Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet - nach einem
sehr beeindruckenden ersten Teil am heutigen 8. Mai in
unserem Bundestag.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis
Drucksachen 18/2900, 18/3108 Nr. 2, 18/4416
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erstem Redner Christoph Strässer, dem Beauftragten der
Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe.
({1})
Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich schwierig, an
diesem 8. Mai nach dieser beeindruckenden Veranstaltung sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen. Ich
glaube aber, dass das heute ganz wichtig ist; denn der
Tagesordnungspunkt, über den wir jetzt sprechen, ist geprägt von Bildern und Meldungen, die wir eigentlich
nicht mehr sehen wollten: Bilder von Vertreibung, von
Flucht, von gepeinigten Menschen weltweit.
Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt, die der
UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten
Nationen, veröffentlicht hat, geht es dabei um mittlerweile 56 Millionen Menschen weltweit, Menschen, die
auf der Flucht oder Vertriebene im eigenen Land sind,
weil Krieg und gewaltsam ausgetragene Konflikte wie in
Syrien, im Irak, im Jemen, im Südsudan oder in der Demokratischen Republik Kongo ihr Leben bedrohen oder
ihre Lebensgrundlagen zerstören. Es ist die höchste Zahl
seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.
Auch die Zahl der Naturkatastrophen nimmt ständig
zu. Das Erdbeben vom 25. April in Nepal mit seinen dramatischen Auswirkungen, von denen mehr als 8 Millionen Menschen betroffen sind, stellt die Helfer und Helferinnen vor massive logistische Herausforderungen. Es
gibt auch immer wieder lokale Katastrophen, die wir in
unserem Land und auf unserem Kontinent überhaupt
nicht zur Kenntnis nehmen.
Wenn man das in Zahlen ausdrücken will, dann heißt
das, dass der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe seit
2009 von knapp 10 Milliarden US-Dollar auf über
19 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 angestiegen ist.
Der Bundestag hat dem mit einer deutlichen Mittelerhöhung Rechnung getragen. Es ist gut, dass wir nicht nur
und nicht immer wieder von außerplanmäßigen Haushaltsmitteln Gebrauch machen müssen, sondern dass mit
dem für dieses Jahr verabschiedeten Haushalt circa
400 Millionen Euro für Hilfsprogramme zur Verfügung
gestellt werden. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
Beitrag zu besserer Planbarkeit und damit Effizienz von
humanitärer Hilfe.
({2})
Wir haben auch in den Strukturen der humanitären
Hilfe in den letzten Jahren gravierende und wichtige
Veränderungen durchgeführt. Der Bericht, über den wir
heute reden, zeigt im Hinblick auf das Spektrum der Krisen auf, dass die Krisen langandauernd und bleibend
sind. Sie haben seit 2013 auch nicht haltgemacht. Im Gegenteil: Inzwischen sind in Syrien mehr als 12 Millionen
Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, auf humanitäre Hilfe angewiesen. Weitere Krisen und Konflikte haben sich verschärft oder sind neu hinzugekommen: Ebola, der Konflikt im Südsudan, die Krise in der
Beauftragter Christoph Strässer
Ukraine, der Vormarsch von ISIS im Irak, der Konflikt
im Jemen, der Terror der Boko Haram.
Das - es ist sicherlich schwer, das auszusprechen,
aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen - bedeutet,
dass Krisen heute den Normalzustand darstellen, dass
humanitäre Hilfe mehr denn je gefordert ist, um den notleidenden Menschen vor Ort zu helfen. Das ist eine der
Schlussfolgerungen aus der Feststellung von Bundesaußenminister Steinmeier. Er hat gesagt: 2014 ist die
Welt ein Stück weit aus den Fugen geraten.
Wir bemühen uns an vielen Stellen um politische Lösungen. Diese können humanitäre Hilfe aber nicht ersetzen. Denn humanitäre Hilfe kann die Menschen befähigen, auch in größter Not Würde und Selbstständigkeit zu
wahren. Deshalb ist sie ein Markenzeichen unserer deutschen Politik und insbesondere unserer deutschen Außenpolitik.
({3})
Es hat die Vereinbarung zwischen den beteiligten
Ressorts gegeben - das ist aus unserer Sicht eine wichtige strukturelle Veränderung gewesen -, ab dem Jahr
2012 die humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt zusammenzuführen; das ist geschehen. Ich glaube, diese Strukturveränderung hat sich nicht nur bewährt, sondern wird
mittlerweile auch von allen unseren Partnern als eine
gute und wichtige Grundlage für die weitere Arbeit in
diesem Bereich angesehen; dies sollte nicht infrage gestellt werden.
({4})
Das bedeutet, dass humanitäre Ernährungshilfe mit anderen Hilfsmaßnahmen verknüpft werden kann, zum
Beispiel bei der Wasser- und der Sanitärversorgung.
Dort können wir vorausschauender agieren und Soforthilfe mit der Stärkung von Kapazitäten vor Ort verbinden.
Humanitäre Hilfe bedeutet aber längst nicht mehr
- das ist eine Erkenntnis, die viel zu spät gekommen ist nur schnelles Reagieren, wenn Krisen über uns hereinbrechen. Schnelles Reagieren ist sicherlich wichtig, wie
das Erdbeben in Nepal gerade gezeigt hat. Aber gleichzeitig bedeutet verantwortungsvolle humanitäre Hilfe
auch und gerade - das ist vielleicht in Zukunft wichtiger -,
vorausschauend zu agieren, Planbarkeit von humanitärer
Hilfe in komplexen Krisen zu gewährleisten und negative Folgen potenzieller Krisen abzumildern. In Syrien
und in den Nachbarländern beginnt dieses Konzept zu
greifen. Dort machen wir uns für mehrjährige Programme stark, die Nothilfe mit der Förderung der Selbstständigkeit von Flüchtlingen verbinden, zum Beispiel
durch Cash-Programme, die helfen, nationale Märkte
aufzubauen. Ich glaube, dass die Berliner Flüchtlingskonferenz vom Herbst letzten Jahres hierfür einen wichtigen Maßstab gesetzt hat, der international anerkannt
wird. Auch auf internationaler Ebene gehen die Bemühungen um die Veränderung bzw. die Verbesserung der
humanitären Hilfe weiter. Die Experten sprechen von einem Paradigmenwechsel, hin zu strategisch-vorausschauender humanitärer Hilfe und zur Förderung von
Qualität und Effizienz.
Frühzeitig haben wir - ich glaube, das wird eine der
Herausforderungen, die uns noch lange beschäftigen
werden - die Agenda des Klimawandels auf die Tagesordnung der humanitären Hilfe gesetzt. Hier werden
viele präventive Maßnahmen erforderlich sein. Wir unterstützen zudem - ich glaube, das ist in der nächsten
Zeit die wichtigste Aufgabe im internationalen Bereich den humanitären Weltgipfel, der auf Initiative des Generalsekretärs der Vereinten Nationen einberufen wurde
und erstmals im Mai 2016 in Istanbul stattfinden wird.
Wir erwarten von diesem Gipfel und insbesondere von
den Vorbereitungskonferenzen, die in Bonn stattgefunden haben und im Oktober in Berlin fortgesetzt werden,
dass es konkrete, verwertbare Gipfelergebnisse gibt, die
das internationale humanitäre System zukunftsfähig machen.
({5})
In der humanitären Hilfe geht es nicht - das ist ganz
wichtig - um politische oder wirtschaftliche Interessen,
sondern um notleidende Menschen. Es ist unsere ethische Verantwortung, diesen Menschen ein Überleben in
Würde und Sicherheit zu ermöglichen. Die Herausforderungen an die humanitäre Hilfe werden weiter wachsen.
Ihr kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht,
für den Dauerzustand Krise besser aufgestellt zu sein.
Verantwortungsvolle humanitäre Hilfe braucht Professionalität und leistungsstarke Partner. Diese haben wir in
den VN-Organisationen, der Internationalen Rotkreuzund Rothalbmondbewegung sowie den Nichtregierungsorganisationen. Auf diese Partnerschaften setzen wir
weiterhin.
Lassen Sie mich zum Schluss all den Menschen danken, die teilweise ganz spontan ihre Arbeitsplätze verlassen, um in Krisenregionen zu gehen. Das eine ist, staatliche humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Das
andere ist, die Menschen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren, die nach meiner Auffassung die
wahren Helden unserer Zeit sind. Sie gehen in fremde
Regionen, um Menschen zu helfen, und setzen dabei ihre
Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel. Ihnen ein ganz
herzliches Dankeschön! Ich hoffe, dass wir zusammen
mit ihnen weiterhin unsere deutsche humanitäre Hilfe
stärken.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Christoph Strässer. - Nächste Rednerin:
Inge Höger für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre
Hilfe im Ausland steht leider zu einem erschreckend
passenden Moment auf unserer Tagesordnung. Das verheerende Erdbeben in Nepal zeigt uns die große Hilfsbereitschaft vieler Menschen weltweit - Herr Strässer hat
es eben schon angesprochen -, es zeigt aber auch logistische Schwachstellen und Probleme bei der konkreten
Umsetzung von Hilfe. Humanitäre Hilfe, also die Unterstützung von Menschen in Notlagen, wird absehbar in
den nächsten Jahren eine immer größere Herausforderung darstellen. Naturkatastrophen, Dürren, Überschwemmungen und verheerende Stürme nehmen zu.
Deswegen muss an einer weiteren Verbesserung und
Ausweitung der humanitären Hilfe gearbeitet werden.
Doch nicht allein Naturkatastrophen oder Krankheiten
wie Ebola führen zu humanitären Notlagen. Kriege und
Konflikte zerstören Menschenleben, die Gesundheit und
die Zukunft ganzer Gesellschaften.
Am Mittwoch wurden die aktuellen Zahlen über die
Menschen veröffentlicht, die 2014 aus ihren Wohnorten
vertrieben wurden. 60 Prozent flohen infolge von Kriegen und bewaffneten Konflikten. Zu dieser hohen Anzahl von Flüchtlingen kommen noch einmal 11 Millionen Binnenflüchtlinge. Jeden Tag flohen 30 000
Menschen aus ihrer Heimat. Während des Zeitraums unserer Debatte sind es 1 400. Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrates, äußerte seine Betroffenheit wie folgt: In 30 Jahren als Katastrophenhelfer
habe ich nie solche Zahlen gesehen, solche Zerstörung,
solches Leid.
Niemand hier will und kann angesichts dieser dramatischen Situation wegschauen und zur Tagesordnung
übergehen.
({0})
Wir müssen als Antwort auf die humanitären Krisen alle
Anstrengungen massiv verstärken - und das nicht nur
mittelfristig, sondern sofort. Damit humanitäre Hilfe
dort ankommen kann, wo sie nötig ist, muss sie neutral,
unparteiisch und unabhängig sein.
({1})
Es kann nicht akzeptiert werden, dass humanitäre Hilfe
in Krisengebieten nur bei den Teilen der Zivilbevölkerung ankommt, deren jeweilige Führung der Bundesregierung nähersteht. So scheint die Hilfe der Bundesregierung für Syrien zumindest zu Beginn der Krise fast
nur in den Gebieten der Rebellen angekommen zu sein,
und da auch nur bei bestimmten Fraktionen.
Mehrere Kleine Anfragen meiner Fraktion zeigten
auch einen sehr selektiven Umgang bei der Hilfe für
Menschen im Irak. Im Schengal-Gebirge ist zum Beispiel wenig angekommen. Mit einer solchen Praxis wird
die Glaubwürdigkeit von humanitärer Hilfe gefährdet,
und damit werden auch ganz konkret die Helferinnen
und Helfer gefährdet. Deren Arbeit aber ist schwierig
genug. Wenn sie dann auch als Parteigänger einer Seite
wahrgenommen werden, verstärkt dies die Gefährdung.
Und das kann niemand wollen.
({2})
Erschreckend ist, wenn humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe von Sicherheitspolitikern als Unterstützung für militärische Stärke diskutiert werden. Humanitäre Hilfe darf nicht instrumentalisiert werden. Allein die
Bedürftigkeit muss ausschlaggebend sein, ob Hilfe geleistet wird oder nicht. Humanitäre Hilfe und Entwicklungspolitik dürfen nicht im Zuge des sogenannten vernetzten Ansatzes als Teil der Sicherheitspolitik diskutiert
werden.
({3})
Ich fordere deshalb Ursula von der Leyen auf, bei der
Formulierung des neuen Weißbuches der Bundeswehr
zivile Hilfe nicht in sicherheitspolitische Strategien einzubeziehen.
Wenn wir für die Zukunft etwas verändern wollen,
dann lohnt es sich, die Gründe für den steigenden Hilfsbedarf zu analysieren. Zumindest für einen Teil der Naturkatastrophen gibt es Verantwortlichkeiten, die auch in
Deutschland und in den Industrienationen liegen. Die
Zunahme von Extremwetterlagen, der Klimawandel,
wurde und wird vorangetrieben durch eine Wachstumsideologie, die trotz aller anderslautenden Sonntagsreden
weiterverfolgt wird.
({4})
Im vorliegenden Bericht wird zu Recht auf die Menschen verwiesen, die wegen klimabezogener Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen müssen. Es wird berichtet, dass niemand wirklich weiß, wie viele infolge von
schleichenden Klimaveränderungen zur Flucht gezwungen sein werden. Hier stellt sich die Frage nach der
konkreten und kurzfristigen Hilfe zusammen mit der Eröffnung neuer Perspektiven für Menschen, die möglicherweise nie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Es geht um die Frage von Rechten, es geht auch um
die rechtliche Verankerung des Schutzes von Klimaflüchtigen. Zu allem fehlen bis heute international verbindliche Regelungen. Das muss sich ändern.
({5})
Wenn wir über das Thema Verantwortung reden, dann
gehört dazu auch eine ehrliche Bilanz der Militärinterventionen der letzten zwei Jahrzehnte. Wie sähe der Norden Afrikas aus, wenn nicht eine Koalition der Willigen
einen Regime Change herbeigebombt hätte? Wie sähe es
im Nahen und Mittleren Osten ohne den 2003 begonnenen Irakkrieg aus? Mit diesen brutalen Angriffskriegen
wurden extremistische Kräfte erst geschaffen oder stark
gemacht, die heute die ganze Region destabilisieren.
({6})
Auch der Afghanistan-Krieg hat keinen Frieden gebracht, sondern für viele Menschen das Elend vergrößert. In dem bereits erwähnten Flüchtlingsbericht wird
ein einheimischer humanitärer Helfer aus einem Slum in
Kabul zitiert, wo zahlreiche Binnenflüchtlinge nur sehr
notdürftig Schutz finden. Er sagt: Wir begraben so viele
Babys, die an der Kälte gestorben sind, dass ich sie nicht
mehr zählen kann.
Auch in Gaza erleben die Menschen nach dem Krieg
eine fortwährende humanitäre Katastrophe. Im Jemen
wird gerade mit westlichen Waffen und von westlichen
Verbündeten die Infrastruktur des Landes so zerstört,
dass kaum noch humanitäre Hilfe in das Land kommt.
Beenden Sie endlich die Waffenlieferungen in diese Region! Beenden Sie Waffenexporte in Krisenregionen!
({7})
Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Prävention bzw.
Minderung humanitärer Krisen.
Die Linke steht für eine Politik, die Sicherheit nicht
militärisch definiert. Wir setzen uns ein für eine Sicherheit, die bei den grundlegenden Bedürfnissen der Menschen ansetzt. Jean Ziegler schreibt:
Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.
Es gibt auf der Welt genügend Ressourcen zur Vermeidung humanitärer Notlagen. Niemand brauchte zu verhungern, zu erfrieren, zu verdursten oder an heilbaren
Krankheiten zu sterben.
Es ist deswegen gut, dass die ursprünglich für den
Haushalt 2015 geplante Kürzung der Mittel für die humanitäre Hilfe im Ausland wieder zurückgenommen
wurde. Allerdings ändert das nichts daran, dass die UN
nach wie vor chronisch unterfinanziert sind, zum Beispiel bei der Nahrungsmittelhilfe für Krisenregionen in
den Nachbarländern Syriens. Das ändert auch nichts daran, dass die EU ihre Mittel für humanitäre Hilfe drastisch kürzt oder einfriert und die Menschen in der Sahelzone oder am Horn von Afrika auf die versprochene
Hilfe warten müssen. Gleichzeitig werden diejenigen,
die versuchen, in Europa Schutz zu suchen, durch die
massive Abschottungspolitik zu Tausenden in den Tod
getrieben. Internationale Solidarität sieht anders aus.
Leider erfolgte die Rücknahme der Kürzung im Bundeshaushalt erst infolge der Ebolakrise. Wenn es nicht
gelingt, weltweit eine dezentrale Gesundheitsversorgung
zu etablieren, wenn es nicht gelingt, genügend Gesundheitsfachkräfte auszubilden, wenn nicht die Hilfe zur
Selbsthilfe gestärkt wird, dann ist auch in der Zukunft
mit ähnlichen Krisen zu rechnen.
Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation wäre
eine deutlich bessere Ausstattung der Weltgesundheitsorganisation.
({8})
Allein die 2016 vorgesehenen Mittel zur geplanten Erhöhung des Etats der Bundeswehr um 1,2 Milliarden Euro
würden ausreichen, um den Etat der WHO zu verdoppeln.
({9})
Was alles möglich ist, wenn man internationale Solidarität mit hoher Priorität verfolgt, das zeigt das kleine
Land Kuba. Dieses kleine und arme Land ist mit Ärzten
und anderen Helferinnen und Helfern schnell und wirkungsvoll aktiv, wo immer Hilfe nötig ist. In vielen Ländern Lateinamerikas, jetzt in Nepal, aber auch in den
Ebolagebieten gehörte Kuba zu den Ersten, die die Not
der Menschen linderten.
({10})
Frau Höger, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich komme zum Ende. - Wenn dieses reiche Deutschland den gleichen Anteil seiner Wirtschaftsleistung in
humanitäre Hilfe investieren würde wie Kuba, dann
würde das in vielen Regionen der Welt einen wirklichen
Unterschied machen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte: der
Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Anzahl der langanhaltenden Krisen und Katastrophen, mit denen sich die internationale Gemeinschaft
konfrontiert sieht, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wir haben es mit zahlreichen Krisen, Konflikten
und Katastrophen gleichzeitig zu tun: jüngst das Erdbeben in Nepal, die Konflikte in Mali, im Südsudan und in
Zentralafrika, die Ebolaepidemie in Westafrika, die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, in Syrien, im Irak
und in Gaza oder in der Ukraine, direkt vor unserer
Haustür.
Diese Konflikte und Katastrophen rücken näher an
uns heran, und immer mehr Menschen sind davon betroffen. Viele sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
Etwa 57 Millionen Flüchtlinge sind derzeit beim Hohen
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen registriert. Das ist die größte humanitäre Katastrophe seit
dem Zweiten Weltkrieg.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht belegt, dass wir erhebliche Anstrengungen unternehmen,
um direkt, schnell und effektiv Not und Leid zu lindern.
Gleichzeitig arbeiten wir mit vielen Partnern daran, den
Teufelskreis von Krisen zu durchbrechen und die Ursachen von Armut und Hunger sowie von Gewalt zu bekämpfen. Dazu nutzen wir von Anfang an alle Instrumente, die uns zur Verfügung stehen: humanitäre Hilfe
und Entwicklungszusammenarbeit. Beide stehen nicht
nebeneinander. Wir wenden sie nicht nacheinander an,
sondern humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit müssen ineinandergreifen.
({0})
Wir leisten also nicht erst humanitäre Hilfe und machen
dann Entwicklungszusammenarbeit, sondern wir müssen
von Beginn an beides zusammen denken und zusammen
praktizieren.
({1})
Vor vier Jahren - Kollege Strässer, Sie haben das aufgeführt - haben wir gemeinsam beschlossen, die Notund Nahrungsmittelhilfe vom BMZ an das AA zu verlagern. Das verlangt von uns eine intensive und effiziente
Koordinierung und Zusammenarbeit. Ich denke, wir
können feststellen, dass das auch geleistet wird. Die Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt funktioniert sehr
gut. Das ist auch notwendig; denn humanitäre Hilfe,
Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind
ja oftmals in denselben Regionen tätig. In Krisenländern
arbeiten wir auch mit denselben Partnern zusammen,
zum Beispiel mit dem Welternährungsprogramm, mit
dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF,
und natürlich mit vielen Nichtregierungsorganisationen
aus Deutschland.
Auch finanziell teilen wir unsere Verantwortung. Für
die Opfer der Krise in Syrien haben wir seitens der Bundesregierung fast 1 Milliarde Euro bereitgestellt, davon
fast die Hälfte aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Für die Ukraine hat unser Ministerium im vergangenen Jahr sogar zwei Drittel der Unterstützung der
Bundesregierung übernommen.
Meine Damen und Herren, 1,5 Milliarden Menschen
leben in Ländern, die von Gewalt und Konflikten betroffen sind. Das ist über die Hälfte der Kooperationsländer
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dabei ist von Belang, dass die
sozialen und die ökonomischen Kosten von Katastrophen und Kriegen enorm sind und die Auswirkungen oft
erst über Generationen hinweg aufgeholt werden können. Oft wird innerhalb weniger Tage kaputtgemacht,
was zuvor über Jahre hinweg mühsam aufgebaut worden
ist. Oft werden Länder um Jahre und Jahrzehnte zurückgeworfen.
Das Auswärtige Amt leistet Enormes mit der humanitären Hilfe; aber die Entwicklungszusammenarbeit darf
nicht zum Reparaturbetrieb werden. Wir müssen schon
vorher - und nicht nur nach Krisen - handeln. Wir müssen vorher darauf hinwirken, die Eskalation von Gewalt
zu verhindern und dass die Auswirkungen von Epidemien und Naturkatastrophen vermieden oder zumindest
abgemildert werden können. Deswegen wollen wir mit
der Entwicklungszusammenarbeit die Ursachen von
Konflikten und Katastrophen überwinden. Wir investieren jedes Jahr fast eine halbe Milliarde Euro direkt in
Friedensförderung und Konfliktprävention. Auch werden wir unsere Maßnahmen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken schrittweise ausbauen.
Meine Damen und Herren, im schlimmsten Fall ist
nach der Krise vor der Krise. Wir müssen leider feststellen, dass nach der Beendigung eines Bürgerkrieges fast
die Hälfte der davon betroffenen Länder innerhalb von
zehn Jahren wieder in gewaltsame Konflikte zurückfällt.
Das ist der Teufelskreis, den wir überwinden bzw. durchbrechen müssen. Deshalb müssen wir nach Krisen bereits zu einem frühen Zeitpunkt über die humanitäre
Hilfe hinaus mittelfristige Übergangshilfen zur Verfügung stellen und an den langfristigen Wiederaufbau denken.
Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch die Gemeinden in angrenzenden Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen, brauchen eine Perspektive. Neben Nahrung und
Unterkunft, die die humanitäre Hilfe sofort bereitstellt,
geht es auch um Gesundheit, um Wasser- und Sanitärversorgung sowie um Bildung. Denken Sie beispielsweise an die Millionen von Minderjährigen, die aus
Syrien geflohen sind und jetzt im vierten Jahr dieses
Konflikts keine Schulbildung genießen können. Da werden schon wieder die Grundlagen für den nächsten Konflikt gelegt, wenn wir jetzt nicht handeln. Deswegen
müssen wir diese mittel- und langfristigen Perspektiven
frühzeitig ins Auge fassen und dafür sorgen, dass Chancen für die Bevölkerung entstehen, die von Konflikten
betroffen ist.
Wir müssen die Menschen selbst, die Gesellschaften
und die Institutionen so stärken, dass sie gegen gewaltsame Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen besser gewappnet sind. Wenn dann die nächste Krise
kommt, soll sie besser bewältigt werden können. Dazu
ist eine Menge notwendig. Dazu muss eine Basisinfrastruktur geschaffen werden, damit die Grundbedürfnisse
der Bevölkerung gestillt werden können. Dazu müssen
wir mit unseren Entwicklungspartnern darauf hinwirken,
dass die Menschen ein Auskommen haben und dass sie
ihre Familie ernähren können.
Aber wir müssen vor allem auch dazu beitragen, dass
überall auf der Welt Politiker agieren, die sich am Gemeinwohl orientieren und nicht nur an die eigene Zukunft denken. Deswegen brauchen wir eine unter dem
Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit funktionierende
Verwaltung, die nach Recht und Gesetz arbeitet, eine unabhängige Justiz und freie Medien. Je besser das gewährleistet werden kann, desto eher kann sich ein Land
entwickeln. Dann kann es auch nach Konflikten zu Dialog und Aussöhnung kommen.
({2})
Die Übergangshilfe unseres Hauses, die ich angesprochen habe, soll die Lücke zwischen der humanitären Soforthilfe des Auswärtigen Amtes und der längerfristig
angelegten Entwicklungszusammenarbeit schließen;
denn es gibt Regionen, in denen wir mit den klassischen
Instrumenten der technischen und finanziellen Zusammenarbeit nicht mehr oder noch nicht arbeiten können.
Da wird diese Übergangshilfe relevant, die schnell sichtbar ist und mit der der Grundstein für längerfristige Arbeit gelegt werden soll. Wir unterstützen beispielsweise
die Flüchtlinge aufnehmenden Gemeinden im Nordirak
durch den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und durch Hilfen für die traumatisierten
Opfer von Terror und Gewalt in dieser Region.
Wir wollen diese Möglichkeiten der Übergangshilfe
ausbauen. Wir reagieren damit auch auf die aktuellen
Krisen im Nahen Osten, in Westafrika und in der
Ukraine mit einem neuen Infrastrukturprogramm. Damit
wollen wir kurzfristige Maßnahmen wie die Schaffung
von Unterkünften für Flüchtlinge mit mittelfristigen
Maßnahmen kombinieren, zum Beispiel mit dem Aufbau von Berufsbildungszentren.
Wir haben aus der Ebolaepidemie gelernt, dass wir
ein gutes Frühwarnsystem benötigen und dass wir dann
aber auch schnell und entschlossen handeln müssen.
Deswegen prüfen wir zurzeit, wie wir die humanitäre
Hilfe durch unsere bestehenden Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit am besten unterstützen können.
Wir teilen das gemeinsame Anliegen unter dem Arbeitstitel „Weißhelme“, hier unsere Zusammenarbeit zu vertiefen und dafür zu sorgen, dass wir in einem solchen
Notfall Personal, Material, aber auch die benötigten
finanziellen Ressourcen rechtzeitig und ausreichend bereitstellen können.
Auch in Nepal wollen wir unsere Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit nutzen, um diesem Land bei
der Bewältigung der Folgen dieses schweren Erdbebens
zu helfen. Unsere Experten sind vor Ort und zusammen
mit dem Krisenstab der Botschaft gerade dabei, die Prioritäten für den Wiederaufbau zu ermitteln. Dazu zählt die
Rehabilitierung von Gesundheitsstationen und Krankenhäusern. Es muss jetzt vor allem für Strom und Wasser
gesorgt werden, damit den Patienten geholfen werden
kann. Wir arbeiten in Nepal seit vielen Jahren im Sektor
Gesundheit mit der dortigen Regierung zusammen.
Diese Erfahrung und dieses Vertrauen, das wir dort haben, wollen wir jetzt nutzen, um wirksam und schnell
helfen zu können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem
Hinweis schließen, dass die Regierungen unserer Partnerländer natürlich immer zuerst in der Pflicht stehen,
für ihre Bevölkerung das Nötige zu tun. Wir können
dazu einen Beitrag leisten, indem wir schnell helfen,
wenn es darum geht, Leben zu retten, und indem wir
mittel- und langfristig dazu beitragen, die Ursachen von
Krisen und Armut anzugehen. Insofern müssen alle
Hand in Hand arbeiten, um die Krisen der Welt zu bewältigen oder - besser - künftig zu verhindern und zu
vermeiden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Thomas Silberhorn. - Nächster Redner:
Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verantwortung für Menschen in Not. Gemeinplätze wie diesen
findet man in dieser Debatte häufig. Auch der Bericht ist
nicht frei davon. Die Beschlussempfehlung, die Sie uns
aber hier vorlegen, ist praktisch voll von solchen Sprüchen. Das kann man nicht lesen. Lassen Sie doch da mal
einen Praktikanten ran, der das redaktionell überarbeitet.
({0})
Der Bericht … geht sehr problemorientiert auf die
wachsenden globalen Herausforderungen und die
damit verbundenen strategischen Überlegungen ein.
Oder:
Eine nachhaltige Qualitätssteigerung ist - insbesondere was die Zusammenarbeit mit internationalen
Partnern, die Einbindung lokaler Kräfte sowie die
Koordinierung der vielfältigen Aktivitäten anbelangt - ein umfassender Prozess, an dem die Bundesregierung bis heute arbeitet.
Donnerwetter! Das sollen wir beschließen?
({1})
Dabei ist der Bericht gar nicht so schlecht. Vor allem
war unsere Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe gut.
({2})
Wir haben in der Anhörung doch sehr deutlich und nicht
in Form von Gemeinplätzen vor allem vier Ergebnisse
produziert.
Erstens. Die humanitäre Hilfe und die Soforthilfe
müssen sich auf lokale Partner stützen und dazu führen,
dass die lokalen Partner stärker werden. Das ist die strategische Ausrichtung. Die humanitäre Hilfe muss sich
auf die lokale Bewältigungskompetenz auswirken; das
ist das Erste. Das Wiedererstarken der lokalen Selbstversorgungsmöglichkeiten würde auch eine Antwort auf die
immer größer werdenden Bedarfe und die immer geringer werdenden Finanzmittel sein. Hier müssen wir dann
auch kontrollieren, ob das durch die Maßnahmen erreicht wurde.
Zum Zweiten. 78 Millionen Menschen brauchen akute
Nothilfe. Der globale Bedarf im Consolidated Appeal
Process von OCHA ist für das Jahr 2015 auf 16,4 Milliarden US-Dollar festgelegt worden. Wir fordern im
Haushaltsverfahren immer wieder mehr Mittel für die
humanitäre Hilfe. Stellen Sie vom Finanzministerium
diese doch bitte von vornherein in den Haushalt ein, und
warten Sie nicht, um später über komplizierte Prozesse
dann irgendwie gnädigerweise über das Haus noch etwas
hinzuzugeben.
({3})
In der Realität ist es dann letzten Endes so, dass der
große Onkel aus dem BMZ kommt und großzügig noch
ein paar Millionen verspricht; denn die Koordination
zwischen Auswärtigem Amt und BMZ ist nicht so gut,
wie Sie sie immer beschreien. Sie sagen das so oft
- auch der Staatssekretär -, dass man es gar nicht glauben kann.
({4})
Es ist zwar so, dass der Entwicklungshilfeminister die
großen Versprechungen in der Ukraine und in Jordanien
macht, die Strategie aber muss nach wie vor das Auswärtige Amt machen. Da ist meines Erachtens noch viel
Room for Improvement.
({5})
Das Dritte: „Aid effectiveness“ oder „Mit wenigen
Mitteln mehr erreichen“. Das ist ein Riesenthema, auch
des Weltgipfels 2016. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung das Parlament schon im Vorfeld aktiv
beteiligt und bei diesem Kongress auch wirklich aktiv ist
und nicht immer fragt, was diese oder jene sagen, um
dann den Mittelweg zu gehen. Da ist wirklich Protagonismus notwendig.
({6})
Dazu braucht man aber ein kontinuierliches, unabhängiges Evaluationssystem der humanitären Hilfe; denn so
etwas Fabelhaftes wie humanitäre Hilfe kann man auch
evaluieren. Man kann fragen: War es denn wirklich so
fabelhaft?
Das Vierte - Frau Höger hat es schon angesprochen -:
das Verhältnis von humanitärer Hilfe und Militär. Dies
ist der einzige Punkt, an dem das Ganze einmal ein bisschen konkret wird. Es geht nicht, dass das immer wieder
vermischt wird. Sagen Sie nicht, Sie täten es nicht. Man
findet immer wieder Aussagen wie: Ja, notfalls steht ja
auch das Militär zur Verfügung. - Damit gefährden Sie
die Hilfsorganisationen. Damit gefährden Sie die Leute
vor Ort. Es kann auch nicht sein, dass dieselben Bundeswehrmaschinen mal Waffen und dann mal wieder humanitäre Güter transportieren. Es kann auch nicht sein, dass
uns hier ein Mandat für eine Mission - „Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“,
Drucksache 18/3561 -, die ja an sich sehr lobenswert ist,
vorgelegt wird, in dem die Streitkräfte unter anderem
folgende Aufgabe - ich zitiere mit der Genehmigung der
Präsidentin - haben:
Bedarfsweise Koordination und Durchführung von
Lieferungen humanitärer Hilfsgüter und militärischer Ausrüstung in den Nordirak.
Das gefährdet ganz explizit die Helfer vor Ort. Das muss
man wissen. Das ist eines der großen Probleme. Der Zugang wird immer schwieriger. In Syrien sagt uns das
nicht nur das Rote Kreuz, sondern jede Helferin und jeder Helfer. Das kann man auch in der Zeitung lesen. Im
Jahr 2013 sind 155 Helferinnen und Helfer gestorben, es
sind 171 verwundet worden und 134 entführt worden.
Das ist das Problem. Darüber muss man konkret reden.
Es sind nicht nur die Non State Actors, die Milizen
oder ähnliche Gruppen, die dort tätig sind und sich nicht
an das humanitäre Völkerrecht halten, sondern auch die
Staaten. Saudi-Arabien zerstört im Augenblick den für
humanitäre Hilfe im Jemen unglaublich wichtigen Flughafen von Sanaa, übrigens auch mit unseren Waffen, die
wir dorthin exportiert haben, weil wir alle die Wirtschaft
fördern. Das muss aufhören. Das ist eine Vermischung
von humanitärer Hilfe und Militär.
({7})
Jetzt komme ich zur Koordinierung. Der Herr Staatssekretär hat sie schon angesprochen. Wir sind bei Ebola
zu spät gekommen, auch die WHO ist zu spät gekommen. Jetzt wird aber nicht gesagt: „Dann stärken wir die
WHO“, sondern es werden Gott weiß wie viele Parallelorganisationen konzipiert: Weißhelme, Gelbhelme, Grünhelme, Rothelme. Dann wird gesagt, man sollte auch einen International Health Emergency Response Fund bei
der Weltbank etablieren. Warum soll man denn nicht innerhalb der WHO arbeiten, die WHO besser machen und
die WHO stärken?
({8})
Da sind wir immer sehr zaghaft. Wir sind eines der wichtigsten, eines der stärksten und auch finanzstärksten Mitglieder der WHO. Wir sollten uns bitte einmal um klare
Äußerungen bemühen;
({9})
denn humanitäre Hilfe bedeutet auch, für die humanitäre
Hilfe und für die Bedürftigen zu streiten. Das ist ein aktiver Prozess, in den wir unsere Fähigkeiten und Emotionen einbringen sollten; allgemeine Sprüche und große
Diskurse helfen nicht weiter.
Es gibt eine letzte Frage, die wir uns wirklich stellen
müssen. Wir sehen es am Beispiel von Nepal wieder.
Dort sind Hilfsorganisationen aus 28 europäischen Ländern tätig. Warum gelingt es uns eigentlich nicht, wo wir
uns doch über alle Parteien und alle 28 europäischen
Staaten hinweg einig sind, eine gemeinsame humanitäre
Hilfe mit abgestimmten und starken gemeinsamen Aktionen zu konzipieren?
Wir sprechen vom gemeinsamen auswärtigen Dienst
- das bekommen wir schon nicht hin -, wir sprechen von
gemeinsamer Sicherheitspolitik - die bekommen wir
überhaupt nicht hin -, bei der humanitären Hilfe könnten
wir eine Gemeinsamkeit vielleicht hinbekommen. Das
wäre des Schweißes der Edlen wert.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Tom Koenigs. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Dr. Ute Finckh-Krämer für die Sozialdemokraten.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen!
Ich möchte auf das historische Datum zurückkommen,
an dem wir heute über humanitäre Hilfe diskutieren;
denn vor 70 Jahren war Europa in großen Teilen zerstört,
und nicht zuletzt Deutschland war dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese humanitäre Hilfe wurde
nach vier humanitären Prinzipien geleistet, die erst später schriftlich fixiert wurden: Menschlichkeit, Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit.
Wir als Deutsche haben Glück gehabt, dass diese
Prinzipien damals schon angewandt wurden, weil nach
dem, was von deutschem Boden damals ausgegangen
war, sonst nicht viel humanitäre Hilfe in Deutschland angekommen wäre.
({0})
Humanitäre Hilfe stand noch nie derart im Zentrum
von öffentlichen Debatten wie aktuell. Auch die Bedeutung in der deutschen Politik ist, parallel zum Bedarf,
merklich gestiegen. Aber das, was öffentlich sichtbar
wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das meiste, was im
Bereich der humanitären Hilfe geleistet wird, geschieht
hinter den Kulissen: Ausbildung, Training, Vorbereitung, Strategieentwicklung, Koordination und Planung.
Wir haben inzwischen eine hohe Professionalität der
Helferinnen und Helfer. Das ist schon deswegen nötig,
weil hier viel falsch gemacht werden kann. Die intensive
und konstruktive Zusammenarbeit des Auswärtigen
Amtes mit staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen hat sich in den letzten Jahren entwickelt. Beispielhaft dafür steht der international einmalige Koordinierungskreis für humanitäre Hilfe, zu dem das Auswärtige Amt
regelmäßig einlädt und der staatliche und nichtstaatliche
Expertinnen und Experten zusammenbringt.
({1})
Wer, lieber Tom Koenigs, gelegentlich an diesem Arbeitskreis teilnimmt, spürt, wie gut, zumindest auf der
Arbeitsebene, die Zusammenarbeit zwischen BMZ und
Auswärtigem Amt funktioniert.
Ich bin auch überzeugt, dass in diesem Arbeitskreis
darüber diskutiert wird - es ist damit schon begonnen
worden -, wie die Konsequenzen aus der Ebolakrise umgesetzt werden können. Ich persönlich bin mir angesichts dessen, was wir mit der WHO in den letzten Jahren etwa beim Thema Schweinegrippe erlebt haben,
noch nicht sicher, ob eine Stärkung der WHO wirklich
der richtige Weg wäre.
({2})
Humanitäre Hilfe ist eine hochprofessionalisierte zivile Aufgabe, die mit zivilen Kapazitäten fast immer
ebenso gut oder besser erfüllt werden kann als mit militärischen Kräften, auch wenn sich - Ausnahmen bestätigen die Regel - gerade zwei Schiffe der Bundesmarine
an der Rettung von schiffbrüchigen Flüchtlingen im Mittelmeer beteiligen. Aber wir sind uns hier, glaube ich,
alle einig, dass so etwas eine Ausnahme bleiben soll und
muss; das steht auch so in der Beschlussempfehlung.
({3})
Die humanitären Prinzipien haben sich also bewährt.
Sie müssen gegen kurzfristige innen- oder außenpolitische Interessen verteidigt werden. Das wird - anders als
von Inge Höger eben suggeriert - in der Strategie des
Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland
ausdrücklich betont - ich zitiere -:
Die unbedingte Wahrung dieser Grundsätze ist
Voraussetzung dafür, dass humanitäre Akteure vor
Ort - in häufig schwierigem politischen Umfeld mit
schlechter Sicherheitslage - tätig werden können.
Sie sind notwendig, damit humanitäre Hilfe Konflikte
nicht hervorruft oder verschärft, sondern im Idealfall sogar hilft, sie zu deeskalieren. Die humanitären Prinzipien
unterscheiden aber auch die humanitäre Hilfe, vor allem
die Nothilfe, von der Entwicklungszusammenarbeit, die
an politische Bedingungen geknüpft werden kann und
darf. Insofern ist es nicht immer möglich, humanitäre
Hilfe, Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit
zusammenzudenken, weil irgendwo der Punkt einsetzt,
wo politische Bedingungen gestellt werden können und
dürfen.
({4})
Ich möchte auch den Vorwurf zurückweisen, dass
Deutschland in Bezug auf die humanitäre Hilfe in Syrien
politische oder strategische Gründe zugrunde gelegt
habe,
({5})
als es darum ging, wem man helfen will. Deutschland
hat zwar Hilfsorganisationen unterstützt - aus den Mitteln des Auswärtigen Amts -, die Zugang zu den Regionen haben, wo die Befreiungsbewegungen tätig sind;
aber Deutschland hat über internationale Organisationen,
die Zugang zu den von der Regierung kontrollierten Gebieten haben, dort natürlich genauso humanitäre Hilfe
geleistet,
({6})
und das ist auch gut und richtig so.
({7})
Eine Entschließung soll auf den Bericht aufmerksam
machen, sie soll nicht an seine Stelle treten. Deswegen
bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Ute Finckh-Krämer. - Nächster Redner:
Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich weiß
nicht, wer von Ihnen schon da war, als eben die Gedenkstunde zu 70 Jahren Kriegsende stattfand. Das Kriegsende markiert nicht nur die Befreiung von Völkermord
und humanitärer Katastrophe, sondern auch den Beginn
von 70 Jahren Frieden in Europa, in einem Großteil Europas - so lange wie vorher tausend Jahre lang nicht.
Aus dieser Geschichte wächst Verantwortung. Das
betont die Einleitung des Berichts, über den wir jetzt debattieren. Ich zitiere aus dieser Einleitung:
Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität mit Menschen in Not. Ziel des humanitären Engagements
der Bundesregierung ist es, Menschen in Not ein
Überleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen
und das Leid derer zu lindern, die ihre akute Notlage aus eigener Kraft nicht überwinden können.
Der Bericht hat, grob gesehen, zwei Elemente - Sie
haben vieles davon jetzt schon gehört -:
Im ersten Teil geht es um die Strategie, um die Neuausrichtung der humanitären Hilfe durch die Ressortvereinbarung zwischen dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dem Auswärtigen Amt.
Da gibt es immer noch Verbesserungsbedarf. Das Ergebnis der Anhörung - Herr Koenigs, Sie haben das angesprochen - lautet: Das muss noch verbessert werden. Es
muss noch weiter darüber geredet werden, wie wir das
besser machen können. Die Koordinierung vor Ort ist
ganz besonders wichtig. Es geht um bessere Verknüpfung von kurz- und langfristiger Hilfe, Soforthilfe, Übergangshilfe, Katastrophenvorsorge. - Da liegt noch eine
Menge Arbeit vor uns.
Der zweite Teil ist die Berichterstattung über die vier
schon genannten Jahre 2010 bis 2013. Der Aufwuchs der
Bedarfe ist, glaube ich, durch meine Vorredner schon
ziemlich deutlich geworden. Der Bedarf wächst auch
seit 2013 weiter. Gründe für den steigenden Bedarf sind:
allgemeine Zunahme der Zahl von Extremwetterereignissen - Trockenheit, Fluten, Überschwemmungen in
Afrika, Wirbelstürme in Asien -, große Naturereignisse
mit Katastrophenfolgen wie das Erdbeben in Haiti - das
ist schon wieder eine Weile her; es fiel aber genau in diesen Zeitraum - oder auch die Fluten in Pakistan, Zunahme der Anzahl von Krisen und Konflikten, Zunahme
auch, was deren Dauer und Ausmaß angeht - ich nenne
die langanhaltenden Krisen in Afrika; es gibt drei große
zeitgleich bestehende Konflikte: in Syrien, im Südsudan
und in der Zentralafrikanischen Republik -, steigende
Kosten für komplexe Operationen humanitärer Art.
Jetzt, im Jahr 2015, haben wir gleich eine Handvoll
humanitärer Krisen vor uns. Wir haben davon gehört,
was im Jemen passiert, in Nepal, im Südsudan, in
Eritrea, in Zentralafrika. Wir haben die Menschen vor
Augen, die im Mittelmeer ertrinken - großteils als Folge
dieser Krisen.
Ich weiß, dass es vielen meiner Kollegen und auch
vielen Bürgern und Menschen, die in unserem Land Mitverantwortung tragen, ähnlich geht wie mir. Es ist eine
riesige Betroffenheit vorhanden, nicht nur am Tag einer
Katastrophe und an den Tagen danach. Durch das Ertrinken von Menschen haben wir das vor Augen. Die letzten
zwei, drei Wochen haben mich innerlich zerrissen. Ich
denke an das Alte Testament. Früher hat man, wenn man
eine große Trauer gefühlt hat, sein Hemd zerrissen. Das
mache ich jetzt nicht.
({0})
Aber eigentlich müsste man das tun, um deutlich zu machen: Das können wir doch nicht zulassen. Dabei können wir doch nicht ruhig bleiben. - Als ehemaliger Pastor habe ich darüber nachgedacht, ob ich eine Weile
faste. Auch das war eine Möglichkeit dafür, Trauer auszudrücken, Mitleiden auszudrücken, darüber nachzusinnen: Was kann man denn verändern? Ich habe sogar kurz
über einen Hungerstreik nachgedacht, wusste in dem
Moment aber nicht, gegen wen.
Es geht darum, auszudrücken: Ich will nicht dabei
bleiben. Ich will mich nicht damit zufriedengeben, dass
mir die Ohnmacht, die ich jetzt gerade empfinde, möglicherweise dadurch genommen wird, dass die nächsten
drei Krisen entstehen. Ich will diese Ohnmacht teilen
und ihr Ausdruck verleihen, damit dann konstruktiv miteinander gearbeitet werden kann. Ich will nicht betäubt
werden durch die vier nächsten zugegeben wahrscheinlich wichtigen Themen, die hier im Parlament diskutiert
werden müssen.
Ein Zweites will ich nicht. Wir haben vor 14 Tagen
hier eine tolle Debatte anlässlich des 100. Jahrestags des
Genozids an den Armeniern geführt. Ein Satz des Bundestagspräsidenten war - ich sage das jetzt mit meinen
Worten -: Wir wussten alles zu der damaligen Zeit. Wir,
Deutschland, wussten alles und haben nicht getan, was
wir konnten. - Ich will nicht, dass meine Kinder und Enkel irgendwann am Mittelmeer stehen und genau diesen
Satz über unsere Generation und über uns Politiker sagen müssen, nämlich dass wir alles wussten und nicht
getan haben, was wir konnten. Das heißt nicht, dass wir
die richtige Lösung sofort parat haben, das heißt nicht,
dass es nur um Geld geht, das heißt auch nicht, dass wir
einfach mehr Flüchtlinge aufnehmen, aber das heißt,
dass wir - damit geht es nicht nur um humanitäre Hilfe konstruktiv die Köpfe zusammenstecken, bis wir herausfinden, was wir denn tun können; das muss langfristig
glaubwürdig sein.
Das geht über die ganze Bandbreite der Thematik: Es
geht um die humanitäre Hilfe, richtig abgestimmt vor
Ort, aber auch abgestimmt mit den europäischen Partnern, um Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit
und Ursachenbekämpfung; der Herr Staatssekretär hat es
angesprochen. Es geht um die Hilfe für die Aufnahmestaaten Libanon, Jordanien, Türkei. Was die SyrienKrise angeht, können wir noch mehr tun, natürlich auch
bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität, die übrigens nicht nur am Mittelmeer zu finden ist. Und es geht
um die Seenotrettung der Flüchtlinge. Wir brauchen eine
abgestimmte EU-Politik und möglicherweise eine Diskussion über ein Ende des Dublin-Verfahrens.
Frank Heinrich ({1})
({2})
Letztlich geht es um die deutsche Regelung zu Asyl und
Zuwanderung. Natürlich gibt es tolle Signale: heute der
Gipfel im Kanzleramt,
({3})
die Schiffe, die zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, die Initiative des BMZ. Ich bin dankbar; aber es
reicht mir nicht.
In Kohärenz und Zusammenarbeit müssen wir uns
quer durch unser Haus, quer durch die Ministerien, quer
durch unsere Gesellschaft, bei den Medien angefangen
über uns Bürger als Nachbarn, auf die Frage fokussieren:
Wollen wir, dass in 50 Jahren über uns gesagt wird, wir
hätten alles gewusst, aber nicht alles getan, was wir
konnten? - Wir müssen das Problem wirklich angehen.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Heute ist
der Tag der Befreiung. Morgen, am 9. Mai, ist Europatag. Vor 65 Jahren schlug der französische Außenminister Robert Schuman in einer Rede unter anderem das
vor, was wir heute als Europa kennen. Unter anderem
sagte er in der Rede - ich zitiere -:
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe
der Bedrohung entsprechen.
Genau das gilt heute auch wieder, nur dass die Perspektive global sein muss und die Reaktion ganzheitlich. Ich
wünsche mir, dass wir solchen Anstrengungen Priorität
verleihen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Frank Heinrich. - Nächster Redner:
Dr. Rolf Mützenich für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist richtig, dass der Deutsche Bundestag
sich zum zweiten Mal entschieden hat, die Debatte über
diesen wichtigen Bericht in die Kernzeit seiner Tätigkeit
zu legen. Ich glaube, es ist notwendig, dass man viele
Kritikpunkte aufnimmt, sich aber insbesondere darüber
vergewissert, wie wichtig humanitäre Hilfe gerade auch
als ein Zeichen deutscher Außenpolitik ist und dass sie
gewährt werden muss. Es ist eben kein Gnadenbrot, sondern eine notwendige Ergänzung, notwendige Hilfe, insbesondere angesichts der Tatsache, dass das vergangene
Jahr ein so dunkles gewesen ist. Das vergangene Jahr hat
gezeigt, dass humanitäre Hilfe notwendig ist, natürlich
auch, weil die Politik versagt hat.
Wir dürfen nicht aufhören - ich will auf die Zusammenhänge hinweisen -, kluge Außenpolitik zu machen,
humanitäre Hilfe zu leisten und auf der anderen Seite
Strukturen zu schaffen, damit nicht immer nur humanitäre Hilfe geleistet werden muss, sondern auch Erfolge
möglich sind. Ich finde, hier geht es um ein Zusammenspiel: Humanitäre Hilfe und kluge Außenpolitik gehören
zusammen.
Ich sehe, dass sich die Bundesregierung auf der einen
Seite entschieden hat, mit Unterstützung des Deutschen
Bundestages im Zusammenhang mit den Herausforderungen in Syrien humanitäre Hilfe in einem wirklich
großen Umfang zu gewähren, und sie auf der anderen
Seite deutlich macht, dass wir gleichzeitig den Nachbarländern helfen müssen. Beides gehört, zusammen gedacht, zu einem realistischen Umgang mit humanitärer
Hilfe.
Frau Kollegin Höger, ich finde, Sie werden der wirklich notwendigen und beachtenswerten humanitären
Hilfe und den Herausforderungen im Hinblick auf die
Nachbarländer überhaupt nicht gerecht, indem Sie hier
Kleinigkeiten zu bedenken geben. Das war wirklich sehr
platt.
({0})
Naturkatastrophen wird man nicht verhindern können; man kann sie nicht aufhalten. Deswegen ist es richtig, dass Deutschland gegenüber Nepal humanitäre Direkthilfe im Umfang von 2,5 Millionen Euro geleistet
hat. Ich will allen Helferinnen und Helfern danken.
Gleichzeitig kommt aber ein zweiter Punkt hinzu - deswegen sage ich, dass man hier auch über die Zusammenhänge sprechen muss -: Nepal ist ein Staat, der nicht genügend funktionsfähig ist, der sich zu wenig auf diese
Katastrophe vorbereitet hat, auch weil ihm die internationale Gemeinschaft zu wenig geholfen hat. Wir müssen genau hinschauen und in den nächsten Monaten und
Jahren mithelfen, damit ein funktionsfähiger Staat entsteht, der auf solche Katastrophen vorbereitet ist. Insbesondere müssen wir die Hilfe über einen langen Zeitraum gewähren.
Diese Zusammenhänge werden auch klar, wenn wir
an die Staaten denken, in denen Ebola ausgebrochen ist.
Auch hier waren wir mit der Situation konfrontiert, dass
die Gesundheitssysteme zu schwach waren, um unmittelbar auf diese Katastrophe zu reagieren. Deswegen
müssen wir uns konkret darum kümmern, Staaten wieder
funktionsfähig zu machen, damit sie besser mit solchen
Problemen umgehen können. Auch das gehört zu humanitärer Hilfe.
({1})
Zu einem weiteren Punkt. Es ist notwendig und richtig - und wir sollten das insbesondere im Hinblick auf
den ersten Humanitären Weltgipfel deutlich machen -,
dass internationale Regierungsorganisationen der erste
Ansprechpartner sind, wenn es um Hilfe, aber auch um
Koordination geht; freilich gemeinsam mit staatlichen
Organisationen. Das heißt nicht, dass private Hilfe keine
Rolle spielen soll - private Hilfe ist notwendig und
wichtig -, aber wenn einzelne Hilfsorganisationen unter
medialer Begleitung nach Nepal aufbrechen und am
Ende zwar gute Bilder liefern, aber letztendlich nichts
tun können, dann muss doch die Konsequenz sein, dass
die internationalen Regierungsorganisationen gestärkt
werden. Erste Ansprechpartner sind für mich die Vereinten Nationen, auch als Würdigung von 70 Jahren wichtiger Arbeit in diesem Bereich, und natürlich auch die Europäische Union.
({2})
Ich möchte am Ende meiner Rede noch einmal darauf
hinweisen: Wir werden über den Umgang mit der Situation nicht alleine entscheiden können. Deutschland ist
aufgerufen, auf der einen Seite weiter humanitäre Hilfe
zu leisten, hinzuschauen, sich nicht mit dem Elend abzufinden, auf der anderen Seite eine kluge Außenpolitik zu
betreiben, die die Partner mitnimmt, die sich mit Partnern abstimmt. Insbesondere muss auf die Länder geschaut werden, die gerade in der jetzigen Situation oft
vergessen werden. Deswegen ist der erste Humanitäre
Weltgipfel ein wichtiges Datum. Auch die Vorbereitungskonferenzen, die hier in Berlin und in Bonn stattfinden, sind wichtig. Haben wir den Mut, für den Erfolg
zu arbeiten!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Rolf Mützenich. - Nächster Redner:
Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aktuell verzeichnen wir weltweit 50 Millionen Flüchtlinge, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht
mehr. Humanitäre Hilfe ist in einer solchen Lage nicht
nur ein Gebot menschlichen Mitleids; humanitäre Hilfe
aktiv anzubieten, ist eine Frage von Haltung. Dies gilt
für uns Menschen, für jeden einzelnen von uns, aber es
gilt auch für ganze Staaten. Insbesondere gilt es für diejenigen, die mehr Möglichkeiten haben als andere.
Wir verzeichnen angesichts vieler Krisen einen stark
anwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärer
Hilfe. Ohne die einzelnen Appelle der Vereinten Nationen für die jeweiligen Budgets in Milliardenhöhe hier
aufzuführen, muss festgehalten werden: Die Summe der
Katastrophen und Krisen übersteigt die bisherigen Erfahrungen, und sie erfordert neue Antworten im finanziellen Bereich. Folgerichtig spricht der vorliegende Bericht der Regierung von der Notwendigkeit, einen neuen
Ansatz in der deutschen humanitären Hilfe zu wählen.
Es geht hier um nichts weniger als um einen Paradigmenwechsel. In den letzten Jahren hat sich die Perspektive der humanitären Hilfe verändert. In Zukunft müssen
wir von einer reaktiven Hilfeleistung nach einer Krise
deutlich mehr zu einem vorausschauenden Handeln zur
Vermeidung von Krisen kommen. Wir begrüßen sehr,
dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getan
hat, um sich auf diese Zäsur einzustellen; ich nenne nur
die neue Krisenabteilung im Auswärtigen Amt. Aber unter allen Ressorts besteht die Notwendigkeit, die Koordinierung zu verbessern, um schneller und effektiver helfen zu können.
Der vorliegende Bericht stellt völlig zu Recht fest:
Die Anforderungen wachsen sowohl an Qualität und
Effizienz wie auch an die beschriebene Koordinierung
der internationalen humanitären Hilfe. Dies gilt auch für
die innerhalb der EU koordinierte humanitäre Hilfe aus
Deutschland, die vor allem multilateral erfolgt. Bei aller
Abstimmung muss sich ein so herausragender humanitärer Akteur wie die Bundesrepublik Deutschland aber das
Recht vorbehalten, bei Bedarf oder nach individueller
Beurteilung auch bilateral aktiv werden zu können. Andere Länder tun dies auch, und gerade die Deutschen mit
ihrer hohen Akzeptanz weltweit können durchaus bilateral manchmal mehr bewirken als im multilateralen Konzert.
Die Abstimmung der Akteure untereinander und auch
mit der Bundesregierung und den internationalen Institutionen und Organisationen ist mitentscheidend für die
Qualität des deutschen Beitrags auf dem internationalen
Parkett. Der Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe
beim Auswärtigen Amt erfüllt hier als Schnittstelle zwischen Regierung und den Nichtregierungsorganisationen
eine wirklich zentrale Rolle.
In Zukunft wird es neben Qualität und Effizienz der
humanitären Hilfe aber auch darauf ankommen, die Mobilisierung privaten Engagements zu stärken. Es stimmt:
Nicht jede einzelne Idee zur humanitären Hilfe ist automatisch auch gut umgesetzt. Wahr ist aber auch: Nicht
wenige der kleinen humanitären Hilfsorganisationen
sind schneller vor Ort und können aufgrund ihrer guten
Vernetzung - da haben Sie recht, Herr Koenigs - mit lokalen Akteuren vielfach schneller die Opfer erreichen als
die großen humanitären Organisationen, die natürlich
auch in Zukunft den Löwenanteil der humanitären Hilfe
tragen werden.
Ich habe nur wenige Meter von hier entfernt in der
Parlamentarischen Gesellschaft gestern vom Bürgermeister der nordirakischen Stadt Erbil, Herrn Kodscha,
den Satz gehört: Das werden wir Deutschland nicht vergessen. Und er erzählte, dass er am 20. Dezember des
letzten Jahres am Flughafen einen Hilfstransport von einer dieser Organisationen, von Luftfahrt ohne Grenzen,
entgegengenommen hatte; Frank Franke sitzt unter den
Zuhörern. Diese Organisation hatte einen Hilfstransport
in den Nordirak geplant. Genau in diesem Moment, am
20. Dezember hatten die kurdischen Einheiten das Sindschar-Gebirge freigekämpft, das von ISIS umstellt war.
Man hat schnell reagiert. Diese Hilfsorganisation war
die erste, die dringend notwendige Hilfe ins SindscharGebirge gebracht hat. Sie hatten sechs Lkws umfunktioniert, um die Hilfe dort hinzubringen, wo sie am dringendsten gebraucht würde. Ich sage dieser Organisation
stellvertretend für alle anderen Hilfsorganisationen, die
ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, ein herzliches Dankeschön.
({0})
Wir müssen als Staat auch darauf achten, dass wir privates Engagement und privaten Mitteleinsatz nicht durch
Überbürokratisierung der Anforderungen in Teilen ersticken. Staatliche Unterstützung bleibt wesentlich für den
Erfolg. Aber wir dürfen nicht vergessen: Die privat mobilisierte Hilfe übersteigt die staatliche vielfach noch immer deutlich. Deshalb müssen wir dieses unverzichtbare
private Engagement stärken, und wir dürfen es nicht versehentlich schwächen. Auch das ist eine Lehre aus der
Anhörung im Deutschen Bundestag.
Humanitäre Hilfe hat es auch aus einem anderen
Grund schwerer. Selbst wenn die Hilfe verfügbar ist, erreicht sie nicht immer das Ziel; ich habe das beschrieben. Nicht nur mir sind Fälle bekannt, zum Beispiel im
Bereich medizinischer Versorgung, in denen zwar Mittel
zur Verfügung gestellt wurden, diese aber wegen der
kriegerischen Lage nicht bis zu den Opfern gebracht
werden konnten. Gerade bei den akuten Krisen und gewaltsamen Konflikten bleibt das Dilemma: Humanitäre
Hilfe fehlt oft genau dort, wo sie dringend gebraucht
wird. Hier bleibt die Kooperation mit lokalen Akteuren,
aber auch benachbarten Staaten ein Ausweg. Diese Kooperation kann und sollte durchaus über den humanitären Bereich hinausgehen. Wenn Länder wie Jordanien,
der Libanon oder auch die Türkei die Millionen Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Syrien aufnehmen, dann
können wir vor dieser humanitären Großzügigkeit nur
den Hut ziehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der
Bundesregierung ist also Bilanz und programmatischer
Ausblick zugleich. Die ausführliche Anhörung zu diesem Bericht im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat viele Anregungen gebracht. Eines hat
sie aber vor allem zutage gefördert: Wir werden mit der
zunehmenden Komplexität und Quantität humanitärer
Krisen auch in Zukunft zu rechnen haben. Die dramatische Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ist nur ein
aktueller Ausdruck dessen, dass uns die humanitären
Katastrophen in immer größerem Maße unmittelbar betreffen. Wir werden in einer zunehmend globalisierten
und wechselseitig immer abhängiger gewordenen Welt
der Erkenntnis nicht entkommen: Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Bereich humanitärer Katastrophen
werden wir in Zukunft sehr viel stärker betroffen sein,
als es vielen bisher bewusst ist und manche auch wahrnehmen wollen.
Ich komme zum Schluss. Dass mit dem Bericht ein
ernsthafter Versuch unternommen wurde, auf diese
neuen Herausforderungen entsprechende Antworten zu
entwickeln, ist ein wichtiger Schritt. Es ist ein wichtiger
erster Schritt, und wir werden uns auch als Deutscher
Bundestag mit diesen Themen als Querschnittsaufgabe
in Zukunft intensiver befassen müssen. Wir werden uns
damit nicht nur aus humanitären oder karitativen Gründen befassen müssen, sondern auch aus strategischen
Gründen. Humanitäre Außenpolitik ist integraler Bestandteil der internationalen Politik unseres Landes geworden. Gute humanitäre Politik dient der politischen
Stabilität ganzer Regionen und auch der Sicherheit unserer eigenen europäischen Region.
Bitte Zeit beachten!
Frau Präsidentin, mein letzter Satz.
({0})
Es geht also nicht nur um unser menschliches Mitleid
- das vielleicht zuallererst -, sondern auch um unsere
nationalen Interessen. Wenn es anderen gutgeht, dann
geht es auch uns besser, und das auf Dauer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({1})
Ja, das waren aber drei gute Sätze. - Letzte Rednerin
in dieser Debatte: Dagmar Wöhrl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich mich dafür bedanken,
dass es möglich ist, heute über dieses Thema zu debattieren. Wir wissen, dass eine Katastrophe die andere jagt.
In Nepal gab es erst vor kurzem über 8 000 Tote. Bei
Ebola hoffen wir, dass die Epidemie bald überwunden
sein wird; hier gab es über 10 000 Tote. Wir haben immens viele Krisen und immens viele Konfliktgebiete auf
der Welt; das zeigt der Bericht der Bundesregierung.
Seit Vorliegen des Berichts ist aber die Zahl der Krisen und Konflikte noch weiter gestiegen, und alte Krisen
und Konflikte sind noch nicht beendet. Ich erinnere nur
an Syrien, wo es immer noch 12,2 Millionen Hilfsbedürftige gibt. Das ist über die Hälfte der Bevölkerung.
Über 4 Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen, und es gibt über 7 Millionen Binnenvertriebene. Ich
erinnere auch an den Irak mit rund 3 Millionen Binnenvertriebenen. Und es gibt viele andere Länder wie Somalia oder die Zentralafrikanische Republik, die Staaten
der EAC und noch einige mehr, die hier ebenfalls zu
nennen wären.
Die Folgen sind Tragödien von unermesslichen Ausmaßen, die man sich so eigentlich nicht vorstellen kann.
Wir sehen die Bilder tagtäglich im Fernsehen. Es besteht
die große Gefahr, dass unsere Gefühle langsam abstumpfen, weil es einfach zu viele Krisen sind. Aber in jedem
Fall geht es um Einzelschicksale. Wir sehen Menschen,
die im Mittelmeer ertrinken. Was man nicht sieht, ist,
dass auch Menschen in der Wüste verdursten. Ihre Zahl
soll sogar bei weitem höher sein als die Zahl derjenigen,
die bis jetzt im Mittelmeer ertrunken sind.
Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung
ihre humanitäre Hilfe ausweitet und auch Schritte zu einer besseren Koordinierung unternimmt. Es ist wichtig,
dass die Häuser hier zusammenarbeiten, damit es hier zu
kohärentem Handeln kommt. Wir wissen, wie schwierig
es ist, diese Kohärenz herzustellen, auch wenn wir immer ganz toll darüber reden. Wir müssen darüber hinaus
vom reinen Reagieren wegkommen. Wir dürfen nicht
nur reagieren, sondern müssen zukünftig viel mehr agieren. Die Vereinbarung zwischen den zwei Häusern bietet
eine gute Grundlage. Es ist ein guter Ansatz, die Nothilfe
im Auswärtigen Amt und die langfristige Entwicklungszusammenarbeit im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung anzusiedeln.
Vereinbarte Maßnahmen muss man aber auch ab und
zu evaluieren: Sind sie gut? War die Vereinbarung richtig? Kann man vielleicht etwas besser machen? - Ich
glaube, es ist richtig, dass wir mit ESÜH, der „Entwicklungsfördernden und Strukturbildenden Übergangshilfe“,
eine Brücke gebaut haben. Diese Hilfe kann schnell und
unbürokratisch geleistet werden, und sie kann an die
Nothilfe anschließen. Vor allem kann so für die Dauer
von drei bis vier Jahren eine stabile Finanzierung sichergestellt werden. Das ist etwas, was die Nothilfe in diesem Zusammenhang manchmal nicht leisten kann.
Wichtig und prioritär ist für uns, dass wir die Widerstandskraft dieser Länder und ihre Institutionen stärken.
Sie müssen präventiv im Hinblick auf neu entstehende
Konflikte gestärkt werden, sodass man Krisen zukünftig
vorbeugen kann.
Meine Damen und Herren, humanitäre Hilfe wird nie
ganz verzichtbar sein; aber sie darf nie ein Ersatz für die
Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Punkt ansprechen, der mir
immer wieder aufgefallen ist, und zwar die Koordinierung der Hilfsmaßnahmen. Wenn ich mir anschaue, wie
heute die internationale Koordinierung der Hilfsmaßnahmen, vor allem die der Vereinten Nationen, dasteht,
glaube ich, dass dieses Thema ganz dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden muss.
({0})
Ich erinnere mich noch ganz gut daran, dass sich in
Haiti 22 000 NGOs gegenseitig auf die Füße getreten
sind. Angesichts dessen muss man, wie ich glaube,
schauen, wie man die Hilfsmaßnahmen international,
also zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen,
besser abstimmt.
Der UN-Nothilfekoordinator Albrecht Beck hat sich
gerade zu Nepal geäußert. Er hat gesagt, dass viele Staaten und Organisationen ihre eigene Flagge zeigen wollen
und deshalb eigene Hilfe leisten, sodass keine echte Zusammenarbeit der internationalen Akteure erfolgt. Das
sollte uns zu denken geben. Wir müssen hier international zu einer größeren Effizienz kommen. Es sollte nicht
jeder sein eigenes Süppchen kochen, sondern wir sollten
zusammenarbeiten. Das muss in den großen internationalen Organisationen angedacht und durchdiskutiert
werden; und es müssen auch Strukturreformen durchgeführt werden.
Herr Koenigs, Sie haben vollkommen recht: Die
WHO muss an ihre Strukturen herangehen. Wir hoffen,
dass auch dieses Thema auf der Tagesordnung der Konferenz, die demnächst von der Kanzlerin eröffnet wird,
stehen wird.
({1})
Wir müssen schauen, dass Hilfe schnell auf die Beine
gestellt wird und sich die Helfer einander nicht auf die
Füße treten.
Eines ist besonders wichtig: Was lernen wir aus den
verschiedenen Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben? Man spricht hier von „lesson learned“; das
ist ein sehr wichtiger Terminus.
Ebola war kein Ruhmesblatt für uns; das wissen wir.
Aber wir haben gesagt: Wir lernen aus den Erfahrungen.
Wir sprechen momentan von einem Weißhelmkontingent. Unabhängig davon, wie diese Einsatztruppe zukünftig heißen wird, ob Weißhelme oder anders: Wir
brauchen eine Einsatztruppe. Die Weltgemeinschaft
muss sich überlegen, wie sie auf internationaler Ebene
auf Katastrophen, die auch künftig eintreten werden,
schnell reagieren kann, wo sie Einsatzstationen mit entsprechendem Personal, das sofort aktiviert werden kann,
vorhalten will.
Ich glaube, dass wir umdenken müssen und in dem
Bereich zu einer kohärenten und viel besser abgestimmten Politik kommen müssen.
Ich möchte mich am Schluss für eines bedanken,
nämlich für die Berücksichtigung der sogenannten vergessenen humanitären Krisen, Krisensituationen, die
schon länger auf der Welt bestehen. Ich erinnere hier an
Mindanao, den Konflikt auf den Philippinen. Ich erinnere an die ethnischen Konflikte in Myanmar, an die sahaurischen Flüchtlinge in Algerien. Man hört momentan
nichts davon, aber diese Konflikte bestehen weiter, sie
sind nicht beendet. Wir dürfen sie nicht vergessen, auch
wenn die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet sind und
die Karawane weitergezogen ist. Wir müssen hier weiterhin unterstützend tätig werden. Deswegen bin ich
froh, dass wir 15 Prozent der Mittel aus dem Haushalt
für humanitäre Hilfe hierfür aufwenden. Auch wenn momentan nicht spektakulär darüber berichtet wird, auch
wenn die Fernsehkameras derzeit nicht draufhalten,
müssen wir wissen, dass wir auch für die sogenannten
vergessenen humanitären Krisen Verantwortung haben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, so notwendig Hilfe in der Not ist, so sehr dürfen wir unser eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren: durch eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit davon wegzukommen, permanent Nothilfe leisten
zu müssen.
In dem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Dagmar Wöhrl. - Damit schließe ich
die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 18/4416 zum Bericht der Bundesregierung
über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis
2013. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts
der Bundesregierung auf Drucksache 18/2900 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Zustimmung
von CDU/CSU und SPD und Enthaltung bei den Linken
und bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe jetzt langsam, damit Sie möglicherweise die
Plätze tauschen können, die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Meere weltweit verankern
Drucksache 18/4814
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Meeresumweltschutz national und international stärken
Drucksache 18/4809
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen und Debatten
gegebenenfalls draußen zu führen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Anton
Hofreiter für die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor circa zwei Jahren war ich das letzte Mal
mit einem Meereskajak in Südostasien von Insel zu Insel
unterwegs. Mit einem Kajak kann man wunderbar tolle
Buchten und einsame Strände, auf denen normalerweise
kein Mensch ist, erkunden und wunderschöne Korallenriffe entdecken.
Der Punkt ist nur: Auf den ersten Blick wirkt es wie
ein echtes Paradies. Wenn man dann aber an Land geht
und sich die Strände genauer anschaut, dann entdeckt
man jenseits der Hochwasserlinie Berge von Plastikmüll. Inzwischen ist es absurderweise so, dass dort, wo
keine Menschen sind, sehr viel mehr Müll liegt als dort,
wo sich Menschen befinden. Der Müll wird nämlich
vom Meer gebracht. Es ist uns tatsächlich gelungen, die
riesigen Weltmeere so zu vermüllen, dass an von Menschen unberührten Stränden Berge von Plastikmüll liegen. Das ist absolut skandalös, und daran erkennt man,
dass dringendster Handlungsbedarf besteht.
({0})
Die Übernutzung der Schätze des Meeres und diese
Vermüllung, diese Nutzung der Meere seit vielen Jahrzehnten als Mülltonnen, stellen für alle Menschen eine
existenzielle Bedrohung und Herausforderung dar. Frau
Merkel bringt das Thema Meeresschutz jetzt auf den
G 7-Gipfel. Ich muss dazu sagen: Das freut mich wirklich und ehrlich. Der Punkt ist nur: Ein Problem löst sich
nicht dadurch, dass man es einfach nur auf die Tagesordnung setzt und ein paar schöne Worte dazu findet.
({1})
Vielmehr brauchen wir wirklich Handlungen, Taten, Gesetze und Maßnahmen, und zwar nicht nur auf schönen
Gipfeln, sondern auch hier vor Ort in Deutschland. Wir
müssen auch im eigenen Land die eigene Verantwortung
erkennen.
({2})
Von Frau Merkel stammt folgender schöner Satz, den
sie in einem etwas anderen Zusammenhang gesagt hat:
„Das, was zu verbessern ist, muss verbessert werden“. Nehmen wir sie jetzt doch einmal beim Wort und
schauen wir uns einige der direkten Probleme an, um zu
überprüfen, inwieweit Worte und Taten etwas miteinander zu tun haben.
Fangen wir mit dem Problem Plastikmüll an. Im Atlantik - nicht nur im Pazifik, der dafür bekannt ist schwimmt ein Plastikstrudel in der Größe von Texas. An
diesem Plastik verenden Fische, Vögel und zum Teil
auch Wale und Delfine, weil sie diese Plastikteilchen für
Nahrung halten. Das verstopft ihre Mägen, und sie verhungern dann. Diese Teilchen werden aber zugleich imDr. Anton Hofreiter
mer kleiner, und am Ende landen sie über Meeresfisch
und Nahrung aus den Meeren auch wieder auf unseren
eigenen Tellern, weil dieses Plastik nicht zerfällt, sondern nur in immer kleinere Teilchen zerfällt.
Was tut unsere Bundesregierung? Unsere Bundesregierung schreibt einen netten Aktionsplan. Das sind wieder einmal schöne Worte ohne Konsequenzen. Stattdessen müsste sie einmal wirklich etwas tun. Man könnte
zum Beispiel massiv etwas gegen den Einsatz von Plastiktüten tun. Wie wäre es mit einer Abgabe auf Plastiktüten? Wie wäre es mit einer Abgabe auf generell unverrottbare Verpackungsplastiken? Wie wäre es damit, die
Chemieindustrie mit einer entsprechenden ÖkodesignRichtlinie so unter Druck zu setzen, dass Verpackungsplastik so hergestellt wird, dass es sich schadlos zersetzt? Es ist nämlich kein Naturgesetz, dass Plastikmüll
Tausende von Jahren hält. Das kann man auch so gestalten, dass er sich nach wenigen Jahren in CO2 und Wasser
zersetzt. Warum tun Sie hier nichts? Warum reden Sie
nur darüber?
({3})
Schauen wir uns das zweite ganz große Problem an,
unter dem unsere Meere leiden: die Überdüngung. Unsere Meere leiden massiv darunter, dass in ihnen viel zu
viel Stickstoff ist. Woher kommt dieser Stickstoff?
Dieser Stickstoff kommt aus unserer industriellen Landwirtschaft, sowohl vom Kunstdünger als auch vom massenhaften Ausbringen von Gülle aufgrund der Massentierhaltung. Warum unternehmen Sie nichts dagegen?
Auch hier könnte man begrenzend eingreifen.
Aktuell wird über eine Düngeverordnung debattiert.
Die von Ihnen vorgeschlagene Düngeverordnung ist
aber so wirkungslos, dass sie am Ende nicht helfen wird.
Wir reden hier nicht nur von tropischen Meeren und von
weit entfernten Problemen. Betrachten wir die Ostsee:
Die Ostsee ist inzwischen sehr stark überdüngt. Sie leidet unter einem so starken Algenwachstum, dass es dort
Todeszonen gibt. Das sind Zonen, die sauerstofffrei sind,
in denen alles Leben abstirbt, und sie haben mittlerweile
die Größe von zum Beispiel meinem Heimatland Bayern
erreicht. Was unternehmen Sie dagegen? Sie zerreden
die Düngeverordnung, und das, was Sie dagegen tun,
reicht nicht ansatzweise aus.
Sie unternehmen nichts gegen diese großen Probleme,
die direkt bei uns vor der Haustür sind.
({4})
Schauen wir uns einen dritten ganz großen Problemkomplex an, nämlich die Überfischung der Meere. Inzwischen sind 80 bis 85 Prozent der weltweiten Fischbestände massiv überfischt. Die Europäische Union und
auch deutsche Fischtrawler tragen ihren Teil dazu bei.
Die Europäische Union subventioniert, mit deutscher
Unterstützung, diese Überfischung der Meere mit erheblichem Steuergeld. Die Meere werden nicht nur bei uns
überfischt, sondern auch vor afrikanischen Küsten. Wir
entziehen damit den Fischern vor der libyschen Küste,
vor Somalia, vor der westafrikanischen Küste ihre Lebensgrundlagen. Zugleich stellt man fest: Wenn hier
über Flüchtlinge debattiert wird, wird immer gerne davon gesprochen, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen. Ja, das müsste man. Aber warum tun Sie es
dann nicht, wenn es konkret wird? Warum sorgen Sie
nicht dafür, dass die Fischer in diesen armen Ländern
eine Chance gegen die großen europäischen Fischereiflotten haben?
({5})
Warum stellen Sie die Überfischung nicht ein?
Die Zerstörung unserer Meere ist für uns alle eine
existenzielle Bedrohung. Deshalb ist es an der Zeit, das
Thema nicht nur auf die Tagesordnung zu heben, sondern mit den Möglichkeiten, die die deutsche Politik in
diesem Bereich hat, endlich zu handeln und dafür zu sorgen, dass wir diese Probleme wenigstens ansatzweise in
den Griff bekommen. Denn - es stimmt -: „Das, was zu
verbessern ist, muss verbessert werden.“ Es darf nicht
nur darüber geredet werden, sondern es muss endlich
auch gehandelt werden.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Toni Hofreiter. - Nächster Redner in der
Debatte: Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ende Mai haben wir den Europäischen Tag der Meere,
eingeführt im Jahr 2008, Bekanntheitsgrad minimal.
Trotzdem macht ein solcher Tag Sinn; denn er dient
dazu, uns die entscheidende Bedeutung der Ozeane für
unser tägliches Leben in Erinnerung zu rufen und in der
Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein zu heben.
Eins ist völlig klar: Der Meeresschutz ist auch für unsere Fraktion, die CDU/CSU, ein wichtiges Anliegen.
Wir haben mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie
und ihrer Umsetzung in nationales Recht schon einen
Meilenstein erreicht. Und wenn Herr Hofreiter immer
wieder betont, es gehe nicht um Beschlüsse, sondern
Umsetzung sei das Thema,
({0})
sage ich: Dem stimmen wir auch zu. Ich werde gleich
darauf zurückkommen und Ihnen erläutern, was wir dabei alles berücksichtigen müssen. Mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie jedenfalls wollen wir einen guten
Umweltzustand der europäischen Meere bis 2020 erreichen. Dafür sind eine ganze Reihe verschiedener
Schritte notwendig.
In ihren Anträgen allerdings wiederholt die Opposition eigentlich nur Punkte, bei denen die Politik der Bun9942
desregierung bereits Akzente gesetzt hat und die auf dem
Weg sind. Die überstürzte Art der Einbringung dieser
Anträge - unter Absetzung anderer Punkte, die für diese
Woche vorgesehen waren - lässt mich eher vermuten,
dass Sie versuchen wollen, im Windschatten des G 7Gipfels noch schnell ein bisschen mediale Aufmerksamkeit zu erringen und sich als Gralshüter des Meeresschutzes darzustellen.
({1})
Das sind Sie nicht; denn Ihr Anliegen ist kein anderes als
unseres.
({2})
Wir haben im Umweltausschuss am 20. Mai ein Fachgespräch zu diesem Thema. Es wäre sinnvoll gewesen,
diese Anträge dort einzubringen. Nun gut; wir werden
die Überweisung, wenn wir nachher darüber beschließen, mittragen, um dann im Umweltausschuss intensiver
darüber zu diskutieren.
Intakte Weltmeere und Küsten, liebe Kolleginnen und
Kollegen, sind von überragender Bedeutung für die
ganze Menschheit. Sie sind Lebensraum für zahlreiche
Arten von Fischen und anderen Tieren, sie sind Rohstoffquelle, sie sind Erholungsraum für die Menschen,
und sie haben eine nicht unerhebliche Bedeutung für das
Weltklima. Sie sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt:
Der Klimawandel führt zur Erwärmung der Weltmeere.
Die Einträge aus der Atmosphäre und aus den Flüssen
führen zu Versauerung. Das Problem der Überfischung
wurde eben schon angesprochen. Es gibt einen zunehmenden Schiffsverkehr mit seinen Folgewirkungen. Es
findet eine immense Verschmutzung der Ozeane statt.
Es gibt aber auch Belastungen, die vom Land her
kommen. Die Meere werden durch den Eintrag von Nitrat, Stickstoff und Phosphor, vor allem aus der Landwirtschaft, belastet, aber auch von Pflanzenschutzmittelresten, von Tierarzneimitteln und von Bioziden. Diese
Stoffeinträge müssen gesenkt werden. Die in Arbeit befindliche Düngeverordnung wird dazu einen Beitrag
leisten. Sie ist zugleich aber auch ein Beispiel dafür, wie
wichtig es ist, dass wir die verschiedenen Güter, um die
es dabei geht, gegeneinander abwägen; denn die Festlegung von Werten in der Düngeverordnung, welche auch
immer das sein mögen, beeinflusst zum Beispiel unsere
Landwirtschaft ganz massiv. Trotzdem ist es notwendig.
Die Landwirtschaft ist aber nicht der alleinige Belastungsfaktor vom Land her. Vielmehr haben wir es auch
mit dem Eintrag von Chemikalien, vor allen Dingen aber
mit Arzneimittelrückständen wie Antibiotika und Ähnlichem zu tun. Auch daran müssen wir arbeiten. Das ist
ein extrem schwieriges Themenfeld, wenn es um die
konkrete Ausgestaltung geht. Dazu gibt es noch keine
Lösungen.
Selbst das, was wir im Offshorebereich zugunsten des
Klimas und zugunsten unserer Energiewende machen,
nämlich der Bau von Offshorewindanlagen, ist unter
dem Gesichtspunkt des Meeresschutzes nicht unproblematisch. Es gibt wieder ein wunderbares Beispiel, das
belegt, dass wir es hier mit Zielkonflikten zu tun haben,
die wir miteinander austarieren und für die wir Lösungen
finden müssen.
Der Bau von Offshorewindanlagen führt zu Lärmbelastungen, vielleicht auch der Betrieb. Wie es sich mit
Infraschall verhält, darüber wird diskutiert. Dazu liegen
uns noch keine stichhaltigen Erkenntnisse vor. Es sieht
bislang so aus, als wäre dieser Schall für die Menschen
kein Problem, wohl aber für bestimmte Tierarten. Auch
dort müssen wir abwägen, was wir wollen, ob das eine
oder das andere bzw., wenn beides, in welcher Kombination. Sicher ist, dass wir solche Anlagen nur bauen dürfen, wenn sie der Seeanlagenverordnung entsprechen;
diese legt ja fest, dass die Meeresumwelt nicht gefährdet
werden darf. Was das konkret heißt und welche Belastungen, die von solchen Anlagen ausgehen, wir akzeptieren, ist diskussionswürdig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abfallpolitik
der Bundesregierung leistet schon erhebliche Beiträge
zur Reduzierung der landseitigen Meeresverschmutzung. Herr Hofreiter hat eben das Stichwort „Plastikmüll“ erwähnt. Der Plastiktütenverbrauch in Deutschland liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt.
Was die Verwendung von mehrfach nutzbaren Plastiktüten angeht, liegen wir weit über dem Durchschnitt in Europa. Das kann man sicherlich verstärken. Aber dass hier
sozusagen der schlechteste Teil der Welt liegt, trifft nun
wirklich nicht zu. Das Forschungsministerium hat im
Februar 2015 mit zehn EU-Staaten ein Forschungsprogramm zum Thema Mikroplastik aufgelegt. Aus den
dort gewonnenen Erkenntnissen haben wir dann Konsequenzen zu ziehen, was wir tun können, um die Müllbelastung aus diesem Bereich zu reduzieren.
Die Bekämpfung der Meeresvermüllung findet auch
auf regionaler Ebene statt. Wir haben seit 2014 einen regionalen Aktionsplan. Hier haben sich die Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee zusammengeschlossen, um
dafür zu sorgen, dass deutlich weniger Abfall in diese
Meeresbereiche gebracht wird, und zum Teil sogar Müll
aus den Meeren, soweit es technisch und mit vertretbarem Aufwand möglich ist, zu entfernen. Die Zahlen sind
ja erschreckend. Jährlich gibt es 6,4 Millionen Tonnen
neue Plastikabfälle im Meer. Wenn man das umrechnet,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass 13 000 Plastikmüllteile auf einen Quadratkilometer entfallen. Da diese
Teile in der Tat zerfallen, nimmt ihre Zahl schon alleine
deswegen ständig zu.
Wir müssen uns aber davor hüten, einseitig bestimmte
Bereiche zu Sündenböcken zu machen, die Schifffahrt
beispielsweise. Wir dürfen sie nicht so belasten, dass es
zu Verlagerungen auf andere Verkehrsträger, also wieder
auf Landverkehr, kommt. Wir dürfen auch Auflagen
nicht so konstruieren, dass beispielsweise die illegale
Entsorgung von Müll auf den Weltmeeren wieder zur
billigeren Lösung wird. Gerade das wollen wir verhindern. Die Entsorgung soll ja an Land passieren.
({3})
80 Prozent des Mülls im Meer kommen vom Land her.
80 Prozent! In diesem Bereich haben wir durchaus nationalen Handlungsbedarf, auch wenn wir in Deutschland
hier einiges erreicht haben.
Ich komme zum Schluss auf ein Beispiel zu sprechen,
das ein wenig verdeutlichen kann, warum es für uns
auch auf nationaler Ebene wichtig ist, dass wir unsere eigenen Küsten schützen: Das müssen wir für Flora und
Fauna genauso wie für den wichtigen Wirtschaftszweig
Tourismus tun.
Herr Hofreiter, Sie sagen, die Küsten, wo keine Menschen sind, sind vermüllt, die Küsten, wo Menschen
sind, nicht. Gut, die Tourismusindustrie sorgt dafür, dass
der Teil, der von Menschen aufgesucht wird, sauber ist.
Das ist nachvollziehbar. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die anderen Teile sauber werden. Darin stimmen wir völlig überein.
Ich bin daher der Bundeskanzlerin außerordentlich
dankbar, dass sie dieses Thema zu einem Schwerpunkt
der G 7-Gespräche macht. Der Schutz der Ozeane und
die drastisch zunehmende Vermüllung der Weltmeere
sollen in den Blick genommen werden, insbesondere
was den Plastikmüll angeht. Sie haben gerade gesagt,
uns helfen keine Appelle oder schönen Worte. Das ist
zutreffend. Was aber auf dem G 7-Gipfel besprochen
wird, wird nicht in den blauen Dunst hinein gesprochen,
sondern es führt in der Nachbearbeitung zu Maßnahmen.
Vor allen Dingen - das ist ganz wichtig - macht es keinen Sinn, nur mit kleinen Maßnahmen auf nationaler
Ebene zu arbeiten; allein kleinräumig betrachtet sind sie
sinnvoll. Wir bekommen dieses Thema nur dann in
Griff, wenn wir es in seiner globalen Dimension begreifen.
Deswegen, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Opposition: Unterstützen Sie die Bundeskanzlerin und die
Bundesregierung bei diesem Vorhaben. Vielleicht wirken Sie auf den einen oder anderen ein, sich etwas weniger in G 7-Protestcamps in den bayerischen Bergen zu
engagieren, aber mehr in den zuständigen Ausschüssen
oder bei der Bildung der öffentlichen Meinung. Vielleicht trägt jeder in dem Bereich, auf den er Zugriff hat,
seinen Teil dazu bei.
({4})
Das Ziel der deutschen Meeresschutzpolitik ist ein
auf dem Ökosystemansatz beruhendes, umfassendes und
integriertes Management aller Aktivitäten, um einen guten Zustand zu erreichen. Dafür brauchen wir ein Zusammenwirken aller Politikbereiche.
Ich will abschließen mit einem kurzen Blick auf die
Situation des Rheines im Bereich meiner Heimatstadt
Köln.
Aber wirklich nur kurz.
Danke, ich mache es sehr schnell. - Im letzten Jahr
hat das Fangen eines Fisches Aufsehen erregt: eines
Maifisches. Ein Maifisch ist ein Fisch, der zwar im
Rhein geboren wird, dann aber auswandert und bis zur
Geschlechtsreife im Meer bleibt, dann zurückkommt
und Eier ablegt. Das Besondere war, dass wir erstmals
einen solchen Fisch gefangen haben, der nicht im Rhein
ausgesetzt wurde, sondern der diesen vollständigen Zyklus durchlaufen hat. Das zeigt - zusammen mit der
Feststellung, dass wir inzwischen wieder um die 50 verschiedene Fischarten im Rhein haben -, dass wir mit nationalen Maßnahmen bei der Reinhaltung von Flüssen
einiges erreichen können. Das sollten wir auch beibehalten.
All denjenigen, die dazu beigetragen haben - das sind
auch viele Ehrenamtler -, sollten wir dafür besonders
dankbar sein. Sie behalten das Ziel einer guten Wasserqualität im Blick und arbeiten dafür - jeder an seinem
Platz -, dass es da auch in Zukunft weiterhin Erfolge
gibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen: Wenn man die Redezeit zu weit überzieht, geht das in der Regel zulasten der nachfolgenden
Redner und Rednerinnen. Das machen wir jetzt nicht.
Dies ist ein Hinweis für alle, die danach zu Wort kommen, im Zeitrahmen zu bleiben.
Nächster Redner für die Fraktion die Linke ist der
Kollege Hubertus Zdebel.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Belastung unserer Ozeane wird ein immer drängenderes Problem. Und dabei ist die Betrachtung der Meeresbelastung durch Plastikmüll nur eine Komponente.
Es ist richtig und wichtig und auch sehr zentral, dass
die Bundesregierung den Meeresschutz als ein Schwerpunktthema der deutschen Präsidentschaft des G 7-Gipfels benennt, der eigentlich ein G 8-Gipfel sein sollte,
was bei der langen russischen Küstenlinie auch Sinn machen würde. Aber das ist ein anderes Thema.
Toni Hofreiter hat gerade darauf hingewiesen: Das
Reden über den Meeresschutz ist das eine; es kommt vor
allen Dingen aber darauf an, zu handeln und Konsequenzen zu ziehen. Ich will einen Aspekt anbringen, der in
der Diskussion überhaupt noch nicht erwähnt worden ist,
nämlich den Wettlauf um die Bodenschätze der Ozeane:
Kupfer, Kobalt und Seltene Erden. Dieser Wettlauf ist
bereits im vollen Gange. Dabei geht es um knallharte
geopolitische und wirtschaftliche Interessen. Ab 2016
können erste Explorationslizenzen bei der Internationalen Meeresbodenbehörde, ISA, in Förderlizenzen umgewandelt werden. Dann geht der Run auf Tiefseereserven
richtig los, um den eigenen Rohstoffhunger zu stillen
und zu decken. Deutschland ist im Rahmen seiner Rohstoffstrategie voll dabei.
An dieser Stelle muss man, glaube ich, einmal Folgendes erwähnen: Deutschland erwarb bereits 2006 bei
der ISA eine Explorationslizenz für ein 75 000 Quadratkilometer großes Tiefseegebiet im Südpazifik. Mehr als
4 000 Meter unter dem Wasserspiegel liegen dort Manganknollen auf dem Meeresboden, die einen hohen Anteil an Metallen wie Mangan, Eisen, Kobalt, Nickel,
Kupfer und anderen Stoffen enthalten. Gerade am letzten
Mittwoch unterzeichnete die Bundesregierung ihre
zweite Explorationslizenz für ein 10 000 Quadratkilometer großes Gebiet im Indischen Ozean südöstlich vor
Madagaskar. In bis zu 4 000 Metern Tiefe soll nun nach
Buntmetallen wie Kupfer, Blei oder Zink sowie vor allem nach sogenannten Hochtechnologiemetallen gesucht
werden. Außerdem sind deutsche Unternehmen im Bereich der Bohrtechnik oder als Lieferanten entsprechender Technik und Ausrüstung schon heute international
gefragte Ansprechpartner, allen voran Siemens.
Die Nutzungsinteressen in den Bereichen Energiegewinnung, Rohstoffförderung, Transport, Nahrungsbeschaffung und Unterbringung der Versorgungsinfrastruktur
greifen natürlich in das Ökosystem Meer ein. Das ist der
zentrale Punkt bei dem Ganzen. Bereits jetzt gelten über
40 Prozent der Meere als stark vom Menschen beeinflusst. Die Artenvielfalt in den Meeren geht zurück und
damit der genetische Pool. Gerade in der Tiefsee - darüber reden wir ja, wenn es um diese Explorations- und
Förderlizenzen geht - führt das aufgrund der langsam
ablaufenden biologischen Prozesse zu starken Auswirkungen. Deswegen fordert die Linke ein weltweites Moratorium für den Tiefseebergbau, und zwar so lange, bis
ausreichende Informationen über die Flora und Fauna
der Tiefsee vorliegen, aufgrund derer die Folgen von
menschlichen Tiefseeaktivitäten auf die Ökosysteme
realistisch eingeschätzt werden können.
({0})
Diese Informationen liegen im Moment noch nicht vor.
In diesem lichtleeren Raum fehlt nämlich im wahrsten
Sinne des Wortes der Durchblick, wie die Süddeutsche
Zeitung in ihrer Ausgabe vom vergangenen Samstag
sehr eindrücklich verdeutlicht hat. Jeder Eingriff, gerade
im Tiefseebereich, kann fatal sein.
Außerdem macht sich die Linke bezüglich jeglicher
mariner Rohstoffförderung und -nutzung für die Verursacherverantwortung im gesamten Förderprozess - bis
hin zu sozialen und ökologischen Folgekosten - stark.
({1})
Das internationale Seerechtsübereinkommen UNCLOS
regelt die verschiedenen Nutzungsansprüche auf See
recht umfassend. Aus unserer Sicht ist es allerdings elementar, dass auch die USA als einflussreiches und rohstoffhungriges Land dieses wichtige Abkommen ratifizieren. Das ist bisher noch nicht der Fall.
Die Linke fordert ferner weltweit gute Arbeitsbedingungen auf See und eine gerechte Verteilung der durch
die Rohstoffförderung erzielten Gewinne auf alle beteiligten Länder.
Nicht nur im sozialen, sondern auch im ökologischen
Sinne halten wir es für absolut unerlässlich, dass eine
Ausflaggung von Schiffen unter Billigflaggen grundsätzlich ausgeschlossen ist und bleibt.
({2})
Hierzu bedarf es bis 2020 eines internationalen Vertragswerks in Anlehnung an die Initiative der International
Transport Workers’ Federation, die die Schiffsflagge an
die Nationalität bzw. den Wohnsitz des Schiffseigners
bindet.
Weitere große Themen sind der Schutz der Biodiversität, die Eindämmung von Nähr- und Schadstoffeinträgen und die Umsetzung verbindlicher Fischereiabkommen, die das Fischen nach Mehrjahresplan und dem
sogenannten Maximum-Sustainable-Yield-Prinzip - dabei geht es um den höchstmöglichen Dauerertrag - sowie ökologisch unverträgliche Fischereimethoden wie
mobile bodenberührende Fanggeräte und Stellnetze ausschließen und Fangverbotsareale festlegen.
({3})
Die nationale Ebene will ich in dieser Rede nur sehr
kurz berühren, da Toni Hofreiter in seiner Rede schon einiges dazu gesagt hat. Nur so viel: Gerade in den Punkten „Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft“ und
„Fischerei“ ist das Bundesumweltministerium in seiner
Verhandlungsposition gegenüber dem Bundeslandwirtschaftsministerium ausdrücklich zu stärken. Frau
Schwarzelühr-Sutter, da Sie heute anwesend sind,
möchte ich Sie bitten, Frau Hendricks auszurichten, bitte
dafür zu sorgen, dass fischereiökologische Maßnahmen
und flächendeckende Gewässerrandstreifen von mindestens 5 Metern mit einem Verbot von Düngung, Pflanzenschutzmitteleinsatz und Ackernutzung wieder auf die
Liste des Maßnahmenkatalogs zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie kommen. Das ist nämlich
bisher leider nicht der Fall.
Nicht ohne Grund verfehlt Deutschland die Ziele der
Wasserrahmenrichtlinie, bis Ende 2015 einen guten ökologischen und chemischen Zustand der Oberflächengewässer zu erreichen. Es ist noch unklar, ob der zweite
Bewirtschaftungszeitraum bis Ende 2021 dieses Ergebnis maßgeblich ändern wird, wenn nicht eine grundlegend andere Gewässerpolitik gefahren wird. Uns allen
muss klar sein: Meeresschutz beginnt schon bei der Gewässerquelle.
({4})
Zum Schluss: Die Meldung von Mitte April über den
Ölteppich vor Gran Canaria hat nicht nur bestätigt, dass
das Meer permanent durch menschliche Nutzungsinteressen gefährdet ist, sondern vor allem auch, wie zynisch
mit weniger wirtschaftlich entwickelten Ländern umgegangen wird. Im konkreten Fall sollte das brennende russische Schiff nicht gelöscht, sondern auf offenem Meer
seinem Schicksal überlassen werden. Die Strömung
würde den Treibstoff in Richtung Afrika treiben. Mittlerweile ist das Schiff mit großen Teilen seines Treibstoffs gesunken. Es stellte sich heraus, dass die „Oleg
Naydenov“ schon 2012 ohne Lizenz beim Fischen erHubertus Zdebel
wischt wurde, und zwar unter anderem vor der Küste Senegals, wo Fischerei verboten ist. Auch vor Somalia
wurde in Krisenzeiten illegal gefischt, was im Anschluss
zu Waffengewalt und Piraterie führte.
Der Schutz des Meeres und seiner Ressourcen bedeutet auch Friedenssicherung. Auch deshalb setzt sich die
Linke dafür ein.
({5})
Vielen Dank. Die Einhaltung der Redezeit war vorbildlich.
Als Nächste erhält die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter das Wort für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Beide Anträge zum
Meeresschutz greifen ein ganz wichtiges Themenfeld
auf. Sicherlich kann man sagen, dass die Vermüllung der
Meere aktuell eine der größten Herausforderungen für
die Meeresökosysteme ist.
Deutschland hat als Anlieger an zwei europäischen
Meeren - an Nord- und Ostsee - eine ganz besondere
Beziehung zum Meeres- und Meeresnaturschutz. Wir
wirken bereits in regionalen Kooperationen mit, um die
Qualität der biologischen Vielfalt und der Meeresökosysteme von Nord- und Ostsee zu verbessern. Auch das
Wattenmeer als Weltnaturerbe ist ein Vorzeigebeispiel,
wie es gelingen kann, Nutzungen und Umweltschutz zusammenzubringen.
Mit dem Inkrafttreten der europäischen Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie verfügen wir jetzt über ein umfassendes Regelwerk für eine einheitliche europäische
Meeresschutzpolitik. Alle Belastungen und Nutzungen
der Meere sollen hier integriert betrachtet werden. Die
Bundesregierung ist entschlossen, diese Richtlinie konsequent umzusetzen und den guten Umweltzustand in
den deutschen Meeresgebieten zu erreichen bzw. Verbesserungen herbeizuführen.
Dabei kommt es entscheidend darauf an, alle meeresbezogenen EU-Richtlinien - dies sind, wie schon mehrfach angesprochen, neben der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie insbesondere die Wasserrahmenrichtlinie, die
Nitratrichtlinie, also nicht nur die Düngeverordnung, sowie die FFH- und die Vogelschutzrichtlinien - intelligent
zu verknüpfen und in koordinierter Form umzusetzen.
Hier brauchen wir die Synergien und auch die Kohärenz.
Ein guter ökologischer Zustand der Binnengewässer
wirkt sich auch auf das Meer aus. Es geht also nicht nur
um den Müll, der vom Schiff aus in die Meere verklappt
wird. Vielmehr geht es auch um die Binnengewässer.
Das bedeutet, dass wir für unsere Maßnahmen Verständnis auch bei denjenigen einwerben müssen, die keine
Küsten haben, also bei den Binnenländern. Zurzeit befinden sich unsere Maßnahmenvorschläge ja in der Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir hoffen auf eine rege Beteiligung. Die Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen,
sind an der Anhörung beteiligt. Alle diskutieren hier
noch einmal intensiv mit, und ich wäre natürlich dankbar, wenn Sie uns bei bestimmten Zielkonflikten in einigen Ressorts Rückenwind geben würden.
({0})
Beim Meeresnaturschutz wollen wir so schnell wie
möglich zu einer Regelung der Fischerei in den deutschen Natura-2000-Gebieten in der AWZ von Nord- und
Ostsee kommen. Für die Nordsee haben sich das Umweltministerium und das Landwirtschaftsministerium
vor kurzem auf Regelungen für den Einsatz von Grundschleppnetzen und Stellnetzen in den Schutzgebieten geeinigt. Ich glaube, das ist nach der langen Zeit, in der
man sich nicht einigen konnte, tatsächlich ein Erfolg.
Diesen Vorschlag müssen wir nun mit den betroffenen
Nachbarstaaten abstimmen, wie es im EU-Recht vorgesehen ist.
Darüber hinaus betreibt das BMUB als federführendes Ministerium gegenwärtig mit Nachdruck das Verfahren zur Ausweisung der Natura-2000-Gebiete in der
AWZ als Naturschutzgebiete. Wir treten mit einem ambitionierten Ansatz an. Über die europäischen Schutzgüter der Natura-2000-Richtlinie hinaus soll eine Reihe
weiterer gefährdeter Arten in einen der FFH-Richtlinie
vergleichbaren Schutz überführt werden. Auch da wollen wir mit unserem ambitionierten Vorgehen dazu beitragen, die Artenvielfalt zu bewahren und zu schützen.
Auch den gebietsbezogenen Anforderungen der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie wollen wir damit gerecht
werden. Wir hoffen, innerhalb der Bundesregierung
rasch zu einer abgestimmten Position zu gelangen und
dann mit der Anhörung zügig voranzukommen.
Lassen Sie mich einen ganz anderen und sehr aktuellen Aspekt aufgreifen, nämlich die Vermüllung der
Meere; das wurde schon mehrfach genannt. Der Eintrag
von Plastikmüll hat Auswirkungen auf die Nahrungskette und schlussendlich natürlich auf den Menschen.
Für das Mittelmeer sowie für den Nordostatlantik gibt es
bereits regionale Aktionspläne. Im Rahmen von OSPAR
sind wir einen Schritt weitergekommen. Die Pläne bilden eine belastbare Grundlage für unser weiteres Vorgehen. Auch für die Ostseeregion wird vermutlich Mitte
dieses Jahres ein entsprechender Plan folgen. Deutschland hat hier eine aktive Rolle eingenommen. Man kann
sagen, dass wir de facto fachlich die Führung übernommen haben.
Die Dimension dieses die Meeresökosysteme weltweit intensiv bedrohenden Verschmutzungsszenarios
und der Wille, in enger Abstimmung mit den anderen Industriestaaten der G 7-Gruppe dieses Momentum zu nutzen, werden nicht nur auf dem Gipfeltreffen aufgegriffen, sondern bilden den Ausgangspunkt dafür, dieses
Thema verstärkt ins Bewusstsein zu rücken und anzugehen. Deshalb sind der Schutz der Meere und Maßnah9946
men gegen die Vermüllung auf der Agenda der deutschen G 7-Präsidentschaft so prominent gesetzt.
Aber es gibt dieses Jahr noch andere Termine, nämlich der UN-Gipfel zu den Post-2015-Zielen in New
York und die Klimakonferenz in Paris. Auch das hat mit
Meeresschutz zu tun, und zwar mit dem Ausstoß des
Treibhausgases CO2. Auch hier werden Schwerpunkte
gesetzt, die für die Agenda der G 7 eine Rolle spielen.
Außerdem wollen wir im Kreis der G 7 das Thema
Ressourcenschutz aufgreifen, weil die Ressourcen - Sie
haben es angesprochen -, die in oder unter dem Meer lagern, zu einem Spannungsfeld zwischen Ökonomie und
Ökologie führen. Natürlich müssen wir auch sehen: Welche Erkenntnisse haben wir bis jetzt? Wie gehen wir in
Zukunft damit um, um dieses besondere Ökosystem zu
schützen?
Dass das tatsächlich funktioniert, beweist die Einigung im Rahmen der Pledging-Konferenz in London zur
Fertigstellung einer Schutzhülle für den TschernobylReaktor. Dort konnten wir die Finanzierungslücke
schließen. Es wird also nicht nur geredet, sondern es
wird schon im Vorfeld gearbeitet und das Thema beim
Gipfel selber tatsächlich prominent besetzt.
({1})
Das war ein kleiner Exkurs, um aufzuzeigen, dass die
Bundesregierung handelt.
Ich hätte noch zu so vielen wichtigen Punkten - ich
sehe schon die Lampe leuchten - etwas zu sagen,
({2})
aber ich will es doch bei der Feststellung belassen, dass
wir es für wichtig halten, bezüglich des internationalen
Tiefseebodenbergbaus zu einem global gültigen Kodex
zu kommen. Wir als Bundesregierung werden uns vehement dafür einsetzen, dass wir die Meeresökosysteme
und die biologische Vielfalt besser schützen. Das geht
aber tatsächlich nur global. An dieser Stelle gibt es noch
viele Schwierigkeiten zu überwinden.
Wir brauchen, wie gesagt, eine globale Lösung. Insofern unterstützen wir das Übereinkommen über die
biologische Vielfalt, CBD, zur Identifizierung von ökologisch und biologisch bedeutsamen Meeresschutzgebieten, den EBSAs, und wollen dieses weiter voranbringen.
Ich freue mich auf die gemeinsame Anhörung am
20. Mai 2015, bei der wir dieses Thema, gerade weil der
Tag des Meeres noch nicht im Bewusstsein aller Menschen angekommen ist, prominent besetzen wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Thomas
Gebhart, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In unseren Meeren schwimmen mehr als
100 Millionen Tonnen Müll. Jahr für Jahr kommen alleine 13 Millionen Tonnen an Kunststoffabfällen dazu.
Im Nordpazifik treibt ein Müllteppich, der so groß ist
wie Deutschland und Frankreich zusammen. Wir können
und dürfen es nicht zulassen, dass unsere Meere zu einer
gigantischen Mülldeponie werden und verkommen. Es
ist unsere Aufgabe, die Meere zu schützen. Das ist auch
für uns Christdemokraten ein Kernanliegen. Es geht um
elementare Lebensgrundlagen, die wir schützen wollen,
die wir bewahren wollen, auch für nachfolgende Generationen.
({0})
Die Meere zu schützen, ist eine Aufgabe, die nicht ein
Land allein, sondern nur alle Länder zusammen erreichen
können. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Deswegen gehört dieses Thema auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Genau dafür hat unsere Bundesregierung
gesorgt. Meeresschutz ist ein Schwerpunktthema der
G 7-Präsidentschaft. Es soll einen Aktionsplan gegen
Meeresvermüllung geben. Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich in all ihren Anstrengungen, und
wir wünschen unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel
viel Erfolg dabei.
({1})
Meine Damen und Herren, was ist zu tun? Zunächst
einmal müssen alle ihren Beitrag in der Art und Weise
leisten, dass es funktionierende Abfallwirtschaftssysteme gibt. Deutschland gilt in diesem Bereich international als Vorreiter. Wir haben in der Tat eine funktionierende Abfall- und Kreislaufwirtschaft, eine moderne
Kreislaufwirtschaft. Aber auch wir wissen: Wir haben
noch Potenziale. Wir können besser werden. Deswegen
wollen wir uns weiterentwickeln. Wir wollen, dass in
Zukunft noch mehr als heute gilt: Wir machen aus Abfällen wertvolle Rohstoffe. Wir wollen und wir werden
die Kreisläufe in Zukunft noch besser schließen, als wir
das heute tun.
({2})
Wir setzen dabei vor allem auf ein Prinzip, das wir
stärken wollen, nämlich das Prinzip der Produktverantwortung. Was heißt Produktverantwortung? Es war
Klaus Töpfer, der damals die Verpackungsverordnung
eingeführt hat, in der festgelegt ist, dass jeder, der in
Deutschland eine Verpackung an den Markt bringt, dazu
verpflichtet ist, diese hinterher zurückzunehmen und
nach bestimmten Quoten wiederzuverwerten.
Unternehmen übernehmen Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Sie übernehmen
auch nach der Nutzungsphase einer Verpackung bzw.
eines Produkts Verantwortung. Es entstehen Anreize,
Produkte von Anfang an so zu gestalten, dass Abfälle
möglichst vermieden werden oder dass sie einfach und
günstig zu recyceln sind. Es entstehen Anreize zur Innovation. Es ist ein zutiefst marktwirtschaftliches Prinzip,
weil nämlich die Entsorgungskosten Teil des Preises
werden und damit Teil des Wettbewerbs. Dieses Prinzip
wollen wir ausdehnen, auch über Verpackungen hinaus,
auf Erzeugnisse aus Kunststoffen und Metallen. Ich begrüße in diesem Zusammenhang, dass die Grünen in ihrem Antrag diesen Punkt der Union übernommen haben.
Im Zusammenhang mit der Meeresverschmutzung
wird viel über die sogenannten Mikrokunststoffe gesprochen. Worum geht es? Es sind feste, kleine Kunststoffpartikel, und es ist uns allen klar: Kunststoffe gehören
nicht in das Meer. Wir müssen aber auch feststellen: Es
gibt erheblichen Forschungsbedarf. Deswegen ist es gut,
dass einige Aktivitäten laufen, und es ist wichtig, dass
jetzt unsere Bundesforschungsministerin Johanna
Wanka ein europaweites Forschungsprojekt initiiert hat.
Es geht darum, mehr Daten zu gewinnen, mehr über die
Wirkungsweisen zu erfahren. Das ist der richtige Weg;
denn zur Wahrheit gehört: Es gibt Wissenslücken, es gibt
Forschungsbedarf, und es ist nicht so, wie die Grünen
und die Linken manchmal den Anschein erwecken, als
wüssten wir bereits alles.
({3})
Woher kommen diese Mikrokunststoffe? Es gibt im
Grunde zwei Quellen. Die erste Quelle - das ist der weitaus größere Teil - sind Abfälle, die unsachgemäß entsorgt werden und dann über Umwege im Meer landen.
Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, braucht
es funktionierende Abfallwirtschaftssysteme in allen
Ländern; darüber haben wir gesprochen. Der weitaus
kleinere Teil sind kleine Kunststoffpartikel als Bestandteil von Produkten, zum Beispiel in Reinigungspasten, in
der Kosmetik und vielen anderen Bereichen, die über
das Abwasser indirekt in das Meer gelangen.
Hier ist das Ministerium aktiv geworden. Das haben
wir auch gefordert. Hier sind Gespräche mit der Kosmetikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus der Verwendung im Gange. Ich möchte an dieser Stelle diese
Forderung mit Nachdruck unterstreichen.
({4})
Die Verschmutzung der Meere wird oft vor allem und
zuerst mit Kunststofftüten in Verbindung gebracht. Zwar
ist der Anteil am Kunststoffverbrauch weniger als 1 Prozent, aber - das muss man ehrlich und offen dazu sagen das ist zum Teil ein Symbolthema geworden. Allerdings
nicht nur das; denn immerhin wurden 2010 in der Europäischen Union 8 Milliarden Tüten weggeworfen. Wenn
wir die Situation betrachten und uns fragen, wie der Verbrauch an Kunststofftüten in der Europäischen Union ist,
dann ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. Im Durchschnitt verbrauchen die EU-Bürger 198 Tüten pro Kopf
und Jahr, einige Länder liegen deutlich darüber, andere
Länder liegen deutlich darunter, auch Deutschland. Bei
uns sind es 71 Tüten pro Kopf und Jahr. Es kommt bei
uns hinzu, dass wir ein funktionierendes Abfallwirtschaftssystem haben, das dazu führt, dass diese Tüten
am Ende ihres Lebenszyklus flächendeckend erfasst und
ordnungsgemäß entsorgt werden, zumindest in der Regel.
({5})
Das Europäische Parlament hat jetzt beschlossen, den
Verbrauch der Tüten in zwei Schritten zu reduzieren.
Wir begrüßen diesen Schritt ausdrücklich. Die Mitgliedstaaten sind jetzt aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen.
Auch Deutschland muss Maßnahmen ergreifen. Es ist
die Frage: Was werden wir tun?
Ich empfehle, dass wir einen Blick auf den Lebensmitteleinzelhandel werfen. Dort gilt: Die Tüten werden
nicht kostenlos an die Verbraucherinnen und Verbraucher abgegeben. Das hat funktioniert, das hat gewirkt,
der Verbrauch der Tüten ging zurück. Wir sind der Auffassung, dass das, was im Lebensmitteleinzelhandel gilt,
im gesamten Handel gelten sollte, nämlich dass die Tüten nicht mehr kostenlos abgegeben werden.
({6})
Ich fordere an dieser Stelle das Ministerium auf, tätig zu
werden und Gespräche mit dem Handel darüber zu führen.
Wir haben viel vor uns. Es gilt, die Meere zu schützen. Insbesondere auf internationaler Ebene ist dies eine
riesige Herausforderung. Aber eines ist klar: Die Grünen
und die Linken, deren Anträge uns heute vorliegen, machen es sich zu einfach und übersehen das viele Positive
in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Darauf darf jetzt die Kollegin Steffi
Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, antworten.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Merkel hat 2011 vor der CDU/CSUFraktion gesagt, wir sollten die Meere in unsere Herzen
schließen. Nach den Reden der CDU-Kollegen habe ich
kurz überlegt, ob das eine Drohung gewesen ist. Sie haben zwar erwähnt, dass wir Regelungen haben - es gibt
längst Aktionspläne, wir haben Gesetze und die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU -; die Bundesregierung wird aber gerade von der EU und von den deutschen Umweltverbänden verklagt, weil sie diese
Gesetze, weil sie diese Richtlinie nicht umsetzt. Und
dann stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir haben doch
die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, wir haben Aktionspläne; die Anträge der Opposition sind überflüssig. Was Sie hier gemacht haben, ist hanebüchen.
({0})
Natürlich haben wir unsere Anträge aufgesetzt, weil
Frau Merkel angekündigt hat, einen Aktionsplan auf
dem G 7-Gipfel zu thematisieren. Was denken Sie denn?
Es ist die Aufgabe der Opposition, solche Dinge hier ins
Parlament hineinzutragen. Sie können das entweder als
Rückenwind für Ihre richtigen Anliegen interpretieren,
oder Sie können es auch so interpretieren, dass wir Ihnen
an den Stellen, wo Sie nicht weit genug gehen und wo
Sie die Probleme ignorieren, einfach ein bisschen mehr
als Rückenwind geben wollen: den Finger auf die
Wunde legen und Ihnen nicht durchgehen lassen, dass
Sie die gravierenden Probleme, die wir beim Meeresschutz haben, auf einen Aktionsplan und ein Forschungsprogramm zum Mülleinsammeln reduzieren
wollen.
({1})
Ein fundamentaler Standpunkt- und Perspektivenwechsel ist notwendig. Das hat nicht die Parteizentrale
der Grünen gesagt, sondern das sagt Ihnen Ihr eigener
Beirat, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen in seinem Gutachten zum Meeresschutz. Er fordert ein, das „Menschheitserbe Meer“ zu definieren und die Meere als globales
Kollektivgut zu definieren. Die Meere und die Bodenschätze darin gehören nicht BASF, Wintershall oder einem anderen Unternehmen, das in die Tiefseeförderung
eintreten will, sondern der Menschheit. Das fordert Ihr
eigener Beirat für Umweltfragen: dass Sie sich darum
kümmern sollen, dass Sie sich um Global Governance
kümmern sollen. Das ist ein Thema, das auf den G 7Gipfel gehört.
({2})
Der Kollege hat es gesagt: Wie kriegt Frau Merkel die
USA dazu, UNCLOS beizutreten, damit wir nicht in
Klein-Klein-Maßnahmen rumdoktern müssen, sondern
tatsächlich den entscheidenden Schritt vorankommen,
indem wir das Vorsorgeprinzip verankern, die Stoffeinträge maximal reduzieren, endlich Schutzzonen einrichten und dort auch Schleppnetze und Grundfischerei verbieten, die Überfischung beenden.
Auf das Problem mit Flüchtlingsströmen, mit Hungerkrisen, mit Kriegen ist hingewiesen worden. Europäische Fischtrawler haben einen Anteil an diesen Problemen - und Sie wollen einen Aktionsplan zum
Mülleinsammeln auf dem G 7-Gipfel thematisieren. Das
ist hanebüchen!
({3})
Wenn Sie mehr vorhaben als das - ich habe versucht,
auf Webseiten der Bundesregierung herauszufinden, was
mit dem Aktionsplan konkret gemeint ist; es ist ja möglich, dass Sie das erst in zwei Wochen in Elmau tatsächlich verkünden wollen -, wenn Sie es ernst meinen, werden Sie unsere Unterstützung dafür bekommen. Aber
wenn Herr Gabriel in dieser Woche höchstselbst anreist,
um die Lizenzvergabe für die Tiefseeforschung im Indischen Ozean zu unterschreiben, dann kann ich Ihre Bekenntnisse zum Meeresschutz nicht wirklich ernst nehmen. Das müssen Sie doch thematisieren!
({4})
Um einmal auf das Müllproblem und die Plaste einzugehen: Im Internetauftritt der Bundesregierung, Frau
Wanka, kann ich lesen - ich darf kurz zitieren, Frau Präsidentin -:
Jeder sollte wissen, dass Mikroplastik in Zahnpasta
und Kosmetika enthalten ist. Nur durch bewusstes
Kaufverhalten können Konsumenten die Industrie
dazu bewegen, auf derartig umweltschädliche Zusätze zu verzichten. Es gilt also, beim Konsum das
Meer mit zu bedenken.
Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Bankrotterklärung der Politik.
({5})
Sie sagen: Die Konsumenten müssen dafür sorgen,
dass das Gift aus den Meeren herauskommt. - Frau
Staatssekretärin, nehmen Sie die Besucher, die hier oben
auf der Tribüne sitzen, gehen Sie in den nächstgelegenen
Drogeriemarkt, und zeigen Sie ihnen, wie man als Konsument feststellen soll, in welcher Zahnpasta und in welchem Duschgel Mikroplaste enthalten ist.
({6})
Sie haben nicht einmal eine Kennzeichnungspflicht dafür eingeführt. Das hat Ihnen der BUND abgenommen.
({7})
Frau Kollegin Lemke, darf ich auch Sie an die Zeit erinnern?
Ich komme zum Schluss. - Ich begrüße ausdrücklich,
Herr Gebhart, dass Sie den Kollegen Töpfer und den
Rhein angesprochen haben. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie sich als Bundesregierung ein Beispiel an dem
Kollegen Töpfer! Der trägt Mitverantwortung dafür,
dass bei einem ähnlich gravierenden Problem, dem
Ozonloch, ein FCKW-Verbot durchgesetzt wurde. Das
war entschiedenes und fundamentales Handeln. Davon
ist bei Ihnen nichts zu sehen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Frank Schwabe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
71 Prozent der Weltfläche sind durch Meere bedeckt. Es
ist schon mehrfach gesagt worden: Wir wissen kaum etwas darüber. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum
wir uns relativ wenig, wenn wir das einmal in Relation
zur Gesamtfläche setzen, mit den Meeren beschäftigen.
Deswegen ist es richtig und gut, dass wir uns heute
mit den Meeren beschäftigen. Deswegen ist es gut, dass
die Opposition mit Leidenschaft, die in der Debatte auch
wichtig ist, hier vorträgt. Natürlich muss die Opposition
immer mehr fordern als das, was schon geschieht. Trotzdem kann ich, glaube ich, für alle feststellen: Es gibt
wirklich einen Fortschritt. Es ist gut, dass der Meeresschutz Thema auf dem G 7-Gipfel in diesem Jahr ist.
Das ist ein Fortschritt. Natürlich muss aus der Beschäftigung mit dem Thema am Ende dann auch konkretes
Handeln erwachsen.
({0})
Wir wissen also kaum etwas über die Meere; aber wir
nehmen massiv Einfluss auf sie. Frau Lemke hat dankenswerterweise schon auf den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
hingewiesen. Er hat gerade ein Gutachten herausgegeben, das sehr lesenswert ist und dazu anregt, sich mit
dem Thema weiter zu beschäftigen, konkret: mit den
Auswirkungen des Klimawandels, mit der Landwirtschaft, mit den Abwässern, die eingeleitet werden, mit
der Überfischung.
Toni Hofreiter hat am Anfang das Richtige gesagt: Es
ist natürlich vollkommen absurd, dass wir Fischtrawler,
Schiffe aus der Europäischen Union vor die afrikanischen Küsten bringen, dass wir das massiv finanziell unterstützen, dass wir den Menschen die Fischgründe leerfischen. Am Ende kommen die Menschen von dort als
Flüchtlinge nach Europa. Das muss dringend aufhören.
Das ist eine falsche europäische Politik.
Über das Thema Plastikeinträge wird der Kollege
Michael Thews gleich noch etwas sagen.
Es ist hochgradig spannend - damit haben wir uns
viel zu wenig beschäftigt -, dass es mittlerweile ganz
viel Fantasie beim Abbau und bei der Gewinnung von
Rohstoffen in den Meeren, insbesondere in der Tiefsee,
gibt; darauf hat der Kollege Zdebel hingewiesen. Ich
habe darüber in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Wer
sich den Artikel noch besorgen kann, sollte das tun. Es
ist hochgradig interessant, einmal zu sehen, welche Planungen es da gibt. Alles das, was dort diskutiert wird,
hört sich ein bisschen an wie Science-Fiction, ist es aber
nicht. Das wird garantiert kommen. Es gibt heute jedenfalls keine vernünftigen Regeln, die dazu führen, dass
das Ganze umwelt- und entwicklungspolitisch nachhaltig geschehen kann. Diese Regeln braucht es ganz dringend.
({1})
Deswegen ist es gut - ich sage es noch einmal -, dass
das Thema beim G 7-Gipfel ansteht. Zumindest ein Verhaltenskodex und internationale Standards für den Rohstoffabbau in den Meeren sind vorgesehen.
Wir müssen überall handeln; aber wir können vor allen Dingen da relativ einfach handeln, wo es noch keine
wirtschaftlichen Tätigkeiten gibt, wo Unternehmen noch
nicht unterwegs sind, und das ist beim Rohstoffabbau in
der Tiefsee der Fall. Aber auch um die Frage des Schutzes der Arktis geht es. Greenpeace hat da vollkommen
recht und hat wichtige Denkanstöße gegeben. Wir können von der Antarktis lernen. Wir brauchen Schutzgebiete in der Arktis. Es ist gut, dass das im Koalitionsvertrag steht. Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin das in
einer Rede im letzten Jahr noch einmal untermauert hat.
Es wäre aber auch gut, wenn wir auch da konsequenter handelten, wo es schon wirtschaftliche Tätigkeiten
gibt und wo wir die negativen Folgen sehen. Vor ein paar
Tagen war der fünfte Jahrestag der „Deepwater Horizon“-Katastrophe. Ich weiß nicht, ob man das noch so
richtig präsent hat. Ich muss auch nachdenken: Was war
damals? Da war Herr Röttgen Umweltminister, und wir
haben uns überschlagen mit Forderungen nach Förderstopps und was weiß ich. So ganz viel ist, ehrlich gesagt,
nicht passiert. Mittlerweile gibt es im Golf von Mexiko
mehr Ölplattformen als damals, und ich fürchte, dass das
alles nicht viel sicherer geworden ist. Auch da müssen
wir viel konsequenter werden.
({2})
Das gilt aber auch für den europäischen und - das will
ich ausdrücklich sagen - den deutschen Zusammenhang.
Der Zustand der Nord- und Ostsee ist erbarmungswürdiger, als man das auf den ersten Blick sehen kann. Deswegen ist es richtig, dass es die EU-MeeresstrategieRahmenrichtlinie - ein schwieriges Wort - gibt; sie ist
schon angesprochen worden. Wir brauchen einen guten
Umweltzustand - so steht es da - bis zum Jahr 2020.
Deswegen brauchen wir noch in diesem Jahr ein nationales Maßnahmenprogramm.
Die Öffentlichkeitsbeteiligung dazu hat begonnen.
Das Umweltministerium ist federführend. Allerdings gehen wir davon aus - das will ich vielleicht für das ganze
Haus sagen -, dass sich alle Ministerien, dass sich das
gesamte Bundeskabinett konstruktiv an der Erarbeitung
der Vorschläge beteiligt.
Das gilt im Übrigen auch für die Frage der Fischereibeschränkung in den Natura-2000-Gebieten. Es ist gut,
dass die Bundesrepublik Deutschland relativ schnell solche Gebiete ausgewiesen hat. Es ist aber nicht gut, dass
wir weiterhin nicht sagen, wie dieser Schutz ganz konkret aussehen soll. Auch da haben das Umweltministerium und das zuständige Bundesamt für Naturschutz die
volle Unterstützung, jedenfalls von uns und am Ende des
Prozesses - davon gehen wir aus - von der gesamten
Bundesregierung.
Insofern sage ich noch einmal: Es ist gut, dass
Schwung in die Debatte über den Meeresschutz gekommen ist. Es muss aber auch zu konkreten Taten kommen.
Die heutige Debatte ist dabei zumindest ein kleiner Baustein.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Klaus-Peter
Schulze, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Weltmeere verfügen über eine große Artenvielfalt, die auch heute noch weitgehend unbekannt
ist. Wenngleich drei Viertel der Erdoberfläche von Ozeanen bedeckt sind, sind sechsmal mehr Landlebewesen
als Meeresorganismen bekannt. Die biologische Vielfalt
im Meer hat seit Beginn der Industrialisierung stark abgenommen, und dieser Prozess schreitet weiter voran.
Durch das Verschwinden von Arten verringert sich die
stabilisierende Wirkung ehemals vielfältiger Lebensgemeinschaften. Dadurch werden ganze Lebensräume gefährdet.
Dies wissend, hat der Meeresumweltschutz eine
große Bedeutung in der deutschen Politik. Das beweist
ganz aktuell der Umstand, dass dieses Thema ein
Schwerpunkt der G 7-Präsidentschaft ist. Aber auch generell ist Deutschland in Europa bei der Ausweisung von
Schutzgebieten bereits heute führend.
({0})
So stehen 70 Prozent der Küstengewässer und rund
31,5 Prozent der Ausschließlichen Wirtschaftszone unter
Schutz. Damit sind 47 Prozent der deutschen Meeresfläche als Schutzgebiete ausgewiesen und bieten somit eine
wichtige Grundlage für weitere Bemühungen. In der
AWZ befinden sich zehn ausgewiesene Natura-2000Gebiete, für die allerdings aus verschiedenen Gründen
bis heute keine Schutzmaßnahmen eingeführt wurden.
Insbesondere um Fischerei mit Grundschlepp- und
Stellnetzen in diesen Bereichen zu unterbinden, ist seit
Anfang dieses Jahres eine Verbändeklage gegen
Deutschland anhängig. Ich habe vernommen, Frau
Staatssekretärin, dass es jetzt bei diesem Thema eine Einigung innerhalb der Bundesregierung gibt. Ich wünsche
mir, dass man künftig zwischen den Ministerien zu
Stuhle kommt, ehe es zu einer Klage kommt und man
sozusagen gezwungen wird, schneller zu handeln.
Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD haben
wir uns darauf verständigt, ein Fischereimanagement zu
verankern, um die Schutzziele zu erreichen. Die Schutzziele sind allerdings mit den betroffenen Mitgliedstaaten
abzustimmen, bevor sie von der EU-Kommission erlassen werden können. Auch wenn hier dringend nachgebessert werden muss und auch wird, muss sich Deutschland mit seiner nationalen Strategie, die auf einem
Ökosystemansatz aufbaut, nicht verstecken. Wir wollen
Natur- und Umweltschutz und maritime Wirtschaft in
ein Gleichgewicht bringen. Voraussetzung ist eine erfolgreiche Integration verschiedener Parameter, um zu
einer einheitlichen Vorgehensweise zu kommen.
Die vorliegenden Anträge, die wir heute beraten, greifen leider einem für den 20. Mai 2015 geplanten öffentlichen Fachgespräch des Umweltausschusses zum Thema
EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie vor, dessen Ergebnisse ich gerne abgewartet hätte. Man hätte auch jenen Tagesordnungspunkt, den wir für die Sitzung am
20. Mai vorgesehen hatten, schon in eine frühere Sitzung
des Umweltausschusses einbauen können.
Die Richtlinie wurde 2008 verabschiedet, und sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum Jahr 2020 einen
guten Umweltzustand der europäischen Meere zu erreichen bzw. zu erhalten. Das erfordert insbesondere den
Erhalt der biologischen Vielfalt, die Reduzierung der
Überdüngung und der Abfallmengen im Meer. Eine
Erstbewertung der aktuellen Zustände in Nord- und Ostsee brachte im Jahr 2012 alarmierende Ergebnisse:
Unseren Meeren geht es schlecht; vor allem Fischerei,
Schad- und Nährstoffeinträge, Unterwasserlärm und
massive Eingriffe durch den Bau von Offshorewindkraftanlagen gefährden das sensible Ökosystem.
Um die 2020-Ziele der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie zu erreichen, sollen in diesem Jahr die nationalen
Maßnahmenprogramme auf den Weg gebracht werden, zu
denen derzeit eine schriftliche Anhörung stattfindet. Kollege Schwabe hat es bereits gesagt: Wir werden die Behörden unterstützen, damit dieser Prozess zeitnah abgeschlossen werden kann.
Zum Thema „Erhalt der biologischen Vielfalt in den
Meeren“ möchte ich noch auf die internationalen Bemühungen Deutschlands verweisen, das jedes Jahr 500 Millionen Euro für weltweite Biodiversitätsprogramme bereitstellt. Ganz besonders hat es mich gefreut, dass bei
der letzten CBD-Vertragsstaatenkonferenz in Korea über
150 ökologisch und biologisch bedeutsame Meeresgebiete anerkannt wurden.
Abschließend komme ich auf den Meeresschutz im
Zusammenhang mit der Energiepolitik zu sprechen. Der
Ausbau von Offshorewindparks soll einen wesentlichen
Beitrag zur Energiewende leisten. Diese gewaltigen Anlagen bedeuten jedoch auch massive Eingriffe in das
Ökosystem Meer, deren Folgen, zum Beispiel für die
Schweinswale durch den Schalldruck beim Einrammen
der Gründungspfähle in den Meeresboden, bei weitem
noch nicht ausreichend erforscht wurden.
Wenn hier heute ein Moratorium für den Tiefseebergbau aus durchaus nachvollziehbaren Gründen - nämlich
bisher unzureichend erforschte Folgewirkungen solcher
Maßnahmen - gefordert wird, dann müsste man konsequenterweise auch ein Moratorium für den Bau von Offshorewindkraftanlagen einfordern. In jedem Fall müssen
wir hier die Forschungsanstrengungen verstärken, um
unangenehme Überraschungen, wie wir sie durch die
Vermaisung der Landschaft im Zuge des massiven Zubaus von Biogasanlagen erlebt haben, zu vermeiden.
Denn bereits heute sind in den deutschen Meeresbereichen sechs Offshorewindparks mit 225 Turbinen in Betrieb; weitere acht Projekte mit 600 Anlagen befinden
sich im Bau. Darüber hinaus wurden bereits 25 Windparks genehmigt, und zurzeit sind noch weitere 90 beantragt.
In keinem Fall darf sich so etwas wie das Projekt
„Butendiek“ in der Nähe von Sylt wiederholen, wo die
Genehmigung für den Bau eines großen Windparks inmitten eines Vogelschutzgebietes erteilt wurde, wodurch
nicht nur der Lebensraum für Seetaucher, sondern auch
für andere Meeressäuger beeinträchtigt wird. Aber vielleicht können wir die Offshorewindparks auch im Sinne
des Meeresschutzes nutzen. Als ich vor kurzem das Bundesamt für Naturschutz am Standort Vilm besucht habe,
war dieses Thema im Zusammenhang mit Offshoreanlagen, die immerhin jeweils etwa 80 Quadratkilometer
Meeresfläche umfassen können, angesprochen worden.
Aufgrund des Befahrungsverbots in den Windparkgebieten in Ost- und Nordsee ist dort keine weitere Nutzung erlaubt. Daher kam von den Fachleuten der Vorschlag, diese Gebiete als - das betone ich, Frau Lemke zusätzliches Potenzial für die Stabilisierung von Flora
und Fauna im Benthos, also im Meeresboden, zu nutzen.
Es wären keine Konflikte zu erwarten, wenn keine
Mehrfachnutzungen zugelassen werden würden.
Für den Bau der Offshorewindkraftanlagen müssen
im Übrigen für eine Übergangszeit bis 2017 keine Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen erbracht werden. Allerdings gilt diese Regelung für die Unternehmen, die die
Anschlusskabel verlegen, nicht. Deren Ausgleichs- und
Ersatzmaßnahmen sollten vorrangig im marinen Bereich
erbracht werden. Wir sollten die konkreten Expertenvorschläge und auch andere Vorschläge aufgreifen und im
weiteren parlamentarischen Verfahren ausführlich beraten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Thews, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum ersten Mal
werden Fragen des Meeresumweltschutzes von den großen Wirtschaftsnationen auf dem G7-Gipfel behandelt.
Die G7-Nationen wollen einen Aktionsplan gegen Meeresmüll beschließen, der weltweit Maßnahmen zur Reduzierung von Meeresmüll initiiert und dabei bereits
vorhandene regionale Aktionspläne einbezieht - ein
Schritt, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen
ist, ein Schritt, der angesichts der Bedeutung der Meere
für unsere Ernährung, für unsere Umwelt notwendig ist.
({0})
Es gibt selbstverständlich - das wurde heute schon
angesprochen - auch andere Aspekte des Meeresumweltschutzes. Die vorliegenden Anträge listen sie auf.
Aber es liegt auf der Hand, so meine ich jedenfalls, dass
der Kampf gegen die Meeresvermüllung ein äußerst
wichtiger Aspekt ist. Es gibt unterschiedliche Schätzungen zu den Abfallmengen in den Meeren. Sie reichen
von 100 Millionen bis zu 270 Millionen Tonnen. Davon
bestehen etwa drei Viertel aus Kunststoffen, und gerade
bei den Kunststoffen ist die Entwicklung besonders dramatisch.
Auf der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung
im Jahr 2012 wurde bestätigt, dass Kunststoffe weltweit
die Hauptquelle für die Meeresverschmutzung sind.
Nach Aussage des Umweltschutzprogramms der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2005 kommen auf einen Quadratkilometer Meeresoberfläche über 13 000 Plastikteile,
und diese Zahl steigt stetig. Kunststoff braucht nach Expertenschätzung circa 500 Jahre, um sich im Meerwasser
endgültig abzubauen. Bevor sich der Plastikmüll abbaut,
wird er durch UV-Strahlung und Wellenbewegung in
Mikropartikel zersetzt, teilweise von Fischen mit Nahrung verwechselt und landet so auf unserem Teller.
Der nicht abgebaute Plastikmüll findet sich in allen
Weltmeeren. Besonders viel Müll sammelt sich in den
Strömungswirbeln der Ozeane. Im Pazifik befindet sich
ein Meereswirbel, der circa 3 Millionen Tonnen Plastikmüll auf einer Wasseroberfläche von der Größe Mitteleuropas enthält. Bis zu 13 Millionen Tonnen Kunststoffabfall landen nach Schätzungen der Wissenschaftler
jährlich im Meer. Dieser Müll kommt durch illegale
Müllentsorgung an den Küsten und den Ufern von Flüssen, durch die Berufsschifffahrt und den Tourismus ins
Meer, oder er wird durch den Wind von Deponien verweht. Er macht jedenfalls nicht an unseren Grenzen halt.
Deshalb müssen wir auf internationaler Ebene dringend
etwas unternehmen.
({1})
Die Vermüllung ist ein ernstzunehmendes globales
Problem, dessen Folgen für die Umwelt wir heute nicht
vollständig abschätzen können. Deshalb ist die Initiative
der Bundesregierung sehr zu begrüßen, aber auch dringend notwendig.
({2})
Müllvermeidung, Müllrecycling, die fachgerechte Verwertung oder Entsorgung von Müll, das sind die Ziele,
die wir in Deutschland haben. Aber diese Ziele müssen
wir eben auch international verfolgen, um der Meeresvermüllung vorzubeugen.
({3})
Deutschland - das hat der Kollege Gebhart vorhin
schon gesagt - ist zwar Vorreiter bei der Verwertung und
beim Recycling - der in Deutschland anfallende Kunststoffmüll wird nahezu vollständig entweder stofflich
oder energetisch verwertet -; trotzdem lässt sich auch
bei uns nicht nur hinsichtlich der Recyclingquoten, sondern auch bei der Abfallvermeidung natürlich noch einiges verbessern. Angesprochen wurde insbesondere die
Produktverantwortung. Aber auch die Produktverantwortung muss sich weiterentwickeln, um wirklich ein
wirkungsvolles Regelungselement zu sein, das Recy9952
cling oder eben auch Vermeidung fördert. Das haben
wir, meine ich jedenfalls, noch nicht erreicht.
({4})
Wir müssen deshalb dringend Regelungen für eine recyclingfreundlichere und ressourcenschonendere Herstellung von Produkten treffen und hier die Hersteller
mit in die Verantwortung nehmen. Ich hoffe sehr, dass
das neue Kreislaufwirtschaftspaket, das die EU-Kommission im Laufe des Jahres vorlegen will, mindestens
so ambitioniert sein wird wie das Paket der vorherigen
EU-Kommission. Gerade auf europäischer Ebene müssen wir deutlich vorankommen.
Die Industrienationen haben insgesamt eine besondere Verantwortung beim Kampf gegen die Vermüllung
der Weltmeere. In den Entwicklungsländern fehlen oftmals nach wie vor die Infrastruktur, die Rahmenbedingungen und die finanziellen Mittel für die Abfallvermeidung oder für das Recycling von Plastikmüll. Es fehlt oft
genug an einer geordneten Sammlung und Entsorgung
des Mülls. Das jährliche Aufkommen an Siedlungsabfällen beträgt circa 1,8 Milliarden Tonnen. Es ist besonders
bedenklich, dass davon nur circa zwei Drittel regelmäßig
eingesammelt werden.
Wir müssen den Schutz der Meere international vorantreiben. Die Bundesregierung geht deshalb den richtigen Weg, wenn sie ihn zu einem Schwerpunkt auf dem
G 7-Gipfel macht.
Danke.
({5})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4814 und 18/4809 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Starke Städte und Quartiere - Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fortschreiben
Drucksache 18/4806
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung erhält die Parlamentarische Staatssekretärin Rita
Schwarzelühr-Sutter das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Morgen findet der erste Tag der Städtebauförderung statt. Jeder von
uns hat die Erfolge und Leistungen der Städtebauförderung schon gesehen, bewusst oder unbewusst. Über
7 700 Fördermaßnahmen in 3 200 Städten und Gemeinden konnten bisher umgesetzt werden; das spricht für
sich. Bund und Länder haben die Kommunen im Rahmen der Städtebauförderung seit 1971 - die Kommunen
in den neuen Ländern seit 1990 - bei ihrer städtebaulichen Entwicklung mit rund 16 Milliarden Euro unterstützt.
Mit den fünf Programmen der Städtebauförderung
sorgen wir dafür, dass historische Stadtkerne in altem
Glanz erstrahlen und kulturhistorisch wertvolle Stadtkerne erhalten werden, dass für eine soziale Stadt die
soziale Infrastruktur vor Ort, zum Beispiel Nachbarschaftszentren, Stadtteilschulen und Mehrgenerationenhäuser, ausgebaut und sozialen Polarisierungen entgegengewirkt wird ({0})
- danke - und dass Kommunen ihre Innenstädte und
Stadtzentren aufwerten und stabilisieren können. Das ist
ganz wichtig, insbesondere in Regionen, die gegen den
demografischen Wandel kämpfen. Kleineren Städten
und Gemeinden tut dies besonders gut. Dass die Kommunen auch die vielfältigen Herausforderungen des
Strukturwandels annehmen und angehen können, ist mit
diesen Programmen ebenfalls erreichbar.
In dieser Legislaturperiode investieren wir so viel wie
noch nie. Wir haben die Bundesmittel in den Jahren
2014 und 2015 deutlich aufgestockt. Wir investieren
jährlich 700 Millionen Euro; zuvor waren es 455 Millionen Euro. In den kommenden Jahren werden wir die
Mittel auf diesem hohen Niveau fortschreiben.
({1})
Ganz besonders wichtig ist: Von diesen 700 Millionen
Euro fließen 150 Millionen Euro in das Programm „Soziale Stadt“, mit dem wir insbesondere benachteiligten
Quartieren helfen. Hier haben wir die Mittel fast vervierfacht; ich finde, das ist wirklich ein Wort.
({2})
Diese Städte können das Geld tatsächlich gebrauchen.
Das ist eine Aufgabe, die wir wirklich ernst nehmen.
Hier investieren wir das Geld sinnvoll.
Auch die Mittel für alle anderen Programme, zum
Beispiel für Programme für den Stadtumbau, wurden erhöht. Die 700 Millionen Euro, die wir investieren, umfassen auch ein neues Bundesprogramm zur Förderung
von Investitionen in nationale Projekte des Städtebaus
mit einem Volumen von 50 Millionen Euro. Damit ist es
möglich, auch historisch bedeutsame Ensembles, bauliche Kulturgüter, die energetische Erneuerung und mehr
Grün in der Stadt zu fördern.
({3})
In den kommenden Jahren werden wir im Rahmen
dieses Programms weitere Schwerpunkte setzen, zum
Beispiel bei der Konversion ehemals militärisch genutzter Liegenschaften. Dass die Städtebauförderung eine
große Bedeutung für unser Land hat, zeigt die Hebelwirkung von eins zu sieben. Das heißt, wir lösen Investitionen in Höhe von 10 Milliarden Euro aus, durch die dann
tatsächlich die Wirtschaft vor Ort gefördert wird, insbesondere das Handwerk. Das ist besonders für die Regionen, die gegen den demografischen Wandel kämpfen,
ein wertvoller Beitrag und von großer Bedeutung, weil
somit Wertschöpfung generiert wird.
({4})
Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich. Es ist beeindruckend, was die Städtebauförderung bisher bewirkt
hat. Nun gilt es, den aktuellen Herausforderungen mit einer starken Städtebauförderung entgegenzutreten und sie
zu bewältigen. Das heißt, es ist nichts so gut, als dass es
nicht auch verbessert werden könnte. Was können wir
noch verbessern? Wir wollen zum Beispiel unser erfolgreiches Programm „Soziale Stadt“ stärken. Wir sind davon überzeugt, dass wir gerade in benachteiligten Quartieren das Ineinandergreifen aller Akteure und Initiativen
noch verbessern können. Dazu wollen wir eine ressortübergreifende Strategie „Soziale Stadt“ vorlegen, mit der
fachliche und finanzielle Ressourcen in den Stadtteilen
gebündelt werden und insbesondere Integrationsleistungen verbessert werden.
({5})
Ich denke ganz besonders an solche Bereiche wie Gesundheit und Prävention, aber auch Familie, Arbeit und
Bildung.
Wir wollen zudem daran arbeiten, die Stadtumbauprogramme zusammenzuführen und zu einem Instrument der
Gestaltung des demografischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels in allen Regionen weiterzuentwickeln.
({6})
Wir wollen - um ein letztes Beispiel zu nennen - den
Quartiersansatz auch durch enge Abstimmung mit anderen Förderprogrammen, wie den KfW-Programmen zum
energetischen Bauen und Sanieren, zur energetischen
Stadterneuerung und zum altersgerechten Wohnen, weiter stärken. Damit können gleichzeitig Bündelungseffekte erreicht werden.
Wir wollen die Städtebauförderung aber nicht nur in
gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern
fortführen, sondern vor allem die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen und auch sie als Akteure stärken.
({7})
Das beste Beispiel ist der morgen stattfindende erste
Tag der Städtebauförderung. Er ist ein wirklich überwältigendes Signal: Es beteiligen sich mehr als 540 Kommunen und Städte. Das sind nicht nur große Städte, nicht
nur Metropolen, sondern auch Städte auf dem Land. Das
zeigt: Städtebauförderung kommt an. Sie ist wirklich ein
guter Impuls und eine gute Investition. Die Bürgerinnen
und Bürger vor Ort wollen auch mitmachen, weil sie zu
einer guten Lebensqualität in ihrer Kommune beitragen
wollen. Das bewirkt auch ein gutes Leben für alle.
Ich danke Ihnen herzlich.
({8})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Heidrun Bluhm.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Schwarzelühr-Sutter hat es bereits gesagt:
Morgen begehen wir den ersten Tag der Städtebauförderung. Die heutige Debatte hier soll wahrscheinlich schon
die Feierstunde sein.
({0})
Mir geht es mit diesem Antrag so ähnlich wie mit dem
Entschließungsantrag zur Baukultur in der Ausschusssitzung am vergangenen Mittwoch: Wir haben das Gefühl,
dass wir an dieser Stelle nur beglückwünschen und die
Regierung loben sollen.
({1})
Beide Anträge enthalten Feststellungen und Forderungen, die wir auch unterschreiben. Insofern komme
ich auch zu dem Punkt, Herr Bartol: Es war nie strittig,
und in großen Teilen sind die Forderungen, die in diesem
Antrag stehen, in Anträgen von uns enthalten, die wir
seit zehn Jahren in dieses Parlament eingebracht haben.
({2})
Wir feiern heute, dass endlich auch Sie unsere Anträge in Politik gießen
({3})
und unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre endlich
Folge leisten wollen. Deshalb stimmen wir diesem Antrag, der heute hier zur Sofortabstimmung vorliegt, aus
vollem Herzen zu.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einleitende
Feststellung, dass am 9. Mai zum ersten Mal in ganz
Deutschland der Tag der Städtebauförderung stattfindet,
kann die Linke uneingeschränkt unterstützen. Die zweite
Feststellung aber, dass die Städtebauförderung seit ihrer
Einführung 1971 eine Erfolgsgeschichte sei, würde ich
gern relativieren.
({5})
Sicher, ohne die Städtebauförderung hätte es die
7 700 Maßnahmen in 3 200 Kommunen nicht gegeben.
Sie haben Kommunen fraglos geholfen, städtebauliche
Missstände zu verringern oder auch die städtische Infrastruktur den zukünftigen Aufgaben anzupassen. Aber
kann das der Maßstab dafür sein, die Städtebauförderung
als eine einzige Erfolgsgeschichte zu feiern? Ich habe
einmal bei Wikipedia nachgesehen, was dort unter „Erfolg“ steht: das Erreichen selbst gesetzter Ziele.
Wenn man sich die Messlatte für die Ziele so niedrig
wie möglich legt, kann man den Erfolg täglich feiern.
Wir müssen die Messlatte, glaube ich, an dieser Stelle etwas höher legen, aber wir sind auf dem richtigen Weg.
({6})
Der Antrag verweist zum Beispiel auch darauf, dass
es mit dem Instrument der Städtebauförderung gelungen
sei, der Segregation in den Städten und ihren Stadtteilen
entgegenzuwirken. Es mag sein, dass die Regierung Beispiele dafür kennt, dass die Städtebauförderung die
Segregation vielleicht verzögert oder auch abgemildert
hat. Verhindert hat sie sie bisher jedenfalls nicht. Gentrifizierung und Segregation haben in deutschen Städten
längst stattgefunden, und sie finden auch heute noch
statt, entsprechend dem Spruch: Sag‘ mir, wo du wohnst,
und ich sag‘ dir, wer du bist.
Leider sind die privaten Immobilienverwertungsinteressen großer Investoren viel wirkmächtiger als die Mittel und Möglichkeiten der gutgemeinten Städtebauförderung. Wenn man sich das Bild der deutschen Städte
heute anschaut, dann sieht man doch - das kann man
schon in der unmittelbaren Nachbarschaft finden -, dass
trotz ihrer Erfolge nicht die Städtebauförderung, sondern
die renditeorientierte Standortvermarktung das Stadtbild
„aufwertet“ und damit prägt. Reich baut für Reich auch in Berlin-Mitte.
Die Bundesregierung mischt hier mit, statt ihr eigenes
Immobilienpotenzial im Sinne dieses Antrages für die
Entwicklung und den Erhalt starker Städte und der Quartiere einzusetzen - Stichwort „BImA“.
Werte Kollegen, der Antrag stellt weiter fest:
Nachhaltige Stadtentwicklung ist daher für das Gelingen der Energiewende genauso entscheidend wie
für die Reduzierung der Flächen- und der Ressourceninanspruchnahme.
Das ist richtig, klar. Um aber noch einmal auf die Erfolgsdefinition zurückzukommen: Wo stehen wir denn
da, gemessen an den selbst gesetzten Zielen? Welchen
Beitrag hat die Städtebauförderung dazu geleistet, und
was müssten wir dafür vielleicht auch noch leisten?
Mit dem jetzigen Tempo zum Beispiel auch der klimatischen Gebäudemodernisierung werden wir die
selbst gesteckten Klimaschutzziele jedenfalls nicht erreichen. Auch das haben mittlerweile Vertreterinnen und
Vertreter der Koalition selbst zugegeben.
Bei der Reduzierung des Flächen- und Ressourcenverbrauchs kann man zurzeit auch nicht gerade von einem großen Erfolg reden. Mit den 74 Hektar pro Tag
sind wir von unserem Ziel, 30 Hektar pro Tag, weit, weit
entfernt. Offenbar will die Bundesregierung heute dennoch die Feststellung der Erfolgsgeschichte Städtebau
beschließen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag haben Sie zwischen dem Feststellungs- und dem Forderungsteil einen neuen Teil eingefügt, den sogenannten
Begrüßungsteil. Über dem könnte eigentlich auch stehen: Der Deutsche Bundestag soll beschließen: Wir finden die Regierung toll.
({7})
Warum, bitte schön, soll ich Dinge begrüßen, die
doch längst Beschlusslage sind und, statt begrüßt zu
werden, einfach nur abgearbeitet werden müssen? Frau
Schwarzelühr-Sutter hat das hier eben auch noch einmal
deutlich gesagt: Wir müssen an dieser Stelle anfangen,
zu arbeiten. - Und Sie aus der Koalition müssen endlich
aus dem Ankündigungsmodus heraus.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns morgen eine Feierstunde zum Tag des Städtebaus machen,
alle lokalen Akteure dazu einladen und schöne Reden
halten. Ich wäre dabei.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Kai Wegner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Bluhm, in der Tat: Tue Gutes und rede darüber. - Das,
was wir in den letzten Jahren in der Städtebauförderung
geleistet haben - gerade auch diese Koalition in ihrer
Amtszeit -, lässt sich allemal sehen und ist unverzichtbar für die Quartiere, für die Stadtentwicklung und für
den ländlichen Raum. Deshalb ist es gut, dass wir heute
über die Städtebauförderung und die Initiativen dieser
Regierung sprechen, Frau Bluhm.
({0})
Städtebauförderung gibt es seit 1971. Zahlreiche Projekte - die Staatssekretärin hat es schon erwähnt - und
Maßnahmen wurden gefördert. Wir haben Stadt- und
Ortskerne saniert, wir haben historische Stadtbilder erhalten, öffentliche Räume aufgewertet und vieles mehr.
Wir tun dies nicht, weil wir wollen, dass sich die Regierung feiern kann, obwohl wir in der Tat finden, dass
diese Regierung eine gute Arbeit leistet, sondern wir tun
das für die Menschen in den Quartieren. Wir wollen,
dass sich die Menschen in ihrem Wohnbereich und in ihren Wohnquartieren wohlfühlen und dass sie in ihrer
Heimat eine optimale Lebensqualität vorfinden. Hier
leistet die Städtebauförderung einen unverzichtbaren
Dienst.
({1})
Die Städtebauförderung hat sich in fast viereinhalb
Jahrzehnten außerordentlich bewährt. Die Programme
der Städtebauförderung sind tragende Säulen der Nachhaltigkeit und der Zukunftsfähigkeit in unseren Städten
und Gemeinden. Sie steigern die Lebensqualität der
Menschen.
Wenn man sich konkrete Maßnahmen anschaut, gerade hier in Berlin, zum Beispiel in meinem Wahlkreis
das Falkenhagener Feld, wo ein Gebiet stabilisiert wurde
und die Lebensbedingungen für die Menschen besser
werden, aber auch - die Staatssekretärin sprach das neue
Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ an - innovative Projekte wie zum Beispiel das Flussbad Berlin
an der Museumsinsel, dann sieht man, dass die Städtebauförderung über die Stabilisierung von Quartieren hinaus eine noch größere Bedeutung bekommt. Ihr innovativer Ansatz einer neuen Stadtentwicklung dient der
Nachhaltigkeit, und auch deshalb ist die Städtebauförderung so unverzichtbar.
Zur Hebelwirkung hat die Staatssekretärin viel gesagt. Ich will gar nichts zur Erhöhung der Mittel sagen.
Aber die Städtebauförderung dient auch als Wirtschaftsförderinstrument für die regionale Wirtschaft, für das
Handwerk. Sie schafft Arbeitsplätze in der Region, und
das ist letztlich auch gut für die Menschen.
Durch die Städtebauförderung ist sichergestellt, dass
der ökonomische, ökologische und demografische Wandel in den Städten unterstützt wird. Besonders möchte
ich hervorheben, dass die Bundesregierung auch ressortübergreifend für unsere Städte und Gemeinden aktiv ist.
So widmet das Forschungsministerium, wofür ich sehr
dankbar bin, das Wissenschaftsjahr 2015 der Stadt der
Zukunft. Hiervon werden wichtige Impulse für die integrative Stadtentwicklung ausgehen; davon bin ich felsenfest überzeugt.
Mit dem heutigen Antrag geht es der Koalition in der
Tat darum, die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fortzuschreiben. Wenn wir etwa auf die Bevölkerungsentwicklung schauen, sehen wir, vor welch großen
Herausforderungen wir stehen. In ländlichen Regionen
droht oftmals ein Bevölkerungsschwund. Die großen
Städte hingegen werden in den kommenden Jahren einen
starken Zuzug von Menschen erfahren.
Deshalb werden unter anderem die sogenannten
Großwohnsiedlungen weiter an Bedeutung gewinnen.
Ich bin mir sicher: Gerade diese Großwohnsiedlungen
sind schlafende Riesen mit einem enormen Potenzial für
nachhaltige Stadtentwicklung und lebendige Quartiere.
Diese Potenziale gilt es freizusetzen.
Wir müssen aber auch darauf reagieren, dass es Quartiere gibt, die sich in einer Abwärtsentwicklung befinden, die zu kippen drohen, in denen sich Menschen nach
Einbruch der Dunkelheit oft nicht mehr auf die Straßen
trauen. Solche Angsträume dürfen wir in unseren Städten nicht zulassen; wir dürfen sie nicht tolerieren.
Deshalb ist eine gezielte Stabilisierung und Aufwertung dieser Bereiche notwendig. Ein sauberes Straßenbild,
mehr Licht, gepflegte Grünanlagen, das sind Faktoren,
mit denen nicht zuletzt das subjektive Sicherheitsgefühl
der Menschen in den Wohnquartieren erhöht wird. Ziel
muss es sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an
allen Orten unserer Städte sicher fühlen und wohlfühlen.
Meine Damen und Herren, weiterhin müssen wir bei
der Städtebauförderung in den Großwohnsiedlungen,
aber auch darüber hinaus gezielt auf ein Nebeneinander
von Arbeiten, Wohnen, Nahversorgung, Freizeitgestaltung, öffentlichen Freiräumen und Grün setzen. Es geht
also um die verstärkte Förderung von sozial und funktional durchmischten Stadtquartieren. Denn gemischte
Quartiere sind ein Garant für Lebensqualität und Wohnzufriedenheit, für Standortbindung und Identitätsbildung. Obendrein reduzieren sie die Flächeninanspruchnahme, ermöglichen eine Stadt der kurzen Wege und
sind deshalb besonders für ältere und pflegebedürftige
Menschen, aber auch für junge Familien geeignet.
Eine zusätzliche Herausforderung für unsere Städte
ist der wachsende Zustrom von Flüchtlingen. Für uns ist
klar: Deutschland ist ein tolerantes, ist ein weltoffenes
Land. Wir wollen die Menschen, die begründet bei uns
Zuflucht suchen, würdig unterbringen und ihnen all unsere Hilfe anbieten. Ich glaube, auch hier kann die Städtebauförderung einen großen Beitrag zu gesellschaftlichem Zusammenhalt leisten und ist somit auch ein
Garant von Integration.
Ich habe es schon einmal gesagt: Gerade das Programm „Soziale Stadt“, das wir finanziell aufgewertet
haben, sollte genutzt werden, um bei der Unterbringung
und der Integration von Asylbewerbern zu helfen und
diese zu fördern.
Städte müssen mehr sein als Steine und Beton. Es
geht um die Reintegration der Natur in die bebaute Umwelt. Das ist eine entscheidende Aufgabe, und das gleich
aus mehreren Gründen: Zunächst einmal erfüllt Grün in
der Stadt eine wichtige Erholungsfunktion. Parks, Stadtbäume, begrünte Fassaden und Dächer tragen viel zum
Wohlergehen der Menschen bei. Erst sie machen die
Städte zu lebenswerten Räumen. Grünflächen haben zudem eine bedeutende ökologische Ausgleichsfunktion.
Sie binden CO2, filtern Schadstoffe und Feinstaub aus
der Luft und sorgen für ein gutes Stadtklima. Kurzum:
Wir brauchen nicht mehr Grüne in den Städten, wohl
aber mehr Grün in der Stadt.
({2})
- Es ist so, dass wir nicht mehr Grüne in der Stadt brauchen; denn wir haben die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({3})
- Das tut Ihnen weh.
Frau Künast, es war gerade für uns als CDU/CSUFraktion wichtig und von großer Bedeutung, dass „Grün
in der Stadt“ 2015 ein Schwerpunktthema im Rahmen
der Städtebauförderung wird. Wir werden genau darauf
achten, dass hierfür verstärkt Mittel eingesetzt werden.
Ich wiederhole: Grün ist ein bedeutender Bestandteil für
die Lebensqualität in Städten. Wir werden genau darauf
achten, dass die Mittel hier auch ankommen und eingesetzt werden. Sollte das nicht funktionieren, sollten wir
ernsthaft darüber nachdenken - ich hoffe, Frau Künast,
dass ich dabei Ihre Unterstützung habe -, ob „Grün in
der Stadt“ ein gesonderter Programmpunkt im Rahmen
der Städtebauförderung sein soll.
({4})
Es wurde schon gesagt: Am morgigen Sonnabend findet nun erstmals ein bundesweiter Tag der Städtebauförderung statt. Der Tag wird die Bürgerbeteiligung stärken
und kommunale Förderprojekte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Das ist wichtig; denn Städtebauförderung lebt nicht nur von Finanzhilfen. Sie lebt
gerade auch vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger für ihre Stadt. Sie lebt von den Akteuren, die im Rahmen der Programme arbeiten.
Eine wichtige Rolle für nachhaltige Stadtentwicklung
können insbesondere die privaten Hauseigentümer spielen. In diesen Tagen wurde hierzu das mehrjährige Forschungsvorhaben „Kooperation im Quartier“ abgeschlossen. Die Ergebnisse sind zukunftsweisend. Es hat
sich gezeigt, wie es möglich ist, private Eigentümer zu
Partnern der Stadtentwicklung zu machen. Die im Forschungsfeld erarbeiteten Instrumente sollten nun rasch in
die Programme der Städtebauförderung übernommen
werden, insbesondere in die „Aktiven Zentren“ und die
„Soziale Stadt“. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zum
Erhalt lebendiger Stadtquartiere.
Zum Abschluss. Zum Wesen der Städte gehört der
kontinuierliche Wandel. Städte sind nie ein festgefügter
Zustand. Städte sind nie fertig, sie sind stets ein bewegter Vorgang. Deshalb stehen die Städte permanent vor
großen, neuen Herausforderungen. Aber ihnen eröffnen
sich auch ständig Chancen. Um die Chancen zu nutzen
und die Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wir
die Städtebauförderung auch in Zukunft. Sie bleibt ein
unverzichtbarer Baustein für lebenswerte Städte und Gemeinden. Der vorliegende Antrag trägt dazu bei, den Erfolgsweg bei der Städtebauförderung fortzusetzen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gestalten. Denn wie
die Staatssekretärin schon sagte: Nichts ist so gut, dass
man es nicht noch weiter optimieren kann. - Daran sollten wir gemeinsam arbeiten, für die Lebensqualität in
unseren Städten und Gemeinden.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Dann erhält jetzt das Wort ein Grüner,
nämlich Christian Kühn.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen in den Städten in Deutschland wollen mehr Pflanzen, mehr Bäume und mehr Parkanlagen statt Betonwüsten und Asphaltpisten. Das ist eine gute Nachricht im
Hinblick auf die Nachhaltigkeit in der Stadt.
({0})
Sie wollen Parks und Freiflächen, um abzuschalten, mit
Kindern zu spielen und Naturerfahrung zu machen.
Kleingartenanlagen sind heutzutage in Deutschland kein
Ausdruck mehr von Spießigkeit, sondern Ausdruck eines neuen Lebensgefühls in der Stadt, einer Sehnsucht
nach Natur. Ich gebe Ihnen vollkommen recht: Die Zukunft der Stadt ist grün. Ich bin froh, dass die Union das
nach so vielen Jahren zumindest ein bisschen verstanden
hat.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich mir Ihren
Antrag angeschaut habe, dachte ich: Die Prosa dieses
Antrags ist ganz schön. Aber als ich dann den Forderungsteil gelesen habe, wusste ich: Irgendwie passen
diese Prosa und Ihre Forderungen nicht ganz zusammen.
Beim Klimaschutz sind Sie unterambitioniert, beim demografischen Wandel legen Sie keine richtigen neuen
Programme auf. Die soziale Ausgewogenheit im Quartier haben Sie zwar irgendwie im Blick, aber auch nicht
richtig. Wenn ich mir anschaue, wie viele Ziele wir gemeinsam im Bundestag dazu formulieren, wo wir mit
den Städten hin wollen, dann denke ich: Die Maßnahmen, die Sie in Ihr Papier geschrieben haben, reichen bei
weitem nicht aus, um diese Ziele zu erreichen.
Betrachten wir einmal Ihre konkrete Politik. In Ihrem
Antrag haben Sie etwas zum Stichwort „sozial ausgewogene Stadtentwicklungspolitik“ geschrieben. Hier komme
ich zur Liegenschaftspolitik. Sie betreiben durch die
Christian Kühn ({2})
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben weiterhin Immobilienspekulationen in Deutschland. Sie vernichten mit
dieser Liegenschaftspolitik, die Sie als Union vertreten,
Freiräume und Stadtgrün, ein Stadtgrün, das Sie hier
gleichzeitig abfeiern. Wie passt das zusammen, Herr
Wegner?
({3})
Wie passt es zusammen, dass in der Stadt Berlin in
den nächsten Jahren 13 Kleingartenanlagen durch die
BImA verkauft werden sollen? Wie passt es zusammen,
dass diese 13 Kleingartenanlagen, weil Sie keine anderen Regelungen machen, zum Höchstpreis verschachert
werden sollen? Es werden beim Verkauf nicht die jetzigen Nutzerinnen und Nutzer in Berlin zum Zuge kommen und auch nicht Familien mit Kindern; nein, es werden Investoren sein, die am Ende den Zuschlag erhalten
und dieses Stadtgrün nachhaltig vernichten. Deswegen
sage ich Ihnen: Reden Sie nicht über Stadtgrün, sondern
ändern Sie Ihre Liegenschaftspolitik!
({4})
Weil dieses Thema in Ihrer Rede so viel Raum eingenommen hat, noch eine weitere Story zum Thema Stadtgrün. Sie wollten es mit Modellprojekten fördern. Wir
haben im Ausschuss gesagt: Machen Sie es doch in allen
Städtebauförderprogrammen förderfähig. - Sie haben es
dann gemacht. Es ist ein grüner Erfolg, dass Sie bei dem
Thema Stadtgrün in dieser Legislaturperiode weitergekommen sind.
({5})
Zum Klimaschutz. Gerade in den Städten sind immense Potenziale, zum Beispiel in den Großwohnsiedlungen, vorhanden; Sie haben es selber genannt. Aber
warum raffen Sie sich als Große Koalition nicht auf, ein
wirklich ambitioniertes Quartiersanierungsprogramm
hinzubekommen? Sie reden davon, dass die energetische
Zukunft nicht bei der EnEV liegt, nicht in der einzelnen
Betrachtung des Hauses, sondern im Quartier. Aber Sie
tun nichts. Sie haben kein ambitioniertes Programm aufgelegt. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie es nicht tun, werden Sie beim Klimaschutz im Gebäudebereich scheitern.
Das Versprechen von Frau Hendricks, Klimaschutz und
Baupolitik miteinander zu verzahnen, wird eben nicht
wahr gemacht werden können. Ich sage Ihnen eines:
Wenn Sie nicht in Quartieren denken und nicht in Quartieren handeln und kein entsprechendes Programm auflegen, dann wird es nichts mit dieser Regierung und nichts
mit dem Klimaschutz.
({6})
Ich höre jetzt, dass wir eine ressortübergreifende Strategie bei der „Sozialen Stadt“ brauchen. Das ist doch nur
ein Ausweichmanöver, weil die nicht investiven Mittel
bei der Städtebauförderung immer noch nicht förderfähig sind. Damit führen Sie als Große Koalition das Erbe
der FDP in der Städtebauförderung weiter fort. Wir müssen doch das Quartier aktivieren. Wir müssen die Menschen befähigen, ihr Quartier selber zu leben. Wir müssen im Quartier doch Mittel wie Spracherwerb und
anderes in die Schulen tragen. Herr Wegner, Sie haben
davon gesprochen, dass es Angsträume gibt. Das bekommt man nicht mit ein bisschen Licht weg, sondern
damit, dass man den sozialen Zusammenhalt im Quartier
stärkt. Das wollen Sie nicht.
({7})
Deswegen sage ich Ihnen eines: Machen Sie endlich etwas bei den nicht investiven Maßnahmen, und fördern
Sie nicht nur Beton, sondern endlich auch Menschen.
({8})
Von Ihnen wurde auch die Bürgerbeteiligung angesprochen. Sie sagen: Am Tag der Städtebauförderung
machen wir Bürgerbeteiligung. - Das reicht doch bei
weitem nicht aus. Bei Ihnen ist Bürgerbeteiligung immer
noch weitestgehend gedacht als Informationskampagne
und nicht als gemeinsamer Entscheidungsprozess auf
Augenhöhe. Ändern Sie das! Wir Grüne wollen keine Investorenpläne, wir wollen Bürgerinnen- und Bürgerpläne. Wir wollen Bürgerinnen und Bürger bei allen Entscheidungen, bei allen Planungsprozessen dabeihaben
und die Bürgerinnen und Bürger nicht nur „aktivieren“,
wie Sie es in Ihrem Antrag schreiben. Die Bürgerinnen
und Bürger sind längst aktiv. Ich rate Ihnen, einfach mal
zuzuhören und auf diese Menschen zuzugehen.
({9})
Der letzte Gedanke. Wenn ich Ihren Antrag lese, erkenne ich nicht, was das Leitbild der Großen Koalition
bei der Stadtentwicklung der Zukunft ist. Das wird mir
nicht klar. In Ihren Reden, in Ihrer Prosa erkenne ich einiges. Aber wenn ich mir Ihre konkrete Politik, zum Beispiel die Liegenschaftspolitik, anschaue, dann weiß ich:
Sie haben eigentlich das Bild einer Stadt der Investoren.
Wenn ich mir die Verkehrspolitik der Großen Koalition,
von Herrn Dobrindt anschaue, dann erkenne ich, dass es
Ihnen nach wie vor um die autogerechte Stadt geht und
nicht um die Stadt der kurzen Wege, die Sie, Herr
Wegner, hier beschworen haben. Ich rate Ihnen: Überprüfen Sie Ihre Prosa auf Inhalte. Schauen Sie sich an,
was die Menschen in den Städten wirklich wollen. Dann
haben Sie, glaube ich, eine Chance, eine gute Stadtentwicklungspolitik zu betreiben.
Danke.
({10})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Michael Groß.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich
freut die Rückmeldung der Opposition. Das war, würde
ich sagen, ein Kritikchen.
Wir Sozialdemokraten wissen genau, was wir wollen.
In die Koalitionsvereinbarung haben wir hineingeschrieben, dass „Soziale Stadt“ das Leitprogramm für soziale
Integration sein soll; das ist unser Ziel. Wir wollen, dass
die Menschen im Quartier ein Zuhause finden, dass
Flüchtlinge, alte Menschen und junge Menschen dort gemeinsam leben können.
({0})
Herr Kühn, Sie haben gerade behauptet, dass wir es
nicht ernst meinen. Ich glaube, wir haben gemeinsam
verstanden, dass die untere Ebene, also Städte und Gemeinden, die Metropolen, Geld haben muss, um die
Quartiere, die Stadtteile zu gestalten. Wir nehmen jetzt
zusätzlich 3,5 Milliarden Euro in die Hand, um Investitionen in den Städten zu ermöglichen. Diese 3,5 Milliarden Euro sind auch dafür gedacht, die energetische Sanierung und damit Energieeffizienz und Umweltschutz
voranzubringen. Ich glaube, dass wir da auf einem sehr
guten Weg sind.
Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir durch
das Teilhabegesetz ab 2017 für Entlastung sorgen. Auch
dadurch werden für die Kommunen Freiräume geschaffen, damit sie das bewerkstelligen können, was vor Ort
notwendig ist. Ich glaube, dass das noch nicht genug ist;
aber es ist mehr, als Sie unterstellt haben.
({1})
Frau Bluhm, ich habe in Ihrer Rede viel Lob gehört.
Da ich klein von Statur bin, ist die Messlatte, die wir
selbst angelegt haben, für mich ohnehin relativ hoch,
auch wenn sie noch höher liegen könnte. Es ist doch so,
dass wir im Bereich der Städtebauförderung alle nicht
weit auseinander sind. Wir haben gemeinsam in der letzten Koalitionsverhandlung einen immensen Sprung geschafft: von 455 Millionen auf 700 Millionen Euro.
({2})
Wir haben das Programm „Soziale Stadt“ immens gestärkt. Wir haben es erreicht, dass wieder wesentlich
mehr Städte und Gemeinden Anträge stellen. Ich glaube,
die Kritik, die Sie äußern, ist unberechtigt. Wir sind auf
einem guten Weg. Wir haben in dem Antrag formuliert,
dass wir Planungssicherheit und Verlässlichkeit für die
Städte brauchen. Wir wollen gemeinsam dafür sorgen,
dass die 700 Millionen Euro inklusive der 150 Millionen
Euro weiterhin im Haushalt etatisiert werden.
({3})
Warum sind die Programme zur Städtebauförderung
so erfolgreich, und warum begrüße ich es sehr, dass wir
morgen den Tag der Städtebauförderung begehen? Ich
glaube, es ist notwendig, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam auf problematische Stadtteile
schauen. Wir müssen gemeinsam auf Stadtteile schauen,
in denen sich etwas in die falsche Richtung entwickelt.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Kinder Bildung erfahren. Wir müssen Aufstieg durch Bildung gewährleisten. Wir müssen Arbeit im Quartier ermöglichen, und wir müssen Maßnahmen zum Schutz von
Klima und Umwelt im Quartier ermöglichen. Letztendlich müssen wir die Verbraucher, die Mieter und die Vermieter auffordern, gemeinsam auf Klimaschutz und Umweltschutz zu achten. Deswegen ist der morgige Tag so
wichtig.
Ich glaube, dass wir noch viele Dinge zu tun haben.
Das gilt zum Beispiel für die Energiewende. Die Programme, die wir zur Energiewende und zum Klimaschutz
haben, müssen mit den Programmen zur Städtebauförderung verschränkt werden. Wir müssen es ermöglichen,
dass Vermieter, die investieren wollen, mehrere Programme in Anspruch nehmen können. Wir müssen für
eine sinnvolle Förderung sorgen, die Synergieeffekte erzeugt. Wir müssen dafür sorgen, dass die richtigen Maßnahmen ergriffen werden. Dabei ist es wichtig, dass wir
die Menschen mitnehmen. Wir müssen sie mitnehmen,
indem wir sie aufklären, indem wir sie informieren. Wir
brauchen Mitmachstädte, in denen Bildung geschaffen
wird. Wir müssen die Menschen über Bildung auch darüber aufklären, was notwendig und erforderlich ist.
({4})
Beteiligung ist ein Riesenthema. Ich kenne die
Agendaprozesse aus meinem Wahlkreis sehr gut. Es ist
uns aber noch nicht gelungen, die zu beteiligen, die wir
eigentlich beteiligen müssen. Es ist richtig, dass wir wesentlich mehr investieren müssen. Wir müssen aber nicht
nur Geld investieren, sondern wir brauchen auch kreative Ideen dazu, wie wir die Menschen in die Prozesse
einbinden können. Es reicht eben nicht, Ordner zur Verfügung zu stellen, sondern wir müssen Instrumente
- auch die digitale Agenda - nutzen, um aufzuklären.
Ich glaube, wir haben noch einen Riesenweg vor uns;
denn wir können niemanden zwingen, mitzumachen.
Ich glaube, dass es gerade bei der Stadtentwicklung
wichtig ist, Menschen aufzufordern, sich einzumischen,
weil dort jeder aus seiner eigenen Erfahrung heraus mitentscheiden kann, wenn es um die Fragen geht: Wie soll
meine Zukunft aussehen? Wo will ich eigentlich Veränderungen? Und was soll sich in meinem Stadtteil entwickeln? - Gerade Stadtumfeld, Wohnumfeld, die eigene
Wohnung sind dafür geeignet, Demokratie zu üben und
die Menschen aufzufordern, sich wieder demokratisch
einzumischen und bei Erfolg auch wieder wählen zu gehen. Dafür müssen wir auch im Rahmen der Städtebauförderung sorgen.
({5})
Ein letzter Gedanke zum ressortübergreifenden Ansatz: Wir versuchen zurzeit, hier die Instrumente zusammenzuführen. BIWAQ und „JUGEND STÄRKEN im
Quartier“ sind ein Ansatz. Wir müssen dafür sorgen,
dass alle gemeinsam - die Betroffenen vor Ort, aber
auch wir hier - auf die Probleme schauen. Das müssen
wir in den nächsten Wochen und Monaten schaffen. Sie
haben ja noch ein bisschen Zeit: zwei Jahre.
Ich danke Ihnen. Glück auf! Ein schönes Wochenende!
({6})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Artur Auernhammer.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es der Opposition ein wenig schwerfällt, uns
in der Regierungsverantwortung zu loben, kann ich hier
auch als Kommunalpolitiker sagen: Es gibt nur wenige
Förderprogramme, die in so umfassender Weise auf die
Kommunen wirken wie das Städtebauförderprogramm.
Seit mehr als 40 Jahren steht der investive Teil der
Städtebauförderung nicht nur für die Konservierung alter, zumindest auch historisch bedeutender Bauten. Städtebauförderung steht auch für die Umgestaltung und
Anpassung an heutige Bedürfnisse. Bauhistorische Substanz wurde saniert und in einem nutzbaren Zustand in
das 21. Jahrhundert gebracht.
Meine Damen und Herren, Städtebauförderung ist
mehr als trockener und staubiger Denkmalschutz. Städtebauförderung bringt Leben in die Stadt. Die Städtebauförderung kombiniert baukulturelles Erbe mit gegenwartsbezogenen und in die Zukunft weisenden baulichen
Überlegungen. Das Besondere dabei ist die von ihr ausgehende Wechselwirkung und Kombination der Anreize,
welche die geförderten Projekte auf die Kommunen aussenden. Wir fördern zum Beispiel Maßnahmen vor Ort
zur Reduzierung von Barrieren, um mehr gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen.
Wenn ich an eine immer älter werdende Gesellschaft
denke, verstehe ich die Städtebauförderprogramme auch
als Katalysator für eine Aktivierung der Potenziale und
Akteure vor Ort.
Denken wir an die Herausforderungen durch den Klimawandel und auch durch verschiedene Emissionsbelastungen in den Städten; dabei geht es um Schadstoffe wie
Feinstaub, aber auch um Lärm. So kann die Städtebauförderung helfen, Vorreiterpositionen in der Stadt zu
schaffen. Daher muss das Augenmerk auch immer auf
Maßnahmen für eine klimafreundliche und „grüne
Stadt“ mit möglichst wenig Grünen gelegt werden.
({0})
- Ich stelle fest, die Grünen haben es langsam kapiert.
({1})
Morgen ist der Tag des Städtebaus, der Tag der Städtebauförderung. Es ist erfreulich, diesen Tag auszurufen.
Er kann zu dem Ziel beitragen, die Bürgerinnen und
Bürger vor Ort mitzunehmen und sie aktiv zu motivieren, sich für ihre Stadt zu interessieren, sie aufmerksam
zu machen auf die regionalen Projekte der Städtebauförderung, aber auch auf die besonderen Impulse, die von
diesen herausgehobenen Bauprojekten ausgehen.
Es muss unser Ziel sein, die Thematiken des Klimaschutzes und der Barrierefreiheit über die Städtebauförderung in die Städte und Ortschaften zu transportieren.
Der Erfolg der letzten 40 Jahre kann sich wirklich sehen
lassen. Unser Land ist eine einzige Messe, eine einzige
Ausstellung erfolgreicher Städtebauförderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Name „Städtebauförderung“ - so mancher Redner hat sich hier sehr
auf die großstädtische Förderung bezogen - verleitet einen schon, nur von Großstadtförderung zu reden. Aber
in der Tat ist es so, dass im Bundesdurchschnitt 40 Prozent der Städtebauförderung Mittel für den ländlichen
Raum sind. Ich erlaube mir den Hinweis auf den Freistaat Bayern: Dort fließen 75 Prozent der Fördermittel in
den ländlichen Raum und ermöglichen dort Maßnahmen.
({2})
Erfreulich ist die Differenzierung. Die Programme „Soziale Stadt“ und „Stadtumbau Ost und West“ sollen hier
beispielhaft neben dem neuen Programmteil „Nationale
Projekte des Städtebaus“ genannt werden.
Nachdem ich hier den großen Beitrag der Städtebauförderung für den ländlichen Raum angesprochen
habe, nenne ich Ihnen nun ein Beispiel aus meiner Heimat, in der ich Kommunalpolitiker bin. Meine Heimatstadt Weißenburg hat in den letzten zehn Jahren 6,5 Millionen Euro an Städtebauförderung erhalten, im
Wahlkreis waren es über 60 Millionen Euro. Dieses Geld
wurde ausgezahlt und investiert. Es hat den Mittelstand
und das Handwerk motiviert, zu investieren, und es hat
viele Investitionen nach sich gezogen.
Gehen wir einmal von einer anerkannten Hebelwirkung von eins zu sieben aus - also 1 Euro Städtebauförderung löst 7 Euro an privaten Investitionen aus -, so haben diese Mittel einen großen Investitionsschub für die
Städte und für die ländlichen Regionen gebracht. Man
kann sagen: Städtebauförderung ist ein kommunales
Konjunkturprogramm. Es sichert Beschäftigungsverhältnisse. Noch eines sei angemerkt: Durch diese Hebelwirkung von eins zu sieben trägt sich das Programm selbst.
Jeder einzelne geförderte Städtebau-Euro erwirtschaftet
wieder Steuereinnahmen.
({3})
Wenn man das umrechnet, hat jeder Euro der Städtebauförderung eine Mehrwertsteuereinnahme von
1,27 Euro zur Folge. Fazit: Die Städtebauförderung finanziert sich nicht nur selbst, sie erhöht sogar die Staatseinnahmen.
Die Impulse, die von der Städtebauförderung des
Bundes ausgehen, sind wertvoll und verdienen viele
weitere Jahre. Dabei ist die richtige Schwerpunktsetzung
wichtig. Es ist daher für mich erfreulich, wenn wir in
den Förderjahren 2016 und 2017 die Umwandlung mili9960
tärischer Konversionsflächen im Teilprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ gezielt fördern. Der Abzug amerikanischer Truppen, aber auch die Verringerung
der Zahl der Bundeswehrstandorte fordern uns heraus,
mit der Stadtentwicklung weiter voranzukommen. Auch
ist es ein großer Beitrag zum Flächenschutz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle,
zum Teil auch die Opposition, haben die Städtebauförderung gelobt. Lassen Sie uns den morgigen Tag feiern!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Der Kollege Auernhammer war der
letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Deshalb
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4806 mit dem Titel „Starke Städte und Quartiere Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fortschreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über
das Klonen von Rindern, Schweinen, Schafen,
Ziegen und Equiden, die für landwirtschaftliche Zwecke gehalten und reproduziert werden
KOM({0}) 892 endg.; Ratsdok. 18152/13
und
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das Inverkehrbringen von Lebensmitteln von Klontieren
KOM({1}) 893 endg.; Ratsdok. 18153/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kein Klonfleisch in der EU - Für mehr Tierund Verbraucherschutz
Drucksache 18/4808
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kennen
Sie den Film The 6th Day? Es geht um das Klonen von
Menschen wie auch Tieren, und es gibt dort einen bemerkenswerten Dialog, den ich Ihnen gerne vortragen
würde:
„Bei Ihrem RePet …wird es sich exakt um denselben Hund handeln. Er kann alle Kunststückchen,
die Sie ihm beigebracht haben, er findet alle Knochen, die er verbuddelt hat. Er wird überhaupt nicht
spüren, dass er ein Klon ist …“ - „… kann ich meiner Tochter ein so großes Tier anvertrauen mit
scharfen Zähnen?“ - „Wir können ihn auch kleiner
machen, mit weichen Zähnen.“ … „Wenn Sie wollen, können wir ihn sogar farblich auf ihre Wohnzimmereinrichtung abstimmen.“
Meine Damen und Herren, Utopie? Dystopie? Nein,
heute schon ein Stück Realität. 1996 wird in Schottland
das weltweit erste geklonte Säugetier präsentiert, das
Klonschaf Dolly. Dolly ist die identische Kopie eines anderen Schafes, eine Reproduktion aus dem Reagenzglas.
Damit war übrigens der Damm gebrochen. Klonmäuse,
Klonrinder, Klonschweine folgen. Auch Haustiere werden kopiert. Eine Klonkatze soll zeigen, dass sich niemand mehr von seinem geliebten Begleiter verabschieden muss. Der Weg zum „RePet“ ist also nicht mehr
weit.
War Dolly nun ein großer Triumph der Wissenschaft,
oder hat der Mensch Schöpfer gespielt? Man kann dies
sicherlich unterschiedlich bewerten, aber eines steht fest:
Es war ein dramatischer Eingriff in die Natur. Dieser
technische Fortschritt kann Hoffnung bedeuten; denn
durch wissenschaftliches Klonen können gegebenenfalls
Stammzellen erzeugt werden, mit denen sich Krankheiten heilen lassen. Diesen Weg will übrigens niemand
verbauen; denn wissenschaftliches Klonen soll nach wie
vor erlaubt bleiben.
({0})
Aber technischer Fortschritt bedeutet auch Verantwortung. Dieser müssen wir gerecht werden. Deshalb
beraten wir heute im Deutschen Bundestag über ein Verbot des Klonens von Tieren für die Nahrungsmittelproduktion. Für unsere Fraktion, die CDU/CSU, sage ich
ganz deutlich: Wir wollen dieses Verbot.
({1})
Und wir wollen mehr; denn wir sehen keinen einzigen
Grund, weshalb Tiere für die Produktion von Lebensmitteln geklont werden sollten. Wie ist zurzeit die Situation? Derzeit dürfen Tiere in Europa geklont werden. Sie
können nach Zulassung als Lebensmittel vermarktet
werden. Eine Kennzeichnung ist übrigens nicht vorgesehen. Davon wird allerdings zurzeit in Europa noch kein
Gebrauch gemacht. Anders ist das in den USA. Klonfleisch ist dort seit 2008 im Handel. Nachkommen geklonter Tiere werden zu Fleisch verarbeitet. Erkennen
können dies die Kunden im Supermarkt nicht. Eine Gesundheitsgefahr ist damit nicht verbunden. Das bestätiGitta Connemann
gen uns sowohl die amerikanische Behörde für Lebensmittelsicherheit, die FDA, wie auch die Europäische
Behörde für Lebensmittelsicherheit, die EFSA. Sie bestätigen, dass der Verzehr von Fleisch und Milch von geklonten Rindern, Schweinen und deren Nachfahren unbedenklich sei. Aber es gibt eben andere Gründe, die
gegen Klonfleisch sprechen.
Erstens: das Wohl der Tiere.
({2})
Klonen bedeutet Leid und Qual für Tiere. 90 Prozent der
geklonten Tiere sterben im Mutterleib oder nach der Geburt. Viele der Retortentiere altern schnell, leiden unter
Krankheiten oder Missbildungen. So übrigens auch
Dolly. Dolly wurde gerade einmal sechs Jahre alt. Sie litt
an Arthritis und an Übergewicht. Am Ende musste sie
eingeschläfert werden, um ihr weiteres Leid zu ersparen.
Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Dieses Leid wollen wir, die CDU/CSU-Fraktion, Tieren ersparen.
({3})
Zweitens. Wir haben ethische Bedenken gegen das
Klonen, wie übrigens auch das Ethikgremium bei der
Europäischen Kommission. Auch für dieses ist das Klonen für die Nahrungsmittelproduktion ethisch nicht gerechtfertigt. Ich persönlich sage auch: Bedenket das
Ende! Was bei Tieren beginnt, endet vielleicht eines fernen Tages bei der menschlichen Reproduktion.
({4})
Ich sage sehr deutlich: Ich möchte keine genetisch optimierten Designerbabys.
({5})
Drittens. Wir fürchten um die genetische Vielfalt. Es
ist vollkommen unklar, welche Folgen die neue Produktionsform für die Landwirtschaft und auch die Tierzucht
hat. Deshalb lehnt auch der Deutsche Bauernverband
Klonen strikt ab. Wir sagen: zu Recht.
Viertens. Klonfleisch will eigentlich niemand essen.
Eine aktuelle forsa-Studie für den Bundesverband der
Verbraucherzentralen ergab, dass 71 Prozent der Menschen in diesem Land keine geklonten Lebensmittel wollen - auch wir nicht.
Ich will noch einen weiteren Punkt anfügen: Es besteht überhaupt kein Bedarf an geklontem Fleisch. Wir
leiden in Europa nicht an einem Fleischmangel, sondern
daran, dass zu viel Essen achtlos weggeworfen und vernichtet wird.
({6})
Hier umzusteuern, wäre jenseits aller Klontechnik ein
wichtiger Schritt zur Steigerung des Tierwohls.
Deshalb ist die EU dem Grunde nach auf dem richtigen Weg. Ende 2013 hat diese vorgeschlagen, Folgendes
in der EU zu verbieten: das Klonen von Tieren für landwirtschaftliche Zwecke, den Import von geklonten Tieren und Klonembryonen und den Import von Lebensmitteln aus diesen Tieren - alles nur vorläufig. Das ist ein
erster richtiger Schritt, aber er geht uns als CDU/CSU
nicht weit genug; denn nach den Vorschlägen der Kommission bleiben erlaubt: der Import von Zuchtmaterial
wie zum Beispiel Embryonen und Sperma, der Import
von Nachkommen geklonter Tiere, der Handel damit
und der Einsatz in der Zucht. Und das alles ohne Kennzeichnung. Das lehnen wir ab.
({7})
Denn am Ende bedeutet das: Die Produkte der Nachfahren von Klontieren dürfen verkauft werden. Der Verbraucher verzehrt gegebenenfalls Klonfleisch, ohne dies
zu bemerken. Der Verbraucher bekäme statt des Steaks
vom Bauernhof ein Stück Klonfleisch aus dem Reagenzglas. Ich sage für unsere Fraktion: Das wollen wir nicht.
({8})
Wir wollen mehr Transparenz für den Verbraucher,
wir wollen mehr Lebensmittelklarheit, und wir wollen
damit auch mehr Wahrheit und Sicherheit. Dafür brauchen wir eines zwingend: eine Kennzeichnungspflicht.
({9})
Wir senden deshalb heute ein ganz starkes Signal,
wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen, über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg.
Damit stärken wir auch das Europäische Parlament;
denn unsere Kollegen dort fordern wie wir: Der Verbraucher muss wissen, ob er Fleisch von Klontieren isst. Gemeinsam - das ist das Signal dieser Stunde - müssen wir
den Druck auf die EU-Kommission aufrechterhalten.
Ende Februar hat der zuständige Gesundheitskommissar
Andriukaitis angekündigt, dass die EU-Kommission bis
Oktober prüfen wolle, ob die Kennzeichnung von Milchund Fleischprodukten, die von Nachfahren geklonter
Nutztiere stammen, doch ein gangbarer Weg sei.
Die EU hat auch vor dem Hintergrund von TTIP nämlich ein Problem. Die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA sind bekanntlich in den Vorbereitungen. Die EU-Vorschriften
für Gentechnik oder Klonfleisch sollen unverändert bleiben. Mit einem Freihandelsabkommen würden ebendiese Produkte aus den USA nach Europa gelangen.
Deshalb brauchen wir eine klare Kennzeichnung ({10})
damit der Verbraucher weiß, was er isst. Wir müssen
deshalb gemeinsam die EU-Kommission von dieser
Kursänderung überzeugen.
({11})
Dabei wissen wir die Bundesregierung an unserer
Seite. Auch diese lehnt das Klonen für landwirtschaftliche Zwecke ab. Ich bin unserem Kollegen Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt außerordentlich
dankbar, dass er sich dafür auf EU-Ebene starkmacht.
Persönlich würde ich mir übrigens an dieser Stelle eine
Regelung in Form einer Verordnung, nicht in Form einer
Richtlinie wünschen; denn eine Verordnung hätte eine
höhere Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten in der
EU. Wir brauchen in der EU eine einheitliche Rechtsgrundlage, die im Wesentlichen auch Kontrollverfahren
und Kontrollmethoden festlegt; denn das beste Gesetz
hilft am Ende nicht, wenn es nicht kontrolliert wird. Dafür setzen wir uns als CDU/CSU-Fraktion ein.
Es ist deshalb wichtig, dass wir uns heute einsetzen,
dass wir gemeinsam ein klares Zeichen setzen gegen
Klonfleisch und damit für mehr Tierschutz und für mehr
Verbraucherschutz. Dafür stehen wir hier heute ein.
Ich begann mit einem Filmzitat, und ich möchte mit
einem enden. Es gibt unendlich viele Filme über das
Klonen - von Tieren, von Menschen -, so auch den Film
Die Insel. Ich zitiere aus der Aussprache mit einem
menschlichen Klon:
„Ihr seid Klone.“ … „Ihr seid so etwas wie Austauschmotoren für ihre Bentleys. Ihr seid ihnen
egal.“
Genau das wollen wir nicht, weder für die Menschen
noch für die Tiere.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Beim Klonen geht es darum, künstlich und
systematisch genetisch identische Individuen zu schaffen - ein Horrorszenario für alle, für die die Vielfalt des
Lebens ihre eigentliche Existenzgrundlage ist. Deswegen ist das schon allein ein guter Grund, Klonen abzulehnen.
({0})
Ich teile auch die ethischen Einwände, egal ob damit ein
Schöpfer oder die Natur gemeint wird: Das Einmischen
in das Handwerk ist in jedem Fall falsch.
Neben dieser gesellschaftspolitischen Kritik gibt es
für mich als Tierärztin weitere schwerwiegende Ablehnungsgründe: Die verheerend niedrigen Lebenschancen
der Klone sind nicht zu verantworten. Sehr gut dokumentiert ist das im 2010er Report von Testbiotech „Klonen von Nutztieren - eine ‚todsichere‘ Anwendung?“.
Um nur eine Studie aus dem Jahr 2007 herauszugreifen:
Von knapp 3 400 Kühen, auf die Embryoklone übertragen wurden, brachten nur 317 lebende Kälber zur Welt.
Noch problematischer: Nach 24 Stunden waren schon 39
dieser Klonkälber gestorben. Am 150. Lebenstag war
fast ein Drittel tot. Selbst die technologiefreundliche Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,
gibt die Sterblichkeit beim Klonen von Rindern mit 85
bis 94 Prozent und bei Schafen mit 94 Prozent an. Ich
finde, das ist nicht akzeptabel.
({1})
Und nicht nur die Klone sind gefährdet, sondern auch
die Leihmuttertiere. Zum Beispiel führt bei Rindern und
Schafen das Large-Offspring-Syndrom unter anderem zu
einem Riesenwuchs von Föten und damit zu Schwerstgeburten. Deshalb sagt die Linke ganz klar: Das Klonen
muss verboten werden, erst recht bei Nutztieren, um die
es heute geht.
({2})
Wir stehen mit dieser Position nicht allein. Die öffentliche Meinung ist klar gegen Klonen, ebenso der Bundesrat. Auch im Entwurf der Stellungnahme des Europäischen Parlaments steht - ich zitiere -: „dass die
schädlichen Auswirkungen des Klonens, unter anderem
auf das Tierwohl, gegenüber möglichen positiven Auswirkungen stark überwiegen“. Daher begrüßen die Autorinnen den Vorschlag der Kommission für ein Verbot des
Klonens im Grundsatz; aber auch sie sehen erhebliche
Mängel im Vorschlag der Kommission.
In der Tat: Die Vorschläge müssen dringend nachgebessert werden. Deshalb ist der heute vorliegende gemeinsame Antrag der Koalition und der Grünen dringend notwendig. Er fordert Abhilfe in drei Punkten, die
auch uns Linken sehr wichtig sind, erst recht im Schatten
von TTIP: Erstens. Statt eines vorläufigen Verbots wird
ein dauerhaftes Verbot des Klonens gefordert. Es soll für
Tiere, die für die Nahrungsmittelproduktion vorgesehen
sind, gelten, aber auch für den Handel mit und den Import von geklonten Tieren und auch für das Fleisch.
Zweitens. Sollte das nicht oder nur teilweise erreichbar
sein, wird eine Kennzeichnungspflicht gefordert, und
zwar für geklonte Tiere und ihre Nachkommen, aber
eben auch für Sperma, Eizellen, Embryonen und das
Fleisch. Drittens werden richtigerweise geeignete Kontrollmöglichkeiten gefordert.
Die Linke unterstützt diese Forderungen. Uns ist es
auch wichtig, dass diese Forderungen heute einstimmig
hier beschlossen werden; denn wir brauchen ein ganz
klares Signal aus dem Bundestag sowohl in Richtung
Bundesregierung als auch in Richtung Brüssel.
({3})
Deshalb stimmt die Linke dem Antrag heute zu.
Aber ich sage auch ganz ehrlich: Diese Zustimmung
ist uns sehr schwer gefallen, zum einen weil auch dieser
Antrag wichtige Fragen offenlässt: Warum wollen Sie
nur Fleisch kennzeichnen und keine Milch und keinen
Käse? Warum soll das Verbot nur für die fünf Hauptnutztierarten Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und
Pferde gelten und nicht für alle Nutztierarten? Beim Geflügel ist das Klonen doch nur eine Frage der Zeit. Ich
sehe es wie der Bundesrat: Es sollte keine Ausnahmen
vom Klonverbot geben, weder bei Sportpferden noch
zum Erhalt seltener Rassen oder vom Aussterben bedrohter Arten - und, ich sage es ganz ehrlich, auch nicht
für die geliebten Haustiere.
Aber der Antrag hat noch einen weiteren Makel. Er ist
zwar überfraktionell, aber unter Ausschluss der Linken
zustande gekommen, weil die Union seit fast zehn Jahren generell keine gemeinsame Antragstellung mit der
Linken möglich macht. SPD und Grüne bedauern das
zwar, aber eigentlich machen sie dann am Ende mit. Ich
finde das undemokratisch, weil es nicht nur meine Fraktion, sondern auch die Wählerinnen und Wähler der Linken ausgrenzt; es diskriminiert sie.
({4})
Es ist auch unparlamentarisch.
Deswegen sage ich ganz klar: Die Linke verteidigt
heute mit ihrem Ja zu diesem Antrag die Würde des Hohen Hauses.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Tackmann, ich kann das nachvollziehen: Ich bedauere es außerordentlich, dass es in diesem Hause nicht gelingt, bei Fragestellungen, bei denen es um ethische und
moralische Ansprüche und Themen geht, fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten.
({0})
Sie wissen, wie das Prozedere hier im Haus normalerweise ist. Ich kann nur an die Kollegen appellieren, dass
wir uns in Zukunft bei solchen Themen vielleicht ein
bisschen mehr Gemeinsamkeit gönnen; denn es geht essenziell ja nicht um eine große politische Debatte,
({1})
sondern darum, dass wir heute hier im Hause konstatieren können, dass wir im Deutschen Bundestag die größtmögliche Koalition gegen das Klonen zustande gebracht
haben.
({2})
Ich freue mich über diesen gemeinsamen Antrag, zumal nach der Aktuellen Stunde im Jahre 2011, die wir
dazu in diesem Hause erleben durften. Da hat hier eine
ganz andere Debatte stattgefunden, auch mit Schuldzuweisungen. Ich erinnere noch: Es war der Minister
Brüderle, der ein relativ aussichtsreiches Verfahren auf
europäischer Ebene mit seinem Veto damals verhindert
hat - auch zum Leidwesen seines damaligen Koalitionspartners. Ich erinnere auch noch an den Ausspruch vom
Kollegen Holzenkamp in dieser Debatte, dass er kein
Klonfleisch essen will.
({3})
Das ist mir noch sehr gegenwärtig.
Mit dem Antrag setzen wir in der Großen Koalition
gemeinsam etwas um, was wir in den Koalitionsvertrag
geschrieben haben. Ich halte es für wichtig, dass man
nicht nur etwas aufschreibt, sondern es auch umsetzt.
Mit den jetzt vorliegenden Entwürfen auf der europäischen Ebene soll bis 2016 mehr Rechtssicherheit geschaffen werden. Das ist dringend notwendig. Das
Fleisch von Klonen wird zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt im europäischen Bereich nicht zur Erzeugung von
Lebensmitteln verwandt, aber wer weiß denn, wie das in
Zukunft ist. Die Option besteht; die Tür ist offen. Diese
Tür muss dringend geschlossen werden. Auch nach der
Stellungnahme der FDA und der EFSA sind die Zweifel
nicht ausgeräumt worden. Im Gegenteil, bei mir sind sie
noch verstärkt worden.
Das Geschäft mit dem Klonen hat nach der Entscheidung der FDA in den USA, in Kanada und in anderen
Ländern begonnen. Dahinter steht nicht unbedingt die
Neugierde der Wissenschaft - die würde ja zur Lösung
der Probleme im Bereich der Fleischerzeugung nicht mit
Klonen arbeiten -, sondern dahinter stehen natürlich
Interessen, Interessen von großen Zuchtverbänden, die
nicht unbedingt genossenschaftlich organisiert sind,
({4})
Interessen von großen Verbänden, die wertvolle Genetik
haben, diese Genetik natürlich weltweit verkaufen und
damit Gewinne erzielen möchten. Es gibt zwei große
Unternehmen, die sich auf diesen Bereich spezialisiert
haben: Trans Ova und ViaGen. Sie sind in unterschiedlichen Märkten tätig.
Man muss sich einmal vor Augen führen, dass von einem Unternehmen sogar Emergency Cloning angeboten
wird. Das heißt, wenn ein wertvolles Zuchttier plötzlich
verstirbt, wenn etwa ein Pferd nach einer Kolik am
nächsten Morgen tot aufgefunden wird, dann ist, wenn
ein bestimmter Zersetzungsgrad der Zellen noch nicht
erreicht ist und die somatischen Zellen im Kern noch
brauchbar sind, die Möglichkeit gegeben, aus diesem
Tier noch einen Klon zu produzieren, um es züchterisch
weiter nutzen zu können. Diese Unternehmen sind in
Ländern wie Argentinien, Brasilien und Paraguay tätig.
Auch in Australien und Neuseeland gibt es entsprechende Unternehmen, die sich mit Klonen beschäftigen.
Da gehört schon ein bisschen Mut dazu, wenn wir auf
der europäischen Ebene sagen: Das ist mit unserer Einschätzung, mit unserer Ethik und mit unserem Verständnis von Tierschutz nicht vereinbar. Deshalb dürfen wir
diese Debatte nicht den Wissenschaftlern und den Unter9964
nehmen und Unternehmern überlassen, sondern müssen
sie auf der politischen Ebene hier im Deutschen Bundestag führen und dazu beitragen, dass die kritischen Stimmen im Europäischen Parlament, die wir aus der letzten
Debattenrunde 2011 noch kennen und die ich mittlerweile auch schon wieder vernommen habe, auch durch
eine entsprechende Positionierung der deutschen Bundesregierung unterstützt werden, die das Klonen ebenfalls nachhaltig ablehnt.
({5})
Es geht dabei nicht um Wissenschaft oder Ökonomie
allein. Es geht dabei um ganz grundlegende ethische
Fragestellungen. Letztendlich geht es um die Schöpfung,
für die wir Verantwortung tragen. Nicht alles, was die
Reproduktionstechnologie heute ermöglicht, ist auch
ethisch vertretbar. Ich kenne das aus eigener Anschauung: Ich habe über viele Jahre eine große Rinderpraxis
betrieben, mit Besamung und in Teilen, wenn es angezeigt war, mit Embryotransfers. Mittlerweile wurden
weitere Möglichkeiten entwickelt: das Embryosplitting,
bei dem man Embryonen teilt, die Geschlechtsbestimmung bei Embryonen, das Aussortieren der Embryonen,
die man aufgrund des Geschlechtes nicht möchte, und
natürlich auch das Spermasexing. All das sind Möglichkeiten, die bislang schon - ethisch noch vereinbar - zur
Verfügung stehen, aber auch dazu beigetragen haben,
dass es im Bereich der Züchtung zu erheblichen Fortschritten gekommen ist. Man muss diese Technologien
natürlich immer vor dem Hintergrund des ethischen Anspruches, den man hat, prüfen.
Ich glaube, angesichts dessen, was wir dort erreicht
haben, braucht man gerade im Bereich der Zucht kein
Klonen mehr. Kühe erreichen heute in Deutschland eine
jährliche Durchschnittsleistung von 8 000 bis 9 000 Litern. Das Zuchtziel beträgt 10 000 Liter Milch mit 4 Prozent Fett und 3 bis 4 Prozent Eiweiß; andere Länder sind
in Teilen ein wenig weiter. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir diese Technologie mit
Sicherheit nicht brauchen, um die Leistung zu steigern.
Im Gegenteil: Wenn wir diese Technologie einsetzen,
dann schränken wir die genetische Vielfalt weiter ein,
die in der Rinderzucht eh schon stark eingeschränkt ist;
wir sehen einen hohen Inzuchtgrad. Auch in anderen Bereichen, in denen entsprechend intensive Zuchten betrieben werden, etwa im Bereich der Pferdezucht, ist das
durchaus erkennbar. Das können und müssen wir nicht
dauerhaft so hinnehmen. Ich glaube, gerade die Vielfalt
ist notwendig, wenn wir auch für die nächsten Generationen Optionen offenhalten wollen.
Deshalb ist die klare Kennzeichnung von Produkten,
die von solchen Klonen stammen, und von Lebensmitteln, die mit Klonfleisch hergestellt wurden, essenziell
und wichtig. Das Verbot sollte nicht - wie jetzt diskutiert - nur befristet, für fünf Jahre, gelten, sondern
grundsätzlich,
({6})
damit jedem klar ist, wofür wir in der Europäischen
Union stehen. Die Gründe dagegen, etwa die Angst vor
Wettbewerbsverfahren im Rahmen der WTO, finde ich
nicht richtig. Das Urteil zur Nichteinfuhr von Robbenfellen wurde damit begründet, dass sozioökonomische
Aspekte durchaus ein gewichtiger Grund sind, so etwas
zu verhindern. Es geht hier um die gleiche Größenordnung wie beim Verbot des Imports von Hormonfleisch.
Deshalb bin ich guten Mutes und der festen Überzeugung, dass es uns gelingen wird, das Verbot im Sinne der
Tiere, im Sinne der Vielfalt und im Sinne des Tierschutzes in Europa umzusetzen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Nicole
Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Debatten zur Tierhaltung und zur Tierzucht in diesem
Haus sind normalerweise Debatten, in denen ein tiefer
Graben zwischen Herrn Ebner und Herrn Stier, zwischen
Grünen und Schwarzen verläuft. Umso mehr freue ich
mich, dass von der heutigen Debatte ein klares Signal
gegen das Klonen von Nutztieren nach Europa gesendet
wird. Das ist ein gutes Zeichen.
({0})
Ich möchte Gitta Connemann für ihre sehr klaren
Worte am Anfang dieser Debatte danken. Sie hat zum
Ausdruck gebracht, was viele von uns hier bewegt. Ich
möchte aber auch der Linken dafür danken, dass sie sich
nicht auf kleinliche Parteipolitik eingelassen hat, sondern dass sie den gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt, auch wenn
sie nicht in der Überschrift steht.
({1})
Mit dem vorliegenden Antrag, über den wir später abstimmen werden, sprechen wir für die Mehrheit der
Menschen in unserem Land, die Klonfleisch auf ihrem
Teller ablehnt und der der Tierschutz ein Herzensanliegen ist. Wir sprechen für die Umwelt- und Verbraucherverbände, für das EU-Parlament und sogar für den Deutschen Bauernverband, die sich schon seit Jahren klar
gegen das Klonen aussprechen. Ich möchte an dieser
Stelle besonders den christlichen Kirchen danken, die
sich in diesem Zusammenhang immer wieder ethisch
sehr klar positioniert haben.
Das Klonen von Nutztieren ist ein einziger Tierschutzskandal. Hinter jedem lebensfähigen geklonten
Tier stecken unzählige tote und kranke Wesen, die bei
dieser Technik als Abfall, als Ausschuss hingenommen
werden. Diese Tiere leiden unter Organmissbildungen,
Immunschwächen, Blutarmut, Herzkrankheiten oder Leberversagen. Die Sterblichkeit von Föten und neugeborenen Tieren ist mit über 90 Prozent gigantisch hoch.
Wenn man sich für den Tierschutz einsetzt, dann sieht
man einiges an widerlichen Bildern und Videoaufnahmen. Aber die Bilder von diesen riesigen Föten, die ihre
Muttertiere mehr oder weniger sprengen - ich muss sagen, das waren die verstörendsten Abbildungen, die ich
in meiner Karriere als Tierschutzpolitikerin gesehen
habe. Das können und wollen wir nicht hinnehmen.
({2})
Wenn diese kleinen Klone es lebendig auf die Welt
schaffen, dann haben die meisten von ihnen Schwierigkeiten beim Atmen, beim Stehen, und sie trinken nicht
ordentlich. Das heißt, die Anzahl von Klonen, die wirklich lebensfähig auf die Welt kommen, ist sehr gering.
Das allein ist ein gutes Argument gegen diese Technologie.
Man muss sich immer überlegen: Wie kann man die
Ernährung von 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten sichern? Mit welchen Techniken? Auf welche
Praktiken wollen wir setzen? Die Frage ist auch: Wie
schaffen wir bezahlbare Nahrung für alle? Technologien
wie das Klonen, aber auch die Grüne Gentechnik sind
nicht zukunftsweisend. Sie führen nicht dazu, dass alle
Menschen auf diesem Planeten Zugang zu Nahrung haben.
({3})
Wir meinen: Das Klonen ist ein bizarrer Irrweg, der
die Industrialisierung der Tierhaltung auf die Spitze
treibt, einerseits durch die Respektlosigkeit gegenüber
den Tieren - die Christen unter Ihnen würden sagen:
zwischen dem Mitgeschöpf Tier und uns -, andererseits
durch die Verarmung der genetischen Vielfalt und die
Patentierung und Monopolisierung unserer gemeinsamen Lebensgrundlagen, unseres Menschheitserbes.
An dieser Stelle möchte ich alle aufrufen: Wir müssen
die Artenvielfalt erhalten und fördern. Wir dürfen sie
nicht künstlich begrenzen und verstümmeln. Wir können
doch nicht zulassen, dass das Leben selbst in seiner Vielfalt, in seiner Schönheit in die Hände einzelner Konzerne gegeben wird, dass es patentiert, verarmt, verengt
und geklont wird. Das können wir nicht wollen.
({4})
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die am
vorliegenden Antrag mitgearbeitet haben, dass wir trotz
einiger Auseinandersetzungen Einigkeit erzielt haben.
Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag an die
Bundesregierung, wenn sie in Brüssel im Rat verhandelt:
Wir wollen ein Verbot von Klonen in der Europäischen
Union. Wir wollen keine Produkte von Klontieren, keine
Embryonen, kein Sperma, kein Fleisch und keine Milch
ungekennzeichnet in der Europäischen Union. Wir erwarten vom Landwirtschaftsminister, dass er ganz klar
Kante zeigt.
Ich möchte auch darauf hinweisen: Auch wenn es in
Europa das Klonen von Landwirtschaftstieren, soweit
wir wissen, nicht gibt, jenseits des Atlantiks wird es
durchaus angewandt. Man sollte sich schon die Frage
stellen, wie Sie die TTIP-Verhandlungen zu einem guten
Ende bringen wollen, ohne dass zum Beispiel vor
Schiedsgerichten eine Klonkennzeichnung als Handelshemmnis beklagt wird. Das sind Fragen, die wir für den
Landwirtschafts- und Nahrungsmittelbereich im Kontext
des Freihandelsabkommens klären müssen, wenn man
den europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern
versprechen will: kein Klonfleisch auf euren Tellern.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner in der Debatte hat
Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren ! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Sänger Max Raabe brachte 2002 eine Single heraus, mit
der er einem gesellschaftlichen Irrtum zu einer hohen
Popularität verhalf. Ich zitiere: „Klonen kann sich lohnen“. Wir haben jetzt in dieser Debatte mitbekommen:
Klonen kann sich nicht lohnen, und Klonen wird sich
nicht lohnen. Gerade ist bereits von meiner Kollegin
Gitta Connemann ausgeführt worden, welche negativen
Herausforderungen uns hier entgegenstehen.
Ich möchte das Thema hier, nachdem bereits zwei Veterinärmediziner gesprochen haben, einmal aus Sicht des
Rinderzüchters erläutern. Nehmen wir einmal an, ein international tätiger Konzern hat eine Spitzenfärse oder einen Zuchtbullen, der besonders gute Leistungszahlen
hat, der gute Merkmale vererbt. Auch dem besten Bullen
geht im hohen Alter, wenn er vielleicht schon 1 Million
Spermaportionen produziert hat, irgendwann einmal die
Luft aus. Also hat dieser Konzern vielleicht Interesse daran, aus diesem Bullen einen Klon herzustellen, auch mit
dem notwendigen finanziellen Aufwand.
Aber unter Rinderzucht verstehe ich in erster Linie,
dass Bäuerinnen und Bauern in ihren Rinderhaltungsbetrieben die Zucht betreiben und dies nicht in die Hände
großer Konzerne legen.
({0})
In meiner bayerischen Heimat gibt es zum Beispiel den
Besamungsverein Neustadt an der Aisch. Dieser Besamungsverein hat bereits einen internationalen Ruf, wenn
es darum geht, hornlose Tiere zu züchten. Das hat nichts
mit Klontechnologie zu tun, sondern damit, dass wir in
unserer Genossenschaft Mitgliedsbetriebe haben, die
sich dieser Zucht leidenschaftlich hingeben, die sich mit
ihren Tieren befassen, die sich Anpaarungen heraussuchen, um dieses Ziel zu erreichen. Hier muss ich einmal
das hohe Engagement unserer Jungzüchterklubs, die im
ganzen Land unterwegs sind, erwähnen. Diese jungen
Menschen sind mit großer Leidenschaft in ihren Betrieben tätig. Sie wollen erfolgreich züchten, sie wollen
selber die Wertschöpfung ihrer züchterischen Arbeit erhalten und die Züchtung nicht irgendwelchen Großkonzernen überlassen. Das gilt es auch bei dieser Debatte zu
würdigen.
({1})
Wir fordern deshalb ein klares Verbot des Klonens
von Tieren zur Nahrungsmittelproduktion. Wenn wir die
Nahrungsmittelproduktion bei uns im Land ernst nehmen und wertschätzen, kann es nur dieses Verbot geben.
({2})
Es ist bereits ausgeführt worden, welchen großen
Schmerz diese Technologie für die Tiere zur Folge hat,
wie unwahrscheinlich viele Embryonen und Föten hier
im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben
und wie viele Missbildungen es gibt. Es kann nicht sein,
dass wir dies auch noch fördern. Deshalb ist es notwendig, dass wir eine klare Kennzeichnung von Klonfleisch
fordern, wenn dies im Umlauf sein sollte. Hier brauchen
wir eine europäische Lösung. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert. Heute werden wir die Bundesregierung mit einem eindeutigen Votum darin bestärken.
({3})
Ich möchte aber - Frau Connemann hat es bereits erwähnt - den wissenschaftlichen Teil nicht unerwähnt
lassen. Viele von uns haben vielleicht im Bekanntenkreis
Menschen, die an Krankheiten leiden, denen bereits eine
Herzklappe von einem Schwein eingesetzt worden ist
oder die Insulin aus tierischer Herkunft bekommen. Wir
dürfen die wissenschaftliche Begleitung hier nicht aus
der Hand geben. Wir selbst müssen auf der wissenschaftlichen Seite am Ball bleiben, wenn es darum geht, das
Thema wissenschaftlich weiter voranzubringen, aber
nicht im Sinne eines kommerziellen Klonens.
Auch die TTIP-Verhandlungen sind angesprochen
worden. Gerade vor diesem Hintergrund, liebe Kollegin
Maisch, ist es wichtig, dass wir heute hier im Bundestag
ein klares Votum an die Verhandlungsführer aussenden,
dass wir in Deutschland kein Klonfleisch wollen. Deshalb begrüße ich diese parteiübergreifende Initiative.
({4})
Es geht aber nicht nur um wissenschaftliche und wirtschaftliche, sondern auch um ethische Aspekte, die für
mich hier im Vordergrund stehen: Was darf der Mensch
alles machen? Was soll sich der Mensch in seiner ethischen Verantwortung für Rechte herausnehmen? Meine sehr verehrten Damen und Herren, Klonen gehört
für mich nicht dazu; das will ich hier klar und deutlich
sagen.
({5})
Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten,
dass in Deutschland weiterhin von unseren Bäuerinnen
und Bauern hervorragend produziertes Rindfleisch und
hervorragend produziertes Schweinefleisch und Geflügelfleisch gegessen wird, aber kein Klonfleisch.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Christina Jantz von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte
ich ausdrücklich betonen, wie wichtig es ist, dass wir
Abgeordnete des Bundestages gemeinsam und geschlossen gegen landwirtschaftliche Klontiere in der EU auftreten. Daher ist es ein besonders gutes Zeichen, dass
dieser Antrag sowohl von den Regierungsfraktionen,
SPD und Union, als auch von der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf den Weg gebracht wurde. Natürlich wäre
eine Einbringung durch alle Fraktionen des Hauses auch
aus meiner Sicht wünschenswert gewesen.
({0})
In der Europäischen Union werden aktuell keine Tiere
zu landwirtschaftlichen Zwecken oder zur Erzeugung
von Lebensmitteln geklont. Jedoch ist es zurzeit nicht
auszuschließen, dass bereits Nachkommen von geklonten Tieren für die Nutztierzucht und für die Lebensmittelproduktion verwendet werden. Meine Damen und
Herren, die europäische Bevölkerung und auch die Menschen in Deutschland lehnen das Klonen von Tieren, um
mit ihnen Lebensmittel zu erzeugen, strikt ab. Das ist unser Handlungsauftrag. Ihm werden wir heute gerecht.
Klonen ist nicht nur ethisch zutiefst fragwürdig, sondern es ist auch für die Tiere gefährlich und offenbart
eine aus meiner Sicht wirklich furchtbare Möglichkeit
der Wissenschaft. Es bestehen erhebliche Risiken für die
geklonten Tiere - das ist bereits angeklungen - und
ebenso für die Ersatzmuttertiere. Weit über 80, ja teilweise deutlich über 90 Prozent der geklonten Tiere sterben vor, während oder auch nach der Geburt. Den Tod
von Tieren für die Herstellung von Lebensmitteln auf
diese Weise billigend in Kauf zu nehmen, finde ich moralisch absolut verwerflich. Nicht alles, was wissenschaftlich möglich ist, sollten wir Menschen tun. Das
Klonen von Tieren, um mit ihnen Lebensmittel zu erzeugen, gehört eindeutig nicht dazu.
({1})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand tatsächlich
Nahrungsmittel essen oder trinken möchte, wenn er um
die grausame Vorgeschichte des Tierleidens weiß. Ein
vertretbarer Nutzen für unsere Verbraucherinnen und
Verbraucher ist für mich hierbei absolut nicht zu erkennen. Daher brauchen wir dringend ein dauerhaftes Verbot des Klonens von Tieren zur Nahrungsmittelproduktion und ein entsprechendes Import- und - auch das
klang bereits an - Zuchtverbot. Der Vorschlag der EUKommission, diese Verbote nur vorläufig auszusprechen, genügt hierbei nicht.
Insgesamt ist aus meiner Sicht auch ein Verbot auf
internationaler Ebene notwendig, zum Beispiel auf der
Ebene der Welthandelsorganisation. Zudem brauchen
wir strengste Pflichten zur Kennzeichnung von geklonten Tieren, deren Fleisch und deren Zuchtmaterial, um
einen schleichenden Einzug von geklonten Tieren zu
stoppen. Als Deutscher Bundestag sind wir nun gefordert, ein klares Zeichen gegen das Klonen von Tieren zur
Nahrungsmittelproduktion zu setzen und den Ball damit
wieder auf das Spielfeld der EU zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/4808 mit dem Titel „Kein Klonfleisch in der EU - Für mehr Tier- und Verbraucherschutz“, hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es jemanden, der
dagegen stimmt? - Gibt es jemanden, der sich enthält? Nein. Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen
worden.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Sevim Dağdelen, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden
Drucksache 18/4333
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen gesetzt haben, kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir waren heute Morgen alle dabei:
Bundestagspräsident Lammert eröffnete die Gedenkstunde mit dem Zitat:
Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.
Wie gut, meine Damen und Herren, wäre es gewesen,
wenn er hätte fortfahren können: Und darum sind wir
uns alle einig, dass der 8. Mai ein gesetzlicher Gedenktag sein muss.
({0})
Richard von Weizsäckers Rede zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus wurde von vielen Politikerinnen
und Politikern nach seinem Tod noch einmal als herausragend bewertet. Das sehen wir auch so. Und darum sollten wir dieses Erbe endlich annehmen und nicht ausschlagen.
In Bayern, Hessen und Sachsen gibt es einen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Ab diesem
Jahr soll es auch ein nationaler Gedenktag sein. Der Tag
der Befreiung wird nur in Mecklenburg-Vorpommern als
offizieller Gedenktag begangen. Das geht auf eine Initiative der Linken zurück, als sie damals gemeinsam mit
der SPD in Mecklenburg-Vorpommern regierte.
Ich will Gedenktage nicht gegeneinander ausspielen,
aber ich finde, eine Gewichtung ist schon erforderlich.
({1})
Im vergangenen Jahr wurde argumentiert: Wir begehen
doch den 27. Januar als den „Tag des Gedenkens an die
Opfer des Nationalsozialismus“ als nationalen Gedenktag. Das ist richtig, wir wollen am 27. Januar der Opfer
des Faschismus gedenken. Aber wir wollen auch am
8. Mai an unsere Befreier erinnern und ihnen danken.
({2})
Denn die Befreiung vom Faschismus war für uns Deutsche die Voraussetzung für die Formulierung des Satzes
im Grundgesetz, Artikel 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, ist das Schlüsselerlebnis der Deutschen im 20. Jahrhundert. Das, meine
Damen und Herren, sollte uns einen offiziellen Gedenktag wert sein.
({3})
Wir Linke werden diesen Tag immer feierlich begehen.
Gestern hatte die Fraktion Die Linke zu einer Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung in das Paul-LöbeHaus eingeladen. Über 700 Menschen kamen. Es wären
gern mehr gekommen, aber die Kapazitäten waren ausgeschöpft.
Für mich war eine forsa-Umfrage sehr beeindruckend: Die große Mehrheit der Deutschen ist der Meinung, der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.
89 Prozent stimmten dieser Aussage zu.
Auch die Bereitschaft, über Kriegserlebnisse zu sprechen, ist gestiegen. Auch das bestärkt uns in der Forderung nach einem gesetzlichen Gedenktag. Wir wollen,
dass sich die Menschen mindestens an einem Tag im
Jahr die Zeit nehmen, um über die Ursachen des Zweiten
Weltkrieges zu diskutieren und der über 50 Millionen
Opfer zu gedenken. Gerade Deutschland muss sich verpflichten, Vorreiter bei der Lösung von Konflikten mit
friedlichen Mitteln zu sein. Das ist eine Kernforderung
der Linken.
({4})
Ein gesetzlicher Feiertag wäre auch ein Zeichen an
die Frauen und Männer der alliierten Armeen, die
Deutschland befreit haben. Unter ihnen waren auch
Deutsche, wenige zwar, aber es gab sie. Heute Morgen
war als Gast in der Gedenkstunde einer der letzten lebenden Deutschen, der in der Résistance gekämpft hat:
Erhard Stenzel. Auch an diese Kämpfer wäre es ein Zeichen. Darum bitte ich Sie im Namen der Fraktion Die
Linke: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr Dr. Tim
Ostermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 70 Jahren hat die deutsche Wehrmacht bedingungslos gegenüber den Alliierten kapituliert. Ein sechsjähriger Weltkrieg fand damit in Europa sein Ende. An
diesem Krieg waren mehr als 60 Staaten beteiligt. Mehr
als 50 Millionen Menschen - wir haben es eben schon
gehört - sind ihm zum Opfer gefallen. Am 8. Mai 1945
war dieser grauenvolle Krieg endlich beendet. Das Töten
hörte auf.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete die militärische Niederlage Deutschlands. Mit dem Ende des
Krieges ging aber auch das Ende der NS-Diktatur einher.
Zwölf Jahre lang haben die Nationalsozialisten Deutschland und Europa mit ihrer Schreckensherrschaft terrorisiert. Wer nicht in das Idealbild der Nationalsozialisten
passte, wurde verfolgt, drangsaliert, getötet. Der traurige
und auch heute noch schwer zu fassende Tiefpunkt war
dabei der Holocaust. Über 6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens wurden von den Nationalsozialisten systematisch und auf bestialische Weise ermordet.
Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der
Konzentrationslager haben wir viele Zeitzeugenberichte
hören können, die das Grauen noch einmal anschaulich
machten. Magda Hollander-Lafon, eine Überlebende des
Konzentrationslagers Auschwitz, berichtete vor einigen
Monaten in der Süddeutschen Zeitung Folgendes:
Der Gestank von verbranntem Fleisch war unerträglich. Wir wurden gedemütigt und mit Peitschen
geschlagen. Die Nazis haben mit uns gemacht, was
ihnen in den Sinn kam. Ziel war, dass wir schnellstmöglich draufgingen. Das übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Wir waren bereit zu sterben. Ich
hatte akzeptiert, dass es so sein sollte. Der Tod war
Realität, genau wie der Hass und die Angst.
Wenn ich diese und andere Berichte von Zeitzeugen
höre, besteht für mich kein Zweifel daran, dass der Untergang des NS-Regimes für die Menschen in Europa
eine Befreiung war, und es besteht kein Zweifel daran,
dass das Ende des Zweiten Weltkrieges auch für die
Deutschen eine Befreiung darstellte.
Es war keine Selbstbefreiung. Hieran hat unser Präsident in der heutigen Gedenkveranstaltung erinnert. Es
bedurfte der Befreiung von außen. Hierfür sind wir den
Alliierten gerade an diesem 70. Jahrestag zu außerordentlichem Dank verpflichtet.
Was dem 8. Mai 1945 folgte, brachte jedoch nicht für
jeden Freiheit. Im Westen setzte sich die Befreiung fort.
Entnazifizierung und Demokratisierung: Unter diesen
Stichworten wurde in den westdeutschen Besatzungszonen ein Neuanfang ermöglicht. Diejenigen, die sich an
den bestialischen Verbrechen des NS-Regimes beteiligt
hatten, wurden zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt, wenn auch leider nicht alle und teilweise
viel zu spät. Auch heute noch dauern die juristische Auseinandersetzung und die juristische Aufarbeitung dieser
schrecklichsten Periode der deutschen Geschichte an,
wie das Beispiel des Prozesses gegen Oskar Gröning vor
dem Landgericht Lüneburg zeigt.
Trotz der großen Schuld, die viele - viel zu viele Deutsche auf sich geladen hatten, gaben die westlichen
Alliierten den Deutschen in ihren Besatzungszonen eine
neue Perspektive, eine zweite Chance. Die westdeutsche
Gesellschaft wurde demokratisiert. Politische Stabilität,
Wohlstand und sozialer Ausgleich waren die Folge. Der
Schutz und die Achtung der Würde des Menschen wurden zur zentralen Verpflichtung des Staates, so wie es in
dem allerersten Artikel unseres Grundgesetzes zum Ausdruck kommt. Mit Ende des Krieges wurde Westdeutschland eine Entwicklung ermöglicht, die am 8. Mai 1945
keiner für möglich gehalten hätte.
Unsere Landsleute in der Sowjetischen Besatzungszone empfanden den 8. Mai 1945 dagegen weit überwiegend nicht als Tag der Befreiung,
({0})
wohl als Tag der Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft, nicht aber als Tag der Befreiung von Diktatur,
Unfreiheit und Unrecht.
({1})
In den ersten Jahren nach Einrichtung der Sowjetischen
Besatzungszone wurden mehr als 120 000 Deutsche
ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Zehntausende wurden
in die Sowjetunion deportiert, um dort in Zwangslagern
zu arbeiten. Mehr als 40 000 Deutsche kamen dort um.
Auf Geheiß der Sowjetunion wurde die sogenannte
Deutsche Demokratische Republik gegründet. Das eingängigste Symbol für die Unfreiheit in der DDR
({2})
stellt der Bau der Berliner Mauer dar. Die Bürger Ostberlins und die in den übrigen Gebieten der DDR wurden buchstäblich eingemauert, damit sie dem Regime
nicht entfliehen konnten. Innerhalb von Zaun und Mauern eingesperrt, mussten die DDR-Bürger die Exzesse
von Staat und Partei ertragen: Erschießung beim Versuch, die Grenze zu überqueren, Folter und Misshandlungen in den Gefängnissen,
({3})
Ausforschung und Terrorisierung durch die Stasi, keine
Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit.
({4})
Für diejenigen, die in den Jahren danach unter Diktatur, Unfreiheit und Unrecht litten, war der 8. Mai 1945
kein Tag der Befreiung.
({5})
Die vollständige Befreiung der Deutschen in der DDR
trat erst am 9. November 1989 ein: mit dem Fall der
Mauer und des Eisernen Vorhangs.
({6})
Ebenfalls nicht vergessen darf man die weit über
10 Millionen Vertriebenen, die nach 1945 die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches verlassen mussten. Ja, es ist richtig: Die Vertreibung stellt eine Folge
der Gewaltherrschaft des NS-Regimes und des von ihm
angezettelten Krieges dar. Unabhängig von der Frage der
Verursachung sollte man aber nicht verkennen, dass
durch die Vertreibung, aber auch durch Kriegsgefangenschaft millionenfaches Leid über die Menschen gebracht
wurde. Darum ist es nachvollziehbar, dass auch diese
Menschen den 8. Mai in erster Linie nicht als Tag der
Befreiung empfanden und empfinden.
({7})
Keine Frage: Der 8. Mai ist ein Datum, das in der
deutschen Geschichte einen wichtigen Platz einnimmt.
({8})
Daher wird in der Bundesrepublik jedes Jahr an das
Kriegsende erinnert, auch in diesem Plenarsaal. Lassen
Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass wir heute
Morgen herausragende und - im positiven Sinne - denkwürdige Redebeiträge erleben durften.
({9})
Heinrich August Winkler gab uns mit auf den Weg
- ich zitiere ihn -:
Niemand erwartet von den Nachgeborenen, dass sie
sich schuldig fühlen angesichts von Taten, die lange
vor ihrer Geburt von Deutschen im Namen
Deutschlands begangen wurden. Zur Verantwortung für das eigene Land gehört aber immer auch
der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im
Ganzen zu stellen.
Am 8. Mai werden wir uns der Geschichte dieses
Landes in besonderer Weise bewusst. Ich möchte aber
auch daran erinnern, dass wir uns dessen alljährlich auch
am 27. Januar bewusst werden. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. An diesem Tag wird bundesweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Die Initiative hierzu ging im
Jahr 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman
Herzog aus.
({10})
Er proklamierte einen Gedenktag. Wir glauben, dass daneben kein weiterer gesetzlicher Gedenktag eingeführt
werden sollte.
Roman Herzog begründete seine damalige Initiative
wie folgt - ich zitiere ihn, und damit möchte ich schließen -:
Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch
künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.
Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns
zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer
über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken
an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der
Wiederholung entgegenwirken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Als nächster Redner hat Volker Beck von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Heinrich Böll sagte 1985:
Volker Beck ({0})
Ihr werdet die Deutschen immer wieder daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder der Befreiung bezeichnen.
Ich finde, da sind wir 30 Jahre später ein gehöriges Stück
weiter. Heute konnte der Bundestagspräsident mit Zustimmung und Applaus aus allen Fraktionen sagen: Der
8. Mai ist ein Tag der Befreiung.
({1})
Das ist ein Fortschritt, und das sollten wir festhalten.
Ich will hinzufügen: Es ist der Tag der Befreiung, und
ich bin den Befreiern dankbar - allen Befreiern: der Roten Armee, den Amerikanern, den Franzosen, den Briten, den Polen und allen, die daran mitgewirkt haben,
auch den deutschen Widerstandskämpfern, die gemeinsam mit den Alliierten den Hitler-Faschismus niedergerungen haben.
({2})
Diese Dankbarkeit ist nicht selbstverständlich im Hohen Hause. Ich habe gerade am Donnerstag im Fernsehen eine CDU-Kollegin, Frau Steinbach, gehört, der das
Wort Dankbarkeit immer noch nicht über die Lippen gehen will.
({3})
Herr Ostermann, ich fand an dieser Stelle auch Ihre
Rede nicht angemessen.
({4})
Der 8. Mai war eine Zäsur und eine Befreiung auch für
die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang. Der Holocaust war zu Ende. Das massenhafte, systematische und
rassebiologisch begründete Morden hatte damit in Europa ein Ende. Das war eine Befreiung für alle Menschen, die darunter zu leiden hatten.
({5})
Ich will nichts kleinreden. Meine Mutter ist beim
17. Juni 1953 dabei gewesen und aus der DDR geflohen.
Mein Vater wurde aus dem Sudetenland vertrieben.
({6})
Ich will nicht kleinreden, dass es danach Unfreiheit und
Unrecht gab. Aber das hatte eine andere Dimension als
der Hitler-Faschismus, unter dem Millionen Menschen
nicht nur in deutschem Namen, sondern auch von vielen
Deutschen ermordet wurden.
({7})
Liebe Kollegen von der Linken, ich finde, wir müssen
sehr sorgfältig diskutieren, wenn es um Gedenkpolitik
geht. Ich möchte nicht, dass wir uns in Gedenkritualen
erschöpfen und dass dann kein wirkliches Gedenken
mehr stattfindet. Ich bin Antje Vollmer dankbar, dass sie
damals den Bundespräsidenten Herzog überzeugt hat,
den 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zu proklamieren.
({8})
Das ist wichtig und hat sich mittlerweile in der Gedenkkultur unseres Landes tief verankert und verwurzelt.
Bevor wir Ihren Antrag annehmen - Sie stellen ihn
zum wiederholten Mal im Hohen Hause - und den 8.
Mai zum gesetzlichen Gedenktag erheben, müssten wir
darüber reden, was wir an diesem Tag tatsächlich machen würden und was wir anders machen würden. Wir
können nicht mehrmals im Jahr die gleichen Veranstaltungen durchführen. Dann erschöpft es sich und verliert
seine Ausstrahlungskraft. Es gibt sicherlich Wichtigeres,
als weitere Gedenktage zu proklamieren. Andere mögliche Gedenktage wären der Kriegsbeginn, der Anschluss
des Sudetenlandes und das Desaster des Münchner Abkommens. Das alles sind Meilensteine des Unrechts im
20. Jahrhundert. Auch dessen könnte man gedenken,
weil die Ereignisse an diesen Tagen mit in die Katastrophe geführt haben, die schließlich am 8. Mai 1945 endete.
Ich meine, dass eine andere Aufgabe viel wichtiger
ist. Wenn wir uns genau anschauen, wessen wir gedenken, dann stellen wir fest, dass wir Lücken in unserem
Gedenken haben. Es gab viele Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg. Den größten Blutzoll haben die Völker
der ehemaligen Sowjetunion und die Polen zu zahlen gehabt. Die Sowjetunion hatte 14 Millionen tote Zivilisten
und 13 Millionen tote Soldaten zu beklagen. Die zweitgrößte Opfergruppe des systematischen, rassistischen
Ermordens ist noch immer ein dunkler Fleck in unserem
Gedenken. Neben 6 Millionen Juden wurden im Deutschen Reich 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene
ermordet. Ich frage Sie: Wo haben wir als Bundestag anerkannt, dass das nationalsozialistisches Unrecht ist? Wo
ist ein Denkmal für diese ermordeten Menschen? Diese
Menschen wurden rassebiologisch begründet ermordet
und wurden nicht wie die westalliierten Kriegsgefangenen behandelt, für die die Genfer Konventionen galten.
Diese Konventionen wurden für diese Kriegsgefangenen
systematisch ausgesetzt. Diese Menschen verhungerten
und erfroren, wurden totgeschlagen und krepierten an
Krankheiten elendig, weil das von den Nazis so gewollt
und verordnet war. Deshalb bin ich dem Bundespräsidenten dankbar, der diese Woche gesagt hat:
Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte
Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in
Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten.
Wir haben heute in vielen Reden gesagt - so auch der
Bundestagspräsident und unser Gastredner Professor
Winkler in der Gedenkfeier -, dass die Verantwortung,
Volker Beck ({9})
die wir für die Vergangenheit tragen, bedeutet, dass wir
uns der Vergangenheit stellen müssen. Diesem Unrecht
müssen wir uns noch stellen. Deshalb fordere ich Sie
auf, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition:
Lassen Sie uns in diesem Jahr endlich feststellen, dass
die sowjetischen Kriegsgefangenen Opfer nationalsozialistischen Unrechts waren. Lassen Sie uns ihnen mit einer humanitären Geste die Hand zur Versöhnung reichen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir dieses
Unrechts angemessen gedenken. Das ist mir wichtiger
als ein weiterer Gedenktag.
Ich kann Ihnen sagen: Wir haben am Mittwoch darüber in der Bundesstiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ diskutiert. Der Beirat schlägt vor,
dass man sich dieses Themas annimmt. Ich finde, wir
sollten uns als Bundestag diesen Fragen gemeinsam öffnen.
({10})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gabriele
Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diesen 8. Mai heute mit einer Gedenkstunde begonnen und beenden die Plenarsitzung heute
mit der Diskussion zum 8. Mai. Auch wenn wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen werden - das muss ich
leider sagen, Herr Ostermann: ganz ausdrücklich nicht
mit der Begründung, die Sie genannt haben; ich werde
das nachher ausführen -, gibt er doch Gelegenheit, die
Bedeutung dieses Tages nochmals zu beleuchten.
Es hat lange gedauert - Professor Dr. Winkler hat das
heute Morgen ausgeführt -, bis der 8. Mai 1945 als „Tag
der Befreiung“ bezeichnet und begriffen wurde. Es war
Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, der damals
- auch danach nicht unumstritten - diesen Begriff
prägte. Gerade in diesem Jahr, zum 70. Jahrestag, gab
und gibt es um dieses Datum viele würdige, zum Nachdenken anregende Veranstaltungen: Gedenkveranstaltungen in den KZ-Gedenkstätten oder die Eröffnung des
NS-Dokumentationszentrums in München, die Gedenkstunde heute Morgen oder die Debatte gestern zum
Thema „50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel“.
Ein Gedenktag würde der Herausforderung des Erinnerns und Gedenkens, der aktiven Auseinandersetzung
mit aktuellem Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus, Ausgrenzung, Intoleranz und Vorurteilen nicht
gerecht.
Wie bitter notwendig diese aktive Auseinandersetzung auch heute noch ist, zeigt sich ganz aktuell. In dieser Woche wurde die Polizeiliche Kriminalstatistik
veröffentlicht. Sie weist erneut Straftaten mit rechtsextremistischem, fremdenfeindlichem, antisemitischem
Hintergrund auf erschreckend hohem Niveau aus. Die
Vorfälle in Tröglitz, wo ein gewählter Bürgermeister bedroht und angefeindet wird und sein Amt aufgibt, der organisierte Angriff von Neonazis auf eine DGB-Veranstaltung am 1. Mai in Weimar und schließlich die
Razzien und das Aufdecken der sogenannten OSS, der
„Oldschool Society“, offenbar eine rechte Terrorgruppe
- alles Vorfälle der letzten Wochen.
Wichtiger als ein Gedenktag ist es für uns deshalb,
Programme, Projekte und Initiativen zu unterstützen, die
sich aktiv für Demokratieförderung und Demokratiesteigerung, die sich aktiv für Toleranz, Respekt und ein gutes Miteinander engagieren.
({0})
Die gibt es; aber leider manchmal nicht genug im Blick
der Öffentlichkeit.
Ich konnte zum Beispiel in der letzten Woche Preisträger des Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ auszeichnen. Der Wettbewerb wird jedes Jahr vom
Bündnis für Demokratie und Toleranz ausgerichtet und
rückt das vielfältige Engagement von Bürgerinnen und
Bürger in den Mittelpunkt. Die Preisträger leisten vor
Ort - fantasievoll und kreativ - wertvolle Präventionsarbeit. Für das Familienministerium konnten wir als Koalition das Programm „Demokratie leben!“ weiter finanziell aufstocken. Das Programm des Innenministeriums
„Zusammenhalt durch Teilhabe“ leistet gute Arbeit. Die
Bundeszentrale für politische Bildung, die politischen
Stiftungen: Sie alle leisten - ausgestattet mit Mitteln des
Bundes - einen unverzichtbaren Beitrag zur Geschichtsaufarbeitung und zur Demokratiestärkung.
Ich erwarte auch von dem eingesetzten Expertengremium Antisemitismus ganz konkrete Vorschläge, wie
wir dem Phänomen des Antisemitismus, des Rechtsextremismus und der Intoleranz noch wirksamer und erfolgreicher entgegentreten können.
({1})
Politik und Zivilgesellschaft müssen aktiv, wachsam
und engagiert die Auseinandersetzung mit den Feinden
der Demokratie führen, sich für Demokratie einsetzen und das tagtäglich und nicht nur an einem Gedenktag.
Das ist die Lehre, das ist die Verantwortung, die aus dem
Gedenken und Erinnern an den 8. Mai, den Tag der Befreiung, für uns und die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland erwächst.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
18/4333 mit dem Titel „Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden“. Wer stimmt für diesen Antrag?
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Mai 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.