf sollten wir dann auch hinarbeiten. Wir dürfen den Innenpolitikern nicht die Außenpolitik überlassen. Das führt in die Irre.
Marieluise Beck ({2})
Ich danke Ihnen.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Michael Frieser von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Parlamentarismus hat tatsächlich etwas sehr Lebendiges. Es geht um die Frage, ob man in
einer vorgegebenen Redezeit in der Lage ist, ein gemeinsames Abstimmungsverfahren herbeizuführen. Ich bin
sehr dankbar, dass wir heute eines deutlich machen können: Die Kritik am Regime Lukaschenko und der Protest
gegen das, was er Weißrussland antut, einen dieses Haus,
({0})
von einigen Ausfällen abgesehen.
Wir haben mit einer gewissen Hoffnung auf dieses
Land geblickt. Es gab Anhaltspunkte, insbesondere wirtschaftliche Blüten, die diese Hoffnung in den letzten
Jahren genährt haben. Am Wahltag, am 19. Dezember
2010, wurden wir aber in unserer Gewissheit bestärkt:
Wir erleben ein Regime, das wir Europäer mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, bekämpfen müssen.
Voller Schamlosigkeit wurde deutlich gemacht, dass internationaler Protest das Regime nicht irritiert. Ich bin
dem Kollegen Klimke, der als Wahlbeobachter dort war,
dankbar; ich glaube, auch Frau Kollegin Beck war mit
von der Partie. Wer dort war, konnte beobachten, dass es
in Belarus eine Art Schaufenster gab. Man hat so getan,
als seien es tatsächlich demokratische Wahlen gewesen.
Das Gegenteil war der Fall.
Heute geht es darum, dass wir uns möglichst effektiv
und möglichst schnell in die richtige Richtung bewegen. - Wie Sie sehen, laufen manche Kollegen immer
noch eifrig hin und her. Sie unternehmen den Versuch,
einen gemeinsamen Antrag zu erreichen.
Worum geht es? Es geht um effektive, schnelle und
konkrete Hilfe. Wir wollen deutlich machen, dass wir
den mutigen Menschen in Belarus helfen wollen: den
mutigen Journalisten, den Politikern, den Vertretern der
Zivilgesellschaft und den mutigen Anwälten, die sich für
die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Wir wollen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, auch außerhalb von Belarus für ihre Anliegen und die Menschen zu
kämpfen.
Im Hinblick auf unsere weitreichenden Forderungen
an die Bundesregierung müssen wir versuchen, in der
zentralen Frage: „Wie können wir den Menschen in
Weißrussland möglichst schnell den Weg nach Europa
ebnen?“ den effektivsten Weg zu gehen. Unserer Auffassung nach - dafür werden Sie Verständnis haben, Frau
Kollegin Beck - muss dieser Weg wirksam sein, er muss
sofort umsetzbar sein, und er muss effektiv sein. Es ist
ein sehr wichtiges politisches Signal, an die Behörden zu
appellieren: Bitte erhebt nach Möglichkeit keine Gebühren und geht so unbürokratisch wie möglich vor, aber natürlich im Rahmen der bestehenden Gesetze. - Dann gibt
es, wie ich glaube, keine Unsicherheiten, und wir können effektiv arbeiten.
Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Selbstverständlich, wenn ich diesen Satz noch beenden darf.
Bitte schön, ja.
Frau Kollegin Beck, man muss fast folgenden Eindruck haben: Man muss sich am Rande Europas und der
EU nur so aufführen wie Herr Lukaschenko, man muss
also nur so tun, als lebe man tatsächlich in einer Demokratie, obwohl man eigentlich eine Form der Diktatur errichtet, und schon sind wir bereit, die Visumsfreiheit
auszudehnen. Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen.
({0})
Jetzt zu Ihrer Zwischenfrage. - Bitte schön.
Herr Kollege Frieser, ich danke Ihnen für dieses
Stichwort.
Zum Ersten möchte ich Sie fragen, ob Sie die Haltung
der EU-Kommission teilen, die die Absenkung der Visumsgebühren, wie sie im Fall der Ukraine und anderer
Länder gewährt wurde, gegenüber Weißrussland abgelehnt hat mit der Begründung: Solange Weißrussland einen Diktator hat, kann man die Visumsgebühren nicht
absenken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir
dem Diktator dabei helfen, das Reisen für die Menschen
möglichst schwer und teuer zu machen.
Zum Zweiten möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass wir in diesem Hause vor etwa drei Jahren
schon einmal in genau derselben Weise über die Notwendigkeit einer Visumsliberalisierung im Hinblick auf
Weißrussland gesprochen haben, dass damals Anträge
vorgelegen haben, über die abgestimmt worden ist, verbunden mit der Aufforderung an das Auswärtige Amt, in
der Visumsfrage liberal zu sein, und dass Sie mit Ihrem
heutigen Antrag keinen Schritt weiter gehen, als wir es
vor drei Jahren getan haben.
({0})
Frau Kollegin Beck, ich glaube, das hieße, die Geschichte aus dem Auge zu verlieren. Die Debatte von damals ist mir sehr wohl bewusst. Das Thema hat aber
durch den Wahltag, den 19. Dezember 2010, so an
Schärfe gewonnen, dass wir die Situationen nicht miteinander vergleichen können.
Ich will Sie aber trotzdem auf den Widerspruch in
dieser Darstellung hinweisen. Natürlich hat es Signalwirkung, dass von den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bisher nur Estland, Lettland und Litauen tatsächlich eine Visumsfreiheit erlangt haben. Wenn wir jetzt im
Fall Weißrussland die Visumspflicht fallen ließen, sähe
dies wie ein Gnadenakt aus, würde aber nicht aus der
Überzeugung eines sich öffnenden Europas heraus erfolgen. Ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie sich
dafür einsetzen; denn Sie handeln aus dem Impetus heraus, zu helfen. Aber im Ergebnis liefe es meines Erachtens tatsächlich in die falsche Richtung.
Die Frage, warum sich auch andere dieses Themas
annehmen, hat auch etwas mit der Diskussion über die
Gebührenhöhe der Visa zu tun. Deshalb ist es unserer
Meinung nach notwendig, dass wir alles unternehmen,
was auf diplomatischem Weg möglich ist, damit die Visa
so unbürokratisch wie irgend möglich erteilt werden.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir dieses Signal
aussenden, und zwar in einer möglichst einheitlichen Art
und Weise. Aus dem eifrigen Umherlaufen hier im Plenarsaal schließe ich, dass wir uns vielleicht auf einen gemeinsamen Antrag zubewegen. Insofern bedanke ich
mich herzlich bei den Kollegen der SPD. Wenn wir diese
Frage inhaltlich so beantworten können, dass wir uns
nicht gegenseitig niederstimmen müssen, dann ist dies
mit Sicherheit ein Beleg dafür, dass die große Mehrheit
dieses Hauses ein starkes Signal nach Belarus sendet.
Wir müssen Herrn Lukaschenko deutlich machen, dass
wir es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er Menschen in seinem Land verfolgt und nach wie vor so tut,
als errichte er eine Demokratie, obwohl er eine Diktatur
befehligt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich darf Ihnen mitteilen, dass mir von einigen Kolle-
ginnen und Kollegen persönliche Erklärungen zu
Tagesordnungspunkt 7 vorliegen. Diese nehmen wir zu
Protokoll.1)
Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich die Ge-
schäftsführer zu mir bitten.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über drei Anträge
mit dem gleichlautenden Titel „Belarus - Repressionen
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren,
Zivilgesellschaft stärken“, und zwar zunächst zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/4685. Wer stimmt für
1) Anlage 2
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der
Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4667. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der
SPD-Fraktion und Enthaltungen der Fraktion Die Linke
und der Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4686.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
der Grünen, Enthaltung der SPD und der Linken und
Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Evaluierung von Sicherheitsgesetzen - Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren
- Drucksache 17/3687 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem
ist diese Koalition bisher eigentlich unschlagbar: im Ankündigen von Überprüfungen und Evaluierungen.
({0})
Das fängt mit der Koalitionsvereinbarung an. Im Bereich
der Innenpolitik, Frau Kollegin Piltz, sollen zum Beispiel die Telefonüberwachung, der Datenschutz, das
Waffenrecht und die Internetsperren überprüft werden.
Bisher kannte man den schönen Satz: Wenn ich nicht
mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Bei Ihnen kommt hinzu: Wenn ich gar nicht einig bin, Evaluierung ist immer noch drin. - Danach handeln Sie.
({1})
Darin sind Sie ja Spezialist.
Schwarz-Gelb haben wir netto seit einem Jahr - brutto
noch länger -, und noch kein einziges dieser Evaluierungsergebnisse liegt vor. Im Gegenteil: Sie streiten sich
jetzt sogar darüber, ob vorliegende Ergebnisse präsentiert
werden sollen - siehe Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz. Erst haben Sie also Angst vor dem gemeinsamen Handeln, weswegen eine Evaluierung durchgeführt wird, und dann haben Sie Angst davor, das Ergebnis
dieser Evaluierung vorzulegen. Sie machen aus einem an
sich guten Instrument ein Verzögerungsinstrument. Sie
machen aus einer guten Idee ein innerkoalitionäres Verzögerungsmittel bzw. - ich sage es anders - eine schlechte
Ausrede in Ihrer Koalition. Das ist einfach nicht akzeptabel. Deswegen leisten wir heute Hilfestellung, indem wir
diesen Antrag vorlegen.
({2})
Ich gebe zu: Das ist unsere Idealvorstellung. Man
kann hier anderer Meinung sein und sagen: Ein solches
Gremium wollen wir nicht. Darüber wollen wir ja reden.
Deswegen machen wir diesen Vorschlag. Was man aber
nicht machen kann, ist, zu sagen: Es soll alles so bleiben.
Den schlechten Zustand, den wir jetzt haben und der
weitestgehend eine Selbstevaluierung der Exekutive bedeutet, verändern wir nicht. - Das geht auf gar keinen
Fall.
({3})
Eine Evaluierung ist bisher völlig unsystematisch
vorgesehen: einmal hier, einmal da und dann wieder gar
nicht. Deswegen sagen wir erstens: Alle Gesetze, die in
die Grundrechte eingreifen und die dem Zitiergebot unterliegen, müssen eine Evaluierungsklausel und eine
Evaluierungsfrist enthalten. Zweitens kann es doch nicht
sein, dass sich die Exekutive selber evaluiert, wie bei
dem sogenannten Terrorismusbekämpfungsgesetz. Da
hat sich die Innenverwaltung selber aufgeschrieben, wie
toll sie ist. Das hat sie dann auch noch VS-Vertraulich
gestempelt und geschlussfolgert: Selbst Befugnisse, die
nie angewendet wurden, behalten wir bei. Man weiß ja
nie, was kommt. - Das ist so sinnvoll, als würde man die
Evaluierung staatlicher Schauspielbühnen an die Intendanten übertragen. Jeder weiß, welches Ergebnis dann
herauskommen würde. Niemand würde diesen Irrsinn
machen; aber im Bereich der inneren Sicherheit war er
bisher Methode. Das muss aufhören.
({4})
- Herr Grindel, wir werden sehen, was dabei herauskommt, wenn man es richtig macht.
Wir als Gesetzgeber müssen bei der Evaluierung den
Hut aufhaben. Wir müssen das in die Hand nehmen; es
sind unsere Gesetze. Dieses Pingpongspiel mit Karlsruhe, dass hier Gesetze gemacht werden und uns dann
eine permanente verfassungsgerichtliche Nachhilfe erteilt wird, wie es Jutta Limbach einmal gesagt hat, muss
aufhören.
({5})
Wir müssen in die Lage versetzt werden, durch eine Evaluierung der Wirkung unserer Gesetze selber zu einer
Korrektur zu kommen. Um dieses Stück Autonomie des
Gesetzgebers geht es hier.
Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist
schwierig; das wissen wir. Aber eine Evaluierung kann
dabei helfen. Wir schlagen eine Evaluierung auf hohem
Niveau vor, und wir erwarten, dass Sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Franz Josef Jung
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Kollege Wieland, ich denke, Ihr Antrag, den wir heute
beraten, geht völlig an der Sache vorbei. Er ist aus meiner Sicht einer Behandlung im Rahmen einer Plenardebatte unwürdig und überflüssig wie ein Kropf.
({0})
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
hat keine Bundesregierung so viel für die Evaluierung
von Sicherheitsgesetzen getan wie die Bundesregierung
unter christlich-liberaler Verantwortung. Deshalb ist Ihr
Antrag abzulehnen, Herr Wieland.
({1})
Es stimmt: Freiheit ist ohne Sicherheit nicht möglich.
Aber Sicherheitsgesetze müssen den Grundrechten und
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Deshalb ist es, denke ich, auch richtig, dass die Sicherheitsgesetze evaluiert bzw., auf Deutsch, überprüft und
entsprechend bewertet werden und dass auch die Behördenstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie haben es angesprochen: Beim Terrorismusbekämpfungsgesetz und bei der Antiterrordatei ist die Evaluierung
bereits gesetzlich vorgesehen.
({2})
Sie sollten übrigens hinzufügen, dass im Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz, das im Oktober 2006 in den
Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, eine Evaluierungsklausel mit Parlamentsbeteiligung vorgesehen
ist. Das war in rot-grüner Regierungszeit gerade nicht der
Fall. Ich halte es für richtig, dass der Gesetzgeber, der die
Verantwortung für die Gesetze trägt, an einem solchen
Prozess beteiligt ist. Damit hat die christlich-liberale Koalition den richtigen Schritt unternommen.
({3})
Die Antiterrordatei soll bis Ende dieses Jahres evaluiert werden. Es soll eine umfassende Analyse und Bewertung des Instruments der Antiterrordatei im Hinblick auf
seine gesetzlich definierte Zielsetzung erfolgen. Ob die
Antiterrordatei die Zusammenarbeit der Teilnehmer effektiv unterstützt und damit einen erfolgreichen Beitrag
zur Terrorismusbekämpfung leistet, ist ein weiterer entscheidender Punkt, der im Rahmen der Evaluierung zu
prüfen ist.
Hinzuzufügen ist auch - das haben Sie ebenfalls nicht
erwähnt, Kollege Wieland -,
({4})
dass die Evaluierungsregelungen im Gemeinsame-Dateien-Gesetz die Einbeziehung eines Sachverständigen
erfordern, und zwar im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag und unter Wahrung von Objektivität
und Neutralität des Sachverständigen. Eines muss aber
immer klar sein: Bei der gesamten Überprüfung und Bewertung durch eine derartige Evaluierung von Sicherheitsgesetzen liegt letztlich die Verantwortung bei der
Bundesregierung
({5})
respektive beim Deutschen Bundestag. Sie darf nicht in
irgendwelche Experimentierzirkel abgeschoben werden
und zu „Gutachteritis“ führen; hier ist vielmehr die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben.
({6})
Deshalb muss die Verantwortung beim Verfassungsorgan bleiben.
({7})
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt - darauf
haben Sie hingewiesen -, dass die Sicherheitsdaten und
die gemeinsamen Zentren, die Telekommunikationsüberwachung und das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten zu
überprüfen sind. Die Arbeiten daran sind ebenfalls in
Gang. Hinzu kommt - das haben Sie nicht erwähnt -,
dass selbstverständlich auch die Schnittstellen der zivilen Sicherheitsbehörden, nämlich Bundeskriminalamt,
Bundespolizei und Zollverwaltung, entsprechend überprüft werden. Dazu hat die Werthebach-Kommission
({8})
jetzt ihre Arbeiten vorgelegt. Das Ministerium wertet gerade die Ergebnisse aus. Wir haben das bereits im Innenausschuss diskutiert.
({9})
Ich finde die Ziele richtig, zu mehr Effektivität zu kommen, Überschneidungen zu vermeiden, Aufgabenbündelungen vorzunehmen und Synergieeffekte zu erzielen.
Eines ist aber klar: Es darf keine Funktion, die zur Eingliederung von Institutionen führt, in Betracht kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
in Ihrem Antrag die Hinzuziehung von Sachverständigen
im Zusammenhang mit der Evaluierung angesprochen.
Hier, denke ich, sind die Kriterien klar. Die Unabhängigkeit muss gewahrt werden. Der derzeitigen Auswahl hat
der Deutsche Bundestag zugestimmt. Das haben Sie hier
ebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland.
({10})
Ebenfalls zu ergänzen ist, dass das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz vorsieht, dass ein Staatsrechtler
beauftragt wird, der, lieber Kollege Wieland, auch auf
grundrechtliche Fragestellungen den Fokus legt.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Ich bin und
bleibe der Auffassung, dass die Verantwortlichkeit beim
Verfassungsorgan bleiben muss und nicht an ein Expertengremium abgegeben werden kann.
({11})
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt im Zusammenhang mit derartigen Überprüfungen.
({12})
Es liegt in der Verantwortung des Deutschen Bundestages, die Sicherheitsgesetze einer verantwortlichen Evaluierung zuzuführen.
({13})
Der Forderung nach einer, wie Sie es in Ihrem Antrag
formuliert haben, umfassenden, transparenten und ernsthaften Evaluierung wird von der Bundesregierung bereits Rechnung getragen.
({14})
Ich habe gerade gesagt: Noch keine Regierung hat dies
in einem derartigen Ausmaß durchgeführt. Die Forderung nach einem institutionalisierten Expertengremium
halte ich für falsch, weil ich der Auffassung bin, dass
hier die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben
sein muss. Aus all diesen Gründen ist Ihr Antrag abzulehnen.
Besten Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Evaluierung
von Sicherheitsgesetzen“ liegt mir seit langem am Herzen und ist für den Rechtsstaat von herausragender Bedeutung. Insofern rennen die Grünen bei mir und bei uns
offene Türen ein.
({0})
Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist eine
Großbaustelle, bei der noch viel zu tun ist. Die Materie
ist wissenschaftlich noch nicht völlig durchdrungen.
Gute Ansätze sehe ich zum Beispiel bei Marion Albers,
die zur grundrechtsbezogenen Evaluierung gearbeitet
hat, und bei Gusy aus Bielefeld, der zur Telefonüberwachung evaluiert hat. Aber auch das Max-Planck-Institut
hat schon beachtliche Ergebnisse geliefert. Fest steht für
mich und für uns: Die Politik muss sich an der Entwicklung und Gestaltung von Evaluierungskonzepten beteiligen und muss diese vorantreiben.
Das Innenministerium hat in 2010 Vorschläge zur
Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes und des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes vorgelegt. Wir alle haben die Entwürfe gesehen. Darin sehe
ich misslungene Versuche.
Herr Jung, Sie haben gesagt, keine Bundesregierung
habe für die Evaluierung mehr getan, und die Parlamentsbeteiligung hervorgehoben. Ich kann Ihnen nur sagen: Herr Benneter und ich waren es, die dies bei diesen
Gesetzen durchgesetzt haben, und zwar gegen großen
Widerstand aus Ihrer Fraktion.
Wenn ich mir jetzt anschaue, was aus dem Ministerium kommt, dann habe ich den Eindruck, es sieht dies
als eine lästige Pflichtübung, nicht als Evaluierung.
({1})
Ich sehe keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu
vorangegangenen sogenannten Evaluierungen. Die Hinzuziehung einer externen Beratungsfirma ist eine Farce,
wenn sie keinen rechtsstaatlichen Mehrwert darstellt und sie stellt in diesem Zusammenhang keinen rechtsstaatlichen Mehrwert dar.
({2})
Schauen Sie sich es einmal genau an: Das Innenministerium will autonom die Forschungsfragen der Evaluierung festlegen und die Auswertung und Bewertung alleine durchführen; es braucht den Sachverständigen
lediglich als Methodenberater. Das ist mir entschieden
zu wenig. Damit kann das BMI den gesamten Prozess
und auch das Ergebnis steuern. Ungewollte und kritische
Anmerkungen von Sachverständigen können so wirkungsvoll verhindert werden. Ich nenne das „Scheinevaluierung“.
Die Regierungskoalitionen haben sich im Koalitionsvertrag die Evaluierung des Sicherheitsgesetzes auf die
Fahne geschrieben. Aber in der Verwaltung, in der
Spitze der Ministerien, gelten weiterhin die alten Verwaltungsgrundsätze: „Das haben wir schon immer so gemacht“, „Das haben wir noch nie so gemacht“ und „Da
könnte ja jeder kommen“. Ich erwarte eine unabhängige,
ergebnisoffene Begutachtung und Bewertung von Gesetzen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Herr Jung,
das ist bei Ihnen auch deutlich geworden. Für Sie liegt
das Schwergewicht auf Praxistauglichkeit und auf Effektivität. Das sind nur zwei wichtige Aspekte. Für Sie sind
es jedoch die einzigen Punkte. Das ist falsch.
Ich denke zurück an die Evaluierung im Zusammenhang mit der Bundespolizeireform. Dieser Evaluierungsbericht ist kräftig in die Hose gegangen. Das Innenministerium hat sich ein passendes Ergebnis gebastelt, und
die Realität sah ganz anders aus. Deshalb ist auch eine
Anhörung durch den Innenausschuss durchgeführt worden. Die Kritik der Sachverständigen und der Betroffenen war vernichtend. Evaluierungen sind eben keine
Schönwetterberichte.
Eine rechtsstaatsorientierte Evaluierung von Sicherheitsgesetzen darf nicht allein die Effektivität der Verwaltungstätigkeit zum zentralen Maßstab haben. Die
entscheidenden Fragen müssen lauten: Welche Grundrechte sind berührt? Wie tief und wie häufig sind die
Eingriffe? Sind die Rechtsstaatsprinzipien gewahrt?
Nun zum Vorschlag der Grünen. Sie schlagen ein institutionalisiertes Expertengremium vor. Damit würde
ich vorsichtig umgehen. Institutionen mit festen Organisationsstrukturen entwickeln immer ein Eigenleben. Wir
brauchen die Unabhängigkeit der Sachverständigen, die
selbstständig eine Bewertung vornehmen und die sich
Frank Hofmann ({3})
auch dem wissenschaftlichen Wettbewerb stellen. Über
diese Punkte müssen wir noch reden.
Einheitlich festgelegte Kriterien sind nicht sinnvoll.
Es gibt in diesem Bereich nicht so etwas wie ein Jackett
von der Stange, das für alle Gesetze gleichermaßen
passt. Jedes Gesetz benötigt seinen eigenen Maßanzug.
Deshalb bin ich skeptisch. Wir müssen auch noch über
den Zeitpunkt reden. Wenn der wissenschaftliche Sachverständige erst im späteren Stadium hinzukommt, dann
fehlen schon alle Voraussetzungen, um richtige Statistiken führen zu können. Ich halte es für wichtig, dass er
bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Prozess
eingebunden wird.
Es gibt noch eine Menge zu tun. Die SPD-Fraktion
will hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir werden morgen eine renommierte Expertin auf dem Gebiet
der Gesetzesevaluierung in unserer Arbeitsgruppe hören.
Sie wird uns mit ihrem Know-how unterstützen. Die
Bundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und bei
Evaluierungsfragen auch unabhängigen externen Sachverstand mit ins Boot holen.
Deshalb wünsche ich mir, dass das BMI selbstständig
ohne gesetzlichen Zwang die Sicherheitsgesetze auch
wissenschaftlich evaluieren lässt. Damit wäre es auf der
Höhe der Zeit. Nur so kann der Gesetzgeber seiner permanenten Verfassungsbindung genügen und gegebenenfalls Nachbesserungen am Gesetz vornehmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen von den Grünen, bei der Lektüre Ihres
Antrages war ich mir nicht sicher, ob ich nun erfreut
oder erstaunt sein sollte.
({0})
Erfreut, weil ich zur Kenntnis nehmen konnte, dass es in
Ihrer Fraktion zu früheren Zeiten einen Lernprozess gegeben hat,
({1})
oder erstaunt über die Dreistigkeit, uns diesen Antrag
vorzulegen.
Da schreiben Sie doch tatsächlich, dass Sie in Ihrer da war es nämlich - rot-grünen Regierungszeit etwas
Tolles, nämlich eine unabhängige Evaluierung eingeführt hätten. Im nächsten Satz beklagen Sie sich dann,
dass der Gesetzgeber dies aber nicht umgesetzt habe.
Sie schreiben da:
Deshalb hat die rot-grüne Koalition … das Instrument einer gesetzlich vorgesehenen Evaluierungspflicht eingeführt.
({2})
Evaluierung wurde dabei als unabhängige Überprüfung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnismäßigkeit verstanden.
Jetzt kommt mein Lieblingssatz:
Dies wurde allerdings nicht so vom Gesetzgeber
ausformuliert.
Da muss ich doch einmal fragen: Wer war denn damals Gesetzgeber? Warum haben Sie das denn nicht geschafft, wenn Sie das alles so toll finden? Warum steht
das nicht direkt im Gesetz?
({3})
Weil Sie es damals nicht für nötig gehalten haben oder
sich nicht durchsetzen konnten? Waren Sie - ich könnte
auch direkt fragen - nicht eigentlich selbst der Gesetzgeber, der es verbockt hat?
({4})
Das ist nämlich genau das Problem. Sie haben es damals
nicht richtig gemacht und wollen uns das jetzt anhängen.
Das ist nicht redlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen.
({5})
Dazu kann ich eines sagen: Inhaltlich sind wir gar
nicht so weit auseinander. Wir sind der Auffassung, dass
Evaluierung richtig ist. Sie muss zwingend die Verhältnismäßigkeit in den Blick nehmen. Sie darf sich vor allen Dingen nicht auf die Praktikabilität der ausführenden
Behörde beschränken,
({6})
und sie soll auch nicht nur von den Betroffenen durchgeführt werden. Der Satz, dass die Frösche nicht ihren eigenen Teich trockenlegen würden, ist hier schon oft zitiert worden. Er trifft auch hierauf zu.
({7})
Wenn hier gesagt wird, wir täten gar nichts, was Evaluierung angeht, dann muss ich fragen, wo Sie eigentlich
waren, als es im Innenausschuss um das Informationsfreiheitsgesetz ging. Wir sind gesetzlich nicht verpflichtet, dieses zu evaluieren, wir tun es aber.
({8})
- Wir sind in dieser Legislaturperiode nicht verpflichtet,
das zu machen. - Wir beauftragen einen Externen, das
Informationsfreiheitsgesetz zu evaluieren. Das ist mehr,
als Sie geschafft haben. Daher ist Ihr Verhalten nicht
richtig.
({9})
- Wenn er möchte. Dann habe ich Spaß.
Ich höre, dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wieland zulassen.
Ja.
Schön. - Bitte, Herr Wieland.
Mir würde sonst etwas fehlen.
Liebe Frau Kollegin Piltz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir durchaus gelernt haben, dass die
Pflicht zur Evaluierung in das Terrorismusbekämpfungsgesetz geschrieben wurde, im Übrigen auch in das Informationsfreiheitsgesetz? Sie liegen mit Ihrer Meinung
falsch. Es wurde nur versäumt, eine Frist festzusetzen.
Die Evaluierungspflicht aber steht im Informationsfreiheitsgesetz.
Aufgrund des Lernprozesses, dass dabei eine Selbstevaluierung der Exekutive herauskam, haben wir gesagt:
So geht es nicht weiter. - Den ersten Schritt, den der
Kollege Hofmann genau geschildert hat, nämlich dass in
einem Gesetz steht, dass ein Externer hinzugezogen werden muss, finden wir unzureichend, weil es sich um eine
Gesellschaft handelt, die nur methodische Vorschläge
unterbreitet, ansonsten aber Managementberatung oder
dieses und jenes macht. Alles dies hat dazu geführt, sich
abstrakt in Form eines Antrags zu überlegen, wie eine
bessere Evaluierung aussehen kann. Wäre es nicht besser, statt immer nur Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, uns zu sagen, ob Sie wie der Kollege Jung
schroff sagen: „Abgelehnt!“, ob Herr Jung auch in Ihrem
Namen die Ablehnung ausgesprochen hat oder wie Sie
sich hierzu verhalten wollen?
Eigentlich kann ich den Rest meiner Rede auf Ihre
Kosten halten und noch ganz lange weiter reden; denn
das alles hätte ich noch gesagt. Herr Kollege Wieland,
erstens waren wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht verpflichtet, die Evaluierung des Informationsfreiheitsgesetzes vorzunehmen. Wir tun es aber trotzdem. Das widerspricht dem, was Sie und Ihre Kollegen hier gesagt
haben, nämlich dass wir so etwas nicht tun würden.
({0})
- Die Aussage war, dass wir überhaupt keine Evaluierung vornehmen. Das habe ich eben widerlegt.
({1})
Zweitens haben wir uns im Zusammenhang mit den
anderen Gesetzen auf ein Verfahren verständigt, dass externer Sachverstand hinzugezogen wird, der sich natürlich auch der Frage der Verhältnismäßigkeit widmen
soll. Die Koalitionsfraktionen werden das sehr genau
verfolgen und natürlich mit evaluieren. Insofern gebe ich
meinem Kollegen Jung - das wird Sie jetzt erstaunen
und ihn vielleicht erfreuen - völlig recht. Wir sind uns
völlig einig, dass Ihr Antrag abzulehnen ist, weil in ihm
etwas gefordert wird, was wir ohnehin schon tun.
({2})
Wir tun das, und wir werden mehr tun, als Sie getan haben; denn Sie waren nicht in der Lage, das in das Gesetz
zu schreiben. Wir setzen jetzt um, was Sie nicht ins Gesetz geschrieben haben. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Mit Evaluierungsklauseln - das möchte ich auch sagen - kann sich Politik auch nicht reinwaschen. Man
kann nicht sagen: Wir greifen jetzt einmal in die Grundrechte ein, aber wir haben am Ende eine Evaluierung
und schauen, wie schlimm es ist. - Auch das ist unredlich. So gesehen muss ich auch noch einmal daran erinnern, dass sich die Kollegen der SPD durchaus damit geschmückt haben, eine Evaluierung vorzunehmen. Dies
ist aber kein Trostpflaster dafür, dass Sie die Grundrechte mit dem BKA-Gesetz eingeschränkt haben.
Wir werden das anders machen. Das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium sind sich
beim TBEG und bei der Antiterrordatei einig, welches
Verfahren angewendet wird. Wir legen damit die Grundlage für eine echte Evaluierung.
({3})
- Wissen Sie, was ich eine Farce finde, Herr Kollege?
({4})
Dass Sie nicht in der Lage waren, mit Grün, mit anderen
Koalitionspartnern eine ordentliche Evaluierung ins Gesetz zu schreiben. Wenn wir es jetzt besser machen als
Sie, dann ist es ein Erfolg. Eine Farce ist Ihre Gesetzgebung und nicht unsere Evaluierung. Das muss ich hier
deutlich sagen. Man muss auch einmal in die Geschichte
schauen.
({5})
- Jetzt ist es auch einmal gut. Wenn Sie eine Frage haben, dann stellen Sie sie ordentlich, so wie der Kollege
Wieland. Stellen Sie sich meiner Antwort, und quaken
Sie hier nicht andauernd dazwischen!
({6})
- Jetzt ist es aber auch gut.
Eines muss man auch sagen: Wenn Sie den Koalitionsvertrag einmal anschauen, dann werden Sie sehen,
dass wir keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen
planen. Ganz gleich, was Sie uns vorwerfen, wir planen
das nicht. Das muss man hier auch deutlich sagen.
({7})
Das heißt auch, dass wir bei allen Gesetzesvorhaben die
Verhältnismäßigkeit lieber direkt prüfen und dies nicht
auf nachfolgende, möglicherweise andere Mehrheiten
verschieben. Wir stellen uns bei den Grundrechten der
Verantwortung und lassen nicht hinterher jemand anderen prüfen.
({8})
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich
mich schon darauf freue, mit Ihnen darüber zu diskutieren, ob Maßnahmen, die Sie den Sicherheitsbehörden
überhaupt erst ins Gesetz geschrieben haben, verlängert
werden sollten oder nicht. Ich meine eine Diskussion auf
der Grundlage der von der schwarz-gelben Koalition in
Auftrag gegebenen Evaluation mit Blick auf Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich freue mich auf eine
ernsthafte Diskussion mit der Opposition, und ich hoffe,
sie gerät nicht zur Farce.
Herzlichen Dank.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Jan Korte von der Fraktion Die
Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon interessant, was heute aus den Reihen der Koalition so alles geboten wird. Ich muss sagen, der gestellte Antrag ist in der Tat sehr sinnvoll. Ich glaube, das
kann man erst dann richtig würdigen, wenn man sich anschaut, welche Eingriffe in die Bürgerrechte in den letzten Jahren stattgefunden haben. Die Gesamtsumme der
Eingriffe zeigt in der Tat, dass wir dringend eine Evaluierung brauchen, weil Evaluierung immer auch ein Stück
weit Selbstkorrektur - man könnte auch sagen, Selbstkritik; wie auch immer - bedeutet. Wir brauchen nämlich eine Abrüstung nach innen und außen. Das ist angemessen.
({0})
Der Kollege Wieland hat das Beispiel schon genannt.
Es ist ein relativ lustiger Vorgang, dass, ich sage einmal,
die härtesten Innenpolitiker ihre härtesten innenpolitischen Gesetze evaluieren, überprüfen und - potz Blitz! zu der Erkenntnis kommen, dass die Ergebnisse spitze
sind und man sogar noch viele neue braucht. Das ist in
etwa so, als sollte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Öffentlichkeit selbst im Hinblick darauf evaluieren, wie
ihre Politik ist. Sie ist natürlich nachweislich schlecht,
aber Sie werden logischerweise sagen, dass sie gut ist.
So kann man nicht seriös evaluieren. Das muss unabhängig geschehen.
({1})
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel dafür nennen, dass man schon von hier aus evaluieren kann. Wir
erinnern uns an die harten Debatten, die wir zur Befugnis der Onlinedurchsuchung im BKA-Gesetz geführt haben. Das ist nun recht interessant. Wir wollten konkret
evaluieren und haben eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Nachdem die Onlinedurchsuchung
in das BKA-Gesetz aufgenommen worden ist, wollten
wir wissen: Wie oft hat das BKA eigentlich eine Onlinedurchsuchung durchgeführt? Von der Bundesregierung haben wir die Antwort bekommen - das ist wirklich toll -:In
der Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 21. Mai 2010, also
rund ein Jahr, wurde keine einzige Onlinedurchsuchung
durchgeführt. - Keine einzige! Wenn man eine seriöse
Evaluierung durchführen würde, käme man zu folgendem Schluss: Das müssen wir streichen. Weg mit der
Onlinedurchsuchung. Man braucht sie gar nicht. Sie gefährdet die Bürgerrechte. - Das wäre die richtige
Schlussfolgerung. Davor drücken Sie sich aber. Das ist
der Grund, weswegen Sie diesen Antrag nicht wollen.
({2})
Weshalb wollen Sie diesen Antrag nicht? Diese Frage
ist in der Tat sehr interessant. Wir brauchen eine Evaluierung der beiden Pole Freiheit und Sicherheit. Sind sie
noch im Lot? Eine solche Evaluierung muss vor allem
unabhängig sein. Wir brauchen keine harten Sheriffs aus
Ihren Reihen, die die Gesetze überprüfen, sondern Bürgerrechtler, unabhängige Rechtsanwälte, Journalisten
und viele andere. Die Bürger- und Persönlichkeitsrechte
müssen ebenfalls evaluiert werden, um herauszufinden,
inwieweit sie in Mitleidenschaft gezogen worden sind
({3})
bzw. nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind;
auch das ist möglich.
Ganz sicher ist das - das haben wir jetzt mehrfach gehört; das richtet sich auch an diejenigen, die im Innenausschuss sitzen -: Wir müssen evaluieren, wie die Sicherheitslage in der Innenpolitik aussieht; denn darauf
fußt eine seriöse Gesetzgebung. Wir bekommen ständig
Terrorwarnungen. Zum Glück ist dies seltener geworden. Es war dennoch erst kürzlich der Fall. Das Problem
ist, dass man nicht überprüfen kann, wie groß die Gefahr
wirklich ist. Wie will man da sachlich über solche Gesetzesvorhaben reden? Deswegen sind Sie in der Pflicht,
endlich offenzulegen, wie die Sicherheitslage ist. Erst
dann kann man solche Gesetzesvorhaben seriös behandeln.
({4})
Natürlich werden wir diesen Antrag unterstützen. Eines will ich den Grünen aber noch mit auf den Weg geben.
({5})
Noch besser, Kollege Wieland, als Evaluierungsdebatten
zu führen, wäre es für die Grünen, solch schlechten Gesetzesvorhaben erst gar nicht zuzustimmen. Dann brauchen wir sie nämlich nicht zu evaluieren.
({6})
Die Linke stimmt so etwas niemals zu.
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3687 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung zu einem Antrag auf
Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/4680 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4680, die Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Serbien andererseits
- Drucksache 17/3963 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- Drucksache 17/4500 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Marieluise Beck ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Debatte am 8. Oktober 2010 hat sich der Deutsche
Bundestag fraktionsübergreifend für eine Weiterleitung
des serbischen EU-Beitrittsantrags an die Europäische
Kommission ausgesprochen. Damit wurde das bekräftigt, was unserer europäischen Überzeugung entspricht:
Wir wollen die Überwindung der Teilung Europas vollenden. Dazu gehört die EU-Perspektive für die Länder
des westlichen Balkan.
({0})
Das gilt natürlich auch für Serbien. Es steht außer Frage,
dass ein rechtsstaatliches und demokratisches Serbien
seinen Platz in der europäischen Familie hat.
Heute steht im Bundestag die Entscheidung über einen weiteren wesentlichen Zwischenschritt auf diesem
Weg nach Europa an. Es geht um die Ratifizierung des
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Dieses
Abkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses. Das ist ein Prozess, den die Europäische Union nach den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen hat. Dieser
Prozess bildet nach wie vor den Kompass für Stabilität
und nachhaltige Reformen in der Region, gerade weil er
eine nachhaltige Perspektive beinhaltet.
Serbien bekennt sich in dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu den europäischen Werten:
Menschenwürde, Demokratie, Schutz von Minderheiten,
Rückkehrrecht der Flüchtlinge, uneingeschränkte Zu10158
sammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof
für das ehemalige Jugoslawien und Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen. Das sind große, das sind gewichtige Worte, wenn man an die Geschichte dieser geschundenen Region Europas denkt. Das alles in die
Realität umzusetzen, wird kein Selbstläufer sein; das ist
noch ein langer Weg.
Das Abkommen bietet die Grundlage für eine schrittweise Angleichung des serbischen Rechts an den EUAcquis. Es eröffnet in vielen Bereichen eine intensive
und umfassende Zusammenarbeit zwischen Serbien und
der EU, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach erfolgreicher Umsetzung des Abkommens wird Serbien einen
erheblichen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes
der Europäischen Union übernommen haben. Das ist
eine notwendige, wenngleich noch längst nicht hinreichende Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäischen Union.
Die europäische Perspektive bleibt der wirksamste
Hebel für unumkehrbare Reformen in Serbien und der
gesamten Region. Die Europäische Union steht zu ihren
eingegangenen Verpflichtungen und erwartet umgekehrt,
dass Serbien vor einem Beitritt zur Europäischen Union
alle Kriterien für eine Mitgliedschaft uneingeschränkt
erfüllt. Meine Damen und Herren, da dürfen wir uns
nichts vormachen: Das ist noch ein längerer Weg. Wir
müssen aus der Geschichte der europäischen Erweiterungspolitik lernen und auf der Einhaltung der klar formulierten Erwartungen an einen Beitrittskandidaten bestehen.
Serbien muss unter Beweis stellen, dass es nicht nur
anspruchsvolle Reformagenden abhandeln kann, sondern auch die Werte der Europäischen Union in vollem
Umfang teilt und dafür eintritt, übrigens nicht nur zum
Zeitpunkt des Beitritts, sondern auch danach, wenn man
in das europäische Haus eingezogen ist.
({1})
Hierzu gehören auch - das ist ganz zentral - das Eintreten für Versöhnung, regionale Zusammenarbeit und gutnachbarliche Beziehungen. Hierauf werden wir und wird
die Kommission ein waches Auge richten müssen.
Um im Prozess der Versöhnung auch in Bezug auf
Kosovo weiterzukommen, erwarten wir, dass der Dialog
zwischen Belgrad und Pristina über praktische Fragen so
bald wie möglich beginnt und konstruktiv geführt wird.
Auch bei den Beziehungen zu einem anderen Nachbarstaat, nämlich Bosnien und Herzegowina, muss
Serbien deutlich zeigen, dass es die konstruktiven und
kompromissorientierten Kräfte unterstützt und sich unzweideutig für die europäische Zukunft eines ungeteilten
Bosnien und Herzegowina einsetzt.
({2})
Die Grenzen auf dem Balkan sind endgültig gezogen.
Der Internationale Gerichtshof hat im letzten Jahr bestätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo
nicht gegen Völkerrecht verstoßen hat. Auch Kosovo hat
eine europäische Perspektive. Diese müssen wir ebenfalls voranbringen, soll das Land kein Hort der Instabilität in Europa werden. Ich sage klar: Wir erwarten von
Serbien, dass es diese Perspektive, so schwierig sie sein
mag, nicht blockiert.
({3})
Offene bilaterale Fragen dürfen nicht erneut in die Europäische Union importiert werden, will die Europäische
Union ihre Handlungsfähigkeit bewahren. Auch hier haben wir aus den Erfahrungen gelernt.
Serbien hat den richtigen Weg eingeschlagen. Nicht
zuletzt in New York im letzten Herbst ist es mit großem
persönlichen Engagement auch von europäischen Außenministern wie William Hague, Guido Westerwelle
und Cathy Ashton gelungen, eine gemeinsame Resolution auf den Weg zu bringen, die nicht neue Gräben aufreißt.
Auch die jüngsten Gesten zwischen dem serbischen
und dem kroatischen Staatspräsidenten stimmen hoffnungsfroh. Der Besuch von Präsident Tadic in Vukovar,
die Resolution des serbischen Parlaments zu Srebrenica
und das serbische Bekenntnis zur territorialen Integrität
Bosniens zeigen, dass der Weg zur Versöhnung begangen
werden kann. Serbien - allen voran Präsident Tadic - hat
den Mut bewiesen, diese Schritte zu gehen. Dass das innenpolitisch nicht leicht war, ist uns allen bewusst. Nun
müssen weitere mutige Schritte folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Ratifizierung des vorliegenden Abkommens, die wir
gleich vornehmen, kommt Serbien einen Schritt näher an
die EU heran. Ich denke, das ist für Serbien gerade in der
augenblicklichen Situation ein ganz wichtiges Zeichen
der Ermutigung. Die Situation in Serbien ist ja nun weiß
Gott nicht goldig. Serbien wurde sehr stark von der Wirtschaftskrise getroffen. Die Arbeitslosigkeit beträgt
26,7 Prozent, die Löhne sinken, und der IMF verlangt
sogar noch weitere schmerzliche Reformen, auch und
besonders in Form von Einsparungen im öffentlichen
Dienst, was wiederum sinkende Löhne mit sich bringt.
Die Ärzte und das Klinikpersonal streiken, sie gehen auf
die Straße und drohen mit weiterem Ausstand, weil ihr
Verdienst nicht ausreicht, um einen anständigen Lebensunterhalt zu sichern. Es ist ja verständlich, dass man
sich, wenn sich die Zukunftsperspektiven verschlechtern, große Sorgen macht. Darum ist es wichtig, jetzt zu
schauen, wie eine positive Stimmung entstehen kann.
Dass es dazu kommt, ist, wie ich glaube, dringend notwendig.
Gerade in den letzten Tagen sind, wie wir aus einigen
Informationsquellen entnehmen konnten, 70 000 Nationalisten unter Führung von Tomislav Nikolic auf die
Straße gegangen und haben Neuwahlen verlangt. Sie
fordern: „Change!“, und werfen der Regierung Unfähigkeit und Korruption vor. Nun wissen wir, dass Korruption in Serbien in der Tat ein Problem ist. Wir hatten
heute ein Gespräch mit dem serbischen Botschafter, der
gesagt hat: Korruption ist eines unserer größten Probleme, aber Präsident Tadic nimmt es sehr ernst. Es gibt
eine Antikorruptionsbehörde, die aber zu wenig Befugnisse und zu wenig Instrumente hat. Der Präsident selbst
hat allerdings den Arzt seiner Kinder, nachdem er gemerkt hat, dass dieser korrupt ist und Bestechungsgeld
nimmt - weil er zu wenig verdient, aber auch leben
möchte -, vor Gericht gebracht. - Man ist also davon
überzeugt, dass es nötig ist, diese Korruption zu bekämpfen, und bemüht sich glaubhaft darum.
Ich denke, es ist in diesem Fall nicht angebracht, immerfort nur auf Tunesien und Ägypten zu verweisen, wie
es Herr Nikolic gemacht hat. Er bedient sich bei seiner
Forderung nach Neuwahlen des Vorwurfs, dass trotz
proeuropäischer Einstellung der Regierung die Anbindung an die EU nur schleppend vorangehe. Auch unter
diesem Gesichtspunkt wäre es jetzt an der Zeit, die proeuropäischen Maßnahmen durch einen entsprechenden
Schritt zu honorieren.
Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission
werden die Fortschritte Serbiens auf dem Weg zur EU
hervorgehoben. Laut der Schlussfolgerungen des Rates
vom 25. Oktober 2010 hat die Kommission mit den Vorbereitungen einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag
Serbiens begonnen, die 2011 veröffentlicht werden soll.
Der Botschafter hat heute sehr deutlich signalisiert, dass
man nicht nur hofft, dass die Stellungnahme positiv ausfällt, sondern auch, dass ein Termin für die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen genannt wird. Ich denke,
dies wäre eine sehr große Ermutigung in einer doch
schwierigen Lage, die sich wohl nicht so schnell bessert.
Trotz der Bescheinigung, dass Serbien Fortschritte
bei der Erfüllung der politischen Kriterien gemacht hat,
bleibt in wichtigen Feldern natürlich noch viel zu tun.
Ich habe die Bekämpfung von Korruption schon erwähnt. Weiterhin ist eine Justizreform umzusetzen; eine
Reform der öffentlichen Verwaltung ist auf den Weg zu
bringen; es muss die organisierte Kriminalität bekämpft
werden usw. Die serbische Regierung hat aber schon einen entsprechenden Aktionsplan beschlossen und diesen
auch in Brüssel vorgelegt. Dieser ist sehr umfangreich
und geht auf alle Erfordernisse ein. So kann man in der
Tat sagen: Es gibt ein ernsthaftes, aufrichtiges Bestreben
dieser Regierung. Nikolic dagegen, der bei Wahlen immer noch gute Ergebnisse erzielt, allerdings keine Koalitionspartner findet, versucht, diese schwierige Situation
als Hebel zu benutzen, um die Regierung zu stürzen. Für
die Serben kann der Weg nicht sein, in eine wirklich unübersichtliche Situation zu kommen.
Was noch aussteht, ist die sichtbare Zusammenarbeit
mit dem Strafgerichtshof; das wurde schon erwähnt.
Noch immer sind Ratko Mladic und Goran Hadzic auf
freiem Fuß. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn
man endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheidet.
Aber das wissen die Serben selbst, und es bleibt die
Hoffnung.
Die Hoffnung, dass die Probleme überwunden werden, bleibt auch in einem anderen schwierigen Punkt,
nämlich in der Frage des Kosovo, der Gerichtsentscheidung und der Akzeptanz der Resolution, die nach etwas
schwierigem Ringen gelungen ist. Das, was vereinbart
wurde, kommt jetzt auf den Weg. Ich hoffe, dass die Gespräche mit dem Kosovo bald beginnen werden. Es gab
jedenfalls Meldungen, dass sich die Gruppe jetzt formiert hat.
Herr Füle hat mit Recht Folgendes gesagt, als die EUKommission den Bericht angenommen hat:
Serbien hat seinen Platz in der EU. Die Tür ist offen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. …
Wir messen Serbien eine zentrale Rolle für den
Aussöhnungsprozess und eine positive regionale
Zusammenarbeit im Westlichen Balkan bei.
Aber sie werden das nicht ganz alleine schaffen können. Ich finde, wir müssen auch einen Blick auf die Europäische Union werfen, die verschlungen ist in Diskussionen über den Euro, über die Finanzkrise und über ihre
Orientierung und die vergessen hat, dass die Europäische Union insgesamt ein Projekt des Friedens, ein Projekt der Stabilität und ein Projekt der Reformen zur Demokratisierung, zur Kooperation, zur Aussöhnung ist.
Wir haben das den Westbalkanländern 2003 in Thessaloniki angeboten und haben es immer wieder bestätigt.
Aber es ist doch kontraproduktiv, wenn dann die CDU in
ihr Programm schreibt: Kroatien wird selbstverständlich
noch aufgenommen, aber dann ist Schluss. - Das kann
nicht sein. Damit ermutigen wir niemanden. Damit ermutigen wir Serbien nicht. Damit ermutigen wir aber
auch andere Länder nicht, die im Moment in ihrem Inneren jede Menge Schwierigkeiten haben, diese Perspektive als Anreiz für die Entwicklung weiterer Reformen
und zum weiteren Fortschreiten in Demokratisierungsprozessen zu nehmen.
Wir haben schwere Probleme in Mazedonien, nicht
nur weil die Griechen im Namensstreit stur sind, sondern
weil auch die Mazedonier stur sind und eher auf nationalistische Töne ausweichen, als sich im Reformprozess
tatsächlich einmal weiterzubewegen.
Auch Montenegro, das von der Europäischen Kommission eine gute Beurteilung bekommen hat, ist meiner
Ansicht nach schwer reformbedürftig, was zum Beispiel
die Behandlung der Presse, die Frage der Korruption und
die Frage der organisierten Kriminalität, die bis in die
obersten Etagen der politischen Elite reicht, betrifft.
Wir haben sehr viel zu tun. Aber wenn wir diesen
Entmutigungsprozess gerade in den eigenen Reihen, in
der Europäischen Union nicht aufhalten, dann haben wir
vergessen, wozu die Europäische Union eigentlich gegründet worden ist und welche positiven Effekte es für
uns und auch für andere gegeben hat und dass es Zeit ist,
dass sich die Europäische Union wieder auf ihre Glaub10160
würdigkeit besinnt, um das Friedensprojekt wirklich stabil weiterzuführen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sieben
Wochen haben wir in erster Lesung unsere Reden zu
Protokoll gegeben. Ich halte es für eine gute Sache - es
ist an der Zeit -, dass wir heute über den Tagesordnungspunkt debattieren.
Die Beziehungen zu Serbien, einem Schlüsselstaat
des Balkans, sind von herausgehobener Bedeutung. Die
gemeinsame deutsch-serbische Vergangenheit war nicht
immer einfach. Insbesondere im kulturellen Bereich aber
sind die Beziehungen mit einer langen Tradition versehen. Beispielsweise haben im vergangenen Herbst in
Belgrad die Deutschen Tage stattgefunden. Im Rahmen
der Deutschen Tage wurden rund 90 Veranstaltungen aus
den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Jugend angeboten. Im nächsten Monat, im März, ist Serbien sogar
Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse. Mehr und
mehr Literatur und Buchtitel werden aus dem Serbischen
übersetzt; das sorgt hierzulande für einen steigenden Bekanntheitsgrad. Es tut sich also etwas.
Meine Damen und Herren, es muss sich auch etwas
tun; denn die Situation in Serbien ist, wie Frau Kollegin
Zapf so treffend formuliert hat, „weiß Gott nicht goldig“.
Die Finanznot ist groß; die Regierung muss tagtäglich
einen Balanceakt am Rande eines Staatsbankrotts hinbekommen. Viele Menschen in Serbien leben an der
Grenze zum Existenzminimum. Circa 1 Million Menschen hat keine Arbeit bzw. kann von der Arbeit, die sie
ausüben, nicht in Würde leben.
Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis auch der
geduldige Bürger auf die Straße gegangen ist. So geschah es am vergangenen Samstag: Zehntausende Demonstranten sind durch Belgrads Innenstadt gezogen. Es
war die größte Oppositionskundgebung seit vielen Jahren, ein lautstarker Protest gegen Arbeitslosigkeit und
soziale Missstände im Lande. Die Demonstranten zogen
sodann vor das Parlamentsgebäude, übten dort heftige
Kritik an der eigentlich proeuropäischen Regierung und
verlangten Neuwahlen.
Es ist bemerkenswert, dass bei alldem keine Kritik am
Kurs der Annäherung Serbiens an die EU zu vernehmen
war. Das belegen auch die Umfragen in Serbien: Über
50 Prozent der Bevölkerung unterstützen den angepeilten Beitrittsprozess. Dabei ist es insbesondere erfreulich,
dass gerade die junge Generation im Prozess der Annäherung an die EU eine Chance für die Zukunft sieht.
An allem, was man beobachten kann, erkennt man,
dass die serbische Regierung mit Hochdruck an der Umsetzung des EU-Fahrplans für ihr Land arbeitet. Erst vor
wenigen Tagen - auch meine Vorredner wiesen darauf
hin - hat das Land die Antworten auf die Fragen des umfangreichen Fragebogens zur Beitrittsbereitschaft des
Landes an die Europäische Kommission übersandt. So
werden Vertreter der Kommission, ebenso Parlamentarier aus unseren Reihen in den nächsten Wochen nach
Serbien reisen und sich vor Ort informieren. Die Stellungnahme der Kommission wird für den Herbst dieses
Jahres erwartet.
Dabei ist schon jetzt klar: Der Weg Serbiens in die EU
ist noch lang. Der Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission hat die Palette der Problemfelder klar benannt: Korruption, organisierte Kriminalität, mangelnde
Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen,
ausstehende Klärung von Eigentumsrechten, ungeklärter
Status von Flüchtlingen, unzureichende Bekämpfung des
Schwarzmarktes. Das ist nur eine Auswahl. Ich benenne
ausdrücklich zwei weitere Punkte.
Erstens. Die uneingeschränkte Kooperation Serbiens
mit dem Internationalen Strafgerichtshof ist einzufordern. Serbien arbeitet wahrnehmbar an der historischen
Aufarbeitung der Rolle, die das Land beim Auseinanderfallen des jugoslawischen Staates gespielt hat. Präsident
Boris Tadic hat Ende letzten Jahres nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar, zusammen mit seinem
kroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic. Das ist ein starkes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr für
die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern
steht. Auch in Srebrenica hat Tadic Verantwortung übernommen. All das wird auch auf internationalem Parkett
sehr wohl registriert. Dennoch müssen wir auch mit
Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof endlich
konkrete Schritte einfordern, die sodann folgen müssen.
Zweitens. Ich nenne die Regelung der Beziehungen
zum Kosovo. Der ungelöste Konflikt ist auch für Serbien
eine Belastung. Schwierige bilaterale Fragen sind zu lösen: die Frage des Wirtschaftsverkehrs, aber auch die
Frage der Klöster. Diese Fragen, so schwierig sie auch
immer sein mögen, müssen gelöst werden. Sie können
aber nur dann gelöst werden, wenn das gegenseitige Vertrauen zwischen Serbien und Kosovo erheblich wächst.
Meines Wissens sind direkte Gespräche zwischen Belgrad und Pristina in der konkreten Planung. Jedenfalls
hat die serbische Regierung mit Borislaw Stefanovic erst
kürzlich ihren Delegationsleiter benannt. All dies lässt
hoffen. Aber auch Serbien muss wissen, dass es eine Lösung ohne Zugeständnisse, ja, auch ohne schmerzhafte
Zugeständnisse nicht geben kann. Serbien wartet auf
eine konkrete zeitliche Perspektive für den EU-Beitrittsprozess. Das ist legitim. So weit ist Serbien im Moment
aber noch nicht. Die skizzierten Probleme, die ich ansprach, müssen vor einem Beitritt geklärt und gelöst
werden. Das ist schon allein deshalb nötig, um die für
eine neuerliche EU-Erweiterung wichtige Akzeptanz der
Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sichern.
Die Vorgeschichte und der Beitrittszeitpunkt Bulgariens und Rumäniens können bei all dem jedenfalls nicht
als Vorbild dienen. Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei
strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien.
Das ist Voraussetzung. Es muss das Motto gelten: Wer
beitritt, muss beitragen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In der ersten Beratung am
16. Dezember 2010 haben alle Fraktionen bis auf die
Linke das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen
mit Serbien als wichtigen Schritt und große Chance für
Serbien bezeichnet.
({0})
Ein wichtiger Schritt wohin, Herr Stinner, und eine
große Chance für wen?
Die Linke sagt Ihnen, was für ein Schritt das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen ist. Es bedeutet
schlicht eine Unterstützung von Liberalisierung, Deregulierung und auch Privatisierung. Das Abkommen ist
Ausdruck einer Politik, die die Europäische Union und
zahlreiche ihrer Mitgliedstaaten in eine schwere Krise
geführt hat. Die Lage für die serbische Bevölkerung ist
bereits jetzt desaströs. Infolge eines noch schärferen Liberalisierungskurses werden sich die Massenarmut und
die Massenarbeitslosigkeit in Serbien aber noch weiter
vergrößern.
({1})
Die Linke fordert deshalb eine Abkehr von diesem
Crashkurs. Was sich in der EU als falsch erwiesen hat,
können wir nicht ernsthaft exportieren wollen.
({2})
Das Abkommen sei eine Chance für Serbien, heißt es
bei Ihnen. Eine Chance für wen? Die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Serbien können damit jedenfalls
nicht gemeint sein. Ihre Lage ist schon jetzt katastrophal.
Das gilt insbesondere für diejenigen, die in deutschen
Unternehmen beschäftigt sind, zum Beispiel für die Mitarbeiter des deutschen Unternehmens Dräxlmaier in der
Vojvodina. Sie beklagen in dem Betrieb, der Kabel unter
anderem für Audi, Mercedes-Benz, BMW und VW herstellt, schlimmste Arbeitsbedingungen. Die Unternehmensleitung geht mit üblen Methoden gegen die gewerkschaftlich aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor.
So wurde zum Beispiel eine sogenannte gelbe Gewerkschaft installiert, um den gewerkschaftlichen Kampf der
Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen zu behindern. In einem Schreiben wandte sich der zweitgrößte
Gewerkschaftsdachverband Serbiens - SLOGA - an die
deutschen Kollegen von IG Metall und BMW. Sie forderten Solidarität gegen - ich zitiere - „Willkür, Überheblichkeit, Arroganz und Verstoß gegen Gesetze“ ein.
Ich frage mich: Warum unternimmt die Bundesregierung
nichts dagegen?
({3})
Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn deutsche
Unternehmen die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und gewerkschaftliche Rechte mit Füßen
treten, auch nicht, wenn das in Serbien der Fall ist. Deshalb steht die Linke auch an der Seite der Beschäftigten
in Serbien.
({4})
Derzeit wird Druck von IWF, EU und Deutschland
gemacht für ein Gesetz zur Privatisierung kommunaler
Betriebe in Serbien. Dieser Druck soll jetzt noch weiter
erhöht werden. Meine Damen und Herren, das ist eine
falsche Politik.
Bereits bis zum 31. März 2011 soll die serbische Telekom an einen ausländischen Investor verkauft werden.
Die Deutsche Telekom AG nimmt an diesem Privatisierungsverfahren teil und wird als möglicher Käufer gehandelt.
({5})
- Sie sagen „bravo“. Das zeigt, was Sie für einen volkswirtschaftlichen Sachverstand haben.
({6})
Die serbische Telekom ist das erfolgreichste Unternehmen in Serbien und erwirtschaftet jedes Jahr Gewinne. 2009 waren es 197 Millionen Euro. Für wen ist
das also eine Chance? Das ist mit Sicherheit keine
Chance für diejenigen, die infolge dieser Privatisierungen ihren Job verlieren werden und schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen sollen.
Deshalb denken wir, dass das, was schon bisher geschehen ist, eine falsche Politik ist. Dieses Abkommen,
das mehr Privatisierung, mehr Deregulierung und mehr
Liberalisierung beinhaltet, ist eine Fortsetzung dieser
falschen Politik. Deshalb fordern wir eine Umkehr.
({7})
In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel,
dass Druck auf Serbien hinsichtlich der Statusfrage des
Kosovo ausgeübt werden soll. Das zeigt, wes Geistes
Kind die Bundesregierung ist. Sie hat sich zum Führer
der sogenannten Kosovo-Regierung, Hashim Thaci, bisher nicht klar geäußert. Thaci wird in einem Bericht des
Sevim Daðdelen
Europarats schwerster Kriegsverbrechen und krimineller
Machenschaften beschuldigt. Warum ignoriert die Bundesregierung diesen Bericht, der von einem Schweizer
Liberalen, von Dick Marty, stammt, der auch schon den
Bericht zu den CIA-Folterflügen angefertigt hat? Wir
können den Grund nur vermuten.
({8})
Man steht in Nibelungentreue zu diesem Mann, der einem auch während des NATO-Angriffskrieges gegen
Jugoslawien gute Dienste geleistet hat.
Frau Beck, auch von Ihnen höre ich nichts. In Ihrer
Haltung zu Thaci zeigt sich, dass sowohl die schwarzgelbe Koalition als auch Rot-Grün weiter nicht bereit
sind, über die Leichen im Keller der deutschen Außenpolitik zu sprechen.
({9})
Die Linke ist der Meinung, dass das inakzeptabel ist.
Es ist Zeit für eine demokratische, friedliche und auch
soziale Außenpolitik. Das ist möglich, meine Damen
und Herren, auch wenn es der Umkehr sowohl der Bundesregierung als auch der SPD und insbesondere der
Grünen bedarf.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich abschließend meine Freude über die Meldung ausdrücken,
dass der Rücktritt von Mubarak heute anstehen wird. Ich
hoffe, das wird so geschehen. Meine Damen und Herren,
Mubarak ist ein Mann, den Sie jahrzehntelang unterstützt haben. Ich denke, eine andere Außenpolitik ist
mehr als nötig.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien kurz
festhalten: Die Linke ist der Meinung, dass sie es besser
weiß als weite Teile der serbischen Bevölkerung; die serbische Bevölkerung sei im Irrtum, wenn sie in die Europäische Union möchte.
({0})
Sie sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Dass Sie sich
damit immer an der Seite von nationalistischen Kräften
befinden, ist allerdings ein Problem Ihrer Politik.
({1})
Wir Grünen unterstützen die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziationsabkommens für Serbien.
({2})
Allerdings sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass
Serbien in der Tat noch einen sehr langen Weg vor sich
hat und sich zudem in einer sehr schwierigen innenpolitischen Lage befindet.
Die serbische Regierung tut sehr viel zu Respektierendes. Sie bekennt sich zur EU-Perspektive. Sie bekennt sich zu einer konstruktiven Rolle in der Region.
Da ich sowohl 2005 als auch 2010, als Präsident Tadic in
Potocari an der Gedenkstätte am 11. Juli aufgetreten ist,
dabei war, kann ich sagen, dass das ein sehr bewegender
Moment war und dass das für die Menschen und die Opfer von Srebrenica überaus wichtig war.
Es gibt aber eine Spaltung in der serbischen Gesellschaft. Insofern ist Präsident Tadic immer auch geneigt,
Konzessionen zu machen, die hochproblematisch sind.
Dazu gehört die schwer nachvollziehbare Entscheidung,
mit Präsident Dodik gemeinsam Wahlkampf zu machen
und sich gemeinsam mit Biljana Plavsic abbilden zu lassen, die die rechte Hand von Radovan Karadzic gewesen
ist.
Auch in der Kosovo-Frage ist die serbische Politik
nicht eindeutig. Offensichtlich ist der Amputationsschmerz immer noch sehr groß. Viele serbische Menschen sagen, dass es immer noch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte geht und um das
Verständnis, dass nicht Serbien das Kosovo verspielt hat,
sondern dass es Milosevic war, der aggressiv gegen den
kosovo-albanischen Teil der Bevölkerung aufgetreten ist
und ihnen die Autonomie genommen hat. Dramatische
Menschenrechtsverletzungen und eine Apartheidspolitik - all das hat dazu geführt, dass sich das Kosovo letztlich nicht mehr unter das Dach eines gemeinsamen Staates drängen lassen wollte.
({3})
Die ökonomische Situation in Serbien ist unter anderem deswegen so schwer, weil das Milosevic-Erbe auch
in ökonomischer Hinsicht noch nicht überwunden ist. Es
gibt nach wie vor seine Tycoons, die in der serbischen
Wirtschaft deutlich mitmischen. Sie sind es übrigens, die
die Wettbewerber aus dem Ausland abwehren, verehrte
Frau Kollegin. Diese Tycoons spielen nach wie vor eine
zu große Rolle.
({4})
Marieluise Beck ({5})
Dass die Korruption in Serbien - wie in vielen anderen
Ländern des Balkans leider auch - geradezu endemisch
ist, hat Präsident Tadic vor kurzem im Europarat selber
sehr deutlich betont. Dass der Populist Nikolic das nun
für sich zu nutzen weiß, muss uns sehr sorgenvoll machen. Denn er ist, auch wenn er das jetzt behauptet, nicht
proeuropäisch. Dass er so deutlich sagt, die Telekom
dürfe nicht verkauft werden, weil dann die Österreicher
kommen würden, legt den antieuropäischen Geist offen.
Er ist und bleibt ein Nationalist.
({6})
Wie gesagt, er findet sich logischerweise auf der Seite
Ihrer Argumentation wieder.
Noch ein Punkt, was die Frage der Konditionierung
der Beitrittsperspektive anlangt. Wir sollten nicht darauf
hoffen, dass es eine biologische Lösung für General
Mladic und für Hadzic gibt.
({7})
Wir haben sehr deutlich gesagt, dass Serbien hier eine
Bringschuld hat. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass
diese beiden Verbrecher in diesem vergleichsweise kleinen Land angeblich nicht zu finden sind. Dass wir immer wieder Angst vor unseren eigenen Konditionen
bekommen und, wenn es ernst wird, unter ihnen wegtauchen, halte ich für heikel.
({8})
Darüber müssen wir wirklich noch einmal sprechen. Es
geht auch um einen aufrechten Gang für unsere Werte.
({9})
Entweder man setzt Konditionen oder keine; aber dieses
verschwiemelte Wegtauchen ist kein guter Ausweis für
unsere EU-Politik.
Schönen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Roderich Kiesewetter von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte
ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass der Botschafter der Republik Serbien heute der Debatte beiwohnt. Ich denke, das zeigt, mit welch hohem Interesse
die Republik Serbien die heutige Debatte bei uns im
Bundestag verfolgt.
({0})
Zweitens möchte ich auf den jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andric verweisen. Er hat vor
über 50 Jahren geschrieben:
Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt
es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.
Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess ist
eine solche Brücke. Nach dem, was vor 20 Jahren auf
dem Balkan passiert ist, reichen wir damit der Republik
Serbien die Hand. Das ist ein wunderbares Zeichen der
beginnenden Aussöhnung.
Wir helfen, diese Brücke zu bauen, aber wir sagen:
Wer beitritt, muss auch beitragen. Wir fordern deshalb
die Erfüllung aller Beitrittskriterien: Rechtsstaatlichkeit,
Kriminalitätsbekämpfung, funktionierendes Justizwesen und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen
Strafgerichtshof. Aufgrund der Erfahrungen früherer
Beitrittsverhandlungen sagen wir, dass das vor dem Beitritt geschehen muss. Wir machen das vor Ort deutlich.
Erst vor kurzem war eine Delegation der Arbeitsgruppe
Europa dort; Michael Stübgen hat das angesprochen.
Heute entscheiden wir darüber, ob Deutschland dieser
vertraglichen Bindung zwischen Serbien und der EU
zustimmt. Ganz nebenbei: In unserem Land leben
700 000 Menschen aus Serbien; über die Hälfte davon
hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.
Die Umfragen, die der Kollege Beyer vorhin angesprochen hat, beinhalten einen weiteren Aspekt: Über
70 Prozent der jungen Generation in Serbien wünschen
den EU-Beitritt. Ich glaube, auch das ist ein wichtiges
Zeichen. Lassen Sie uns doch die Demonstrationen, die
letzte Woche Samstag in Belgrad stattfanden, auch als
Zeichen des Reformwillens und der erstarkenden Demokratiebewegung sehen. Es sind notwendige Reformen.
Ich glaube, seit der Debatte am 8. Oktober letzten Jahres
haben auch wir etliche Fortschritte zu verzeichnen. Ich
möchte einige nennen.
Erstens gibt es den Aktionsplan, mit dessen Umsetzung die Republik Serbien im Dezember letzten Jahres
begonnen hat.
Zweitens liegt der Bericht der staatlichen Antikorruptionsbehörde vom letzten Monat vor. Diese Behörde, die
unabhängig ist, prangert systematische Korruption in
Serbien an. Die Regierung hat zum Beispiel die Gehälter
der Richter erhöht, damit sie unabhängig werden, und
festgestellt, dass Bildung, Gesundheitswesen, Polizei
und auch das Gerichtswesen intensiver Arbeit und Nachsorge bedürfen; das hat auch Präsident Tadic erkannt. Es
ist gut, dass das offen angesprochen werden kann.
Ein dritter Punkt ist - auch als Folge der Stellungnahme von Herrn Brammertz -, dass Präsident Tadic im
Januar dieses Jahres vor dem Europarat noch einmal die
Zusage gegeben hat, mit dem Internationalen Strafgerichtshof intensiver zusammenzuarbeiten. Ich glaube,
das ist das klare politische Signal, das der UN-Chefankläger gefordert hat.
Noch ein weiterer Punkt lässt hoffen: Die Republik
Serbien hat der Europäischen Kommission innerhalb
kürzester Zeit, nämlich von November letzten Jahres bis
Ende Januar dieses Jahres, 2 480 Fragen beantwortet.
Die ersten Signale aus Brüssel sind erfreulich.
Ich möchte auf zwei weitere Aspekte eingehen, die in
dieser Debatte bisher nicht erwähnt worden sind. Die
Mittel, die die Republik Serbien als Instrument für die
Heranführungshilfe von der EU erhält, umfassen etwa
200 Millionen Euro. Von 2007 bis zum Jahr 2012 sind
das rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU diesen
Prozess unterstützt. In diesem Jahr sind es 190 Millionen
Euro.
Als potenzieller Kandidat, also jetzt, kann Serbien
diese Mittel nur für den Aufbau der Verwaltung und für
die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzen;
dass sie wichtig ist, wurde bereits vorhin eindrucksvoll
dargelegt. Aber entscheidend ist: Wenn Serbien einen
Kandidatenstatus hat, dann sind die Mittel umfassender
einsetzbar. Es gibt zwar nicht mehr Mittel, aber sie können wesentlich flexibler eingesetzt werden: für regionale
Entwicklung, für Umweltschutz und, wie auch die Demonstrationen gezeigt haben, für sozialen Zusammenhalt. Dann können die Gelder auch gezielt in Gesellschaft und Wirtschaft eingesetzt werden.
Natürlich brauchen wir eine konstruktive Nachbarschaftspolitik; Staatsminister Hoyer hat es angesprochen. Ich finde es schade, Frau Dağdelen, dass Sie sich
die Erklärung des Staatsministers nicht angehört haben,
sondern erst zu Ihrer Rede gekommen sind.
({1})
Für uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat
Sorgfalt bei der Umsetzung der Reformen und bei der
Erfüllung der EU-Kriterien oberste Priorität. Unsere Absicht ist, dass wir weiter auf die Umsetzung der Reformen drängen, insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Investitionssicherheit.
Ich möchte an dieser Stelle auch einen Appell an die
EU-Staaten, die das Abkommen noch nicht ratifiziert haben, richten - es gibt noch 15 Länder, die es nicht ratifiziert haben, wenn wir heute zustimmen -: Stimmen Sie
zu! Erleichtern Sie Serbien den Weg in die Europäische
Union! Wir in Deutschland jedenfalls werden den Prozess mit Augenmerk und Aufmerksamkeit begleiten und
für die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen stimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien ande-
rerseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4500, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3963
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({0}), Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck
({1}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, son-
dern fördern - Bestätigungserklärung im Bun-
desprogramm „TOLERANZ FÖRDERN -
KOMPETENZ STÄRKEN“ streichen
- Drucksache 17/4551 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen - Keine Verdachtskultur in
die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen
- Drucksache 17/4664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Wolfgang Thierse von der SPDFraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2002
fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige,
bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicher
Initiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten und
Gemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultur
einsetzen.
Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allem
von einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken des
Vertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesellschaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass
sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungsstrategien den demokratischen Gemeinsinn am ehesten
aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten
können.
Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinandersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Engagements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es geradezu absurd, dass das Bundesfamilienministerium den
Leitgedanken der bisherigen Programme - ich wiederhole: Vertrauen in das demokratische Engagement der
Bürger - nun ins Gegenteil verkehrt.
({0})
Das Familienministerium verlangt von den Antragstellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung bekennen
({1})
und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch
für eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen also
für die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechende
Erklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung.
Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitisch
fatal. Es ist kontraproduktiv.
({2})
Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht
hier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Verwaltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedruckte
in Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen.
Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragen
der Demokratie.
({3})
Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlangen? Darf er ihnen ein Bekenntnis - und sei es ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respekt
vor dem Bürger voraussetzen?
({4})
Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung
unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ihrer Mitbürger zu überprüfen?
({5})
Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes
des Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen folgende Antworten - ich referiere den Befund -:
Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlich
garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei
der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Bekenntnis zwinge.
Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur
Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu verpflichten.
({6})
Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektive
Werteordnung des Grundgesetzes gebunden.
({7})
So der Befund.
({8})
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht
darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv
und blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sich
auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstützung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist
legitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzipielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums
gegenüber potenziell allen Bürgern können und wollen
sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen.
({9})
Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehen
des Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hier
wurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Fördermittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt.
({10})
Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großen
Bauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne und
wolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beiden
NPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen.
({11})
So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom
12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich bei
dieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin und
ihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn es
sie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen,
ja, mittragen.
({12})
Die Reaktionen sind - nicht nur bei den Betroffenen sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nur
ein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundespressekonferenz - ich zitiere -:
Die Extremismusklausel der Bundesregierung ist
ein Symbol für den Überprüfungswahn, die Bürokratisierung und schließlich das Misstrauen dieser
Regierung und damit von Teilen der konservativliberalen Politik in die eigenen Bürger.
({13})
Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grundgesetz und verliert dabei das Wesentliche aus dem
Blick.
({14})
Die Tatsache, dass so viele Menschen in unserem
Lande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechtsextremisten engagieren, ist das deutlichste und
emotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zur
freiheitlich-demokratischen Grundordnung, was es
überhaupt nur geben kann.
({15})
Kramer sagte weiter:
Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis genug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bürgergesellschaft und Demokratie ausmacht.
({16})
Herr Kramer hat vollständig recht.
Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik an
dem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblick
auf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engagement für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeinde
verdächtigt sehen.
Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde diese
Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen?
({17})
Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen.
Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokratische Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen
Staates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern
nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Initiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die
demokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragen
will, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugt
ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht
gestärkt, sondern gebremst werden.
({18})
Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade junge
Menschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren,
und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellen.
({19})
Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Engagement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunterung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung,
bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss.
({20})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die aktuelle Diskussion, weil dadurch Gelegenheit gegeben wird,
einiges klarzustellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es
geht nicht um Ächtung, es geht um Förderung. Diejenigen, die sich teilweise seit Jahren in Beratungsnetzwerken gegen Extremismus jeglicher Art, von rechts, aber
auch von links, engagieren und die da, wo es nicht erwartet wird, Zivilcourage zeigen, haben - auch das sage
ich ausdrücklich - Dank und Anerkennung verdient. Das
ist auch die Meinung des Ministeriums.
({0})
- Warten Sie einmal ab.
Es ist auch völlig klar, dass der Staat, wenn er Programme gegen Extremismus auflegt, darauf achtet, dass
nicht gerade diejenigen gefördert werden, die selbst in
extremistischen Kategorien denken und danach handeln.
({1})
Das ist der entscheidende Punkt.
({2})
Deswegen ist das auch kein ungewöhnliches und unseriöses Anliegen.
({3})
Ich meine: Wenn der demokratische Staat so etwas
macht, dann ist das eine Selbstverständlichkeit.
({4})
Wir sorgen dafür, dass jemand aktiv bestätigen muss,
dass er und seine Projektpartner auf dem Boden des
Grundgesetzes stehen, und zwar nicht nur bei Projekten
gegen Rechtsextremismus, sondern auch bei Projekten
gegen Linksextremismus.
Jetzt sage ich etwas zur Entstehungsgeschichte der
Demokratieerklärung.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bockhahn?
Im Moment nicht. Er kann sie gleich oder später stellen. - Im Jahr 2004 ist vom damals sozialdemokratisch
geführten Bundesinnenministerium - der Minister hieß
Otto Schily - diese Initiative ausgegangen. Es wurde gesagt, dass niemand materielle oder immaterielle Leistungen erhalten könne, der sich nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekenne, und dass jeder
Anschein einer Tolerierung extremistischer Auffassungen, zum Beispiel durch offizielle Einbindung extremistischer Positionen oder Institutionen in Veranstaltungen,
vermieden werden müsse. So weit das von Otto Schily
geführte Ministerium.
({0})
Seit 2005 ist das in den Bescheiden enthalten. Daran
knüpft die Demokratieerklärung an.
Es gibt einen einzigen Unterschied, nämlich dass die
Erklärung jetzt ausdrücklich unterzeichnet werden muss,
statt sie nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Zuwendungsbescheid empfängt. Ich wiederhole: Man muss
sie ausdrücklich unterzeichnen.
({1})
Es gibt verschiedene Untersuchungen. Herr Thierse
hat eben eine Expertise erläutert. Sie wissen, wer sie erstellt hat. Wenn Sie sie genau lesen, dann wird deutlich,
dass eine Demokratieerklärung eine Möglichkeit neben
anderen ist. Sie ist nicht zwingend vorgeschrieben. Meinetwegen kann man darüber streiten.
({2})
Ich will Ihnen etwas berichten, damit Sie ein Gefühl
für das Maß bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern
gibt es seit dem 20. Juli 2010, also seit gut einem halben
Jahr, im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kindertageseinrichtungen einen Erlass des Ministeriums für Soziales und Gesundheit - die Ministerin ist uns allen bekannt -, nach dem nur diejenigen eine Betriebserlaubnis
erhalten, die eine gesonderte Selbsterklärung unterschreiben.
({3})
Jeder Träger muss dort ausdrücklich versichern, dass er in
keiner Weise Bestrebungen unterstützt, deren Ziele gegen
die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder gegen
eines ihrer grundlegenden Prinzipien gerichtet sind.
({4})
Wenn ein Träger diese Unterschrift verweigert, dann
besteht laut Erlass „begründet Zweifel, ob der Träger die
Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet“, wie es in dem Erlass weiter heißt.
Deutlicher geht es nicht. In dem Erlass wird unter anderem festgestellt, wann die Betriebserlaubnis zu versagen
ist.
Das hatte in Mecklenburg-Vorpommern den Hintergrund - darauf will ich ausdrücklich hinweisen, Herr
Thierse -, dass dort NPD-Kreise versucht haben, sich
unter interessanten Namen in die Trägerschaft von Kindertageseinrichtungen einzuschleichen. Genau das wollen wir mit unserem Programm gegen Extremismus verhindern.
({5})
- Sie kennen den Zusammenhang genau.
({6})
Sie wissen, dass es in den vergangenen Jahren - ich weiß
nicht, wie lange Sie schon dabei sind - mehrfach Anfragen auch aus dem parlamentarischen Raum gegeben hat
und dass viele Träger geklagt haben, dass extremistische
Gruppen versuchen, ihre Organisation zu unterwandern.
({7})
Der Innenminister von Sachsen-Anhalt hat gestern in
einer Pressekonferenz zugegeben - das haben Sie nicht
berichtet -, dass etwa die NPD immer wieder versucht,
Vereine zu unterwandern. So viel zur Bekämpfung des
Extremismus. Was Extremismus betrifft, geht es um den
Kampf gegen rechts, aber auch gegen links. Links ist
ebenso wie rechts eine legitime Kategorie. Problematisch wird es dann, wenn es extrem wird.
({8})
Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Wortmeldung
zu einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen
Rix.
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Bei der „Extremismusklausel“, wenn Sie es so nennen wollen, in
Mecklenburg-Vorpommern geht es um Kindergärten.
Hier geht es um die Förderung von Demokratie und Toleranz.
({0})
Das ist ein grundlegender Unterschied. Sind Sie bereit,
das anzuerkennen?
Ein weiterer Unterschied zu Mecklenburg-Vorpommern ist, dass in dieser Extremismuserklärung mit unterschrieben werden soll, dass alle weiteren Partner der
Projekte ebenfalls auf dem Boden des Grundgesetzes
stehen. Das wird von den Trägern in erster Linie kritisiert, weil Sie damit einen Keil in die Zivilgesellschaft
treiben.
({1})
Der Erlass in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr detailliert formuliert. Man wundert sich vielleicht sogar
manchmal darüber. Es muss ausdrücklich auch darauf
hingewiesen werden, dass man bei seinen Partnern darauf hinwirkt, dass sie sich an demokratische Prinzipien
zu halten haben.
({0})
Sie müssen insofern auch dafür einstehen, als man davon
die Förderung abhängig machen kann.
({1})
Aber ein Partner, der das nicht ausdrücklich tut - so
heißt es in Mecklenburg-Vorpommern -, der kann keine
Betriebserlaubnis bekommen, weil dann Zweifel daran
begründet sind, dass er die Gewähr für eine den Zielen
des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet. Ich finde,
wir sollten uns abgewöhnen, auf einem Auge blind zu
sein.
({2})
Das gilt für das rechte Auge genauso wie für das linke
Auge.
Wir haben hier an einem der letzten Freitage eine sehr
heftige Debatte über die Aussagen von Frau Lötzsch
über den Kommunismus geführt. Da waren wir uns
größtenteils einig. Wir haben gesagt: Diese Staatsform
wollen wir unter gar keinen Umständen. Da ist sehr engagiert diskutiert worden. Auf der ganz linken Seite war
da sehr viel Ruhe; da wurde keine Position bezogen.
Ich finde, wenn man sich für Demokratie einsetzt,
dann muss man sich gegen Rechtsextreme genauso wie
gegen Linksextreme und gegen Islamisten wehren. Das
ist einfach die Wahrheit.
({3})
Herr Staatssekretär, ich habe weitere zwei Meldungen
zu Zwischenfragen. Ich frage, ob Sie der Kollegin Wolff
und dem Kollegen Bockhahn noch die Gelegenheit geben wollen oder nicht.
Von mir aus sollen sie gerne fragen.
Die Kollegin Wolff ist zunächst an der Reihe.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, anzuerkennen,
dass es in Sachsen-Anhalt - das ist mein Bundesland -,
dessen Innenminister Sie eben angesprochen haben, eine
große zivilgesellschaftliche Gruppierung gibt, die sich
gegen Rechtsextremismus wendet? Sind Sie auch bereit,
hier Ihre Aussage gegenüber Herrn Hövelmann zurückzunehmen? In Bezug auf diese Extremismusklausel hat
sich dieser Innenminister nämlich sehr kritisch geäußert.
({0})
Ihr Innenminister hat sich zur Extremismusklausel
geäußert. Dazu hat sich manch einer in den letzten Tagen
geäußert.
({0})
Ich glaube, dass er sich mit dem Sachverhalt aber nicht
immer intensiv beschäftigt hat.
({1})
Es ist jedenfalls so, dass Herr Hövelmann in der Bundespressekonferenz zugeben musste - das hatte er zuvor
nämlich nicht erwähnt -, dass es darum ging, die NPD
zu verhindern. Das war der entscheidende Punkt. Darum
geht es hauptsächlich auch in Mecklenburg-Vorpommern.
Man muss natürlich kritisch bleiben und sich gegen
Rechtsextremismus engagieren.
({2})
Aber es kann nicht sein, dass Rechtsextreme Linksextremismus bekämpfen und umgekehrt. Das ist das, was wir
ausdrücklich nicht wollen. Da sind wir uns völlig einig.
({3})
Können wir jetzt noch zur Frage des Kollegen
Bockhahn kommen?
Ja, okay.
Weitere Zwischenfragen zu diesem Beitrag lasse ich
dann aber nicht zu.
Herr Dr. Kues, bezugnehmend auf Mecklenburg-Vorpommern: Ich denke schon, dass es einen Unterschied
gibt zwischen der Aufforderung, seine Projektpartner auf
die Notwendigkeit der Verfassungstreue hinzuweisen,
und der jetzt durch Ihr Haus angeforderten Erklärung,
verpflichtend zu garantieren, dass bei Partnern eine Verfassungstreue besteht, soweit man selbst in der Lage ist,
dies nachzuweisen. Das Problem sind natürlich die Ausführungsbestimmungen, die so schwammig sind, dass
kein Träger ernsthaft garantieren kann, ob er das gemacht hat, was Ihnen recht ist oder auch nicht. Das ist
der eine Punkt.
Zweitens. Eingangs Ihrer Rede haben Sie darauf hingewiesen, dass es schon seit Jahren den Hinweis an die
Projektpartner gibt, dass sie ihre Verfassungstreue garantieren sollen. Aber bisher war es ein Hinweis. Das Ganze
wurde nicht zur Verpflichtung, zur Bedingung, zur unbedingten Notwendigkeit für den Erhalt einer Förderung
gemacht. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es einen
qualitativen Unterschied zwischen einem Hinweis,
etwas zu tun, und dem Zwang gibt, etwas zu garantieren,
wofür man im Zweifel nicht einstehen kann? Können Sie
sich vorstellen, dass es bei Projektträgern durchaus
Misstrauen geben kann?
({0})
Ich glaube nicht, dass in der Breite Misstrauen
herrscht. Der infrage kommende Bereich ist relativ überschaubar. Es ist auch gesagt worden, es gebe eine große
Kampagne. Wir haben 750 E-Mails bekommen. Wenn es
eine Massenbewegung über das Internet gibt, dann erhält
man ganz schnell zehntausend E-Mails; das will ich ausdrücklich sagen.
({0})
- Lassen Sie es bitte sein. Die müssen wir dann alle bearbeiten. Das muss nicht unbedingt sein.
Im Kern ist es kein Unterschied. Ich gebe zu: Dieses
ausdrückliche Unterschreiben ist eine Präzisierung. Man
kann meinetwegen rechtlich und politisch darüber streiten, ob das notwendig ist. In dem Gutachten, das Herr
Thierse zitiert hat, wird sogar festgestellt, das könnte
durchaus ein Weg sein. Der Grundansatz ist der gleiche:
Wir wollen verhindern, dass sich Extremisten einschleichen. Das gilt für die Kindertagesbetreuung ebenso wie
für die politische Bildungsarbeit.
({1})
Das halte ich für richtig. Wir hatten dazu in den vergangenen Jahren - Sie wissen es doch ganz genau - immer
wieder Anfragen aus dem parlamentarischen Raum.
({2})
Darin hieß es: Diese oder jene Initiative wird gefördert.
Wir erwarten die Mithilfe derjenigen, die gefördert werden. Ihnen ist der Kinder- und Jugendplan gut bekannt.
Wenn Sie in diesem Bereich einen Zuwendungsbescheid
erhalten, müssen Sie unterschreiben, dass sich die Verwendung der Zuwendung im Rahmen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung bewegt. An dieser Stelle
haben wir uns entschieden, ein kleines Informationsblatt
zur Kenntnisnahme hinzuzufügen, sodass man nicht sagen kann: Ich habe es übersehen.
Im Übrigen - das sei zur Beruhigung gesagt - haben
wir jede Menge Verfügungen erlassen, darunter auch
viele Zuwendungsbescheide. In keinem Fall hat ein Träger die Unterschrift verweigert.
({3})
- Sie können sagen: Sonst bekommt man kein Geld. Ich
sage Ihnen - das wurde auch von Herrn Thierse angesprochen -: Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin, die
Jüdische Gemeinde, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden haben ebenfalls Zuwendungsbescheide bekommen
und haben die Zuwendungsvoraussetzungen wie selbstverständlich unterschrieben.
({4})
Diese Einrichtungen haben damit keine Probleme. Probleme bekommen sie nur dann, wenn sie falsch informiert werden.
Das Land Berlin beispielsweise hat gesagt, man habe
dagegen geklagt.
({5})
- Sie hören gleich auf, zu klatschen. - Länder und kommunale Körperschaften müssen diese Erklärung gar
nicht unterschreiben, weil wir davon ausgehen - das ist
auch meine Gedankenwelt -, dass sie selbstverständlich
keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen.
({6})
Das setzen wir auch für das Land Berlin voraus.
({7})
Wir führen hier eine politische Debatte. Das ist legitim. Sie sollten aber nicht so tun, als gehe es hier um
komplizierte rechtliche Fragen und um den hohen moralischen Anspruch, wie Sie ihn formuliert haben, Herr
Thierse. In der Demokratie geht es auch um Vertrauen.
({8})
In der Demokratie geht es darüber hinaus um Regeln, an
die sich alle zu halten haben. Wer diese Regeln bewusst
verletzt, indem er beispielsweise gewalttätige Auseinandersetzungen bei Veranstaltungen fördert, muss sich sagen lassen, dass er nicht zugleich öffentliche Mittel für
die Bekämpfung des Extremismus in Anspruch nehmen
kann.
({9})
Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder,
der in diesem Land gegen Neofaschismus, Rassismus
und Antisemitismus kämpft, verdient unsere größte Anerkennung. Das muss man zu der gesamten Debatte erst
einmal sagen.
({0})
Die Extremismusklausel, die den aktiven Projekten
gegen rechts nun abgepresst werden soll, droht jedoch
kaputtzumachen, was in jahrelanger Arbeit aufgebaut
wurde.
Die Regierung will - so hat sie auf eine Anfrage der
Linken geantwortet - die Projekte gegen rechts zu - Zitat - „Verantwortung und Sensibilität“ gegen Extremismus erziehen. Wenn jemand sensibilisiert ist, dann sind
es diese Projekte gegen rechts, die seit Jahren durchgeführt werden und die garantiert keinen Nachhilfeunterricht von Ihnen brauchen.
({1})
Die Bundesregierung tut so, als seien diese Projekte
gegen Rechtsextremismus scharf darauf, mit ausgemachten Verfassungsfeinden zu kungeln. Die Regierung
verlangt den Trägern ab, Berichte des Verfassungsschutzes aus Bund und Ländern zu lesen, dazu Referenzen
über mögliche Bündnispartner einzuholen sowie Medienberichte und Literatur zu diesem Bereich zu studieren.
Den Projekten wird ein Wust von Schnüffeldiensten abverlangt. Wir sind froh, dass es Landesregierungen wie
Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gibt, die ganz
klar kritisieren, dass diese Vorgehensweise Misstrauen
und Verunsicherung sät und dass dadurch der Kampf gegen die Rechtsextremisten sabotiert wird. Man muss
wirklich sagen: Die Einzigen, die sich zurzeit darüber
freuen, sind die Neonazis selbst.
({2})
Ihnen, liebe Kollegen von der Union und der FDP,
wird sicherlich nicht entgangen sein, dass auch der Zentralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime die
Extremismusklausel ablehnen - wir haben es schon gehört -, weil dadurch couragierte und engagierte Menschen unter Generalverdacht gestellt werden. Ich möchte
in diesem Zusammenhang die 1 500 Persönlichkeiten
und Organisationen erwähnen, die eine entsprechende
Protesterklärung unterzeichnet haben.
({3})
Diese Klausel erhebt den Verfassungsschutz zur unfehlbaren Messlatte.
({4})
Ich nenne drei Beispiele für das Handeln des Verfassungsschutzes.
Erstes Beispiel. Erst letzte Woche hat das Verwaltungsgericht Köln bestätigt, dass der Rechtsanwalt und
Menschenrechtler Rolf Gössner 40 Jahre zu Unrecht
vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.
Zweites Beispiel. Der bayerische Verfassungsschutz
hat die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München, a.i.d.a., ebenfalls zu
Unrecht als extremistisch diffamiert, wie ein Gericht
klarstellte.
Drittes Beispiel. Ich will daran erinnern, dass der Verfassungsschutz nicht gerade sehr hilfreich bei dem Verbotsverfahren gegen die NPD war. Auch hier haben wir
gesehen, dass das Ganze überhaupt nichts gebracht hat.
Mit der Extremismusklausel sollen missliebige linke
Organisationen an den Pranger gestellt werden, etwa die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Rassismus und Demokratiefeindlichkeit auch in der Mitte dieser Gesellschaft, in den etablierten Parteien und in den
Medien immer wieder kritisiert. Doch das passt nicht in
das schlichte und falsche Extremismusbild der Union
und der FDP. Deswegen wollen Sie aus den Projekten
gegen rechts extreme Vorfeldorganisationen des Verfassungsschutzes machen. Dabei werden sowohl die Organisationen als auch wir nicht mitmachen.
({5})
Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Ziehen Sie
diese schädliche Extremismusklausel zurück. Sie dient
nicht der Demokratie, und sie dient vor allen Dingen
nicht dem Vertrauen.
({6})
Ich möchte Sie alle auffordern, am übernächsten Samstag in Dresden zur Demonstration zu kommen und zu
verhindern, dass Nazis wieder durch Dresden marschieren. Blockieren Sie zusammen mit uns und den vielen
Tausend antifaschistischen Organisationen und Menschen. Da können Sie wirklich etwas Sinnvolles tun.
Danke.
({7})
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer von
der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen und der andere von der Linken. Lassen Sie mich kurz einen Satz
zum Antrag der Linksfraktion sagen. Wer die sogenannte
Extremismusklausel mit dem Radikalenerlass der
1970er-Jahre vergleicht, hat meiner Meinung nach in
dieser Debatte jedweden Anspruch verloren, ernst genommen zu werden.
({0})
Aber auch die Vergleiche von SPD und Grünen sind
an dieser Stelle nicht wesentlich erträglicher. Ich möchte
Sie daran erinnern, worum es hier geht.
({1})
Es geht darum, dass sich Träger von Maßnahmen gegen
Extremismus, die vom Bund gefördert werden, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen müssen.
({2})
Ich nenne das eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Frau Roth spricht vom kruden Weltbild dieser Koalition.
({4})
Dass sich Perspektiven ändern, wenn man von der
Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechselt, kann
man sich vorstellen; aber dass sich gleich ganze Weltanschauungen ändern, finde ich schon merkwürdig. Dass
Sie so tun, als ob diese Extremismusklausel eine Erfindung von Frau Schröder oder Schwarz-Gelb wäre, ist
abenteuerlich. Herr Kues hat es bereits gesagt; aber ich
möchte es wiederholen, damit es bei Ihnen wirklich ankommt. Lutz Diwell, SPD-Staatssekretär im Innenministerium, schrieb in einem Brief an alle Ministerien am
4. März 2004 - Sie können es gerne nachlesen -, dass
die missbräuchliche Inanspruchnahme von Förderprogrammen durch Organisationen mit rechts-, links- und
ausländerextremistischem einschließlich islamistischem
Hintergrund auf jeden Fall zu verhindern sei. Mich überrascht schon der breite Ansatz im Kampf gegen den Extremismus, den es heute leider nicht mehr in der SPD
gibt. Herr Diwell bietet sogar an, dass bei der Überprüfung
der Maßnahmen gerne das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig wird. So viel zum Thema Schnüffelstaat.
Daraufhin prüfte das Familienministerium, wie man
mit dem Diwell-Erlass umgehen sollte. Es schrieb - zur
rot-grünen Regierungszeit - an alle Träger von Maßnahmen gegen Extremismus Folgendes:
Für die Bundesregierung ist klar: Personen oder Organisationen, die nicht die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten,
dürfen weder direkt noch indirekt durch Bundesbehörden gefördert werden.
({5})
Am Ende dieses Briefes hieß es:
Der Träger der geförderten Maßnahme hat im Rahmen seiner Möglichkeiten ({6}) die Unbedenklichkeit der als
Partner ausgewählten Organisationen, Referenten
etc. … zu prüfen.
Dieser Satz kommt Ihnen bekannt vor, weil es genau
der gleiche Satz ist, der jetzt in der angeblich so neuen
Extremismusklausel von Frau Schröder steht.
({7})
Kollege Bernschneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kolbe?
Nein. - In der aktuellen hektischen Debatte wird auch
über Gutachten gesprochen. Wir können gern fachpolitisch darüber diskutieren, ob wir diesen Satz nachschleifen sollen, damit er für die Träger vor Ort deutlicher
wird.
({0})
Darum geht es Ihnen heute aber nicht. Sie wollen sofort
abstimmen. Sie wollen in den Ausschüssen nicht auf
fachlicher Ebene darüber sprechen.
({1})
Das zeigt, worum es geht: Es geht Ihnen bei diesem
Thema, das Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht anders gesehen haben, um Wahlkampf. Damit gewinnt man alles,
aber keine Wahlkämpfe und erst recht nicht unsere Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kolbe das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte jetzt gar
nichts mehr zu dem schon hinlänglich bekannten Skandal sagen, dass die Bundesregierung den Initiativen, die
sich mit all ihrer Macht für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen, das Misstrauen ausspricht.
Ich möchte vielmehr bei der rechtlichen Positionierung
nachhaken.
Wir sind uns ja im Ziel einig - zumindest unterstelle
ich das -, dass Verfassungsfeinden kein staatliches Geld
zufließt. Unsere Position ist, dass schon jetzt ausreichend Möglichkeiten bestehen, etwaige Geldflüsse zu
unterbinden. Da dies bisher nicht der Fall war, sprechen
Sie den Initiativen ohne Anlass Ihr Misstrauen aus.
Herr Bernschneider, Sie und Ihre Partei halten die
Bürgerrechte und sicherlich auch das Grundgesetz hoch.
({0})
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in mehreren Gutachten
Bedenken geäußert werden, ob diese Klausel wirklich
verfassungsrechtlich legitim ist und ein legitimes Mittel
darstellt, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie des Weiteren zur Kenntnis, dass selbst die schwarz-gelbe Landesregierung im Land Sachsen die bislang geplante
Demokratieerklärung oder Extremismusklausel abgeschwächt hat. Aus meiner Sicht ist sie damit zwar immer
noch nicht ganz verfassungskonform. Aber selbst die
schwarz-gelbe Landesregierung hat gesagt, die Extremismusklausel, wie Sie sie hier fordern, sei in dieser
Weise nicht legitim.
({1})
Mich interessiert, was die FDP dazu sagt.
({2})
Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Kollegin, ich habe gerade versucht, Ihnen zu erklären, dass es Gutachten gibt, die besagen, dass die
Sätze 2 und 3 durchaus kritisch gesehen werden können.
Es gibt auch zahlreiche Gutachten, die besagen, es gebe
überhaupt kein Problem.
({0})
Um auch das einmal klarzustellen: Kein Gutachten
bezweifelt, dass es richtig ist, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen. Das bezweifelt
nicht ein Gutachter.
({1})
Nicht ein Gutachten bezweifelt, dass man das unterschreiben kann.
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau dieser Satz, der in einigen Gutachten kritisch gesehen wird,
nicht von uns stammt, sondern von einem Ihrer Staatssekretäre während Ihrer Regierungszeit.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte um die sogenannte Extremismusklausel hat
in den letzten Tagen und Wochen richtig Fahrt aufgenommen. Allerdings, Kollege Bernschneider, diskutieren wir über diese Klausel schon seit mehreren Monaten,
unter anderem im Ausschuss. Es gibt sehr wohl viel Kritik.
({0})
Da Sie den heute von uns vorgelegten Anträgen nicht
zustimmen, werde ich jetzt etwas ausholen und Ihnen erklären, welche Argumente es noch von anderen gibt:
Das von Professor Battis angefertigte Gutachten besagt,
dass weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch
dem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen wird.
({1})
Die Fragen, welche Mittel der Überprüfung angewandt
werden sollen, welcher Verdachtsgrund die Ablehnung
einer Gruppe oder Person als Partner rechtfertigt und
welche Rechtsfolgen drohen, werden nicht beantwortet.
Sie werden auch in den nachgereichten Hinweisen zur
„Erklärung für Demokratie“, die den Trägern zur Verfügung gestellt wurden, nicht beantwortet. Der Tipp der
Ministerin, die potenziellen Partner einfach zu googlen
- das hat sie im Ausschuss gesagt -, empfinde ich als
Hohn. Es ist peinlich und höhnisch.
({2})
Ich hatte heute früh mit einer Amerikanerin zu tun, die
zu mir gesagt hat, all das erinnere sie an die McCarthyMonika Lazar
Ära. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von
einer Amerikanerin, die hier in Deutschland lebt.
Inzwischen liegt auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vor;
Kollege Thierse hat dazu schon einige Ausführungen gemacht. Das eigene Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist nicht das Problem; das haben
wir heute bereits festgestellt. Das Problem ist die Gesinnungsschnüffelei bei potenziellen Partnern. Die Träger
fühlen sich in ihrer Existenz bedroht; denn im Falle der
falschen Partnerwahl kann es zur Rückforderung von
Fördermitteln kommen.
({3})
So bleibt die ohnehin vorhandene Unsicherheit selbst
nach einem positiven Fördermittelbescheid erhalten.
({4})
Der Parlamentarische Staatssekretär Bergner sprach
von einer „heilsamen Wirkung“ der Erklärung, da die Zuwendungsempfänger zum Nachdenken angeregt würden.
Er bemühte sogar den Vergleich mit der Anti-DopingErklärung, um die Extremismusklausel als im Zuwendungsrecht etwas völlig Normales darzustellen. Ich
finde, das war eine sehr fantasievolle Begründung.
({5})
Die zivilgesellschaftlichen Initiativen wehren sich zu
Recht gegen ein Klima des Misstrauens. Im Rahmen des
Aktionstages „Extreme Zeiten“ am 1. Februar 2011 gab
es sehr viele Protestschreiben, die das Ministerium erreicht haben. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
- das wurde heute schon gesagt - ist nicht ein Problem
vermeintlich extremer Ränder, sondern ein Problem der
Mitte. Damit hat diese Erklärung leider gar nichts zu tun.
({6})
Es gibt weitere prominente Leute, die sich kritisch geäußert haben - ich weiß nicht, wer sich positiv geäußert
hat; Herr Kues, vielleicht können Sie uns diese Information noch zur Verfügung stellen -: Anetta Kahane, Leiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung, DGB-Chef Michael
Sommer sowie Gesine Schwan, die im Rahmen der Verleihung des Sächsischen Demokratiepreises in Dresden
sehr kritische Worte gefunden hat. Sogar die Bundesarbeitsgemeinschaft „Kirche für Demokratie - gegen
Rechtsextremismus“ - liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, hören Sie jetzt zu - wendet sich gegen
das Druckmittel der eingeforderten Unterschriftserklärung.
Auch in den Ländern ist einiges in Bewegung geraten.
Die Sächsische Staatsregierung erklärte auf Nachfrage
meines Landtagskollegen Miro Jennerjahn, dass es unter
den zwischen 2005 und 2010 im Landesprogramm
„Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ geförderten Projekten keine gibt, die unter Extremismusverdacht stehen. Damit müsste die Anti-ExtremismusErklärung für das Land Sachsen doch eigentlich hinfällig
sein. Stattdessen hat Innenminister Ulbig die Klausel
weiter verschärft. Jetzt müssen auch die Kooperationspartner noch unterschreiben.
Die verschiedenen Bundesländer, die Protest eingelegt haben, wurden schon genannt: Berlin, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen. Die gemeinsame
Pressekonferenz vom Zentralrat der Juden und Zentralrat
der Muslime, die gestern stattgefunden hat, sollte Ihnen
auch zu denken geben. Auch sie haben sich explizit und
mit sehr scharfen Worten dagegen gewandt.
({7})
Zum Schluss möchte ich noch ein Wort an die FDP
richten: Der Kollege Ruppert hat sich ebenfalls kritisch
geäußert. Er wird nachher noch reden. Ich hoffe, Sie
können auf Ihre Koalition dahin gehend einwirken, dass
sie die Erklärung vielleicht doch noch zurücknimmt
bzw. sie zumindest so gestaltet, dass sie der Verfassung
entspricht.
Ganz zum Schluss mein Wunsch: Demokratinnen und
Demokraten sollten vertrauensvoll zusammenarbeiten
und sich nicht gegenseitig des Extremismus verdächtigen.
({8})
Uns liegen heute die entsprechenden Anträge vor. Wir
haben in den letzten Wochen sehr viel diskutiert. Deshalb meine Bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu und
nehmen Sie diese unsägliche Extremismusklausel heute
endgültig zurück!
Danke.
({9})
Der Kollege Geis hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Verehrte Frau Lazar, es geht nicht darum, dass wir uns
gegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern es
geht darum, dass wir den Staat vor Extremisten schützen. Darum geht es auch in der Bestätigung, die zu unterschreiben ist. Ich weiß nicht, was daran so fatal ist.
({0})
Verehrter Herr Thierse, ich stimme mit Ihnen darin
überein, dass der Staat wehrhaft sein muss. Das Prinzip
der Wehrhaftigkeit der Demokratie steht neben dem
Prinzip der Sozialstaatlichkeit, neben dem Prinzip der
Demokratiestaatlichkeit und neben dem Prinzip, dass
unsere Grundrechte justiziabel sind. Die wehrhafte Demokratie ist eines der Grundprinzipien unserer Verfas10174
sung. Wir haben immer darin übereingestimmt. Sie haben das vorhin auch selber erklärt. Die Wehrhaftigkeit
steht dabei neben der Rechtsstaatlichkeit, der föderativen Grundordnung und der sozialen Ordnung. Diese Begriffe markieren jeweils eine besondere Ausgestaltung
unserer Verfassung.
Das Prinzip der wehrhaften Demokratie ist ein Verfassungsprinzip, das eigenständige Bedeutung gewonnen hat. Die Idee der wehrhaften Demokratie kam in unsere Verfassung, weil die Mütter und Väter des
Grundgesetzes in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrungen gemacht haben. In der Weimarer Zeit galt das Prinzip der Toleranz, was an sich ein gutes Prinzip ist. Aber
damals war es Toleranz im Sinne von Werterelativismus.
Was wir an dieser Verfassung heute als Mangel sehen,
war damals eine Tugend, nämlich dass man alle möglichen politischen Ideen, Gestaltungen und Überlegungen
zugelassen hat, ohne sie bekämpfen zu können. Deshalb
war die Demokratie der Weimarer Republik in sich brüchig. Sie ist deswegen zugrunde gegangen. Sie war nicht
in der Lage, sich gegen innere und äußere Feinde zu
wehren. Deswegen haben wir heute das Prinzip der
wehrhaften Demokratie.
({1})
- Ich komme zum Thema. Mit dieser Vorbemerkung
wollte ich das aufnehmen, was Ihr Kollege Thierse vorhin gesagt hat, nämlich dass wir eine wehrhafte Demokratie brauchen.
Unser Verfassungsgericht hat das Prinzip der wehrhaften Demokratie in seinen Entscheidungen ausgestaltet.
({2})
Denken wir an die berühmte Entscheidung zum Verbot
der KPD, denken wir aber auch daran, dass die Bemühungen um das Verbot der NPD bislang nicht zum Erfolg
geführt haben, was ich bedauere.
({3})
- Fragen Sie bitte das Verfassungsgericht!
({4})
- Das ist nicht mein Problem. Vielleicht waren die damals eingereichten Klagen auch nicht so beschaffen,
dass man darauf ein Verbot wirklich hätte stützen können.
Mit den beiden Programmen, dem Programm „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ gegen den Rechtsextremismus und der Initiative „Demokratie stärken“ gegen den Linksextremismus und den islamistischen
Extremismus, kommt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dieser Verpflichtung zur
wehrhaften Demokratie nach. Diese Programme sehen
nicht direkt staatliches Handeln vor, sondern richten sich
an Bürgerinitiativen und an Organisationen, die aus der
Gesellschaft kommen, also bürgerschaftliche Organisationen sind. Nicht Beamte sind dort tätig,
({5})
sondern Bürger aus der Gesellschaft können die Initiative ergreifen. Ich halte das für richtig und für gut.
({6})
Das hat vielleicht sogar noch eine größere Wirkung,
({7})
als wenn wir es über Beamte, also auf staatlichem Wege,
machen würden.
({8})
Wenn das so ist, dann kann es doch nicht falsch sein
- im Übrigen sagt auch Battis nicht, dass das falsch ist -,
dass wir das von denen verlangen, die sich darum bemühen, dass die Demokratie in unserem Volk verwurzelt
bleibt, dass die demokratischen Grundsätze bei uns ins
Bewusstsein übergehen, und zwar jeden Tag. Mit Recht
sagt Herr Thierse, dass die Demokratie von Zustimmung
lebt.
({9})
Wir brauchen die Gemeinsamkeit der Demokraten.
Diese Institutionen und Organisationen können dabei
mithelfen.
({10})
Aber es kann doch nicht verkehrt sein, dass wir von diesen Organisationen eine Bestätigung verlangen, dass sie
sich tatsächlich für die demokratische Grundordnung
einsetzen.
({11})
Warum soll denn das unmöglich sein?
({12})
- Das ist doch kein Misstrauen. Wir verlangen nur diese
Bestätigung.
({13})
- Sie können noch so laut schreien. Es ist nichts anderes
als ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung.
({14})
Sie gehen davon aus, dass demokratisches Grundverständnis überall vorhanden ist. Wenn das der Fall wäre,
brauchten wir solche Organisationen nicht, dann brauchten wir solche Initiativen nicht.
Herr Kollege Geis, möchten Sie noch eine Frage beantworten kurz vor Ablauf Ihrer Redezeit?
Ich beantworte nachher die Frage, aber ich möchte
erst meinen Gedanken zu Ende führen.
Sie haben leider nur noch 34 Sekunden.
Na gut, dann werde ich die Frage jetzt zulassen.
({0})
Herr Rix.
Herr Geis, ich will mal nicht so sein und Ihnen noch
ein bis zwei Minuten zusätzliche Redezeit geben.
Können Sie mir erklären, was sich in den Jahren, seitdem die Programme aufgelegt wurden, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Extremismusklausel eingeführt wurde,
verändert hat? Können Sie mir also erklären, was Frau
von der Leyen falsch gemacht und Frau Schröder jetzt
wohl richtig macht?
Bitte erklären Sie mir auch noch ein Zweites: Warum
müssen Organisationen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen, diese Erklärung unterschreiben, während andere Organisationen, die staatliche Mittel aus
dem Jugendetat des Ministeriums oder anderswoher erhalten, solche Klauseln nicht zu unterschreiben brauchen? Wo liegt da der Unterschied? Diese beiden Fragen
hätte ich gerne noch beantwortet.
({0})
Wenn Organisationen dazu da sind, die verfassungsrechtliche Grundordnung ins Volk hereinzutragen, dann
haben sie nach dem, was jetzt vorliegt und zur Debatte
steht, genau das Gleiche zu unterschreiben wie jene Organisationen, die ich eben genannt habe. Wir können
nicht von vornherein davon ausgehen, dass in all diesen
Organisationen demokratische Grundsätze völlig gleichmäßig verwurzelt sind. Wir wollen durch diese Bestätigung eben erreichen,
({0})
dass sie unsere Demokratie anerkennen und sich auf ihre
Grundsätze verpflichten. Im Übrigen sagt Battis, den Sie
als Gutachter ausgewählt haben
({1})
und den ich im Übrigen auch schätze, in dem von ihm
erstellten Gutachten genau das Gleiche. Er sagt, es ist
möglich, dass von diesen Organisationen diese Bestätigung verlangt wird.
Jetzt kommt der zweite Punkt: Diese Organisationen
müssen eine entsprechende Bestätigung natürlich auch
von denen verlangen, die sie als Mithelfer, als Unterstützer ihrer Bemühungen heranziehen.
({2})
Wenn sie selbst diese Bestätigung abgeben müssen, dann
ist es doch logisch und richtig, dass auch die Partner, die
ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mithelfen, ebenfalls diese Bestätigung abgeben.
({3})
- Da unterscheide ich mich von Battis. - Ich bin der
Meinung, dass dieses nicht mehr als recht und billig ist.
({4})
Es kann doch nicht sein, dass sich unter Umständen
links- oder rechtsextremistische Kreise engagieren lassen, um angeblich für die demokratische Grundordnung
einzutreten, und dafür Geld bekommen,
({5})
obwohl sie diesen Staat im Grunde genommen ablehnen
und zugrunde richten wollen.
({6})
Wir können doch nicht Steuergeld zur Verfügung stellen,
um diese Leute auch noch zu unterstützen. Da denke ich
wirklich an Lenin: „Nur die dümmsten Kälber wählen
ihre Metzger selber.“ Das kann es doch nicht sein, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Der Staat macht zwar viele Fehler, aber er darf einen
Fehler bestimmt nicht machen: Er darf nicht zulassen,
dass er lächerlich gemacht wird. Der größte Fehler wäre
jedoch, wenn er sich selbst lächerlich macht. Dass man
von Menschen bzw. bürgerschaftlichen Gruppierungen,
die sich im Rahmen von Initiativen, die vom Ministerium ausgehen, darum bemühen sollen, in der Bevölkerung des Landes ein demokratisches Bewusstsein zu
verwurzeln, entsprechende Verpflichtungserklärungen
verlangt, kann doch nicht dazu führen, dass bei Ihnen so
ein starker Widerspruch entsteht, wie das jetzt der Fall
ist. Ich bedauere das sehr. Im Grunde genommen handelt
es sich um eine sehr vernünftige Sache.
Danke schön.
({8})
Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wer wie ich häufiger zu Fragen des Extremismus und seiner Bekämpfung spricht, der erlebt leider
immer wieder die gleiche Dramaturgie. Ich erinnere an
den Koalitionsvertrag. Darin haben wir die Bekämpfung
des Linksextremismus und den Islamismus aufgenommen. Damals haben Sie uns vorgeworfen, wir würden
von nun an den Rechtsextremismus nicht mehr bekämpfen wollen.
Dann haben Sie gesagt, wir würden im Haushalt sicherlich die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus streichen wollen, weil wir unsere Aufmerksamkeit
einseitig dem Linksextremismus zuwenden würden.
Auch das war nicht richtig. Jetzt sagen Sie: Es ist unzumutbar - das haben Sie in der Vergangenheit selbst gemacht -, von Trägern, die solche Aufgaben wahrnehmen, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung zu verlangen.
Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle einmal über
das Ob und das Wie unterhalten. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie anfangen, über die Frage des Ob, also
über die Frage, ob es für einen Träger zumutbar ist, zu
erklären, dass er selbst auf dem Boden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung steht, zu diskutieren.
({0})
Natürlich ist das jedem zumutbar. Sie sagen, darum gehe
es nicht. Aber sogar das von Herrn Thierse zitierte Gutachten aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages besagt: Die Befürchtungen des zuständigen Ministeriums, dass durch Projektmittel auch unerwünschte
Organisatoren gefördert werden, ist damit nicht von der
Hand zu weisen. - Insofern ist es sicherlich richtig und
sinnvoll, dass wir hier sagen: Dieses Ob muss außerhalb
jeder Diskussion stehen.
({1})
Leider kommen wir wegen dieser Debatten niemals
dazu, sauber zu klären, welchen Extremismusbegriff wir
in Deutschland eigentlich zugrunde legen. Meiner Meinung nach haben wir auf der linken Seite dieses Hauses
immer das Problem, dass es von Ihnen eine Art konzedierten vermeintlichen moralischen Rabatt für den
Linksextremismus gibt, während Sie engagiert und mit
großem Einsatz - das will ich gar nicht verkennen - gegen den Rechtsextremismus vorgehen. Es ist an der Zeit,
diese Unausgewogenheit endlich einmal abzulegen.
({2})
- Das mögen Sie behaupten. Ich habe als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht das
NPD-Verbotsverfahren betreut. Ich kann also sicherlich
über einige Jahre der Auseinandersetzung mit Extremismus in Deutschland reden. Man könnte viel darüber sagen, was dabei schiefgelaufen ist.
({3})
Aber eines ist aus meiner Sicht unerträglich - das sage
ich als jemand, dessen Wahlkreisbüro schon Ziel autonomer Gewalt geworden ist, weil ich für den Ausbau des
Frankfurter Flughafens bin oder weil ich dem Energiekonsens zugestimmt habe -, nämlich dass Sie mit dem
linken Auge nicht hinschauen.
({4})
Jetzt habe ich relativ viel Zeit meiner Rede damit zugebracht, mich mit der aus meiner Sicht leider wieder
verpassten Chance von Ihrer Seite zu befassen. Ich will
am Ende nicht verhehlen, dass der positivistische Verfassungsjurist in mir mit Satz 2 durchaus nicht glücklich ist,
was die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit angeht.
({5})
Ich halte das zwar nicht für verfassungswidrig, wie von
Ihnen unterstellt. Aber ich finde, dass die vom betreffenden sächsischen Ministerium gewählte Formulierung
- wie wir alle wissen, ist Sachsen ein sehr gut regiertes
Bundesland ({6})
eindeutig praktikabler und sachlicher ist. Aber um die
Frage, ob es so oder so besser ist, ging es Ihnen heute gar
nicht. Ihnen ging es heute leider wiederholt nur um die
Feststellung, dass wir nicht bereit sind, den Extremismus
auf rechter Seite zu bekämpfen. Das ist schlicht Unsinn.
Insofern können wir Ihre Anträge nur ablehnen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4551 mit dem Titel „Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, sondern fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern - Kompetenz stärken‘ streichen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4664 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und
Holzwirtschaft
- Drucksache 17/4558 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall.
Ein erfolgreiches Instrument für die deutsche Agrarund Ernährungswirtschaft neigt sich dem Ende zu. Der
Absatzfonds wird abgewickelt. Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. Februar 2009 das Urteil dazu gesprochen. Die Kläger haben recht bekommen. Mit Beschluss
vom 12. Mai 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die
gesetzliche Aufgabenstellung des Holzabsatzfonds sowie
dessen Finanzierung über die Sonderabgabe ebenfalls
für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ist
doch gerade unser Bundesland Bayern auf überregionale Märkte und den heimischen Absatz angewiesen.
Wenn ich den Selbstversorgungsgrad bei Milch von
mehr als 170 Prozent und bei Rindfleisch von mehr als
200 Prozent sehe, dann hat diese Förderung immer wieder für Absatz im Ausland gesorgt. Das heißt, wir waren
dank des Absatzfondsgesetzes und der Arbeit der CMA
sehr erfolgreich im Exportgeschäft und ein konjunkturstabiler Faktor, was in Zeiten von Finanzmarktkrisen
und Wirtschaftsrezession hoch einzuschätzen war und
ist.
Das Gesetz zur Auflösung und Abwicklung der beiden
Fonds ist deshalb notwendig, weil sowohl der Absatzfonds als auch der Holzabsatzfonds durch Gesetz als
rechtsfähige Anstalt des Öffentlichen Rechts errichtet
wurden. Von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind bestimmte Vorschriften des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes unberührt geblieben. Sie sind auch aufzuheben. Das Nähere
über die Erhebung der Beiträge ist jeweils in der Verordnung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz und
der Holzabsatzfondsverordnung geregelt, die ebenfalls
aufzuheben sind.
Für den Fall, dass beim Absatzfonds oder beim Holzabsatzfonds zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Arbeit
Vermögensüberschüsse verbleiben, bedarf es außerdem
einer Regelung über deren Verwendung. Vielen Wirtschaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich geworden, wie wichtig eine zentrale Absatzförderung ist und
welche gute Arbeit CMA und ZMP geleistet haben; über
Einzelheiten kann man streiten. Zwischenzeitlich sind
auf Initiative der Wirtschaft sowohl in der Ernährungsbranche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisationen gegründet worden.
Fakt ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht
nicht nur die Vorschriften zur Beitragserhebung für
nichtig erklärt hat, sondern auch die Vorschriften zur
Aufgabenstellung der Fonds. Nach Anhörung der Verbände leitete das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten daraus ab, dass eine Verwendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ursprünglichen Beitragszahler rechtlich nicht geboten ist.
Dennoch werden wir uns als Unionsfraktion im Deutschen Bundestag im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
dafür einsetzen, die rechtlichen Möglichkeiten auszunutzen, um die Verwendung der Restmittel im Sinne der ursprünglichen Beitragszahler zu ermöglichen. Auch der
Bundesrat hat sich im Dezember letzten Jahres dafür
ausgesprochen, etwaige Überschüsse, die nach Abwicklung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben, zugunsten der Land- und Forstwirtschaft zu verwenden. In ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf sprach sich die Länderkammer damit gegen die Absicht der Bundesregierung aus, die Mittel
ohne Zweckbindung dem Bundeshaushalt zuzuführen.
Die Sonderabgabe sei von den Betrieben der Land- und
Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirtschaft erbracht worden. Daher müssten die Restmittel
auch diesen Betrieben wieder zugutekommen.
Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur
Nichtigkeit der Sonderabgabe lasse sich nicht ableiten,
dass diese in den allgemeinen Bundeshaushalt eingehen
müssten. Stattdessen müsse es ermöglicht werden, dass
Restmittel in der Land- und Ernährungswirtschaft beispielsweise für Messebeteiligungen, Präsentationen,
Marktstudien sowie Markterschließungsmaßnahmen eingesetzt werden. Von den übrig bleibenden Holzabsatz10178
fondsmitteln müssten wieder Forstbetriebe, Waldbesitzer und Unternehmen der Holzwirtschaft profitieren.
Diese Meinung teile ich ausdrücklich. Das heißt, sollten nach vollständiger Abwicklung Restmittel zur Verfügung stehen, können diese in den Haushalt zurückfließen. Wir Abgeordnete haben es dann als Haushaltsgesetzgeber in der Hand, das verfügbare Geld im Sinne
der Beitragszahler einzusetzen. Den entscheidenden
Zeitpunkt werden wir im Auge behalten.
Heute debattieren wir über die Restmittel zweier
Fonds, die seitens der Wirtschaft seit 1969 mit Abgaben
gefüllt wurden. Diese gesetzlich auferlegten Abgaben
waren nie besonders beliebt. Jahrelang wurde in
Deutschland über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von
Zwangsabgaben für das land- und forstwirtschaftliche
Gemeinschaftsmarketing gestritten. Und tatsächlich:
Ihre ursprüngliche Zielsetzung haben die Abgaben
schon seit langem verloren. Im Jahr 2009 rügte der Bundesrechnungshof äußerst deutlich, dass die Marketinggesellschaft für Agrarwirtschaft, CMA, Beiträge verschwende und ihre Aufgabe verfehle. Nach dem internen
Bericht des Bundesrechnungshofes habe die Absatzorganisation viele Marketingmaßnahmen bezahlt, die „gegen interne Vorgaben verstießen, unwirtschaftlich oder
weitgehend wirkungslos waren“. Der Bundesrechnungshof untermauerte damit die Kritik vieler Land- und
Forstwirte. Schlussendlich hat das Bundesverfassungsgericht Anfang 2009 ein klares Urteil gesprochen, Az.:
2 BvL 54/06 vom 3. Februar 2009. Die millionenschwere Zwangsabgabe ist seit 2002 als rechtswidrig
anzusehen. Damit konnten die deutschen Land- und
Forstwirte die Zahlungen für die zentrale Vermarktung
ihrer Produkte einstellen. Zuletzt waren im Schnitt in die
Fonds jährlich fast 88 Millionen Euro geflossen. Mit
durchschnittlich 0,4 Prozent wurde der jeweilige Warenwert belastet.
Werner Hilse, der Präsident des niedersächsischen
Landvolkverbandes, hat ja kurz nach Bekanntgabe des
Urteils diese hochrichterliche Entscheidung als „Konjunkturbremse und nicht passend in die derzeitige Wirtschaftslage“ bezeichnet. Nach anfänglicher Schwarzmalerei sind der Berufsstand und die Agrar- und
Ernährungswirtschaft dann doch sehr schnell aktiv geworden. Zusammen mit der Politik hat die Wirtschaft
neue Konzepte und Finanzierungsmodelle für die Absatzförderung entwickelt. Und, liebe Kolleginnen und
Kollegen, siehe da: Es funktioniert, auch ganz ohne
Zwangsabgabe.
Wir müssen aber auch feststellen, dass wir die auf
EU-Ebene bereitgestellten Mittel für das Absatzmarketing nicht in dem Umfang abrufen, wie das wünschenswert wäre. Hier müssen die einzelnen Branchenorganisationen mehr über ihren Tellerrand schauen. Wir
brauchen eine gemeinsame Strategie, um unsere heimische Agrar- und Ernährungswirtschaft voranzubringen.
Heute geht es um die Verwendung der vorhandenen
Restmittel aus den Absatzfonds. Und dabei muss nach
meiner Überzeugung ganz klar der Grundsatz gelten:
Die Restmittel müssen so verwendet werden, dass diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon profitieren. Daher halte ich das jetzt vorgesehene Verfahren der
schwarz-gelben Koalition in der Sache für nicht tragbar.
Die Absatzfondsmittel sind vorrangig von den land- und
forstwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht worden.
Folgerichtig müssen die vorhandenen Restmittel zweckgebunden ausgegeben werden. Klar ist, dass wir nicht
die Restmittel im Umfang von ein paar Euro und dann
noch auf den Cent gerundet den Abgabenzahlern zurückzahlen können. Der bürokratische Aufwand wäre
viel zu groß. Die SPD lehnt es aber ab, dass der Vermögensüberschuss nach Abwicklung in den Bundeshaushalt überführt wird. Dieser muss den früheren Abgabenzahlern zugutekommen.
Meine Vorschläge dazu: Legen Sie ein einmaliges und
auf zwei Jahre befristetes Fortbildungsprogramm für
Landwirte auf. Aus einem breitgefächerten Angebot mit
dem Schwerpunkt Unternehmensmanagement könnten
sich die Betriebsleiter dann kostenfrei die Module aussuchen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Höfe benötigen. Die Vermögensüberschüsse aus dem Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft
sollten dazu genutzt werden, die Nachfrage nach hochwertigem und nachhaltig zertifiziertem Holz mit den Labels FSC, Naturland oder PEFC zu steigern.
Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Regierungskoalition mit der jetzigen Zweckbestimmung ab.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat
im Sommer 2009 entschieden, dass die verpflichtende
Erhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung einer
zentralen Einrichtung der Wirtschaft und deren Aufgaben verfassungswidrig ist. Bereits die im Jahr 2007 im
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz durchgeführte Anhörung zum Absatzfonds
hatte gezeigt, dass die damit verbundene Zwangsabgabe
nicht verfassungskonform ist. Das Gerichtsurteil war
somit vorhersehbar. Solche Zwangssysteme müssen sich
in einem Rechtsstaat rechtfertigen und zeigen, dass sie
nicht durch freiwillige Lösungen ersetzt werden können.
Bereits im Jahr 2002 hatte der Europäische Gerichtshof
festgestellt, dass eine Werbung allein für deutsche landwirtschaftliche Produkte europäischem Recht widerspricht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt musste über die
vorhandenen Strukturen nachgedacht werden. Warum
sollte ein deutscher Obstbauer mit seiner Abgabe den
Absatz von Obst ganz allgemein fördern? Im Übrigen
war nie einzusehen, dass die Landwirtschaft für die Exportförderung eigene Mittel aufbringt, während in den
übrigen Wirtschaftsbereichen die Exportförderung Aufgabe des Wirtschaftsministeriums ist. Die nun unter
christlich-liberaler Regierung betriebene Exportförderung für landwirtschaftliche Produkte hat dazu beigetragen, die Land- und Ernährungswirtschaft zu stärken,
und ist daher ein wesentlicher Beitrag für die Strukturförderung des ländlichen Raumes.
Jetzt legt die Bundesregierung den Gesetzentwurf vor,
mit dem die Auflösung und Abwicklung der Anstalt „AbZu Protokoll gegebene Reden
satzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft“ und der Anstalt „Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft“ geregelt
werden soll. Schon im Vorfeld hat die FDP wie nun auch
der Bundesrat gefordert, das Restvermögen beider Anstalten gruppenspezifisch zu verwenden. Der Zentralausschuss der Deutschen Landwirtschaft wie auch die
Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Waldbesitzerverbände - um nur die beiden größten Verbände zu nennen - haben ebenfalls diese Forderung erhoben. Die
Sonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Ernährungswirtschaft wie auch der Forst- und Holzwirtschaft geleistet worden. Die Verwendung dieser Mittel
sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht haben, erfolgen. Das von der Bundesregierung mit dem
Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Restmittel ohne Zweckbindung dem allgemeinen Haushalt zuzuführen, wird
von der FDP abgelehnt. Es mag, wie in der Begründung
ausgeführt, rechtlich nicht geboten sein, die Mittel gruppennützig zu verwenden. Im Sinne des Vertrauensschutzes ist dies jedoch politisch geboten.
Um die Beitragszahler und die Steuerzahler nicht zu
belasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zunächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Bekanntgabe des Gerichtsbeschlusses gab es zahlreiche
Klagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nach
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurden diese für erledigt erklärt, die zu Unrecht eingezogenen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt.
Es muss über die Forderung der Länder entschieden
werden, dass die Prozesskosten der anhängigen Klagen
vom Bund getragen werden.
Es gibt bereits verschiedene Ideen, in welcher Weise
das Restvermögen der beiden Anstalten verwendet werden kann, zum Beispiel Einbringen in eine Stiftung oder
die Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen,
die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegründet haben. In jedem Fall muss sichergestellt sein, dass
diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon einen Nutzen haben. Unser Grundgesetz fordert von uns,
die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten
Bundesgebiet zu gewährleisten. Die Diskussion um
Glasfasernetze zeigt, dass der ländliche Raum mit dem
Problem der Errichtung einer gleichwertigen Infrastruktur zu kämpfen hat. Vor diesem Hintergrund ist es
politisch kaum vertretbar, von Betrieben des ländlichen
Raumes aufgewandte Mittel in den allgemeinen Haushalt fließen zu lassen, statt sie dort zu verwenden, woher
sie kommen und wo sie auch gebraucht werden, nämlich
im ländlichen Raum.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht aus Sicht
vieler Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber
auch vieler Beschäftigter der Absatzfonds ein unrühmliches Kapitel politischen Versagens zu Ende.
Viele Jahre haben sich vor allem Teile der Agrarwirtschaft gegen die Zwangsbeiträge zur Finanzierung von
Absatzförderung über Werbemaßnahmen der CMA gewehrt. Die teilweise sexistischen Kampagnen der obersten Lebensmittelwerbeagentur Deutschlands hatte auch
die Linke seit langem kritisiert. Ich erinnere in diesem
Zusammenhang an die unrühmlichen Werbespots wie
„Kleine Schweinerei gefällig?“ oder „Und ewig lockt
das Fleisch“. Auch an der Verfassungsmäßigkeit dieses
Geschäftsmodells hatten nicht nur wir Zweifel.
Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar
2009 war nur folgerichtig und wurde durch uns begrüßt,
auch wenn damit gleichzeitig sehr sinnvolle Einrichtungen wie die ZMP zur Disposition gestellt wurden. Ihre
Markt- und Preisberichterstattung war sehr bedeutsam,
und die Linke hatte gefordert, dies auch nach Abwicklung des Absatzfonds als öffentliche Aufgabe fortzuführen. Stattdessen wurde diese Aufgabe privatisiert und
die Agrarmarkt Informations-GmbH, AMI, als Nachfolgerin der ZMP gegründet. Sie verkauft nun die Informationen. Sie erstellt natürlich vor allem Daten, die sich
gut verkaufen lassen. Öffentlich finanzierte Daten hätten
dagegen auch öffentlich und unentgeltlich zugänglich
gemacht werden können. Damit wären Daten vorhanden, die vielleicht nicht wirtschaftlich verwertbar, aber
dafür für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Diese
Chance wurde bewusst vertan.
Das ist eine der Kehrseiten der Absatzfondshistorie.
Als weitere Kehrseite erweist sich die von der Bundesregierung vorgeschlagene Verwendung der Restmittel, die nach Bezahlung aller noch offenen Rechnungen
des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben.
Diese Reste nicht verfassungsgemäß eingetriebener
Gelder sollen aber nicht den Zahlenden, sondern dem
Bundeshaushalt zugutekommen. Das ist widersinnig.
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
17. Dezember 2010 betont, dass die überschüssigen
Gelder einer „gruppennützigen Verwendung“ zugeführt
werden sollten. „Gruppennützig“ kann für die Linke nur
eines bedeuten: Landwirtinnen und Landwirte bzw. die
Forstwirtschaft müssen von den Restgeldern profitieren,
statt dass damit politisch geschaffene Löcher im Bundeshaushalt gestopft werden. Dabei geht es nicht um die
berühmten Peanuts. Der hessische Landesverband des
Bundes Deutscher Forstleute, BDF, geht davon aus,
dass allein beim Holzabsatzfonds nach Abzug aller offenen Rechnungen und Gerichtskosten noch 2,8 Millionen
Euro übrig bleiben. Der Vorschlag des BDF, diese Gelder an die „Zukunft Holz GmbH“ zu übergeben, könnte
die Gelder im Interesse der in der Branche Beschäftigten sichern. Im Bundeshaushalt ist das höchst unsicher,
erst recht nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen.
Die Linke thematisiert schon sehr lange, dass gerade
in der regionalen Absatzförderung große Potenziale für
Wertschöpfung und Arbeitsplätze ungenutzt sind. Deshalb könnten wir uns gut vorstellen, dass die Restgelder
nach der Abwicklung der beiden Fonds gerade dafür
verwendet werden. Die Nutzung der Gelder zur Stärkung
von Agrarfördergesellschaften würde auch in meinem
Heimatbundesland Brandenburg den Verband „pro
agro“ unterstützen. Leider ist die Bundesregierung auf
solche Vorschläge bisher nicht eingegangen. Auch die
Zu Protokoll gegebene Reden
Kritik des Bundesrates wurde beiseite gewischt, weil das
Bundesverfassungsgericht nicht nur die Zwangsgelder,
sondern auch die gesetzliche Aufgabenstellung der
Fonds für verfassungswidrig erklärt hätte. Die Linke
fordert, ernsthaft nach einer verfassungskonformen Lösung zu suchen, damit Land- und Forstwirtschaft zumindest noch indirekt von den verfassungswidrig eingezogenen Geldern profitieren können. Noch fairer wäre sicher
die direkte Rückzahlung an die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler, aber dies wird organisatorisch kaum zu
leisten sein.
Entsetzt bin ich nach wie vor darüber, dass sich die
Bundesregierung und die damalige schwarz-rote Koalition vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts überraschen lassen haben. Seriöse, vorausschauende Politik
sieht anders aus. Dabei hatte sich in der Anhörung im
Agrarausschuss des Bundestages am 7. März 2007 der
Verdacht der Verfassungswidrigkeit sogar noch erhärtet.
Das habe ich der Bundesregierung auch klar gesagt.
Aber sie hat bedingungslos am Zwangswerbebeglückungsinstrument festgehalten, statt rechtzeitig einen
Plan B zu erarbeiten. Insbesondere gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen war
das grob fahrlässig. Die Fürsorgepflicht hätte verlangt,
sich rechtzeitig gemeinsam über Alternativen Gedanken
zu machen.
Heute stehen wir vor einem weiteren Scherbenhaufen
einer eitlen und ignoranten Regierungspolitik. Denn das
Werbekonzept des Absatzfonds wurde nicht nur verfassungswidrig finanziert, sondern es war unnütz. Der
von der Linken benannte Sachverständige Professor
Dr. Tilman Becker vom Institut für Agrarpolitik und
Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohenheim brachte es bei der Anhörung auf den Punkt. Die
Arbeit der CMA sei herausgeworfenes Geld, unnütz und
gehöre abgeschafft.
Die beiden Fonds sind nun - fast - Geschichte. Das
ist im Grunde auch gut so. Leidtragende sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von CMA, ZMP und Holzabsatzfonds. Ich hoffe sehr, dass sie ihr Fachwissen und
ihre Fähigkeiten nun sinnvoll an anderer Stelle zum
Wohle unserer Land- und Forstwirtschaft werden einsetzen können.
Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Zwangsabgabe der Land- und Forstbetriebe
zum Absatzfonds endlich für verfassungswidrig erklärt.
Jahrelang wurden Bäuerinnen und Bauern zu Unrecht
gezwungen, die unsinnigen und allzu oft geschmacklosen und frauenfeindlichen Werbemaßnahmen der CMA
sowie deren üppig ausgestatteten Apparat samt Funktionären zu finanzieren. Nach der Abwicklung werden aus
dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen
Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro
verbleiben - Geld, das von den Bauern zu Unrecht eingezogen wurde. Um das Unrecht komplett zu machen,
will die Bundesregierung dieses restliche Geld im Bundeshaushalt verschwinden lassen.
Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert,
ihren Gesetzentwurf zu ändern und die Gelder gruppennützig zu verwenden. Die Bundesregierung hat dies zurückgewiesen. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gelder im Sinne derer zu verwenden, die sie bezahlt haben.
Wir begrüßen die Forderung des Bundesrates nach
einem gruppennützigen Einsatz der verbleibenden Absatzfonds- und Holzabsatzfondsgelder. Gruppennützig
kann für uns aber nur heißen: Verwendung im Sinne des
landwirtschaftlichen Gemeinwohls. Die Mittel müssen
der Landwirtschaft insgesamt zugutekommen und dem
dauerhaften Wohl der Landwirtschaft und des Waldes
dienen. Wir schlagen daher zur Verwendung der verbleibenden Mittel aus dem Absatzfonds und dem Holzabsatzfonds die Einrichtung einer Stiftung Bäuerliche
Landwirtschaft vor. Ziel der Stiftung sollte es sein, notwendige gemeinnützige Leistungen für die Land- und
Forstwirtschaft zu fördern, die heute weder von der Privatwirtschaft noch vom Staat in ausreichendem Maße
geleistet werden.
Die vom Bundesrat geforderte Gruppennützigkeit besteht im höchsten Maße da, wo es um die Erbringung
landwirtschaftlicher Gemeingüter geht und wo dem
langfristigen landwirtschaftlichen Gemeinwohl gedient
wird. Die Land- und Forstwirtschaft lebt wie kein anderer Wirtschaftsbereich von den Vorleistungen vergangener Generationen: Ohne die jahrhundertelange Züchtungsarbeit stünden die heutigen Kulturpflanzen und
Nutztierrassen nicht zur Verfügung. Ohne den Aufbau
der Bodenfruchtbarkeit über Generationen wären die
heutigen Erträge in der Landwirtschaft nicht möglich.
Nicht ohne Grund stammt der Begriff der Nachhaltigkeit
aus der Forstwirtschaft, denn wie nirgendwo sonst arbeitet im Forst eine Generation für die nächste, ernten
wir heute, was unsere Vorgänger uns hinterlassen haben.
Der enorme ökonomische Druck in der Land- und
Forstwirtschaft führt heute dazu, dass diese elementaren
Gemeinleistungen immer weniger erbracht werden und
dass die Nachhaltigkeit allzu oft dem kurzfristigen Profit
untergeordnet wird. Am Beispiel der Eiweißpflanzen erleben wir heute, was passiert, wenn landwirtschaftliche
Gemeingüter wie die langfristige Züchtungsarbeit nicht
mehr erbracht werden. Züchtung findet heute nur noch
da statt, wo ein großer Markt besteht. Kleinere, nur regional angebaute Sorten sind für Züchtungsunternehmen wirtschaftlich uninteressant. Das führt dazu, dass
die Züchtungs- und Vermehrungsarbeit an vielen wichtigen Kulturpflanzen, etwa bei den Leguminosen, vernachlässigt wird. Ein wesentlicher Grund für den dramatischen Rückgang des Eiweißpflanzenanbaus ist die
brachliegende Züchtung.
Die Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft soll Pionierarbeit von Bäuerinnen und Bauern, Waldbäuerinnen
und Waldbauern fördern, die dem langfristigen Wohl der
Land- und Waldwirtschaft dient. Nicht die Industrie,
sondern die Pioniere, die insbesondere in der nachhaltigen Züchtungs- und Erhaltungsforschung, beim Aufbau
der Bodenfruchtbarkeit und in der nachhaltigen Waldbewirtschaftung wertvolle gemeinnützige EntwicklungsZu Protokoll gegebene Reden
arbeit leisten, sollten durch eine solche Stiftung unterstützt werden. Den Einsatz der Restgelder zur
Exportförderung lehnen wir ab. Die Exportförderung
dient allein kurzfristigen Einzelinteressen der Ernährungsindustrie und ist nicht im Interesse der Landwirtschaft insgesamt.
Wir fordern die Koalition auf, sich mit uns gemeinsam für die Nutzung der Absatzfondsgelder im Sinne des
landwirtschaftlichen Gemeinwohls einzusetzen und zu
verhindern, dass die Gelder der Bäuerinnen und Bauern
im Bundeshaushalt verschwinden. Nachdem über die
Jahre Hunderte von Millionen Euro mit Unterstützung
der Politik zu Unrecht eingezogen und in unsinnigen
Kampagnen verschwendet wurden, müssen wenigstens
die Restmittel im Sinne der nachhaltigen Land- und
Forstwirtschaft verwendet werden. Das ist das Mindeste, was wir den Bäuerinnen und Bauern schuldig
sind.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gorleben - Echter Dialog statt Enteignung
- Drucksache 17/4678 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 14. Februar wird der Bundesumweltminister eine
weitere Offensive in Gorleben starten; er ruft zu einem
sogenannten Dialog auf. Wahrscheinlich bereitet er seinen Dialog gerade vor, sodass er der heutigen Debatte zu
diesem Tagesordnungspunkt leider nicht beiwohnen
kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der FDP, Sie haben heute die Chance, ein Zeichen
zu setzen, damit am 14. Februar keine Alibiveranstaltung stattfindet. Sie haben heute Abend die Gelegenheit,
hier zu beweisen, dass es nicht um eine Art Pseudodialog geht, auch nicht um ein Handeln nach dem Motto
„Diktat statt Dialog“ geht, wie Sie es in den letzten Monaten vorgemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie hier
all die Monate gemacht? Sie haben Fakten geschaffen.
Sie haben dafür gestimmt, mehr Atommüll zu produzieren. Sie haben still und heimlich die Weichen dafür gestellt, dass Sachverständige aus alten Zeiten mittlerweile
wieder Sicherheitsanalysen in Gorleben durchführen.
Das geht so nicht. Wenn Sie es mit dem Dialog ernst
meinen, dann sollten Sie - dazu rufen wir Sie heute auf unserem Antrag zustimmen.
({0})
Worum geht es? Wir machen Ihnen, um in der Sozialarbeitersprache zu reden, ein niedrigschwelliges Angebot.
({1})
Wir könnten viel mehr fordern, aber wir verlangen eigentlich nur zwei kleine Signale. Ich denke, wenn man
es ernst meinen würde, dann könnte man den beiden
Punkten zustimmen. Worum geht es?
Erstens. Nehmen Sie das sogenannte Enteignungsgesetz zurück. Sie setzen das schärfste Schwert des Grundgesetzes ein und wollen dann einen Dialog führen. Das
passt nicht zusammen.
({2})
Zweitens. Sie sind Parlamentarier. Herr Grindel, nehmen Sie Ihr Parlamentsrecht ernst und stimmen Sie
heute mit uns dafür, zumindest die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses abzuwarten und bis dahin ein Moratorium für die Erkundung in Gorleben zu beschließen.
({3})
Diese Signale würden auch in Gorleben ankommen.
Der Bundesumweltminister hat gegenüber der Hannoverschen Presse erklärt, die Gegner seien feige und er
mutig. Ich frage: Was ist das für ein Mut, wenn man
nach dem Motto „Mit dem Kopf durch die Wand“ handelt? Was ist das für ein Mut, wenn man sagt: „Wir gehen da rein. Es gibt keine Alternativen. Es ist egal, was
wir im Untersuchungsausschuss festgestellt haben und
wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind“? Inwiefern beweist der Bundesumweltminister Mut, wenn er
nach Gorleben geht, um die Entscheidung zu vertreten?
Die Folgen dieser Entscheidung müssen letztlich andere
ausbaden. Wenn sich herausstellt, dass Gorleben alles
andere als geeignet ist, ist der Bundesumweltminister
garantiert nicht mehr in dieser Verantwortung, sondern
bestenfalls Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen.
({4})
Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erkennen, dass man
mit diesem Thema sehr sorgfältig umgehen und Alternativen in Betracht ziehen muss. Der Umweltminister sagt,
Gorleben bzw. die Endlagersuche sei eine nationale Herausforderung. Ich frage Sie: Warum wird diese nationale Herausforderung nur in Gorleben gesucht? Das
kann doch nicht die wahre Antwort sein. Uns liegen inzwischen Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen vor - Stichwort: Gasvorkommen -, durch die - und
die Asse beweist das - massive Zweifel an der Eignung
von Salzformationen geweckt werden.
Ich glaube, die überparteiliche Initiative, deren ganzseitige Anzeige wir heute in der Elbe-Jeetzel-Zeitung lesen können, hat recht. Es geht darum, dass man Verantwortung ernst nimmt, dass man die Risiken ernst nimmt.
Wir müssen für nachfolgende Generationen eine gute
Lösung finden. Wir dürfen nicht in zehn Jahren plötzlich
vor dem Dilemma einer fehlenden Alternative stehen,
weil wir diese Frage nicht beantwortet haben. Die Anzeige schließt mit den Worten:
Reden Sie nicht von Verantwortung - handeln Sie
verantwortlich!
Dass Sie verantwortlich handeln wollen, können Sie
heute beweisen. Das wäre ein erstes Zeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Wir
sind gespannt, wie Sie sich verhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Abend geht es mal wieder um Gorleben. Nachdem man sich in den 60er- und 70er-Jahren des letzten
Jahrhunderts im Konsens aller damals agierenden Parteien für die friedliche Nutzung der Kernenergie entschieden hat, lagert inzwischen der gesamte Müll in
oberirdischen Zwischenlagern, verteilt über die ganze
Republik. Das entspricht tatsächlich keinen guten Sicherheitsstandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bundesminister Röttgen den Erkundungsstopp, der vor zehn
Jahren von Rot-Grün beschlossen wurde, aufgehoben
hat und der Salzstock in Gorleben seit Oktober 2010
wieder ergebnisoffen erkundet wird.
({0})
In Ihrem heute zu diskutierenden Antrag, liebe Kollegen von der SPD, wiederholen Sie schon oft vorgetragene Argumente, die durch Wiederholung nicht besser
werden.
({1})
Die Weitererkundung sei schon deshalb abzulehnen,
weil nach Bergrecht vorgegangen werde.
({2})
Dass die Erkundung auf Grundlage des Bergrechts sowohl rechtens als auch angemessen ist, ist bereits zweimal, 1990 und 1995, höchstrichterlich bestätigt worden.
({3})
Ich zitiere aus dem Urteil. Dort steht ausdrücklich, dass
die untertägige Erkundung eines Standorts noch nicht
der Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlage
sei und deshalb auch die Planfeststellung nach Atomrecht nicht notwendig und auch nicht sinnvoll sei, weil
noch offen gelassen werden müsse, ob denn an diesem
Standort eine solche Anlage tatsächlich errichtet werden
könne oder nicht.
Es gehört einfach zur politischen Kultur in einer Demokratie und einem Rechtsstaat,
({4})
dass man höchstrichterliche Urteile auch dann akzeptiert, wenn sie einem nicht passen. Der Minister hat
mehrfach zugesagt: Die Erkundungsarbeiten sollen ergebnisoffen sein. Sie sollen unter Beteiligung der Öffentlichkeit, der kommunalen Mandatsträger und der
Bürgerinitiativen vorgenommen werden.
({5})
Zusätzlich soll es im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens eine Überprüfung durch internationale Experten
geben. Erst danach findet gegebenenfalls eine Planfeststellung nach Atomrecht statt.
({6})
Jetzt geht es zunächst um die Zusammenfassung und
Bewertung der bislang erhobenen Daten aus der Erkundung im Rahmen einer vorläufigen Langzeitsicherheitsanalyse. Ich kann nachfühlen, dass die Seriosität der Sicherheitsanalyse von Gorleben-Kritikern in Zweifel
gezogen werden kann und dass sie sagen: Es sind möglicherweise nicht die richtigen Experten, nicht die richtigen Fragen, die letztendlich auf den Tisch kommen.
Herr Röttgen bietet ganz konkret die Einbeziehung
der Kritiker an, um tatsächlich alle stritten Fragen zu betrachten und um kritische Experten mit einzubeziehen.
Das wird der Minister sicherlich bei seinem Besuch in
Lüchow-Dannenberg am 14. Februar konkretisieren.
Meine Damen und Herren, ich kann Menschen verstehen,
({7})
die die friedliche Nutzung von Kernenergie zur Stromerzeugung für nicht verantwortbar halten. Ich akzeptiere
aber nicht, dass versucht wird, mit der Verzögerung der
Endlagersuche die Nutzung von Kernenergie zu diskreditieren.
({8})
Deshalb ist die Forderung der SPD, einen Erkundungsstopp zu veranlassen, um das Ergebnis des Untersuchungsausschusses abzuwarten, nichts anderes als ein
weiterer untauglicher Versuch, zu verzögern.
({9})
Wenn die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 in
der sogenannten Ausstiegsvereinbarung schriftlich die
Eignungshöffigkeit des Standortes bescheinigt - ich zitiere: „Somit stehen die bisher gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstocks
Gorleben … nicht entgegen.“ -, dann verstehe ich einfach nicht,
({10})
warum jetzt nicht weiter untersucht werden kann, ob
sich diese Eignungshöffigkeit tatsächlich verifizieren
lässt. Ich frage mich auch, warum gerade in dieser Woche eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie
veröffentlicht wird, die angeblich die Untauglichkeit des
Salzstocks zur Endlagerung wegen des Vorkommens
von Kondensaten, Öl und Gas nachweist.
Ich stelle dazu fest: Erstens. Die Erkundungsbefunde,
die dieser Studie zugrunde liegen, sind mindestens zehn
Jahre alt. Zweitens. Die Weiteruntersuchung dieser Fragestellung wurde durch das Moratorium verhindert.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Voß?
Aber sehr gern, aber erst dann, wenn ich diese Passage beendet habe.
Drittens. Die Daten sind öffentlich zugänglich; denn
sonst hätte Greenpeace sie letztendlich nicht bewerten
lassen können. Viertens. Warum wurde denn dann diese
Studie nicht schon viel früher vorgelegt?
({0})
Sie hatten eigens dazu eine zehnjährige Denkpause eingeschoben. Ich denke, es war keine Pause vom Denken,
sondern eine Pause zum Denken.
({1})
Frau Kollegin Voß, bitte.
Frau Flachsbarth, wir waren heute im gleichen Untersuchungsausschuss. Es ist zum wiederholten Male erklärt worden, dass das Wort „eignungshöffig“ nicht geeignet ist, um im Zusammenhang mit der Eignung von
Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll benutzt zu
werden.
Die Eignungshöffigkeit ist ein Begriff aus dem Bergbau. Ich sage es Ihnen gerne noch einmal. Diesen Begriff
können wir verwenden, wenn ein Bergwerk aufgefahren
wird und erkundet werden soll, ob es dafür taugt, dass
Bodenschätze gefördert werden. Wenn erwartet werden
kann, dass genügend Bodenschätze zutage treten, spricht
man von Eignungshöffigkeit. Wenn Atommüll, der
nichts mehr wert ist und bei dem es sich nicht um einen
Wertstoff handelt, eingelagert werden soll - darüber sagt
das Bergrecht überhaupt nichts aus -, sagt das Wort „eignungshöffig“ gar nichts, aber auch gar nichts aus.
Ebenso wenig kann nach dem veralteten Bergrecht
darüber geurteilt werden, ob Gorleben ein geeigneter
Standort für ein unterirdisches Atommülllager sein kann.
Ich möchte wissen, ob das bei Ihnen nicht angekommen ist, ob Sie das nicht wissen wollen und warum Sie
so hartnäckig dieses Wort, das nicht zutreffend ist, verwenden.
Liebe Frau Kollegin Voß, ich schlage vor, dass Sie zunächst einmal die rot-grünen Kollegen fragen, wie das
Wort „eignungshöffig“ in diese Ausstiegsvereinbarung
geraten ist.
({0})
Wenn es sich um eine völlig unzutreffende Vokabel
handeln sollte, dann verstehe ich nicht, warum Politikergenerationen vor uns diese Vokabel benutzt haben. Wir
nutzen Sie vielleicht noch zum historischen Andenken.
({1})
Außerdem kommt das Bergrecht lediglich hinsichtlich der Untersuchung dieses Salzstocks zur Anwendung, um festzustellen, ob sich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren lohnt. Genau das hat uns das
Bundesverwaltungsgericht in den Jahren 1990 und 1995
bestätigt. Es hat gesagt, dass es überhaupt nicht zulässig
ist, bei der Untersuchung eines Salzstocks das Atomrecht zugrunde zu legen, weil die erforderlichen Daten
noch gar nicht vorhanden sind.
({2})
Diese müssen erst im Rahmen eines bergrechtlichen Verfahrens erarbeitet werden. Danach findet selbstverständlich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren statt.
Man kann in einer Demokratie nicht mehr machen,
als politische Entscheidungen und Verwaltungsentscheidungen höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Wenn sie
überprüft sind, dann muss man diese Urteile akzeptieren.
Denn sonst lässt sich Rechtsfrieden, der für eine zu10184
kunftsfähige Politik dringend notwendig ist, nicht erzielen.
({3})
Ich frage mich: Warum versucht man mit allen Mitteln, die Weitererkundung in Gorleben zu verhindern,
die unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, der
kommunalen Mandatsträger, der Kirchen, der Bürgerinitiativen, kritischer Wissenschaftler und unabhängiger
ausländischer Wissenschaftler in einem transparenten
Verfahren erfolgt?
({4})
Ich frage mich: Warum hat die Opposition eigentlich solche Angst vor der Wahrheit in Gorleben?
({5})
Deutschland hat in einem demokratisch legitimierten
Entscheidungsprozess und im großen gesellschaftlichen
Konsens vor circa 50 Jahren mit der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung begonnen. Wir sind jetzt
aufgefordert - dies ergibt sich aus der Verantwortung
von Demokraten für das Gemeinwesen, die auch für
Konsequenzen aus dem Handeln und Entscheiden in der
Vergangenheit einstehen müssen -, uns ernsthaft und
zielorientiert der Aufgabe der Entsorgung zu stellen.
Frau Kollegin, auch Herr Kelber hat den Wunsch
nach einer Zwischenfrage.
Das ist fantastisch. Dann habe ich noch mehr Redezeit; das ist klasse.
Wenn die längere Redezeit hilft, die Sachlage aufzuklären, ist das in Ordnung.
Genau, Herr Kelber.
Sie versuchen in jeder Rede, immer und immer wieder mit den gleichen Worten die Behauptung aufzustellen, die Opposition hätte Angst vor dem klaren transparenten Verfahren, das Schwarz-Gelb gewählt hat.
({0})
- Ja, gröhl, gröhl, gröhl, das geht wunderbar. - Warum
verwenden Sie zwar das Bergrecht - darauf bestehen
Sie; gerade haben Sie sich zum Atomrecht geäußert -,
nehmen aber das veraltete Bergrecht, das weder den Expertinnen und Experten noch den Bürgerinnen und Bürgern die Beteiligung rechtlich zusichert, und nicht etwa
das vor einigen Jahrzehnten novellierte Bergrecht, in
dem diese Rechte verbrieft sind und nicht vom Minister
je nach Gusto eingezogen und erteilt werden können?
Glauben Sie nicht, dass die Bürger Sie ernster nehmen
würden, wenn sie das Recht hätten, das seit zwei Jahrzehnten jeder andere Bürger in dieser Republik hat,
wenn etwas nach Bergrecht geplant wird? Warum trauen
Sie sich da nicht? Sie können nicht daran vorbeireden.
({1})
Weil wir, ehrlich gesagt, Herr Kelber, mitten im Verfahren sind, eigentlich auf den letzten Metern eines
100-Meter-Laufes, die wir jetzt hinter uns bringen wollen,
({0})
um so zügig wie möglich endlich herauszufinden, ob
dieser Salzstock in Gorleben geeignet sein könnte oder
nicht.
({1})
Minister Röttgen hat ausdrücklich angeboten, dass es
Beteiligung geben wird, sowohl in Bezug auf die Benennung der Expertinnen und Experten im Rahmen der
Langzeitsicherheitsanalyse als auch in Bezug auf das
Stellen eigener Fragen zu kritischen Punkten bezüglich
des Salzstocks Gorleben. Ich nenne die Gorlebener
Rinne und Kondensatvorkommen. Hier ist es ohne
Zweifel so, dass Experten von außen mithelfen sollen,
diese Punkte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Auf jeden Fall wollen wir jetzt zügig Klarheit darüber bekommen, ob dieser Salzstock als Endlager geeignet ist oder
nicht, ob dort ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren eröffnet werden sollte oder nicht. Herr Kelber, ich
kann die Behauptung, dass dieses Verfahren die Interessen der Menschen vor Ort nicht vollumfänglich mit berücksichtigt, nicht nachvollziehen.
({2})
Ich kann nicht erkennen, Herr Kelber, dass das Insistieren auf den Wortlaut aktualisierter Gesetze die Situation
wirklich verbessert. Hier verweise ich auf Stuttgart 21, wo
tatsächlich alles an öffentlicher Beteiligung, so wie die
Gesetze es vorschreiben, und an parlamentarischen Entscheidungsprozessen, so wie die Gesetze es vorschreiben,
erfolgt ist, aber dennoch keine öffentliche Akzeptanz erzielt worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass die
Menschen vor Ort, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, die
Gewerkschaften, die kommunalen Vertreter, jeder, der ein
berechtigtes Interesse hat, in diesen Prozess einbezogen
werden.
({3})
- Wenn das so ist, freue ich mich ganz besonders.
({4})
Wir bieten Ihnen an, an diesem Dialogprozess mitzuwirken. Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Dialogprozess unterstützen würden, sodass wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung für diesen Standort, aber
auch für die Entsorgung von hochradioaktiven Abfällen
gemeinsam nachkommen können.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn es der Bundesregierung um einen Dialog mit den
Bürgerinnen und Bürgern des Wendlands gegangen
wäre, dann hätte sie nicht ein Dreivierteljahr verstreichen lassen, nachdem die Bürgerinitiativen, die örtlichen
Initiativen und der Kreistag um ein Gespräch gebeten
haben. Darum wurde letztes Jahr im Frühjahr oder Frühsommer gebeten. Aber nein, erst jetzt hat der Minister
Zeit: erst jetzt, nachdem das Atomrecht verändert wurde,
erst jetzt, nachdem die Laufzeiten der Atomkraftwerke
verlängert wurden.
({0})
Was bedeutet die Laufzeitverlängerung? Die Laufzeitverlängerung bedeutet circa 500 weitere Castoren
mit hochradioaktivem Müll.
({1})
Die Änderung des Atomgesetzes - sie wurde angesprochen - bedeutet unter anderem, dass Enteignungsmöglichkeiten geschaffen wurden, um Gorleben - so nennt
man es - weiter zu erkunden.
Dass jetzt ein Gespräch stattfinden soll, das müssen
die Bürgerinnen und Bürger, das muss der Kreistag als
Alibiveranstaltung verstehen. Sehr deutlich formuliert er
dies in einem offenen Brief, der von allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen und fast allen Fraktionen im
Kreistag unterschrieben ist, übrigens auch von der FDPFraktion.
({2})
Wie ich höre, ist auch die CDU-Fraktion nicht besonders
glücklich über das Vorgehen.
Ich möchte zwei Stellen aus diesem offenen Brief zitieren.
Sie aber
- so dieser offene Brief bieten uns lediglich einen „Dialog“ an, der „die Arbeiten im Salzstock Gorleben begleiten“ soll. Während dort die Baumaschinen bereits Fakten schaffen.
Es wird deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger betrachten das als eine Alibiveranstaltung und haben das Gefühl, es werden Tatsachen geschaffen, wie seit 30 Jahren
Tatsachen geschaffen werden, ohne dass sie wirklich gehört und ihre Ängste und Bedenken wahrgenommen
werden.
Weiter heißt es:
Herr Bundesumweltminister, wir wollen eine offene
und transparente Debatte über das Atommüllproblem. In ganz Deutschland. Keinen regionalen
Scheindialog.
Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; das wird Woche für Woche auch im Untersuchungsausschuss deutlich. Es wird in diesem Land nicht über die Frage diskutiert: Wohin mit dem Müll, den wir seit 50 Jahren
produzieren? Es wird weiter in Gorleben erkundet, obwohl seit 30 Jahren klar ist, dass es zumindest sehr große
Zweifel an der Eignung dieses Salzstockes gibt.
Es wird weiter erkundet, weil dieser Salzstock der
Entsorgungsnachweis für die in Betrieb befindlichen
Atomkraftwerke ist. In dem Moment, in dem klar wäre,
dass Gorleben ungeeignet ist, müssten die Betriebsgenehmigungen zurückgenommen werden. Dass das im
Moment politisch nicht passt, ist vollkommen klar. Aber
daran wird deutlich, dass im Moment, genau wie in den
letzten 30 Jahren, nicht die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger, nicht der Stand von Wissenschaft und Technik und nicht die Sorge um zukünftige Generationen im
Fokus Ihrer Betrachtungen stehen, sondern nur der Weiterbetrieb und die Möglichkeit, den Konzernen weiterhin
Geld zuzuschustern. Das hören wir Woche für Woche
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus der heutigen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der ein
mit der Erkundung befasster Ingenieur sagte:
({3})
Selbst mit den besten technischen Bauwerken - die man
bei Brücken oder Tunneln vielleicht verantworten kann,
die man bei Zeiträumen von 1 Million Jahre aber nicht
verantworten kann, weil man die Havarie unter Umständen nicht mehr feststellen wird - und unterirdischen
Maßnahmen wird man aus einem maroden Kübelwagen
keinen Mercedes machen. - Genau darum geht es. Es ist
längst widerlegt, dass die Grundvoraussetzungen, die Sie
am Anfang immer eingefordert haben, zum Beispiel ein
intaktes Deckgebirge, erfüllt sind. Sie versuchen weiterhin, Möglichkeiten zu finden, um diesen Salzstock zu
rechtfertigen, obwohl längst deutlich ist: Die Eignung ist
nicht gegeben.
Ich danke.
({4})
Angelika Brunkhorst ist nun die nächste Rednerin für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD nimmt das Angebot des Bundesumweltministers zum offenen Dialog mit den Bürgern vor Ort heute
zum Anlass, um erneut die Unterbrechung der Erkundungsarbeiten für die Dauer des Untersuchungsausschusses zu fordern. Das haben Sie schon mehrfach versucht. Sie wissen ganz genau, dass das unsinnig ist;
({0})
denn im Untersuchungsausschuss zu Gorleben wird das
Regierungshandeln der Vergangenheit untersucht, nicht
aber die Eignung bzw. Nichteignung
({1})
des Salzstockes Gorleben festgestellt.
({2})
Das sollten wir hier doch noch einmal festhalten.
Ihre Forderung ist entlarvend; das hat meine Vorrednerin, Frau Flachsbarth, auch schon gesagt. Es geht Ihnen nicht um Aufklärung, um zu wissen, was mit dem
Salzstock ist, sondern es geht Ihnen darum, die Entscheidung über die Endlagerfrage weiter zu verzögen. Ich
kann Ihnen sagen: Das machen wir so nicht mit. Denn
dem Bund obliegt die Aufgabe, die Endlagersuche voranzutreiben. Die christlich-liberale Koalition stellt sich
dieser Verantwortung, und wir werden diesen Standort
auch weiterhin ergebnisoffen erkunden lassen. Das
heißt, wenn er nicht geeignet ist, dann wird dort auch
kein Endlager gebaut.
({3})
Ich muss an dieser Stelle noch einmal sagen: In den
rund zehn Jahren, in denen die SPD mit an der Regierung
war - ich betone dies natürlich immer wieder gerne -,
sind wir keinen Schritt weitergekommen. Damals wurde
der Ausstiegskonsens mit dem Hinweis bestätigt, dass
die geologischen Befunde nicht gegen eine Eignungshöffigkeit des Standorts Gorleben sprechen. Darüber
kann man sich ja streiten, aber ich frage Sie: Warum haben Sie diese zehn Jahre verdammt noch mal nicht genutzt? - Sie hätten vieles auf den Weg bringen können.
Es ist aber nichts passiert.
({4})
Meine Damen und Herren, wir finden in Ihrem Antrag das große Wehgeschrei darüber, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Die
Arbeiten im Rahmen der Erkundung betreffen die Natur;
es sind bergmännische Tätigkeiten. Es geht um Fragen
der Geologie und Hydrologie. Diese Aspekte finden natürlich im Bergrecht ihren Niederschlag.
({5})
Das Atomrecht kümmert sich um Strahlenschutz. Im
Moment gibt es im oder um den Berg herum allerdings
noch keine strahlenden Abfälle. Deswegen ist das Atomrecht im Moment nicht relevant.
({6})
- Die Zwischenlager sind auf Initiative des damaligen
Umweltministers Trittin eingerichtet worden, Frau
Kotting-Uhl. Bitte erinnern Sie sich doch einmal.
({7})
Im Untersuchungsausschuss ist auch klar geworden,
dass es bereits in der Vergangenheit Öffentlichkeitsbeteiligung, Aufklärung und Informationen gab.
({8})
Es sind viele Fachvorträge gehalten worden. Es sind
Bohrergebnisse veröffentlicht worden, und es ist natürlich auch die Gorleben-Kommission zur Information der
Kommunalpolitiker und Verbände eingerichtet worden.
Letztendlich hat es auch das Informationszentrum gegeben. Insofern können wir uns überhaupt nicht darum herumdrücken.
Die Erkundungen werden fortgeführt.
({9})
- Warten Sie es doch ab.
Darüber hinaus wollen Sie, dass wir die Möglichkeit
der Enteignung zurücknehmen. Es gibt zwei Gründe,
weswegen wir das nicht machen werden.
Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf. Da
muss ich Ihnen sagen: Über Gesetzesänderungen entscheiden immer noch wir im Parlament, also der Deutsche Bundestag. Insofern ist die Bundesregierung der
falsche Adressat.
({10})
Zweitens. Die Möglichkeit der Enteignung ist das allerletzte Mittel zur Sicherstellung der Endlagerung. Das
Grundgesetz und auch viele Fachgesetze sehen die Enteignung als Ultima Ratio für Großprojekte ausdrücklich
vor. Sie wird natürlich nur dann zur Anwendung kommen, wenn es absolut unumgänglich ist.
Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass
die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Bundes,
eine Endlagereinrichtung zu erkunden und einzurichten,
durch die Weigerung eines einzigen Eigentümers gestoppt werden kann. Die Rechte und Möglichkeiten des
Eigentümers, das Land zu nutzen, um weiterhin Landund Forstwirtschaft zu betreiben, werden noch nicht einmal beeinträchtigt. Vielmehr geht es darum, im tiefen
Untergrund Schächte auffahren zu können, um Erkundungen vorzunehmen.
({11})
- Doch, das ist wahr.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Bereits
von 1998 bis 2002 war die Enteignungsmöglichkeit Bestandteil des Atomgesetzes. Wenn Sie von der SPD oder
vielleicht auch andere hier im Raum daran glauben,
({12})
dass man solche Großprojekte konsensual durchsetzen
kann, dann bewundere ich Sie für Ihre Träume.
({13})
- Auch dort wird es Proteste geben, wenn es letztlich zur
Umsetzung kommt.
Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal zwei Zitate bringen:
Es hat 2001 ja eine Anhörung zum Atomkonsens gegeben. Das BfS hat dort damals gesagt - ich zitiere -:
Die Enteignungsvorschriften werden zwar zurzeit
nicht benötigt, müssen aber zum gegebenen Zeitpunkt im Atomgesetz vorhanden sein.
In das gleiche Horn hat damals die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie gestoßen:
Die jetzige Aufhebung dieser Bestimmungen wird
alles andere als hilfreich sein, wenn die zügige Errichtung von Anlagen zur Endlagerung notwendig
ist.
({14})
Derzeit gibt es weder im Bergrecht noch im Atomrecht Möglichkeiten der Enteignung zum Zwecke der
Erkundung. Deswegen haben wir das in den § 9 d ff. des
Atomgesetzes wieder eingeführt.
Ein weiterer Sachverständiger, Herr Professor Georg
Hermes - er ist Professor für Öffentliches Recht -, hat in
dieser Anhörung damals gesagt - ich zitiere -:
Die Aufhebung von den Enteignungsvorschriften
… kann nur so verstanden werden, dass ein Endlager nicht ernsthaft verwirklicht werden soll.
Wollen Sie sich anheften lassen, dass Sie gar kein Endlager wollen? Sie waren ja auch dafür, das Moratorium bis
in alle Ewigkeiten fortzuführen. Man muss Ihnen wirklich unterstellen, dass Sie am Endlager nicht wirklich interessiert sind.
({15})
Ich sehe die 12. Atomgesetz-Novelle als richtige Voraussetzung an. Sie wird uns handlungsfähig machen. Jeder Eigentümer kann die Rechtmäßigkeit der Enteignung
natürlich auch gerichtlich überprüfen lassen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Ich möchte gerne noch Frau Menzner ganz kurz
ansprechen. Sie haben gesagt. Wenn Gorleben als möglicher Standort entfällt, dann ist die Laufzeitverlängerung
nicht mehr legitimiert. - Ich muss Ihnen sagen: Auch unter Rot-Grün sind die Kernkraftwerke gelaufen. Auch
damals hatte man Zwischenlager. Wir haben diese Zwischenlager weiterhin. Die Zwischenlager waren und sind
Legitimation dafür, dass die Laufzeiten auch verlängert
werden können.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was hat die Koalition in Bezug auf Gorleben als Erstes
getan? Sie hat die Wiederaufnahme der Arbeiten an Gorleben beschlossen, anstatt das Instrumentarium, das nach
der Zeit von Rot-Grün endlich vorlag, zu nutzen, um
eine transparente, ergebnisoffene Endlagersuche vorzunehmen.
Warum sie das getan hat, ergibt sich logischerweise
aus der geplanten und dann auch beschlossenen Laufzeitverlängerung. Es ging wieder einmal um den Entsorgungsvorsorgenachweis, den man dringend brauchte,
und man konnte sich wieder einmal keine Verzögerung
leisten. Das kennen wir ja spätestens aus dem Untersuchungsausschuss zu Gorleben. Es geht immer darum,
dass die Zeit drängt und dass man vorankommen will,
weil man ein Atomprogramm im Kopf hat. So fügt sich
eines zum anderen.
Als Nächstes haben Sie dann den § 9 d ins Atomgesetz eingefügt. Sie wollen nach Atomrecht enteignen,
um dann nach Bergrecht weiterzubauen, und zwar nach
einem uralten Rahmenbetriebsplan von 1983, der in kei10188
ner Weise etwas mit dem zu tun hat, was dort seitdem
gebaut wurde.
({0})
Die Schächte stimmen nicht, die Erkundungsbereiche
stimmen nicht, und die Richtstrecken gehen nach Norden statt nach Süden. Nichts stimmt mit diesem alten
Rahmenbetriebsplan überein.
Warum nehmen Sie den? Auch das liegt völlig auf der
Hand: Sie wollen keine Öffentlichkeitsbeteiligung, es
geht ausschließlich nach altem Bergrecht. Das ist der
einzige Grund dafür, dass Sie das machen.
({1})
Jetzt bieten Sie großzügig den Dialog an. Ich habe
diese schöne große Anzeige, mit der hier geworben wird,
einmal mitgenommen und möchte einfach einmal ein
paar Stellen daraus zitieren. Sie werben:
Sollte sich der Salzstock als ungeeignet erweisen,
müssen wir neue Wege finden.
Worauf warten Sie denn? Sie sind offensichtlich davon überzeugt - das stelle ich Ihnen anheim; Sie haben
ja manchmal eigenartige Vorstellungen -, dass dieser
Salzstock trotz allem, was gerade Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, im Untersuchungsausschuss hören, geologisch geeignet ist. In Ihren Augen ist das so. Er ist aber
gesellschaftspolitisch nicht geeignet. Wie wollen Sie
denn heilen, dass dort kein sozialer Prozess stattgefunden hat?
({2})
- Mit Ihnen rede ich im Moment gar nicht.
Ich zitiere eine Zeugin aus dem Untersuchungsausschuss. Sie sagte: „Ich habe mein Vertrauen in Politiker
verloren.“ Marianne Fritzen, eine konservative alte
Dame, ist die Begründerin der BI Lüchow-Dannenberg.
Sie hat uns im Untersuchungsausschuss berichtet, dass
sie sich beobachtet, bedroht und mit ihren Fragen nicht
ernst genommen gefühlt hat und dass sie sich den Zugang zur Gorleben-Kommission erschleichen musste,
wenn sie an dem damaligen Dialogangebot teilnehmen
wollte.
({3})
- Das ist die Wahrheit, Herr Grindel. Sie dürfen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
({4})
Dann gehe ich gerne darauf ein. Aber auf Ihre dummen
Zwischenrufe, die ich schon aus dem PUA kenne, reagiere ich nicht.
({5})
Ich mache weiter und zitiere noch einmal aus der
schönen Anzeige:
Sicherheit steht für uns kompromisslos an allererster Stelle.
Warum ignorieren Sie dann das nicht intakte Deckgebirge, die Nähe zum Anhydrit und die Gasvorkommen?
Warum werden warnende Wissenschaftler diskreditiert?
Warum das alles, wenn Sicherheit kompromisslos an erster Stelle steht? Das glauben Ihnen die Menschen vor Ort
nicht mehr, und zwar zu Recht.
({6})
Anschließend soll ein Peer Review das Ganze heilen.
Wer aber hat denn weltweit Erfahrungen mit Salz? Kein
Land außer Deutschland versucht Endlagerung im Salz.
Wir haben die Erfahrungen in Asse und Morsleben. Das
sind die Erfahrungen mit Salz, die es gibt.
({7})
Ich zitiere weiter:
Zur Unterstützung des Dialogs werden finanzielle
Mittel zur Verfügung gestellt - zum Beispiel für
die Hinzuziehung von Experten, für Weiterbildungsmaßnahmen oder auch für geeignete Räumlichkeiten für Veranstaltungen. Wir stellen uns vor,
in regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen gemeinsam über die Ergebnisse zu beraten. Außerdem
muss es umfangreiche Möglichkeiten für Besucherinnen und Besucher geben, sich selbst ein Bild
vom Erkundungsbergwerk Gorleben zu machen.
Das sagt ein Minister, der bis zum Beschluss der AtGNovelle den Salzstock Gorleben noch nie von innen gesehen hatte.
({8})
Sie haben eine Menge Fehler gemacht. Sie haben
ohne Not die Laufzeitverlängerung und die Vermehrung
des Atommülls beschlossen. Sie halten trotz aller Zweifel an Gorleben fest und machen da weiter, wo Merkel
und Kohl 1998 gestoppt wurden. Als letzte vertrauensbildende Maßnahme schreiben Sie die Enteignung im
Atomgesetz fest.
Jetzt kommen Sie mit einem vergifteten Dialogangebot. Wundern Sie sich nicht, dass die Menschen vor Ort
das nicht annehmen. Es ist höchste Zeit, mit Menschen,
die ernst genommen werden müssen, anders umzugehen.
Lernen Sie das!
({9})
Nun hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ergebnisoffen und transparent soll der Salzstock
Gorleben zu Ende erkundet werden. Dies war nicht nur
ein Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2009,
sondern es wird von Minister Norbert Röttgen mit der
Vorstellung des Dialoges auch eingelöst.
Das Dialogkonzept wird, wie bereits gesagt wurde,
am kommenden Montag im Kreistag von Lüchow-Dannenberg in Hitzacker präsentiert. Ich finde es sehr interessant, Herr Dr. Miersch, dass Sie das Konzept schon
im Vorfeld als Pseudodialog und Makulatur verurteilen.
({0})
- Sie kennen es doch gar nicht. Nun warten Sie erst einmal ab, was kommt. Die christlich-liberale Koalition
wird die Menschen umfassend über jeden einzelnen
Schritt der Sicherheitsanalyse, der Erkundungsmaßnahmen und auch des Peer Reviews umfassend informieren.
({1})
- Hören Sie zu! - Zudem werden die Menschen in der
Region die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung
des Dialoges einzubringen.
({2})
Wir haben doch selbst ein großes Interesse daran, dass
alle Argumente, egal ob für oder wider die Eignung Gorlebens, auf den Tisch kommen. Ich kann Sie daher nur
alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposition, die ausgestreckte Hand des Ministers zu ergreifen
und sich an dem Dialog zu beteiligen.
Als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkreises habe ich auch laufend mit dem Thema Gorleben zu
tun. Die Menschen in der Region Gorleben und in der
Samtgemeinde Gartow sehnen sich nach einer Antwort,
ob der Salzstock Gorleben geeignet ist oder nicht.
({3})
Sie argumentieren, wir hätten die Entscheidung zur
Erkundung getroffen, ohne die Bürger zu beteiligen.
Rot-Grün hat das Moratorium auf maximal zehn Jahre
begrenzt. Dieses Moratorium ist jetzt ausgelaufen, und
die logische Konsequenz ist ja dann, dass die von Ihnen
festgelegten zehn Jahre vorbei sind, sodass ergebnisoffen weiter erkundet wird.
({4})
Es muss nun endlich Schluss sein! Zehn Jahre lang
haben Sie diese Region und ihre Menschen in Geiselhaft
genommen, zehn Jahre lang haben Sie die Suche nach
einem Endlager nicht vorangetrieben, auch anderswo
nicht.
({5})
Auch bis heute ist nicht klar, wie die SPD mit der Problematik hochradioaktiver Abfälle umgehen will. Bringen Sie doch erst einmal vernünftige, konkrete Konzepte!
Sie stellen sich überall auf die Marktplätze und tönen
herum, der Salzstock Gorleben sei ungeeignet und darüber hinaus sowieso ein Schwarzbau. Aber während
Ihrer Regierungszeit haben Sie es auch nicht fertiggebracht, das Projekt Gorleben einfach zu beerdigen.
({6})
Den sogenannten Schwarzbau haben Trittin und Gabriel
jahrelang munter geduldet. Warum hat Rot-Grün denn
nicht den Deckel auf das Erkundungsbergwerk gelegt?
Erstens, weil Sie dann die Frage nach einem anderen
möglichen Standort hätten beantworten müssen. - Frau
Vogt, in Baden-Württemberg.
({7})
Zweitens, weil die Herren Trittin und Schröder am
14. Juni - wir haben es schon gehört - die Äußerung unterschrieben haben, dass die bisher gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit, Frau Voß, des
Salzstocks Gorleben - dieser Ausdruck kommt ja auch
aus den Reihen von Rot-Grün - nicht entgegenstehen.
Das haben sie unterschrieben.
Ferner bemängeln Sie erneut, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Wir
haben das schon gehört. Bloß, die Erkundung kann ja
nur nach Bergrecht erfolgen, weil es sich um ein Erkundungsbergwerk und nicht um eine nukleare Anlage handelt.
Herr Kollege Pols, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Herrn Kollegen Kelber?
Herr Kelber.
({0})
Je häufiger Sie Nein schreien, desto mehr Spaß macht
es mir ja. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir kein
Verfahren begonnen hätten, um auch mögliche andere
Standorte zu finden. Sie sind ja seit 2009 Mitglied des
Deutschen Bundestags. Haben Ihre Kolleginnen und
Kollegen, die schon länger Mitglied sind, Sie nicht darüber informiert, dass die Fraktion der CDU/CSU im
Jahr 2006 einen Entwurf für ein Endlagersuchgesetz in
der Großen Koalition abgelehnt hat?
({0})
Ja, darüber haben sie mich informiert, aber die Kollegen haben gleichzeitig gesagt, dass wir Gorleben zu
Ende erkunden wollen. Wir wollen die Erkundung von
Gorleben nicht abbrechen; denn wir wollen wissen, was
in Gorleben möglich ist. Ist Gorleben geeignet oder
nicht? Das ist die ganz einfache Frage, die wir beantworten wollen, und nichts anderes, Herr Kelber.
({0})
Frau Menzner, auch die Behauptung, das Angebot des
Dialogs komme zu spät, ist ein sehr schwaches Argument. Denn bereits im Mai 2010, also ein gutes halbes
Jahr nach der Bundestagswahl, hat sich Minister Röttgen
gemeinsam mit gewählten Vertretern der Standortkommunen - und das auch unter Beteiligung der örtlichen
SPD - darüber unterhalten, wie ein Dialog aussehen
könnte.
({1})
Also ist dieses Argument auch nur ein Scheinargument.
Wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Generationen die Pflicht, dieses Entsorgungsproblem zu lösen. Denn unsere Generation hat die Kernenergie genutzt, wir haben davon profitiert. Zudem brauchen wir ja
auch eine Lösung für die Zeit - das ist ja das, was Sie
auch wollen -, wenn die Kernkraftwerke zurückgebaut
werden. Dann müssen die kontaminierten Bauteile ja
auch irgendwo gelagert werden. Auch darüber muss man
sich dann mal Gedanken machen.
({2})
Dann noch mal zur Forderung, die Möglichkeit zur
Enteignung zurückzunehmen. In der Diskussion wird
immer wieder der Eindruck erweckt, wir würden dem
Grafen Bernstorff seinen Wald wegnehmen. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wir wollen auch keine Bürger
aus ihren Häusern vertreiben. Es geht hier tatsächlich um
Salzrechte in Tausenden von Metern Tiefe, die wir gegebenenfalls mal erkunden wollen.
({3})
Die Möglichkeit zur Enteignung ist im Übrigen bei Infrastrukturmaßnahmen natürlich eine ganz normale
rechtliche Regelung - Frau Brunkhorst hat das schon angesprochen -,
({4})
die wir im Bundesbaugesetzbuch finden.
Die Allgemeinheit muss also die Möglichkeit haben,
sich bei national bedeutsamen Maßnahmen auch über
den Weg der Enteignung und der damit verbundenen
Entschädigung die entsprechenden Flächen - in diesem
Falle die Salzrechte in Gorleben - zu sichern.
Rot-Grün hat mit dem Moratorium die Region in eine
über zehnjährige Ungewissheit gestürzt. Ich finde es
schon sehr anmaßend, dass ausgerechnet Sie glauben, zu
wissen, wie die Bürgerinnen und Bürger das Dialogkonzept bewerten, zumal es ja noch gar nicht bekannt ist,
wie ich am Anfang auch schon ausführte.
Ich frage Sie: Wo war die Bürgerbeteiligung unter
Trittin, und wo war sie unter Gabriel? Die gab es gar
nicht.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, außer Ihrem Dagegensein präsentieren Sie leider wieder
einmal gar nichts. Nehmen Sie doch lieber die Chance
zum Dialog wahr, die wir Ihnen anbieten. Beteiligen Sie
sich mit naturwissenschaftlich fundierter Kritik an diesem Dialog zum Erkundungsprozess, und präsentieren
Sie uns Vorschläge, wie wir mit dem Problem dieser
hochradioaktiven Abfälle verfahren sollen.
({6})
Dann nehmen wir Ihre Anträge wieder ernst. Ihr Antrag ist viel zu dünn. Sie haben es gerade einmal auf eine
DIN-A4-Seite gebracht. Das ist angesichts dieses hochbrisanten Themas von nationalem Interesse sehr schwach.
Vielen Dank.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute
Vogt für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin,
mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Umweltminister zitieren. Er sagt:
Da geht es nicht nur um Information und Transparenz. Das ist das Angebot einer aktiven Teilhabe,
das es so noch nicht gegeben hat.
({0})
Nachdem im Deutschen Bundestag im Herbst letzten
Jahres ein Gesetz verabschiedet worden ist, das die
Müllmenge beim atomar strahlenden Müll um mehrere
Tausend Tonnen zusätzlich erhöht, das für Gorleben
mehrere hundert Castoren zusätzlich bedeutet, nachdem
Sie im Herbst 2010 beschlossen haben, dass in Gorleben
Enteignungen stattfinden sollen und es zur Neuerkundung des Bergwerks kommt, stellt sich der Minister hin
und erzählt etwas von einem Dialog. Das ist kein Dialog.
So, wie der Minister es vorbringt, ist es ein Pseudodialog, der die Menschen im Wendland verhöhnt.
({1})
Ein Dialog hat dann einen Sinn, wenn mitgeredet werden kann und noch die Möglichkeit zu einer Entscheidung besteht. Ein Dialog, der nur noch dazu dient, die eigenen Entscheidungen zu rechtfertigen, hat nichts mehr
mit einem Gespräch zu tun. Es ist vielmehr der Versuch,
zu beschönigen und Publizität zu erlangen. Das geschieht in einer Atmosphäre, in der man die Menschen
vor vollendete Tatsachen stellt.
({2})
- Frau Flachsbarth, wenn Sie sagen, in dem GorlebenUntersuchungsausschuss gehe es nur um Regierungshandeln in der Vergangenheit,
({3})
dann haben Sie insofern recht, als das der Untersuchungsgegenstand ist.
({4})
Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen aus dem
Untersuchungsausschuss, deutlich wahrzunehmen, dass
das Regierungshandeln aus der Vergangenheit für die
Menschen im Wendland heute handfeste und spürbare
Folgen nach sich zieht.
({5})
Ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir kommen mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass es damals
nicht mit rechten Dingen zuging, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse nicht zum Tragen gekommen sind,
({6})
dass man noch nicht einmal die Empfehlungen zu alternativen Standortuntersuchungen wahrgenommen hat,
dass der Stand von Wissenschaft und Technik nicht berücksichtigt worden ist. Das haben wir heute Morgen
erst gehört. In einer solchen Situation sagen Sie: Wir machen weiter wie bisher, das, was in der Vergangenheit
war, interessiert uns nicht.
({7})
Was in der Vergangenheit rechtswidrig war, kann doch
nicht heute plötzlich rechtmäßig sein, nur weil es 20
oder 30 Jahre her ist.
({8})
Das ist ein falsches Rechtsverständnis, das Sie hier an
den Tag legen.
({9})
Es war interessant, dass Sie vorhin selbst gesagt haben - das fand ich bemerkenswert, liebe Frau
Flachsbarth -, es gehe bei Gorleben um die letzten Meter.
({10})
Da habe ich in der Tat aufgemerkt. Nach der Maßgabe
des Ministers geht es doch eigentlich gar nicht um die
letzten Meter. Der Minister erzählt uns immer, er wolle
alles ergebnisoffen gestalten. Sie haben die Wahrheit gesagt: Es sind die letzten Schritte, weil Sie Gorleben brauchen. Gorleben ist für Sie notwendig, um die Atomkraft
überhaupt noch rechtfertigen zu können. Ohne dieses
Lager könnten die Laufzeiten nicht verlängert werden,
und die Atomkraftwerke müssten schon längst geschlossen sein.
Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir es
in unserem Moratorium geschafft, ein Verfahren für eine
alternative Standortsuche zu entwickeln, bei der die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden. Wenn Sie wissen möchten, wie das funktioniert, dann empfehle ich Ihnen einen Blick in die Schweiz. Dort werden sogar
Bürgermeister Ihrer Partei, die in Südbaden leben, in die
Verfahren einbezogen. Man redet von Anfang an mit den
Menschen, und Alternativen werden geprüft, um die
beste Lösung zu finden.
Das ist das Verfahren, das Rot-Grün entwickelt hat.
Sie haben 2006 verhindert, dass dieses Verfahren in
Deutschland zur Anwendung kommt.
({11})
Das hätte Akzeptanz geschaffen,
({12})
aber nicht Ihre Beschlüsse und die Politik der vollendeten Tatsachen, die Sie hinterher mit einem Pseudodialog
rechtfertigen wollen. Sie haben nur noch die folgende
Möglichkeit: Nehmen Sie unser niederschwelliges Angebot an. Stimmen Sie dem Antrag zu. Dann können Sie
wenigstens ein bisschen von der Dialogbereitschaft retten und zeigen, dass es Ihnen ernst damit ist, die Menschen mitzunehmen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4678 mit dem
Titel „Gorleben - Echter Dialog statt Enteignung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Koalitionsfraktionen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 17/4231 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/4720 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Undine Kurth ({1})
Interfraktionell wurde vereinbart, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden, sodass wir gleich zur Ab-
stimmung kommen.1) Der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4720, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/4231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten
- Drucksache 17/4677 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
1) Anlage 3
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
Abend geht es um Maschinenpistolen und um Sturmgewehre, es geht um einen deutschen Waffenhersteller, der
möglicherweise solche Waffen illegal exportiert hat, und
es geht darum, dass die Bundesregierung darauf bis
heute überhaupt nicht angemessen reagiert hat. Wir von
den Linken finden es grundsätzlich falsch, dass Deutschland überhaupt Geld damit verdient, Waffen in alle Welt
zu exportieren. Das ist schmutziges Geld,
({0})
weil alle diese Waffen irgendwann irgendwo im Krieg
landen. Das gilt vor allem für Kleinwaffen. Kleinwaffen - das hört sich immer so niedlich an, aber Kleinwaffen sind Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Kalaschnikows und wie sie alle heißen. In den Kriegen dieser
Welt sterben mehr Menschen durch Kleinwaffen als durch
alle anderen Waffensysteme zusammengenommen.
Es gibt eine Zahl von UNICEF, die wirklich beeindruckend ist. Jeden Tag werden über 1 300 Menschen mit
Kleinwaffen erschossen, in jeder einzelnen Minute gibt
es einen Toten durch Kleinwaffen. Einer der größten Exporteure für Kleinwaffen ist der deutsche Hersteller
Heckler & Koch aus Baden-Württemberg. Es gibt Schätzungen, dass Heckler & Koch mittlerweile 7 Millionen
bis 10 Millionen Waffen weltweit im Umlauf hat. Es gibt
keinen einzigen Konflikt auf der Welt, in dem nicht auch
eine Waffe von Heckler & Koch dabei ist. Ob das ein
Volksaufstand in Thailand ist, ob das in Ägypten ist oder
in Saudi Arabien - überall finden Sie diese Waffen. Das
zeigt vor allem eines: dass die deutsche Rüstungsexportkontrolle praktisch nicht existiert. Sie ist löcherig wie
ein Schweizer Käse; denn es gibt fast keine Waffe, die
nicht in fast alle Länder dieser Welt exportiert werden
darf. Es wird fast alles erlaubt.
Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen betraf Heckler & Koch. Damit sind wir bei dem
Fall, um den es geht. Heckler & Koch hatte die Genehmigung, Sturmgewehre nach Mexiko zu liefern. Die
Bundesregierung hat aber die Auflage erteilt, dass
Heckler & Koch in vier Provinzen von Mexiko nicht liefern darf, weil es dort blutige Unruhen gibt. Seit Jahren
kämpfen dort Drogenbarone gegen die Polizei. Das sind
Unruheprovinzen. Die Bundesregierung hat gesagt: dorthin nicht.
Es gab eine Strafanzeige, es gibt Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft, weil der dringende Tatverdacht beJan van Aken
steht, dass Heckler & Koch trotzdem auch in diese vier
Provinzen Sturmgewehre geliefert hat. Das Verfahren
läuft noch. Aber was macht die Bundesregierung? Sie
hat eine Entscheidung getroffen, die absolut unlogisch
und unverständlich ist. Das muss man sich einmal vorstellen. Sie sagt: Okay, es gibt ein staatsanwaltschaftliches Verfahren, deswegen werden die Genehmigungen
für Heckler-&-Koch-Exporte nach Mexiko ausgesetzt.
Das müssen Sie mir einmal erklären. Entweder ist
diese Firma zuverlässig. Dann darf sie überall hin exportieren. Oder man sagt: Nein, es besteht ein dringender
Tatverdacht, es wird eine kriminelle Machenschaft vermutet. Dann ist die Firma insgesamt unzuverlässig, und
dann darf sie nicht nur nicht nach Mexiko, sondern in die
ganze Welt nicht exportieren.
({1})
Wir fordern heute als Einziges, dass Heckler & Koch
bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung überhaupt nichts mehr exportieren darf. Ich finde
das nur logisch. Mir muss bitte irgendjemand von der
FDP, von der CDU oder von der CSU erklären, wieso
Sie dieser Firma, bei der im letzten Dezember eine
Hausdurchsuchung stattgefunden hat, immer noch erlauben wollen, dass sie ihre Kleinwaffen in die ganze Welt
außer nach Mexiko liefern darf. Das ist einfach nur unlogisch.
({2})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte, und ich
finde, es ist eine richtig gute Idee, bei den tödlichsten aller Waffen, bei den Kleinwaffen, damit anzufangen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Die Kollegen Fritz, Hempelmann und Breil haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzte
Rednerin in dieser Debatte die Kollegin Katja Keul für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort hat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das letzte Wort für heute wollte ich nun doch
nicht der Linksfraktion überlassen.
({0})
Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen Heckler &
Koch wiegen schwer. Dem Rüstungsunternehmen wer-
den Verstöße gegen das Waffen-, das Außenwirtschafts-
1) Anlage 4
und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Im
Raum steht die bewusste Missachtung von Auflagen und
die Täuschung der Bundesregierung.
Im Sommer 2006 wurde die Ausfuhr von G-36-Gewehren nach Mexiko mit Einschränkungen genehmigt.
Vier Unruheprovinzen sollten wegen der dort herrschenden Menschenrechtslage explizit nicht beliefert werden.
Im Norden Mexikos herrscht seit fünf Jahren ein erbitterter Krieg zwischen Polizei, Militär und Drogenkartellen, dem bereits mehr als 30 000 Menschen zum Opfer
gefallen sind. Menschenrechtsverletzungen sind an der
Tagesordnung, und regelmäßig werden neue Massengräber entdeckt.
Die Bundesregierung ließ sich die Einhaltung der
Auflagen per Endverbleibserklärung versichern. Dennoch tauchten kurze Zeit später die Gewehre genau in
den verbotenen Provinzen auf.
2007 beantragte Heckler & Koch sogar die Genehmigung für die Ausfuhr von Ersatzteilen in ebenjene Regionen, in denen die Gewehre eigentlich gar nicht hätten
in Umlauf sein dürfen. Dokumente und Aussagen ehemaliger Mitarbeiter legen den Verdacht nahe, dass das
Unternehmen eine weitaus aktivere Rolle eingenommen
hat, als stets behauptet wird. Reiseunterlagen und Dankesschreiben mexikanischer Stellen deuten auf Ausbildungsmaßnahmen hin, die Heckler & Koch in den Unruheprovinzen durchgeführt haben soll. Von Bestechung
und Täuschung ist die Rede.
Ich teile daher die Einschätzung der Bundesregierung,
dass die erforderliche Zuverlässigkeit für die Genehmigung von Waffenexporten durch diese Firma nicht mehr
vorausgesetzt werden kann.
({1})
Daher war es konsequent, die laufenden Ausfuhranträge auszusetzen. Nicht konsequent war es aber, die
Ausfuhranträge nur in Bezug auf Mexiko auszusetzen.
Denn das Kriterium der Unzuverlässigkeit bezieht sich
auf den Absender und nicht auf das Empfängerland.
({2})
Sollten sich die Vorwürfe im Rahmen der Ermittlungen bestätigen, wären aufgrund der erwiesenen Unzuverlässigkeit keine Waffenexporte mehr zu genehmigen,
nicht nach Mexiko und nicht sonst wohin in der Welt.
Der Fall macht deutlich, wie sehr das deutsche Rüstungskontrollsystem derzeit allein auf die Verlässlichkeit
und das Vertrauen in die Rüstungsexportunternehmen
angewiesen ist. Genehmigt wird der Export nur bei Vorlage einer Endverbleibserklärung. Der tatsächliche Endverbleib wird aber durch die staatlichen Behörden mangels Kontrollmechanismus nicht überprüft. Gerade wenn
es um die Ausfuhr todbringender Waffen geht, müssen
wir aber für die Verlässlichkeit der Lieferanten unbedingt einstehen.
({3})
Jahr für Jahr werden weltweit 370 000 Menschen
durch Kleinwaffen getötet. Wir bräuchten daher dringend bessere Mechanismen, um den Verbleib deutscher
Waffen und ganz besonders auch deutscher Kleinwaffen
tatsächlich überprüfen zu können.
Als drittgrößter Waffenexporteur der Welt tragen wir
eine große Verantwortung für den Verbleib dieser Waffen. Unser Rüstungskontrollsystem hat zwar einen großen Anspruch, funktioniert aber nur, wenn die Exportunternehmen verlässlich handeln. Solange irgendwelche
Zweifel an der Verlässlichkeit der Unternehmen bestehen, dürfen keine weiteren Ausfuhren genehmigt werden. Deshalb halten auch wir es für sachgerecht, bis zum
Ende der laufenden Ermittlungen die Genehmigung von
Waffenexporten durch Heckler & Koch auszusetzen,
egal für welches Land sie bestimmt sind.
({4})
Nun zu Ihnen: Warum allerdings in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer Änderung des
Grundgesetzes erhoben wird, erschließt sich mir nicht.
Neben Rüstungsexporten gibt es noch eine ganze Menge
anderer Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Sollen wir
die alle ins Grundgesetz schreiben? Das Grundgesetz ist
kein Verbotsgesetz und kein Strafgesetzbuch. Ins Grundgesetz gehören die Grundrechte und das Staatsorganisationsrecht. Das soll auch so bleiben.
({5})
Ein eigener Grundgesetzartikel wäre deutlich zu viel
der Ehre für Heckler & Koch.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4677 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung und Bera-
tung einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, bei
denen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie
damit einverstanden, dass ich auf die Verlesung der Red-
nernamen verzichte? - Das ist der Fall.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so-
wie Zusatzpunkt 7 auf:
14 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({1}),
Marieluise Beck ({2}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken
- Drucksachen 17/4196, 17/4613 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ullrich Meßmer
Serkan Tören
Volker Beck ({3})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen
- Drucksache 17/4669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
- Drucksache 17/4668 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a. Der Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4613, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4196 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 14 b sowie
Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird hier die Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4669 und 17/
4668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie, wie ich sehe,
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes
- Drucksache 17/4666 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4666 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit
sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit
Seltenen Erden offenhalten
- Drucksache 17/4553 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 17/4553 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
EU-Freihandelsabkommen mit Indien stop-
pen - Verhandlungsmandat in demokrati-
schem Prozess neu festlegen
- Drucksachen 17/2420, 17/4616 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
1) Anlage 6
2) Anlage 7
Wir haben die Debatte zum Freihandelsabkommen,
FTA, der EU mit Indien im Deutschen Bundestag bereits
am 30. September 2010 ausführlich geführt. An der Haltung der Unionsfraktion und an den aufgezeigten Argumenten, die für die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2420 sprechen, hat
sich seitdem nichts geändert. Den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion rate ich deshalb an, noch einmal
im Plenarprotokoll, Drucksache 17/62, S. 6564, nachzulesen. Entgegen der Behauptung der Linken ist der politische Dialog seit April 2007 - der Europäische Rat hat
der Kommission während der deutschen Ratspräsidentschaft das Mandat zu Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen, FTA, mit Indien erteilt - dicht und konkret. Mehrere Verhandlungsrunden haben zu Beginn des
neuen Jahres stattgefunden, zuletzt ein Treffen der Chefunterhändler vom 24. bis 28. Januar 2011 und eine Unterrichtung im handelspolitischen Ausschuss am 4. Februar, in dem die Mitglieder fortlaufend über den Stand
der Verhandlungen unterrichtet wurden.
Ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Union liegt ausdrücklich in Indiens Interesse, auch
wenn die Fraktion Die Linke es gerne so darstellt, als
würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande
kommen. Der auf indischer Seite verantwortliche Handels- und Industrieminister Anand Sharma hat in der nationalen und internationalen Presse mehrfach klargestellt, dass das Abkommen mit der EU, die der größte
Handelspartner des Schwellenlandes ist, für Indien von
großer Bedeutung ist. Ein Fünftel seiner Exporte gehen
nach Europa. Schätzungen zufolge könnte durch das geplante FTA das Handelsvolumen zwischen Europa und
Indien bis 2015 um 100 Milliarden auf 170 Milliarden
Euro anwachsen. Davon würden beide Akteure profitieren. Besonders der Handel mit Dienstleistungen ist mit
einem Volumen von 16 Milliarden Euro von wachsender
Bedeutung für Indien und Europa.
Treu dem Motto „Täglich grüßt das Murmeltier“ versucht die Fraktion Die Linke, der EU und unserer Bundesregierung stets einen Vorwurf daraus zu machen, den
eigenen wirtschaftlichen Vorteil im Blick zu haben. Das
ärgert mich. Selbstverständlich muss die EU auch darauf achten, dass ihre Interessen ausreichend vertreten
sind. Es kommt allen 27 Staaten, die der Europäischen
Union angehören, zugute, dass die EU Zutritt zum großen Marktpotenzial Indiens erhält und sich unter anderem für den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelshemnisse und für eine ansehnliche Marktöffnung im
Industriesektor, bei Banken, Versicherungen, Post und
Telekommunikation einsetzt.
Die Bundesrepublik Deutschland plädiert seit langem
als Indiens wichtigster Handelspartner in der EU für
den Abbau von Handelshindernissen. Nur so konnte der
deutsch-indische Handel nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, BDI, im Jahr 2009
13 Milliarden Euro erreichen. Ziel sowohl Deutschlands
als auch Indiens ist es, bis 2012 den gemeinsamen Handel auf 20 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit dieses
ehrgeizige Ziel auch erreicht werden kann, unterstützt
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung
in ihren Bemühungen um weitere Liberalisierung im
Zollbereich und einer Öffnung des indischen Marktes für
öffentliche Beschaffungen. Vor allem für unsere deutschen Unternehmen, die im Jahr 2009 Waren- und
Dienstleistungen im Wert von 8 Milliarden Euro exportierten, wäre ein umfassender Zollabbau für Industriegüter von Vorteil. Dieser Wert könnte höher sein, wenn
Hemmnisse beim Marktzugang abgebaut würden. Unsere Exporte werden durch hohe Zölle, Zusatzabgaben
und Normen behindert. Einfuhrzölle bis zu 60 Prozent
im Automobilsektor und zusätzliche Einfuhrabgaben erhöhen die Gesamtbelastung teilweise auf mehr als
100 Prozent. Möglichkeiten für Kooperationen zwischen
deutschen und indischen Unternehmen sind aber nicht
nur in der Automobilindustrie erkennbar. Auch in der
Lebensmittelindustrie, bei der Verbesserung der indischen Infrastruktur, aber auch in Branchen wie der
Pharmaindustrie und der Bio- und Nanotechnologie bieten sich Felder der Zusammenarbeit an.
Selbst Manmohan Singh erkennt das Potenzial
Deutschlands als Wirtschaftsmotor der Welt und äußerte
sich, anlässlich des 11. EU-Indien-Gipfels „neue Horizonte der Ausweitung des Handels zu ermöglichen“.
Diese Position des indischen Premiers nährt die Hoffnung des baldigen Abschlusses der FTA-Verhandlungen
mit der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Bisher sind
eine Reihe von Kapiteln fast abgeschlossen, die Verhandlungen zu Wettbewerb, Zollverfahren und Handelserleichterungen sind auf gutem Wege. Allerdings erfordert das ehrgeizige Ziel, ein Abkommen im Verlauf
dieses Jahres zu paraphieren, einen Durchbruch in den
politischen Verhandlungen im sensiblen Bereich des
Zollabbaus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet
die Bundesregierung ausdrücklich darum, sich nach allen Kräften dafür einzusetzen, dass hier Fortschritte gelingen können.
Unsere Bundeskanzlerin sagte anlässlich des 41. Weltwirtschaftsforums im schweizerischen Davos, eine entscheidende Antwort zur Bewältigung der Wirtschaftskrise
sei der freie Welthandel. Damit gehen wir in der Union
d’accord! Trotz Erholung der Weltkonjunktur - auch Indien wurde eine Rückkehr zu seiner Wirtschaftsaktivität
von verschiedenen Seiten bescheinigt - ist es weiterhin
wichtig, dass Industrie- und Schwellenländer im Zusammenschluss globalen Handelsungleichgewichten vorbeugen. Deshalb sind wir froh, zu hören, dass nun neue
Dynamik in die zähen WTO-Verhandlungen zum Abschluss der Doha-Runde gekommen sind. Das Volumen
des zusätzlichen Handels, den das Abkommen ermöglichen würde, ist in einer Studie, die anlässlich des G-20Gipfels in Seoul von Deutschland, Frankreich und Großbritannien in Auftrag gegeben wurde, auf 360 Milliarden Dollar pro Jahr beziffert. Dies ist Anreiz genug, um
die nur noch verbleibenden 20 Prozent des Abkommens
auszuhandeln. Einigkeit muss bei den Subventionen für
Baumwolle und bei den Dienstleistungen erzielt werden.
Noch nie war die Gelegenheit so groß, das Abkommen
noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss
zu bringen. Indien sollte dabei in den Verhandlungen mit
einbeziehen, wie schnell die Entwicklung im eigenen
Land voranschreitet und wie sehr Indien selbst bereits
auf offene Märkte angewiesen ist. Mit einem Freihandelsabkommen der Europäischen Union und Indien bietet sich zugleich für die Bundesrepublik Deutschland die
Perspektive einer Intensivierung der Strategischen Partnerschaft, nicht nur, wie aufgezeigt, bei der Verstetigung
unserer guten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch in
den Bereichen Ausbildung und Forschung.
Vor diesen aussichtsreichen Federn der künftigen Zusammenarbeit schließen wir in der Union nicht die Augen. Wir unterstützen das nach dem jüngst beschlossenen Abkommen mit Südkorea zweite große erfolgreiche
Handelsprojekt der Europäischen Union und entsprechen der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Wirtschaft und Technologie, Drucksache
17/4616. Der Antrag ist abzulehnen.
Der Auf- und Ausbau eines fairen multilateralen Freihandels ist Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aller Länder und trägt gleichzeitig
dazu bei, den Wohlstand in Europa und Deutschland zu
wahren und zu mehren. Zusätzlich zu den multilateralen
Bemühungen können Freihandelsabkommen sinnvolle
Ergänzungen sein, jedoch müssen multilaterale Verträge
Priorität vor bilateralen Freihandelsabkommen haben.
Ich denke, darin stimmen wir mehrheitlich überein.
Nach wie vor muss oberstes Ziel sein, ein funktionierendes multilaterales Wetthandelssystem unter dem Dach
der WTO auf- und auszubauen. Dabei ist das Gebot der
Stunde, die seit 10 Jahren laufende Doha-Runde zum
Abschluss zu bringen. Ich denke, wir sind uns einig, dass
der derzeit zu verfolgende Trend zu bilateralen Abkommen als Indikator für das Versagen wichtiger Akteure im
multilateralen Verhandlungsprozess zu bewerten ist.
Alle Bemühungen, den Doha-Prozess wieder anzukurbeln und zum Laufen zu bringen, dürfen nicht durch bilaterale Freihandelsabkommen zunichte gemacht werden. Bilaterale Abkommen dürfen keine Motivation aus
den multilateralen Verhandlungen des Doha-Prozesses
herausnehmen.
Nun zum aktuellen Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit lndien. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion müssen bei allen Verhandlungen über
Freihandelsabkommen ökonomische und politische Faktoren, aber auch die sozialen und menschenrechtlichen
Aspekte berücksichtigt werden. Dies gilt natürlich auch
bei dem EU-Freihandelsabkommen mit Indien. Jedoch
halten wir dieses Thema für zu wichtig, um, wie im hier
diskutierten Antrag der Linksfraktion, die Frage der
Ausgestaltung von Freihandelsabkommen mit einer undifferenzierten Systemkritik an der europäischen Marktwirtschaft zu verbinden. Diese Kritik gehört nicht hierher. Aus diesem und weiteren Gründen wird die SPDBundestagsfraktion dem Antrag in dieser Form nicht zustimmen.
Ziel des Freihandelsabkommens der Europäischen
Union mit Indien sollte sein, dass die EU ihren Handel
und ihre Investitionen mit Indien intensivieren kann,
ohne dass die in Indien vorhandenen ökonomischen und
sozialen Infrastrukturen beeinträchtigt werden. Die
künftigen Möglichkeiten einer Ausweitung des Handels
und der Investitionstätigkeit im Verhältnis EU-Indien
müssen insgesamt beiden Seiten dienen. Jedoch ist bei
Zu Protokoll gegebene Reden
der Bewertung und Verhandlung der vorhandenen sektorspezifischen Schwierigkeiten darüber nachzudenken,
eine asymmetrische Marktöffnung vorzunehmen, um ein
wirtschaftliches Ungleichgewicht zu verhindern. Hier
gilt es, einer Überforderung Indiens vorzubeugen.
Denkbar sind eine konsequente Marktöffnung der EU im
Agrar- und Textilbereich und die Ermöglichung sektorspezifisch unterschiedlicher Marktöffnungsschritte Indiens.
Wir müssen weiter auf den konkreten Verlauf der Verhandlungen schauen. Diesbezüglich haben die Mitglieder des Bundestages schon verschiedene Aktivitäten unternommen. Im Frühjahr 2010 haben sich sowohl der
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als auch der Unterausschuss „Gesundheit in
Entwicklungsländern“ des Deutschen Bundestages mit
den Folgen eines Freihandelsabkommens für die indische Generikaproduktion und den Zugang zu Medikamenten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens
befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktionsübergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten
klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäischindischen Freihandelsabkommens formulierten. Diese
Forderungen ähneln denen des hier behandelten Antrags. Nachdem diese Forderungen im Frühsommer
2010 an die Kanzlerin, die mit dem Thema befassten
Bundesminister, den Präsidenten der Europäischen
Kommission, José Manuel Barroso, sowie den europäischen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Bercero, versandt wurden, teilten erfreulicherweise der
Kommissionspräsident Barroso und Handelsdirektor
Bercero in einem Schreiben vom August 2010 mit, dass
sich die Europäische Union die genannten Forderungen
der Ausschüsse des Bundestages zu eigen macht. Beide
betonten, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeit
durch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlungen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist ein
wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patienten in Entwicklungs- und Schwellenländern lebenswichtigen Generikaproduktion. Zudem wird von europäischer Seite unmissverständlich betont, dass die für das
Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geistigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Standard hinaus verstärkt werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht es, wie fraktionsübergreifend schon beschlossen, als unverzichtbar an,
dass die Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhandelten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziellen Medikamenten nicht einschränken. Außerdem sollen
die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS entsprechen. Es muss zudem natürlich darauf geachtet werden,
dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht über
den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden.
Das alles haben wir schon formuliert. Daran fühlen wir
uns gebunden. Die Europäische Kommission hat sich
dies, wie gesagt, zu eigen gemacht, und es ist nicht absehbar, dass sie davon abkehrt. Die deutsche Bundesregierung ist gut beraten, sich ein Beispiel zu nehmen und
unseren Forderungen zu folgen.
Ich habe aufgezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller
Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen
des heute diskutierten Antrags befassen und wichtige
Aktivitäten entwickelt haben. Wir werden weiter den
Verlauf der Verhandlungen von Freihandelsabkommen
beobachten, damit auch zukünftig diese Abkommen keiner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern den
Menschen auf beiden Seiten nutzen.
Das Freihandelsabkommen der EU mit Indien hat das
Potenzial, neuen Schwung in den Welthandel zu bringen.
Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und Investitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemeinsamen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Führungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen
dem boomenden Fernen Osten und dem an Energiequellen reichen Nahen Osten und Zentralasien zu übernehmen. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen
und politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen.
Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirtschaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen.
Gerade in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzkrise gilt es, protektionistische Tendenzen abzuwehren
und den fairen und freien Welthandel zu gewährleisten.
Nachdem sich der Wert des Warenverkehrs der EU 27
mit Indien zwischen 2000 und 2008 mehr als verdoppelt
hat, fiel er im Jahr 2009. In den ersten neun Monaten
des Jahres 2010 zeigte sich ein erneutes Wachstum des
EU-27-Warenhandels mit Indien. Dies muss unbedingt
durch eine vernünftige, nach vorne gerichtete Wirtschaftspolitik wie die unserer schwarz-gelben Regierungskoalition fortgesetzt werden. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich
an Intensität und Dynamik gewonnen. Heute sind schon
etwa 1 500 deutsche Unternehmen in Indien vertreten.
Die Forderungen der Fraktion Die Linke zeigen nur einmal mehr die protektionistischen, antiquierten Wirtschaftsvorstellungen wie zu Zeiten des Ostblocks. Wir
wollen keine ideologischen Mauern errichten. Gerade
durch unsere guten und intensiven Wirtschaftsbeziehungen werden neue Märkte erschlossen und bringen im
Zuge der Marktöffnung auch eine Öffnung des Landes
mit sich. Wir stehen als bürgerlich-liberale Koalition für
diesen goldenen, demokratischen Weg nach vorne. Die
Stärkung der Kontakte zwischen den Menschen in Indien
und in der Europäischen Union ist nur einer der positiven Effekte neben wirtschaftlichen Belangen.
Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministers Rainer
Brüderle sichert Wachstum und Arbeitsplätze und trägt
so zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Mit neuen
Handelsstrategien werden Märkte geöffnet, und Europa
hält Anschluss an die wichtigsten Wachstumszentren der
Welt. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Bedingungen
für die europäische Wirtschaft herrschen, sodass alle
Bürger, sowohl in Deutschland als auch in Indien, vom
Handel profitieren können.
Unsere Außenpolitik ist freiheitlich, orientiert an
Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Lindner ({0})
Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Multilateralismus - anstelle nationaler Alleingänge, wie von
den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte
muss konsequent fortgeführt werden. Denn durch die
weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die das
Abkommen mit sich bringen wird, wird auch der politische Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach
außen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andere
Staaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte überzeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion Die
Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftsprodukte zu erheben und weiterhin auf Exportzöllen in anderen Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protektionistischen Forderungen nach der Einführung von Exportzöllen und Verhinderung von transparenten Strukturen zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in
Indien zeigten nur die Antiquiertheit der linken Anschauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderung
nach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutz
nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die europäischen Grenzen hinaus wirksamer Patentschutz garantiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenlegung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das
Zurückweisen der längeren Patentlaufzeiten der Fraktion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivität
würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzuweisen.
Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der
Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und
ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit
Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grundlage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwicklungszusammenarbeit mit den Schwellenländern müssen
wir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaatsund Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik,
Wissenschaft und Forschung eingehen und sie für die
Entwicklung noch immer bedürftiger Länder gewinnen.
In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernetzung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach
Aufrechterhalten von Exportzöllen utopisch. Nationale
Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen
wird es mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion nicht
geben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Freihandelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch das
Schüren von Ängsten und den Wunsch nach Abschottung
vom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaftlich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung
der EU und Indiens außer Acht. Deshalb ist dieser Antrag der Linken abzulehnen.
Das geplante EU-Freihandelsabkommen zwischen
der Europäischen Union und Indien ist Teil der neuen
Außenhandelsstrategie „Global Europe: Competing in a
Globalized World“. Ziel dieser ökonomischen Strategie
ist die Durchsetzung neuer und umfassender Freihandelsabkommen, mit denen die Staaten der Europäischen
Union einen vereinfachten Zugang zu Rohstoffen und die
Öffnung der Märkte in diesen Ländern für europäische
Waren verfolgen. Das geplante Freihandelsabkommen
mit Indien ist Teil der verfehlten neoliberalen Außenhandelsstrategie der EU. Die Fraktion Die Linke lehnt
dieses Abkommen ab und hat mit ihrem Antrag Alternativen für eine solidarische Außenhandelspolitik der EU
mit Indien vorgelegt.
Das EU-Freihandelsabkommen mit Indien nimmt in
der Prioritätenliste der EU-Kommission eine Schlüsselstellung ein. Die indische Wirtschaft ist in den letzten
Jahren zwischen 8 und 10 Prozent jährlich gewachsen.
Trotzdem lebt in Indien weltweit der größte Anteil armer
Menschen. Etwa 92 Prozent der 457 Millionen erwerbstätigen Inder sind im informellen Sektor beschäftigt. Sie
leben meist von Subsistenzwirtschaft und einem minimalen Einkommen. Häufig sind sie als Tagelöhner oder für
zeitlich befristete Tätigkeiten beschäftigt. Darüber hinaus müssen aufgrund der Altersstruktur in Indien bis
2020 etwa 200 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen,
damit das Land nicht in eine beschäftigungspolitische
Katastrophe rennt.
Gerade in der Weltwirtschaftskrise zeigte sich überdeutlich, dass stärker regulierte Volkswirtschaften in
den Schwellenländern wesentlich weniger krisenanfällig
waren als die stärker liberalisierten und exportabhängigen Volkswirtschaften. Länder wie zum Beispiel Indien
profitierten gerade in der Krise von den vorhandenen
Steuerungsmöglichkeiten des Staates und der Kommunen. Deshalb sind die massiven Liberalisierungsforderungen der Europäischen Kommission vor diesem Hintergrund völlig unverantwortlich.
Durch das Freihandelsabkommen soll der indische
Markt noch mehr als bisher für die Produkte und Dienstleistungen aus der EU geöffnet werden. Die EU-Kommission nimmt dabei bewusst in Kauf, dass Millionen
von Arbeitsplätzen in der indischen Landwirtschaft und
dem informellen Bereich massiv bedroht werden. Durch
die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission für ein
Freihandelsabkommen wird die Ernährungssicherheit
und damit auch die Existenzgrundlage für Hunderte von
Millionen Menschen in der indischen Landwirtschaft
und Industrie massiv gefährdet.
Die Linke tritt deshalb dafür ein, dass allen Forderungen der EU-Kommission, den indischen Finanzmarkt
weiter zu liberalisieren, eine klare Absage erteilt wird.
Es war gerade der noch immer stark regulierte indische
Finanzmarkt, der sich in der Weltfinanzkrise relativ stabil gezeigt hat. Deshalb warnen auch viele Vertreterinnen und Vertreter sowohl aus Indien als auch aus der
Europäischen Union vor einer Liberalisierung des Finanzmarktes. Die derzeitigen Verhandlungen zeigen,
dass die Europäische Kommission nichts aus der Wirtschaftskrise gelernt hat und mit ihrer unverantwortlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei ist, die Gefahr, dass auch andere Regionen in den Strudel der
unkontrollierten Finanzmärkte gezogen werden, weiter
zu verschärfen. Wir treten in unserem Antrag dafür ein,
dass alle Forderungen an Indien, die Handelshemmnisse bei Finanzdienstleistungen abzubauen, sofort zurückgenommen werden müssen. Vielmehr müssen Regulierungsmaßnahmen zum Schutz der Stabilität des
Finanzsystems, wie sie Indien im Kontext der WeltfiZu Protokoll gegebene Reden
nanzkrise ergriffen hat, ausdrücklich erhalten und ausgebaut werden.
Eine Liberalisierung des Marktes für landwirtschaftliche Produkte hätte katastrophale Folgen für die überwiegende Anzahl der Bäuerinnen und Bauern in Indien,
da etwa 90 Prozent von ihnen marginalisierte Kleinproduzenten sind. Sie leben ausschließlich von der Landwirtschaft. Die Liberalisierung dieses Marktes durch ein
Freihandelsabkommen würde ihre Lebensgrundlage
massiv bedrohen. Die Folgen für die Betroffenen wurden
besonders sichtbar, als im Jahr 2002 Indien die Zölle für
Milchprodukte abschaffte. Dadurch drängten die zum
Teil exportsubventionierten Milchprodukte aus der EU
massiv auf den indischen Markt und drückten den
Milchpreis in Indien derart nach unten, dass Millionen
von landwirtschaftlichen Betrieben nicht mehr konkurrenzfähig waren und viele in den Bankrott stürzten. Um
eine soziale und ernährungspolitische Katastrophe zu
verhindern, führte Indien wieder Zölle in Höhe von zurzeit 30 Prozent ein. Eine erneute Marktöffnung im
Milchbereich hätte für die soziale Situation der indischen Subsistenzbauern fatale Auswirkungen.
Die EU versucht, das Freihandelsabkommen mit Indien gegen den Widerstand der indischen Bauernverbände und vieler NGOs durchzusetzen, da sie Indiens
größter Handelspartner ist und Indien an neunter Stelle
im EU-Außenhandel steht. 20 Prozent des indischen Güterhandels werden mit der EU abgewickelt; das Handelsbilanzdefizit zur EU beträgt drei Milliarden Euro.
Die EU wickelt etwa 2,1 Prozent ihres Handels mit Indien ab.
Die treibenden Kräfte des geplanten Freihandelsabkommens sind mächtige deutsche und europäische Lobbygruppen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, das European Services Forum, ESF, und
die European Federation of Pharmaceutical Industries
and Associations, EFPIA. Erst vor wenigen Tagen forderte der Europäische Automobilherstellerverband
ACEA die EU-Kommission auf, bei den Verhandlungen
mit Indien noch mehr Druck zu machen. Der Verband
beklagte, dass für die Autobranche die bisherigen Verhandlungsergebnisse noch nicht zufriedenstellend seien.
Die Industrielobbyisten nehmen mit ihren Forderungen
dabei bewusst in Kauf, dass sich die Ernährungssituation der Menschen in Indien massiv verschlechtern wird
und die Gefahren von Instabilitäten in Indien zunehmen.
Kurzfristige Profitinteressen der europäischen Großkonzerne werden hier über die mittelfristigen Entwicklungsmöglichkeiten der indischen Volkswirtschaft gestellt.
Die Direktorin der indischen Nichtregierungsorganisation ANTHRA, Dr. Sagari R. Ramdas, weist darauf
hin, dass bei einer Liberalisierung von Investitionen für
landwirtschaftliche Flächen, Land Grabbing noch
schneller vorangetrieben wird. Weiter führt sie aus, dass
alle Bäuerinnen und Bauern, wie auch große Teile der
indigenen Einwohner Indiens, Produzentinnen und Produzenten und gleichzeitig Konsumentinnen und Konsumenten zugleich sind. Fast alle sind für die eigene
Versorgung auf die öffentlichen Beschaffungs- und Verteilungssysteme für Getreide angewiesen, um die Ernährungssicherheit in den Haushalten zu gewährleisten.
Genau hier setzt das Freihandelsabkommen der EU mit
Indien an und will den Unternehmen in der EU den
freien Zugang zu den öffentlichen Beschaffungssystemen
in Indien eröffnen. Dies würde die bisherige Absicherung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für die armen
Teile in der indischen Bevölkerung noch weiter erschweren.
Durch die geforderte Öffnung der Rohstoffmärkte und
durch einen freien Zugang zu Explorationsmöglichkeiten von indischen Rohstoffen durch europäische Konzerne würden darüber hinaus die Lebensbedingungen
der indigenen Einwohner Indiens infrage gestellt. Viele
von ihnen leben in Wäldern, in denen teilweise Eisenerz,
Granit, Halbedelsteine und vieles mehr zu finden ist.
Durch einen massiven Abbau dieser Vorkommen besteht
die Gefahr, dass viele von ihnen vertrieben werden und
sich das Heer der Armen in den Megastädten weiter vergrößert.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, die
Verhandlungen über ein EU-Freihandelsabkommen mit
Indien sofort zu stoppen. Wir wollen, dass Verhandlungsmandate der EU in Zukunft durch demokratisch legitimierte Prozesse festgelegt werden und alle Abkommen, die Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung in
den betroffenen Ländern und Regionen fördern, nicht
mehr verfolgt werden dürfen.
In Indien leben über 40 Prozent der Bevölkerung un-
terhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag,
und knapp 80 Prozent leben mit weniger als 2 US-Dollar
pro Tag. Auch das Pro-Kopf-Einkommen in Indien liegt
weit unter dem europäischen Niveau. Die Europäische
Union und Indien sind keine Partner auf gleicher Au-
genhöhe.
Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäi-
schen Union und Indien steht kurz vor dem Abschluss; es
soll noch in diesem Frühjahr unterzeichnet werden. Seit
mehr als vier Jahren verhandeln die beiden ungleichen
Partner über ein solches Abkommen. Handel ist nur fair,
wenn wir die ökologischen und sozialen Erfordernisse
respektieren und wenn wir Entwicklungspotenziale för-
dern und nicht ersticken. Handelsliberalisierung unter
gleich starken Partnern kann Wohlstand und Entwick-
lung fördern, aber nur dann, wenn sie nachhaltig und
fair gestaltet ist. Gegenseitige Marktöffnung zwischen
ungleichen Partnern wie zwischen der EU und Indien
dagegen kann jedoch gravierende Folgen für den wirt-
schaftlich und sozial schwächeren Partner haben.
Ich kritisiere die von der Bundesregierung unter-
stützte fragwürdige Handelspolitik der EU. Diese Han-
delspolitik steht im Widerspruch zum Lissabon-Vertrag,
der die Entwicklung und die Beseitigung der Armut als
Ziel seiner Außenbeziehungen definiert. Meine beson-
dere Sorge gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrech-
ten. Indien ist weltweit einer der größten Generikaher-
steller, gilt als die Apotheke der Armen und produziert
unter anderem weltweit 80 Prozent der Medikamente zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Behandlung von HIV/Aids. Die europäischen Forderun-
gen zu den geistigen Eigentumsrechten bedrohen massiv
den Zugang zu kostengünstigen, lebensrettenden Medi-
kamenten für die Armen der Welt. Insbesondere die vor-
gesehene Datenexklusivität wäre ein Schlag gegen die
Generikaproduktion und damit auch gegen das Men-
schenrecht auf Gesundheit. Dies käme für unzählige
Kranke weltweit einem Todesurteil gleich. Diese Sorge
teilt mit mir auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung. Auf Initiative des Un-
terausschusses „Gesundheit in Entwicklungsländern“
hat der Ausschuss in einem interfraktionellen Beschluss
die Bundesregierung und die Europäische Kommission
aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass es im Freihan-
delsabkommen zwischen der EU und Indien keine Rege-
lungen gibt, die über den Standard von TRIPS hinausge-
hen.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke stimmen wir
nicht zu. Teilweise sind die Forderungen veraltet. Teil-
weise liegen die Forderungen nicht im Kompetenzbe-
reich der nationalen Parlamente. Für die Ratifizierung
von Handelsabkommen in nationalen Parlamenten bei-
spielsweise gilt es zunächst juristisch zu klären, ob es
sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt;
denn nur dann gäbe es einen nationalen parlamentari-
schen Auftrag. Auch andere Forderungen können wir
nicht uneingeschränkt mittragen. Allerdings teile ich die
Ansicht, dass wir ein entwicklungsförderliches Verhand-
lungsmandat für ein Abkommen mit Indien brauchen.
Das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Ver-
sorgung oder das Menschenrecht auf Nahrung dürfen
nicht durch wirtschaftliche Interessen in Gefahr ge-
bracht werden. Menschenrechte sind nicht verhandelbar
und müssen zu jedem Zeitpunkt gewahrt werden. Ich for-
dere daher die Bundesregierung auf, sich für ein Frei-
handelsabkommen einzusetzen, das die Hunderte Millio-
nen von Menschen nicht aus den Augen verliert und die
Menschenrechte zur obersten Priorität macht.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4616, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2420 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 a und b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantieren
- Drucksache 17/4439 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem
- Drucksache 17/4679 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Die Grünen und die Linke tun etwas, das man nicht
tun sollte, sofern man den europäischen Gedanken nicht
beschädigen will. Sie wollen über den Umweg der europäischen Ebene versuchen, asylpolitische Vorstellungen
zu verwirklichen, für die es weder im Deutschen Bundestag noch in unserer Bevölkerung eine Mehrheit gibt. Sie
wollen über den Umweg Brüssel demokratische Mehrheitsentscheidungen ausspielen. Das ist nicht nur undemokratisch, sondern sie verstärken das Gefühl, das leider in unserer Bevölkerung verbreitet ist, dass die EU
weit weg ist von der Stimmung der Menschen vor Ort.
Insofern beschädigen sie mit ihren Anträgen den europäischen Gedanken.
Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sie
sogar die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sie
in der Sache in Brüssel auf ein offenes Ohr stoßen. Ich
will diese Debatte ausdrücklich dafür nutzen, zu beklagen, dass Grünbücher und Richtlinienentwürfe der Generaldirektionen Innen und Justiz der EU-Kommission
oftmals davon geprägt sind, dass sie von der Rechtslage
in Deutschland und gerade auch von der Stimmungslage
der Menschen in unserem Land erheblich abweichen.
Die ursprüngliche Fassung des Richtlinienentwurfs zum
Asylrecht hätte zur Folge gehabt, dass der Asylkompromiss von 1993, der zu einer erheblichen Reduzierung
des Asylmissbrauchs geführt und die aufgeregte Stimmung der damaligen Zeit beträchtlich beruhigt hat, so
nicht mehr haltbar sein würde. Unsere Fraktion ist dem
Bundesinnenministerium deshalb sehr dankbar, dass es
sich auf EU-Ebene erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass
diese Richtlinienentwürfe so nicht kommen werden.
Ein schlichter Skandal ist der Antrag der Linken.
Man muss ganz klar deutlich machen, was dieser Antrag
zur Folge hätte. Sie lassen jede Art von Kontrolle von
Zuwanderern in unser Land fallen. Sie wollen FRONTEX abschaffen. Sie wollen, dass wir anderen EU-Ländern viele Asylbewerber abnehmen, damit diese EULänder keinen Grund mehr haben, für eine ordnungsgemäße Sicherung ihrer Grenzen zu sorgen. Ihr Antrag
hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller
Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben.
Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hunderttausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde
jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen.
Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit
schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebliche Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder
Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen
Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das
kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine
völlig unverantwortliche Politik, mit der sich die Linke
endgültig aus dem Kreis derjenigen verabschiedet, die
in der Integrations- und Asyldebatte den Anspruch erheben können, ernst genommen zu werden. Mit dem absurden Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder
abzuschaffen, sorgt die Linke dafür, dass wir weder
Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert
haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurückführen können. Das ist ein Beitrag, der den sozialen
Frieden gefährdet und ein wichtiges präventives Element im Kampf gegen Ausländerkriminalität zunichte
macht, weil für viele ausländische Kriminelle die Angst
vor der Abschiebung in ihr Heimatland größer ist als die
Angst vor einer Gefängnisstrafe.
Aber auch die Grünen zeichnen in ihrem Antrag ein
Zerrbild der Lage der subsidiär Schutzberechtigten im
Verhältnis zu denjenigen, die als politisch Verfolgte oder
Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind. Die Grünen verschweigen einen ganz wesentlichen Grundsatz, nämlich dass von unseren Behörden die subsidiär Schutzberechtigten nicht einheitlich
behandelt werden, sondern es sich dabei um eine sehr
heterogene Personengruppe handelt, die sich durch
ganz unterschiedliche Schutzbedürfnisse auszeichnet.
Es ist gängige Praxis der Ausländerbehörden, dass bei
drohender Folter oder drohender Todesstrafe im Herkunftsland, ähnlich wie bei GFK-Flüchtlingen, ein längerfristiges Schutzbedürfnis anerkannt wird. Dementsprechend erhalten sie nicht nur ein mehrere Jahre
geltendes Aufenthaltsrecht, sondern auch Zugang etwa
zu Integrationsangeboten. Es gilt der Grundsatz, den die
Grünen völlig verschweigen, dass bei denjenigen subsidiär Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie
für lange Zeit und möglicherweise sogar auf Dauer in
unserem Land leben werden, im Grunde genommen die
gleichen Bedingungen herrschen wie bei GFK-Flüchtlingen. Andererseits macht es aber auch Sinn, solchen
Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie nur
über einen begrenzten Zeitraum Schutzes bedürfen und
auch relativ plötzlich wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden können, in dieser Weise keine Integrationsangebote zu machen. Das gilt etwa bei Kriegs- oder
Bürgerkriegsflüchtlingen, bei denen das Schutzbedürfnis typischerweise eher vorübergehender Natur ist. Dieser Heterogenität der Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten können die Mitgliedstaaten nur Rechnung
tragen, wenn ihnen Regelungsspielräume verbleiben
und keine schematische Gleichstellung der subsidiär
Geschützten mit GFK-Flüchtlingen erfolgt.
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die ja eine
breite Kenntnis der Praxis in unseren Ausländerbehörden hat, in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen hat, dass es bei Fragen der Ausbildungsförderung oder Sozialleistungen sowie beim Arbeitsmarktzugang es keine großen praktischen Unterschiede in der
Behandlung der Ausländerbehörden von GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten gibt. Gerade
was die Frage des Arbeitsmarktzugangs anbelangt,
macht das ja auch großen Sinn, dass die Schutzbedürftigen in unserem Land etwa Kompetenzen erwerben, die
sie später in ihrem Heimatland nutzen können. Und es
macht auch großen Sinn, dass sie, anstatt Sozialleistungen zu erhalten, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.
Das gilt in gleicher Weise für jüngere Schutzbedürftige,
wenn man an die Förderung für einen Ausbildungsplatz
denkt. Außerdem will ich hervorheben, dass es auch bei
der medizinischen Versorgung selbstverständlich in der
Praxis keine unterschiedliche Behandlung gibt. Insofern
muss man den Grünen vorhalten, dass sie mit ihrem Antrag einen Popanz aufbauen und sich daran abarbeiten,
obwohl die ausländerrechtliche Praxis völlig anders
aussieht.
Man kann die Anträge von Linken und Grünen also
insoweit zusammenfassen: Der Antrag der Linken ist integrationsfeindlich, kommunal unfreundlich und würde
unser Land in einen Zustand versetzen, wie wir ihn Anfang der 90er-Jahre hatten. Das kann niemand politisch
ernsthaft wollen. Die Grünen zeichnen ein Zerrbild der
praktischen Lebenssituation von subsidiär Schutzbedürftigen. Insofern sind beide Anträge abzulehnen.
Im „Stockholmer Programm“, das direkt an das
„Haager Programm“ - 2005 bis 2009 - anschließt, werden für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Prioritäten
der europäischen Innenpolitik definiert. Mit der Absicht,
„ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum
Schutz der Bürger“ zu schaffen, bekräftigt das neue
Fünf-Jahres-Programm im Bereich der Migrationspolitik das Ziel einer vorausschauenden und umfassenden
europäischen Politik, die auf Solidarität und Verantwortlichkeit beruht. Im „Stockholmer Programm“ ist
ein einheitlicher Status für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, vorgesehen.
Die Begründung für die Einführung des subsidiären
Schutzstatus war gewesen, dass es diesen Schutz nur vorübergehend geben würde und die Menschen, denen er
gewährt wurde, nicht längere Zeit bleiben würden. In
der Praxis hat sich diese Annahme jedoch als falsch erwiesen. Die Hürden, um einen subsidiären Schutzstatus
zuerkannt zu bekommen, sind gravierende Menschenrechtsverletzungen wie drohende Todesstrafe, Folter
und Krieg. In diesem Sinne ist es nicht „leichter“, einen
subsidiären Schutzstatus zu erhalten, als als Verfolgter
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu
werden. Zudem sind die dargestellten Umstände keinesfalls solche, die sich schnell ändern. Wenn aber davon
ausgegangen werden muss und die Erfahrungen gezeigt
haben, dass Menschen mit einem subsidiären Schutzstatus dieses Schutzes nicht nur vorübergehend bedürfen,
dann ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber der Behandlung von anerkannten Flüchtlingen nicht gerechtfertigt und muss aufgehoben werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wie in der Neufassung der Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie vorgesehen, sollten subsidiär Geschützte sofortigen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt
haben, sie müssen Leistungen entsprechend denen von
anerkannten Flüchtlingen erhalten und vor allem müssen sie Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Wenn
sie auf Dauer bei uns leben, dann macht es allein und
ausschließlich Sinn - nicht nur, aber auch aus finanziellen Erwägungen, weil wir ja alle mittlerweile längst wissen, dass eine nachholende Integration schwerer und im
Ergebnis teurer ist -, sie so frühzeitig wie möglich zu integrieren. Schließlich müssen sie auch den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung haben.
Auch wir möchten die Bundesregierung auffordern,
ihre Vorbehalte gegen Art. 24 der Anerkennungsrichtlinie aufzugeben, nach dem einer Person nach Zuerkennung des Schutzstatus ein verlängerbarer Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens drei
Jahren ausgestellt werden muss. Wichtig für die Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiären Schutzstatus und der Anerkennung als Flüchtling ist
auch Art. 26 der Richtlinie, der den unmittelbaren Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an beschäftigungsbezogenen Bildungsanboten für Erwachsene und berufsbildende Maßnahmen ermöglicht. Von
ebenso großer Bedeutung ist schließlich Art. 29 der
Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Personen mit
Anspruch auf internationalen Schutz die notwendige Sozialhilfe im selben Umfang gewähren wie Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Schließlich begrüßen auch wir Art. 34 des Neufassungsvorschlages,
nach dem der schutzgewährende Mitgliedstaat die Integrationsmaßnahmen zu gewährleisten hat, die den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Anspruch auf
internationalen Schutz Rechnung tragen. In dem Punkt
der Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem
subsidiären Schutzstatus an den von Flüchtlingen stimmen wir mithin mit den Positionen in den Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
überein.
Diesem Ansinnen kann auch nicht entgegengehalten
werden, dass die Angleichung der Rechte der beiden
Schutzarten der sonstigen Systematik der Rechtsetzung
auf EU-Ebene widersprechen würde. Denn wie es im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen steht, haben sich
das Europäische Parlament und der Rat im Dezember
letzten Jahres auf eine Neufassung der „Daueraufenthaltsrichtlinie“ ({0}) dahin gehend
geeinigt, dass nunmehr auch Personen mit internationalem Schutzstatus mit einem fünfjährigen rechtmäßigen
dauerhaften Aufenthalt in den Anwendungsbereich der
Richtlinie aufgenommen werden sollen.
Auch wenn es in keinem der beiden vorliegenden Anträge erwähnt wird, möchte ich an dieser Stelle sagen,
dass wir das Abstimmungsergebnis im LIBE-Ausschuss
des Europäischen Parlamentes über die Anerkennungsrichtlinie am 1. Februar 2011 begrüßen, nachdem nunmehr in der neuesten Fassung der Richtlinie die Definition der Familie nicht mehr beinhaltet, dass die
Verbindung zu dem einen internationalen Schutzstatus
erhalten habenden Flüchtling im Herkunftsland entstanden sein muss. Ebenso begrüßen wir die nunmehr erfolgte Klarstellung, dass nur staatliche Akteure solche
sein können, die Schutz gewähren, und dass nicht wie
noch in den Entwürfen zuvor - leider auch auf Drängen
der Bundesregierung hin - vorgesehen auch eine nichtstaatliche Einheit schutzgewährende Organisation sein
kann, wie zum Beispiel eine Stammesgruppe. In der Abstimmung im LIBE-Ausschuss wurden zudem auch mehrere Einwände gegen die Angleichung der beiden
Schutzstatute abgelehnt. In der neuesten Fassung ist die
Forderung nach deren Angleichung mithin weiterhin
enthalten. Das begrüßen und unterstützen wir.
Was den Antrag der Fraktion Die Linke anbelangt, so
enthält er neben Forderungen zu der Anerkennungsrichtlinie auch noch Forderungen nach einer Neufassung des Dublin-II-Systems und eines Systems zur gerechten Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas.
Diese Forderungen sind im Kern richtig und berechtigt,
und auch wir suchen nach Möglichkeiten, die bestehenden Systeme vor allem im Interesse der Flüchtlinge zu
verbessern. Wie konkret allerdings solche Systeme ausgestaltet sein sollen, dazu sagt der Antrag der Linken
nichts. Wir sind jedoch bereits jetzt schon dabei, konkrete Vorstellungen zu diesen Themen zu entwickeln.
Darüber würden wir uns in Zukunft gerne noch einmal
unterhalten.
Der Antrag der Linken enthält die übliche Forderung
der Linken: Reisefreiheit für illegale Migranten. Es mag
ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungsbedarf auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem
geben. Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie
ist jedoch ebensowenig ein ernstzunehmender Vorschlag
wie die Auflösung von FRONTEX.
Die Abschiebehaft ist - bei aller Notwendigkeit, sich
die Bedingungen hierzu nochmals genau anzusehen - legitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu gewährleisten und damit ein leider notwendiges Instrument im Rahmen des Vollzugs des demokratisch
zustande gekommenen Aufenthaltsrechts.
Die Abschaffung der EU-Rückführungs-RL ist kontraproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandards
für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden sind.
Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderung
nicht mehr, sondern sogar weniger Rechte für die Betroffenen. Der Linke-Populismus schadet den Schwächsten in der Migrationspolitik.
Nicht zuletzt der Verhältnisse in Griechenland, des
Urteils des EGMR und der Beschlüsse des BVerfG zu
Dublin wegen muss man über das System nachdenken.
Aber man muss betonen, dass die Bundesregierung sehr
verantwortungsvoll mit dem Mechanismus umgeht: Für
ein Jahr sind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits im
letzten Jahr sind nur 50 Personen nach Griechenland
zurückgeschoben worden, beim Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können
auch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden,
wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck muss
aufrechterhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Bundesregierung für die griechischen Behörden auch
angeboten; hinsichtlich der menschenwürdigen und
schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten.
Die Grenzschutzagentur FRONTEX aufzulösen, ist
auch so eine typische Forderung von offenkundig unterbeschäftigten Abgeordneten der Oppositionsfraktion auf
der Suche nach dem verlorenen Kommunismus. Die Abschaffung von FRONTEX ist nicht sinnvoll, sondern geradezu rückwärtsgewandt: Es ist richtig, dass angesichts des gemeinsamen Binnenraums über FRONTEX
die Einsätze koordiniert werden. Vorfälle auf dem Mittelmeer etwa müssen rückhaltlos aufgeklärt werden;
rechtsstaatliche und völkerrechtliche Unsicherheiten
werden angegangen werden. Auch hat es in den letzten
Jahren viele Verbesserungen bei FRONTEX gegeben.
Jedenfalls hat aber Europa und der Welt eine „Europäische Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen und
rechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen“ gerade
noch gefehlt.
Die FDP ist der Meinung: Illegale Migration darf
nicht verharmlost werden. Sie stellt ein Problem dar. Die
Linken wollen am liebsten Tür und Tor für alle öffnen.
Das ist sicherlich kein gangbarer Weg. Der Antrag der
Grünen kommt da schon seriöser daher. Deutschkurse
etwa auf subsidiär Schutzbedürftige auszuweiten, ist in
der Sache durchaus eine begründbare Idee, allerdings
müssen wir auch sehen, was finanzierbar ist - nicht nur
im Blick auf die Quantität, sondern auch die Legitimität
der eingesetzten Mittel. Die Integrationskurse müssen
vor allem den Menschen offenstehen, die tatsächlich
dauerhaft oder zumindest längerfristig in Deutschland
bleiben.
Die FDP wird die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv begleiten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
am 21. Januar ein Urteil gegen Belgien gefällt, das auch
Deutschland und die ganze EU betrifft. Dem Gericht zufolge hätte Belgien einen Asylsuchenden nicht nach
Griechenland zurückschicken dürfen, weil ihm dort unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohten.
Auch den fehlenden Rechtsschutz gegen die Abschiebung hat der Gerichtshof als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Dieses Urteil ist ein Urteil über die gesamte Asylpolitik der EU
und die Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland dabei spielt. Grundlage des Vorgehens der belgischen Behörden ist das sogenannte Dublin-System. Demnach
müssen Asylsuchende ihr Asylverfahren in dem Staat betreiben, in dem sie ihren Fuß zuerst auf EU-Territorium
gesetzt haben. Kern dieses Systems ist die Drittstaatenregelung, wie sie 1993 im sogenannten Asylkompromiss
in Deutschland festgelegt wurde. Wer über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist, dessen Antrag
gilt als unbeachtlich. Der oder die Betroffene wird in jenen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeschoben,
aus dem er oder sie gekommen ist. Um diese Asylbewerber auch wirklich schnell wieder loszuwerden, hat sich
eine Große Koalition aus Union, SPD und FDP damals
noch einen weiteren Kniff einfallen lassen. Die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung
wurde abgeschafft. Es ist der einzige Fall, in dem im
deutschen Verfahrensrecht kein wirksamer Rechtsschutz
gegen eine Behördenentscheidung möglich ist. Mit dem
Dublin-System wurde daraus EU-Recht. Dieses System
ermöglicht die organisierte Flucht aus der Verantwortung für Schutzsuchende und Flüchtlinge. Ein Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. Januar 2011
unter der Überschrift „Enthüllendes Urteil“ hat dies auf
den Punkt gebracht. Ich zitiere: „Das gegenwärtige System dient vor allem einem Zweck: einigen großen Staaten wie Deutschland möglichst alle Asylbewerber vom
Hals zu halten - auf Kosten der Flüchtlinge und der am
Rand der EU liegenden Staaten, die sich kaum noch zu
helfen wissen.“
Es sind diese Staaten wie Griechenland, die sich
überlastet sehen und schon allein deshalb die Standards
des Flüchtlingsrechts nicht einhalten. Eine weitere
Runde in der Harmonisierung des Asylrechts in der EU
muss daher zwingend mit einer grundlegenden Reform
einhergehen. Das Verhalten der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ist jedoch beschämend. Sie blockiert jede Initiative, die das Aufweichen der starren
Dublin-Regelungen vorsieht. Sie torpediert Richtlinienentwürfe, die den Status und die Rechte von Schutzsuchenden und Flüchtlingen verbessern könnten. Sie
wirkt stattdessen an der Abschottung der Festung
Europa mit, die jährlich ungezählte Todesopfer fordert.
Ein frappierendes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist die Teilnahme am Einsatz der Grenzschutzagentur FRONTEX an der türkisch-griechischen Landgrenze. Ihre Aufgabe dort ist unter anderem, die
Flüchtlinge an der Grenze abzufangen und in die griechischen Aufnahmelager und Abschiebeknäste zu bringen. Genau diese Einrichtungen sind es, auf die das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zielt.
Die Unterbringung der Flüchtlinge dort ist unmenschlich und erniedrigend.
Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierung
auf, sich endlich für einen effektiven Flüchtlingsschutz
auf EU-Ebene einzusetzen, der den Bedürfnissen der
Flüchtlinge wie den Aufnahmekapazitäten der EU-Staaten gerecht wird. Die Abschottungsagentur FRONTEX
muss endlich aufgelöst werden. Sie ist Sinnbild einer
Politik, die Flüchtlinge zu illegalen Migrantinnen und
Migranten erklärt und mit polizeilichen und militärischen Mitteln bekämpft. Wir feiern in diesem Jahr das
60-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention.
Dies muss sich endlich auch in der deutschen und der
europäischen Flüchtlingspolitik niederschlagen.
Im Dezember hat Bundesinnenminister de Maizière
nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Gemeinsam mit anderen konservativen Innenministern und der
EVP-Fraktion hat er das Positionspapier „Perspektiven
Zu Protokoll gegebene Reden
des EU-Asylsystems“ vorgestellt. Anstatt Perspektiven
für ein längst überfälliges, qualitativ besseres Asylsystem in der EU zu entwerfen, haben wir es hier mit einem
echten Rollback zu tun. Es geht nämlich in dem Papier
nahezu ausschließlich darum, wie eine weitere Harmonisierung des Flüchtlingsschutzes verhindert werden
kann. Mittlerweile wird Flüchtlingsschutz nur noch von
der Haushaltslage der europäischen Nationalstaaten
abhängig gemacht; die Einhaltung universaler Menschenrechte ist zweitrangig. Nicht anders ist zu erklären,
dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesinnenministerium, Ole Schröder, das Positionspapier
auf einer parteilichen Pressekonferenz der EVP mit der
zentralen Aussage vorstellte, dass man sich Verbesserungen im Flüchtlingsschutz derzeit einfach nicht leisten
könne.
Im Einzelnen begrüßt die Bundesregierung den Abbruch der Neuverhandlungen der Asylverfahrensrichtlinie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber. Beides hat sie durch ihre Blockade im Rat
mitzuverantworten. Damit macht sie deutlich, dass ihr
an Fortschritten beim EU-Flüchtlingsschutzes nicht gelegen ist. Im Gegenteil: Sie versucht, mit ihren konservativen europäischen Kollegen den politischen Kampfbegriff des Asylmissbrauchs wieder salonfähig zu machen.
Das ist angesichts der Menschenrechtslage in den
Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge mehr als zynisch. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem liberalen Koalitionspartner, der - wenn er es mit liberalen Grundsätzen im Bereich der Flüchtlingspolitik ernst
meint - unmittelbar einschreiten müsste. Es gibt an dieser Stelle zwei Vermutungen. Erstens. Die FDP ist über
die neue Marschroute von de Maizière gar nicht unterrichtet worden. Zweitens. Die Koalitionsdisziplin hat gegriffen, und die FDP ist verstummt. Beides wäre fatal.
Denn interessanterweise gab es auf europäischer Ebene
durchaus liberale Stimmen, die das Vorgehen der Konservativen kritisiert haben. Nadja Hirsch, die integrationspolitische Sprecherin der Liberalen im Europäischen Parlament, bezeichnete den „Versuch der
Konservativen, ein gemeinsames EU-Asylsystem auszuhebeln“ als „unverantwortlich und verlogen“. Bedauerlich, dass sie mit dieser Stimme nicht weiter in die Nationalstaaten vorgedrungen ist.
Vollkommen unverständlich ist weiterhin, wie die
Bundesregierung ihre eigene Beschlusslage konterkariert: Bereits beschlossene Reformanliegen, denen sie
noch vor etwa einem Jahr zusammen mit allen anderen
EU-Mitgliedstaaten zugestimmt hat, werden damit wieder ausgehebelt. Im Stockholmer Programm erinnerte
der Europäische Rat an die Notwendigkeit, die Rechte
von subsidiär geschützten Personen an die von Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anzugleichen. Dies wurde nicht erst dort, sondern seit dem
Haager Programm 2004 in unterschiedlichen Beschlüssen des Europäischen Rats immer wieder betont. Mittlerweile erscheint das Ziel, die Reform bis 2012 umgesetzt zu haben, allerdings in weite Ferne gerückt zu sein,
da neben Tschechien Deutschland als einziger Mitgliedstaat eine Schutzangleichung im Rat komplett blockiert.
Zu Ihrer Erinnerung: Derzeit leben knapp 26 000
subsidiär geschützten Personen in Deutschland. Bei diesen Menschen haben das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge oder Verwaltungsgerichte festgestellt, dass
ihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter,
Todesstrafe oder andere gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies wird sich so schnell nicht ändern. Daher ist davon auszugehen, dass diese Menschen
dauerhaft in Deutschland leben werden. Es ist integrationspolitisch völlig unbegreiflich, dass sie bisher mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz in Deutschland - anders als anerkannte
Flüchtlinge - weder einen Anspruch auf einen Integrationskurs noch einen Anspruch auf Erlaubnis einer Erwerbstätigkeit haben. Subsidiär geschützte Personen
erhalten Kinder- und Erziehungsgeld erst nach drei Jahren bzw. BAföG-Leistungen sogar erst nach mindestens
vier Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in Deutschland.
Warum wehrt sich die deutsche Bundesregierung in
Brüssel mit Händen und Füßen dagegen, subsidiär geschützte Personen künftig ebenso wie anerkannte
Flüchtlinge zu behandeln? Wir fordern Sie, Herr Bundesinnenminister, mit dem vorliegenden Antrag auf:
Kehren Sie zur gemeinsamen Beschlusslage der EU zurück. Diese Menschen müssen endlich einen Anspruch
auf einen Integrationskurs, uneingeschränkte Sozialhilfe, medizinische Betreuung und gleichberechtigten
Zugang zu Wohnraum, beschäftigungsbezogenen Bildungsangeboten sowie berufsbildenden Maßnahmen erhalten. Mit Ihrer Politik verschließen Sie nicht nur vor
der Ungleichbehandlung von bleibeberechtigten Flüchtlingen in Deutschland die Augen. Auch europapolitisch
ist Ihr Vorgehen fatal. Für einen europäischen Asyl- und
Flüchtlingsschutz, der diesen Namen auch verdient hat,
muss die Bundesregierung zwei Maßgaben beachten, die
sie beide im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, findet. Sie muss dem Grundsatz der
Solidarität gemäß Art. 80 AEUV endlich zustimmen und
so eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen unter
den EU-Mitgliedstaaten gewähren. Das wäre für die
EU-Randstaaten wie Griechenland oder Italien dringend notwendig.
Zu einer verantwortungsvollen Politik gehören einheitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf hohem Niveau in ganz Europa. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung in unserem Antrag auf, ihre Vorbehalte
gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene
Schutzangleichung aufzugeben. Nur damit kann sie sich
an die Vorgaben des Stockholmer Programms halten, in
denen es heißt, bis spätestens 2012 gemäß Art. 78 AEUV
„ein gemeinsames Asylverfahren und einen einheitlichen Status für Personen, denen Asyl oder subsidiärer
Schutz gewährt wird, zu schaffen“. Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, diesen Grundsatz bei anstehenden Gesetzgebungsverfahren auf nationaler Ebene zu
berücksichtigen und umzusetzen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4439 und 17/4679 an die in der TaVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im
Patentrecht starten
- Drucksachen 17/1052, 17/4725 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Marianne Schieder ({1})
Jens Petermann
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf europäischer Ebene für die Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht einzusetzen. Hierdurch soll dem Bedürfnis Rechnung getragen werden, dass die Wissenschaft ihre gewonnenen Erkenntnisse frühzeitig veröffentlichen kann, um im internationalen Forschungswettbewerb bestehen zu können, ohne eine mögliche spätere
Patentierbarkeit zu gefährden. Diese Forderung ist
nicht neu. Die Diskussion darüber, ob auch in das deutsche und europäische Patentrecht die Neuheitsschonfrist aufgenommen werden sollte, begegnet uns seit den
1980er-Jahren in regelmäßigen Abständen. Der Deutsche Bundestag hat sich bereits mehrfach auf Initiative
von fast allen im Bundestag vertretenen Fraktionen mit
dieser Frage auseinandergesetzt.
Bei der Einführung einer Neuheitsschonfrist handelt
es sich um eine facettenreiche Thematik, bei der die Vorund Nachteile einer besonders sorgfältigen Abwägung
bedürfen und deren Beurteilung entscheidend von ihrer
näheren Ausgestaltung abhängt. Der von der SPD vorgelegte Antrag geht jedoch auf zahlreiche Fragen, denen im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung entscheidende Bedeutung zukommt, nicht ein. Dies gilt zum
Beispiel für die genaue Ausgestaltung einer Neuheitsschonfrist. Der Antrag der SPD-Fraktion lässt auch den
Personenkreis offen, der in den Genuss der Neuheitsschonfrist kommen soll. Dies betrifft namentlich etwa
die Frage von Vorveröffentlichungen, die nur mittelbar
auf den Erfinder zurückgehen. Darüber hinaus berücksichtigt der vorgelegte Antrag nicht hinreichend, dass
eine Neuheitsschonfrist - wenn man sie einführen wollte sinnvollerweise nicht nur auf europäischer, sondern
auch auf internationaler Ebene einheitlich ausgestaltet
werden sollte.
Der vorliegende Antrag ist daher schon aus diesen
Gründen nicht zustimmungsfähig.
Die Geschichte des Einsatzes für die Einführung einer Neuheitsschonfrist liest sich ein wenig wie der bekannte Kampf gegen Windmühlen. Die Bundesregierung
vermittelt zwar den Eindruck, sie stehe einer solchen
Einführung positiv gegenüber; gleichzeitig sehen Parlament und Öffentlichkeit jedoch keinerlei Bewegung in
dieser Sache. Uns allen ist klar: Wir brauchen ein innovations- und forschungsfreundliches Patent- und Urheberrecht. Patente sind ein zentraler Bestandteil des Wissens- und Technologietransfers, auch wenn sich die
Reform von Teilen des Patentrechts möglicherweise
nicht so öffentlichkeitswirksam und attraktiv in der Öffentlichkeit darstellen lässt wie andere Projekte.
Der Deutsche Bundestag hat sich dennoch wiederholt
mit dem Plan zur Einführung einer Neuheitsschonfrist
im Patentrecht auseinandergesetzt. Worum geht es hierbei? Wissenschaft und Forschung in Deutschland stehen
durch das Nichtvorhandensein einer Neuheitsschonfrist
vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite
müssen sie Erkenntnisse zügig publizieren, um im internationalen Forschungswettbewerb zu bestehen und um
ihre Exzellenz nachzuweisen. Auf der anderen Seite steht
häufig jedoch auch der Wunsch nach einer ökonomischen Verwertung der eigenen Erfindung, der aber zurzeit mit der Notwendigkeit der Geheimhaltung einhergeht. Im Zuge einer solchen Patentanmeldung sind
Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen, und nicht selten
ergibt sich das konkrete Verwertungspotenzial erst nach
Austausch im Kollegenkreis. Die Bearbeitungszeit für
einen Patentantrag verzögert den wissenschaftlichen
Austausch, und die Angst vor einem Verlust des Rechts
zur Patentanmeldung behindert den offenen Austausch
mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftlergemeinde sowie mit Unternehmen und Investoren.
Eine Neuheitsschonfrist würde sicherstellen, dass
dem Erfinder eine gewisse Zeit - wir als SPD fordern
eine Frist von einem Jahr unter Verweis auf internationale Erfahrungen - zur Verfügung steht, in der der Erfinder seine Erfindung bereits publik machen kann, ohne
dass dies einer späteren Patentanmeldung entgegen stehen würde. Was jeder Beobachterin und jedem Beobachter auf den ersten Blick als schlüssiges Konzept erscheint, findet bis heute in unserem Patentrecht keine
Berücksichtigung. Während andere Länder bereits seit
Jahren erfolgreich auf das Instrument Neuheitsschonfrist setzen, hat sich in Deutschland unter Federführung
von Bundesforschungsministerin Schavan im Bereich
Patentrecht für Wissenschaft und Forschung jedoch
nichts getan. Dabei hat sich der Deutsche Bundestag bereits im Mai 2006 klar für die Einführung einer Neuheitsschonfrist ausgesprochen. Auf Initiative der SPD
hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit der
Drucksache 16/1546 die Bundesregierung aufgefordert,
die Bemühungen zur Einführung einer Neuheitsschonfrist zu intensivieren. Auch die FDP hatte in Oppositionszeiten auf Drucksache 14/9567 vom Juni 2002 die
Einführung einer Neuheitsschonfrist gefordert. Zu Regierungszeiten haben beide Fraktionen offenkundig ihre
Forderungen von damals vergessen. Wenn die Regierungsfraktionen nun - absehbar - unseren Antrag
ablehnen werden, so ist dies kein guter Tag für ein innovationsfreundliches und Forschung förderndes Patentrecht.
Nun mag man den Regierungsfraktionen zugute halten, dass sie unseren Antrag ablehnen, da wir uns in der
Opposition befinden. Dabei ist unser Antrag bewusst so
angelegt, dass wir nicht die - unrealistische - Forderung nach einer sofortigen Festschreibung der Neuheitsschonfrist aufstellen - so wünschenswert dies auch
wäre -, sondern ja eher zurückhaltend formulieren. Wir
fordern die Bundesregierung lediglich auf, in dieser Sache endlich sichtbar aktiv zu werden. Außerdem soll die
die Bundesregierung dem Bundestag Vorschläge unterbreiten, wie man das nationale und internationale
Patentwesen zur Stärkung von Wissenschaft und Forschung verbessern - sprich: reformieren - könnte. Auch
die verbesserte Ausstattung des Deutschen Patent- und
Markenamtes sowie des Europäischen Patentamtes
sollte eigentlich unstrittig sein. Ohne unseren Antrag
wäre dieses Thema jedoch seit Beginn der schwarz-gelben Koalition vollkommen unter den Tisch gefallen. Wir
fordern Sie auf: Beenden sie die Sonntagsreden von abstrakten Hightech-Strategie-Plänen und die Märchengeschichten über eine angeblich irgendwann einmal anstehende steuerliche Förderung von Forschung und
Entwicklung. Sehen sie sich stattdessen konkret an, woran es der deutschen Wissenschaft und Forschung fehlt.
Unsere Defizite liegen nicht in der geringen Zahl von
bunten Broschüren über Wettbewerbe, Strategien und
Rahmenprogramme; wir haben vielmehr sehr konkrete
Herausforderungen etwa im Patentrecht oder auch im
Urheberrecht, über das wir hier bald diskutieren werden. Schauen Sie noch einmal in das Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit 2009 der Expertenkommission „Forschung und
Innovation“. Hier finden Sie die Probleme, die die Regierung zügig angehen sollte, und die Neuheitsschonfrist ist hier eines, es jedoch ein besonders wichtiges
Beispiel.
Auch wenn Sie heute - absehbar - allein aus koalitionspolitischen Gründen unseren Antrag ablehnen werden: Drängen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP, ihre Ministerinnen und Minister zu einer Umsetzung unserer Forderungen. Wir geben
das Copyright für unsere Pläne gerne an Sie ab, wenn
Sie endlich aktiv werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
unseres Landes in Wissenschaft und Forschung im Bereich Patentrecht zu verbessern.
Heute diskutieren wir den Antrag der SPD, mit dem
sie eine „Initiative für eine Neuheitsschonfrist im Patentrecht“ starten will. Die Mitglieder dieses Hohen
Hauses haben über die Frage, ob im deutschen Patentrecht wieder eine Neuheitsschonfrist eingeführt werden
soll, in der Vergangenheit mehrfach debattiert. Die Initiativen dazu kamen aus unterschiedlichen Fraktionen.
In der 14. Wahlperiode war es die FDP, die sich „für ein
effizientes, kostengünstiges und konkurrenzfähiges europäisches Gemeinschaftsrecht mit Neuheitsschonfrist“
einsetzte. Die Fraktionsparteien der großen Koalition
hatten im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, der die
Bundesregierung aufforderte, die Bemühungen um die
Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf
internationaler Ebene zu intensivieren. Diese Anträge
blieben bislang ohne erkennbaren Erfolg. Selbst der Antrag der Regierungsfraktionen aus dem Jahr 2006
konnte die damalige Regierung nicht dazu bewegen, die
Neuheitsschonfrist im deutschen Patentrecht wieder einzuführen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach
dem Für und Wider einer Neuheitsschonfrist. Die Befürworter der Neuheitsschonfrist, und so auch der Antrag
der SPD, erhoffen sich in erster Linie, dass die Neuheitsschonfrist den Forscherinnen und Forschern mehr Zeit
einräumt. Diese soll es den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ermöglichen, sich mit Kolleginnen
und Kollegen auszutauschen, um so zu noch besseren
Ergebnissen zu kommen.
Gleichzeitig könnten nach Vorstellung der SPD in der
gewonnenen Zeit auch Gespräche mit Unternehmen und
Investoren geführt werden, die eine möglichst erfolgreiche Verwertung der Erfindung zum Ziel haben.
So die Theorie hinter dem Antrag der SPD. Aber
brauchen wir das in der Praxis? Mögliche Geschäftspartner und Investoren kann man zur Verschwiegenheit
verpflichten. Dadurch wäre die für eine Patentanmeldung erforderliche Voraussetzung, dass die Erfindung
noch nicht veröffentlicht ist, gewährleistet. Darüber hinaus sind die meisten Wissenschaftler bereits heute gut
über das Patentrecht informiert. Oftmals verfügen Universitäten und Forschungseinrichtungen über eigene
oder mit Partnerinstitutionen betriebene Patentverwertungsabteilungen. Die betroffenen Forscher wissen also,
wie wichtig es ist, ihr Patent anzumelden, bevor sie es
veröffentlichen.
Neben den unbestrittenen Vorteilen bringt eine Neuheitsschonfrist auch erhebliche Nachteile mit sich. Sie
erhöht die Rechtsunsicherheit, da für die Beteiligten
nicht von vornherein klar ist, ob eine Veröffentlichung
bereits als „Stand der Technik“ von allen genutzt werden kann oder später rückwirkend für eine Patentanmeldung in Anspruch genommen wird. Die Rechtsunsicherheit hat weitere Folgen: Die Verfahren zur Anmeldung
von Patenten werden komplexer, da noch umfassender
geprüft werden muss, was noch als „nicht veröffentlicht“ angesehen werden kann oder was gegebenenfalls
der Neuheitsschonfrist unterfällt. Besonders kompliziert
kann dies bei Folgepublikationen werden, die erst durch
vorherige Veröffentlichungen ausgelöst wurden. Diese
Rechtsunsicherheit macht das Patent nicht nur streitanfälliger, sie mindert auch die Bereitschaft, in patentträchtige Forschungsbereiche zu investieren und aktiv
zu werden. Dies schadet letztlich nicht nur der Forschung, sondern auch der Allgemeinheit. Aus diesem
Grund wird eine Neuheitsschonfrist von großen Teilen
der deutschen Industrie mit guten Gründen abgelehnt.
Wir wollen die Tür hier aber nicht ganz zumachen.
Die Einführung einer Neuheitsschonfrist in das europäische Patentrecht wäre im Rahmen einer internationalen
Zu Protokoll gegebene Reden
Patentrechtsharmonisierung denkbar. Dies würde jedoch voraussetzen, dass mit anderen großen Patentnationen, insbesondere den USA, in zentralen Fragen Konsens erzielt werden kann. Hierzu zählen vor allem die
Einführung des Erstanmelderprinzips und die Offenlegung aller Patente nach 18 Monaten. Gegenwärtig ist
eine Annäherung der USA an Europa in diesen Punkten
aber nicht zu erkennen; entsprechende Verhandlungen
liegen auf Eis. Solange aber eine internationale Lösung,
die auch von den USA mitgetragen wird, nicht absehbar
ist, überwiegen die Nachteile, die eine Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf europäischer Ebene mit sich
bringen würde. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Die SPD fordert die Bundesregierung auf, eine Initiative für eine Neuheitsschonfrist von bis zu einem Jahr im
europäischen Patentrecht zu starten. Ziel ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse eine Frist einzuräumen, innerhalb derer diese Ergebnisse patentiert werden
können. Bisher stehen sie hierzulande vor der Entscheidung, entweder zu publizieren oder zu patentieren. Die
Erfahrungen aus den USA zeigen, dass eine solche
Schonfrist dazu beiträgt, einerseits die Zahl der Publikationen zu erhöhen und andererseits die Qualität der
Patente durch entsprechende Transparenz zu verbessern. Im Moment ist es so, dass jede Erfindungsidee, die
vor ihrer Anmeldung beim Patentamt schon öffentlich
gemacht wurde, nicht mehr patentiert werden kann. Öffentlich gemacht ist eine Erfindung dann, wenn sie außerhalb des Betriebes in einem Probelauf auf ihre Entwicklungsreife hin getestet wurde oder wenn über sie ein
wissenschaftlicher Austausch stattgefunden hat. Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gezwungen abzuwägen: Einerseits müssen sie ihre Forschungsergebnisse zeitnah publizieren, um im internationalen
Forschungswettlauf mitzuhalten und Reputation zu erwerben. Auf der anderen Seite wird dadurch eine ökonomische Verwertung der eigenen Erfindung ausgeschlossen, da vor einer Patentanmeldung die Geheimhaltung
der Erfindung verlangt wird. Mit diesem Konflikt hatten
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deutschen Patentrecht nicht immer zu kämpfen. Denn bis
zum Ende der 70er-Jahre gab es in Deutschland eine
sechsmonatige Neuheitsschonfrist. Diese wurde jedoch
im Zuge des Straßburger und des Europäischen Patentübereinkommens 1978/1979 abgeschafft. Eine Wiedereinführung der Neuheitsschonfrist allein in Deutschland
würde aber eine deutsche Patentanmeldung im Vergleich zu Anmeldungen aus konkurrierenden Staaten
schwächen. Deshalb ist es geboten, die Neuheitsschonfrist im europäischen Patentrecht zu verankern.
Meine Fraktion kann dem Anliegen der Sozialdemokraten zustimmen, jedoch nicht ohne einige kritische Anmerkungen zum Beschlusstext gemacht zu haben. Es ist
richtig, dass die derzeitige Regelung, welche eine Geheimhaltung von Forschungsergebnissen bis zu einer
möglichen Patentierung verlangt, niemandem hilft. Eine
Öffnung ist hier geboten, um praktische Hindernisse zur
Vereinbarung von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen an Forschungsergebnissen aus dem Weg
zu räumen. Anders als die SPD hier proklamiert, kann es
aber nicht vor allem darum gehen, die Zahl der Patente
endlos auszuweiten. Dies widerspräche dem Ziel, hochqualitative und sinnvolle Patente zu fördern. Aus unserer Sicht muss Ziel der vorgeschlagenen Regelung vielmehr sein, Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit
nicht vorzuenthalten. Forscherinnen und Forscher müssen publizieren können, ohne Rücksicht auf eventuelle
Patentierungsmöglichkeiten zu nehmen. Häufig ergeben
sich mögliche Verwertungskanäle auch erst nach einer
Veröffentlichung von Forschungsergebnissen.
Patente und ihre Durchsetzung haben jedoch inzwischen auch Dimensionen erreicht, in denen sie innovationsfeindlich wirken oder an ethische Grenzen stoßen etwa im Bereich der Computersoftware, der Biomedizin
oder der Medikamentenherstellung. Die Linke setzt sich
dafür ein, dass im Zuge der im Antrag geforderten Neugestaltung des Patentsystems auch diese Grenzen der
Ansammlung von geistigem Eigentum mitbedacht werden. Wir brauchen klare Regelungen, was alles nicht zu
patentieren ist. Wir wollen eine klare Durchsetzung des
Verbotes von Patenten auf Leben - etwa Pflanzenarten,
Gene oder Saatgut. Keine Firma darf sich unsere Lebensgrundlagen aneignen. Wir wollen eine faire und gerechte Patentierung von medizinischer Forschung, damit mit öffentlichen Geldern finanzierte Neuheiten auch
denjenigen in armen Ländern zugute kommen, die keine
Kaufkraft, dafür aber umso mehr Gesundheitsprobleme
haben. Wir brauchen keine weltweite Patentpolizei, wie
sie im Rahmen des ACTA-Abkommens installiert wird,
sondern eine Kultur der Open Innovation. Der Kampf
gegen den Klimawandel ist nutzlos, wenn Umwelttechnologien aus Deutschland außerhalb der G-8-Staaten
nirgendwo erschwinglich sind. Wissen sollte stärker ein
Gemeingut werden. Vorschläge dazu lässt die SPD vermissen.
Bei der Behandlung des Themas Neuheitsschonfrist
fällt sofort auf: Die Forderung nach der Einführung einer Neuheitsschonfrist wird heute zum wiederholten
Male in diesem Hause behandelt. In der Wissenschaft
werden entsprechende Forderungen seit den 80er-Jahren erhoben. Forderungen nach der Einführung sind von
einem auffälligen parteiübergreifenden Konsens geprägt. Zuletzt hat etwa die schwarz-rote Koalition 2006
dieselbe Forderung erhoben. Das gibt zu denken. Nicht,
dass Konsens etwas Schlechtes wäre! Offenbar handelt
es sich um eine mit einfachen Argumenten kaum von der
Hand zu weisende Forderung. Zu denken aber gibt, dass
sich bis heute keine Bundesregierung offiziell den Schuh
hat anziehen wollen, die entsprechende Neuheitsschonfrist durchzusetzen. Das müssen wir näher diskutieren.
Zunächst aber lassen Sie mich kurz zusammenfassen,
weshalb sich die Wiedereinführung der Neuheitsschonfrist aufzudrängen scheint. In der Sache geht es um eine
Effektivierung der Ziele des Patentrechts. Es dient dem
Fortschritt der Technik durch Förderung technischer
Erfindungen. Es verleiht Monopole auf Zeit für den AufZu Protokoll gegebene Reden
weis und geschickten Nachvollzug in der Natur anzutreffender technischer Regeln, die zur Konstruktion innovativer Technologien beitragen können. Die staatliche
Gewährung dieser Rechte soll damit einen Ansporn für
oft kostenträchtige Investitionen in Forschung liefern
und ist damit ein Teil der Forschungs- und Technologiepolitik, die auf laufende verwertbare Innovationen als
Motor der Wirtschaft abzielt. Die Neuheitsschonfrist
kann mittelbar auch Anreize für den notwendigen Ausbau des Wissenstransfers zwischen öffentlichen Forschungseinrichtungen und Industrie schaffen. Das
vorübergehende Ausschließlichkeitsrecht an der Verwertung der Erfindung verspricht einen Return on Investment insbesondere hinsichtlich der getätigten Investitionen und zählt damit zu einem Kranz möglicher
Marktanreize. Übrigens unterscheidet es sich in seinem
Ausgangspunkt des Nachvollzuges der technischen Regel deutlich vom Urheberrecht, bei dem - gut kontinentaleuropäisch - der „kreative schöpferische Geistesblitz“ zur Schutzanknüpfung konstruiert wird.
Forschung erfolgt auch und gerade im Hochschulbereich, nicht nur in den Forschungsabteilungen von Unternehmen. Will man auch hier die Patentanmeldungen
steigern, kommt es zu einem Zielkonflikt. Denn öffentliche Hochschuleinrichtungen ticken anders als die Industrie. Die Finanzierung dort wird nicht unmittelbar
selbst erwirtschaftet, sondern stammt aus öffentlichen
Mitteln sowie etwa aus Drittmitteln. Der Erfolg von Forschungseinrichtungen bemisst sich nach wie vor nicht
danach, ob man selbst die Ergebnisse der Forschung einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuführt, sondern
nach anderen Faktoren wie etwa dem ausgewählten
Forschungsfeld, der Qualität und vielen mehr. Der Zeitfaktor spielt sowohl in der Industrie als auch in der öffentlich finanzierten Forschung eine ganz entscheidende
Rolle. Für öffentliche Forschungseinrichtungen verbindet sich mit dem Erfolg, als erster durch das Ziel zu gehen, der Ertrag symbolischen Kapitals. Wer zuerst
kommt, oft in einem internationalen Wettbewerb, gilt als
exzellent, erhält die größten Zuwendungen und zieht die
besten Köpfe an. Als Nachweis des Zieldurchlaufes dient
in erster Linie die Veröffentlichung der Ergebnisse, die
Sicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist nach
wie vor zumeist nachrangig.
Nach geltendem Patentrecht hat das erhebliche Konsequenzen. Wer veröffentlicht, verliert damit zumeist die
Möglichkeit des Erwerbs von Patentrechten. Denn die
Erfindung gilt damit nicht mehr als „neu“ im Sinne des
Gesetzes. Sie übertrifft nicht mehr den Stand der Technik, denn sie ist bereits in der Welt und definiert diesen
Stand bereits selbst mit. Damit führt das gegenwärtige
Patentrecht insbesondere im Hochschulbereich zu einer
misslichen Weichenstellung des Entweder-Oder: Veröffentlichung oder Geheimhaltung. Nur wer die Ergebnisse bis zur Patentierungsreife und Patentanmeldung
geheimhält, erhält sich die Chance zur Erlangung des
vorübergehenden Monopols der wirtschaftlichen Verwertung. Offenbar entscheidet sich die Praxis nach wie
vor und überwiegend für die Veröffentlichung.
Mit einer Neuheitsschonfrist, wie wir sie im deutschen Recht nur aus § 3 Abs. 1 des Gebrauchsmustergesetzes kennen, wird der Erfinder von den patentrechtlich
negativen Folgen von ({0})Veröffentlichungen für einen gewissen Zeitraum, zumeist nicht länger als ein
Jahr, verschont. Er kann deshalb sowohl Forschungsergebnisse rasch veröffentlichen und damit symbolisches
Kapital einstreichen, als auch zugleich an der wirtschaftlichen Verwertung weiterarbeiten. Doch auch die
Anzahl angemeldeter Patente vermag es, ein entsprechendes Ansehen zu erzeugen.
Die häufig zitierte Studie des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung zur Neuheitsschonfrist aus dem
Jahre 2002 setzt sich mit der Praxis dieses Instrumentes
in den USA auseinander und befragt deutsche Einrichtungen nach ihren Patentierungsaktivitäten. Sie belegt
eine erhebliche Notwendigkeit für eine angemessene
Schutzfrist, die sich ergibt, weil sich die Patentierungsreife der Erfindung zeitlich oft erst zu einem späteren
Zeitpunkt als dem der möglichen Erstveröffentlichung
ergibt. Auch - vermeidbare - Gründe wie zu hohe Kosten oder der Arbeitsaufwand werden angeführt, die eine
Schonfrist rechtfertigen könnten.
Zu denken gibt die Studie damit allerdings noch in
ganz anderer Hinsicht. Wenn patentinaktive Wissenschaftler darüber klagen, dass ihnen Informationen zu
ihren Patentierungsmöglichkeiten fehlen, und selbst die
patentaktiven Forscher über Nichtanmeldungen aufgrund des Arbeitsaufwandes oder der Kosten klagen, so
bewegt man sich im hochschulpolitischen Feld der Wirksamkeit der Transferstellen, die bei der Patentierung behilflich sein sollen. Wer also patentpolitisch steuert,
muss sich über die Grenzen des Erreichbaren Rechenschaft ablegen. Man muss sehen, dass es mit einer wissenschafts- und forschungsfreundlichen Patentrechtsreform nicht getan ist, sondern dass auf unterschiedlichen
Ebenen das Umfeld der Hochschule mitbetrachtet werden muss, wenn mehr Patentanmeldungen das Ziel sind.
Bei alledem ist für uns Grüne selbstverständlich, dass
sich der Erfolg wissenschaftlicher Arbeit nicht allein
nach der wirtschaftlichen Verwertbarkeit bemessen
kann.
Diskussionswürdig und aus unserer Sicht noch weiterer Begründung bedürftig ist die Dauer der Schonfrist.
Die Bemessung muss im Hinblick auf die Ungewissheit
der Verwertbarkeit abgewogen werden. Denn wird sie
ohne weitere Anpassung im Patentrecht eingeführt, führt
sie unter dem Strich zu einer Verlängerung der Gesamtdauer, für die Unklarheit darüber besteht, ob Veröffentlichungen wirtschaftlich genutzt werden können. Vieles
spricht deshalb dafür, gegebenenfalls kompensatorisch
Anpassungen vorzunehmen, mit denen sichergestellt
wird, dass durch die Neuheitsschonfrist die derzeitige
18-monatige Offenlegungsfrist für Patenanmeldungen
in der Summe keine Verlängerung erfährt. Der vorliegende Antrag der SPD regt ferner eine Neuheitsschonfrist von einem Jahr im europäischen Patentübereinkommen an. Wir kennen eine Regelung der
Neuheitsschonfrist im Gebrauchsmusterrecht, die zunächst mit einer Frist von sechs Monaten begann und
nach ersten Erfahrungen auf insgesamt ein Jahr verlängert wurde. Entsprechend wäre zu überlegen, ob ein
ähnlich vorsichtiges, schrittweises Vorgehen auch bei eiZu Protokoll gegebene Reden
ner Einführung im Patentrecht ratsam wäre. Weitere
kompensatorische Anpassungen im Patentrecht werden
für den Fall einer Einführung diskutiert und sollten
sorgfältig geprüft werden.
Klar ist, dass angesichts internationaler Patentierungsstrategien eine rein nationale Lösung wenig zielführend erscheint. Deshalb geht der Antrag in die richtige Richtung. Nach meinen Informationen verfügt
neben den USA auch Japan über eine patentrechtliche
Neuheitsschonfrist. Das zentrale Argument der Gegner
der Neuheitsschonfrist, wonach diese eine Steigerung
der Rechtsunsicherheit bewirke und Verzerrungen im
Standortwettbewerb nach sich ziehe, verliert angesichts
fortschreitender Harmonisierung an Überzeugungskraft. Zudem zeigt sich Rechtssicherheit auch und insbesondere im Patentrecht als ein relatives Konzept angesichts der ohnehin bestehenden zahlreichen Kautelen
bei der notwendigen Ermittlung des jeweiligen Standes
der Technik.
Lassen Sie mich noch zur Frage zurückkommen, wie
wir damit umgehen, dass wir es mit einer nunmehr bereits seit 30 Jahren im Raume stehenden Forderung zu
tun haben. Es hat zahlreiche Vorstöße zur Einführung
gegeben, die bislang allesamt offenbar an der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Systeme, sowohl zwischen
den Mitgliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens als auch zwischen den EPÜ-Staaten im Verhältnis zu den USA und Japan, gescheitert sind. Die
Tatsache, dass sich entsprechende Vorstöße auf internationaler Ebene schwierig gestalten, sollte uns nicht davon abhalten, das Richtige zu tun, um ein innovationsfreundliches Patentrecht voranzubringen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4725, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1052 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Paul Schäfer ({0}), Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EUTM Somalia beenden - Für eine politische
Lösung in Somalia
- Drucksache 17/4248 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Die European Training Mission für Somalia - kurz
EUTM SOM - hat ein ganz klares Mandat. Sie soll durch
die Ausbildung von Sicherheitskräften für die somalische Übergangsregierung - kurz TFG - die Lage in
Somalia langfristig stabilisieren und darüber hinaus die
Sicherheit der Bevölkerung Mogadischus sicherstellen.
Deutschland beteiligt sich an dieser europäischen Mission und nimmt die übertragene Verantwortung mit unseren europäischen Partnern wahr, damit endlich wieder Frieden in ein Land einkehrt, das viel zu lange schon
unter der Last des Bürgerkrieges aufgerieben wird. Die
Übergangsregierung ist der einzige verlässliche Akteur,
der bestrebt ist, ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen in einem Staat, der de facto über keine funktionsfähigen Organe verfügt. Dabei ist das Vorgehen der
Europäischen Union kein Alleingang. Multilateral, in
Abstimmung mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, wird hier ein Versuch unternommen, den
fortwährenden Kriegszustand endlich zu beenden.
In Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Fraktion Die Linke, unterstellen Sie,
dass unser Engagement im Rahmen der EUTM SOM die
Konflikte in der Region schüren würde und sogar eine
Ausweitung auf die Nachbarstaaten Äthiopien, Kenia
und Uganda droht. Woher nehmen Sie diesen Irrglauben? Im Kampf gegen die islamistischen Milizen, denen
überhaupt nicht an einem Friedensprozess gelegen ist,
brauchen die Menschen in Somalia ausgebildete Sicherheitskräfte, die das oberste ihrer Grundrechte wahren:
das Recht auf Leben. Eine Beendigung des Einsatzes in
Somalia wäre unverantwortlich. Schon heute treibt die
prekäre Situation vor Ort junge Menschen in die Hand
der islamistischen Milizen, die die Einrichtung einer
Gesetzgebung auf Grundlage der Scharia fordern, oder
in die Hände von Piraten. Fast täglich erreichen uns Berichte von Piratenangriffen vor Somalias Küste. Dürfen
wir dem nachgeben und uns aus der Verantwortung stehlen? Nein, meine Damen und Herren von der Fraktion
Die Linke, hier kommt wieder einmal Ihre vollkommen
desillusionierte, ideologische Verblendung ans Licht,
zumal Sie in Ihrem Antrag ja noch nicht einmal im Geringsten ausführen, wie Ihre politische Lösung aussehen
könnte. Und um das noch einmal anzuführen: Militärisch, wie Sie sagen, ist der Ansatz der EUTM SOM
nicht. Es geht hier um die Ausbildung von Sicherheitskräften, mitnichten um die Entsendung bewaffneter
deutscher Soldaten.
Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Antrag kritisieren, ist die Zusammensetzung der Streitkräfte der somalischen Übergangsregierung. Ich bin überzeugt davon,
dass die unterschiedlichen Volksgruppen, die gemeinsam ausgebildet werden, eine große Stärke des Ausbildungsprogrammes sind. Gerade die gemeinsame Ausbildung wird dabei helfen, die unterschiedlichen
Gruppierungen zusammenzubringen und so den Friedensdialog zu forcieren. Die Besoldungszusagen der
amerikanischen Regierung für die Rekruten in Höhe von
100 US-Dollar werden ein Desertieren der Soldaten verhindern und sie langfristig an die Regierung binden.
Hartwig Fischer ({0})
Auch Ihr Vorwurf, die Bundesregierung würde in Somalia parteiisch in Bürgerkriege eingreifen, entbehrt jeder Grundlage. Wie Sie bei einer Auseinandersetzung
mit der Sachlage festgestellt hätten, ist die EUTM SOM
weder ein direkter Eingriff in einen Bürgerkrieg, noch
geschieht er parteiisch. Die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen mit ihren Institutionen und die Europäische Union stehen hinter der Entsendung von derzeit
sechs - ich wiederhole mich: sechs - Ausbildern von
maximal 20 möglichen Entsendungen. Eine einseitige
militärische Intervention sieht anders aus. Ihre Unterstellung verhöhnt die Arbeit unserer deutschen Soldaten.
Aber Sie schrecken ja auch nicht von der Instrumentalisierung von Kindersoldaten zurück. Ihre angeblichen
Hinweise, die TFG würde sich bei ihrer Rekrutierung
minderjähriger Soldaten bedienen, lässt sich nicht bestätigen. Auch die eingesetzten deutschen Ausbilder vor
Ort sind über keine Einbeziehung von Kindersoldaten
informiert. Im Gegenteil: Die TFG engagiert sich gegen
Rekrutierung Minderjähriger, im Gegensatz zu den radikalislamischen Milizen, die offen die Schutzwürdigkeit
von Kindern verletzten.
In Ihren Forderungen genauso wie in der Begründung Ihres Antrags befinden Sie sich meilenweit entfernt
von der Realität. Diese außenpolitisch andauernde Realitätsverweigerung ist bar jeder Vernunft. Stellen Sie
sich in dieser wichtigen Frage endlich den Tatsachen,
und helfen Sie mit konkreten politischen Vorschlägen,
die Lage in Somalia zu verbessern. Das Leid der Menschen in Somalia darf nicht für Ihre politisch-ideologisch motivierten Machenschaften missbraucht werden.
Die Situation in Somalia ist - man kann es nicht anders beschreiben - verfahren. Seit fast zwanzig Jahren
gibt es keinen funktionierenden Staat am Horn von
Afrika. De facto ist das Land dreigeteilt: in Somaliland
als gewissermaßen gefestigten Staat, Puntland als
schwachen Staat und Süd-Somalia als gescheiterte,
quasi staatenlose Region. Sie wird von den zunehmend
radikalisierten Al-Schabaab-Milizen kontrolliert, die
nicht nur Terror gegenüber der somalischen Bevölkerung ausüben, sondern durch Anschläge auch die Bevölkerung in den Nachbarstaaten bedrohen. Die von den
Vereinten Nationen anerkannte somalische Übergangsregierung unter Scheich Scharif ist nicht in der Lage,
mehr als wenige Straßenzüge in Mogadischu zu kontrollieren, und auch das gelingt ihr nur, weil die Mission der
Afrikanischen Union, AMISOM, den Schutz der Übergangsregierung sicherstellt und den Zugang zum Hafen
und zum Flughafen kontrolliert. Das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung an einem Ende der Kämpfe, an einem Wiederaufbau und einem menschenwürdigen Leben
wird von den bewaffneten Gruppen schlicht missachtet.
Von den insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern Somalias ist knapp die Hälfte auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen, und jedes vierte Kind ist akut unterernährt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten des Konfliktes wurden fast 1,5 Millionen Menschen vertrieben.
In den vergangenen Monaten haben mehr als 20 000
Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wasser verlassen. Hilfsorganisationen warnen aktuell davor, dass
bis zu einer halben Million Menschenleben durch ausbleibende Regenfälle und eine der schlimmsten Dürreperioden der vergangenen Jahre bedroht sind.
Derzeit ist wohl kein Akteur alleine in der Lage, die
physische Sicherheit der somalischen Bevölkerung zu
garantieren oder gar rechtsstaatliche Mechanismen zu
gewährleisten. Gerade Sicherheit ist jedoch eine der
Schlüsselvoraussetzung für Frieden und eine nachhaltige Entwicklung. Mit der EU-Trainingsmission in Somalia, EUTM, leistet die Europäische Union einen wichtigen Beitrag, um ein Mindestmaß an Sicherheit in und
für Somalia zu erreichen. Die EU und ihre beteiligten
Mitgliedstaaten greifen dabei gerade nicht parteiisch in
einen Bürgerkrieg ein, wie es die Linke in ihrem Antrag
in unverantwortlicher Weise behauptet. Sie agieren in
Abstimmung mit der internationalen Staatengemeinschaft. In seiner Resolution 1872 hat der VN-Sicherheitsrat regionale und internationale Organisationen
explizit aufgefordert, Unterstützung bei der Ausbildung
der somalischen Sicherheitskräfte zu leisten. Diese Resolution ist die Grundlage für EUTM. Die Mission dient
nicht nur dazu, Soldaten in militärisch-technischen Fragen auszubilden. Zum Programm zählt auch die Ausbildung in Fragen von Menschenrechten mit einem
Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz. Deshalb
gehören sowohl weibliche Ausbilder wie auch ein Gender Advisor zum Team von EUTM.
Bei aller Bedeutung, die wir der Mission beimessen,
dürfen wir natürlich auch die Probleme nicht außer Acht
lassen. Es ist richtig: Es lässt sich nicht ausschließen,
dass einige der gut ausgebildeten Soldaten bei ihrer
Rückkehr nach Somalia die Seiten wechseln. Sie werden
dies vor allem dann tun, wenn sie sich schlecht behandelt oder benachteiligt fühlen. Eine gute und regelmäßige Bezahlung ist dabei nur ein, aber ein wichtiger Aspekt. Die Mission und damit die Hoffnung auf Sicherheit
in Somalia gänzlich aufzugeben, ist aus meiner Sicht der
falsche Weg. Deshalb muss die internationale Staatengemeinschaft alles daran setzen, nicht nur die Ausbildung der Soldaten, sondern auch die Rahmenbedingungen für deren Einsatz zu verbessern.
Die Linke spricht sich in ihrem Antrag dafür aus, die
deutsche Beteiligung an EUTM sofort zu beenden.
Gleichzeitig fordert sie aber auch eine politische Lösung
in Somalia. Letzteres kann ich nur unterstützen; doch
leider sagt der Antrag nichts dazu, wie eine politische
Lösung erreicht werden kann. Hier zeigt die Linke
schlichtweg Orientierungslosigkeit. Wirkliche Fortschritte werden wir in Somalia nur erreichen, wenn der
Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen einschließlich der Sicherheitsstrukturen einhergeht mit der
Bekämpfung der Armut und der Sicherung von Menschenrechten. Dabei kann militärisches Engagement
kein Ersatz für Staatlichkeit und für eine friedliche Entwicklung Somalias sein. Das hat gerade meine Fraktion
immer wieder betont, zuletzt bei der Verlängerung des
Atalanta-Mandates. Deshalb müssen wir uns weiterhin
am Programm der internationalen Gemeinschaft zum
Wiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finanzierung von AMISOM beteiligen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Afrikanische Union selbst hat eine immer wichtigere Rolle bei der Friedenssicherung und Konfliktlösung übernommen. Die vorhandenen Kapazitäten gilt es
auszubauen und zu stärken. Deutschland sollte daher
die AU in ihrem Bestreben, positive Entwicklungen für
den afrikanischen Kontinent herbeizuführen, nach allen
Kräften unterstützen. Bei der Lösung der vielfältigen
Konflikte in Afrika muss die AU einer der wichtigsten
Partner der internationalen Staatengemeinschaft sein.
Mit Blick auf die Situation in Somalia hat die AU bei ihrem Gipfel in der vergangenen Woche deutlich gemacht,
dass sie bereit und in der Lage ist, hier Verantwortung
zu übernehmen.
Entsprechend den internationalen Vereinbarungen
läuft das Mandat der somalischen Übergangsregierung
am 20. August 2011 ab. Und man ist sich in der Staatengemeinschaft einig, dass es hier keinen Aufschub geben
darf. Aufgabe ist es, bis dahin eine neue Verfassung zu
entwickeln, freie und faire Wahlen zu organisieren und
dabei in einem demokratischen Prozess die verschiedenen somalischen Akteure einzubinden. Wenn das nicht
gelingt, dann wird die nächste somalische Administration nicht mehr sein als die 16. Übergangsregierung seit
1991.
Somalia ist seit dem Ende der gescheiterten UN-Friedensmission im Jahr 1995 zum Synonym und Paradebeispiel für Staatsversagen geworden. Die internationale
Gemeinschaft hat das am Golf von Aden gelegene Land
seit Mitte der 90er-Jahre sträflich vernachlässigt. Somalia von der internationalen Agenda zu nehmen war damals eine fatale Fehlentscheidung, die sich heute rächt.
Das äußert sich für alle am leichtesten nachvollziehbar
in den Meldungen über die florierende Piraterie vor der
somalischen Küste. Der weltweite volkswirtschaftliche
Schaden dieses Phänomens wurde bereits 2007 von der
Internationalen Handelskammer auf etwa 13 Milliarden
Euro geschätzt. Der Konflikt hat darüber hinaus aber
verheerende Folgen für die gesamte Region, die in den
Medien weit weniger präsent sind. Der Konfliktherd Somalia strahlt nicht nur auf die afrikanischen Nachbarstaaten aus, sondern auch auf den Jemen auf der arabischen Halbinsel.
Die Hoffnung, dass sich die somalische Übergangsregierung, Transitional Federal Government, TFG, nach
der Wahl von Scheich Scharif Sheik Ahmed zum Übergangspräsidenten im Januar 2009 als effektive Staatsmacht durchsetzten würde, hat sich bislang leider nicht
erfüllt. Die TFG kontrolliert mithilfe der Friedenstruppe
AMISOM der Afrikanischen Union nach wie vor nur einen Teil der Hauptstadt Mogadischu; AMISOM hat
seine Sollstärke von 8 000 Soldaten bis heute nicht erreicht.
Erst spät, als sich das Problem aufgrund der ausufernden Piraterie in den somalischen Küstengewässern
nicht mehr ausblenden ließ, hat die Europäische Union
reagiert. Mit der Mission Atalanta leistet die EU seit
2008 einen wichtigen Beitrag, um das Piraterieproblem
einzudämmen. Deutschland ist hieran mit einer Fregatte
und bis zu 1 400 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit
April letzten Jahres unterstützt die EU mit der Ausbildungsmission EUTM Somalia die provisorische somalische Übergangsregierung auch bei der Ausbildung von
bis zu 2 000 Rekruten in Uganda. Deutschland ist an
dieser Mission mit bis zu 13 Angehörigen der Bundeswehr beteiligt. Während Uganda die Grundausbildung
der Rekruten übernimmt, kümmert sich die EU vor allem
um die Spezialisierung der Soldaten. Hierzu gehört ausdrücklich auch die Ausbildung in Menschenrechtsfragen
mit einem Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz.
Die Bemühungen allein im militärischen Bereich können den Konflikt natürlich nicht grundlegend lösen.
AMISOM, Atalanta und EUTM Somalia können die aktuellen Symptome lindern und die Voraussetzungen für
eine politische Lösung verbessern helfen, indem sie für
ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen. Dabei müssen
diese Bemühungen eingebettet sein in ein politisches
Gesamtkonzept. Dieses Konzept muss von allen relevanten politischen Gruppen in Somalia selbst getragen
werden und auch - und gerade - die Anrainerstaaten
umfassen, denn der Konflikt hat schon lange eine überregionale Dimension.
Die Nachbarstaaten haben dabei unterschiedliche
Interessen. Es ist kein Geheimnis, dass Äthiopien die somalische Übergangsregierung unterstützt, Eritrea hingegen die UIC. Damit stärken diese Länder somalische
Kontrahenten und weiten ihre eigenen Konflikte auf
Stellvertreter im Somalia aus. Doch die regionale Verflechtungen gehen weiter: Ägypten, Dschibuti, Kenia,
Jemen und Sudan - auch diese Länder verfolgen verschiedene Ansätze und Eigeninteressen, auch das muss
bei den politischen Ansätzen beachtet werden.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Alle internationalen Versuche, eine friedliche Entwicklung Somalias zu
befördern, können nur eine unterstützende Rolle einnehmen. Ein tragfähiger Friedensprozess kann nur von Innen kommen. Daher ist es an den Somalis selbst, eine
politische Einigung über eine friedliche Entwicklungsperspektive für ihr Land zu erzielen.
Ich begrüße es, dass die internationale Gemeinschaft
und mit ihr die Europäische Union ihre diplomatischen
Bemühungen in dieser Richtung intensivieren. Hierzu
wurde im Oktober 2010 der „Strategy and Action Plan
for Inland Somalia“ vorgelegt, welcher sich an drei
Leitlinien orientiert: dem innersomalischen Dialog, dem
Wiederaufbau von somalischen Schlüsselinstitutionen
sowie dem Dialog mit internationalen Gemeinschaften
und Partnern. Der Plan betont dabei die Notwendigkeit
der weiteren, intensivierten Unterstützung Somalias
durch die internationale Gemeinschaft und empfiehlt die
Unterstützung des „Kampala Framework for Dialogue
among Somalis“, in dessen Rahmen Vertreter der einzelnen Regionen zu Gesprächen zusammengeführt werden.
Des Weiteren wird eine weitere Stärkung von AMISOM
und der provisorischen Übergangsregierung gefordert
und eine verbesserte Koordination der internationalen
Unterstützungsbemühungen postuliert. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat eine konkrete Ausarbeitung hierzu begrüßt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Rahmen dieses politischen Gesamtansatzes, den
es weiter zu entwickeln und auszubauen gilt, bilden die
genannten Missionen einen wichtigen Baustein. Sie alleine können den Frieden nicht bringen, aber ohne sie
wird es keinen Frieden geben. Zur Unterstützung einer
politischen Lösung, die alle relevanten somalischen und
regionalen Akteure mit einbeziehen muss, sind
AMISOM, EUTM Somalia und Atalanta kurz- und mittelfristig ein unverzichtbarer Beitrag.
In Somalia herrscht Bürgerkrieg. Die international
anerkannte Übergangsregierung, Transitional Federal
Government, TFG, wurde nach der US-gestützten Invasion durch Äthiopien im benachbarten Djibouti aus verschiedenen Warlords zusammengesetzt. In Wirklichkeit
existiert diese Regierung gar nicht. Es handelt sich bei
der TFG um einen Haufen zwielichtiger Persönlichkeiten, die internationale Hilfsgelder einstreichen, aber
primär damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekämpfen - und zwar nicht so, wie das auch die deutsche
Bundesregierung tut, sondern mit Maschinengewehren
und Mörsergranaten. Selbst Kindersoldaten werden eingesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese korrupte
Herrscherclique bedingungslos, weil diese es ihr erlaubt, in ihren Küstengewässern auf Piratenjagd zu
gehen und deutsche Wirtschaftsinteressen abzusichern,
ganz im Sinne des ehemaligen Bundespräsidenten
Köhler und des Verteidigungsministers zu Guttenberg.
In Somalia selbst hat diese Übergangsregierung keinerlei Legitimität. Sie übt nur formal Kontrolle über den
Hafen und den unmittelbar daneben gelegenen Flughafen in Mogadischu aus, und das mithilfe von über 7 000
Soldaten der AMISOM-Mission der Afrikanischen
Union, die diesen Hafen halten und um die Kontrolle des
benachbarten Regierungsviertels kämpfen. Bezahlt wird
dieser Einsatz überwiegend von den USA und der EU.
Letztere entnimmt die Mittel hierfür aus dem Europäischen Entwicklungsfonds. Das heißt, dass deutsche Entwicklungshilfegelder so in einen Kampfeinsatz fließen,
bei dem regelmäßig Kriegsverbrechen begangen werden. Bei den 5 000 bis 10 000 Soldaten, über die die
TFG verfügen soll, handelt es sich um Milizen - darunter wie gesagt viele Kindersoldaten -, die sich sporadisch gegenseitig bekämpfen. Die Angehörigen erhalten
keinen Sold, sie leben oft von Plünderungen und Erpressungen. Auch die Soldaten der AMISOM erhalten oft
verspätet und manchmal gar keinen Sold. Sie sind unmotiviert, haben sich im Hafen verschanzt und reagieren
auf Angriffe mit dem willkürlichen Beschuss von Wohngebieten mit Mörsergranaten. Nahezu wöchentlich wird
so der wichtigste Markt der Hauptstadt beschossen, jeweils mit Dutzenden Toten.
Das ist der Hintergrund, vor dem Bundesregierung
und EU vor einem Jahr, am 15. Februar 2010, beschlossen haben, 2 000 Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden - mit einer eigens hierfür
aufgestellten militärischen Mission der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, EU-Training-Mission for Somalia, EUTM. Die Ausbildung findet
in Uganda statt. Und Uganda ist wohlweislich Konfliktpartei im somalischen Bürgerkrieg. So wurde der ugandische Truppenübungsplatz mit EU-Geldern massiv ausgebaut. Parallel hierzu bilden im selben Feldlager auch
die ugandischen Streitkräfte somalische Rekruten aus,
die anschließend ebenfalls im Rahmen von EUTM fortgebildet werden sollen.
Die Bundeswehr ist mit bis zu 20 Soldaten vor Ort an
der Ausbildung beteiligt, die unter anderem den Kampf
in bebautem Gelände umfasst. Auf Videos ist zu sehen,
wie somalische Rekruten unter Anleitung europäischer
Soldaten Häuser stürmen und das Schießen erlernen.
Bis heute konnte die Bundesregierung letztlich nicht
ausschließen, dass dabei auch Minderjährige zu Soldaten gemacht werden. Erst vor zwei Wochen hat Staatsminister Hoyer hier eingeräumt, dass bezüglich des Alters
„immer eine gewisse Restunsicherheit“ bliebe und
„man Fragen dieser Art [bisweilen] nach Augenschein
entscheiden“ müsse. Die Verantwortung für die Auswahl
der Rekruten wird von der Bundesregierung auf die USA
abgeschoben, welche die jungen Somalier nach Uganda
fliegen, und auf die AMISOM und die Übergangsregierung, welche für die Auswahl zuständig ist. Das sind die
Fakten der EUTM Somalia.
Diese Vorgänge sind so bodenlos, so empörend, dass
sie kaum in Worte zu fassen sind. Die Bundeswehr steckt
mitten im schmutzigen Bürgerkrieg in Somalia. Man
müsse die „Realitäten on the ground“ zur Kenntnis nehmen, wurde dem Bundestag hier vor zwei Wochen von
Staatsminister Hoyer vorgehalten, und gemeint war damit, sich diesen anzupassen. Er hatte dies gesagt, nachdem er eingestehen musste, dass die Bundesregierung
auch in Äthiopien die Ausbildung Minderjähriger zu
Soldaten finanziert hat und dass diese nun irgendwo im
somalisch-äthiopischen Grenzgebiet ohne Sold, aber mit
Waffen unterwegs sind. Damit entpuppt sich wieder einmal all das Gerede von Werten, Demokratie und Menschenrechten in der Außenpolitik als leeres Geschwätz
- wie auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo
man hinsichtlich Ägyptens deutlich machte, dass Stabilität vor Demokratie geht. Doch die 2 000 Soldaten, die in
Bihanga ausgebildet werden sollen, werden nicht einmal
einen Beitrag zur Stabilität leisten. Sie werden einfach
eine weitere marodierende Miliz werden oder zu den
Aufständischen überlaufen - finanziert und ausgebildet
mithilfe der deutschen Bundesregierung. Bis zu 60 000
Soldaten soll Äthiopien in Somalia stationiert gehabt
haben, und alles, was sie erreicht haben, war eine weitere Destabilisierung des Landes. Das ganze Piraterieproblem, das jetzt ebenfalls militärisch bekämpft wird,
ist erst mit dieser Invasion entstanden.
Wir sehen hier auch die Konsequenzen einer Armee
im Einsatz. Es gibt keine sauberen und demokratischen
Kriege und keine Menschenrechtskrieger. Wir sehen in
Afghanistan, wie der Krieg die Menschen verroht, wie
Bundeswehrsoldaten mit Totenköpfen spielen, mit der
Waffe posieren und sich gegenseitig bedrohen. Wir sehen in Somalia und Uganda, wie Kriegsverbrecher unterstützt, Rekruten gequält und Kindersoldaten rekrutiert werden. Prinzipien wie Innere Führung und die
demokratische Kontrolle der Streitkräfte verkommen bei
einer Armee im Einsatz zur Makulatur.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Obwohl die Bundeswehrsoldaten bei diesem Ausbildungseinsatz bewaffnet sind, wurden sie ohne eine Befassung und Abstimmung des Bundestages nach Uganda
geschickt. Wir sehen hier, wie die demokratische Kontrolle der Bundeswehr über den Umweg der EU aus dem
Weg geräumt wurde. Ich halte es für keinen Zufall, dass
gerade bei diesem Einsatz, der ohne Beteiligung des
Bundestages zustande kam, alles schiefläuft. Dieser Antrag ermöglicht uns, die Notbremse zu ziehen, die Bundeswehr aus Uganda abzuziehen und jede weitere finanzielle Beteiligung an der Mission zu verweigern. Der
Zeitpunkt ist günstig; denn die Ausbildung der ersten
1 000 Soldaten ist gerade abgeschlossen. Sie wurde nun
verlängert, weil es sich als schwierig erweist, weitere
1 000 Soldaten zu rekrutieren, und weil völlig unklar ist,
was mit den 1 000 bereits ausgebildeten passieren soll.
Wir müssen endlich Schluss machen mit der Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für Kriegsverbrecher und
diktatorische Regime wie in Afghanistan, Ägypten und
Somalia. Und wir müssen uns Gedanken machen, was
wir mit den 1 000 Somaliern machen, die mit Versprechen vom großen Geld aus ihren Familien gerissen,
nach Uganda geflogen und dort in ein Militärcamp gesperrt wurden, um sie zu Soldaten zu machen. Das Mindeste, was die deutsche Bundesregierung tun muss, ist,
sich bei diesen Somaliern zu entschuldigen. Die deutsche Außenpolitik muss sich an Rechtstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Völkerrecht orientieren. Deshalb
muss die EUTM Somalia unverzüglich beendet werden.
Seit Mai letzten Jahres beteiligen sich sechs deutsche
Ausbilder an der European Training Mission in Uganda,
um dort Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden. Diese EU-Mission im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde
am 31. März 2010 im Rat beschlossen. Der Deutsche
Bundestag war bei dieser Ausbildungsmission nicht beteiligt, da nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz reine
Ausbildungsmissionen keine zustimmungspflichtigen
Auslandseinsätze sind. Danach liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte nur vor, wenn Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete
Unternehmung zu erwarten ist. Unabhängig von der
Frage, ob die enge Definition eines mandatspflichtigen
Einsatzes möglicherweise überprüft werden sollte, hätte
die Bundesregierung gut daran getan, von sich aus das
Parlament zu einzubeziehen.
Die Ausbildung der Sicherheitskräfte findet zwar
nicht direkt in einem bewaffneten Konflikt statt, aber unmittelbar im Zusammenhang mit einem solchen. Die Zustände in Somalia dürfen sicherlich als nicht internationaler bewaffneter Konflikt, also als Bürgerkrieg,
bezeichnet werden. Die Sicherheitskräfte werden ihre
neu erlernten kämpferischen Fähigkeiten daher auch
nach ihrer Rückkehr nach Somalia einsetzen können. Es
fragt sich nur für wen und zu welchem Zweck?
Der erste von den beiden Lehrgängen mit 1 000 Soldaten sollte nach Abschluss der sechsmonatigen Ausbildung längst nach Mogadischu zurückgekehrt sein. StattSevim Dağdelen
dessen wird diese Rückkehr Woche um Woche verzögert,
weil in Mogadischu überhaupt keine Infrastruktur existiert, um die Soldaten aufzunehmen, unterzubringen
oder gar zu bezahlen. Die US-Regierung hat den ausgebildeten Sicherheitskräften eine Bezahlung von 100 USDollar im Monat zugesagt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie nach Mogadischu zurückkehren
und dort für die Übergangsregierung tätig werden. Die
Auszahlung des Soldes erfolgt dabei durch Mitarbeiter
des Unternehmens PricewaterhouseCoopers, das bereits 2009 von der somalischen Übergangsregierung gebeten worden war, sich um die Buchhaltung des Landes
zu kümmern. Das ist übrigens das gleiche Unternehmen,
das die Marktanalyse für die Exportmöglichkeiten des
A400M erstellt hat.
Wo allerdings keine staatliche Autorität existiert, ist
es unverantwortlich Kämpfer auszubilden. Eine legitime
Staatsmacht ist eine Voraussetzung für den Aufbau einer
Armee und nicht umgekehrt. Dass es in zehn Monaten
nicht gelungen ist, die notwendige Infrastruktur in Mogadischu zu schaffen, um die Ausbildungsabsolventen
aufzunehmen, sollte der EU als Warnung ausreichen.
Die Ausbildung militärischer Kämpfer in einem politischen Machtvakuum kann und wird nicht funktionieren.
Zu Recht besteht im Falle Somalia ein Waffenembargo.
Wir sollten aber nicht nur davon Abstand nehmen, Waffen in diesen blutigen Konflikt zu liefern, sondern auch
davon, die Menschen dort in der Benutzung dieser Waffen zu unterrichten und zu schulen. Das macht die Position der Europäischen Union an dieser Stelle inkonsistent. Solange es in diesem Failed State kein staatliches
Gewaltmonopol gibt, wird die Trainingsmission nichts
zur Stabilisierung Somalias beitragen können. Das Gegenteil ist zu befürchten.
Ich halte die Fortsetzung der Training-Mission in diesem Stadium für unverantwortbar. Der zweite Durchgang sollte gar nicht erst beginnen. Die zweite Forderung des Antrages zielt darauf, unverzüglich die
Beiträge der Bundesregierung über den Athena-Mechanismus einzufrieren. Über diesen Mechanismus werden
allerdings nicht nur die Trainingsmission in Uganda,
sondern auch der Atalanta-Einsatz und die humanitäre
Hilfe für Somalia finanziert. Möglich, dass Sie hier nur
gemeint haben, die spezifischen Mittel für die Trainingsmission einzufrieren. Dann hätte es allerdings nahegelegen, das auch zu präzisieren. Deutschland hat für 2011
7,5 Millionen Euro zur Finanzierung über Athena in den
Einzelplan 14 eingestellt. Da Deutschland mit 20 Prozent beteiligt ist, gehe ich davon aus, dass die Mittel sich
insgesamt auf 35 bis 40 Millionen Euro belaufen. Für
die EUTM ist ein Budget von gerade einmal 4,8 Millionen vorgesehen. Damit wird deutlich, dass die EU auf
diesem Wege überwiegend andere, aus unserer Sicht
sinnvolle Maßnahmen finanziert. Außerdem stellt sich
die Frage, ob das Einfrieren von Mitteln der richtige
Weg ist, die europäischen Partner davon zu überzeugen,
eine selbst im Rat mit beschlossene Operation abzubrechen.
Die Bundesregierung sollte sich im sicherheitspolitischen Komitee auf EU-Ebene dafür einsetzen, die Mission zu beenden. Das dürfte eher zum angestrebten ErZu Protokoll gegebene Reden
folg führen als der einseitige, unverzügliche Abzug der
sechs Bundeswehroffiziere.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4248 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu
der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
KOM({0}) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
- Drucksache 17/4672 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Auf dem Tisch liegt heute ein Antrag der Fraktion Die
Linke. Dieser basiert auf einer Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und
den Europäischen Rat mit dem Arbeitstitel: „Auf dem
Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und Humanitärer Hilfe“. Bevor ich zum Antrag komme, erlauben Sie
mir, dass ich zunächst auf die Mitteilung selbst eingehe.
Die Europäische Union ist bemüht, seit der Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember 2004, an der Seite anderer
Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen,
ihre Reaktionsfähigkeit in Krisenfällen zu verbessern. In
diesem Kontext ist auch die Mitteilung der EU-Kommission zu sehen. Die Kapazität der Europäischen Union in
diesem Bereich soll - sowohl im Hinblick auf den Katastrophenschutz als auch in Bezug auf die humanitäre
Hilfe - gestärkt werden. Damit wird - wie der Mitteilung
zu entnehmen ist - eine doppelte Zielsetzung verfolgt.
Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausgebaut werden, und zweitens sollen ein europäisches
Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Informationsaustausch und eine verstärkte Koordinierung
auf EU-Ebene im Katastrophenfall eingerichtet werden.
Vor diesem Hintergrund habe ich mit einiger Verwunderung Ihren Antrag zur Mitteilung der Kommission zur
Kenntnis genommen. Wer ihn genau verfasst hat, weiß
ich natürlich nicht. Es muss aber jemand sein, der nicht
im Innenausschuss war bzw. nicht weiß, dass wir auf
meine Anregung hin - uns sehr intensiv mit dieser Mitteilung auseinandergesetzt haben. Die Bundesregierung
hat zusätzliches Material bereitgestellt. Auch hier gilt,
dass Lesen bildet; und hilfsweise das Zuhören im Innenausschuss. Das, was Sie fordern, ist sowohl realitätsfern
als auch zeitlich überholt.
Einige Punkte will ich noch einmal herausgreifen. Sie
schreiben: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich im Rat aktiv für eine zivile und
von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige
Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Ausbau
entsprechender Kapazitäten, die vom Militär unabhängig sind, einzutreten.“ Diese Forderungen ignorieren
die Praxis und die Erfahrungen aus der Vergangenheit;
denn eine Katastrophenabwehr bei Großschadenslagen
ohne militärische Hilfe ist heutzutage undenkbar bzw.
kaum leistbar. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest,
dass die Naturereignisse immer größer werden.
Ich nehme dabei Bezug auf Ihre Formulierung im Antrag - ich zitiere -: „Der Bundestag wolle beschließen
… Der Deutsche Bundestag stellt fest … Der Bundestag
verweist auf den in der Mitteilung der Kommission dargestellten Anstieg von schlimmen Naturkatastrophen mit
hohen Verlusten an Menschenleben …“ Meine Damen
und Herren von den Linken, welches Mitgliedsland kann
es sich heutzutage finanziell erlauben, eine leistungsfähige Armee und - parallel dazu - eine Katastropheneinsatztruppe für Großschadenslagen bereitzuhalten? Wir
können in Deutschland stolz sein auf unser bestehendes
Schutz- und Hilfesystem. Denn nur beim gemeinsamen
Einsatz von unterschiedlichen Hilfsorganisationen auf
kommunaler Ebene und den Behörden auf Bundesebene
sind wir gut aufgestellt.
An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den
zahlreichen Freiwilligen und Ehrenamtlichen von Herzen für ihre unverzichtbare Arbeit zu danken. Mit ihrem
Engagement, mit ihrem Verzicht auf viel Freizeit und ihrer ständigen Einsatzbereitschaft geben sie ein besonderes Beispiel für bürgerliches Engagement. Das ist mehr,
als der von Ihnen gewünschte hauptamtliche Einsatz; sie
prägen den Charakter unserer Gesellschaft und entsprechen dem Subsidiaritätsprinzip in besonderem Maße.
Nicht zuletzt machen sie es möglich, dass Deutschland
in Europa ein beispielgebendes Mitgliedsland ist.
Die Bundesregierung unterstützt die EU beim Ausbau
jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen Katastrophenschutz, der humanitären Hilfe, dem Militär, um
durch Nutzung auch militärischer Ressourcen die Verbesserung der entsprechenden Strukturen und Verfahren
der Zusammenarbeit zu erreichen, sowohl die der
EU-Institutionen untereinander als auch zwischen EU
und NATO. Allerdings drängt die Bundesregierung darauf, dass der Konsens zur humanitären Hilfe und die
Oslo-Guidelines dabei beachtet werden.
In einem weiteren Punkt Ihres Antrages soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die in
der Mitteilung der Kommission angekündigten Rechtsakte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abzulehnen. Ja, was ist das denn? Meinen
Sie das wirklich ernst? Eine Seite zuvor schreiben Sie
noch vom Anstieg schlimmer Naturkatastrophen, und
nun soll eine Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abgelehnt werden.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen, wie zum
Beispiel, Überschwemmungen in Australien, Zyklone
und Blizzards in den Vereinigten Staaten, zeigen, dass
die Naturgewalten ein immer größeres Ausmaß annehmen. Selbst die zu diesen Ereignissen im Verhältnis stehenden kleinen Katastrophenlagen in Deutschland - ich
sage nur am Rhein, an der Elbe und an der Oder - machen deutlich, dass eine in Gemeindegrenzen, eine in
Ländergrenzen oder eine in Staatengrenzen bestehende
Denkweise hier absolut verfehlt ist. Naturkatastrophen
kennen keine Begrenzungen und keine Grenzen; das
sollten auch Sie wissen.
Eine Stagnation in der Weiterentwicklung der Katastrophenabwehr können und wollen wir uns nicht leisten. Es ist also notwendig, dass Notfallpläne für den
Einsatz erstellt werden. Dafür ist es wichtig, über die
Ressourcen der einzelnen Mitgliedstaaten Bescheid zu
wissen. Eine Weiterentwicklung der Katastrophenabwehr bedarf der nun geplanten Rechtsakte; das liegt in
der Natur der Sache bzw. in dem Charakter des Europarechts. Eine Ablehnung ist völlig undenkbar. Aber auch
hier steckt der Teufel im Detail. Es ist halt wie im
schlichten Leben. Meine Damen und Herren von den
Linken, wenn Sie schon etwas aufgreifen wollen, dann
übersehen Sie einen viel wichtigeren Punkt, bei dem wir
gefordert sind. Gemäß der Mitteilung ist der Aufbau einer von den Mitgliedstaaten unabhängigen, eigenständigen Katastrophenabwehr auf EU-Ebene geplant. Dies
lehnen wir ab, und wir waren uns im Innenausschuss darin auch immer einig. Eine vorgesehene Aufstellung EUeigener Kapazitäten unter eigener operativer Befugnis
und Verfügungsgewalt läuft Art. 196 des Vertrages über
die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, entgegen, ist auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst und
würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich eben schon hingewiesen habe. Bei all
der Hilfe innerhalb und außerhalb der EU muss den Mitgliedsländern ein sogenanntes Letztentscheidungsrecht
verbleiben. Das heißt, die Verantwortung für den Katastrophenschutz verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Dies
ergibt sich aus der Kompetenzzuweisung des Vertrages
von Lissabon und entspricht eben dem Subsidiaritätsprinzip.
Dem steht nicht entgegen, dass eine Kooperation und
eine Koordination durch die Kommission nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert sind. Wir sind der
Ansicht, dass die Kommission zu Recht mehrfach die
grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst
betont hat.
Zusammengefasst und wie bereits oben dargestellt, ist
der Antrag der Linken überholt und realitätsfern. Wir
lehnen ihn daher ab.
Dem vorliegenden Antrag der Linken gebührt zumindest das Verdienst, die Frage der Weiterentwicklung des
Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe auf europäischer Ebene zum Gegenstand der Debatte in diesem Hause gemacht zu haben. Dieses Verdienst wird leider dadurch geschmälert, dass die Linke der Versuchung
nicht widerstehen konnte, die durchaus notwendige kritische Auseinandersetzung mit dem Kommissionsvorschlag und der diesen begleitenden Diskussion auf europäischer Ebene - dazu gehören auch der Beschluss des
Europäischen Parlamentes zur Stärkung des Katastrophenschutzes und der Beschluss des Europäischen Parlamentes zur Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Akteuren - allein aus ihrer ideologischen Sicht
einer überall drohenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik und der Katastrophenhilfe als Ganzes zu sehen.
Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir Sozialdemokraten treten angesichts der wachsenden Gefahren
und Herausforderungen durch den Klimawandel, angesichts der steigenden Verwundbarkeit und Verletzlichkeit
komplexer moderner Gesellschaften und der zunehmenden globalen Vernetzung und Verkettung von Risiken
und Gefahren für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären
Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.
Ich erinnere nur an einige aus einer Reihe von vielfältigen Initiativen, etwa die unter rot-grün vorgenommene
Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz
und Katastrophenhilfe oder auch die von der großen Koalition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch
das Zivilschutzergänzungsgesetz. Es gab durchaus auch
fraktionsübergreifende Initiativen wie das aus dem Parlament initiierte und von Vertretern aller Parteien getragene „Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.
Da wir wissen, dass Katastrophen und Krisen nicht
vor Ländergrenzen halt machen, und wir Sozialdemokraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationaler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der
internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer
Ebene. Dabei haben wir immer betont - das wurde auch
in der Vergangenheit von allen Koalitionen dieses Hauses im Innenausschuss so gesehen -, dass sich das Subsidiaritätsprinzip im Bereich des Katastrophenschutzes
bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten
muss. Darum haben wir, übrigens bislang auch einmütig
in diesem Hause, alle Versuche auf europäischer Ebene,
eigene Katastrophenschutzkapazitäten aufzubauen und
zusätzlich aufzustellen, zurückgewiesen. Gerade vor
dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und
Herausforderungen muss es im Interesse aller europäischen Länder sein, zuvörderst die örtlichen und nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stärZu Protokoll gegebene Reden
ken und auszubauen. Nur so können die Grundlagen
einer tragfähigen gesamteuropäischen Stärkung der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe gelegt
werden.
Subsidiarität bedeutet aber auch, dass dort, wo eigene Mittel nicht mehr ausreichen, der überregionale
Ausgleich und die überregionale Unterstützung gesucht
und vorangetrieben werden. Dies gilt sowohl für Katastrophenlagen und humanitäre Krisensituationen innerhalb der Europäischen Union als auch außerhalb der
europäischen Union. Darum unterstützen wir den Vorschlag, die Koordinierungsinstrumente auf Europäischer Ebene zu stärken. Durch die Identifizierung von
Modulen, die innerhalb der nationalen Katastrophenabwehrkapazitäten bereitgestellt werden, und durch
zusätzliche Ausbildung können diese untereinander
kompatibel und bei der Hilfe gegenüber Dritten handlungsfähig gemacht werden. Diese Strategie halten wir
grundsätzlich für richtig und sollten sie auch vom
Grundsatz her bei der Bildung des in den Lissabonner
Verträgen vorgesehenen europäischen Freiwilligenkorps verfolgen.
Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokraten entscheidend, angesichts der Herausforderung und der
Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten
des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt
Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen.
Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stärkere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen
und Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung mit
der geplanten Einrichtung eines zivilen Cyberabwehrzentrums einen Schritt in die richtige Richtung setzt und
die Gefahren nicht allein unter Cyber War subsumiert.
Denn die Reduzierung auf den militärischen Verteidigungsbegriff wäre deutlich zu kurz gegriffen. Neben
staatlichen Aktionen liegt das Gefährdungspotenzial
nicht nur im Terrorismus, sondern auch in organisierter
Kriminalität und im wachsenden Schadenspotenzial
durch Individualtäter. Die Zunahme internationaler Krisenherde fordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten
der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu
denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige
Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile
Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches
Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt
haben und spielen. Wir Sozialdemokraten sind bereits in
der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die
zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der
Bewältigung von Krisenlagen - die Vereinten Nationen
sprechen nach meinem Dafürhalten zu Recht von sogenannten Complex Emergencies - zu stärken, und dies
nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der internationalen Mechanismen. Wir halten es
ausdrücklich für richtig, dass auch die Koordinierung
der europäischen Katastrophenhilfe und humanitären
Hilfe sich im internationalen Kontext unter das Primat
der Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen
stellt, so wie sich die Bundesrepublik Deutschland auch
auf bilateraler Ebene nicht nur in die Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen einfügt, sondern diese
auch aktiv und tatkräftig unterstützt.
Wir Sozialdemokraten stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastrophenschutzes und der humanitären
Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler
Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne,
die es in der Union zu einer stärkeren Militarisierung
des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der
Föderalismusreform I als auch in der großen Koalition
am klaren Widerstand der sozialdemokratischen Partei
gescheitert sind.
Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe
Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies unser Grundgesetz vorsieht. Dies gilt nicht nur im Inland,
sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten
kommen, und gerade in so genannten komplexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt nach meinem
Dafürhalten nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch
für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber
Subsidiarität muss möglich sein.
Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, ist Ihr Antrag eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Offensichtlich haben Sie einige Zusammenhänge entweder nicht verstanden aus ideologischen
Gründen oder bewusst mißgedeutet. Lassen Sie mich aus
eigener Erfahrung sagen: In bestimmten Lagen ist die
zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen.
Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im
Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine
Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte.
Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäischen und internationalen Rahmen auch, die Besonderheiten anderer europäischer Länder zu respektieren. In
den meisten anderen europäischen Ländern ist der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz in Form der Zivilverteidigung organisiert, was übrigens auf unser THW
auch zutrifft. So sind etwa die österreichischen Rettungseinheiten bei Erdbeben, mit denen das THW auf internationaler Ebene zusammenarbeitet, unbewaffnete
Teile des österreichischen Bundesheeres. In Frankreich
wird diese Aufgabe von der Sécurité Civile wahrgenommen, einer kasernierten militärischen Formation, die
dem Innenministerium unterstellt ist. Aber nicht nur
das: Die von Ihnen kritisierte Nutzung von militärischen
Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten
Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10
ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Osloer Leitlinien umfassen eben nicht nur militärisches Gerät und EinrichZu Protokoll gegebene Reden
tungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern
auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu
denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das
Technische Hilfswerk gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit Ihrem Antrag wirklich fordern wollen,
dass die Bundesrepublik Deutschland künftig auf den
Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären
Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichtet, weil
dies eine Militarisierung derselben sei, oder gar aus den
gleichen Gründen die Auflösung des THW im Inland fordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schießen mit Ihrem Antrag weit über das Ziel hinaus und
darum ist er für uns Sozialdemokraten nicht zustimmungsfähig.
Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss
überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden.
Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an
den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zusammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen
uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt
bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den
Zentralisierungsabsichten der EU. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine
der grundlegenden Aufgaben des Staates. Es gibt jedoch
nur selten Großschadenslagen, die im Sinne des unmittelbaren Bevölkerungsschutzes mehrere EU-Staaten zugleich treffen. EU-Rechtsakte auf diesem Gebiet sind
höchst überflüssig. Das gezierte antimilitärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem
Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie
der Linken-Antrag völlig zu Recht sagt, ist davor zu warnen, „die Sichtbarkeit der und Koordination durch die
EU als Selbstzweck zu verfolgen.“
Für den Katastrophenschutz kann man nie zu viel tun;
man kann aber das Falsche tun.
Die Europäische Kommission hat sich des Themas
angenommen, und das ist an sich gut. Es ist gut, eine Inventarisierung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten
in den Mitgliedstaaten durchzuführen und auch Planungsszenarien zu entwickeln, wie länderübergreifenden Großschadenslagen begegnet werden kann. Auch
sind eine verstärkte Koordinierung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe sowie eine Intensivierung
der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen äußerst
sinnvoll.
Doch die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung an
das Europäische Parlament und den Rat auch Ziele formuliert, die auf entschiedenen Widerstand der Linken
stoßen. Teils versteckt, teils offen wird dem Aufbau von
EU-eigenen Kapazitäten das Wort geredet, die Katastrophenschutz, humanitäre Hilfe und Krisenreaktionsabwehr im Sinne von Sicherheits- und Verteidigungspolitik
bewältigen sollen. Anspielend auf die Haushaltszwänge
wird den Mitgliedstaaten eine Brücke gebaut, eigene
Kapazitäten einzusparen und auf einen europäischen
Katastrophenschutz umzusatteln.
Wenn Sie sich mit den Mitarbeitern des Zivil- und Katastrophenschutzes unterhalten, wird Ihnen jeder bestätigen, dass Katastrophenschutz flächendeckend und dezentral organisiert sein muss.
Die schnelle Reaktion der Helfer in den ersten Stunden einer Katastrophe entscheidet über die Effektivität
bei der Rettung von Opfern oder der Eindämmung von
Schadensereignissen. Weit auseinanderliegende Strukturen mit Leitungsstäben, die Hunderte Kilometer vom
Schadensort entfernt agieren, sind ineffektiv.
Es spricht alles für eine Stärkung des Katastrophenschutzes vor Ort. Es mag einige wenige Fälle geben, bei
denen es sinnvoll ist, teure Spezialtechnik europaweit
anzuschaffen und koordiniert einzusetzen, zum Beispiel
Feuerlöschflugzeuge zur Waldbrandbekämpfung.
EU-Einheiten zum Katastrophenschutz an sich machen aber fachlich keinen Sinn. Da dies bekannt ist, werden von der Kommission die internationale humanitäre
Hilfe und die Krisenreaktionsabwehr in die Diskussion
gebracht. Nun obliegt die Koordination der internationalen humanitären Hilfe den Vereinten Nationen. Diese
bittet die Staaten bei Katastrophen um Hilfe. Welche
Rolle die EU dort spielen will, wird von der Kommission
aber nicht fachlich beantwortet.
Der Vorschlag der Kommission, verstärkt die Nutzung militärischer Kapazitäten zum Katastrophenschutz
einzubringen, wird auf eine immer stärkere Vermischung
von zivilen und militärischen Elementen hinauslaufen.
Wie immer wird unter dem Vorwand von Haushaltszwängen auf die brachliegende Nutzung militärischer
Kapazitäten und Spareffekte bei der Anschaffung im zivilen Bereich verwiesen. Dieses Herangehen hat die
Bundesregierung der Kommission seit Jahren vorgelebt
und es wird von dieser offensichtlich kopiert. Die versprochenen Spareffekte sind aber eine Milchmädchenrechnung. Militärische Standorte mit potenziellen Katastrophenschutzfähigkeiten sind oft mehrere Hundert
Kilometer voneinander entfernt und in ihrer Verteilung
nach verteidigungspolitischen Systematiken und nicht
nach Erfordernissen des Katastrophenschutzes aufgestellt. Eine zeitnahe Verwendbarkeit des Militärs im
Schadensfall ist nicht gewährleistet.
Der Bericht der Kommission bezweckt nur eins: Einige wenige sinnvolle Ansätze zur Effektivierung des
Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe werden zum Anlass genommen, der EU Zuständigkeiten zuzuschieben, die dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen und verstärkt militärische Elemente in den
Katastrophenschutz integrieren. Damit wird in Kauf genommen, dass angesichts der schwierigen Haushaltslage einzelne Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten abbauen
und die Verantwortung zunehmend in die Hände der EU
Zu Protokoll gegebene Reden
geben, wo sie nicht hingehört. Dieser Weg ist falsch und
wird von uns entschieden abgelehnt!
Unser Weg ist ein anderer. Wir fordern die Bundesregierung daher auf: erstens sich im Rat aktiv für eine
zivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für den
Aufbau entsprechender logistischer Kapazitäten, die
vom Militär unabhängig sind, einzutreten; zweitens die
in der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die
Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“
({0}) angekündigten Rechtsakte zur
Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abzulehnen; drittens sich im Rahmen der Vorbereitung des für Ende 2011 angekündigten Legislativvorschlags „Vorschlag zur Überarbeitung der Vorschriften
für Katastrophenvorsorge und -abwehr“ dafür einzusetzen, dass die Verzahnung ziviler und militärischer Instrumente in der Katastrophenabwehr und die Verbindung der Katastrophenabwehr mit sicherheits- und
außenpolitischen Strategien ausgeschlossen werden; die
primäre Verantwortung der zuständigen Behörden der
betroffenen Staaten für die Umsetzung im Katastrophenfall sichergestellt ist; die Mitgliedstaaten bei bilateralen
Hilfsersuchen weiterhin handlungsfähig bleiben.
Die Zahl der Naturkatastrophen ist weltweit seit 1975
um das Fünffache gestiegen. Erinnert sei hier nur an die
beiden schlimmsten Naturkatastrophen im vergangenen
Jahr: das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmungen in Pakistan. Diese Ereignisse haben sehr viele Menschen das Leben gekostet und große Zerstörung hinterlassen. Langfristig kann ein weiterer Anstieg von
Naturkatastrophen nur durch einen effektiven Klimaund Umweltschutz verhindert werden.
Kurzfristig geht es aber vor allem darum, schnell zu
reagieren, und damit sind wir auch schon bei einer der
wichtigsten Fragen, der Frage des Zeitpunkts, an dem
die EU vor Ort koordinierte Hilfe leisten kann. Nach
Einschätzung von EU-Kommissarin Georgieva kann
diese Frage unter den gegebenen EU-Rahmenbedingungen häufig nur bedingt beantwortet werden. Diese Unsicherheit und die verbundene Zeitverzögerung führen
in vielen Fällen dazu, dass den hilfesuchenden Ländern
nicht unmittelbar die angefragte Hilfe zugesagt werden
kann. Nicht selten geht mehr als ein halber Tag ins Land,
ehe die Zusagen für die gewünschte Unterstützung gegeben werden. Also stellt sich die Frage: Wie kann den Opfern von Katastrophen zügig geholfen werden? Diese
Perspektive ist entscheidend. Wir alle wissen, ein Knochenbruch in zwei Tagen oder in zwei Wochen zu behandeln, macht einen entscheidenden Unterschied. In diesem Fall dürfte den Opfern zunächst nicht wichtig sein,
ob die medizinischen Instrumente in einem Militärhubschrauber oder einem zivilen Flugzeug transportiert
wurden. Die Debatte, die die Linke in dem vorliegenden
Antrag aufmacht, ist also insofern wieder einmal eine
innenpolitische und eine, die komplett an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen vorbeigeht. Lieber eine
gute Kooperation als keine Hilfe. Dabei muss es selbstverständlich Spielregeln und Grenzen geben. Hier geht
der Vorschlag von Frau Georgieva in die richtige Richtung.
Die Möglichkeit auf einen Hilfeaufruf rechtzeitig zu
reagieren, hängt im Rahmen des EU-Gemeinschaftsverfahrens bisher von den freiwilligen Zusagen der Mitgliedstaaten ab. Die Hilfe ist deshalb häufig nur improvisiert oder kommt zu langsam. Benötigt werden aber
verbindliche, permanent zur Verfügung stehende Kapazitäten, auf die die Kommission zurückgreifen kann. Mit
dem Vorschlag eines europäischen Notfallabwehrzentrums würde eine neue Plattform geschaffen, in der das
Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, mit der Koordinierungsstelle für Katastrophenschutz, dem Informationsund Beobachtungszentrum, MIC, zusammengelegt werden. Das gemeinsame Notfallabwehrzentrum soll rund
um die Uhr einsatzfähig sein und europaweit koordinierte Notfallpläne garantieren, die auf sicher zugesagte
Einsatzkräfte und Hilfsmittel in allen Mitgliedstaaten
basieren müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Es kann nicht darum gehen, die vorhandenen Strukturen
in Mitgliedsländern mit guten Kapazitäten - wie etwa in
Deutschland - zu zerschlagen.
Es muss zunächst ein Mapping der vorhandenen Kapazitäten in den Nationalstaaten geben. Anschließend
muss ein Konsens herbeigeführt werden, welche Grundausstattung in allen Staaten vorhanden sein sollte und
welche Arbeitsteilung bei bestimmten Katastrophenschutzinstrumenten sinnvoll ist. Das heißt, die Kommissionsvorlage soll einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung und Arbeitsteilung dienen, damit unter den
Mitgliedstaaten Synergien hergestellt werden können
und offensichtliche Verluste aufgrund von Doppelungen
minimiert werden. Das ist das Ziel. Nicht jeder Mitgliedstaat benötigt alle Instrumente des Katastrophenschutzes. Die EU-Katastrophenhilfe darf aber auch keine
substituierende Wirkung haben. Mitgliedstaaten mit
schwachen Strukturen müssen durch die angekündigten
Rechtsakte der EU-Kommission dazu verpflichtet werden, ausreichend eigene Kapazitäten im Katastrophenschutz zu schaffen.
Für uns ist wichtig, dass das Einsatzspektrum für den
EU-Katastrophenschutz begrenzt sein muss. Es kann
nicht sein, dass die Instrumente des EU-Katastrophenschutzes mit der Terrorismusbekämpfung vermischt werden. Deshalb müssen klare Bedingungen für Einsatzgebiete und -zwecke definiert werden. Die Nutzung
militärischer Instrumente für den Katastrophenschutz
muss sich streng an den Oslo-Leitlinien der Vereinten
Nationen orientieren, die die Nutzung von militärischen
Instrumenten für die Katastrophenhilfe nur als letztes
Mittel vorsehen. Sicherlich stellt uns die Harmonisierung des europäischen Katastrophenschutzes vor große
Herausforderungen. Das stark zentralistische Zivilschutzsystem in Frankreich ist leichter mit neuen EUStrukturen zu verzahnen als das dezentrale System in
Deutschland. Die starke Heterogenität unter den EUMitgliedstaaten sollte deshalb stets mit bedacht werden.
Die Bundesländer und die relevanten Akteure und InstiZu Protokoll gegebene Reden
tutionen wie das Technische Hilfswerk müssen kontinuierlich in diesen Prozess eingebunden werden.
Die Stärkung des gemeinsamen Katastrophenschutzes ist europapolitisch zu begrüßen. Die EU ist weltweit
der größte Geber von humanitärer Hilfe. Eine bessere
Sichtbarkeit der EU im Krisen- und Katastrophenfall
würde den Menschen in den begünstigten Staaten innerhalb oder außerhalb Europas den zivilen Charakter europäischer Außenpolitik kenntlich machen. Deshalb ist
die Harmonisierung der EU-Katastrophenhilfe nicht nur
im Sinne einer kosteneffizienten Arbeitsteilung unter den
Mitgliedstaaten sinnvoll. Die Rechtsakte zur Weiterentwicklung des europäischen Katastrophenschutzes müssen die Effizienz und Kohärenz von Einsätzen verbessern. Sie von vornherein abzulehnen, wie die Linke
fordert, macht keinen Sinn.
Die Bundesregierung muss sich klar zur Harmonisierung der Katastrophenhilfe in der EU bekennen und perspektivisch den Aufbau eines europäischen Notfallabwehrzentrums unterstützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit auch schon am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Februar 2011,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend
und schließe die Sitzung.